Die Verjährung im österreichischen Strafrecht: Theoretische Grundlagen und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von systemischem Unrecht [1 ed.] 9783737014397, 9783847114390


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Die Verjährung im österreichischen Strafrecht: Theoretische Grundlagen und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von systemischem Unrecht [1 ed.]
 9783737014397, 9783847114390

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Zeitgeschichte im Kontext

Band 18

Herausgegeben von Oliver Rathkolb

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Sarah Stutzenstein

Die Verjährung im österreichischen Strafrecht Theoretische Grundlagen und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von systemischem Unrecht

Mit einem Vorwort von Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und des Rektorats der Universität Wien. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Egon Blaschka, Aufnahmedatum: 18. 06. 1963, Bildunterschrift des Fotografen: »Prozeß gegen Franz Murer (Judenmorde von 1945) unter Vorsitz OLGR. Dr. Peyer und Staatsanwalt Dr. Schuhmann: Murer während der Einvernahme«. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5413 ISBN 978-3-7370-1439-7

Inhalt

Vorwort des Reihenherausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort / Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in den Forschungsgegenstand 2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsfragen und Gliederung . . . . . 4. Quellen und Methode . . . . . . . . . . .

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen . . . . . . . 1. Die Entwicklung der Verjährung bis zur Erlassung der Constitutio Criminalis Theresiana 1768 . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die römischrechtlichen Wurzeln der Verjährung . . . . . . 1.2. Die Verschweigung des heimischen Rechts . . . . . . . . . 1.3. Die Verjährung des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Rezeption und Weiterentwicklung der Verjährung im deutschen Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Einflüsse des heimisch-deutschen Rechts . . . . . . . 1.3.3. Die erstmalige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechtsgrund der Verjährung . . . . . . . . . . . 1.4. Die Verjährung in den Partikularstrafgesetzbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Die Verjährungsregeln der Constitutio Criminalis Theresiana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung . . . . 3. Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens in der ersten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts . . . . . . . . .

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I.

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Inhalt

5. Die Verjährungsskepsis in Österreich in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die deutschen Arbeiten an der Strafrechtsreform bis zum Jahr 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die deutsch-österreichische Strafrechtsreform . . . . . . . . . . 3.1. Die Teilnahme Österreichs an den deutschen Reformarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Der Entwurf Radbruchs aus dem Jahr 1922 . . . . . . . . . 3.3. Die Fortsetzung der Reformarbeiten . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entwicklung des Verjährungsinstituts in den deutschen Strafgesetzentwürfen bis zum Jahr 1919 . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Verjährung im österreichischen Gegenentwurf des Jahres 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Verjährung im Entwurf Radbruchs aus dem Jahr 1922 und den Entwürfen der Jahre 1925 und 1927 . . . . . . . . . . . . . 7. Die weitere Entwicklung des Verjährungsinstitutes in Österreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Rechtsgrund der Verjährung in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen . . . . . . . . . . 9. Die Verjährung im Entwurf des Jahres 1930 und das Ende der Reformarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Grundlagen des nationalsozialistischen Strafrechts 3. Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen im Verjährungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Verjährung im Strafgesetzentwurf des Jahres 1933 . . 3.2. Die Bewertung der Verjährung in der Strafrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis in den verfahrensrechtlichen Entwürfen . . . . . . . . . . . 3.4. Die weitere Entwicklung der nationalsozialistischen Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.5. Die Verjährung im Entwurf des Jahres 1944 zur Neufassung des Allgemeinen Teils des Reichsstrafgesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die gesetzlichen und verwaltungsbehördlichen Änderungen im geltenden deutschen und österreichischen Verjährungsrecht . . 5. Vom Strafaufhebungsgrund zum Verfahrenshindernis: Die Judikatur des Reichsgerichtes zur Rechtsnatur der Verjährung . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verjährung im allgemeinen Strafrecht . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Verjährungsbestimmungen des österreichischen Strafgesetzes von 1945 bis 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Strafgesetzentwurf 1964: Begründung der Straffreiheit durch Zeitablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Kriegsverbrechergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Verbotsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Schlussstrich Verjährung: Die Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Der Verjährungsaufschub 1963: Ein verschobenes Problem 4. Die Verjährungsfrage in Österreich 1965 . . . . . . . . . . . . . 4.1. Außenpolitischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Forderung: »Keine Verjährung für NS-Verbrechen!« . . . . 4.3. Kleine Lösung: Die Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Größte Lösung: Unverjährbarkeit und allgemeine Verlängerung der Verjährungsfristen . . . . . . . . . . . . 4.5. Verjährungskompromiss und große Lösung . . . . . . . . . 4.6. Die Verjährungsdebatte im österreichischen Nationalrat . . 5. Der strafrechtliche Zweck der Unverjährbarkeit . . . . . . . . . 6. Die österreichische Lösung: Bewertung . . . . . . . . . . . . . . V.

Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verfolgung der NS-Straftaten in Österreich nach 1965 . . .

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Inhalt

3. Die letzten österreichischen NS-Prozesse vor dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der strafrechtliche Zweck der NS-Prozesse in Österreich . . . . 5. Das interterritoriale und intertemporale Strafrecht des Strafgesetzbuches 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Ende der NS-Prozesse in Österreich . . . . . . . . . . . . . 7. Die »Amnestierung« der NS-Massenmorde – eine Panne? . . . 8. Die »kalte Verjährung« in Österreich: Eine Bewertung . . . . . VI. Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik« und dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974 . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der Kommissionsentwurf des Jahres 1962 . . . . . . . . . 2.2. Die Ministerialentwürfe der Jahre 1964 und 1966 . . . . . 2.2.1. Charakteristika des Ministerialentwurfs 1964 . . . . 2.2.2. Kritik und Ministerialentwurf 1966 . . . . . . . . . 2.3. Der konservative Strafgesetzentwurf der ÖVP-Alleinregierung 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Das Strafgesetzbuch 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Verjährungsvorschriften des Kommissionsentwurfs 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Der Rechtsgrund der Verjährung . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Verjährungsregelungen des Ministerialentwurfs 1964 und deren Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Verfolgungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . b. Vollstreckbarkeitsverjährung . . . . . . . . . . . c. Bewertung der Verjährungsregelungen des StGE 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die Verjährung im Ministerialentwurf des Jahres 1966 . . 3.5. Die Verjährungsregelungen des Strafgesetzentwurfs 1968 3.6. Die Verjährung im Strafgesetzentwurf 1971 und im Strafgesetzbuch 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Die Unverjährbarkeit im Strafgesetzbuch 1974 . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

VII. »Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Änderungen im Verjährungsrecht seit 1974 . . . . . . . . . . . 2.1. Die Verjährung von Jugendstraftaten und Straftaten junger Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Sonstige Änderungen im Verjährungsrecht . . . . . . . . . 3. Der Rechtsgrund der Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Begründung der Verjährung durch die österreichische Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Kritik an der österreichischen Verjährungsbegründung . . 3.3. Exkurs: Die gegenwärtige Suche nach den theoretischen Grundlagen der Verjährung in Deutschland . . . . . . . . . 4. Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen . . . . . . . . 4.1. Vorgeschichte des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 . . . 4.2. Die Anlaufhemmung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 für Sexualstraftaten an Minderjährigen . . . . . . . . 4.3. Verjährung und Institutionsversagen . . . . . . . . . . . . 4.4. Exkurs: Die zivilrechtliche Verjährung von Schadenersatzansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Die Anlaufhemmung des 2. Gewaltschutzgesetzes für Straftaten an Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Die Konsequenzen der Anlaufhemmungen auf die Verfolgung der »Heimkinderverbrechen« . . . . . . . . . . 4.7. Wissenschaftliche Bewertung der Anlaufhemmungen . . . 4.8. Anlaufhemmung und Unverjährbarkeit . . . . . . . . . . . 5. #Metoo und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Strafverschärfungen und Dunkelziffer bei Sexualdelikten sowie Änderung der Strafrahmen für junge Erwachsene . . . . . . . . 7. Opferschutz und Anlaufhemmung . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Bewertung: Anlaufhemmung und Strafzweck . . . . . . . . . . 9. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Darstellung der Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . 1. Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung . . 2. Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803 . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens in der ersten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts . . . . . . .

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Inhalt

4. Die Verjährungsskepsis in Österreich in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik« und dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974 . . . . . . . 8. Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten . . . . . . 8.1. Sonderregeln für die nationalsozialistischen Straftaten . . . 8.2. Der kriminalpolitische Diskurs zur Verlängerung der Verjährungsfristen für schwerste NS-Straftaten . . . . . . . 8.3. Die österreichische Lösung der Verjährungsfrage: Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde . 9. Aktuelle Entwicklungen im Verjährungsrecht . . . . . . . . . . 10. Verjährung und Strafzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rechtspolitische Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur- und Quellenverzeichnis Forschungsliteratur . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . Ungedruckte Quellen . . Gedruckte Rechtsquellen Gesetzblätter . . . . . . Sonstige Quellen . . . . Zeitungsartikel . . . . .

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Abstract (Deutsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abstract (English) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort des Reihenherausgebers

Ich freue mich sehr, dass Doktorin Sarah Stutzenstein über Vermittlung ihrer Dissertationsbetreuerin, Frau Universitätsprofessorin Ilse Reiter-Zatloukal, ihre rechtshistorische Studie in einer überarbeiteten und gekürzten Form nach einem Peer-Review-Verfahren mir für meine Reihe »Zeitgeschichte im Kontext« zur Verfügung gestellt hat. Tatsächlich gibt es viele Überschneidungen zwischen zeitgeschichtlichen Fragen und dem strafrechtlichen Instrument der Verjährung vor dem Hintergrund der rechtspolitischen aber auch gesellschaftlichen Diskussionen über die Verjährung von Straftaten nach einem bestimmten Zeitablauf, beispielsweise im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen von Tätern und Täterinnen aus Deutschland und Österreich. Die Autorin geht weit in die Geschichte zurück und beschäftigt sich auch mit dem Beginn dieser Diskussion im Römischen Recht oder dann im späten 18. und 19. Jahrhundert in der Habsburger Monarchie. Gerade diese Longue durée hilft, die Debatten der Gegenwart im Kontext der rechtstheoretischen und politischen Rahmenbedingungen konzise einordnen zu können. Deshalb ist es beispielsweise nicht überraschend, dass das nationalsozialistische Regime, das das Strafrecht als Mittel des Terrors missbrauchte, sich vehement gegen Verjährung aussprach. Gleichzeitig zeigt Sarah Stutzenstein auf, wie nach 1945 die beiden Großparteien ÖVP und SPÖ, nach einer kurzen Phase der strengen Judikatur der Volksgerichte, rasch zur umfassenden Amnestierung – selbst von potentiellen Kriegsverbrechern, übergingen. Der VdU, die Vorläuferpartei der FPÖ, stellte dies ins Zentrum ihrer erfolgreichen Wahlbewegung als Vierte Partei. Unter dem Deckmantel der Amnestierung einfacher NSDAP-Mitglieder ging letztlich jegliche strafrechtliche Dimension zur Verfolgung von Kriegsverbrechern verloren. Spannend sind in diesem Zusammenhang auch Detailstudien zur Rolle des sozialdemokratischen Justizministers Christian Broda sowohl in den 1960erJahren innerhalb der Großen Koalition (Stichwort »Blutrichter«-Debatte, die

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Vorwort des Reihenherausgebers

Oscar Bronner ausgelöst hat) also auch später in der sozialistischen Alleinregierung Bruno Kreiskys in den 1970er-Jahren. Aber auch in der aktuellen Debatte über exzessiven Kindesmissbrauch in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen beziehungsweise die rezente Diskussion über Sexualdelikte, die die Me-Too-Bewegung ins öffentliche Bewusstsein zurückholt, ist es wichtig, eine umfassende rechtshistorische sowie rechtspolitische Dimension in die häufig sehr emotionalisierte Debatte einzubringen. Ich bin sicher, dass dieses Buch weit über den Kreis der Interessenten und Interessentinnen in der Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte hinaus Aufmerksamkeit und Beachtung finden wird, da Verjährung nach wie vor ein sowohl »heilendes als auch strafendes« Element der Prävention darstellt. Jede Generation wird daher diese Diskussion von neuem mit zusätzlichen Argumenten und Perspektiven aufnehmen. Sarah Stutzenstein hat mit dieser Publikation einen wirklich wesentlichen wissenschaftlichen Beitrag in der Rekonstruktion und Analyse der bisherigen Entwicklungen und Debatten vorgelegt sowie spannende Vorschläge für künftige Reformoptionen in Österreich eingebracht. Wien, April 2022

Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb

Vorwort / Danksagung

Diese Monographie entspricht in großen Teilen meiner Dissertation »›Die heilende und sühnende Macht der Zeit‹ – Theoretische Grundlagen und Entwicklung der Verjährung im österreichischen Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung von systemischem Unrecht«. Diese wurde im April 2021 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingereicht und im August 2021 approbiert. Kürzungen erfolgten vor allem gegenüber dem ersten Teil der Dissertation und betreffen deren Kapitel eins bis fünf. Das erste Kapitel dieser Monographie fasst im Wesentlichen die Ergebnisse der Kapitel eins bis fünf der Dissertation zusammen und ist für das weitere Verständnis der Arbeit wesentlich. Auf die ausführlichere Darstellung in der Doktorarbeit wird des Öfteren verwiesen. Teile der gekürzten Kapitel wurden außerdem unter dem Titel »Straffrei durch Zeitablauf ? Die österreichische Verjährungsskepsis im ›langen‹ 19. Jahrhundert« bereits in dem Sammelband »Strafrechtsgeschichte im ›langen‹ 19. Jahrhundert. Forschungen und Perspektiven« veröffentlicht, worauf bei den betreffenden Abschnitten gesondert hingewiesen wird. Auf die Forschungslücken, die in Österreich im Zusammenhang mit der Verjährung von Straftaten bisher bestanden, hat mich Frau Univ.-Prof.in Dr.in Ilse Reiter-Zatloukal aufmerksam gemacht und damit den Anstoß zur Wahl dieses – für mich höchst spannenden – Themas gegeben. Bei ihr möchte ich mich zuallererst ganz herzlich für die hervorragende Betreuung meiner Doktorarbeit bedanken. Ich darf mich glücklich schätzen, eine so zuverlässige Ansprechpartnerin gefunden zu haben, die mich im Schreibprozess permanent begleitet und weit über ihre Betreuungspflichten hinaus unterstützt hat. Außerdem danke ich Frau Dr.in Christiane Rothländer sowie meinen StudienkollegInnen, die gemeinsam mit meiner Betreuerin durch den fachlichen Austausch und ihre Anmerkungen das vorliegende Werk wertvoll ergänzt haben. Zur raschen Vollendung meiner Dissertation hat auch Mag. Josef Schermann beigetragen, der meine jeweiligen Kapitel in Rekordzeit und dennoch mit großer Umsicht lektoriert hat. Dafür ein großes Dankeschön.

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Vorwort / Danksagung

Mein Dank gilt auch meinen Großeltern, die in den wichtigen Momenten stets beide Daumen für mich gedrückt hielten und damit sicher einen wertvollen Beitrag zum Gelingen dieses und vieler anderer Vorhaben geleistet haben, sowie all jenen, die in meinem akademischen Streben Geduld mit mir hatten und mich bei der Abfassung dieser emotional durchaus aufwühlenden Arbeit aufgeheitert haben. Ein besonders großes Dankeschön gebührt meinen Eltern Claudia und Bruno Stutzenstein, die mich nicht nur bei meinem Doktoratsstudium, sondern in allen Lebenslagen nach Kräften unterstützten. Die Grundlage für dieses Projekt hat meine Mama geschaffen, indem sie mich zeitlebens förderte. Liebe Mama, dafür und für dein nicht nachlassendes Interesse an meinen Plänen, die aufbauenden Gespräche sowie für viele gute Ratschläge danke ich dir. Dir, lieber Papa, danke ich für alle Möglichkeiten, die du mir geboten hast. Das grenzenlose Vertrauen, das du in mich und meine Fähigkeiten setzt, wird mir immer ein Ansporn und eine Ermutigung, dein Optimismus und dein soziales Wesen ein Vorbild sein. Wien, November 2021

Einleitung

1.

Einführung in den Forschungsgegenstand

»Sonja Graf ist eines von tausenden ehemaligen Heimkindern, die von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung in österreichischen Fürsorgeanstalten berichten. Im Standard schilderte sie ihre schaurigen Erlebnisse aus den Sechziger- und Siebzigerjahren im Tiroler Kinderheim Martinsbühel – folterähnliche Bestrafungen, unbezahlte Arbeit und Vergewaltigung durch Schwestern und den Pfarrer standen dort ›auf der Tagesordnung‹, erzählte Graf.«1 Das beschriebene Beispiel war und ist kein Einzelfall. In den letzten Jahrzehnten wurden tausende Fälle von Kindesmissbrauch und schwerer Kindesmisshandlung in staatlichen und kirchlichen Institutionen nachgewiesen. Teilweise erhielten die Opfer freiwillig und kulanzhalber eine Entschädigung. Einen Anspruch darauf hatten sie jedoch nicht mehr. Auch für die Anklagebehörde gab es in der Regel keinen Grund und auch keine Möglichkeit, tätig zu werden, denn die meisten dieser Fälle waren seit langem verjährt.2 Angesichts derartiger Ereignisse geriet das Rechtsinstitut der Verjährung, dem zugeschrieben wird, der Rechtssicherheit Vorrang gegenüber der Gerechtigkeit zu geben,3 in den letzten Jahrzehnten immer wieder in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und in Kritik. Mit der »heilenden und sühnenden Macht der Zeit«,4 die oftmals zur Begründung der Verjährung herangezogen wurde, sind diese Geschehnisse nicht in Einklang zu bringen.

1 MITTELSTAEDT 2015, auf: https://www.derstandard.at/story/2000019685934/missbrauch-in -heimen-rechtsexperten-kritisieren-verjaehrung (abgerufen am 4. 1. 2020). 2 Siehe dazu ausführlich Kapitel VII. 3 SCHUBART 1965, S. 9; in diesem Sinne insbesondere auch der viel zitierte Ausspruch des deutschen Bundestagsabgeordneten Thomas Dehler (FDP) in der Sitzung des deutschen Bundestags am 10. 03. 1965: »Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit.«; zit. nach: VOGEL 1969, S. 33. Diese Auffassung vertrat freilich auch der deutsche Bundesgerichtshof, unabhängig von den NS-Verbrechen; SCHUBART 1965, S. 9. 4 ABEGG 1862, S. 62.

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Einleitung

Im geltenden österreichischen Strafrecht stellt die Verjährung einen Strafaufhebungsgrund dar.5 Sie begrenzt den Verfolgungs- bzw. Vollstreckungsanspruch des Staates zeitlich, zugleich aber auch dessen aus dem Legalitätsprinzip resultierende Verpflichtung, eine Strafverfolgung vorzunehmen. Sind seit der Tatbegehung bestimmte Fristen, die von der Höhe der Strafandrohung und damit der Schwere der Tat abhängen, verstrichen, »erlischt« der staatliche Strafanspruch und die Straftat darf bzw. muss nicht mehr verfolgt werden.6 Neben dieser Verfolgungsverjährung gibt es die Vollstreckbarkeitsverjährung, die sich nicht auf den Strafverfolgungsanspruch, sondern das Recht zur Strafvollstreckung bezieht. Diese folgt den gleichen Prinzipien: Wenn seit der Rechtskraft des Strafurteils bestimmte von der Höhe der verhängten Strafe abhängige Fristen verstrichen sind, darf eine verhängte Strafe nicht mehr vollstreckt werden.7 Die Verjährung im Strafrecht unterscheidet sich von ihrer zivilrechtlichen Schwester: Im Zivilrecht geht es um das Verhältnis zweier Privatpersonen. Hier wird zu einem bestimmten Zeitpunkt den Interessen des Schuldners gegenüber denen des säumigen Gläubigers der Vorrang gegeben, dessen Anspruch durch die Verjährung »erlischt«. Die strafrechtliche Verjährung bezieht sich dagegen 5 Zum geltenden Verjährungsrecht ausführlich Kapitel VI. und VII. 6 Siehe dazu § 57 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl 1974/60 idF BGBl I 2014/106: » (1) Strafbare Handlungen, die mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, sowie strafbare Handlungen nach dem fünfundzwanzigsten Abschnitt verjähren nicht. Nach Ablauf einer Frist von zwanzig Jahren tritt jedoch an die Stelle der angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren. [..] (2) Die Strafbarkeit anderer Taten erlischt durch Verjährung. Die Verjährungsfrist beginnt, sobald die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört. (3) Die Verjährungsfrist beträgt zwanzig Jahre, wenn die Handlung zwar nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe, aber mit mehr als zehnjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist; zehn Jahre, wenn die Handlung mit mehr als fünfjähriger, aber höchstens zehnjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist; fünf Jahre, wenn die Handlung mit mehr als einjähriger, aber höchstens fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist; drei Jahre, wenn die Handlung mit mehr als sechsmonatiger, aber höchstens einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist; ein Jahr, wenn die Handlung mit nicht mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe oder nur mit Geldstrafe bedroht ist. (4) Mit dem Eintritt der Verjährung werden auch der Verfall und vorbeugende Maßnahmen unzulässig.« 7 Siehe dazu § 59 StGB, BGBl 1974/60 idF BGBl I 2010/108: (1) Die Vollstreckbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe, einer Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren, einer wegen einer strafbaren Handlung nach dem fünfundzwanzigsten Abschnitt verhängten Strafe und einer Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder für gefährliche Rückfallstäter verjährt nicht. (2) Die Vollstreckbarkeit anderer Strafen, einer Abschöpfung der Bereicherung, eines Verfalls und vorbeugender Maßnahmen erlischt durch Verjährung. Die Frist für die Verjährung beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung, in der auf die Strafe, den Verfall oder die vorbeugende Maßnahme erkannt worden ist. (3) Die Frist beträgt fünfzehn Jahre, wenn auf Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, aber nicht mehr als zehn Jahren erkannt worden ist; zehn Jahre, wenn auf Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, aber nicht mehr als einem Jahr oder auf eine Geldstrafe unter Festsetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe von mehr als drei Monaten erkannt worden ist; fünf Jahre in allen übrigen Fällen. […].

Einführung in den Forschungsgegenstand

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auf ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis und hat nicht primär den Zweck, zwischen den Interessen von Opfern und TäterInnen einen Ausgleich zu schaffen. Zivil- und strafrechtliche Verjährung betreffen damit unterschiedliche Rechtsverhältnisse und werden trotz ähnlicher Systematik sowie Wirkung verschieden begründet. Die Ursprünge des heutigen Verjährungsinstitutes liegen im späten römischen Recht, das im Zuge der Rezeption übernommen wurde.8 Sodann finden sich Verjährungsvorschriften auch in zahlreichen Landesgesetzen und der ersten Strafrechtskodifikation für die Länder der Habsburgermonarchie, der Constitutio Criminalis Theresiana 1768.9 Der wissenschaftliche Diskurs zur Begründung der Verjährung im Strafrecht setzte Mitte des 17. Jahrhunderts ein,10 also nachdem sich der Inquisitionsprozess endgültig durchgesetzt hatte.11 Die strafrechtliche Verjährung wirkte sich damals nicht mehr auf ein privates »Racherecht«, sondern auf den obrigkeitlichen Strafanspruch aus und brachte diesen zum »Erlöschen«. Ab der Aufklärung wurde die Verjährung kontrovers diskutiert, zum Teil stark kritisiert und in Österreich zwischenzeitlich abgeschafft.12 Im Gegensatz zu Deutschland blieb ihr Anwendungsbereich über weite Zeitperioden beschränkt.13 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich der Verjährungsgedanke jedoch in der österreichischen Strafgesetzgebung14 und Strafrechtswissenschaft stärker durch.15 Grundsätzlich in Frage gestellt wurde die Verjährung spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in Österreich nicht mehr.16 Eine Unterbrechung dieser Entwicklung stellte nur die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft dar, weil die nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft und -gesetzgebung eine zeitliche Beschränkung der staatlichen Strafmacht überwiegend ablehnte.17 Nach 1945 kehrte die österreichische Strafgesetzgebung zunächst zu großzügigen Verjährungsvorstellungen zurück.18 Ab den 1960er-Jahren konnten allerdings auch in Österreich die erfolgte oder bevorstehende Verjährung der NSVerbrechen und die dadurch aufgeworfenen Fragen nach der Berechtigung und 8 HIPPEL 1925, S. 151; HIS 1920, S. 403–405; LOENING 1908, S. 390–395. 9 HIPPEL 1930, S. 552; LOENING 1908, S. 399–401, 405; Art. 16 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. 10 LOENING 1908, S. 405f. 11 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel I.3. 12 BAR 1909, S. 384f; HIPPEL 1930, S. 553; LOENING 1908, S. 410–416; LORENZ 1934, S. 14f. 13 LORENZ 1934, S. 16–18; vgl. die fast wortidenten Bestimmungen der § 201, §§ 206–210 1. Teil StG 1803 und §§ 274f 2. Teil StG 1803, JGS 1803/626 mit den § 223, §§ 227–232 und § 526, §§ 531f StG 1852, RGBl 1852/117. 14 Dies zeigt sich in den zahlreichen Strafgesetzentwürfen dieser Periode. 15 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV. und Kapitel V. 16 Siehe dazu Kapitel II. und sodann Kapitel IV., VI. und VII. 17 ASHOLT 2016, S. 41–44; PAULI 1992, S. 108; dazu ausführlich Kapitel III. 18 Siehe dazu Kapitel IV. und VI.

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Einleitung

Notwendigkeit dieses Rechtsinstitutes nicht länger ignoriert werden.19 Die nationalsozialistischen Straftaten wiesen als staatlich organisiertes Unrecht zahlreiche Besonderheiten auf: Sie unterschieden sich im Ausmaß, durch die staatliche Organisation, das Tatmotiv der TäterInnen und den Grad der Involviertheit der Bevölkerung sowie der Unrechtsbewertung durch Bevölkerung und Politik von anderen im Tatbestand gleichartigen Straftaten. Die strafrechtliche Zweckmäßigkeit der Verfolgung des staatlich organisierten Unrechts sowie auch die Frage nach der Verjährung desselben musste daher anders beurteilt werden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ergingen zunächst Sondergesetze, die die Verjährung der NS-Straftaten hinausschieben und den Zeitraum, der zu ihrer Ahndung zur Verfügung stand, verlängern sollten. Mit dem Ende der Entnazifizierungsmaßnahmen wandelte sich die Bewertung der Verjährung: War sie zunächst als Hindernis angesehen worden, das die Ahndung des NS-Unrechts erschwerte, wurde sie nun zunehmend als willkommener »Schlussstrich unter die Vergangenheit« betrachtet. In den sogenannten »Verjährungsdebatten« wurde in Österreich ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland die Notwendigkeit einer Verlängerung der Verjährungsfristen für die nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert.20 Die »kalte Verjährung« des Jahres 1975 bewirkte in Österreich schließlich, dass als Folge einer verdeckten Gesetzesänderung – mit einem Schlag und von der Bevölkerung weitgehend unbemerkt – die meisten bis dahin noch verfolgbaren NS-Straftaten verjährten.21 Als in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen europäischen Staaten Fälle von schwerem und systemischem Kindesmissbrauch in staatlichen und kirchlichen Institutionen aufgedeckt wurden, die allesamt bereits verjährt waren, geriet die Verjährung erneut in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit.22 Zuletzt zeigten sich der breiten Öffentlichkeit die negativen Konsequenzen der Verjährung, als im Rahmen der #metoo-Debatte Vorwürfe von lange zurückliegenden sexuellen Übergriffen geäußert wurden. Auch diese waren zumeist verjährt, sodass die Beschuldigten jedenfalls nicht mehr verfolgt werden konnten.23 Teilweise wurden sogar Strafverfahren gegen die vorgeblichen Opfer wegen »übler Nachrede« (§ 111 StGB) geführt oder diese zivilrechtlich auf Schadenersatz geklagt, was den Eindruck verstärkt, dass es sich bei der Verjährung um eine Art späten »Täterschutz«24 handelt.25 19 Dazu ausführlich Kapitel IV. und V.; siehe auch TRAPPE 2009, S. 129–131, die darauf hinweist, dass sich nahezu alle europäischen Staaten, die nach einem Systemwechsel Unrechtstaten des alten Regimes verfolgen wollten, mit der Verjährungsfrage auseinandersetzen mussten. 20 Siehe dazu Kapitel IV. 21 Siehe dazu Kapitel V. 22 Siehe dazu Kapitel VII. 23 RODENBECK 2018, S. 1227f. 24 FINGER 2011, auf: https://www.zeit.de/2011/48/Opfer-Missbrauch (abgerufen am 4. 1. 2021).

Einführung in den Forschungsgegenstand

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Trotz derartiger Geschehnisse, die zum Teil zu punktuellen, anlassfallbezogenen Einschränkungen der Verjährbarkeit führten, wird die grundsätzliche Berechtigung der Verjährung von Wissenschaft und Gesetzgebung in Österreich seit langem anerkannt. Alternativlos ist die Verjährung jedoch nicht. Zwar existieren in allen kontinentaleuropäischen Staaten Verjährungsregeln,26 im Vereinigten Königreich und anderen Common-Law-Staaten wie Kanada, Australien und einigen US-Bundesstaaten gilt dagegen Unverjährbarkeit als Grundsatz, von dem nur leichte Vergehen, die in die Zuständigkeit der Untergerichte fallen, ausgenommen sind.27 Während das Verjährungsinstitut an sich in Österreich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Anerkennung fand, war die Frage, warum die Verjährung zuzulassen sei, bis gegen Mitte der 1970er-Jahre fast ebenso umstritten wie die mit ihr im engen Zusammenhang stehende Frage nach dem Zweck der Strafe.28 Vor allem im späten 18. und »langen« 19. Jahrhundert29 fand ein intensiver wissenschaftlicher Diskurs zur Begründung der Verjährung statt.30 Konsens bestand im Allgemeinen darin, dass Straftaten solange verfolgt und bestraft werden sollten, wie dies strafrechtlich zweckmäßig sei. Erfüllte die Bestrafung eines Täters/einer Täterin den ihr zuerkannten Zweck, der beispielsweise in der Vergeltung, Abschreckung, Stärkung der Normentreue der Bevölkerung, Besserung des Täters/der Täterin und Sicherung gesehen werden kann, nicht mehr, dann sollte die Verjährung eintreten. Die Bewertung des Strafzwecks bestimmte damit die Beurteilung der Verjährung.31 Die Strafwissenschaft entwickelte unterschiedliche Rechtfertigungen bzw. Verjährungstheorien, die häufig auf dem jeweils angenommenen Strafzweck aufbauten oder zumindest einen Bezug zur Strafzwecktheorie des Autors aufweisen. Die vorliegende Monographie widmet sich der Entwicklung des Gedankens der Straffreiheit durch Zeitablauf. Einerseits wird diese anhand des im Gebiet des 25 Dazu ausführlich Kapitel VII. 26 Vgl. BRÄUEL 1954, S. 430; HIPPEL 1930, S. 555; LOENING 1908, S. 390, 451; SIEBER/CORNILS 2010, S. 535–714. Die kontinentaleuropäischen Staaten begründen die Verjährung unterschiedlich; siehe dazu die Einzelbeiträge in SIEBER/CORNILS 2010, S. 535–714. 27 CAPUS 2006, S. 20; HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 6–9; LOENING 1908, S. 379– 383. Dieser Unterschied ist historisch bedingt. Wie die Arbeit zeigen wird, setzte sich im kontinentaleuropäischen Rechtskreis im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ein Verjährungsmodell durch, das auf dem französischen Recht aufbaut. Das französische Verjährungsmodell basiert seinerseits auf der rezipierten römischrechtlichen praescriptio. Ein ausführlicher Vergleich der beiden Modelle würde den Rahmen der Arbeit übersteigen, weshalb darauf nicht näher eingegangen werden wird. 28 Dazu Kapitel VI. 29 Der Begriff stammt vom britischen Historiker Eric Hobsbawm, der diese Zeit in drei Werken behandelt; FURRER 2020, S. 543. 30 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II., IV. und Kapitel V. 31 In diesem Sinn auch LORENZ 1934, S. 14f, 21.

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Einleitung

heutigen Österreichs geltenden Rechts und der zahlreichen österreichischen Strafgesetzentwürfe dargestellt, andererseits anhand des wissenschaftlichen Diskurses zur Verjährungsbegründung ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Grundsätzlich nachgegangen wird der Frage, wie die Verjährung als zeitliche Grenze der staatlichen Strafmacht begründet wurde und begründet wird. Das Verhältnis der verschiedenen Strafzwecktheorien zur Begründung der Verjährung als zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafmacht wird in dieser Arbeit erstmals umfassend untersucht. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bilden die Auswirkungen, welche die Verjährung auf die Aufarbeitung von systemischem Unrecht in Österreich hatte. Aufgezeigt werden dabei die Ursprünge eines gegenwärtig als selbstverständlich erachteten Rechtsinstituts, weil insbesondere die NS-Verbrechen und, wenngleich nicht direkt vergleichbar, die Verbrechen an den Heimkindern sowie die der #metoo-Debatte zugrundeliegenden Straftaten zeigen, dass eine Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen und der Entwicklung der Verjährung auch heute notwendig und relevant ist.32

2.

Forschungsstand

In der Dissertation »Die Kriminalverjährung« des Philosophen Samuel Lourié aus dem Jahr 1914 erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit den damals vertretenen Verjährungstheorien. Eine Darstellung der verschiedenen zeitgenössischen Verjährungsbegründungen bietet außerdem das 1934 veröffentlichte Werk »Die Verjährung im Strafrechte« des Strafrechtlers Max Lorenz, der darin zusätzlich das damals geltende deutsche, österreichische und tschechoslowakische Verjährungsrecht behandelt.33 Der deutsche Strafrechtswissenschaftler Martin Asholt stellt in seiner im Jahr 2016 erschienen Habilitation »Verjährung im Strafrecht« einleitend die Entwicklung des Verjährungsinstituts in Deutschland, beginnend mit der Aufklärung, und die dogmatischen Grundlagen der Verjährung dar. Eine rechtsvergleichende Untersuchung nimmt er jedoch ausdrücklich nicht vor und berück32 Zuletzt diskutiert wurde die Verjährung anlässlich der mit § 67 79/ME 27. GP geplanten Einführung einer Plagiatsverjährung (»Die Aufhebung und Einziehung des Verleihungsbescheides ist längstens bis 30 Jahre ab der Verleihung des akademischen Grades möglich.«) Freilich hätte diese Verjährungsbestimmung nicht zur Folge gehabt, dass das Plagiat straflos bleibt, sondern dass der rechtswidrig erlangte und damit erschlichene Titel behalten werden darf. Nach dem Begutachtungsverfahren nahm das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung von diesem umstrittenen Vorhaben Abstand; ANDERS 2021, auf: https://www.derstandard.at/story/2000124213523/uni-gesetz-plagiate-verjaehren-doch-nich t-studienprivilegien-greifen-erst-spaeter (abgerufen am 23. 02. 2021). 33 LORENZ 1934; der dieser ersten Arbeit zwei ergänzende Werke folgen ließ, die sich jedoch ausschließlich auf das deutsche Recht beziehen; LORENZ 1955; LORENZ 1959.

Forschungsstand

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sichtigt auch Österreich nicht.34 Die Geschichte des Verjährungsinstitutes bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wird außerdem vom auch rechtshistorisch arbeitenden Strafrechtsprofessor Richard Loening behandelt, der viele ältere Quellen einbezieht.35 Zur Vorbereitung der Strafrechtsreform in Deutschland nimmt der Autor zudem eine ausführliche rechtsvergleichende Analyse der damals geltenden Verjährungsregelungen zahlreicher Staaten vor. Allerdings berücksichtigt er weder die österreichischen Strafgesetzentwürfe noch untersucht er den Zusammenhang zwischen Verjährungs- und Strafzweckbegründung. Die besonderen Rechtsfragen, die sich in Bezug auf die Verjährung der NSStraftaten und der diesbezüglich ergangenen Sonderregeln ergeben, wurden in Österreich mit Ausnahme zweier Publikationen der Autorin, die im Zuge des Dissertationsprojekts verfasst wurden,36 bislang nicht wissenschaftlich untersucht. Gleiches gilt für die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen, welche die (drohende) Verjährung der schwersten NS-Verbrechen auslöste. Lediglich Karl Marschall, seinerzeit Generalanwalt, stellt in seiner Arbeit »Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich« aus dem Jahr 1987 die für die Ahndung der NS-Verbrechen maßgeblichen Vorschriften – wenngleich rein deskriptiv – dar.37 Während die deutsche »Gehilfenverjährung«38 des Jahres 1968 umfassend erforscht ist,39 fehlt eine vergleichbare wissenschaftliche Beschäftigung mit der »kalten Verjährung«40 in Österreich. In der zeithistorischen Literatur werden die einschlägigen Regelungen des StGB 1974 (§§ 61, 62 und 65 StGB), welche die plötzliche Ver34 35 36 37 38

ASHOLT 2016, S. 6. LOENING 1908. STUTZENSTEIN 2020, S. 124–148; STUTZENSTEIN 2021, S. 194–225. MARSCHALL 1987. Darunter versteht man die Verjährung der nationalsozialistischen »Gehilfenmorde« durch die Neufassung von § 50 Absatz 2 des deutschen Strafgesetzbuches durch Art. 1 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG). Anders als in Österreich konnten in Deutschland auch Personen als Mordgehilfen betrachtet werden, die eine Tötung eigenhändig ausgeführt hatten, sofern diese nur im Interesse eines anderen und ohne eigenen Täterwillen gehandelt hatten; GREVE 2000, S. 412, 421–424. 39 Beispielsweise FRIEDRICH 2007; GLIENKE 2011; GREVE 2000; MIQUEL 2004; ROTTLEUTHNER 2001; VOLLNHALS 2011; WEINKE 2002; außerdem Gegenstand des Romanes »Der Fall Collini« von Ferdinand Schirach aus dem Jahr 2011 und des darauf basierenden Kinofilms. Zur »kalten Verjährung« in der Bundesrepublik Deutschland siehe auch Kapitel IV.6. 40 Der Begriff »kalte Verjährung« wurde vom israelischen Justizministerium entwickelt, um die Verjährung der »Gehilfenmorde« in der BRD durch das EGOWiG zu kritisieren. Die Beteuerungen der BRD, dass es sich dabei um ein nicht beabsichtigtes Versehen handelte, wurden bezweifelt. Der nächste logische Schritt, prophezeite das israelische Justizministerium, werde dann wohl die offizielle Amnestierung der NS-Mordgehilfen noch vor den Bundestagswahlen sein; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Kalte Verjährung, 13. 01. 1969, S. 58; MIQUEL 2004, S. 332.

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Einleitung

jährung der meisten von Österreichern im Ausland begangenen NS-Morden bewirkten, im Zusammenhang mit dem Ende der NS-Strafverfolgung in Österreich erst in den letzten Jahren thematisiert, wobei die juristische Komplexität dieser Regelungen in der Regel zu Missverständnissen führt.41 Eine eingehende juristische Auseinandersetzung mit diesen Bestimmungen und ihren Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit zur Ahndung der NS-Morde in Österreich fand bislang nicht statt. In der aktuellen Lehrbuch- und Kommentarliteratur werden der Verjährungsbegründung in der Regel nur wenige Standardsätze gewidmet.42 In der jüngeren Zeit erschienen Aufsätze vor allem zu Einzelfragen wie der Änderung der Verjährungsbestimmungen für Delikte an Minderjährigen.43 Eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Gedankens der Straffreiheit durch Zeitablauf sowie des Verhältnisses der Verjährungsbegründung zur Begründung der Strafe und der jeweils vertretenen Strafzwecktheorie erfolgte für das österreichische Recht bislang nicht. Auch wissenschaftliche Arbeiten zu den Auswirkungen der Verjährung auf die Ahndung von systemischem Unrecht fehlen für Österreich. Die vorliegenden rechtsvergleichenden Arbeiten zu diesem Thema beziehen Österreich nicht ein.44 Diese Forschungsdesiderate werden mit der vorliegenden Monographie geschlossen.

3.

Forschungsfragen und Gliederung

Wie beschrieben widmet sich die Arbeit den Ursprüngen der zeitlichen Begrenzung der Verfolgungs- und Strafbefugnis sowie den Veränderungen, die der Verjährungsgedanke in Österreich bis in die Gegenwart erfuhr. Die Entwicklung 41 GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f; LOITFLLNER 2002, S. 175; LOITFELLNER 2009, S. 164; WIRTH 2011, S. 453; WISINGER 1991, S. 239–243; idR werden nur die Regelungen des interterritorialen Strafrechts (§§ 62, 65 StGB) erwähnt und die Regelung des intertemporalen Strafrechts (§ 61 StGB), die für die plötzliche Verjährung der im Ausland begangenen NS-Morde mitverantwortlich war, außer Acht gelassen. Im Beitrag von GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f wird richtig erkannt, dass ein Rückgriff auf das Recht am Tatort zur Tatzeit erfolgte, aber irrtümlich angenommen, dass der Eintritt der Verjährung stets nach dem Tatort-Tatzeitrecht zu beurteilen war. Tatsächlich war dies nur dann der Fall, wenn diese Rechtsordnung für den/die TäterIn am günstigsten war. Diese Irrtümer scheinen auf eine vage Formulierung von MARSCHALL 1987, S. 31f zurückzuführen zu sein. Eine ausführliche Darstellung der Regelungen erfolgt im 5. Abschnitt des V. Kapitels. 42 Bspw. MALECZKY 2019a, S. 107; MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, § 58 StGB RZ 3–4; SEILER 2014, S. 155f, 161; STROHANZL 1974, S. 135; TIPOLD, in: LEUKAUF/STEININGER, StGB, § 57, S. 396; § 59, S. 409; TRIFFTERER 1985, S. 499; TRIFFTERER 1994, S. 499. 43 Bspw. ANZENBERGER 2010; ANZENBERGER 2011; BIRKLBAUER 2013; EDER-RIEDER 2004; MALECZKY 2009; SCHMOLLER 2000; SCHWAIGHOFER 1999. 44 TRAPPE 2009; ZIMMERMANN 1997.

Forschungsfragen und Gliederung

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des Verjährungsgedankens kann freilich nur vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklungstendenzen im Strafrecht beurteilt werden, die für jeden Zeitabschnitt gesondert dargestellt werden. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf der Frage, wie sich die jeweils vorherrschende Begründung der Strafe, das heißt die Strafzwecktheorie, auf die Begründung der Verjährung auswirkt. Dabei wird einerseits der Frage nachgegangen, welche theoretischen Konzepte hinter dem Verjährungsinstitut stehen und wie sich der diesbezügliche Diskurs im Laufe der Zeit verändert hat. Andererseits stellt sich die Frage nach den Ursachen für die bisweilen verbreitete Ablehnung der Verjährung durch die Strafrechtswissenschaft und -gesetzgebung. Für die behandelte Zeitspanne werden in der Arbeit daher die verjährungskritischen Positionen untersucht und der Frage nachgegangen, ob die Fälle, in denen die Verjährung in der jüngeren Vergangenheit zum Problem wurde, die teilweise sehr alten Bedenken gegen die Verjährung bestätigen. Daneben behandelt die Arbeit die mit der Verjährungsbegründung in Zusammenhang stehende Entwicklung des »Wesens« oder der »Natur« der Verjährung, das heißt deren Einordnung als materiellen Strafaufhebungsgrund oder bloßes Prozesshindernis. Die Einflüsse ausländischer Rechtsordnungen auf das österreichische Verjährungsrecht werden ebenfalls in der Arbeit berücksichtigt und die österreichische Entwicklung in den europäischen Kontext eingebettet. In der Vergangenheit stellten Änderungen im österreichischen Verjährungsrecht häufig Reaktionen auf bestimmte strafrechtliche Anlassfälle dar. Die Einflüsse konkreter Straftaten bzw. Gruppen von Straftaten auf die Entwicklung des österreichischen Verjährungsrechts werden daher ebenfalls untersucht. Die anlassfallbezogenen Änderungen machen Diskrepanzen zwischen den theoretischen Konzepten, die dem positiven Verjährungsrecht ursprünglich zugrunde gelegt wurden, und den gesetzlichen Regelungen unvermeidlich, wobei diese Widersprüche in der Arbeit thematisiert werden. Die Monographie ist chronologisch aufgebaut. In den Kapiteln eins bis drei sowie sechs und sieben erfolgt eine Darstellung der Verjährungsregelungen im österreichischen Strafrecht sowie den zahlreichen österreichischen Strafgesetzentwürfen und des wissenschaftlichen Diskurses zur Verjährungsbegründung. In den Kapiteln vier und fünf werden die Forschungsfragen behandelt, die sich im Zusammenhang mit der Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten ergeben. Da die konkrete Ausgestaltung der Verjährung zum Teil nicht auf einer bestimmten theoretischen Grundlage beruht, sondern nur historisch erklärbar ist, wird im ersten Kapitel die geschichtliche Entwicklung der Verjährung vom römischen Recht bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zusammengefasst. Dieses Kapitel beinhaltet im Wesentlichen die Forschungsergebnisse der Kapitel eins bis fünf der Dissertation »›Die heilende und sühnende Macht der Zeit‹ – Theoreti-

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Einleitung

sche Grundlagen und Entwicklung der Verjährung im österreichischen Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung von systemischem Unrecht« und ist für das weitere Verständnis der Arbeit erforderlich. Im ersten Unterkapitel wird die geschichtliche Entwicklung der Verjährung, beginnend mit dem römischen Recht, bis zur Erlassung der ersten Strafrechtskodifikation für die Länder der Habsburgermonarchie, der Constitutio Criminalis Theresiana 1768, behandelt. Der Einfluss des heimisch-deutschen Rechts auf die Entwicklung des Verjährungsinstituts und die Auswirkungen, die der Übergang vom Akkusationsverfahren zum Inquisitionsverfahren auf die Verjährung hatte, werden dabei untersucht. Im zweiten Unterabschnitt des ersten Kapitels wird die ältere Theorie von der Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung45 einer kritischen Analyse unterzogen. Der dritte Unterabschnitt befasst sich mit den Verjährungsregelungen des Strafgesetzes 1803, die in ihren Grundzügen bis zum Jahr 1975 unverändert blieben. Der vierte und fünfte Teil des ersten Kapitels stellen die Veränderungen des Verjährungsgedankens in der österreichischen Gesetzgebung und Wissenschaft bis zum Ersten Weltkrieg dar.46 Die Verjährungsregelungen der zahlreichen österreichischen Strafgesetzentwürfe bzw. des Strafgesetzes 1852 werden dabei in die internationale Entwicklung des Verjährungsinstituts eingeordnet und die Einflüsse des deutschen Schulenstreits47 auf den Diskurs zur Verjährungsbegründung beleuchtet. Das zweite Kapitel widmet sich den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafrechtsreformbestrebungen der Zwischenkriegszeit und untersucht die Veränderungen, die der Verjährungsgedanke in Österreich unter deutschem Einfluss in dieser Periode erfuhr. Bedeutsam ist diese Darstellung auch deshalb, weil bei den Strafrechtsreformarbeiten nach 1945 auf den Strafgesetzwürfen der Zwischenkriegszeit aufgebaut wurde. Im dritten Kapitel der Arbeit wird das nationalsozialistische Verjährungskonzept analysiert. Das sechste Kapitel beschreibt die Entwicklung des Verjährungsgedankens nach dem Jahr 1945 und behandelt die Verjährungsregelungen des geltenden Strafgesetzbuches 1975,48 deren Entstehungsgeschichte und die ihnen zugrundeliegende Begründung. Im siebenten Kapitel werden die von 1975 bis in die 45 BAR 1909, S. 384f; HIPPEL 1930, S. 553; HORROW 1952, S. 264; LISZT 1927, S. 438. 46 Eine ausführliche Darstellung des vierten und fünften Unterabschnittes ist zum Teil in dem Aufsatz »Straffrei durch Zeitablauf ? Die österreichische Verjährungsskepsis im ›langen‹ 19. Jahrhundert«, in: SCHENNACH, Martin (Hrsg.), Strafrechtsgeschichte im »langen« 19. Jahrhundert Forschungen und Perspektiven, Innsbruck 2020, S. 256–293 veröffentlicht, worauf bei den betreffenden Abschnitten gesondert aufmerksam gemacht wird. 47 Zum Schulenstreit siehe ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.4.5. 48 Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB 1974), BGBl 1974/60.

Forschungsfragen und Gliederung

25

Gegenwart erfolgten Veränderungen im Verjährungsrecht und die Frage, wie sich die zunehmende Bedachtnahme der Strafrechtsgesetzgebung und -wissenschaft auf das Opfer (»Wiederentdeckung des Opfers«49) auf die Ausgestaltung der Verjährungsregelungen auswirkt, untersucht. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, ob und welchen strafrechtlich relevanten Zweck die aus Anlass der »Heimkinderfälle« eingeführten Anlaufhemmungen50 für bestimmte Gruppen von Straftaten haben können. Ein wichtiges Forschungsfeld der Arbeit bilden die Auswirkungen der Verjährung auf die Ahndung des nationalsozialistischen Systemunrechts, welche die Kapitel vier und fünf behandeln. Das vierte Kapitel51 erläutert die besonderen nur für die nationalsozialistischen Straftaten geltenden Verjährungsregeln und zeigt, inwieweit die Verjährungsregeln des allgemeinen Strafrechts auf die nationalsozialistischen Straftaten überhaupt Anwendung fanden. Untersucht wird außerdem, warum Sonderregeln für die NS-Delikte geschaffen und wie diese begründet wurden. Neben den gesetzlichen Grundlagen werden auch die jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten berücksichtigt, die für die verjährungsrechtliche Behandlung der NS-Verbrechen mitentscheidend waren. Mit dem Kriegsverbrechergesetz 1945 sowie dem Strafrechtsänderungsgesetz 1965 wurden aus Anlass der NS-Verbrechen bereits eingetretene Verjährungen wieder aufgehoben und den TäterInnen der Schutz der Verjährung vor Verfolgung und Bestrafung genommen. Daher wird der Frage nachgegangen, wie der Gesetzgeber die rückwirkende Aufhebung eingetretener Verjährungen begründete und warum er sie für notwendig erachtete. Auch die Verfassungskonformität dieser Vorgehensweise, insbesondere deren Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz des Art. 7 B-VG52 und dem Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK53, wird geprüft. Die Frage nach der Rechtfertigung, schwere NS-Verbrechen verjähren zu lassen, stellte sich auch in anderen europäischen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeit gibt daher auch einen Überblick über den europaweiten Umgang mit der (drohenden) Verjährung des nationalsozialistischen Völkermordes und den internationalen Bestrebungen zur Verhinderung derselben. Auf die parallele Entwicklung der Verjährungsfrage in der Bundesrepublik Deutschland wird anhand von Primärquellen und der umfangreich vor-

49 JESIONEK 2005, S. 42f, 48; in diesem Sinn auch BURGSTALLER 1999, S. 53f. 50 Darunter versteht man eine Hemmung des Verjährungsbeginns und damit de facto eine Verlängerung der Verjährungsfrist, indem diese später zu laufen beginnt. 51 Teile dieses Kapitels sind in dem Aufsatz »Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die verdeckte Lösung der Verjährungsfrage in Österreich«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ) 1/2020, S. 124–148 bereits veröffentlicht. 52 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl 1930/1. 53 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl 1958/210.

26

Einleitung

handenen deutschen Sekundärliteratur54 eingegangen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie sich die österreichische Lösung der Verjährungsfrage von der deutschen unterscheidet und welche Konsequenzen sich daraus für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ergeben. Am 1. Jänner 1975 trat das neue österreichische Strafgesetzbuch (StGB) in Kraft, dessen Regelungen (namentlich die §§ 61, 62 und 65 StGB) die Verjährung der meisten von Österreichern im Ausland begangenen NS-Morde und damit das Ende der NS-Prozesse bewirkten. Das fünfte Kapitel der Arbeit stellt die Entstehungsgeschichte und den Inhalt dieser Paragraphen sowie deren Auswirkungen auf die Möglichkeit zur Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen umfassend dar.55 Die Regelungen werden in die internationale Rechtsentwicklung eingebettet. Außerdem wird untersucht, ob die dadurch bewirkte faktische »Amnestierung der NS-Mörder«56 geplant oder doch nur ein gesetzgeberisches Versehen war. Auch die möglichen Motive der Gesetzesverfasser werden umfassend beleuchtet und insbesondere der schwierig zu beantwortenden Frage nachgegangen, ob und welchen strafrechtlichen Zweck die NSProzesse in Österreich damals noch erfüllten, um im Anschluss daran die Zweckmäßigkeit ihrer Beendigung mittels der Verjährung bewerten zu können. Der Schlussteil stellt die Forschungsergebnisse der Arbeit dar und beantwortet insbesondere die zentrale Forschungsfrage nach dem Verhältnis der verschiedenen Strafzwecktheorien zu dem Verjährungsinstitut. Außerdem werden Gemeinsamkeiten der Ereignisse, anlässlich derer die Verjährung in der Vergangenheit zu einem Problem wurde, herausgearbeitet und die Unterschiede zu den vielen Fällen, bei denen die Verjährung nicht kontrovers diskutiert, sondern allgemein akzeptiert wurde, aufgezeigt. Das Abschlusskapitel gibt zudem Antwort auf die Frage, ob die Verjährung allgemein oder zumindest in diesen Problemfällen die Erreichung eines bekannten Strafzwecks vereitelte bzw. vereitelt. Neben den klassischen Strafzwecken geht dieses auch auf die Vereinbarkeit des Verjährungsinstitutes mit den Interessen der Verbrechensopfer ein. Darüber hinaus werden die traditionellen Verjährungsbegründungen einer kritischen Analyse unterzogen und der Frage nachgegangen, ob diese gegenwärtig noch überzeugen können. 54 Beispielsweise FRIEDRICH 2007; MIQUEL 2004; SAMBALE 2002; VOLLNHALS 2011; WEINKE 2002. 55 Eine erste Fassung dieses Kapitels wurde unter dem Titel »Die ›kalte Verjährung‹ der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ) 1 (2021), S. 194–225 veröffentlicht. 56 Mit diesem im Ergebnis zutreffenden Ausdruck wird häufig die deutsche »Gehilfenverjährung« des Jahres 1968 bezeichnet, so etwa GLIENKE 2011 und GREVE 2000 schon im Titel ihrer Publikationen.

Quellen und Methode

4.

27

Quellen und Methode

Der Gesetzgebungsprozess zur Verjährung wurde im Wesentlichen anhand der einschlägigen Gesetze, Gesetzentwürfe, der Unterlagen der Kompilationshofkommission und der Hofkommission in Gesetzessachen sowie später der parlamentarischen Gesetzesmaterialien dargestellt. Neben der Untersuchung von Archivalien im Allgemeinen Verwaltungsarchiv und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv des Österreichischen Staatsarchives sowie des Archivs Christian Broda in der Österreichischen Nationalbibliothek wurde auch auf gedruckte Gesetzentwürfe und in der Datenbank ALEX online verfügbare Materialien zurückgegriffen. Die den Gesetzen und Gesetzentwürfen zugrundeliegenden Verjährungsbegründungen konnten hauptsächlich anhand der einschlägigen Gesetzesmaterialien sowie anhand von Primärliteratur der zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft nachvollzogen werden. Auch für die Analyse der Entwicklung der Verjährungsbegründung bildeten die jeweils zeitgenössischen Werke der Strafrechtswissenschaft die zentrale Erkenntnisquelle. Die Abfassung der Arbeit erfolgte generell möglichst nahe an den Primärquellen. Die thematisch einschlägige Sekundärliteratur wird in der Arbeit berücksichtigt. Anhand der aus dem neuen, bis dato unbeachteten Archivmaterial und den Primärquellen sowie der aus der Einbeziehung ausländischer Strafgesetzbücher und der neueren Entwicklungen gewonnenen Erkenntnisse wird diese allerdings einer kritischen Analyse unterzogen und geprüft, ob die darin aufgestellten Thesen uneingeschränkt aufrechterhalten werden können. In methodischer Hinsicht wurden die historischen Normtexte in der Monographie in klassisch juristischer bzw. rechtshistorischer Weise rechtsdogmatisch analysiert und miteinander verglichen, um normative Kontinuitäten und Diskontinuitäten sichtbar zu machen. Allerdings können der Gesetzgebungsprozess und der Diskurs zur Verjährung nur im Kontext der allgemeinen Rechtsentwicklung im Strafrecht sowie zum Teil der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten beurteilt werden. In den einzelnen Kapiteln wurde daher mithilfe der vorhandenen Sekundärliteratur ein Überblick über die Strafrechtsentwicklung57 sowie – soweit relevant – die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der jeweils behandelten Zeitspanne gegeben und die Entwicklung des Verjährungsrechts und der wissenschaftliche Diskussionsstand zu diesem Rechtsinstitut in ihrem historischen, gesellschaftlichen und rechtspolitischen Umfeld kontextualisiert. 57 Wichtige diesbezüglich herangezogene Werke sind AMMERER 2010; HÄRTER 2009; HOKE 1996; HÖGEL 1905; NESCHWARA 2010; NESCHWARA 2020; OLECHOWSKI 2010; REITER-ZATLOUKAL 2014; RÜPING/JEROUSCHEK 2011; SCHLOSSER 2017; SCHMIDT 1995; VORMBAUM 2009; VORMBAUM 2011.

28

Einleitung

Wie dargestellt waren Änderungen im österreichischen Verjährungsrecht häufig durch konkrete Strafrechtsfälle veranlasst. Um diese und die durch sie ausgelösten gesellschaftlichen und politischen Diskussionen zur Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der Verjährung bestimmter Straftaten umfassend darstellen zu können, wurden hauptsächlich Primärquellen (Untersuchungsberichte, Zeitungsartikel, parlamentarische Materialien) und, sofern vorhanden, Sekundärliteratur herangezogen. Stellungnahmen der Strafrechtswissenschaft zu den dadurch aufgeworfenen verjährungsrechtlichen Fragen und Gesetzesänderungen wurden ausgewertet. Eine besonders ergiebige Fundstelle, mithilfe derer die politischen, strafrechtswissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten über die Verjährung der NS-Straftaten nachvollzogen werden konnten, bildet der Nachlass des langjährigen Justizministers Christian Broda, der in der österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Für Deutschland existieren zahlreiche Werke der Primär- und Sekundärliteratur,58 die sich explizit mit der Verjährung der NSStraftaten befassen. Anhand dieser werden die zeitgleiche Entwicklung der Verjährungsfrage in der Bundesrepublik Deutschland und die Einflüsse des deutschen Diskurses auf Österreich dargestellt. Aufgrund von Parallelen in der Entwicklung und gegenseitiger Beeinflussung zwischen Deutschland und Österreich sowie ähnlicher realpolitischer Gegebenheiten in beiden Staaten, wie bspw. die strafrechtliche Bewältigung des NS-Unrechts und (drohende) Verjährung desselben, verjährte Missbrauchsfälle in staatlichen und kirchlichen Institutionen, werden auch deutsche Forschungsarbeiten59 und Quellen (insbesondere Gesetze und Gesetzesmaterialien sowie die jeweilige zeitgenössische Literatur zur Verjährung) in die Arbeit miteinbezogen. Da insbesondere das französische Verjährungsrecht Einfluss auf die Entwicklung des Verjährungsinstitutes im kontinentaleuropäischen Rechtsraum hatte, erschien es teilweise sinnvoll, auch auf rechtsvergleichende Darstellungen60 sowie auf französische Gesetzestexte zurückzugreifen. Auf diese Weise konnte die Entwicklung des Verjährungsgedankens in Österreich in den europäischen Kontext eingebettet werden.

58 Bspw. FRIEDRICH 2007; GREVE 2000; MIQUEL 2004; SAMBALE 2002; VOLLNHALS 2011; WEINKE 2002; ZIMMERMANN 1997. 59 Allgemein mit der Entwicklung des Verjährungsgedankens befassen sich für das deutsche Recht bspw. ASHOLT 2016; LOENING 1908; MANTOVANI 2014; VORMBAUM 1997; zur Verjährung der NS-Verbrechen siehe schon FN 58. 60 Bspw. ABEGG 1862; BRÄUEL 1954; LOENING 1908; TRAPPE 2009; ZIMMERMANN 1997 sowie die Beiträge in den Sammelbänden von LISZT 1894 und SIEBER/CORNILS 2010.

I.

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Die Verjährung ist seit dem Jahr 1803 durchgehend Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung. Die Geschichte des Verjährungsinstituts beginnt jedoch schon früher. Seine Wurzeln reichen zurück bis ins römische Recht, das im Zuge der Rezeption übernommen wurde und die Grundlage des geltenden Verjährungsrechts darstellt. Daneben lassen sich auch Einflüsse des heimisch-deutschen Rechts feststellen. Bei der Verjährung handelt es sich um ein historisch gewachsenes Institut. Der Geschichte der Verjährung kommt für ihre Begründung große Bedeutung zu. Befürworter der Verjährung beriefen sich zur Rechtfertigung derselben auf ihre lange Geschichte.61 Gegner dagegen sahen in der Verjährung »mehr ein historisches als ein rechtliches Institut«, auf das ohne Schaden für die Allgemeinheit verzichtet werden könne.62 Tatsächlich beruht die konkrete Ausgestaltung der Verjährung überwiegend nicht auf einer bestimmten Verjährungstheorie. Sie ist zum Teil nur historisch erklärbar. Aus diesem Grund beginnt die vorliegende Untersuchung mit einer kurzen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Verjährung. Den Beginn bilden ihre Ursprünge im römischen Recht bis zur Erlassung der ersten Strafrechtskodifikation für die Länder der Habsburgermonarchie, der Constitutio Criminalis Theresiana 1768. Sodann werden der Diskurs der vernunftrechtlichen Strafrechtswissenschaft zur Verjährung sowie deren Regelungen in ausgewählten vernunftrechtlichen Strafgesetzbüchern dargestellt und miteinander verglichen. Es folgt eine ausführliche Behandlung der Verjährungsregelungen des Strafgesetzes 1803, die bis zum Inkrafttreten des geltenden Strafgesetzbuches 1974 weitgehend unverändert galten. Die rechtshistorische Einleitung schließt mit einer Darstellung der Entwicklung des Verjährungsgedankens in der Strafrechtswissenschaft und -gesetzgebung von 1803 bis zum Ende des »langen« 19. Jahrhunderts. Sie bildet den Rahmen, auf dem die nachfolgende zeithistorische Untersuchung aufbaut. 61 LOENING 1908, S. 383; LORENZ 1934, S. 21; SCHAFFSTEIN 1973, S. 210. 62 ABEGG 1862, S. 61; FEUERBACH 1826, S. 61f.

30

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

1.

Die Entwicklung der Verjährung bis zur Erlassung der Constitutio Criminalis Theresiana 1768

1.1.

Die römischrechtlichen Wurzeln der Verjährung

Die Verjährung in ihrer heutigen Gestalt geht sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht auf das römische Recht zurück.63 Dem klassischen römischen Recht war die Verjährung der öffentlichen Strafklagen ebenso unbekannt wie die Verjährung der zivilrechtlichen Klagen und der privaten Deliktsklagen.64 Da Klagen (actiones) nicht durch Fristen beschränkt waren, konnten sie nach beliebig langer Zeit geltend gemacht werden. Nur vereinzelt wurden von diesem Grundsatz Ausnahmen gemacht. Eine zeitliche Grenze für die Klageerhebung war beispielsweise bei der Bürgschafts- und der Gewährleistungsklage sowie der prätorischen Strafklage65 statuiert. Nach Ablauf der dafür bestimmten Frist konnten diese Klagen mit einer Einrede (exceptio) abgewehrt werden.66 Erst in der Kaiserzeit wurde auch für öffentlich strafbare Handlungen eine zeitliche Klagebeschränkung eingeführt. Dies geschah zunächst durch die lex Julia adulteris für die von ihr statuierten Delikte. Die lex Julia adulteris gehörte zu den Augustinischen Ehegesetzen. Sie wurde 18 vor Christus zum Schutz des Familienlebens und der Verhinderung von Sittlichkeitsdelikten erlassen.67 Die lex Julia adulteris stellte insbesondere Ehebruch (adulterium),68 die Verführung unverheirateter oder verwitweter freigeborener Frauen und freier junger Männer (stuprum) sowie die Kuppelei (lenocinium) unter Strafe. Vergewaltigung fiel nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes.69 Anklagen nach der lex Julia adulteris mussten spätestens fünf Jahre nach dem Tag des Vergehens erhoben werden.70 Klage- bzw. anklageberechtigt war grundsätzlich jeder römische Bürger, wobei von dieser Anklagebefugnis einige Ausnahmen statuiert waren.71 Im späten römischen Recht galt schließlich für die öffentlich strafbaren Handlungen eine Anklagefrist von zwanzig Jahren. Nach überwiegender Auf63 Zu den römischrechtlichen Grundlagen der Verjährung im Zivilrecht siehe VOLLMAIER 2009, S. 5–27. 64 BERNER 1868, S. 253; MATTLI 1917, S. 13; MOMMSEN 1955, S. 488, VOLLMAIER 2009, S. 5. 65 MOMMSEN 1955, S. 488; VOLLMAIER 2009, S. 5–7; siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, S. 15. 66 VOLLMAIER 2009, S. 5. 67 BÜHLER 1893, S. 7; MOMMSEN 1955, S. 691. 68 Durch verheiratete Frauen, der Ehebruch verheirateter Männer war straffrei, sofern er keinen Einbruch in eine fremde Ehe darstellte und nicht den Tatbestand des stuprums erfüllte; METTE-DITTMANN 1991, S. 34f. 69 BÜHLER 1893, S. 7; MATTLI 1918, S. 13; MOMMSEN 1955, S. 694. 70 BÜHLER 1893, S. 7; METTE-DITTMANN 1991, S. 37; MOMMSEN 1955, S. 698. 71 METTE-DITTMANN 1991, S. 36f.

Die Entwicklung der Verjährung

31

fassung wurde diese zwanzigjährige Frist unter Kaiser Septimius Severus (193– 211 nach Christus) oder unter Kaiser Antonius Caracalla (211–217 nach Christus) eingeführt. Der genaue Zeitpunkt der Einführung der allgemeinen praescriptio im Strafrecht ist jedoch ebenso unbekannt72 wie die Gründe für ihre Einführung.73 Die einzige Voraussetzung für den Eintritt der praescriptio im römischen Recht war das Verstreichen der Fünf- oder der Zwanzigjahresfrist, die mit Begehung des Delikts zu laufen begann.74 Die zwanzigjährige Frist galt nur für die Delikte, die nicht unter die kürzere Fünfjahresfrist fielen. Eine Frist von fünf Jahren ab dem Tag des Vergehens war neben den Delikten der lex Julia auch für Anklagen wegen Diebstahls von Staatsgut und wegen der vorzeitigen Eröffnung des Testaments eines durch Fremde Ermordeten vorgesehen.75 Nach der überwiegenden Meinung waren zudem Verwandtenmord, Glaubensabfall und Kindesunterschiebung unverjährbar.76 Die praescriptio des römischen Rechts bezog sich auf die Strafklage. Der/Die Angeklagte konnte die praescriptio mit einer Einrede (exceptio) geltend machen und damit die actio bzw. accusatio abwehren. Als Rechtsfolge konnte der Strafprozess nicht durchgeführt werden und keine Verurteilung erfolgen. Die praescriptio des römischen Rechts wird daher überwiegend als prozessuales Institut verstanden, das nur das Strafverfahren betrifft, nicht den materiellen Strafanspruch.77 Da sich die praescriptio nur auf die Klage bezog, war dem römischen Recht die Vollstreckbarkeitsverjährung, d. h. das Erlöschen des Strafvollzugsrechtes bzw. der verhängten Strafe, unbekannt.78

1.2.

Die Verschweigung des heimischen Rechts

In den mittelalterlichen Rechten des heimisch-deutschen Rechts finden sich ebenfalls Regelungen, die die Erhebung einer Klage zeitlich beschränkten. Sie wurden überwiegend durch das rezipierte römische Recht verdrängt. In gerin72 BERNER 1868, S. 254; BÜHLER 1893, S. 19; LOENING 1908, S. 393; MATTLI 1918, S. 13f. 73 BÜHLER 1893, S. 9–14, mit Überblick über die verschiedenen Theorien; LOENING 1908, S. 397; SAMBALE 2002, S. 16. 74 SCHAFFSTEIN 1973, S. 211. 75 BERNER 1868, S. 254; LOENING 1908, S. 392. 76 BERNER 1868, S. 254f; LOENING 1908, S. 394, SAMBALE 2002, S. 16, SCHAFFSTEIN 1973, S. 210f; Verhandlungen des 24. Deutschen Juristentags 1898, S. 289. 77 BINDING 1991, S. 316f; BÜHLER 1893, S. 14; HEINZE 1871, S. 597; HIPPEL 1925, S. 76; MATTLI 1918, S. 15f; Verhandlungen des 24. Deutschen Juristentags 1898, S. 287; im Zivilrecht: PIEKENBROCK 2006, S. 144; nicht ausschließen, dass die Verjährung des römischen Rechts auch materiellrechtliche Bedeutung hatte, will dagegen LOENING 1908, S. 395f. 78 BERNER 1868, S. 255, BÜHLER 1893, S. 9; LOENING 1908, S. 397.

32

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

gerem Ausmaß waren jedoch auch sie von Einfluss auf die weitere Entwicklung des Verjährungsgedankens. Im Mittelalter galt für den peinlichen Prozess das Akkusations- und Verhandlungsprinzip. Der Prozess wurde nur auf Klage der Betroffenen eröffnet79 und die Bestrafung erfolgte primär im Interesse der Verletzten, nicht so sehr im Interesse der Allgemeinheit.80 Der Zweck der Strafe war Vergeltung. Der/Die TäterIn sollte den gleichen Nachteil wie sein/ihr Opfer erleiden und der dem Opfer zugefügte Schaden dadurch ausgeglichen werden. Außerdem dienten die Strafen der Abschreckung der Allgemeinheit zur Verhinderung von Straftaten (negative Generalprävention). Der Strafzweck der Besserung oder gar der Resozialisierung war dem mittelalterlichen Recht dagegen noch unbekannt.81 Das frühe deutsche Recht kannte zwar keine allgemeine Regel über die zeitliche Beschränkung der Klageberechtigung, doch finden sich Fristen für die Klageerhebung auch in vielen heimischen Rechtsaufzeichnungen. Im Gegensatz zum römischen Recht bezogen sich diese Fristen jedoch stets nur auf einzelne Delikte. Für schwere Straftaten war idR keine zeitliche Beschränkung der Klageerhebung vorgesehen, zum Teil wurde bei diesen die »Verschweigung« ausdrücklich ausgeschlossen. Die Fristen galten auch für Klagen der Obrigkeit, die im Akkusationsverfahren zu erheben waren.82 Die Fristlänge schwankte in Abhängigkeit vom Delikt und der Rechtsquelle stark. Sie reichte in der Regel von wenigen Tagen bis zu einer Frist von Jahr und Tag, wobei eine Frist von einem Jahr überwog. Teilweise waren kürzere Fristen von einem halben Jahr bis zu wenigen Tagen vorgesehen. Allgemein war beim Delikt der Notzucht die sofortige Klageerhebung erforderlich. Damit waren die Fristen des heimisch deutschen Rechts, insbesondere im Vergleich zu den ausgedehnten Fristen des römischen Rechts, überaus kurz.83 Die zeitlichen Klagebeschränkungen des heimischen Rechts wurden in der Regel als Fall der Verschweigung betrachtet.84 Die deutschrechtliche Verschweigung findet sich nicht nur im Strafrecht, sondern vor allem auch im Zivilrecht. Verschweigung bedeutet, dass ein bestehender Zustand unanfechtbar und zum Recht wird, wenn es die in ihren Rechten Verletzten dabei bewenden lassen und nicht innerhalb einer bestimmten Frist Klage erheben, sich also ihres Rechts verschweigen.85 Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die deutschrechtliche Verschweigung nicht nur ein Verfahren verhinderte, sondern das da79 80 81 82 83 84 85

HOKE 1996, S. 116. HOKE 1996, S. 11, 116, 121; SCHLOSSER 2017, S. 90f. HOKE 1996, S. 125f. HIS 1920, S. 404; LOENING 1908, S. 386. Für detaillierte Nachweise siehe HIS 1920, S. 403, LOENING 1908, S. 386–388. HIS 1920, S. 403; LISZT 1927, S. 437f. FLOßMANN 2008, S. 223f.

Die Entwicklung der Verjährung

33

hinterstehende materielle Recht zum Erlöschen brachte. Hatte der/die Berechtigte sich seines/ihres Rechts verschwiegen, d. h. dieses nicht fristgerecht geltend gemacht, dann erlosch es.86 Mit dem Vergeltungszweck der Strafe war die zeitliche Befristung des Klagerechts und des Vergeltungsanspruchs insofern vereinbar, als das Vergeltungsrecht bei den Privatklagedelikten nicht dem Staat oder der verletzten Rechtsgemeinschaft zustand, sondern den Verletzten. Dieses Recht war befristet, doch hatten es die Betroffenen in der Hand, ihren Anspruch rechtzeitig geltend zu machen. Damit hat die Verschweigung im Strafrecht einen ähnlichen Zweck wie ihre zivilrechtliche Schwester. Als Folge ihrer Untätigkeit während der Verschweigungsfrist verloren die Berechtigten ihr Recht.87 Denn diese Untätigkeit begründete die Annahme, dass es dem/der Berechtigten gar nicht ernsthaft auf eine Bestrafung des Täters/der Täterin ankomme oder er/sie dem/der TäterIn verziehen habe. Auch sollte die verspätete Verfolgung darauf schließen lassen, dass diese aus verwerflichen Motiven geschehe. Der Ausschluss einer verspäteten Racheübung diente außerdem dem allgemeinen Frieden.88 Ob weitere Zwecke mit der Befristung verfolgt wurden, ist nicht nachgewiesen. Denkbar wäre eine Vermeidung von Beweisschwierigkeiten, die längere Zeit nach der Tat unweigerlich auftreten. Dafür sprechen allgemein die kurzen Fristen sowie insbesondere der Umstand, dass diese bei Delikten, bei denen die Beweisschwierigkeiten im Allgemeinen besonders groß sind, nochmals verkürzt waren, so allgemein beim Delikt der Notzucht, nach einigen Rechten auch bei Schlägen oder dem Frevel.89 Der Begriff »Verjährung« war ursprünglich ein Synonym für Zeitablauf. Dieser beschrieb somit nicht die Wirkungen des Zeitablaufs, sondern bezeichnete diesen selbst. In den Rechtsbüchern finden sich gelegentlich die Begriffe »Verjährung von Jahr und Tag« sowie »verjähren« oder »verjähren und vertagen«. War die Jahresfrist verstrichen, war das Recht »verjährt« bzw. nach Ablauf der Frist von Jahr und Tag »verjährt und vertagt«. Ein verjährtes Recht war somit ein abgelaufenes, verfristetes Recht, das nicht mehr geltend gemacht werden konnte.90

86 87 88 89 90

FLOßMANN 2008, S. 223f; LOENING 1908, S. 387; VOLLMAIER 2009, S. 25. ERLER 1998, S. 809f; FLOßMANN 2008, S. 223. BAR 1909, S. 383; HEINZE 1871, S. 598; LOENING 1908, S. 389. HIS 1920, S. 404. LOENING 1908, S. 387.

34

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

1.3.

Die Verjährung des gemeinen Rechts

1.3.1. Rezeption und Weiterentwicklung der Verjährung im deutschen Rechtsraum Ab dem 12. Jahrhundert verdrängte der Inquisitionsprozess, das heißt die amtswegige Strafverfolgung, allmählich das Akkusationsverfahren.91 Damit einher ging die Auffassung, dass das Strafverfahren nicht so sehr dem Interesse des Verletzten als vielmehr der Allgemeinheit zu dienen habe.92 Bei Erlassung der Peinlichen Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl V. (Constitutio Criminalis Carolina) aus dem Jahr 1532 spielte das Akkusationsverfahren keine nennenswerte Rolle mehr. Sein Anwendungsbereich dürfte sich auf geringfügige Straftaten beschränkt haben.93 Mit dem Aufkommen des Inquisitionsprozesses erwies sich die deutschrechtliche Verschweigung zunehmend als unzureichend. Die Fristen waren zu kurz, um den staatlichen Behörden umfassende Ermittlungen zu ermöglichen.94 Vor allem waren die verfolgenden Behörden zum Einschreiten von Amts wegen verpflichtet. Sie machten kein eigenes Recht geltend. Aus ihrem Zögern konnte daher nicht auf einen Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch geschlossen werden.95 Damals drohte die zeitliche Begrenzung von Strafansprüchen gemeinsam mit der Verschweigung aus dem Strafrecht zu verschwinden. Die Constitutio Criminalis Carolina (1532) sah keine Befristung der Strafverfolgungsmöglichkeit vor. Abhilfe schuf die Rezeption der römischrechtlichen praescriptio.96 In der Gestalt, die sie durch die italienische mittelalterliche Strafrechtswissenschaft erhalten hatten, gelangten die römischrechtlichen Verjährungsvorschriften in den deutschen Rechtsraum, wo sie die Grundlage für die weitere Entwicklung des Verjährungsrechts bildeten.97 Zunächst wurde von den Rechtsgelehrten noch verschiedentlich die Auffassung vertreten, dass es im gemeinen Recht keine Verjährung gebe, weil die Constitutio Criminalis Carolina eine solche nicht vorsah,98 es setzte sich jedoch die Auffassung durch, dass aus dem Schweigen der Carolina zur Verjährung nicht darauf geschlossen werden könne, dass sie diese nicht zulassen wolle. Die ausgedehnten Fristen des römischen Rechts waren für die amtswegige Strafverfolgung weitaus besser geeignet als die kurzen Fristen

91 92 93 94 95 96 97 98

Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, S. 20. HOKE 1996, S. 121. SCHMIDT 1995, S. 125–127. AMBOS 2008, S. 598. LOENING 1908, S. 389. LOENING 1908, S. 389, 399; MATTLI 1918, S. 17f. LORENZ 1934, S. 14. BAR 1909, S. 384; HEINZE 1871, S. 599.

Die Entwicklung der Verjährung

35

des heimischen Rechts. Sie wurden als unmittelbar geltend angesehen.99 Allerdings stand es dem Landesgesetzgeber frei, abweichende Regelungen zu treffen und die Verjährung auszuschließen. Sofern er von diesem Recht keinen Gebrauch machte, betrug die Verjährungsfrist jedoch grundsätzlich zwanzig Jahre, bei den von der lex Julia erfassten Sittlichkeitsdelikten fünf Jahre.100 Die im römischen Recht unbekannte Vollstreckbarkeitsverjährung war auch im gemeinen Recht noch nicht vorgesehen.101 Das inquisitorische Verfahren führte zu einer Änderung des römischrechtlichen Grundsatzes, dass die Verjährung vom Angeklagten mit einer Einrede (exceptio) geltend zu machen sei. Der Richter hatte diese nun von Amts wegen (ex officio) zu beachten, und zwar auch bei einem Geständnis des Angeklagten.102 Wie in Italien setzte sich zudem die Auffassung durch, dass die Verjährung nicht nur ein Verfahren verhinderte, sondern den Strafanspruch, das Recht zu bestrafen, oder auch das Verbrechen und die Strafe selbst aufhob. Der Verjährung wurde damit anders als der römischrechtlichen Klageverjährung nicht mehr nur prozessuale Bedeutung beigemessen. Sie sollte vielmehr das dahinterstehende materielle Recht betreffen.103 Dementsprechend betrachtete die gemeinrechtliche Wissenschaft die Verjährung als Strafaufhebungsgrund.104 Die nach dem römischen Recht bestehende Unverjährbarkeit wurde zunächst anerkannt. Diese erfuhr im Anschluss an Italien auch im deutschen Raum eine Ausdehnung auf die schwersten Verbrechensarten, die sogenannten crimina excepta, auch als delicta atrocissima bezeichnet.105 So betrachtete die gemeinrechtliche Wissenschaft auch Mord, Majestätsverbrechen, Abtreibung, Gotteslästerung, Erpressung und andere schwere Delikte, wie die Geldfälschung und die Tötung, als unverjährbar.106 Diese Ausdehnung der Unverjährbarkeitsregel durch analoge Anwendung auf alle crimina excepta wurde vor allem wegen des Fehlens einer quellenmäßigen Grundlage kritisiert.107 Spätestens Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich im Anschluss an Rudolf Johann Engau108 die Auffassung durch, dass alle Straftaten und 99 100 101 102 103 104 105 106

BERNER 1868, S. 257; LOENING 1908, 399. SCHAFFSTEIN 1973, S. 211. HORROW 1952, S, 264; LOENING 1908, S. 404. LOENING 1908, S. 400f. BINDING 1991, S. 817; BÜHLER 1893, S. 15; HEINZE 1871, S. 599; MATTLI 1918, S. 19. SCHAFFSTEIN 1973, S. 207. LOENING 1908, S. 401. BRATSCH 1751, S. 106; HIPPEL 1930, S. 553, LOENING 1908, S. 398; SCHAFFSTEIN 1973, S. 210. 107 LOENING 1908, S. 401; SCHAFFSTEIN 1973, S. 210f. 108 Rudolf Johann Engau (* 1708, † 1755): Rechtsgelehrter, Professor in Jena und Richter; er setzte sich in seinem Werk »Kurtze juristische Betrachtung von der Verjährung in peinlichen Fällen« (1733) besonders ausführlich mit der Verjährung auseinander; STEFFENHAGEN 1877, S. 112.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

damit nicht nur die crimina excepta und die Tötung, sondern auch die im römischen Recht tatsächlich unverjährbaren Taten der zwanzigjährigen Verjährungsfrist unterlagen.109 Von den römischrechtlichen Quellen war allerdings auch diese Anschauung nicht gedeckt.110 Die Unterbrechung der Verjährung wurde erstmals in den italienischen Quellen erwähnt. Mit der fristgerechten Erhebung der Anklage oder der Formierung der Inquisition war die Verjährung beendet und die Frist begann neu zu laufen.111 Die gemeinrechtliche Wissenschaft erkannte die Unterbrechung an. Für die Unterbrechung jedenfalls erforderlich war allerdings ein richterlicher Verfolgungsakt gegen den Beschuldigten/die Beschuldigte, der in der Absicht vorgenommen wurde, das Verbrechen aufzuklären und zu bestrafen. Als Unterbrechungsakte infrage kamen beispielsweise die Zitation des/der Beschuldigten oder die Eröffnung der Spezialinquisition gegen ihn/sie. Die Wirkung der Unterbrechung war indessen umstritten. Nach einer Ansicht sollte die Verjährung bei »Liegenbleiben« des Verfahrens neu zu laufen beginnen, nach anderer Auffassung nur weiterlaufen und die Zeit der Unterbrechung nicht eingerechnet werden. Nach einer dritten Meinung war die Unterbrechung bei Aufhören derselben ohne Verurteilung als gar nicht eingetreten anzusehen.112 1.3.2. Einflüsse des heimisch-deutschen Rechts Die deutschrechtliche Verschweigung wurde durch die Rezeption der römischrechtlichen praescriptio im Strafrecht fast völlig verdrängt. In geringem Ausmaß beeinflussten jedoch auch die deutschrechtlichen Regelungen die Präskriptionslehre des ius commune. In diesem Zusammenhang ist vor allem die in den deutschen Rechtsbüchern erwähnte »Verjährung von Jahr und Tag« zu nennen. So etablierte sich der Begriff »Verjährung« allmählich als Synonym für praescriptio und ersetzte diesen schließlich.113 In den späteren deutschen und österreichischen Strafgesetzbüchern waren für Privatanklagedelikte, d. h. für Straftaten, die nur auf Antrag der Verletzten verfolgt wurden, sehr kurze Fristen von in der Regel sechs Wochen vorgesehen. Diese Fristen beruhen auf dem Verschweigungs-, nicht dem Verjährungsgedanken.114 Die Berechtigten verloren den ihnen zustehenden Strafanspruch durch Nichtausübung oder, anders ausgedrückt, durch »ausdrücklichen oder still-

109 110 111 112 113 114

HIPPEL 1930, S. 553; LOENING 1908, S. 401; SCHAFFSTEIN 1973, S. 211. SCHAFFSTEIN 1973, S. 211. LORENZ 1934, S. 14. LOENING 1908, S. 403. FLOßMANN 2008, S. 223f; LOENING 1908, S. 387; VOLLMAIER 2009, S. 25. BAR 1909, S. 383; BÜHLER 1893, S. 15; HEINZE 1871, S. 628f.

Die Entwicklung der Verjährung

37

schweigenden Verzicht«.115 Die ausführliche Begründung des Verjährungsinstituts in den Gesetzesmaterialien und der Strafrechtswissenschaft wurde auf die separat geregelte Befristung der Privatanklage nicht übertragen.116 1.3.3. Die erstmalige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechtsgrund der Verjährung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verjährungsinstitut setzte im deutschen Raum Anfang des 17. Jahrhunderts ein. Der Rechtsgrund der Verjährung war dabei heftig umstritten. Antonius Mattheus117 hielt die Verjährung für notwendig, um »dem Hangen und Bangen« des/der Beschuldigten ein Ende zu setzen.118 Der Tübinger Professor Wolfgang Adam Lauterbach sah in den zunehmenden Beweisschwierigkeiten, insbesondere der großen Schwierigkeit des Verteidigungsbeweises lange Zeit nach der Tatbegehung, den wichtigsten Grund für die Verjährung. So hielt er es für besser, hundert Schuldige ohne Strafe davonkommen zu lassen, als eine/n Unschuldigen zu verurteilen. Dieser Auffassung schloss sich Christian Thomasius an.119 Samuel Stryk120 ging davon aus, dass Gott selbst nach Ablauf der gemeinrechtlichen Fristen verziehen habe und den Menschen dann Gleiches zu tun verbunden wäre.121 Johann Rudolf Engau gelangte gemeinsam mit Johann Christoph Koch122 und Josias Ludwig Ernst Püttmann123 zu dem Schluss, dass der Zweck der Strafe bereits erfüllt sei, wenn der/die TäterIn sich zwanzig Jahre hindurch »eines vorher begangenen Lasters willentlich enthalten«124 habe. Darin erblickten die genannten Autoren ganz im Sinne der in der Aufklärung auftretenden spezialpräventiven Strafzwecktheorie den Nachweis der Besserung des

115 HOEGEL 1909, S. 267f. 116 Bspw. HYE 1863, S. 76; siehe auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.3. 117 Antonius Mattheus (* 1601, † 1654): Professor für Rechte an der Universität Utrecht; Begründer einer gemeineuropäischen Strafrechtswissenschaft in den Niederlanden; EISENHART 1884, S. 617–619. 118 SCHAFFSTEIN 1973, S. 209. 119 ENGAU 1750, S. 12; FEUERBACH 1826, S. 62; LOENING 1908, S. 405f; SCHAFFSTEIN 1973, S. 209. 120 Samuel Stryck (* 1640, † 1710) Professor für römisches Recht in Frankfurt und Rat beim Oberappellationsgericht in Dresden, später Professor an der neugegründeten Universität Halle und kurfürstlicher Geheimrat; REPGEN 2013, S. 606–608. 121 GRÜNDLER 1836, S. 340. 122 Johann Christoph Koch (* 1732, † 1808): Professor der Rechte an der Universität, Geheimrat und Kanzler in Hessen; SCHULTE 1882, S. 386f. 123 Josias Ludwig Ernst Püttmann (*1730, † 1796): Anwalt, Professor an der Universität Leipzig; EISENHART 1888, S. 779. 124 ENGAU 1750, S. 13.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Täters/der Täterin. Für die Sicherheit im Staat schienen ihnen die gebesserten TäterInnen nicht mehr gefährlich.125 Jacob Rave126 und Christian Georg Friedrich Meister127 kombinierten die Theorien der Beweisschwierigkeiten und der vermuteten Besserung.128 Der Wittenberger Conrad Straus verband in seiner Promotionsschrift aus dem Jahr 1667 den Gedanken der Beweisschwierigkeiten mit der Begründung für die zivilrechtliche Verjährung, der vermuteten Besserung des Täters/der Täterin und dem erloschenen bösen Beispiel bzw. Andenken an die Tat.129 Angedeutet wird die Begründung der Verjährung mit dem erloschenen Andenken auch von Samuel Pufendorf (1672), der die sichernde Abschreckung als Zweck der Strafe betrachtete.130 Johann Samuel Friedrich von Böhmer schließlich verwarf all diese Theorien, die seiner Meinung nach auf unsicheren Vermutungen beruhten. Man müsse sich bei der Begründung der Verjährung damit begnügen, dass sie durch die leges scriptae anerkannt werde.131 Wichtige Argumente, die auch den Diskurs der Folgezeit beherrschten und bis in die Gegenwart vertreten werden, waren damit bereits von der gemeinrechtlichen Wissenschaft vorgebracht worden.

1.4.

Die Verjährung in den Partikularstrafgesetzbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts

In den deutschen Landesgesetzbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich ausdrückliche Verjährungsregelungen, deren Anwendung dem rezipierten römischen Recht vorging, nur vereinzelt. Diese Bestimmungen standen überwiegend in Einklang mit dem rezeptierten römischen Recht und ihrer Auslegung durch die gemeinrechtliche Wissenschaft.132 Abweichende Regelungen betrafen vor allem die Länge der Fristen und die unverjährbaren Delikte.133 125 FEUERBACH 1826, S. 62, SCHAFFSTEIN 1973, S. 209f. 126 Jacob Rave (* 1736, † 1767), deutscher Jurist und Ordinarius für Philosophie an der Universität Jena; ROLIN 2005, S. 44. 127 Christian Georg Friedrich Meister (* 1718, † 1782): ordentlicher Professor der Rechte zu Göttingen; EISENHART 1885, S. 252. 128 SCHAFFSTEIN 1973, S. 209f. 129 LOENING 1908, S. 409. 130 ASHOLT 2016, S.135f; LOENING 1908, S. 407. 131 ENGAU 1750, S. 12; FEUERBACH 1826, S. 62; SCHAFFSTEIN 1973, S. 210 132 So bspw. die Verjährungsregeln der bayrischen Malefizordnung 1616, der Magdeburger Polizey-Ordnung 1688 und des bayrischen Codex Juris Bavarici Criminalis 1751; LOENING 1908, S. 405. 133 LOENING 1908, S. 405; derartige Regelungen finden sich bspw. im preußischen Landrecht 1620 sowie dem Landrecht von Baden-Durlach 1622; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, S. 30.

Die Entwicklung der Verjährung

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In der Niederösterreichischen Landgerichtsordnung von Kaiser Ferdinand III. (Ferdinandea) aus dem Jahr 1656, auf deren Verjährungsregeln die Constitutio Criminalis Theresiana (1768) aufbaute, erfolgte dagegen eine Spezifizierung und Weiterentwicklung des rezeptierten Rechts. Vor allem wurden die Verjährungsfristen stärker ausdifferenziert und neben der Fünf- und Zwanzigjahresfrist auch eine Verjährungsfrist von zehn Jahren eingeführt. Zur Bestimmung der Verjährungsfrist für die einzelnen Delikte nahm die Ferdinandea erstmals auch auf die Strafandrohung Bezug. Im Übrigen nannte die Ferdinandea zur Bestimmung der Verjährungsfristen die einzelnen Straftaten ausdrücklich.134 Weit gefasst wurde in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Lehre der Kreis der unverjährbaren Delikte. Unverjährbar waren die »zehn hohen Verbrechen«. Dazu gehörten beispielsweise mit der »Zauberen verknüpfte Verläugnung göttlicher Majestät«, jede grobe Gotteslästerung, Landesverrat, der »Mordbrand«, »an Eltern oder Kindern und Kindeskindern verübte Nothzucht«, »wider die Natur begangene Sodomitien« sowie die Ermordung naher Angehöriger.135 Keine Anwendung finden sollte die Verjährung bei Flucht des Verbrechers/der Verbrecherin, der/die selbst die »verdiente Strafe« vereitelt hatte. Darüber hinaus waren nur die Verbrechen verjährbar, die im Geheimen begangen und erst nach Verstreichen der Verjährungsfrist »kundbar« geworden waren.136 Die stärkere Ausdifferenzierung der Verjährungsfristen führte zwar dazu, dass sich die Verjährungszeit für einige Straftaten, die zuvor unter die Zwanzigjahresfrist gefallen waren, verkürzte. Insgesamt schränkte die Ferdinandea den Anwendungsbereich der Verjährung jedoch beträchtlich ein. Dennoch wurde von der zeitgenössischen Wissenschaft zum Teil die Auffassung vertreten, dass die Verjährung nicht nur bei den nach der Ferdinandea unverjährbaren Straftaten, sondern darüber hinaus bei allen nach dem »göttlichen Recht« verbotenen Lastern ausgeschlossen war. Welche Laster als vom göttlichen Recht verboten und daher als unverjährbar betrachtet wurden, kann nicht festgestellt werden. Da allerdings der Kreis der unverjährbaren Delikte bereits nach der Ferdinandea sehr groß war, scheinen die von Gott verbotenen Laster verhältnismäßig leichte Straftaten gewesen zu sein.137

134 Art. 43 Peinliche Landesgerichtsordnung für Österreich unter der Enns (1656); ENGAU 1750, S. 72; LOENING 1908, S. 405; 414f. 135 Art. 43 Peinliche Landesgerichtsordnung für Österreich unter der Enns (1656). 136 Art. 43 Peinliche Landesgerichtsordnung für Österreich unter der Enns (1656). 137 BRATSCH 1751, S. 106.

40 1.5.

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Die Verjährungsregeln der Constitutio Criminalis Theresiana

Von Kaiserin Maria Theresia wurde 1752 eine Kommission zur Kodifikation des Strafrechts eingesetzt. Das Ergebnis ihrer Arbeit war die Constitutio Criminalis Theresiana (CCTh). Die CCTh trat am 31. Dezember 1768 in allen Ländern der Habsburgermonarchie mit Ausnahme Ungarns in Kraft. Die große Bedeutung der Constitutio Criminalis Theresiana liegt darin, dass sie das Straf- und Strafprozessrecht erstmals für alle österreichischen Erbländer einheitlich regelte. Die subsidiäre Geltung des gemeinen Rechts war damit ausgeschlossen.138 Die Constitutio Criminalis Theresiana (1768) übernahm die Verjährungsbestimmungen der Ferdinandea (1656) mit geringfügigen Abweichungen. Noch stärker als die Ferdinandea (1656) knüpfte die CCTh die Verjährungsfristen grundsätzlich an die Art der verhängten Strafe an (z. B. Leibesstrafe, Todesstrafe) 139 und nannte im Übrigen die einzelnen Straftaten ausdrücklich. Die Verjährungsfristen der CCTh betrugen fünf, zehn und zwanzig Jahre.140 Sie begannen grundsätzlich mit dem Tag der Tatbegehung zu laufen.141 Der Kreis, der von der Verjährung ausgenommenen Straftaten war wiederum weit gefasst. Dazu gehörten elf Delikte, darunter überwiegend die nach der Ferdinandea (1656) unverjährbaren Straftaten. Die CCTh schloss beispielsweise den bestellten Mord (sowohl für den/die AnstifterIn als auch den/die unmittelbare/n TäterIn), den vorsätzlichen und bedachten Mord, Mord an engen Verwandten, Majestätsbeleidigung, schwere Gotteslästerung, »die stumme oder sodomitische Sünd wider die Natur« und Landesverrat von der Verjährung aus. Bei den unverjährbaren Straftaten nicht mehr erwähnt wurde die Zauberei.142 Die CCTh (1768) gestand der Verjährung im Anschluss an die Ferdinandea (1656) weitreichende Wirkungen zu. Der/Die TäterIn sollte nach Verstreichen der Verjährungsfrist »vor jeder peinlichen Klag, Frag und Straff« sicher sein. Zusätzlich bestimmte die CCTh, dass die verjährte Straftat der Ehre ganz unnachteilig sei und »ohne Unbild« von niemandem vorgeworfen werden könne. Bei einer Verurteilung wegen einer anderen Straftat durfte die verjährte Tat nicht als Erschwerungsgrund gewertet werden. Ein verjährtes Verbrechen war vielmehr als gänzlich getilgt und erloschen anzusehen.143 Der Richter hatte die Verjährung

138 139 140 141

HORROW 1952, S. 38. HOEGEL 1897, S. 135; LOENING 1908, S. 405. Art. 16 Abs. 2–4 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. Ausnahmen bestanden für fortgesetzte und länger andauernde Delikte. Bei diesen begann die Verjährung mit dem Tag der letzten strafbaren Handlung zu laufen; § 16 Abs. 6 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. 142 Art. 16 Abs. 9 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. 143 HORROW 1952, S. 264; Art. 16 Abs. 5 Constitutio Criminalis Theresiana 1768.

Die Entwicklung der Verjährung

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von Amts wegen zu beachten und den/die Angeklagte/n gegebenenfalls freizusprechen.144 Nicht zugute kam die Verjährung Personen, die sich der Strafverfolgung während der Frist durch Flucht aus den Erblanden oder Untertauchen entzogen hatten,145 weil Beschuldigte, die die Strafverfolgung selbst verhindert hatten, dafür nicht mit der Verjährung belohnt werden sollten.146 Die Verjährung kam nur dann zur Anwendung, wenn der/die Beschuldigte während der Verjährungszeit in den Erbländern geblieben war und leicht hätte verhaftet werden können, aber dennoch nicht verfolgt worden war, abgesehen von diesem Fall auch dann, wenn die Tat selbst erst nach Verjährungseintritt entdeckt wurde.147 Damit scheinen sowohl die Ferdinandea (1656) als auch die CCTh (1768) der Verjährung kaum einen Anwendungsbereich gelassen zu haben. Die Verjährung konnte im Wesentlichen nur bei Säumigkeit der Behörden eintreten. Dagegen erscheint es unwahrscheinlich, dass eine tatsächlich begangene Straftat erst zwanzig, zehn oder auch fünf Jahre nach ihrer Begehung bekannt wird. Insofern schützten die Verjährungsregeln der CCTh faktisch wohl überwiegend vor falschen Beschuldigungen nach längerer Zeit und auch das nur dann, wenn es sich nicht um eines der zahlreichen unverjährbaren Delikte handelte. Aus dem Gesetzestext kann nicht entnommen werden, ob die Verjährungsregeln der Ferdinandea und der CCTh auf einer spezifischen Theorie aufbauten. Sie stellten auf unterschiedliche Aspekte ab. Bei den Straftaten, die erst nach Ablauf der Verjährungsfrist bekannt wurden, erscheint naheliegend, dass mit der Verjährung vor Falschbeschuldigungen und den zunehmenden Beweisschwierigkeiten geschützt werden sollte. Der Ausschluss bestimmter Straftaten von der Verjährung und die abgestuften Fristen lassen dagegen den Schluss zu, dass bei diesen länger ein Strafbedürfnis bestand, mit Beweisschwierigkeiten können sie jedenfalls nicht erklärt werden. Da für den Eintritt der Verjährung auch auf das Verschulden der Behörde an der nicht erfolgten Verhaftung und damit gewissermaßen die Säumnis des Staates abgestellt wurde, kommt in den Regelungen der CCTh (1768) auch der Verschweigungsgedanken des alten heimischen Rechts zum Ausdruck.

144 145 146 147

Art. 16 Abs. 7 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. Art. 16 Abs. 8 Constitutio Criminalis Theresiana 1768. LOENING 1908, S. 402, 404, 405 Anmerkung 2. HORROW 1952, S. 264; Art. 16 Abs. 8 Constitutio Criminalis Theresiana 1768.

42

2.

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung

Zu einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Verjährung kam es während der Aufklärung. Im deutschen Raum gilt sie als »verjährungsfeindliche« Zeit.148 In der älteren Literatur wird davon ausgegangen, dass die verjährungskritische Haltung der Aufklärungsbewegung aus den neu aufkommenden Strafzwecktheorien resultierte.149 Niederschlag fand die vermeintlich ablehnende Haltung der Aufklärungsbewegung gegenüber der Verjährung in den vernunftrechtlichen Gesetzbüchern, nämlich dem Josephinischen Strafgesetz 1787 und dem preußischen Allgemeinen Landrecht (ALR) 1794. In diesen war die Verjährung im Gegensatz zum gemeinen Recht, der Constitutio Criminalis Theresiana (1768), aber auch den nachfolgenden Gesetzbüchern nicht vorgesehen.150 Die Abschaffung der Verjährung und die daraus resultierende Verpflichtung, auch leichte Straftaten noch Jahrzehnte nach der Tatbegehung zu verfolgen, stellt eine beträchtliche Verschärfung des Strafrechts dar. Aus dieser resultiert ein Mehraufwand für die Strafverfolgungsbehörden und damit eine finanzielle Belastung für den Staat. Die ökonomische Sinnhaftigkeit dieser Aufwendungen und die Zweckmäßigkeit einer Bestrafung viele Jahre nach der Tat lassen sich gerade aus dem Blickwinkel der in der Aufklärung aufkommenden modernen Strafrechtstheorien hinterfragen. Wird Strafe nicht mehr im Sinne religiöser Vergeltung verstanden, dann stellt sich nicht nur die Frage, welcher Zweck mit der Strafe überhaupt verfolgt wird, sondern auch, ob sie diesen Jahre und Jahrzehnte nach der Tat noch erfüllen kann. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Strafe längere Zeit nach der Tatbegehung wurde in den vernunftrechtlichen Gesetzbüchern durchaus unterschiedlich beantwortet. Im Gegensatz zum preußischen ALR (1794) und dem Josephinischen Strafgesetz (1787) enthielten der französische Code pénal (1791) sowie der Code d’instruction criminelle (1808), aber auch das Leopoldinische Strafgesetzbuch für die Toskana (1786) äußerst großzügige Verjährungsregeln. Sie dehnten den Anwendungsbereich der Verjährung weit über das rezipierte römische Recht hinaus aus. Vor allem die Verjährungsregeln des französischen Rechts sorgten daher in der deutschen Literatur für Erstaunen. Sie veranlassten Richard Loening zur Feststellung: »Es ist eigentümlich: die Französische Revolution und ihre Gesetzgebung sind doch ebenfalls aus der Aufklärungsbewegung hervorgegangen und mannigfach durch deren Ideen beeinflußt; allein auf unserem Gebiet zeigen sie sich gerade von den entgegengesetzten Tendenzen be148 In diesem Sinn BAR 1909, S. 384f; HIPPEL 1930, S. 553; HORROW 1952, S. 264; LISZT 1927, S. 438. 149 BAR 1909, S. 384f; BERNER 1868, S. 257; LOENING 1908, S. 411f; LORENZ 1934, S. 14f; UNTERHOLZNER 1858, S. 421. 150 LORENZ 1934, S. 15.

Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung

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herrscht, wie die deutsche Aufklärungsbewegung.«151 Tatsächlich finden sich neben den bekannten verjährungskritischen Positionen auch in der deutschen Aufklärungsbewegung Stimmen, die die Verjährung nicht kritisierten, sondern im Gegenteil für einen weiten Anwendungsbereich derselben eintraten.152 Die in der älteren Literatur vertretene These von der Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärungsbewegung und der vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien kann daher als zu undifferenziert und in dieser Form unzutreffend bezeichnet werden. Verjährungsfeindlich war angesichts seines Verjährungsausschlusses augenscheinlich das Josephinische Strafgesetz (1787). Die Abschaffung der Verjährung scheint aber entgegen der Rechtsmeinung der in der Kompilationshofkommission vertretenen Strafrechtswissenschaft, die ihrerseits recht großzügige Verjährungsregelungen beschlossen hatte, in der Endphase der Gesetzgebungsarbeiten auf Initiative des Monarchen Joseph II. erfolgt zu sein.153 Bei der Abfassung des bayrischen Strafgesetzbuchs (1813)154 sowie des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794) bzw. der preußischen Kriminalordnung (1805)155 bestanden Vorbehalte gegenüber dem klassischen Verjährungsinstitut. So wurde die Verjährung in Bayern und Preußen an weitere Bedingungen geknüpft und über den bloßen Zeitablauf hinaus ein Nachweis der Besserung verlangt. Während die ursprüngliche Wirkung der aus dem römischen Recht rezipierten praescriptio darin bestand, dass sie eine gerichtliche Untersuchung der verjährten Tat, ein Verfahren und eine Feststellung des Täters/der Täterin verhinderte,156 musste in Bayern und Preußen dagegen trotz Verstreichens der Verjährungsfrist eine Untersuchung erfolgen, um die Erfüllung der Bedingungen für den Eintritt der Verjährung zu überprüfen. Konnte der/die Beschuldigte die »ununterbrochen gute Aufführung«, »die gründliche Besserung« oder die Nichtbegehung weiterer Straftaten nicht nachweisen, vermochte die verstrichene Verjährungsfrist ein Verfahren nicht zu verhindern. Die Verjährung trug der Besserung des Delinquenten/der Delinquentin Rechnung. War diese nicht gegeben bzw. war der Besserungsnachweis nicht erbracht, fand ein Verfahren statt. Die Verjährung schützte dann nicht mehr vor Beweisschwierigkeiten und der Fehlurteilsgefahr.157 Die Wirkung und das Wesen der rein prozessualen praescriptio erfuhr damit eine wesentliche Veränderung.

151 152 153 154 155 156

LOENING 1908, S. 417. Siehe dazu sogleich in Kapitel I.2. sowie ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.1. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.3. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2. Zur praescriptio des römischen Rechts, die die Grundlage unseres geltenden Verjährungsinstituts bildet, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel I.1. 157 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2.–II.4.3.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Verlässt man den deutschen Raum, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Die Verjährungsregeln des Leopoldinischen Strafgesetzbuchs (1786) für die Toskana158 – und damit noch im Einflussbereich der Habsburgermonarchie – zeigen deutlich, dass eine verjährungsskeptische Haltung keineswegs ein Merkmal eines vernunftrechtlichen Gesetzbuchs ist. Bestätigt wird dies durch den Code pénal (1791) sowie den Code d’instruction criminelle (1808).159 In allen drei vernunftrechtlichen Gesetzbüchern war die Verjährung in einem Ausmaß anerkannt, das im Gebiet des heutigen Österreichs bis jetzt nicht erreicht wurde. Unterschiedlich beurteilten auch die dem Vernunftrecht zuzurechnenden Wissenschaftler die Berechtigung der Verjährung. Trotz einiger prominenter Verjährungsgegner160 überwiegen zahlenmäßig die zum Teil nicht minder bedeutenden Verjährungsbefürworter deutlich.161 Von den bekannten Verjährungsgegnern hat insbesondere Caesar Beccaria diesen Ruf zu Unrecht, wollte er doch die Verjährung in einem Ausmaß zulassen, das über das heutige österreichische Recht weit hinausgeht. Johann Anselm Ritter von Feuerbach lehnte die Verjährung zwar theoretisch ab, nahm diese jedoch zumindest in einen von ihm gestalteten Gesetzentwurf auf, sodass fraglich ist, für wie problematisch er das Verjährungsinstitut tatsächlich hielt.162 Verjährungskritisch waren die vernunftrechtlichen Wissenschaftler vor allem im Vergleich zu ihren Vorgängern und Nachfolgern. Bis zur Aufklärung wurde das Verjährungsinstitut nämlich gar nicht in Frage gestellt.163 Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfreute sich die Verjährung dann nicht nur in der deutschen Partikularstrafgesetzgebung, sondern auch in der deutschen Wissenschaft einer zunehmenden Anerkennung.164 Deswegen aber auf eine generelle Ablehnung der Verjährung oder auch nur eine »Verjährungsfeindlichkeit« der vernunftrechtlichen Wissenschaft zu schließen, muss jedoch als verfehlt bezeichnet werden.165 Dies gilt auch für den deutschen Raum, insbesondere das Gebiet des heutigen Österreichs. Genauso wenig kann die Verjährungskritik der Aufklärungsbewegung als Produkt der vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien betrachtet werden. Der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches (1787) scheint tatsächlich auf der Erwägung zu basieren, dass eine Strafe auch lange Zeit nach 158 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.5. 159 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.4. 160 Zu den verjährungskritischen Positionen in der vernunftrechtlichen Wissenschaft siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. 161 Zu den verjährungsfreundlichen Positionen in der vernunftrechtlichen Wissenschaft siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.2. 162 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.3. 163 ABEGG 1862, S. 13; UNTERHOLZNER 1858, S. 421; zu den Anfängen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verjährungsinstitut siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel I.4.4. 164 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV. 165 In diesem Sinn auch ASHOLT 2016, S. 18f, 21.

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der Tat jedenfalls abschreckender wirke als die Straflosigkeit infolge der Verjährung. Dagegen lag dem Entwurf von Franz Georg Edler von Kees166 (1783) die Auffassung zugrunde, dass die Notwendigkeit einer generalpräventiven Abschreckung mit der Zeit entfällt, sowie außerdem, dass sich der/die TäterIn lange Zeit nach der Tat gebessert habe.167 Das Hauptargument für die extensiven Verjährungsregelungen des französischen Rechts war, dass das Andenken an die Straftat mit der Zeit erlösche und die durch sie hervorgerufenen psychischen Erregungen (Entsetzen, Empörung, Furcht) weniger stark empfunden werden würden. Dann bedürfe der Staat des Exempels der Strafe nicht mehr.168 Das Leopoldinische Strafgesetz (1786) strebte insbesondere die Resozialisierung und Wiedereingliederung des/der einmal straffällig Gewordenen in die Gesellschaft an. Es ist daher anzunehmen, dass auch dessen großzügige Verjährungsregelungen auf dem Besserungsgedanken beruhten.169 In Preußen wollte man die Verjährung nicht »in einem Buche, welches in die Hände der Volksklassen kommt«, regeln, um die Wirkung der Androhungsprävention nicht abzuschwächen.170 Bei Besserung des Täters/der Täterin und damit fehlender spezialpräventiver Notwendigkeit der Strafe kam die Verjährung dagegen zur Anwendung.171 Auf ähnlichen Erwägungen beruhten auch die Verjährungsregeln des bayrischen Strafgesetzbuchs (1813). Aus generalpräventiver Sicht fürchtete man, dass die mit der Verjährung in Aussicht gestellte Straffreiheit die Wirkung der Strafandrohung abschwächen werde. Vor allem aus spezialpräventiver Sicht erachtete man die Verjährung aber als zweckmäßig, denn dem Staat läge daran, einem/einer VerbrecherIn die »Rückkehr zur Tugend und Ordnung« zu erleichtern. Wenn selbst ein durch mehrere Jahre gebessertes Leben die Strafgewalt nicht versöhnen würde, dann könnte sich derjenige, »welcher durch einen unglücklichen Moment zu einem Verbrecher herabfiel, [..] niemals mehr aufrichten« und sich zu neuen Verbrechen und Übeltaten aufgefordert fühlen.172 Für die 166 Franz Georg Edler von Kees (* 1747, † 1799): Schüler von Joseph Sonnenfels, ab 1777 Mitglied der Obersten Justizstelle, ab 1780 Mitglied und Referent der Kompilationshofkommission. Er wurde vor allem mit Aufgaben im Bereich des Strafrechts und des Strafprozessrechts betraut. Der erste vollständige Entwurf (1783) für das Josephinische Strafgesetz stammt von ihm. An den Beratungen zum Strafgesetz von 1803 nahm von Kees mit großem Engagement bis zu seinem Tod teil; AMMERER 2010, S. 122–125; HARTL 1996, S. 50. 167 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.2. und II.4.1. 168 Dazu in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.4. 169 Dazu in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.5. 170 Ministerialreskript vom 26. Februar 1798, zitiert nach ABEGG 1862, S. 14. 171 § 597–599 Kriminalordnung für die Königlich Preußischen Staaten vom 11. Dezember 1805; ABEGG 1862, S. 15; LOENING 1908, S. 415; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2. 172 Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern 1813, S. 326f; zu den Verjährungsregelungen des bayrischen Strafgesetzbuches 1813 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.3.

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Anerkennung der Verjährung in diesen Gesetzbüchern war also die mutmaßliche Besserung des Delinquenten/der Delinquentin ein wichtiges Argument, die aber durch die Erfüllung verschiedener Bedingungen bewiesen werden musste.173 Einige Vertreter der Aufklärung forderten die Abschaffung der Verjährung auf spezial- und generalpräventiver Grundlage oder auf Basis des kategorischen Imperativs, jedoch brachten auch Befürworter der Verjährung zur Begründung derselben Argumente vor, die überwiegend auf spezial-, aber auch generalpräventiven Erwägungen, ja ausnahmsweise sogar der Gerechtigkeit beruhten.174 Argumente für und gegen die Verjährung bauten damit auf derselben theoretischen Grundlage auf. Eine Gegenüberstellung verschiedener Positionen soll dies verdeutlichen: Ernst Ferdinand Klein175 begründete die Verjährung etwa damit, dass sich der/ die TäterIn mit der Zeit bessere,176 wohingegen Karl August Gründler177 zu bedenken gab, dass der/die TäterIn nach Ablauf der Verjährungsfrist »ebenso ruchlos, als vorher seyn könne«.178 Die Ambivalenz der generalpräventiven Strafzwecktheorie bei der Beurteilung der Verjährung zeigt sich besonders deutlich bei Franz von Zeiller. Er ging einerseits davon aus, dass schon die gesetzliche Statuierung der Verjährung die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung abschwäche und dass die »Straflosigkeit eines bekannten Verbrechers […] ein sehr gefährliches Beispiel«179 für andere darstelle. Damit nahm Zeiller an, dass eine Bestrafung auch nach Verstreichen einer längeren Zeit zur Abhaltung der Allgemeinheit von Straftaten generalpräventiv notwendig sei.180 Andererseits begründete er die Verjährung mit dem erloschenen Andenken an die Tat, womit aber auch die Notwendigkeit einer Strafe zum Zweck der Generalprävention entfallen würde.181 Erachteten die Anhänger der Wiedervergel173 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2. und II.4.3. 174 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3. 175 Ernst Ferdinand Klein (* 1744, † 1810) gehörte zu den bedeutendsten preußischen Juristen der Aufklärung. Er verfasste den strafrechtlichen Teil des preußischen ALR (1794). Zu seinen größten Verdiensten gehört die Begründung eines zweispurigen Systems von Strafen und sichernden Maßnahmen; BAR 1882, S. 161; KLEINHEYER 1977, S. 734f; SCHMIDT 1995, S. 224, 252. 176 KLEIN 1796, S. 135. 177 Karl August Gründler (* 1769, † 1843): Professor der Rechte an der Universität Erlangen; SCHULTE 1879, S. 35. 178 GRÜNDLER 1796, S. 20. 179 ZEILLER 1808, S. 185. 180 ZEILLER 1806, S. 184; ZEILLER 1808, S. 185f; in diesem Sinn äußerte sich auch Henke, der zudem darauf hinwies, dass der/die StraftäterIn nach Verjährungseintritt vor der Strafe geschützt seine/ihre Tat sogar zugeben und ungestört die Früchte aus derselben genießen könne, wodurch das Andenken an die Tat zweifellos wiederaufleben werde, HENKE 1838, S. 174–176. 181 ZEILLER 1806, S. 184f.

Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung

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tungslehre die konsequente Bestrafung in der Regel unabhängig vom Zeitablauf für erforderlich,182 so ging doch auch einer von ihnen, nämlich Jodocus Temme,183 davon aus, dass nach längerer Zeit eine Bestrafung ungerecht sei.184 Aloys Steiger und August Gründler nannten die Verjährung »gefährlich«, weil der/die TäterIn im Hinblick auf dieselbe alles daran setzen werde, um seine/ihre Verbrechen zu verheimlichen. Nach Eintritt der Verjährung werde er/sie über die »Ohnmacht der Gesetze lachen« und durch die erfahrene Straffreiheit zu neuen Straftaten ermutigt sein.185 Dagegen liegt dem Code d’instruction criminelle (1808) und dem bayrischen Strafgesetzbuch (1813) die gegenteilige Annahme zugrunde, nämlich dass mit der Verjährung kein Anreiz zu neuen Straftaten, sondern im Gegenteil ein Anreiz zu künftigem Wohlverhalten für den/die einmal straffällig Gewordene/n geschaffen werde, weil diese/r die Möglichkeit erhalte, der Strafe auch für die schon begangenen Taten zu entgehen.186 Die aufklärerischen Strafzwecktheorien waren damit nicht per se verjährungsfeindlich, sondern einer Begründung der Verjährung durchaus zugänglich. Besondere Schwierigkeiten, die Verjährung schlüssig zu begründen, bestanden dabei allerdings für die Anhänger der Wiedervergeltungslehre von Immanuel Kant.187 Die Präventionstheorien bildeten dagegen eine Basis, auf der sowohl Argumente für als auch gegen die Verjährung aufbauen konnten.188 Nicht die vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien, sondern die auf sie gestützten weiteren Vorstellungen waren daher für das scheinbar ablehnende, tatsächlich jedoch ambivalente Verhältnis der Aufklärungsbewegung zur Verjährung verantwortlich.189

182 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. 183 Jodocus Donatus Hubertus Temme (* 1798, † 1881) deutscher Politiker, Jurist, Professor für Kriminalrecht und Schriftsteller; BRÜMMER 1894, S. 558–560. 184 TEMME 1876, S. 195f; ähnlich wenngleich weniger poetisch TEMME 1843, S. 175f. 185 Wörtlich STEIGER 1804, S. 60f; sinngemäß auch GRÜNDLER 1836, S. 348. 186 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.3. und II.4.4. 187 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. 188 Alois Steiger, der die Verjährung als Anhänger der Wiedervergeltungslehre ablehnte, bezeichnete die Idee der Verjährung gar abfällig als »ein Erzeugnis der mancherlen bislang angenommenen Strafzwecke«; STEIGER 1804, S. 56; diese Beurteilung ist allerdings unzutreffend, siehe dazu Kapitel I.1. 189 In diesem Sinn auch ASHOLT 2016, S. 21.

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3.

Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803

Dem Josephinischen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1787 war für eine Kodifikation eine ungewöhnlich kurze Geltungsdauer beschieden. Zu radikal waren die eingeführten Neuerungen, die mit dem Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1803, der sogenannten Franziskana, teilweise wieder zurückgenommen wurden. So wurde auch der Ausschluss der Verjährung im Josephinischen Strafgesetzbuch von der Franziskana aufgehoben, was im Allgemeinen als Fortschritt betrachtet wird.190 Das Verjährungsrecht des Strafgesetzes 1803 nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem Verjährungsausschluss im Josephinischen Strafgesetz und den weitaus großzügigeren Verjährungsregeln der Entwürfe aus dem Jahr 1783, der Strafgesetzentwürfe 1792 bis 1794, des Westgalizischen Strafgesetzbuches 1796 und auch des Leopoldinischen Strafgesetzbuches für die Toskana 1786 ein. Im Gegensatz zum JStG ließ das Strafgesetz 1803 die Verjährung wieder zu. Gegenüber den Entwürfen Kees 1783 und allen der Franziskana vorangehenden Strafgesetzentwürfen schränkte diese den Anwendungsbereich der Verjährung freilich durch Ausnahmen und Bedingungen ein.191 Sofern man nur die Verjährungsregeln der österreichischen Strafgesetzbücher betrachtet, zeigen die Constitutio Criminalis Theresiana des Jahres 1768,192 das Josephinische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1787193 und die Franziskana im Jahr 1803194 eine einheitliche Tendenz in Richtung einer starken Restriktion der Verjährung. Schon die Constitutio Criminalis Theresiana gab der Verjährung, die sie noch praescriptio nannte, nur einen geringen Anwendungsbereich. Das Josephinische Strafgesetzbuch schloss die Verjährung völlig aus, während die Franziskana zur Verjährung zurückkehrte, sie aber wiederum beschränkte. All diese Gesetzbücher standen der Verjährung damit skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Wiedereinführung der Verjährung begründete das Einführungspatent zum Strafgesetz 1803 damit, dass ihr völliger Ausschluss unverhältnismäßig sei.

190 Beispielsweise ASHOLT 2016, S. 23; BAR 1882, S. 385f; HORROW 1947, S. 49; LISZT 1927, S. 438; LOENING 1908, S. 414f; LORENZ 1934, S. 14f; SCHMIDT 1995, S. 259; diese Einschätzung erfolgte, obwohl der Verjährungsausschluss im Josephinischen Strafgesetzbuch auf das Gedankengut der Aufklärung zurückgeführt wird; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II. 191 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.6. 192 Zu den Verjährungsregelungen der CCTh 1768 und der Ferdinandea 1656 siehe ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel I.5. und I.6. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.1.4.–I.1.5. 193 Zum Verjährungsausschluss des JStG 1787 siehe ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.1. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.2. 194 Zu den Verjährungsregelungen des StG 1803 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3.

Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803

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Nach Erklärung Zeillers sprachen »Gründe der Billigkeit und Klugheit«195 für die Verjährung, wie die zunehmenden Beweisschwierigkeiten, die verblasste Erinnerung an die Straftat, die eine Bekräftigung der Rechtsordnung durch Strafe überflüssig mache, und die zu vermutende Besserung des Delinquenten/der Delinquentin, der/die sich innerhalb der Verjährungszeit keine weiteren Straftaten zu Schulden kommen lassen hatte.196 Dem Verjährungsinstitut der Franziskana lag damit eine multifaktorielle Verjährungstheorie zugrunde. Jedoch fürchtete Zeiller wie in Bayern Gallus Aloys Kleinschrod197 und Feuerbach ganz im Sinne der von ihm vertretenen generalpräventiven Strafzwecktheorie, dass die mit der Verjährung in Aussicht gestellte Straffreiheit einen zusätzlichen Anreiz zur Begehung von Straftaten darstelle, weil sie potenziellen StraftäterInnen die Hoffnung gäbe, der Strafe zu entgehen. Außerdem könne die Straffreiheit eines/einer bekannten Verbrechers/Verbrecherin ein gefährliches Beispiel für andere darstellen und diese zu Straftaten ermutigen.198 Damit hätte die Verjährung freilich die Wirksamkeit der vom Strafgesetzbuch des Jahres 1803 primär angestrebten generalpräventiven Wirkung der Strafandrohung und Strafe gefährdet.199 Die ersten drei Bedingungen, die § 208 StG 1803 neben dem Verstreichen der Verjährungsfrist für den Eintritt der Verjährung statuierte (»keinen Nutzen aus der Tat in den Händen«, Leistung von »Wiedererstattung«, keine Flucht in Ausland)200, hatten das Ziel, diese negativen Auswirkungen zu vermeiden und die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung sicherzustellen. Sie dienten nicht als Besserungsnachweis, sondern sollten potentiellen und nach der Theorie vom psychologischen Zwang rational abwägenden TäterInnen vor Augen führen, dass sie nur dann in den Genuss der Verjährung kommen konnten, wenn sie zuvor den Vorteil aus der Tat aufgegeben hatten, und ihnen außerdem die Hoffnung nehmen, der Strafverfolgung durch eine Flucht ins Ausland zu entgehen, dort den Eintritt der Verjährung abzuwarten und dann durch die Verjährung geschützt in die Erbländer zurückzukehren. Lediglich das Erfordernis der Nichtbegehung weiterer Straftaten durch den/die Verdächtigte/n während der Ver195 ZEILLER 1808, S. 185. 196 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. 197 Gallus Aloys Caspar Kleinschrod (* 1762, † 1824): Professor an der Universität Würzburg. Er wurde mit der Verbesserung des Codex juris bavarici criminalis (1751) beauftragt. Sein Strafgesetzentwurf (1802) hielt der vernichtenden Kritik Feuerbachs jedoch nicht stand; MERZBACHER 1979, S. 8f. 198 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. 199 Zu der Strafzweckauffassung, die dem StG 1803 zugrunde lag, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.2. 200 Für die schweren Polizeiübertretungen waren diese Bedingungen in § 274 2. Teil StG 1803 geregelt; zu den Schwierigkeiten, die diese Bedingungen für die Praxis bedeuteten, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.2.

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jährungsfrist diente möglicherweise dem Nachweis, dass er/sie nicht mehr gefährlich war.201 Im Übrigen zeigen die einzelnen Verjährungsvorschriften des Strafgesetzes 1803, dass dem Besserungsargumente wie bei der Begründung der Strafe auch bei Ausgestaltung der Verjährungsvorschriften keine große Bedeutung beigemessen wurde.202 StraftäterInnen, die ihre »rechtliche« Besserung durch die Nichtbegehung weiterer Straftaten innerhalb der Zwanzigjahresfrist unter Beweis gestellt hatten, mussten bestraft werden, wenn sie ein mit der Todesstrafe bedrohtes Delikt begangen hatten. Denn die Straftaten, die mit der Todesstrafe bedroht waren, waren von der vollständigen Verjährbarkeit ausgeschlossen. Lediglich die Strafandrohung Todesstrafe entfiel, wenn seit dem Tag der Tatbegehung eine Frist von zwanzig Jahren verstrichen und die allgemeinen Bedingungen des § 208 1. Teil StG 1803 für den Verjährungseintritt erfüllt waren. An die Stelle der Todesstrafe trat dann aber die Strafandrohung von zehn bis zwanzig Jahren schwerem Kerker (§ 210, § 431 1. Teil StG 1803).203 Erfüllten die StraftäterInnen eine der Bedingungen des § 208 StG 1. Teil 1803 nicht, so hatte dies zur Folge, dass es auch zu keiner gesetzlichen Strafmilderung kam und die Strafandrohung Todesstrafe fortbestand, auch wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre vergangen waren und der/die Beschuldigte seither keine weiteren Straftaten mehr begangen hatte (§ 210 1. Teil StG 1803). Auch bei den »vollständig« verjährbaren Straftaten war die Verjährung trotz Nichtbegehung weiterer Straftaten innerhalb der jeweiligen Verjährungsfrist und Verstreichen derselben ausgeschlossen, wenn der/die DelinquentIn die übrigen Bedingungen für den Eintritt der Verjährung nicht erfüllte. Freilich schließen weder eine Flucht ins Ausland noch das Behalten des aus der Tat gezogenen Nutzens sowie die Unterlassung einer finanziellen Wiedergutmachung die »rechtliche« Besserung und fehlende Gefährlichkeit des Delinquenten/der Delinquentin aus. Die Verjährungsfristen für Polizeiübertretungen waren mit drei Monaten, sechs Monaten und einem Jahr überhaupt so kurz (§ 275 2. Teil StG 1803), dass aus einem strafrechtskonformen Verhalten des/der Beschuldigten während derselben wohl nicht darauf geschlossen werden konnte, er/sie werde in Zukunft keine Übertretungen mehr begehen. Die Verjährung der Polizeiübertretungen konnte daher nicht überzeugend mit der Vermutung der Besserung begründet werden. Die zunehmenden Beweisschwierigkeiten spielten bei der Ausgestaltung der österreichischen Verjährungsregeln ebenfalls keine entscheidende Rolle.204 Bei 201 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. 202 Siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.7. 203 Begründungen zum Ausschluss der Verjährung bei »todeswürdigen« Verbrechen sind nicht auffindbar. 204 Siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.7.

Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803

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den mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten wurde eine vollständige Verjährbarkeit trotz besonders langer Verjährungsfristen, infolge derer die Beweisprobleme und daraus resultierende Fehlurteilsgefahr als besonders groß eingeschätzt hätten werden müssen, nicht zugelassen (§ 210 1. Teil StG 1803). Darüber hinaus war bei allen Straftaten ein Strafverfahren durchzuführen, wenn die Bedingungen des § 208 1. Teil StG 1803 (bzw. § 274 2. Teil StG 1803 für die schweren Polizeiübertretungen), die zumindest überwiegend statuiert worden waren, um die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung zu gewährleisten, nicht erfüllt waren. Damit schützte das österreichische Strafgesetz ebenso wie das preußische und das bayrische Strafrecht205 nicht vor den zunehmenden Beweisschwierigkeiten und der daraus resultierenden Fehlurteilsgefahr. Vielmehr nahm das österreichische Strafgesetz Fehlverurteilungen in Kauf, um die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung und Strafe zu gewährleisten. Im Ergebnis beruhen die restriktiven Verjährungsregeln der Franziskana auf derselben Grundlage wie der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches. Im Vordergrund stand das staatliche Ziel, andere von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten, wohingegen der/die individuelle TäterIn kaum eine Rolle spielte. Das Josephinische Strafgesetzbuch ging aber offensichtlich davon aus, dass die unbefristete Strafverfolgungsmöglichkeit bei allen Straftaten im Interesse des Staates läge. Bei der Abfassung der Franziskana hatte sich dagegen die Auffassung durchgesetzt, dass eine endlos lange Strafverfolgung bei allen Straftaten unverhältnismäßig wäre. Da eine solche für den Staat mit Kosten und einem Aufwand verbunden war, die Notwendigkeit einer Bestrafung zur Bekräftigung der Rechtsordnung aber mit der kollektiven Erinnerung an die Straftat abnahm, erschien es auch für den Staat sinnvoll, nach längerer Zeit auf seinen Strafanspruch zu verzichten. Ob eine Strafverfolgung und Bestrafung zur Besserung des/der Beschuldigten, seiner/ihrer Resozialisierung und dessen/deren Abhaltung von zukünftigen Straftaten überhaupt (noch) notwendig war, spielte dagegen im Josephinischen Strafgesetzbuch ebenso wie in der Franziskana weder für die Begründung der Strafe noch der Verjährung eine entscheidende Rolle.206 Damit stehen sowohl der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches als auch die restriktiven Verjährungsregeln der Franziskana im Einklang mit den rigorosen Strafsystemen beider Gesetzbücher und der diesen zugrundeliegenden generalpräventiven Strafzwecktheorie. Die individuellen StraftäterInnen waren insofern Mittel zum Zweck. Weil sie verbrochen hatten, sollten sie bestraft werden, und zwar so hart und so lange, wie es notwendig erschien, um 205 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2., II.4.3. sowie II.5. und in dieser Monographie, Kapitel I.2. 206 Siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.7.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

andere von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Nur der zeitliche Nutzen der Strafverfolgung für den Staat wurde anders bewertet.207 Als Fortschritt der Franziskana gegenüber dem JStG ist aber jedenfalls die Neuregelung des Verhältnisses von Verjährung und Begnadigung zu bewerten.208 Die Substitution der Verjährung durch eine extensive Begnadigungsregel im JStG widerspricht dem Gedankengut der Aufklärungsbewegung, die zum Schutz vor staatlicher Willkür eine Einschränkung dieses Rechts gefordert hatte.209 Aus dem Blickwinkel der psychologischen Zwangstheorie sprechen gegen eine gesetzliche Begnadigungsregel ähnliche Argumente wie gegen die Verjährung. Auch die Chance auf Begnadigung kann potentiellen StraftäterInnen Hoffnung geben, der Strafe zu entgehen.210 Eine flexible Begnadigungsregel gibt dem Staat aber mehr Macht als eine strenge zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafmacht mittels Verjährung. Zum Schutz vor staatlicher Willkür war nur die Verjährung, die allen BürgerInnen unter den gleichen Voraussetzungen zugute kam, nicht aber die Begnadigung, die von den staatlichen Behörden nach Belieben erteilt werden konnte, geeignet.211 Mit der Wiedereinführung der Verjährung und gleichzeitigen Beschränkung des Gnadenrechts stärkte die Franziskana also die Rechtsstellung der BürgerInnen gegenüber dem Staat.

4.

Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens in der ersten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts

Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts wird als die verjährungsskeptische Findungsphase bezeichnet.212 Die in dieser Phase im deutschen Raum ergehenden Strafgesetzbücher haben gemeinsam, dass sie die Verjährung zwar zuließen, ihren Anwendungsbereich aber durch Ausnahmen und Bedingungen einschränkten. Außerdem war ihnen allesamt die Verjährung der verhängten Strafe unbekannt. In diese Phase fällt neben der preußischen Kriminalordnung (1805), dem bayrischen Strafgesetzbuch (1813) und dem darauf aufbauenden olden207 Siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.8. 208 Zum Verhältnis von Verjährung und Begnadigung in den beiden Gesetzbüchern siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.1. und STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.6. 209 BAR 1909, S. 464f; HÄRTER 2009, S. 78; RÜPING/JEROUSCHEK 2011, S. 73. 210 FEUERBACH 1804, S. 241–243; KLEINSCHROD 1802, S. 27–29; ZEILLER 1807, S. 81f. 211 Das Bestreben, nur die staatliche Strafpflicht, nicht aber die staatliche Strafmacht zu beschränken, bestand auch während der NS-Zeit, siehe dazu Kapitel III. 212 ASHOLT 2016, S. 22; eine ausführliche Darstellung des vierten und fünften Unterabschnittes ist zum Teil in dem Aufsatz »Straffrei durch Zeitablauf ? Die österreichische Verjährungsskepsis im ›langen‹ 19. Jahrhundert«, in: SCHENNACH, Martin (Hrsg.), Strafrechtsgeschichte im »langen« 19. Jahrhundert Forschungen und Perspektiven, Innsbruck 2020, S. 256–293 veröffentlicht.

Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens

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burgischen Strafgesetzbuch (1814) auch die österreichische Franziskana (1803). Diese war selbst unter den verjährungskritischen Strafgesetzbüchern der ersten Phase am restriktivsten.213 In den deutschen Partikularstrafgesetzbüchern, die dann im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Konsolidierungsphase, ergingen, zeigt sich dagegen eine deutliche Festigung und Stabilisierung des Verjährungsgedankens. In all diesen Gesetzbüchern war die Verjährung der Strafverfolgungsbefugnis gesetzlich verankert und wurde nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Außerdem belegt die zunehmende Verbreitung der aus dem französischen Recht übernommenen Vollstreckbarkeitsverjährung die fortschreitende Anerkennung des Verjährungsinstituts. Ein Ausschluss der Verjährung war in einzelnen Partikularstrafgesetzbüchern nur dann vorgesehen, wenn sich der/die Beschuldigte einer gegen ihn/sie bereits eingeleiteten Untersuchung oder der/die Verurteilte der Vollstreckung des Urteils durch Flucht entzogen hatte. Weitere Bedingungen wurden nicht mehr statuiert, und auch der Verjährungsausschluss bei einer Flucht des/der bereits Verdächtigten oder des/der Verurteilten stellt eine weitaus weniger schwerwiegende Einschränkung der Verjährbarkeit dar als die zu Beginn des 19. Jahrhunderts statuierten Erfordernisse für den Eintritt der Verjährung, mit denen Beschuldigten zum Teil positive Leistungen und Besserungsnachweise abverlangt worden waren.214 Die Staaten, welche die Verjährung der verhängten Strafe nicht zuließen, erkannten auch materiellrechtliche Verjährungsbegründungen in der Regel überhaupt nicht an oder erachteten diese zumindest als nicht entscheidend. Die Verjährung wurde dort vor allem mit den zunehmenden Beweisschwierigkeiten und der daraus resultierenden Fehlurteilsgefahr begründet. Diese rein prozessualen Überlegungen führten zur Akzeptanz einer rein zeitabhängigen Verfolgungsverjährung, der Aufgabe von zusätzlichen Bedingungen neben dem Verstreichen der Verjährungsfristen und der Ablehnung der Unverjährbarkeit.215 Die Staaten, die Vollstreckbarkeitsverjährung anerkannten, konnten dem Argument des Beweisuntergangs freilich nur sekundäre Bedeutung einräumen, weil keine Beweise mehr gebraucht werden, sobald ein Urteil ergangen ist. In ihnen wurde die Verjährung hauptsächlich mit dem abnehmenden materiellrechtlichen Strafbedürfnis begründet. Allerdings sahen gerade jene Staaten, die urteilsmäßig verhängte Strafen verjähren ließen, noch häufig unverjährbare Straftaten vor, wobei sie diese Ausnahmen von der Verjährbarkeit mit der in diesen schweren Fällen fortbestehenden materiellrechtlichen Strafnotwendigkeit

213 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.1. 214 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2. 215 Dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2.1.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

begründeten.216 In der Tatsache, dass aus materiellrechtlichen Erwägungen zwar seltener, aber immer noch verjährungskritische Schlüsse gezogen wurden, sowie in der gänzlichen Ablehnung materiellrechtlicher Verjährungsargumente zeigt sich, dass sich in der Konsolidierungsphase der Verjährungsgedanken in der deutschen Partikularstrafgesetzgebung noch nicht voll durchgesetzt hatte.217 Eine bedingungslose Verjährbarkeit der Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsbefugnis für alle Straftaten war bis zum zweiten Deutschen Juristentag im Jahr 1861 nur in Württemberg vorgesehen.218 Die im 19. Jahrhundert in Österreich ergehenden Strafgesetzentwürfe lassen sich in diese Entwicklung im deutschen Raum einbetten. Der Reformentwurf von Franz von Zeiller aus dem Jahr 1823 gehört zur verjährungskritischen Findungsphase, weil er den ohnehin schon begrenzten Anwendungsbereich der Verjährung im StG 1803 nicht erweiterte, sondern im Gegenteil weiter beschränkte.219 Verwunderlich ist dies nicht, scheinen auf Zeiller doch schon einige Einschränkungen der Verjährbarkeit im Strafgesetz 1803 gegenüber seinen Vorgängerentwürfen zurückzugehen. Die Entwürfe des Grazer Strafrechtsprofessors Sebastian Jenull220 aus den Jahren 1829 und 1838/39 fallen zeitlich wie inhaltlich in die Konsolidierungsphase. Sie sahen vergleichsweise großzügige Verjährungsvorschriften vor. Es gab in den Strafgesetzentwürfen Jenulls keine unverjährbaren Straftaten mehr, und auch die Vollstreckbarkeitsverjährung war in diesen statuiert. Die Begehung einer neuen Straftat innerhalb der Verjährungsfrist schloss die Verjährung nicht mehr aus, sondern unterbrach sie, führte also zu einer Fristverlängerung. Neben dem Zeitablauf verlangten die Strafgesetzentwürfe von Jenull aber auch die Leistung einer Wiedergutmachung von dem/der Beschuldigten. Durch eine spezifische, dem französischen Recht entnommene Regelung der Verjährungsunterbrechung durch behördliche Verfolgungshandlungen beschränkten die Strafgesetzentwürfe Jenulls den Anwendungsbereich der Verjährung zusätzlich: Die Wirkung einer Unterbrechungshandlung, das heißt einer behördlichen 216 Dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2.2. 217 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2.3. und IV.2.2.4. 218 Vgl. dazu die Gesetzestexte der deutschen Partikularstaaten, in: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, abgedruckt in: STENGLEIN (Hrsg.), Band 1–3, München 1858. 219 Zum Strafgesetzentwurf 1823 und dessen Verjährungsregelungen siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.1. 220 Sebastian Jenull (* 1777, † 1848): Professor des österreichischen Natur- und Kriminalrechtes an der Universität Graz, 1804/05 Rektor, 1829 Berufung nach Wien in die Hofkommission für Justizgesetzsachen, 1830 Professor des Naturrechts, des allgemeinen Staats-, Völkerrechtes und Kriminalrechtes an der Universität Wien, 1833 niederösterreichischer Regierungsrat, 1837 Hofrat, 1848 Rektor der Universität Wien; in: Österreichisches Biographisches Lexikon, auf: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_J/Jenull_Sebastian_1777_1848. xml?frames=yes100502350 (abgerufen am 6. 12. 2020).

Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens

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Verfolgungshandlung, sollte sich auf alle an der Tat Beteiligten erstrecken, selbst dann, wenn die Verfolgungshandlung nicht gegen sie persönlich gerichtet war.221 Bemerkenswert ist, dass sowohl Jenull als auch Zeiller primär der generalpräventiven Strafzwecktheorie vom psychologischen Zwang folgten und ihre Beurteilung der Verjährung unter anderem auf dieser Theorie aufbauten. Allerdings zogen sie unterschiedliche Schlussfolgerungen. Während Zeiller die Verjährung eigentlich als unvereinbar mit der strengen Forderung des Strafzwecks erachtete,222 gefährdete sie nach Ansicht Jenulls die Erreichung des Strafzwecks nicht und hatte nur den Vorteil, dass bei einer entsprechenden Ausgestaltung zwecklose Bestrafungen, »unnöthige Uebel«, vermieden wurden.223 Denn anders als Zeiller ging Jenull davon aus, dass eine Bestrafung, die lange nach der Tat erfolge, nicht mehr abschreckend wirke und auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafjustiz nicht bekräftigen könne. Die Überzeugung von der allzeit gewissen Vollstreckung werde dadurch nicht gestärkt, weil wohl jedem klar sei, dass eine späte Entdeckung und Bestrafung des Täters/ der Täterin nicht einer planmäßig andauernden Untersuchung, sondern bloß dem Zufall zugeschrieben werden könne.224 Damit war nach Auffassung Jenulls ein Strafbedürfnis in generalpräventiver Sicht nach Verstreichen einer längeren Zeit nicht mehr gegeben und eine Bestrafung zum Zweck der Generalprävention folglich nicht mehr erforderlich. Nicht mehr zeitgemäß war das Strafgesetzbuch des Jahres 1852. Dieses verbesserte die Verjährungsregelungen des StG 1803 zwar formal, übernahm sie aber inhaltlich weitgehend unverändert. Nicht zeitlich, wohl aber inhaltlich ist es daher wie das Strafgesetz 1803 der »verjährungsskeptischen« Findungsphase zuzuordnen.225 In der dritten Phase setzte sich der Verjährungsgedanke und das französische Verjährungsmodell226 in Deutschland endgültig und in Österreich vorläufig durch. Die Grundlage dafür bildete ein Beschluss des zweiten Deutschen Juristentags. Dieser empfahl im Jahr 1861 die Zulassung der Vollstreckbarkeitsverjährung. Dieser Beschluss war auf Antrag des österreichischen Strafrechtsprofessors und Politikers Julius Glaser nach einem Referat von Julius Friedrich

221 Zu den Strafgesetzentwürfen Jenulls 1829 und 1838/39 und deren Verjährungsregelungen siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.2. 222 Zur Strafzweckauffassung und Verjährungsbegründung Zeillers siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.3. 223 JENULL 1809, S. 423. 224 Zur Strafzweckauffassung und Verjährungstheorie Jenulls siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.2. 225 Zu dem Strafgesetz 1852 und dessen Verjährungsregelungen siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.3. 226 Zu dem französischen Verjährungsmodell siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.4.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Heinrich Abegg,227 der wie Glaser die Vollstreckbarkeitsverjährung und im Übrigen die Verjährbarkeit aller Straftaten befürwortete, mit großer Mehrheit gefasst worden.228 Der Beschluss des DJT wurde den nun folgenden Gesetzgebungsarbeiten in den deutschen Staaten zugrunde gelegt. Im hamburgischen Strafgesetzbuch und sodann im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund 1870 waren beide Verjährungsarten, keine unverjährbaren Straftaten sowie überhaupt keine Bedingungen neben dem Verstreichen der Verjährungsfristen vorgesehen. Die Begehung weiterer Straftaten innerhalb der Verjährungsfrist hinderte den Eintritt der Verjährung für die erste Tat nicht und führte nicht einmal zur Verlängerung der Verjährungsfrist für die erste Tat. Wie in Frankreich wurde auch im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund 1870 die Verjährung nur durch die Unterbrechungsregel wesentlich beschränkt. Eine solche erfolgte durch jede gerichtliche Verfolgungshandlung, die »wegen der begangenen That gegen den Täter gerichtet« war. Mit dem Beitritt der süddeutschen Staaten wurde das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund zum Reichsstrafgesetzbuch 1871.229 Damit erreichte die Verjährung in Deutschland den Höhepunkt ihrer Anerkennung.230 Umgesetzt wurde der Beschluss des DJTauch in Österreich von Anton Hye von Glunek231 in seinem Strafgesetzentwurf aus dem Jahr 1863. In diesem waren beide Verjährungsarten zugelassen und keine unverjährbaren Delikte mehr vorgesehen. Lediglich die Begehung neuer Straftaten innerhalb der Verjährungsfrist schloss die Verjährung aus. Der Motivenbericht zu dem Entwurf Hyes begründete die Verjährung im Anschluss an Abegg mit der »Macht der Zeit«. Die mystische »Macht der Zeit« wurde unter Zuhilfenahme anderer Verjährungstheorien spezifiziert. So sollten mit der Zeit die Notwendigkeit der Besserung entfallen und das Andenken an Straftaten erlöschen. Wegen einer Tat, an die sich niemand mehr erinnere, können keine Vergeltungsbedürfnisse des Opfers und der Rechtsgemeinschaft bestehen. Sie muss zur generalpräventiven Abschre-

227 Julius Friedrich Heinrich Abegg (* 1796, † 1868): ordentlicher Professor für Strafrecht an den Universitäten Königsberg und Breslau; MAURACH 1953, S. 6f. 228 Zur Vorgabe des DJT siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.1. 229 VORMBAUM 2009, S. 82. 230 ASHOLT 2016, S. 34; zur Durchsetzung des Verjährungsgedankens in Deutschland und den Verjährungsregelungen des dRStGB 1871 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. 231 Anton Hye von Glunek (* 1807, † 1894): ab 1842 ordentlicher Professor des Natur- und Kriminalrechts an der Universität Wien, Rektor der Universität Wien (1871–1872); Generalsekretär im Justizministerium (1848–1849) und an wichtigen Gesetzgebungsvorhaben führend beteiligt, Leiter der legislativen Sektion des Justizministeriums (1857–1861), Justizminister sowie Leiter des Ministeriums für Kultus und Unterricht (Juni bis Dezember 1867), ab 1869 Mitglied des Herrenhauses, 1854 wurde er in Anspielung auf seinen Geburtsort Gleink in Oberösterreich zum »Ritter von Glunek« erhoben; HÖGEL 1904, S. 108; OLECHOWSKI 2010, S. 327.

Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens

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ckung der Allgemeinheit und der Bekräftigung der Rechtsordnung nicht mehr bestraft werden.232 Die dem Entwurf Hyes zugrunde gelegten theoretischen Erwägungen, insbesondere der Gedanke der zeitabhängigen Besserung des Deliquenten/der Delinquentin und des erlöschenden Andenkens an die Tat, ähneln den zur Jahrhundertwende vorherrschenden. Sie wurden aber weitaus positiver interpretiert. Hye bezweifelte nicht, dass mit der Zeit Erinnerungen an Straftaten sowie Vergeltungsbedürfnisse der Rechtsgemeinschaft erlöschen, lediglich die Besserung der DelinquentInnen während der Verjährungszeit erachtete Hye nicht als zwingend. Durch die Begehung weiterer Straftaten innerhalb der Verjährungsfrist werde diese Vermutung widerlegt. Da die Strafe dann zur Besserung weiter erforderlich schien, führte die Begehung neuer Straftaten innerhalb der Verjährungsfrist zu einem Ausschluss der Verjährung der Strafverfolgung sowie der verhängten Strafen.233 Hyes Begründung der Verjährung erscheint allerdings inkonsequent, wenn man mit ihm davon ausgeht, dass der primäre Zweck der Strafe die »gerechte« Vergeltung der Straftat ist.234 Erachtet man Strafe im absoluten Sinn als notwendig zur Herstellung von Gerechtigkeit, zur Vergeltung, weil ein Verbrechen begangen wurde, dann kann die Besserung des Täters/der Täterin und das Erlöschen des Andenkens an die Tat den Entfall der Strafe oder der »gerechten Vergeltung« nicht rechtfertigen, hat eine solche doch von vornherein unabhängig von relativen Zwecksetzungen zu erfolgen.235 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten vor allem die Anhänger der Wiedervergeltungslehre von Immanuel Kant die Verjährung abgelehnt.236 In dem preußischen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1851, das der Vergeltungstheorie folgte und die Vorlage für das Reichsstrafgesetzbuch 1871 bildete, wurde die Verjährung mit den zunehmenden Beweisschwierigkeiten begründet. Da man keine materiellrechtlichen Gründe für die Anerkennung derselben sah, war die mit den Beweisschwierigkeiten nicht zu rechtfertigende Vollstreckbarkeitsverjährung ausgeschlossen worden.237 Nichtsdestotrotz erreichte die Verjährung im Deutschen Reich den Höhepunkt ihrer Anerkennung in einer Phase, in der die traditionell verjährungsfeindliche Vergeltungstheorie eine Renaissance erlebte

232 Zum Strafgesetzentwurfs Hyes, dessen Verjährungsregelungen und ihrer Begründung siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3. 233 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3. 234 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3. 235 LOENING 1908, S. 411; LORENZ 1934, S. 27; Verhandlungen des 24. Deutschen Juristentags 1898, S. 295. 236 LOENING 1908, S. 411; LORENZ 1934, S. 14, siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. 237 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

und erneut zur beherrschenden Strafrechtslehre wurde.238 Die Verjährungsfeindlichkeit der absoluten Vergeltungstheorie, mit der zumindest die Verjährung der urteilsmäßig festgestellten Strafe, die mit Beweisschwierigkeiten nicht begründet werden kann, unvereinbar ist, zeigte sich aber trotz der weitreichenden Anerkennung der Verjährung im Reichsstrafgesetzbuch. So finden sich in den Gesetzesmaterialien zu dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, das die Herstellung von Gerechtigkeit als primären Zweck der Strafe betrachtete, keine Äußerungen zum Rechtsgrund der Verjährung. In der Folgezeit kam es in Deutschland einerseits zu einer zunehmenden politischen Betrachtungsweise des Verjährungsinstituts, das man nicht mehr straftheoretisch zu begründen versuchte.239 Andererseits erfreute sich die Berufung auf die vage »Macht der Zeit« vor allem bei Anhängern der Wiedervergeltungslehre großer Beliebtheit.240 Diese wohlwollende Betrachtung der Verjährung hatte zur Folge, dass eine Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen, die sich aus strafpräventiven Erwägungen bei der Beurteilung der Verjährung ergeben können, nicht mehr erfolgte. Damit war der Grundstein für die Schwäche des Verjährungsinstitutes im 20. Jahrhundert gelegt.241 In Österreich zeigten sich diese Ambivalenzen bereits bei den weiteren Arbeiten am Entwurf Hyes. Die großzügigen Verjährungsregeln desselben wurden im Gesetzgebungsverfahren wieder eingeschränkt.242 Endgültig durchgesetzt hatte sich der Verjährungsgedanke damit in der dritten Phase nur in Deutschland. In Österreich war die Durchsetzung des französischen Verjährungsmodells eine nur vorläufige. Die Bedenken, die in Österreich gegenüber der Verjährung bestanden, erscheinen allerdings als logische Folge der Tatsache, dass sich aus präventiv-theoretischen Erwägungen Argumente für wie gegen die Verjährung ableiten lassen, sowie vor allem der Verjährungsfeindlichkeit der damals vorherrschenden Vergeltungstheorie.

238 SCHLOSSER 2017, S. 338; ausführlich SCHMIDT 1995, S. 294–303, 320; VORMBAUM 2009, S. 65–67, 69, 111. 239 ASHOLT 2016, S. 34, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. 240 In diesem Sinn beispielsweise ABEGG 1862, S. 25f; BERNER 1868, S. 251–253; HYE 1863, S. 76; JANKA 1884, S. 203; KÖSTLIN 1855, S. 481; TEMME 1876, S. 25f, 195f; siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. und STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5. 241 ASHOLT 2016, S. 34. 242 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3.

Die Verjährungsskepsis in Österreich

5.

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Die Verjährungsskepsis in Österreich in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts

Bei den Arbeiten an der Reform des Strafgesetzbuches, die in Österreich das gesamte »lange« 19. Jahrhundert andauerten, zeigt sich ein permanenter Wechsel zwischen großzügigen und restriktiven Verjährungsvorstellungen.243 Einerseits war man bestrebt, das österreichische Strafrecht inklusive dem Verjährungsrecht dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch anzugleichen. Andererseits bestanden offenkundige und vielfältige Bedenken gegen die Befristung der staatlichen Strafmacht. So waren in einigen damaligen österreichischen Strafgesetzentwürfen ähnlich großzügige Verjährungsregeln wie im dRStGB statuiert, so etwa im Strafgesetzentwurf Hyes 1863 und dem Strafgesetzentwurf 1878. In vielen anderen waren dagegen schwerste mit der Todesstrafe bedrohte Straftaten und verhängte Todesstrafen von der Verjährung ausgenommen, nämlich im Strafgesetzentwurf 1867, dem Ausschussentwurf 1870, dem Entwurf Glasers 1874 sowie den darauf aufbauenden Strafgesetzentwürfen der Jahre 1881, 1889, 1891 und 1893. Mitunter wurde die Vollstreckbarkeitsverjährung nicht zugelassen, so etwa im Entwurf des Strafgesetzausschusses 1893 und den Strafgesetzentwürfen 1909 und 1912. Alle Bedingungen, die im StG 1803 und 1852 neben dem Verstreichen der Verjährungsfrist für die Verjährung statuiert worden waren, finden sich zumindest in einem der zahlreichen österreichischen Strafgesetzentwürfe dieser Zeit.244 Diese Schwankungen können wohl auf die Widersprüche in der Begründung des Verjährungsinstitutes zurückgeführt werden. Die Verjährung wurde bei den Arbeiten an der österreichischen Strafrechtsreform zwischen 1863 und 1895245 durchgehend mit der »in allen Beziehungen des Lebens tilgenden und heilenden Wirkung« der Zeit begründet.246 Die Zeit übergebe das Verbrechen allmählich der Vergessenheit, sie hebe die Folgen der strafbaren Tat auf und ändere in der Regel auch die zur Rechtswidrigkeit hinneigende Gesinnung des Täters/der Täterin. Damit verliere die Straftat ihre das allgemeine Rechtsbewusstsein verletzende Eigenschaft und der Zweck, der die Strafe rechtfertige, entfalle. Als unterstützende Argumente für die Verfol-

243 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3., V.4. und V.6. 244 Bedingungen für den Eintritt der Verjährung neben dem Verstreichen der Verjährungsfrist waren im Entwurf Hyes 1863, dem Strafgesetzentwurf 1867 und dem Entwurf des Strafgesetzausschusses 1893 vorgesehen. 245 Infolge des deutschen Schulenstreits wurde der 1891 als Regierungsvorlage eingebrachte und 1893 vom Strafgesetzausschuss überarbeitete Strafgesetzentwurf, der auf der Vergeltungstheorie beruhte, 1895 zurückgezogen; LAMMASCH/RITTLER 1926, S. 17. 246 ErläutRV 221 BlgAH 8. Session, S. 52f; siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3., V.4.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

gungsverjährung wurden wiederum die mit der Zeit zunehmenden Beweisschwierigkeiten für die Strafjustiz und die Beschuldigten angeführt. Die österreichischen Entwürfe folgten damit zwischen 1863 und 1895 einer multifaktoriellen Verjährungstheorie. Eine solche kumulativ argumentierende Theorie ist nicht zu widerlegen, denn wird eine ihrer Annahmen bezweifelt, kann leicht auf eine andere Position rekurriert werden. Wie die Ausnahmen von der Verjährbarkeit und die einschränkenden Bedingungen zeigen, führte diese Kombination in Österreich jedoch nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung des Verjährungsgedankens, weil sich gegen die Gesamtargumentation auch alle Gründe anführen lassen, die gegen die Einzelargumente sprechen. Zudem können die einzelnen Zielsetzungen unterschiedliche Regelungen erfordern.247 Diese Antinomie ist von den Straftheorien bekannt,248 und sie führte auch im Verjährungsrecht zu scheinbaren Inkonsequenzen und Widersprüchen. So ging man grundsätzlich von einer zeitabhängigen Besserung des Täters/der Täterin aus.249 Der Verpflichtung zur Leistung von Wiedererstattung im Ministerialentwurf 1867 sowie der Nichtbegehung weiterer Straftaten ebenfalls im Ministerialentwurf 1867 und dem Entwurf Hyes 1863 lag dagegen die gegenteilige Annahme zugrunde, nämlich, dass die Besserung nach Verstreichen einer Frist keineswegs zwingend ist, sondern bewiesen werden muss.250 Waren diese Bedingungen nicht erfüllt und wurde die Besserung damit nicht vermutet, reichten die übrigen Argumente (Beweisschwierigkeiten, erloschenes Andenken an die Tat) zur Rechtfertigung der Verjährung nicht aus, obgleich, wie Hugo Högel251 später zutreffend feststellte, der/die Unschuldige durch schlechte Aufführung oder Flucht nicht schuldig wird, sondern sich dadurch höchstens verdächtig macht.252 Dem Ausschluss der Verjährung bei einer Flucht des Täters/der Täterin ins Ausland im Ministerialentwurf 1867 und bei den mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten sowie verhängten Todesstrafen ebenfalls im Ministerialentwurf 1867, dem Ausschussentwurf 1870 sowie sämtlichen Strafgesetzentwürfen von 1874 bis 1893 lag die Annahme zugrunde, dass die Zulassung einer Verjährung in diesen Fällen die generalpräventive Abschreckungswirkung der Strafandrohung ge-

247 248 249 250 251

ASHOLT 2016, S. 162–164. ASHOLT 2016, S. 162. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3., V.4. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3. und V.3. Hugo Högel (* 1854, † 1921): u. a. Oberstaatsanwalt in Wien, Generalprokurator, Generalstaatsanwalt, ab 1902 auch ao. Professor für Strafrecht in Wien, ab 1897 Tätigkeiten für die legislative Abteilung des Justizministeriums; Österreichisches Biographisches Lexikon und biographische Dokumentation, auf: https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_H/Högel_H ugo_1854_1921.xml (abgerufen am 4. 2. 2019). 252 HÖGEL 1897, S. 141f.

Die Verjährungsskepsis in Österreich

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fährden würde.253 Folgt man der Verjährungsbegründung der Gesetzesmaterialien, wurde damit freilich in Kauf genommen, dass ein/e gebesserte/r StraftäterIn oder ein/e möglicherweise zu Unrecht Beschuldige/r eines Delikts, von dem man annahm, dass es der Allgemeinheit nicht mehr in Erinnerung war, trotz großer Fehlurteilsgefahr auch Jahrzehnte nach der Tat bestraft würde. Außerdem lässt sich die Annahme, die mit der Verjährung in Aussicht gestellte Straffreiheit schwäche die Wirkung der Strafandrohung, ohne Weiteres auf alle Straftaten übertragen, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Literatur auch geschah.254 Diese Vorstellung prägte außerdem, wie dargestellt, die Verjährungsvorschriften der Strafgesetzbücher der Jahre 1803 und 1852.255 Die Nichtanerkennung der Vollstreckungsverjährung wurde vom Strafgesetzausschuss 1893 damit begründet, dass die Straflosigkeit eines/einer rechtskräftig Verurteilten dem allgemeinen Rechtsgefühl widerspräche. Ein damit angenommenes unbefristetes Strafbedürfnis der Bevölkerung setzt allerdings voraus, dass das Urteil das kollektive Vergessen verhindert. Mit der Berufung auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung, der die Straftat noch in Erinnerung sei, wurde die Verjährung 1893 auch ausgeschlossen, wenn der/die TäterIn noch einen Vermögensvorteil aus der Tat zog.256 Die Begründung dieser Ausnahmen widerspricht freilich der zur Rechtfertigung der Verjährung herangezogenen Annahme, dass das Andenken an Straftaten mit der Zeit erlischt. Insgesamt zeigen diese Einschränkungen der Verjährbarkeit, dass eine große Unsicherheit über die »Macht der Zeit« bestand. Jede Wirkung, die man der Zeit zur Begründung der Verjährung grundsätzlich beimaß, wurde im Laufe der Reformarbeiten bezweifelt und nur in Kombination mit den anderen Wirkungen für entscheidend gehalten. Bedenken gegenüber jeder einzelnen Verjährungsbegründung zeigten sich in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts auch in der deutschen und österreichischen Wissenschaft, die der Verjährung grundsätzlich befürwortend gegenüberstand. Die Strafrechtswissenschaft entwickelte eifrig Verjährungstheorien, setzte sich aber durchaus kontrovers mit den einzelnen Aspekten auseinander. Allgemeine oder auch nur überwiegende Zustimmung fand mit Ausnahme der Berufung auf die vage »Macht der Zeit« keine einzige der zahlreichen Verjährungsbegründungen.257 Diese Unsicherheit schlug sich in Österreich in den Strafgesetzentwürfen nieder.

253 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3. und V.4. 254 FEUERBACH 1804, S. 256f; KLEINSCHROD 1802, S. 27f; ZEILLER 1806, S. 184f; ZEILLER 1808, S. 185f. 255 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. und Kapitel V.2. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.3.–I.4. 256 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.4.4. 257 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

Ludwig Friedrich Oskar Schwarze258 kritisierte für das deutsche Strafrecht zu Recht, dass der Mangel einer theoretischen Grundlage der Verjährung zu einer ziemlich »willkürlichen Behandlung« des Verjährungsinstituts Anlass gegeben habe.259 Der Vorwurf der Willkürlichkeit lässt sich auch auf das österreichische Strafrecht übertragen: Nicht nur die fehlende Begründung der Verjährung im Reichsstrafgesetzbuch, sondern auch die multifaktorielle Verjährungstheorie, die sämtlichen österreichischen Strafgesetzentwürfen zwischen 1863 und 1893 zugrunde lag, führte zu einer willkürlichen Ausgestaltung der Verjährungsregeln. Die einzelnen Aspekte wurden beliebig einmal selektiv, einmal kumulativ zur Begründung der Verjährung wie auch ihrer Einschränkungen herangezogen, ohne dass eine klare Linie erkennbar war, wann dem einen, wann dem anderen Aspekt der Vorzug zu geben wäre.260 Als Folge davon standen die einzelnen Regelungen der österreichischen Strafgesetzentwürfe zueinander in Widerspruch. Dort, wo dem Rechtsanwender Raum für eine eigene Interpretation gegeben wurde, waren dafür keine geeigneten Kriterien erkennbar. Karl Binding261 stellte daher zu Recht fest: »Die Forschung über die Grundlagen der Verjährung unterliegt bedauerlicherweise dem Schicksale, dass ihre Resultate mit diesem oder jenem Gesetz zusammenstossen. Solchem Konflikt ist noch keine Verjährungstheorie entgangen; er allein beweist die Unrichtigkeit einer Theorie nicht: denn die Schuld des Konflikts liegt zum Teil im Widerspruch über die gesetzlichen Ausgangspunkte.«262 Hinzu kommt, dass die österreichische Strafgesetzgebung ein Institut zu begründen hatte, das vom Standpunkt der den Entwürfen von 1863 bis 1895 primär zugrunde gelegten Vergeltungstheorie schwer zu rechtfertigen ist.263 In diesem Sinn wurde die Unverjährbarkeit der mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen 258 Ludwig Friedrich Oskar Schwarze, ab 1875 von Schwarze (* 1816, † 1886): deutscher Jurist und Politiker, erster Generalstaatsanwalt im Königreich Sachsen, Leiter des sächs. Gefängniswesens, Abgeordneter des Sächsischen Landtags und des Reichstags, Mitbegründer des Dt. Juristentages und Vorsitzender der strafrechtlichen Abteilung fast aller Juristentage bis 1884, Anhänger der Vergeltungstheorie; SCHUBERT 2010, S. 14f. 259 SCHWARZE 1866, S. 7. 260 Die Verjährungsregelungen des Strafgesetzes 1803 und 1852 berücksichtigten, wie oben dargestellt, trotz multifaktorieller Verjährungsbegründung vorrangig generalpräventive Gesichtspunkte. 261 Karl Ludwig Lorenz Binding (* 1841, † 1920): Straf- und Staatsrechtslehrer, ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts in Basel, in Freiburg (Breisgau) und in Straßburg, ab 1873 in Leipzig, wichtigster Repräsentant der klassischen Strafrechtsschule, gemeinsam mit dem Freiburger Arzt und Psychiater Alfred Hoche verfasste Binding die Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«; STOLLEIS, Michael, Binding, Karl, in: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), auf: http://frankfurter-personenlexikon.de/node/5902 (abgerufen am 2. 5. 2020); TRIEPEL 1955, S. 244f. 262 BINDING 1991, S. 821. 263 Zur grundsätzlichen Verjährungsfeindlichkeit der Vergeltungstheorie siehe Resümee VIII.10.

Die Verjährungsskepsis in Österreich

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sowie die der verhängten Todesstrafen im Ministerialentwurf 1867 mit der Berufung auf die Notwendigkeit der zweckfreien »Repression« und »Vergeltung«, die durch den angenommenen Entfall der relativen Strafbedürfnisse nicht tangiert wird, begründet.264 Im Zuge des von Franz von Liszt265 ausgelösten Schulenstreits geriet die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erneut vorherrschende Vergeltungstheorie zunehmend in die Kritik:266 Mit Verweis auf die hohen Verbrechenszahlen qualifizierte Liszt die Vergeltungsstrafe als ungeeignet zur Verbrechensbekämpfung. Die Aufgabe der Strafe bestünde vielmehr darin, den/die individuelle/n TäterIn von künftigen Straftaten abzuhalten (Spezialprävention). Dies sollte durch Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen, durch Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen und durch Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen VerbrecherInnen geschehen.267 Dieser von Liszt mit seinem Marburger Programm 1882 begründeten »modernen oder soziologischen Schule« stellte sich die »klassische Schule« mit ihrem wichtigsten Vertreter Karl Binding entgegen. Die klassische Schule verteidigte die Vergeltungsstrafe. Ihr zufolge hatte die Strafe keinen spezialpräventiven Zweck, sondern nur die durch den Normenbruch verletzte Autorität des Staates wiederherzustellen.268 Als Folge des großen Schulenstreits wurde das deutsche Reichsstrafgesetzbuch als Leitbild für die österreichische Strafrechtsreform verworfen. Vorbildfunktion für die österreichische Strafrechtsreform erlangte indessen der von Carl Stooß269 verfasste schweizerische Vorentwurf aus den Jahren 1893/94, der die »Zweispurigkeit« von Strafe und sichernder Maßnahme vorsah.270 Dieser Entwurf beruhte auf der Vereinigungstheorie. Sie war als dritte Theorie von Adolf Merkel271 im deutschen Schulenstreit entwickelt worden und schwächte den Konflikt 264 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3.2. 265 Franz Ritter von Liszt (* 1851, † 1919): ordentlicher Professor für Strafrecht in Gießen, in Marburg und in Halle, ab 1898 in Berlin, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und Abgeordneter des Deutschen Reichstags, Mitbegründer der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, Begründer der modernen Strafrechtsschule; FROMMEL 1985, S. 704f; ausführlich KOCH 2019, S. 451–483. 266 GOLTSCHE 2010, S. 90; NOWAKOWSKI 1972, S. 8. 267 EBNER, in: HÖPFL/RATZ, WK 2 StGB Vor §§ 32–36 Rz 15; SCHLOSSER 2017, S. 341– 343; VORMBAUM 2009, S. 125 f. 268 SCHLOSSER 2017, S. 342f. 269 Carl Stooß (* 1849, † 1934): o. Professor für Strafrecht an der Universität Bern, ab 1896 an der Universität Wien, Verfasser des schweizerischen Vorentwurfs 1893/94, auf den das schweizerische Strafgesetzbuch 1937 zurückgeht; Österreichisches Biographisches Lexikon und biographische Dokumentation, auf: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Stooss_Carl _1849_1934.xml (abgerufen am 13. 2. 2019). 270 GOLTSCHE 2010, S. 90; NOWAKOWSKI 1972, S. 8. 271 Adolf Merkel (* 1836, † 1896): Professor für Strafrecht in Gießen, in Prag und Wien, ab 1874 in Straßburg, mit seiner Vereinigungstheorie vermittelte er zwischen den Gegensätzen der absoluten und relativen Theorien; SCHMIDT 1995, S. 310–313.

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Straffreiheit durch Zeitablauf – Historische Grundlagen

ab.272 Die durchaus populäre Vereinigungstheorie hielt zwar am Vergeltungscharakter der Strafe fest, ging aber gleichzeitig davon aus, dass mit der Vergeltungsstrafe auch präventive Zwecke verfolgt werden. So habe die Strafe gegenüber dem Volk und dem Delinquenten/der Delinquentin stets einen pädagogischen Charakter, sie bessere und stütze deren Rechtssinn. Zudem wirke die Strafe abschreckend auf die Allgemeinheit wie den/die TäterIn.273 Der deutsche Schulenstreit beeinflusste die beiden wichtigsten Verfasser des österreichischen Strafgesetzentwurfs des Jahres 1912 (bzw. des Vorentwurfs 1909) in ihren Auffassungen über den Rechtsgrund der Verjährung.274 Hugo Högel, der die Gerechtigkeit zur Grundlage des Strafgesetzes machen wollte, berief sich zur Rechtfertigung der Verjährung primär auf die zunehmenden Beweisschwierigkeiten und lehnte in Anlehnung an Karl Binding materiellrechtliche Verjährungsbegründungen ab. Heinrich Lammasch,275 der die Strafe vor allem zur Verwirklichung relativer Zwecke einsetzen wollte, begründete den Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch folgerichtig mit dem Entfall der relativen Strafnotwendigkeit. Den Schwerpunkt seiner Begründung der Strafe legte er im Sinne der Lehre von Franz von Liszt auf den Gedanken der Besserung, die er aber nicht als zwingende Folge des Zeitverstreichens betrachtete und die daher durch die Erfüllung zusätzlicher Bedingungen nachgewiesen werden sollte.276 Durchsetzen konnte sich die Auffassung von Högel. Die letzten österreichischen Strafgesetzentwürfe des »langen« 19. Jahrhunderts betrachteten als Hauptrechtfertigungsgrund der Verjährung konsequent die zunehmenden Beweisschwierigkeiten. In diesen waren daher alle Straftaten verjährbar und keine Bedingungen über den Zeitablauf hinaus für den Verjährungseintritt statuiert. In Ermangelung einer materiellrechtlichen Begründung war die mit prozessualen Erwägungen nicht zu rechtfertigende Verjährung der verhängten Strafe aber nicht vorgesehen.277 Dies führt zu dem seltsamen Ergebnis, dass in den vorangegangenen Strafgesetzentwürfen, die als Hauptzweck der Strafe die Vergeltung erachteten,278 der Entfall der Strafverfolgung und Strafvollstreckung durch Verjährung mit der fehlenden präventiven Notwendigkeit einer Bestrafung begründet wurde, wäh272 LAMMASCH/RITTLER 1926, S. 13; SCHMUHL 2011, S. 113. 273 MERKEL/LIEPMANN 1912, S. XIV–XVII; SCHLOSSER 2017, S. 343. 274 Zum deutschen Schulenstreit und den Verjährungsbegründungen seiner wichtigsten Protagonisten siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.4.5. sowie Kapitel V.5.3. 275 Heinrich Lammasch (* 1853, † 1920): Professor für Strafrecht in Innsbruck und Wien, 1899– 1917 Mitglied des Herrenhauses, wissenschaftlicher Berater der österr.-ungar. Delegation zu den beiden Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907, Mitglied des Haager Schiedshofes, als letzter Ministerpräsident der Habsburgermonarchie (von 25. 10. 1918 bis 11. 11. 1918) bereitete er den Übergang zur Republik vor; SIMMA 1982, S. 447. 276 Zum österreichischen »Verjährungsstreit« siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6. 277 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3. und V.6.4. 278 Dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3. und V.4.

Die Verjährungsskepsis in Österreich

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rend in den letzten österreichischen Strafgesetzentwürfen der Monarchie, die auf der Vereinigungstheorie basierten,279 eine im Laufe der Zeit möglicherweise entfallende Strafnotwendigkeit in präventiver Hinsicht nicht angenommen oder zumindest für nicht entscheidend gehalten wurde.280

279 Zu den allgemeinen Grundlagen des Strafgesetzentwurfes 1912 und des Vorentwurfs 1909 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.1. 280 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.4.

II.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

1.

Einleitung

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahm Österreich an den deutschen Reformarbeiten im Bereich des Strafrechts teil. In der Folgezeit wurden mehrere Strafgesetzentwürfe ausgearbeitet, deren Übernahme sowohl die Republik Österreich als auch die Weimarer Republik beabsichtigte. Die deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit basierten auf einem Kompromiss zwischen den Anhängern der »klassischen Schule« und der »modernen Schule«.281 Sie folgten der Vereinigungstheorie, die präventive Erwägungen mit dem Vergeltungsgedanken kombinierte. Damit war der Schulenstreit überwunden und die bis dahin vorherrschende Vergeltungstheorie als Grundlage des künftigen Strafgesetzbuches aufgegeben worden. Im folgenden Kapitel wird die Ausgestaltung des Verjährungsinstituts in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit dargestellt. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welcher Rechtsgrund diesen Verjährungsregeln zugrunde lag. Untersucht wird auch, ob und welche Auswirkungen die Änderung in der Strafzweckauffassung auf die Ausgestaltung der Verjährungsregeln hatte.

2.

Die deutschen Arbeiten an der Strafrechtsreform bis zum Jahr 1919

Der deutsche Schulenstreit führte dazu, dass das deutsche Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1871 in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts seine Vorbildfunktion verlor und nicht mehr als Leitbild für die österreichische Straf-

281 Zum deutschen Schulenstreit siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.4.5.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

rechtsreform betrachtet wurde.282 Nahezu zeitgleich begann man auch in Deutschland über eine Reform des Reichsstrafgesetzbuches zu diskutieren. Zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Marburger Programms Franz von Liszts im Jahr 1882 war die Forderung nach einer Reform des Strafrechts in Deutschland weit verbreitet.283 Wesentlichen Anteil daran hatte der sich um die Jahrhundertwende vollziehende Paradigmenwechsel auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene. Das Reichsstrafgesetzbuch ging auf das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund des Jahres 1870, dieses wiederum auf das Preußische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1851 zurück. Zu seiner Zeit galt es als progressiv, weil es auf der Idee des liberalen Rechtsstaates fußte.284 Neue Probleme, insbesondere in sozialer Hinsicht, ließen das Reichsstrafgesetzbuch jedoch bald als reformbedürftig erscheinen.285 Der Tatsache, dass die Rückfallkriminalität bedrohlich anwuchs, konnten sich auch die Anhänger der klassischen Schule nicht verschließen. Als Franz von Liszt und Wilhelm Kahl286 die Möglichkeit und Notwendigkeit praktischer Reformarbeit unter Zurückstellung des Schulenstreits im Juli des Jahres 1902 in einer gemeinsamen öffentlichen Erklärung betonten, zeichnete sich eine pragmatische Lösung des Konflikts ab. Der verkündete »Waffenstillstand« führte zur Einleitung der Reformarbeiten am Reichsstrafgesetzbuch, wobei Vertreter der klassischen, der soziologischen und der vermittelnden Schule zusammenarbeiteten.287 Das erste Ergebnis dieser Reformarbeiten war der deutsche Vorentwurf des Jahres 1909, der allgemein als brauchbare Grundlage betrachtet wurde.

282 GOLTSCHE 2010, S. 90; NOWAKOWSKI 1972, S. 8; zu den österreichischen Arbeiten an der Strafrechtsreform bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3., IV.4.3. und Kapitel V.3., V.4., V.6. 283 SCHMIDT 1995, S. 394. 284 GOLTSCHE 2010, S. 19f. 285 GOLTSCHE 2010, S. 19f. 286 Wilhelm Kahl (* 1849, † 1932): Professor für Kirchen-, Staats- und Verwaltungsrecht, Strafund Strafprozessrecht in Rostock, Erlangen und Bonn, ab 1895 in Berlin, Anhänger der klassischen Strafrechtsschule, ab 1902 Mitglied des Komitees zur Vorbereitung der Strafrechtsreform, ab 1911 Mitglied und später Vorsitzender der beim Reichsjustizamt gebildeten Strafrechtskommission, 1927–1932 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Reichstages, Präsident des 32.–35. Deutschen Juristentages (1921–28), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, 1920–1932 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei, Kahl gehörte zu den einflussreichsten Parlamentariern der Weimarer Republik; SCHUBERT 1995, S. X– XIV; von Kahl stammt der Ausspruch: »Die Wissenschaft kann rücksichtslos aus den als wahr erkannten Prinzipien die letzten Folgerungen ziehen. Der Gesetzgeber nicht. Er muss mit dem Erreichbaren und Nützlichen sich bescheiden. […]«; KAHL, in: Deutsche Juristenzeitung 1902, S. 301, zitiert nach SCHUBERT 1995, S. XI. 287 GOLTSCHE 2010, S. 20; Karl Binding als einer der bedeutendsten Vertreter der klassischen Schule verweigerte allerdings die Mitarbeit an den Gesetzgebungsarbeiten; SCHMIDT 1995, S. 395.

Die deutschen Arbeiten an der Strafrechtsreform bis zum Jahr 1919

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In straftheoretischer Hinsicht basierte der Entwurf auf einem Kompromiss zwischen der klassischen und der modernen Schule. Er berücksichtigte sowohl den Vergeltungsgedanken als auch präventive Erwägungen.288 So hielt der Vorentwurf am Schuldprinzip (nulla poena sine culpa) fest. Der Präventionszweck sollte nicht dazu führen, dass die gerechte, der Schuld entsprechende Strafe überschritten wurde.289 Andererseits verwirklichte der Entwurf zahlreiche Punkte des Reformprogramms von Liszt wie beispielsweise die Einführung der bedingten Verurteilung und der vorläufigen Entlassung, der richterlichen Rehabilitation (Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Ehrenrechte; Löschung der Vorstrafen im Strafregister) sowie den Ausbau des Jugendstrafrechts.290 Außerdem sah der deutsche Vorentwurf eine »Zweispurigkeit« des staatlichen Sanktionssystems vor: Neben der Strafe waren erstmals auch Sicherungsmaßnahmen291 für gefährliche und behandlungsbedürftige RechtsbrecherInnen geplant. Die sichernden Maßnahmen waren nicht auf Vergeltung und Abschreckung, sondern ausschließlich auf die Heilung, Besserung und Sicherung ausgerichtet. Sie hatten keinen Vergeltungscharakter und richteten sich nicht nach der Schwere der Tat, sondern nach der Gefährlichkeit des Täters/der Täterin.292 Die straftheoretische Ausrichtung des Vorentwurfs aus dem Jahr 1909, das heißt die Kombination des Vergeltungsgedankens mit präventiven Erwägungen, sowie die Zweispurigkeit von Strafen und sichernden Maßnahmen wurden in allen nachfolgenden deutschen und deutsch-österreichischen Entwürfen der Zwischenkriegszeit übernommen.293 Zu dem Vorentwurf erarbeiteten Franz von Liszt und Wilhelm Kahl gemeinsam mit den Strafrechtsprofessoren James Goldschmidt294 und Karl Ludwig Ju288 SCHLOSSER 2017, S. 350. 289 Einer der zentralen Kritikpunkte an Liszts Strafzwecklehre war das Fehlen einer Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis. Verfolgt man mit der Strafe nur das Ziel der Besserung, müsste die Strafe so lange vollzogen werden, bis der/die TäterIn sich tatsächlich resozialisiert zeigt. In Abhängigkeit von der Täterpersönlichkeit wären damit langjährige Haftstrafen auch als Folge geringfügiger Delikte denkbar, was über die Begrenzung des Strafmaßes nach absoluten Theorien hinausgeht. Liszts Kriminalpolitik erinnert insofern an utilitaristische Aufklärungsautoren, die eine Strafe lediglich dann als unangemessen einordneten, wenn sie sich als präventiv nutzlos erwies; KOCH 2019, S. 477; SCHUSTER 2019, S. 26. 290 KOCH 2007, S. 134f; KOCH 2019, S. 472; VORMBAUM 2009, S. 148. 291 Auf die Bezeichnung Strafe für die sichernden Maßnahmen hatte Franz von Liszt freilich verzichten müssen; VORMBAUM 2009, S. 128, 140. 292 Amtliche Begründung zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927, S. 42f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 522f; GOLTSCHE 2010, S. 317f; VORMBAUM 2009, S. 127f. 293 SCHLOSSER 2017, S. 350; dazu ausführlich SCHMIDT 1995, S. 395–399, 405–408. 294 James Goldschmidt (* 1840, † 1940): ab 1908 ao. Professor, ab 1919 o. Professor an der Universität Berlin; als Schüler von Franz von Liszt sprach sich Goldschmidt gegen ein Primat des Vergeltungsgedankens und für eine stärkere Berücksichtigung des Besserungs- und Sicherungsgedankens aus, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verlor Gold-

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

lius von Lilienthal295 einen im Jahr 1911 veröffentlichten Gegenentwurf, der aber nicht als Antithese zum Vorentwurf, sondern als eine Ergänzung und Verbesserung desselben gedacht war.296 Der Entwurf des Jahres 1909 wurde von einer vom Reichsjustizamt eingesetzten Kommission weiterbearbeitet. Diese Arbeiten mündeten im Kommissionsentwurf des Jahres 1913. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bildeten der Vorentwurf des Jahres 1909 und der Kommissionsentwurf des Jahres 1913 die Grundlage für die weiteren Reformarbeiten. Eine kleinere Kommission überarbeitete den Kommissionsentwurf, der im Jahr 1919 als deutscher Vorentwurf veröffentlicht wurde.297

3.

Die deutsch-österreichische Strafrechtsreform

3.1.

Die Teilnahme Österreichs an den deutschen Reformarbeiten

Innerhalb Deutschlands fand der Entwurf des Jahres 1919 im Vergleich zu den Vorgängerentwürfen nur wenig Beachtung. Allerdings wurde seine Veröffentlichung zum Anlass genommen, die deutsch-österreichische Rechtsangleichung zu forcieren. Die Vereinheitlichung des Strafrechts war erstmals von Graf Wenzeslaus von Gleispach298 in der Deutschen Strafrechts-Zeitung im April des Jahres 1916 gefordert worden. In einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafrecht sah Gleispach vielfältige Vorteile. Denn die unterschiedlichen Straf-

295 296 297 298

schmidt 1934 seinen Lehrstuhl, 1938 verließ er Deutschland; LÖSCH 1999, S. 192–195; TENORTH/GRÜTTNER 2012, S. 177. Karl Ludwig Julius von Lilienthal (* 1853, † 1927): o. Professor für Strafrecht an den Universitäten Zürich, Marburg und ab 1896 in Heidelberg; https://www.catalogus-professorum -halensis.de/lielienthalkarlvon.html (abgerufen am 19. 6. 2020). VORMBAUM 2009, S. 149. SCHMIDT 1995, S. 397–399; VORMBAUM 2009, S. 150f, 154f. Graf Wenzeslaus Gleispach (* 1876, † 1944): Sohn des Justizministers Johann Nepomuk von Gleispach. Nach einer zweijährigen Tätigkeit bei der Strafrechtsabteilung des Justizministeriums wurde er (offenbar ohne Habilitation) zum Professor für Strafrecht, Zivilprozessrecht und Konkursrecht an die Universität Freiburg in der Schweiz berufen: ab 1906 Professor für Strafrecht an der Deutschen Universität Prag, ab 1915 ordentlicher Professor für Strafrecht an der Universität Wien, 1929–1930 Rektor an der Universität Wien, wo unter seiner Führung eine neue (die sog. Gleispachsche) Studienordnung eingeführt wurde, die die Studenten nach ihrer Abstammung einteilte. Ein besonderes Anliegen war Gleispach die Rechtsvereinheitlichung mit Deutschland. 1933 wurde Gleispach wegen seiner nationalsozialistischen und regierungskritischen Einstellung zwangspensioniert. Daraufhin übernahm er die Professur des vertriebenen James Goldschmidts an der Universität Berlin, wo er weiter für die »Säuberung der Universitäten« eintrat. Daneben war Gleispach maßgeblich an der Schaffung des NSKriegsstrafrechts beteiligt; STAUDIGL-CIECHOWICZ 2014, S. 426–432; Die Gleispach’sche Studentenordnung 1930–1930, auf: https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/die-gleispachsche -studentenordnung (abgerufen am 21.5.2020).

Die deutsch-österreichische Strafrechtsreform

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rechtsnormen erschweren die Auslieferung von StraftäterInnen und vereiteln häufig die Strafverfolgung oder -verurteilung. In wissenschaftlicher Hinsicht könne die geistige Arbeit eines Landes die des anderen bereichern, beleben und so zu einer Arbeitsersparnis führen.299 Am wichtigsten war für Gleispach jedoch die gesellschaftliche Funktion der Rechtsvereinheitlichung. »Die ideellen Vorteile der Rechtsgemeinschaft erscheinen mir mehr noch als die praktischen das Ziel erstrebenswert zu machen. Das Recht als Schöpfung der Menschen hat seine Wurzeln in ihren Wünschen und Vorstellungen. […] Gleiches Recht fördert die Gefühle des Zusammenhalts und kann sie selbst erzeugen. […]«300 Nach Ende des Krieges verstärkte sich der Wunsch nach einer Rechtsangleichung.301 Der Vertrag von Versailles untersagte Österreich den Anschluss an Deutschland, womit Österreich ein tatsächlicher politischer bzw. staatlicher Zusammenschluss verwehrt war. Die Anschlussbestrebungen verlagerten sich stattdessen auf eine rechtliche Ebene, wo eine möglichst große Anpassung und Vereinheitlichung angestrebt wurde.302 Im Bereich des Strafrechts förderte insbesondere die Österreichische Kriminalistische Vereinigung dieses Ziel. Bei ihrer Tagung im Oktober des Jahres 1921 setzte sie sich ausführlich mit dem deutschen Vorentwurf des Jahres 1919 auseinander, wobei zahlreiche Abänderungsvorschläge geäußert wurden. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete die Vereinigung den Entwurf nicht mehr nur mit theoretischem Interesse. Gleispach erklärte bei der Tagung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung im Namen der österreichischen Landesgruppe, dass man im künftigen deutschen Strafgesetzbuch auch das neue österreichische Strafrecht erblicke, das unmittelbar zu übernehmen man gesonnen sei.303 Der österreichische Entwurf aus dem Jahr 1912304 war zu diesem Zeitpunkt aber nicht grundsätzlich überholt, und insofern hätten die bereits weit fortgeschrittenen Arbeiten am österreichischen Strafgesetzentwurf weitergeführt werden können. Doch wurde der Entwurf 1912 dem verbreiteten Wunsch nach Rechtseinheit mit Deutschland geopfert305 und mit dem deutschen Reichsjustizminister Eugen Schiffer eine Rechtsvereinheitlichung zwischen Österreich und Deutschland auf dem Gebiet des Strafrechts vereinbart. Dazu sollte zunächst ein österreichischer Vertreter für grundlegende Verhandlungen über die anzugleichenden Rechtsvorschriften nach Deutschland entsandt werden. Aufgrund der 299 GOLTSCHE 2010, S. 84f; VORMBAUM 2009, S. 155. 300 GLEISPACH, Wenzeslaus, in: Deutsche Strafrechts-Zeitung, Spalte 109f, zitiert nach GOLTSCHE 2010, S. 85. 301 GOLTSCHE 2010, S. 86. 302 GOLTSCHE 2010, S. 84. 303 GOLTSCHE 2010, S. 86. 304 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6. 305 NOWAKOWSKI 1972, S. 8.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

politisch unruhigen Situation in Deutschland wurde die Vorbereitung eines gemeinsamen Strafgesetzentwurfs jedoch vorübergehend verschoben.306 Unterdessen erhielt Ferdinand Kadecˇka,307 Ministerialrat und Leiter der gesetzgebenden Abteilung im österreichischen Bundesministerium für Justiz, den Auftrag, einen Gegenentwurf zum deutschen Entwurf des Jahres 1919 auszuarbeiten. Bei der Ausarbeitung des Gegenentwurfs zum Allgemeinen Teil griff Kadecˇka zahlreiche Vorschläge auf, die auf der Tagung der Österreichischen Kriminalistischen Vereinigung geäußert worden waren. Anfang des Jahres 1922 stellte Kadecˇka den österreichischen Gegenentwurf zum Allgemeinen Teil fertig.308

3.2.

Der Entwurf Radbruchs aus dem Jahr 1922

Noch während Kadecˇka den Gegenentwurf erarbeitete, begann in Deutschland der neue sozialdemokratische Reichsjustizminister und Strafrechtsprofessor Gustav Radbruch309 mit seinen Mitarbeitern den später nach ihm benannten Entwurf des Jahres 1922 auszuarbeiten. Von österreichischer Seite wirkte insbesondere Ferdinand Kadecˇka, der der Vereinbarung entsprechend vom österreichischen Justizministerium nach Deutschland entsandt worden war, an der 306 GOLTSCHE 2010, S. 87. 307 Ferdinand Kadecˇka (* 1874, † 1964): ab 1918 Leiter der legislativen Sektion für Strafrecht im Justizministerium, 1919 Ministerialrat, 1932 Sektionschef, 1922 Habilitation an der Universität Wien, 1925 außerordentlicher, 1934 ordentlicher Professor. Eines der größten Projekte in Kadecˇkas Leben war die Strafrechtsreform. Er verfasste den österreichischen Gegenentwurf des Jahres 1922 und fungierte bis 1933 als Verbindungsmann zwischen Österreich und Deutschland. Nach der Wiederaufnahme der Reformarbeiten in der Zweiten Republik war Kadecˇka von 1954 bis 1962 Vorsitzender der Reformkommission und ihr ständiger Referent. Seine Entwürfe prägten das nach seinem Tod im Jahr 1974 erlassene Strafgesetzbuch; STAUDIGL-CIECHOWICZ 2014, S. 426–432. 308 GOLTSCHE 2010, S. 87f; SCHUBERT/REGGE 1995, S. XI. 309 Gustav Radbruch (* 1878, † 1949): Professor für Strafrecht an den Universitäten Heidelberg und Kiel, sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und von 1920 bis 1923 Justizminister, 1926 Dekan der juristischen Fakultät in Kiel, von 1927 bis 1933 Professor in Heidelberg. Radbruch fühlte sich Zeit seines Lebens der soziologischen Strafrechtsschule seines Lehrers Franz von Liszts verpflichtet. Er strebte den Übergang von einem Vergeltungsstrafrecht zu einem spezialpräventiven Erziehungsstrafrecht an, kämpfte gegen die Klassenjustiz und sprach sich frühzeitig für die Zulassung von Frauen zu allen Rechtsberufen aus. Das autoritäre und völkische Strafrecht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie lehnte er als »terroristisch-selektives Strafrecht« ab. Auf Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entzog das NS-Regime Radbruch im Jahr 1933 als erstem deutschem Professor sein Amt. Nach Ende des Krieges wurde Radbruch wieder als Professor und Dekan der juridischen Fakultät in Heidelberg eingesetzt und formulierte die nach ihm benannte Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht; BEHME 2006, S. 147–169.

Die deutsch-österreichische Strafrechtsreform

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Ausarbeitung des Entwurfs mit. Bereits im September des Jahres 1922 war der Entwurf Radbruchs fertiggestellt.310 Obgleich Radbruch erklärte, dass der Schulenstreit durch Verständigung beendet sei und er argumentativ den Vergeltungsgedanken mit präventiven Vorstellungen verknüpfte, war der Besserungs- und Erziehungsgedanke Radbruchs Leitmotiv und sein Entwurf, insbesondere die Auswahl der Straf- und Sicherungsmittel, von der soziologischen Schule seines Lehrers Franz von Liszt beeinflusst.311 Der Entwurf Radbruchs strebte eine Reduktion von kurzen Freiheitsstrafen durch den Einsatz von Geldstrafen und die Möglichkeit zur bedingten Verurteilung an. Außerdem orientierte sich die Strafzumessung an Liszts Tätertypologie.312 Gegen Gewohnheits- und RückfallsverbrecherInnen war neben der Strafe auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung geplant.313 Für die Sicherungsverwahrung und für alle anderen Arten der Unterbringung (in einer Heil- und Pflegeanstalt oder einer Trinkerheilanstalt) galt die Regel, dass die Unterbringung so lange dauern sollte, wie es der Zweck der Anordnung erforderte. Während die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt maximal zwei Jahre dauern durfte, betrug die Maximaldauer bei anderen Arten der Unterbringung zunächst drei Jahre. Die Unterbringung konnte dann aber vom Gericht unbegrenzt oft verlängert werden.314 Der Entwurf Radbruchs sah erstmals die Möglichkeit des Vikariierens von Strafen und Maßregeln vor.315 So konnte beispielsweise die Sicherungsverwahrung an die Stelle der Strafe treten.316 Die Entscheidungsspielräume der Richter wurden vor allem im Bereich der Strafzumessung massiv erweitert, da von ihnen auch eine umfangreiche soziale, psychologische und medizinische Beurteilung verlangt wurde.317 Daneben zeichnete sich der Entwurf Radbruchs vor allem durch eine Entkriminalisierung von zahlreichen Tatbeständen wie des Ehebruchs, der Verlobungskuppelei oder auch der Homosexualität aus. Das Strafrecht sollte sich auf sozialschädliche Handlungen beschränken und bloße Moralwidrigkeiten nicht erfassen.318 Zu den zentralen

310 311 312 313 314 315 316 317 318

GOLTSCHE 2010, S. 97. GOLTSCHE 2010, S. 113f, 383; VORMBAUM 2009, S. 170. GOLTSCHE 2010, S. 383. § 45 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 11; GOLTSCHE 2010, S. 370f, 383. § 46 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 11. Unter Vikariieren versteht man, dass vorbeugende Maßnahmen vor der gleichzeitig ausgesprochenen Strafe und unter Anrechnung auf dieselbe vollzogen werden; DREXLER/ WEGER, StVG4 § 178a, RZ 1 (Stand 1. 5. 2018, rdb.at). §§ 47, 48 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 11. VORMBAUM 2009, S. 172. NEUMANN 2004, S. 437f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Reformpunkten des Entwurfs gehörten auch die Abschaffung der Todesstrafe319 sowie der Zuchthausstrafe mit ihrer entehrenden Wirkung, das heißt der zwingenden Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Zuchthausstrafe wurde im Entwurf durch »strenges Gefängnis« ersetzt. Der Resozialisierung hinderliche Ehrenstrafen waren in Radbruchs Entwurf generell nicht vorgesehen.320 Diese Regelungen wurden von der österreichischen Seite mitgetragen. Die straftheoretische Grundlage des Entwurfs stieß auch auf Zustimmung Kadecˇkas, der ein Vergeltungsstrafrecht ablehnte und einer spezialpräventiven Strafrechtsauffassung folgte.321 Bis auf eine einzige Bestimmung, betreffend den Schutz der Weltanschauung im Abschnitt über die Religionsdelikte, kamen alle Regelungen des Entwurfs Radbruchs mit österreichischer Zustimmung zustande.322

3.3.

Die Fortsetzung der Reformarbeiten

Noch vor der Beratung über den Entwurf von Justizminister Radbruch trat die deutsche Reichsregierung im November des Jahres 1922 aus außenpolitischen Gründen zurück. In weiterer Folge stagnierte das Projekt der Strafrechtsreform. Erst im Jahr 1924 beriet die neue Reichsregierung über den Entwurf. Staatssekretär Curt Joël nahm an ihm einige Änderungen vor, die vor allem das Sanktionssystem betrafen. Insbesondere wurde die Todesstrafe wieder in den Entwurf aufgenommen. Die Regierung verabschiedete den umgearbeiteten Entwurf schließlich als »Amtlichen Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs«. Vor der Einbringung des Strafgesetzentwurfs in den Reichstag musste in Deutschland allerdings die Zustimmung des Reichsrats eingeholt werden. Die Regierung legte dem Reichsrat den Entwurf im Jahr 1924 zur Beschlussfassung vor. Im Jahr 1925 wurde der Strafgesetzentwurf der Öffentlichkeit als Buchausgabe zugänglich gemacht. Die Ausschüsse des Reichsrates beschlossen einige Änderungen, wobei die österreichische Justizverwaltung die Gelegenheit hatte, sich zu den einzelnen An-

319 Die Abschaffung der Todesstrafe entsprach der Position Österreichs, wo diese Strafart in Art. 85 des Bundes-Verfassungsgesetzes verboten war; GOLTSCHE 2010, S. 252f. 320 GOLTSCHE 2010, S. 356; SCHMIDT 1995, S. 406. 321 GOLTSCHE 2010, S. 97; SCHUBERT 1995, S. XXVI, XXVIII; Kadecˇka war auch ein entschiedener Anhänger eines Willensstrafrechts und betrachtete als Grund der Strafe den rechtswidrigen Willen des Täters/der Täterin, der freilich nach außen zum Ausdruck gebracht werden musste. Kritisch zu bewerten ist Kadecˇkas Strafrechtsauffassung angesichts der Reformströme nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, denn auch das NSStrafrecht war vom Willensstrafrecht geprägt. Kadecˇka hatte seine Strafrechtslehre allerdings schon in den 1920er-Jahren unabhängig von der nationalsozialistischen Ideologie erarbeitet; GOLTSCHE 2010, S. 97; SCHUBERT 1995, S. XXVII–XXIX. 322 GOLTSCHE 2010, S. 100.

Die deutsch-österreichische Strafrechtsreform

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regungen vor der Beratung und Beschlussfassung zu äußern. Im Jahr 1927 stimmte der Reichsrat dem Entwurf schließlich zu.323 Der umgearbeitete Strafgesetzentwurf wich trotz grundsätzlicher Übereinstimmung in einigen Punkten vom Entwurf des Jahres 1925 ab. So wurde die auf einen Gedanken Radbruchs zurückgehende Privilegierung von ÜberzeugungsverbrecherInnen aufgegeben und der Notstandsbegriff eingegrenzt. Die Strafmilderung für den Versuch wurde obligatorisch.324 Von Österreich wurden die von deutscher Seite vorgenommenen Änderungen größtenteils akzeptiert. Nur die Wiederaufnahme der Todesstrafe war nicht geplant. Im Übrigen waren inhaltliche Abweichungen vom deutschen Strafgesetzentwurf nur betreffend den Schwangerschaftsabbruch und die Kompetenz zur Durchführung der Anstaltsverwahrung, die in Österreich in die Zuständigkeit des Bundes fallen sollte, vorgesehen.325 Der umgearbeitete Strafgesetzentwurf wurde im Jahr 1927 in den deutschen Reichstag und mit den beschriebenen Abweichungen in den österreichischen Nationalrat eingebracht. Nach zweitägiger parlamentarischer Beratung beschloss der Nationalrat, den Entwurf einem Sonderausschuss des Nationalrates zur Beratung zuzuweisen.326 In Deutschland wurde der Strafgesetzentwurf ebenfalls einem vom Reichstag eingerichteten Strafgesetzausschuss zugewiesen, in dem Wilhelm Kahl den Vorsitz führte. Zunächst beriet der deutsche Strafgesetzausschuss die einzelnen Materien. Erst wenn dieser einen abgrenzbaren Teil des Strafgesetzentwurfs beraten hatte, nahm der österreichische Ausschuss seine Beratungen über die jeweilige Materie auf. Durch diese Arbeitsweise sollten Doppelarbeiten und gegensätzliche Beschlüsse vermieden werden. Nach Abschluss der Ausschussberatungen zu den einzelnen Materien in beiden Staaten fanden die Sitzungen der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz statt. Die Strafrechtskonferenz hatte die Aufgabe, die Ausschussbeschlüsse der beiden Staaten zu besprechen und anzugleichen. An dieser Konferenz nahmen sechs Abgeordnete des österreichischen Nationalrates und zehn Abgeordnete des deutschen Reichstages teil. Die Sitzungen der Strafrechtskonferenz wurden zwischen 1927 und 1930 abwechselnd in Wien und verschiedenen deutschen Städten abgehalten.327 323 324 325 326

ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 45. VORMBAUM 2009, S. 175. ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 45f. StenProtNR 3. GP 11. Sitzung vom 20. 9. 1927, S. 285–307; StenProtNR 3. GP 12. Sitzung vom 21. 9. 1927, S. 309–337; Allerdings zeigten sich schon bei der Nationalratsdebatte erhebliche parteipolitische Differenzen; FESTL-WIETEK 1996, S. 216–218; Nach Auffassung von Werner Schubert waren die Chancen auf die Verwirklichung der österreichischen Strafrechtsreform auf Basis des gemeinsamen Entwurfs aus dem Jahr 1927 angesichts der innenpolitischen Spannungen auch in Österreich gering; SCHUBERT 1995, S. XXXf. 327 FESTL-WIETEK 1996, S. 215f, 219; SCHUBERT 1995, S. XXXI.

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4.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Die Entwicklung des Verjährungsinstituts in den deutschen Strafgesetzentwürfen bis zum Jahr 1919

Den Ausgangspunkt für die Reformarbeiten bildeten in Deutschland die Verjährungsregeln des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs aus dem Jahr 1871. Dieses ließ beide Verjährungsarten, das heißt sowohl die Verfolgungs- als auch die Vollstreckbarkeitsverjährung zu. Für den Verjährungseintritt war nur das Verstreichen der Verjährungsfrist erforderlich. Die längste Frist für die Verjährung der Strafverfolgungsbefugnis betrug zwanzig Jahre, für die Verjährung der Strafvollstreckungsbefugnis 30 Jahre. Die Erfüllung zusätzlicher Bedingungen wurde nicht verlangt. Nicht einmal die Begehung neuer Straftaten innerhalb der Verjährungsfrist verhinderte den Eintritt der Verjährung. Schließlich kannte das Reichsstrafgesetzbuch keine unverjährbaren Delikte, denn auch die mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten waren verjährbar.328 Bei der Aufnahme der Reformarbeiten gehörten diese Regelungen in Deutschland seit über 30 Jahren zum geltenden Recht. In dieser Zeit waren sie in Deutschland zu einer nicht näher hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden, die bei den Gesetzgebungsarbeiten von der deutschen Seite nicht besonders thematisiert wurde. Allerdings schränkte das Reichsstrafgesetzbuch den Anwendungsbereich der Verjährung durch ein Institut ein, das immer mehr als Konstruktionsfehler des Gesetzes betrachtet wurde, die sogenannte Unterbrechung der Verjährung.329 Diese erfolgte nach dem dRStGB durch jede Handlung des Richters, »welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet« war (§ 68 dRStGB) und durch jede auf Vollstreckung gerichtete Handlung der Vollstreckungsbehörde gegen den/die Verurteilte (§ 72 dRStGB). Mit dem Unterbrechungsakt begann die Verjährungsfrist gegenüber dem/der Beschuldigten bzw. dem/der Verurteilten neu zu laufen. Eine zahlenmäßige oder zeitliche Beschränkung der Unterbrechungsmöglichkeit war im Reichsstrafgesetzbuch nicht vorgesehen.330 Bei anhängigen Verfahren fühlten sich die Strafverfolgungsbehörden in der Regel dazu verpflichtet, rechtzeitig auf einen gerichtlichen Unterbrechungsakt hinzuwirken,331 sodass es in der Praxis häufig zu einer beträchtlichen Verlängerung der 328 Vgl. dazu die § 66–72 dRStGB 1871. 329 ASHOLT 2016, S. 35–37. 330 VORMBAUM 2011, S. 52; Eine zeitlich unbegrenzte Unterbrechungsmöglichkeit war auch im österreichischen Strafgesetzbuch des Jahres 1852 vorgesehen (§ 227 StG 1852); Nach der Rechtsprechung des Kassationshofs konnte nur ein gerichtlicher Akt, kein Akt der Staatsanwaltschaft, gegen eine/n Beschuldigte/n eine Unterbrechung bewirken. Die möglichen Unterbrechungsakten waren in § 227 StG 1852 demonstrativ aufgezählt; RITTLER 1926, S. 57; zu den Bestrebungen, den Anwendungsbereich der Unterbrechung in Österreich zu beschränken, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.2. und V.6.3.–V.6.4. 331 So beantragten die Staatsanwaltschaften in Deutschland häufig sachlich nicht gebotene Prozesshandlungen wie formularmäßige Ermittlungen oder die Aktenübersendung, um

Die Entwicklung des Verjährungsinstituts in den deutschen Strafgesetzentwürfen

77

Verjährungsfristen kam. Auf diese Weise konnten die Behörden Straftaten der Verjährung überhaupt entziehen.332 Daneben statuierte das Reichsstrafgesetzbuch ein Ruhen der Verjährung, das heißt eine Hemmung des Fristverlaufs. Die Verfolgungsverjährung ruhte, solange die Strafverfolgung aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht begonnen oder fortgesetzt werden konnte (§ 69 dRStGB).333 Dies war beispielsweise bei Abgeordneten des Reichstages während ihrer Amtszeit aufgrund der Immunität der Fall und außerdem, wenn die Entscheidung über den Beginn oder die Fortsetzung des Strafverfahrens von einer Vorfrage abhängig war, über die zuerst in einem anderen Verfahren entschieden werden musste.334 Der Vorentwurf aus dem Jahr 1909 übernahm die Verjährungsregeln des Reichsstrafgesetzbuches nahezu unverändert. Für die im Entwurf vorgesehenen Sicherungsmittel wurde ebenfalls eine Verjährungsregel getroffen. Die Befugnis, aufgrund von einer Anlasstat Sicherungsmittel anzuordnen, verjährte mit der Verfolgungsbefugnis. Die Vollstreckbarkeit der Maßregeln, das heißt der Sicherungsmittel, sollte nach Ablauf einer Frist von drei Jahren erlöschen.335 Der Anwendungsbereich der gegen Ende des »langen« 19. Jahrhunderts vielfach kritisierten Verjährungsunterbrechung wurde beschränkt, denn das Recht dürfe nicht so gestaltet sein, dass die Vollendung der Verjährung von den Strafverfolgungsbehörden durch Maßnahmen ihrerseits beliebig verhindert werden könne. Der/Die Beschuldigte sollte in die Lage versetzt werden, »mit einiger Sicherheit die Frage zu beantworten, ob er noch verfolgt werden« könne.336 Dem Beschluss des 24. Deutschen Juristentags337 entsprechend statuierte der deutsche Vorentwurf daher eine absolute Verjährung. Danach hätte jede auf Verfolgung gerichtete Handlung des Richters gegen den/die Beschuldigte/n und jede auf

332 333

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durch die gerichtliche Handlung eine Unterbrechung zu erreichen; Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6–8, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411– 413. Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6–8, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411–413. Die ursprüngliche Fassung des § 69 dRStGB lautete: »Ist der Beginn oder die Fortsetzung eines Strafverfahrens von einer Vorfrage abhängig, deren Entscheidung in einem anderen Verfahren erfolgen muß, so ruht die Verjährung bis zu dessen Beendigung.« Die Erweiterung der Ruhensregelung erfolgte im Jahr 1892, um die Verjährung von in der Presse geäußerten Beleidigungen durch Reichstagmitglieder, die während ihrer Amtszeit durch die Immunität geschützt waren und nicht verfolgt werden konnten, zu verhindern. Während der Reichstag nur einen Einzelfall regeln wollte, schuf er unbewusst eine der zentralen Ausnahmevorschriften von der Verjährung, die vor allem nach dem Ende des NS-Regimes Bedeutung erlangte; ASHOLT 2016, S. 34f, siehe dazu Kapitel IV.3.1. ASHOLT 2016, S. 34f. § 97 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch (1909), abgedruckt in: RENTROP/ VORMBAUM 2008, S. 22. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 397, 403. Zu diesem siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Vollstreckung gerichtete Handlung der Vollstreckungsbehörde gegen den/die Verurteilte/n eine Unterbrechung der Verjährung, das heißt einen Neubeginn des Fristlaufs, bewirkt. Spätestens mit Ablauf der doppelten Verjährungsfrist wäre die Verjährung aber jedenfalls eingetreten. Wie im geltenden deutschen Recht war die Unterbrechung nur bezüglich desjenigen/derjenigen geplant, gegen den/ die die richterliche Untersuchungshandlung gerichtet war (§ 95 deutscher Vorentwurf 1909).338 Zusätzlich zu dem Ruhenstatbestand des Reichsstrafgesetzbuches bei gesetzlicher Unmöglichkeit der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung war ein Ruhen von maximal zwei Jahren bei Verbrechen sowie Vergehen und maximal einem Jahr bei Übertretungen für die Dauer des anhängigen Hauptverfahrens vorgesehen (§ 96 deutscher Vorentwurf 1909). Damit sollte ein Eintritt der Verjährung während des anhängigen Verfahrens verhindert werden, wenn keine Unterbrechung der Verjährung mehr möglich war.339 In Bezug auf die Vollstreckbarkeitsverjährung war geplant, die Frist ruhen zu lassen, wenn die Vollstreckung einer Strafe nicht begonnen werden konnte, weil bereits eine andere verhängte Strafe oder Maßnahme vollstreckt wurde. Die Verjährung der Strafvollstreckungsbefugnis sollte außerdem während der Dauer einer bedingten Strafnachsicht, einer bedingten Entlassung, während eines Strafaufschubes, einer Strafunterbrechung sowie bei der Gewährung von Ratenzahlung oder der Tilgung der Geldstrafe durch Arbeit ruhen (§ 99 deutscher Vorentwurf 1909).340 Zur Begründung der Verjährung verwiesen die Erläuterungen zum Vorentwurf des Jahres 1909 auf die nach längerer Zeit üblicherweise in der Person des Täters/der Täterin und seinen/ihren Verhältnissen eingetretenen Veränderungen sowie die Abschwächung der Erinnerungen an Straftaten. Die Verjährung stelle kein Rechtsinstitut zur Begünstigung des Täters/der Täterin dar, beispielsweise für dessen/deren Wohlverhalten nach der Tat oder nach dem Urteil, sondern einen nur vom Zeitablauf abhängigen Strafaufhebungsgrund, »geschaffen im wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit zur Förderung einer auch den Anforderungen der Billigkeit entsprechenden Strafrechtspflege.«341 Auf die »eigentliche Grundlage« des Rechtsinstituts der Verjährung komme es für den Gesetzgeber nicht an, denn ihm genüge die kriminalpolitische Zweckmäßigkeitserwägung, dass für den Staat nach Ablauf gewisser Zeiträume das Interesse an der Ahndung längst vergangener Rechtsverletzungen nicht mehr groß genug sei, um ihn noch zur Durchführung eines Strafverfahrens zu nötigen,342 »zumal die Strafe ein Übel bedeute, das, wenn die Interessen der Allgemeinheit 338 339 340 341 342

VORMBAUM 2011, S. 52f. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 403–405. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 409f. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 396f. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 396.

Die Entwicklung des Verjährungsinstituts in den deutschen Strafgesetzentwürfen

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seine Vermeidung gestatten, vermieden werden solle.«343 Näheres zur Rechtfertigung der Beibehaltung des Verjährungsinstituts anzuführen, erübrige sich auch, weil seine Beseitigung oder Einschränkung von niemandem ernsthaft gefordert werde.344 Diese Erwägungen mögen für die Verjährung der Strafverfolgungs- und der Strafvollstreckungsbefugnis zutreffen. Interessant ist, dass der Entwurf erstmals auch die Befugnis zur Verhängung von Sicherungsmittel sowie die verhängten sichernden Maßnahmen der Verjährung unterstellte. Diese waren nicht auf Vergeltung und Abschreckung, sondern ausschließlich auf die Heilung, Besserung und Sicherung ausgerichtet. Der Zweck der Sicherungsmittel unterschied sich folglich von dem der Strafe. Daher passten einige der klassischen Verjährungsbegründungen für die Verjährung der Sicherungsmittel nicht. Dementsprechend wurde die Verjährung der Sicherungsmittel, getrennt von der Verjährung der Strafe, allein damit begründet, dass Heilungs- und Erziehungsversuche nur dann Sinn machen würden, wenn einigermaßen gesicherte Anhaltspunkte dafür vorhanden seien, dass der/die TäterIn nicht schon gebessert oder aber unverbesserlich und unheilbar geworden sei. Eine lange zurückliegende Anlasstat lasse nicht auf eine Heilungs- und Erziehungsnotwendigkeit schließen.345 Die Verjährung der auf Heilung und Erziehung abzielenden Sicherungsmittel wurde also folgerichtig mit dem Entfall der Heilungs- und Erziehungsnotwendigkeit gerechtfertigt. In der zeitgenössischen Literatur finden sich dagegen zur Verjährung der Sicherungsmittel keine Äußerungen. Im Gegenentwurf aus dem Jahr 1911 war die Verjährungsunterbrechung überhaupt nicht mehr vorgesehen. Vielmehr wurde diese als »unzulässige Parallelführung« zur zivilrechtlichen Verjährung betrachtet. Im Zivilrecht erkläre sie sich daraus, dass mit der Klageerhebung die Gefahren, die sich aus der verspäteten Geltendmachung von Rechten ergäben, entfielen. Die strafrechtliche Verjährung habe aber den Zweck, überhaupt zu verhindern, dass zwischen der Tatbegehung und der Anklage ein zu langer Zeitraum liege. Die bloße Geltendmachung des staatlichen Strafanspruchs sei daher nicht dazu geeignet, eine Verlängerung der Verjährungsfristen zu bewirken. Freilich müssen die gesetzlichen Verjährungsfristen so bemessen sein, »daß sie einer wirksamen Strafrechtspflege kein Hindernis bereiten«.346 Dies sei aber bei den regulären Verjährungsfristen des Reichsstrafgesetzbuches und des Vorentwurfs aus dem Jahr 1909 der Fall. Angesichts der ungeheuren Verbesserung der Nachrichten- und

343 344 345 346

Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 396f. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 397. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. 1909, S. 407f. KAHL, Wilhelm, Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs. Begründung, Berlin 1911, S. 146, zitiert nach VORMBAUM 1997, S. 484f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Verkehrswege seit Erlass des Reichsstrafgesetzbuchs komme die Beibehaltung dieser Verjährungsfristen faktisch ohnehin einer Verlängerung gleich.347 Die Diskussionsgrundlage für die Strafrechtskommission, die im Jahr 1911 ihre Arbeit aufnahm, bildete der deutsche Vorentwurf des Jahres 1909, aber auch der Gegenentwurf fand Berücksichtigung. Wilhelm Kahl und der Göttinger Strafrechtsprofessor Robert von Hippel beantragten in der Kommissionsberatung zu den Verjährungsregeln, wie im Gegenentwurf vorgesehen, die Unterbrechungsmöglichkeit des Vorentwurfes und damit die mögliche Verdoppelung der Fristlänge zu streichen. Denn eine Fristverdoppelung werde bei schwersten Delikten faktisch wiederum zum Ausschluss der Verjährung führen. Außerdem erachteten Hippel und Kahl die Möglichkeit zur behördlichen Fristverdoppelung und auch die Regelungen des Reichsstrafgesetzbuches, die eine unbegrenzte Verlängerung der Verjährungsfristen ermöglichten, als rechtsstaatlich bedenklich. Sie widersprächen dem Grundgedanken der Verjährung. Dieser bestünde darin, dass das Strafbedürfnis der Allgemeinheit mit der Zeit erlösche und die Wirkungen der Strafe auf den/die TäterIn und die Allgemeinheit umso geringer seien, je später die Strafe erfolge. Denn die »heilende Kraft« der Zeit wirke unabhängig davon, ob wegen der Tat eine richterliche Verfolgungshandlung gesetzt worden sei. Der Unterbrechung und Fristverlängerung im Einzelfall stünde zudem der Grundsatz der Gerechtigkeit entgegen, weil gleiche Straftaten gleich zu behandeln seien. Außerdem habe auch der/die StraftäterIn ein Recht auf Rechtssicherheit, das heißt, ein Recht zu wissen, ob er/sie noch verfolgt werden könne. Der Unterbrechungsakt werde aber in aller Regel weder dem/der TäterIn noch der Allgemeinheit bekannt.348 Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder verschloss sich diesen Argumenten und bestritt ein Recht des Täters/der Täterin auf Rechtssicherheit. Im Übrigen argumentierten die Kommissionsmitglieder kriminalpolitisch. Gerade die Verbesserung der Verkehrswege gäbe StraftäterInnen mehr Möglichkeiten, sich der Strafverfolgung für die Dauer der Verjährungszeit zu entziehen. Ein Entfall der Unterbrechungsmöglichkeit werde das Berufsverbrechertum fördern. Der Vorschlag, die Unterbrechung zu streichen, nehme außerdem zu wenig Rücksicht auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung, weil dieser gerade schwere Verbrechen oft außerordentlich lange im Gedächtnis bleiben würden.349 Im Kommissionsentwurf des Jahres 1913 wurde dem Gericht daher die Möglichkeit gegeben, die regulären Verjährungsfristen zu verlängern. Eine beliebige gerichtliche Verfolgungshandlung gegen eine/n Beschuldigte/n war dazu freilich nicht mehr ausreichend. Vielmehr war zur Verjährungsverlängerung ein Gerichtsbeschluss er347 VORMBAUM 2011, S. 53; VORMBAUM 1997, S. 485. 348 VORMBAUM 1997, S. 485f. 349 VORMBAUM 1997, S. 486.

Die Entwicklung des Verjährungsinstituts in den deutschen Strafgesetzentwürfen

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forderlich.350 Diese Regelung übernahm der deutsche Vorentwurf des Jahres 1919 und erklärte: »Das Gericht kann die Verjährungsfrist auf Antrag der Staatsanwaltschaft verlängern, wenn die besonderen Umstände des Falles es gebieten.«351 Eine Verlängerung war bei Verbrechen um maximal zehn und bei Vergehen um maximal drei Jahre möglich. Die Verjährungsfrist für Delikte, die einer kürzeren Verjährungsfrist als drei Jahre unterlagen, konnte durch den Gerichtsbeschluss maximal verdoppelt werden.352 Als Ausgleich für den Wegfall der unbeschränkten Unterbrechungsmöglichkeit sah der Kommissionsentwurf außerdem eine Verlängerung der längsten regulären Verfolgungsverjährungsfrist vor. Diese wurde im Entwurf des Jahres 1913 von zwanzig auf 25 Jahre verlängert.353 Die übrigen Fristen blieben dagegen unverändert und entsprachen denen des Reichsstrafgesetzbuches. Um einen Verjährungseintritt während des Hauptverfahrens zu verhindern, verlängerte der Kommissionsentwurf außerdem die Ruhensfristen des Vorentwurfes aus dem Jahr 1909 und statuierte: »Die Verjährung ruht ferner, solange über dem Täter das Hauptverfahren schwebt; sie ruht aus diesem Grunde aber höchstens zwei Jahre oder, wenn die Sache infolge Anfechtung des Urteils an ein höheres Gericht gelangt ist, höchstens drei Jahre.«354 Damit sollte dem/der Beschuldigten die Möglichkeit genommen werden, durch geschickte Rechtsmittel das Strafverfahren bis zum Eintritt der Verjährung zu verzögern.355 Im Übrigen übernahm der Kommissionsentwurf aus dem Jahr 1913 die Verjährungsbestimmungen des Vorentwurfes aus dem Jahr 1909. Die Regelungen des Kommissionsentwurfs wiederum wurden ohne inhaltliche Änderungen in den deutschen Vorentwurf des Jahres 1919 übernommen.356

350 VORMBAUM 1997, S. 486. 351 § 117 Kommissionsentwurf 1913, abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 221; § 124 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, abgedruckt in: RENTROP/ VORMBAUM 2008, S. 371. 352 § 117 Kommissionsentwurf 1913, abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 221; § 124 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, abgedruckt in: RENTROP/ VORMBAUM 2008, S. 371. 353 § 114 Kommissionsentwurf 1913, abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 221; VORMBAUM 1997, S. 486f. 354 § 116 Kommissionsentwurf 1913, abgedruckt in: RENTROP/VORMBAUM 2008, S. 221. 355 ASHOLT 2016, S. 37. 356 VORMBAUM 1997, S. 487; vgl. dazu auch §§ 121–128 Vorentwurf 1919, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 32–34.

82

5.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Die Verjährung im österreichischen Gegenentwurf des Jahres 1922

Für Österreich, wo auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch die Verjährungsregelungen des Jahres 1852 galten, die aus der Franziskana 1803 übernommen worden waren,357 stellten diese Bestimmungen bedeutende Neuerungen dar. Obgleich von Österreich bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Rechtsangleichung mit Deutschland auf dem Gebiet des Strafrechts angestrebt worden war, hatten bis zum Ende des »langen« 19. Jahrhunderts nahezu alle österreichischen Strafgesetzentwürfe unverjährbare Straftaten und/oder Bedingungen neben dem Ablauf der Verjährungsfrist für den Eintritt der Verjährung vorgesehen.358 In manchen dieser Entwürfe war geplant gewesen, die einmal verhängte Strafe nicht verjähren zu lassen. Diese stark schwankenden Regelungen waren nicht zuletzt der Unsicherheit über den Rechtsgrund der Verjährung geschuldet. Über den Verjährungsregeln der österreichischen Entwürfe des »langen« 19. Jahrhunderts schwebte die schwer zu beantwortende Frage, ob eine strafrechtliche Verfolgung bzw. eine Vollstreckung der verhängten Strafe noch gerecht und notwendig sei, wenn seit dem Tag der Tatbegehung oder dem Tag der Rechtskraft des Urteils eine längere Zeitspanne verstrichen war. Der letzte österreichische Strafgesetzentwurf des »langen« 19. Jahrhunderts folgte einer rein prozessualen Verjährungsbegründung.359 Die Verjährung wurde mit den zunehmenden Beweisschwierigkeiten und der daraus resultierenden Fehlurteilsgefahr begründet. Materiellrechtliche Argumente zur Begründung der Verjährung wurden dagegen nicht anerkannt oder zumindest für nicht entscheidend gehalten. Mit dem Beweismitteluntergang konnte freilich nur eine Verjährungsart, nämlich die Verfolgungsverjährung, gerechtfertigt werden, denn dieses Argument entfällt, wenn einmal ein Sachverhalt urteilsmäßig festgestellt und damit zur rechtlichen Gewissheit erhoben wurde. Folglich war in dem letzten österreichischen Strafgesetzentwurf des »langen« 19. Jahrhunderts die Verjährbarkeit der verhängten Strafe nicht mehr vorgesehen. Angesichts dieser durchaus verjährungsskeptischen Regelungen, die keine materiellrechtlichen Gründe für einen zeitbedingten Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch anerkannten, wären Gegenvorschläge zu den großzügigen Verjährungsregelungen des deutschen Vorentwurfs von der österreichischen Seite zu erwarten gewesen. Bei der Tagung der Österreichischen Kriminalistischen 357 Zu diesen Regelungen siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. und Kapitel IV.3.3. sowie Kapitel V.2. 358 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3., V.4. und V.6. 359 Zu den Verjährungsregeln des letzten österreichischen Strafgesetzentwurfs des »langen« 19. Jahrhunderts und dessen Begründung siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.4.

Die Verjährung in den Entwürfen aus den Jahren 1922, 1925 und 1927

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Vereinigung erfolgten jedoch keine Abänderungsvorschläge im Bereich des Verjährungsrechts.360 So übernahm der von Ferdinand Kadecˇka ausgearbeitete österreichische Gegenentwurf die Verjährungsregelungen des deutschen Vorentwurfs aus dem Jahr 1919 mit nur einer einzigen geringfügigen Abweichung,361 die den Zeitpunkt des Verjährungsbeginnes betraf und die deutsche Regelung präzisierte.362 Die in Österreich bis dahin so wichtige Suche nach dem Rechtsgrund der Verjährung wurde damit aufgegeben.

6.

Die Verjährung im Entwurf Radbruchs aus dem Jahr 1922 und den Entwürfen der Jahre 1925 und 1927

Der Entwurf Radbruchs zeichnete sich im Bereich des Verjährungsrechts durch eine Lockerung gegenüber dem Vorgängerentwurf aus dem Jahr 1919 aus.363 Zunächst waren die Verjährungsfristen deutlich kürzer bemessen. Sie lagen zwischen zwei und zwanzig Jahren und zwar sowohl für die Verfolgungs- als auch die Vollstreckbarkeitsverjährung. Der Entwurf Radbruchs sah wiederum eine absolute Verjährung vor. Die reguläre Verjährungsfrist konnte maximal um die Hälfte der ursprünglichen Frist verlängert werden. Bei den schwersten Straftaten war damit wie nach dem Kommissionsentwurf eine Fristverlängerung um zehn Jahre möglich. Für die übrigen Verbrechen wurde die Verlängerungsmöglichkeit jedoch eingeschränkt. Die Fristverlängerung erfolgte bei der Verfolgungsverjährung wiederum durch einen Gerichtsbeschluss, bei der Vollstreckbarkeitsverjährung durch die Vollstreckungsbehörde, »wenn es die besonderen Umstände des Falles gebieten«.364 Der Gerichtsbeschluss sollte eine Fristverlängerung nur gegenüber den in diesem bezeichneten Personen bewirken.365 Die übrigen Regelungen des deutschen Vorentwurfs aus dem Jahr 1919 und des österreichischen Gegenentwurfs aus dem Jahr 1922 wurden unverändert übernommen. Dies betrifft insbesondere die Ruhenstatbestände. In Bezug auf 360 Siehe dazu GLEISPACH 1921. 361 Vgl. dazu die §§ 114–121 Österreichischer Gegenentwurf zu dem Allgemeinen Teil des Ersten Buches des Deutschen Strafgesetzentwurfes vom Jahr 1919, Wien 1922, S. 25–27, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 139–141. 362 § 115 Österreichischer Gegenentwurf zu dem Allgemeinen Teil des Ersten Buches des Deutschen Strafgesetzentwurfes vom Jahr 1919, Wien 1922, S. 25–27, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 140. 363 Zu den Verjährungsregeln des Entwurfs Radbruchs siehe auch ASHOLT 2016, S. 37f; VORMBAUM 1997, S. 487f; VORMBAUM 2011, S. 53f. 364 § 81 und § 84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f. 365 § 81 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

den Verjährungsbeginn übernahm der Entwurf Radbruchs die Regel des österreichischen Gegenentwurfs. Dieser zufolge begann die Verjährung mit dem Abschluss der strafbaren Handlung zu laufen. Wenn aber ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später eintrat, begann der Fristverlauf erst mit diesem späteren Zeitpunkt.366 Der deutschen Tradition entsprechend kannte der Entwurf Radbruchs keine unverjährbaren Straftaten. Für den Verjährungseintritt war nur das Verstreichen der Verjährungsfrist erforderlich.367 Der Entwurf Radbruchs und die nachfolgenden Entwürfe entzogen der Verjährung die verhängten Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die Verjährungsregeln der Entwürfe sollten auf diese nicht anwendbar seien.368 Die Einwirkung des Zeitablaufs auf ihre Durchführung wurde, »wo es erforderlich erscheint«, besonders geregelt.369 Die teilweise kurzen Fristen für den Vollzug der behördlichen Maßregeln unterschieden sich freilich deutlich von den Verjährungsfristen. Erforderlich erschien die Berücksichtigung des Verstreichens von Zeit auf den Vollzug der Maßregeln in folgenden Fällen: Wenn das Gericht dem Verletzten und/oder dem Privatankläger oder Privatbeteiligten gestattete, die Verurteilung auf Kosten des Täters/der Täterin öffentlich bekannt zu machen, musste die öffentliche Bekanntmachung innerhalb von einem Monat nach der Rechtskraft des Urteils erfolgen.370 Des Weiteren war vorgesehen, dass eine gegen AusländerInnen angeordnete Reichsverweisung nur bis zu sechs Monate nach der Rechtskraft des Urteils vollzogen werden konnte, wobei die Dauer des Strafund Maßnahmenvollzugs in die Sechsmonatsfrist nicht eingerechnet wurde.371 Außerdem konnte eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt, in einer Trinkeranstalt sowie eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nur 366 § 79 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154. 367 Vgl. dazu §§ 78–84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f. 368 Vgl. dazu § 82 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 155 sowie Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Begründung, Berlin 1925, S. 56, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 296; ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 115. 369 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Begründung, Berlin 1925, S. 56, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 296. 370 § 59 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 7, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 151; § 59 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Entwurf, Berlin 1925, S. 9, abgedruckt in: SCHUBERT/ REGGE 1995, S. 207; § 51 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 442. 371 § 53 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 7, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 151; § 53 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Entwurf, Berlin 1925, S. 8f, abgedruckt in: SCHUBERT/ REGGE 1995, S. 206f; § 64 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 8, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 444.

Die Verjährung in den Entwürfen aus den Jahren 1922, 1925 und 1927

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nach einer erneuten Bewilligung des Richters erfolgen, wenn seit dem Tag, an dem erstmals mit der Unterbringung begonnen hätte werden können, drei Jahre verstrichen waren.372 Während also im Bereich der Strafen die Tendenz bestand, den Einfluss des Gerichts bzw. der Vollstreckungsbehörde auf den Eintritt der Verjährung zu beschränken, wurde die Entscheidung über den Beginn der Unterbringung längere Zeit nach deren Verhängung in dem Entwurf Radbruchs und den Nachfolgerentwürfen ins Ermessen der Gerichte gestellt, die wohl zu prüfen hatten, ob der Vollzug der Maßnahme zur Heilung und Besserung des Straftäters/der Straftäterin sowie zur Sicherung der Allgemeinheit nach Ablauf der Dreijahresfrist noch erforderlich war. Bei erneuter Bewilligung des Gerichts hätte nach den Entwürfen auch Jahrzehnte nach der Tat mit dem Vollzug der Unterbringung begonnen werden müssen. Der Strafgesetzentwurf des Jahres 1927 sah eine Erstreckung der Wirkung des Verlängerungsbeschlusses auf alle an der Tat beteiligten Personen vor, auch wenn diese im Zeitpunkt der Verlängerung noch nicht bekannt waren oder nicht so deutlich bezeichnet werden konnten, dass ihre Identität außer Zweifel stand.373 Diese Änderung war von der Reichsregierung vorgeschlagen worden, weil sie eine unterschiedliche Behandlung der Beteiligten als ungerecht empfand.374 Im Übrigen wurden die Verjährungsregeln des Entwurfs Radbruchs aus dem Jahr 1922 in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Jahre 1925375 und 1927376 unverändert übernommen.377

372 § 50 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 150; § 50 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Entwurf, Berlin 1925, S. 8, abgedruckt in: SCHUBERT/ REGGE 1995, S. 206; § 63 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 8, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 444. 373 § 82 Begründung zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 61, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 541. 374 ASHOLT 2016, S. 38. 375 Vgl. dazu §§ 78–84 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Entwurf, Berlin 1925, S. 11f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 209f. 376 Vgl. dazu §§ 79–85 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 9f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 445f. 377 ASHOLT 2016, S. 38; VORMBAUM 2011, S. 53f.

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7.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Die weitere Entwicklung des Verjährungsinstitutes in Österreich und Deutschland

Erst durch die Beteiligung des Strafgesetzausschusses des deutschen Reichstages erhielt die Diskussion über die Ausgestaltung der Verjährungsregeln neue Impulse.378 Vor allem die Abgeordneten der SPD und der KPD waren bestrebt, Ausnahmen von der regulären Verjährungsfrist durch behördliche Entscheidungen im Einzelfall bzw. durch behördliche Akte möglichst zu beschränken.379 So sprachen sich die Vertreter der SPD gegen die Möglichkeit der Verjährungsverlängerung durch Gerichtsbeschluss aus, weil es für die Richter schwierig sei, festzustellen, wann die »besonderen Umstände des Falles« eine Verlängerung erfordern würden.380 Darüber hinaus beantragten die Vertreter der SPD eine stärkere Ausdifferenzierung der Verfolgungsverjährungsfristen, die zu einer geringfügigen Verkürzung geführt hätte, erklärten aber, dass man die Fristen des Strafgesetzentwurfs in Kauf nehmen werde, »aber die Verlängerung der Fristen [erg. durch Gerichtsbeschluss] müsse fallen«.381 Eine Streichung der Verlängerungsmöglichkeit beantragte auch die KPD, weil die Dauer der Verjährung nicht in das Ermessen des Richters gestellt werden dürfe. Außerdem erachtete die KPD die Verjährungsfristen des Entwurfs aus dem Jahr 1927 als viel zu lange. Nach diesen hätten beispielsweise Eigentumsvergehen, die in Inflations- oder Kriegszeiten begangen worden waren, noch strafrechtlich verfolgt werden können, obwohl sich inzwischen die Verhältnisse grundlegend geändert hatten. Daher beantragte die KPD eine Verkürzung aller Verjährungsfristen des Strafgesetzentwurfes des Jahres 1927 um die Hälfte.382 Der Strafgesetzausschuss beschloss schließlich, die Möglichkeit zur behördlichen Fristverlängerung zu streichen. Davon versprach man sich einen positiven Effekt auf die Verfahrensdauer, weil es ohne Fristverlängerung nicht mehr möglich gewesen wäre, die Verjährung durch wiederholte Verlängerungen beliebig in

378 ASHOLT 2016, S. 38. 379 Vgl. dazu die Anträge Nr. 163 und Nr. 166, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 410. 380 So die Abgeordneten Kurt Rosenfeld und Otto Landsberger, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6–8, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411–413, vgl. dazu auch den Antrag Nr. 163, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 410. 381 So der Abgeordnete Rosenfeld, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411. 382 In diesem Sinn der Abgeordnete Dr. Ernst Torgler, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411, vgl. dazu den Antrag Nr. 166, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 410.

Die weitere Entwicklung des Verjährungsinstitutes in Österreich und Deutschland

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die Länge zu ziehen.383 Durch die Streichung der Verjährungsverlängerung wurde den Behörden die Entscheidung über den Verjährungseintritt gänzlich entzogen. Als Ausgleich für den Entfall der »künstlichen« Verjährungsverlängerung im Einzelfall wurden aber die regulären Verjährungsfristen verlängert. Die längste Verjährungsfrist für beide Verjährungsarten wurde mit 30 Jahren bestimmt, die kürzeste Frist mit zwei Jahren.384 Damit schienen schon die allgemeinen Verjährungsfristen lange genug, um auf »Behelfsmaßnahmen zu ihrer Verlängerung« verzichten zu können.385 Um den Wegfall der Verlängerungsmöglichkeit durch Gerichtsbeschluss weiter zu kompensieren, wurde zudem die Höchstdauer des Ruhens der Verjährung im Rechtsmittelverfahren von drei auf vier Jahre verlängert.386 Damit schien sichergestellt, dass bei ordentlicher Verfahrensführung die Verjährung während des anhängigen Verfahrens kaum eintreten würde.387 Ein unbefristet langes Ruhen während des Hauptverfahrens hatten die Vertreter der SPD aber abgelehnt, weil damit ein allfällig mangelnder Fleiß der Staatsanwaltschaften und der Gerichte prämiert werden würde.388 Die vom deutschen Strafgesetzausschuss im Bereich der Verjährung beschlossenen Änderungen wurden vom österreichischen Ausschuss des Nationalrates akzeptiert. Dieser beschloss nur eine Herabsetzung der zweitlängsten Verjährungsfrist von zwanzig auf fünfzehn Jahre.389 Bei der Sitzung der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz am 10. Februar 1929 erklärte Wilhelm Kahl, der den Vorsitz führte, dass gegen diese Fristverkürzung bei der Verfolgungsverjährung keine Bedenken bestünden. Bei der Vollstreckbarkeitsverjährung wollte er jedoch die Zwanzigjahresfrist für Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren bestraft worden waren, beibehalten, denn es mache einen Unterschied, ob die Strafe schon erkannt worden sei oder nicht, weil die Straftat durch die Urteilsfällung viel tiefer 383 Protokoll der 44. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 1, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 419. 384 Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 5, 12f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 410, 417f. 385 So der Abgeordnete Karl Anton Schulte (Deutsche Zentrumspartei), Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 7, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 412. 386 Protokoll der 44. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 1f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 419f. 387 Protokoll der 44. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 1f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 419f. 388 Landsberger, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 7f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 412f. 389 Siehe dazu KADECKA 1931, S. 46–49; Ergebnisse der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz vom 9. bis 11. Februar 1929, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 803f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

ins Bewusstsein der Mitmenschen eingegraben werde. Der österreichische Abgeordnete Ernst Schönbauer (Landbund)390 pflichtete Kahl bei. Denn, wenn ein/e Verurteilte/r nach langer Zeit zurückkehre und sich rühme, er/sie könne nicht mehr bestraft werden, so beleidige dies das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung.391 Dementsprechend beschloss die Strafrechtskonferenz, die zweitlängste Verjährungsfrist bei der Verfolgungsverjährung mit fünfzehn, bei der Vollstreckbarkeitsverjährung aber mit zwanzig Jahren zu bestimmen. Vom österreichischen Strafrechtsausschuss waren keine weiteren Änderungen im Bereich des Verjährungsrechts beschlossen worden. Weitere Anträge stellten die österreichischen Vertreter daher nicht. Auch die Änderungsvorschläge der deutschen Seite wurden kaum, weder in strafrechtstheoretischer, noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht diskutiert, sondern von den österreichischen Vertretern stillschweigend akzeptiert.392

8.

Der Rechtsgrund der Verjährung in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen

In den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit hatte die Verjährung einen relativ weiten Anwendungsbereich. Jedoch findet man kaum Äußerungen zu dem Rechtsgrund der Kriminalverjährung. In den amtlichen Erläuternden Bemerkungen zu den in die Volksvertretungen eingebrachten Strafgesetzentwürfen wurden lediglich die einzelnen Verjährungsbestimmungen erklärt. Dies geschah ohne Begründung des Verjährungsinstitutes.393 Die österreichischen Erläuternden Bemerkungen zu dem im Jahr 1927 in den Nationalrat eingebrachten Strafgesetzentwurf folgten generell der Begründung

390 Ab dem Jahr 1938 Mitglied der NSDAP und von März 1938 bis April 1943 Dekan der juridischen Fakultät der Universität Wien. Zum Leben und Wirken Schönbauers siehe KALDOWA 2012, S. 282–316. 391 Protokoll über die 7. Sitzung der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen vom 10. Februar 1929, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 668. 392 Ergebnisse der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz vom 9. bis 11. Februar 1929, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 803f; Protokoll über die 7. Sitzung der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen vom 10. Februar 1929, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 668. 393 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Begründung, Berlin 1925, S. 56–58, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 296–298; Begründung zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 59–62, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 539–542; ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 115–118.

Der Rechtsgrund der Verjährung in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen 89

des bis auf die oben dargestellten Abweichungen394 wortidenten deutschen Entwurfs. Stärker hervorgehoben wurden allerdings die Neuerungen gegenüber dem geltenden österreichischen Strafrecht395 und damit auch die geplanten Änderungen im Verjährungsrecht. Die Verjährungsbestimmungen des österreichischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1852 wurden dabei mit denen des deutschen Reichsstrafgesetzbuches und mit denen anderer ausländischer Strafgesetzbücher verglichen. Dieser Vergleich verdeutlichte, dass die Verjährungsbestimmungen des damals geltenden österreichischen Strafrechts in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich waren. Mit diesen Eigentümlichkeiten, erklärten die Erläuternden Bemerkungen, wolle man nun brechen.396 Im Übrigen stimmten die österreichischen Erläuterungen der Verjährungsbestimmungen mit den deutschen Erläuterungen aus dem Jahr 1927397 überein. Darin geklärt wurde die in Deutschland bedeutsame Streitfrage nach dem »Wesen« oder der »Natur« der Kriminalverjährung, also die Frage, ob die Verjährung ein Institut des materiellen oder des formellen Rechts ist. Damals war diese Frage nur von theoretischem Interesse. Sie wurde in den Erläuternden Bemerkungen zugunsten der in Österreich herrschenden materiellrechtlichen Ansicht entschieden. Die Verjährung betreffe den Strafanspruch des Staates. »Er geht durch den Ablauf der Verjährungsfrist unter. Die Verjährung ist mithin eine einheitliche, und zwar materiellrechtliche Einrichtung.«398 Eine Erklärung, warum der Staat eine gewisse Zeit nach der Tatbegehung auf seinen Strafanspruch verzichten und Straftaten nicht mehr verfolgen bzw. verhängte Strafen nicht mehr vollstrecken wollte, liegt darin freilich nicht. Eine umfassende Begründung der Verjährungsbestimmungen des Entwurfes für ein Allgemeines Deutsches Strafgesetzbuch erfolgte lediglich bei der Sitzung des deutschen Strafrechtsausschusses durch den Berichterstatter Rudolf Schetter, einen Abgeordneten des Zentrums. Dieser nannte die traditionellen für die Verjährung sprechenden Gründe, nämlich die zeitbedingte Abschwächung der Wirkungen einer Straftat, das erlöschende Andenken an dieselbe sowie die mögliche Besserung des Täters/der Täterin und »die Wiederherstellung des Gleichgewichts unter den Rechtsgenossen« als Argumente für die Zulassung der Verjährung. »Eine […] nachhinkende Strafe wäre weder gerecht noch zweck394 395 396 397

Siehe Kapitel II.3.3. ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 51. ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 115. Diese entsprachen im Bereich des Verjährungsrechts weitgehend der Begründung des Jahres 1925; Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung. Begründung, Berlin 1925, S. 56–58, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 296–298. 398 Begründung zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 59, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 539; ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 115; zu den unterschiedlichen Rechtsansichten zur Natur der Verjährung siehe FRANK 1925, S. 197f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

mäßig. Zweckmäßig insbesondere deshalb nicht, weil die Spuren der Tat sich immer mehr verdunkeln, […] so daß sowohl der Belastungs- als auch der Entlastungsbeweis an Zuverlässigkeit verliert und Rechtsirrtümer ermöglicht werden.«399 Diesen Ausführungen zufolge lag den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit wie auch dem damals geltenden österreichischen Strafgesetzbuch des Jahres 1852 und den meisten österreichischen Strafgesetzentwürfen des »langen« 19. Jahrhunderts eine multifaktorielle Verjährungstheorie zugrunde.400 Allerdings erachtete Schetter die einzelnen Argumente zur Begründung der Verjährung nicht für zwingend und erklärte: »Nicht deshalb, weil eine Besserung des Täters vermutet wird, weil die Feststellung der Täterschaft erschwert sei, weil […] der Täter durch die Gewissensangst und Furcht bereits eine Strafe erduldet habe, wird dem Strafanspruch ein Ziel gesetzt, sondern weil all diese Umstände zusammentreffen können oder auch keiner von ihnen im Einzelfall zutreffen mag, weil aber immer das allgemeine Rechtsgefühl den Verzicht auf den Anspruch fordert.«401 Die damit geäußerte Auffassung, dass es auf den eigentlichen Rechtsgrund der Verjährung nicht ankäme, hatte in Deutschland eine lange Tradition. Sie findet sich auch in der Begründung zu dem deutschen Vorentwurf des Jahres 1909.402 Im Übrigen war von einer Begründung des Verjährungsinstituts schon bei den Arbeiten am deutschen Reichsstrafgesetzbuch abgesehen worden.403 Einigkeit bestand nach dem Referat darüber, dass die Strafe keinen Ewigkeitswert habe, sondern zeitlich zu begrenzen sei, »weil die Strafe, man mag über ihren Grund und Zweck noch so verschiedener Auffassung sein– umso mehr an Wert verliert, je größer der Zeitraum zwischen ihrer Verhängung und der Begehung der Tat ist. Diejenige Strafe ist die beste, die der Tat auf den Fuße folgt, und das allgemeine Rechtsempfinden verlangt den Verzicht des Staates auf seinen Strafanspruch, wenn er sich gegenüber dem Täter, den Verletzten und der Allgemeinheit nicht mehr rechtfertigen lässt.« Wann sich der Strafanspruch nicht mehr rechtfertigen lässt, schien indessen etwas schwieriger zu bestimmen zu sein. »Der Gesetzgeber wird sich also bei einer Neugestaltung des Rechts fragen müssen, von welchem allgemeinen Grundgedanken er sich bei der Bestimmung des Zeitmaßes leiten lassen will, und dabei verschiedene Wege gehen können, je nachdem, ob er den Charakter der Strafe als Sühne, als Abschreckungsmittel oder

399 Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 1, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 406. 400 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3., IV.3., IV.4.3.2. und V. 401 Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 1, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 406. 402 Siehe dazu Kapitel II.4. 403 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2.

Der Rechtsgrund der Verjährung in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen 91

als Besserungsmittel betont oder mehr die Tat und den Täter selbst in den Vordergrund gerückt sehen möchte.«404 Vom Standpunkt einer reinen Vergeltungstheorie werde die Verjährung als Inkonsequenz empfunden werden müssen, man werde daher kaum geneigt seien, ihren Eintritt zu erleichtern, eher sie zu erschweren. Wer den Abschreckungsgedanken betone, werde vielleicht eine Verjährung fordern, weil »eine Sühne umso mehr an Abschreckung verliert, je mehr sie der Tat nachhinkt.« Allerdings war Schetter bewusst, dass aus einer generalpräventiven Strafzweckauffassung auch verjährungskritische Schlussfolgerungen gezogen werden können. So führte er weiter aus: »[…] vielleicht wird er aber sich die größte Abschreckungswirkung davon versprechen, daß er sich jedem Erlöschen des Strafanspruchs widersetzt«. Ein eindeutig positives Verhältnis zur Verjährung bescheinigte Schetter nur der spezialpräventiven Strafzwecktheorie. »Wer Besserung und Erziehung von der Strafe erhofft, der wird Vorschlägen das Wort reden, die die Verjährung erleichtern sollen, weil für ihn der Zeitablauf eine Besserung enthält, sofern der Täter nicht anderweitig straffällig geworden ist und keine neue Gefahr für die Allgemeinheit geboten hat. Bei diesen Gründen und Gegengründen und der hier oft betonten Zweispurigkeit des Entwurfs hält er im Wesentlichen an der Systematik und den Zeitmaßen des geltenden [erg. deutschen] Rechts in der Erkenntnis fest, daß sie sich im Allgemeinen bewährt haben und auch in der ausländischen Gesetzgebung wesentliche Abweichungen nicht festzustellen sind.«405 In der auf das Referat folgenden Diskussion erfolgten keine Wortmeldungen zu dem Rechtsgrund der Verjährung. Besprochen wurden lediglich die einzelnen Verjährungsregelungen. Besonders ausführlich diskutierte der deutsche Strafrechtsausschuss das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung, die Möglichkeit der Fristverlängerung sowie die einzelnen Verjährungsfristen. Dabei bestanden durchaus unterschiedliche Auffassungen, die aber ausnahmslos mit praktischen Zweckmäßigkeitserwägungen, nicht mit straftheoretischen Argumenten begründet wurden.406 Der Vertreter des Reichsjustizministeriums Erwin Bumke äußerte gar: »Es handle sich bei der Regelung der Verjährung aber wohl nicht so sehr um die Frage einer theoretischen Konstruktion und um die Konsequenzen, die aus einer grundsätzlichen theoretischen Auffassung zu ziehen

404 Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 2, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 407. 405 Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 2, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 407. 406 Siehe dazu Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 1–13, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 406–418.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

seien, als vielmehr um rein praktische Fragen.«407 Diese Ansicht blieb unwidersprochen.408 Bei der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz 1929 wurde nur kurz über die Verjährungsregeln gesprochen. Die theoretischen Grundlagen der Verjährung fanden dabei keine Erwähnung. Die österreichischen Vertreter akzeptierten die vom deutschen Strafgesetzausschuss beschlossenen Änderungen überwiegend, ohne weiter nachzufragen.409 Angesichts der Tatsache, dass vom österreichischen Strafgesetzausschuss seinerseits nur eine einzige geringfügige Änderung im Bereich des Verjährungsrechts beschlossen wurde, soll von einer wohl nicht ergiebigen Analyse der unveröffentlichten Protokolle der Ausschussberatungen abgesehen werden. Da die Beratungen über den Strafgesetzentwurf nicht abgeschlossen werden konnten,410 liegt kein Bericht des österreichischen Strafgesetzausschusses vor. Bei der österreichischen Nationalratsdebatte über den per Regierungsvorlage eingebrachten Strafgesetzentwurf des Jahres 1927 wurde das Verjährungsinstitut in der zwei Tage andauernden Diskussion nicht erwähnt.411 Österreichische wissenschaftliche Publikationen, die sich auch nur am Rande mit der Verjährung befassten, findet man in der Zwischenkriegszeit kaum.412 Äußerungen zu dem Rechtsgrund des Instituts erfolgten in der österreichischen Literatur dieser Zeit nicht. In der deutschen Literatur gewann insbesondere die Frage nach dem Wesen der Verjährung an Bedeutung, die zum damaligen Zeitpunkt allerdings überwiegend von theoretischem Interesse war.413 In den Erläuterungen zu den Strafgesetzentwürfen wurde diese Frage eindeutig zugunsten einer materiellrechtlichen Anschauung beantwortet.

407 Bumke, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411. 408 Siehe dazu Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 1–13, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 406–418. 409 Protokoll über die 7. Sitzung der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen vom 10. Februar 1929, S. 5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 668. 410 Dazu sogleich in Kapitel II.9. 411 StenProtNR 3. GP 11. Sitzung vom 20. 9. 1927, S. 285–307; StenProtNR 3. GP 12. Sitzung vom 21. 9. 1927, S. 309–337. 412 Lediglich LAMMASCH/RITTLER 1926, S. 52–57; KADECKA 1931, S. 38–40. 413 Siehe beispielsweise BAR 1909, S. 395–399; DOHNA 1929, S. 205f; HIPPEL 1930, S. 558f; OLSHAUSEN 1927, S. 370; auch im deutschen Strafrechtsausschuss wurden dazu unterschiedliche Auffassungen vertreten, siehe dazu Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 1–5, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 406–410.

Die Verjährung im Entwurf des Jahres 1930 und das Ende der Reformarbeiten

9.

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Die Verjährung im Entwurf des Jahres 1930 und das Ende der Reformarbeiten

Kurz vor den anstehenden Neuwahlen in Deutschland beschloss der Reichstag im Jahr 1928 ein Gesetz, das die Fortführung der Strafrechtsreform in der nächsten Legislaturperiode ohne erneute Einbringung des Strafgesetzentwurfs ermöglichte.414 Die Ausschussberatungen waren noch nicht abgeschlossen, als im Jahr 1930 erneut eine Auflösung des Reichstages erfolgte. Diesmal scheiterte der Versuch, ein Gesetz zur Überleitung der Strafrechtsreform zu beschließen. In der nächsten Legislaturperiode brachte Wilhelm Kahl, unterstützt von den Abgeordneten seiner Partei, der Deutschen Volkspartei, einen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches in den Reichstag ein. Dieser baute auf dem Entwurf des Jahres 1927 auf, berücksichtige aber die Ergebnisse der zwischenzeitlichen Ausschussberatungen und die Beschlüsse der deutschen und österreichischen Strafrechtskonferenz.415 Die Verjährungsfristen in diesem Entwurf lagen daher für beide Verjährungsarten zwischen zwei und 30 Jahren. Die regulären Verjährungsfristen konnten nicht verlängert werden. Nur während des anhängigen Hauptverfahrens ruhte die Verjährung für maximal zwei Jahre. Wurde ein Rechtsmittel eingelegt, verlängerte sich die maximale Ruhensdauer auf vier Jahre.416 Außerdem war ein Ruhen der Verfolgungsverjährung und der Vollstreckbarkeitsverjährung geplant, solange nach einer gesetzlichen Vorschrift die Verfolgung oder die Vollstreckung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden konnte.417 Die Vollstreckbarkeitsverjährung sollte zusätzlich auch ruhen, »solange dem Verurteilten bedingter Straferlaß, Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung, bei Geldstrafen eine Zahlungsfrist oder die Zahlung in Teilbeträgen bewilligt ist« und »solange der Verurteilte eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird«.418 Der Entwurf wurde erneut einem Strafgesetzausschuss des Reichstages zugewiesen, in dem Kahl den Vorsitz führte. Bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 war aber die NSDAP als zweitstärkste Partei hinter der SPD in den Deutschen Reichstag eingezogen. Aufgrund dieses Ergebnisses hatte die NSDAP auch fünf Sitze in dem 28 Mitglieder zählenden Strafrechtsausschuss 414 VORMBAUM 2009, S. 176. 415 SCHUBERT 1995, S. XXXI; VORMBAUM 2009, S. 176. 416 §§ 79–85 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1930 (=Entwurf Kahl), abgedruckt in: VORMBAUM/RENTROP 2008, S. 212f. 417 §§ 81, 84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1930 (=Entwurf Kahl), abgedruckt in: VORMBAUM/RENTROP 2008, S. 213. 418 § 84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1930 (=Entwurf Kahl), abgedruckt in: VORMBAUM/RENTROP 2008, S. 213.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

erhalten. Die Abgeordneten der NSDAP verweigerten eine konstruktive Mitarbeit, sodass sich schon bald abzeichnete, dass ein Abschluss der Gesetzgebungsarbeiten nicht mehr zu erwarten war.419 So äußerte beispielsweise Eberhardt Schmidt: »Das Dunkel, das über der politischen Gegenwart liegt, macht es unmöglich, über das weitere Schicksal der Strafrechtsreform Vermutungen zu äußern.«420 In Österreich unterbrach die Auflösung des Nationalrates im Jahr 1930 die Reformarbeiten. In der nächsten Legislaturperiode wurden zumindest die parlamentarischen Arbeiten am Strafgesetzentwurf nicht mehr aufgenommen.421 Die letzte Sitzung der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz fand vor den Neuwahlen in den beiden Staaten im März 1930 statt. Endgültig beendet wurden die Reformarbeiten in Österreich und Deutschland zwischen 1932 und 1933, was den politischen Ereignissen der damaligen Zeit geschuldet war.422 Neben den parlamentarischen Schwierigkeiten zeigte sich auch, dass die Grundidee der Strafgesetzentwürfe, die bis zum Jahr 1930 erstellt worden waren, der Entwicklung der letzten Jahre entgegenlief, die eine massive Zunahme autoritären Gedankenguts gebracht hatten. Der politische Widerstand gegen ein »liberalistisches« und »individualistisches« Strafrecht nahm immer mehr zu. Vor allem die Angehörigen der NSDAP forderten eine grundlegende Umgestaltung des Strafgesetzentwurfs.423 Mit dem Ende der Ersten Republik und der Weimarer Republik endeten daher auch die Strafrechtsreformbestrebungen, die im Jahr 1902 begonnen worden waren.424

10.

Zusammenfassung

Überblickt man die ca. ein Jahrzehnt dauernden Arbeiten an einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafrecht, so fällt auf, dass alle wesentlichen Impulse und konkreten Vorschläge zur Ausgestaltung der Verjährungsregeln von deutscher Seite kamen. Der Anwendungsbereich der Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit war unter dem Einfluss Deutschlands deutlich größer als im damals geltenden österreichischen Recht und den meisten österreichischen Strafgesetzentwürfen des »langen« 19. Jahrhunderts. In beiden Staaten bestand außerdem das Bestreben, die Möglichkeiten zur Erweiterung der regulären Verjährungsfristen durch behördliche Maßnahmen (Un419 420 421 422 423 424

VORMBAUM 2009, S. 176f. LISZT/SCHMIDT 1932, S. 88. FESTL-WIETEK 1996, S. 220f. SCHMIDT 1995, S. 407f; SCHUBERT 1995, S. XXXIf; VORMBAUM 2009, S. 177. FESTL-WIETEK 1996, S. 220f; SCHMIDT 1995, S. 425–427. SCHMIDT 1995, S. 407f; SCHUBERT 1995, S. XXXIf; VORMBAUM 2009, S. 177.

Zusammenfassung

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terbrechung, Ruhen) zu beschränken, wodurch der Anwendungsbereich der Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit insgesamt auch gegenüber dem geltenden deutschen Reichsstrafgesetzbuch erweitert wurde. Bei der Konzeption der Verjährungsregeln kam es dem Gesetzgeber nicht auf den Rechtsgrund der Verjährung an. Die Verjährung wurde vielmehr als Institut der Kriminalpolitik betrachtet und bei der Ausgestaltung der Verjährungsregeln standen kriminalpolitische Zweckmäßigkeitserwägungen im Vordergrund. Nach einer Begründung des Verjährungsinstitutes, die argumentativ mit den einzelnen Regelungen der Verjährung in Verbindung gebracht werden konnte, wurde nicht gesucht.425 Die in Österreich bis dahin zentrale Frage nach der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der Strafverfolgung und -vollstreckung längere Zeit nach der Tat verlor mit dem Anschluss an die deutschen Reformarbeiten an Bedeutung. Sucht man nach den theoretischen Grundlagen der Verjährung, ist die Zwischenkriegszeit insofern wenig ergiebig. Ein Zusammenhang zwischen der den Strafrechtsreformarbeiten zugrunde gelegten Vereinigungstheorie und der Rechtfertigung des Verjährungsinstituts kann nicht festgestellt werden, weil damals schlichtweg keine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Rechtsgrund der Verjährung erfolgte. In Deutschland unterlagen freilich bereits seit dem Jahr 1871 alle Straftaten und verhängten Strafen der Verjährung. Insofern ist anzunehmen, dass es dort zu einer Gewöhnung an die rein zeitabhängige Verjährung gekommen war.

425 In diesem Sinn auch ASHOLT 2016, S. 40f.

III.

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

1.

Einleitung

Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 blieb das österreichische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1852 zunächst in Kraft. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch selbst galt seit Langem als reformbedürftig, sodass »eine Übernahme den Alpen- und Donaureichsgauen nicht zugemutet werden« sollte.426 Außerdem war ohnehin die Schaffung eines neuen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich und damit eine Rechtsvereinheitlichung geplant. Die nach dem »Anschluss« ergangenen Strafgesetze waren freilich auch in Österreich anwendbar. Mithilfe von Verordnungen sollte zudem eine stärkere Annäherung der beiden Rechtssysteme erfolgen.427 Auf diese Weise kam es während der nationalsozialistischen Herrschaft zu einigen Veränderungen im österreichischen, aber auch im reichsdeutschen Verjährungsrecht, die alle darauf abzielten, den Anwendungsbereich der Verjährung zu beschränken. Eine grundsätzliche Neubewertung und Umgestaltung erfuhr das Verjährungsinstitut auch im Zuge der Arbeiten an der nationalsozialistischen Strafrechtsreform. Im folgenden Kapitel werden zunächst die allgemeinen Grundzüge des geplanten nationalsozialistischen Strafrechts und der NS-Strafrechtsideologie dargestellt. Sodann folgt ein kurzer Einblick in die Diskussion zur Ausgestaltung des Verjährungsinstitutes im geplanten neuen deutschen Strafrecht. Erstmals eine ausführliche Darstellung erfährt das nationalsozialistische Verjährungskonzept, dessen wichtigste Merkmale herausgearbeitet werden.428 Zu diesem Zweck werden einerseits die im Rahmen der Arbeiten an der nationalsozialistischen Strafrechtsreform angefertigten Strafgesetzentwürfe sowie andererseits die tatsächlichen Änderungen im Verjährungsrecht des österreichi426 VORMBAUM 2011, S.10; Begründung der Strafrechtsangleichungsverordnung, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 74. 427 VORMBAUM 2011, S. 10f. 428 In Grundzügen behandelt dieses auch ASHOLT 2016, S. 41–44.

98

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

schen Strafgesetzbuches und des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs während der NS-Herrschaft analysiert. Untersucht wird, inwiefern sich die nationalsozialistischen Verjährungsvorstellungen von dem Verjährungsmodell des Reichsstrafgesetzbuches, das auch den Strafgesetzentwürfen der Weimarer Republik zugrunde lag, unterscheiden. Auch die wenigen bestehenden Kontinuitäten werden in diesem Kapitel aufgezeigt. Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bestand eine zu tiefst verjährungsskeptische Haltung. Anhand von Primärliteratur sollen die Ursachen für diese Verjährungsfeindlichkeit umfassend analysiert werden. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob und welche strafrechtstheoretischen Argumente für die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Verjährung herangezogen wurden. Überdies werden die Gründe dargestellt, die aus Sicht der nationalsozialistischen Wissenschaft und Gesetzgebung für die Zulassung der Verjährung sprachen. Auf diese Weise kann ein umfassender Überblick über das Verhältnis der nationalsozialistischen Strafrechtsideologie zur Verjährung gegeben werden.

2.

Allgemeine Grundlagen des nationalsozialistischen Strafrechts

Das Strafrecht stellte eine der schärfsten Waffen zur Durchsetzung der Ideologie des Nationalsozialismus dar. Während der NS-Herrschaft wurden der Umfang des strafbaren Verhaltens radikal ausgedehnt, die Strafandrohungen erhöht und die Rechtsfolgen für strafbare Handlungen vervielfältigt, sodass zum Beispiel die Sicherheitsverwahrung anstelle einer Strafe angeordnet werden konnte.429 Das nationalsozialistische Strafrecht war autoritär und sollte die Volksgemeinschaft schützen, die als ein Organismus gleichartiger, das heißt letztendlich »gleichrassiger«, Wesen verstanden wurde. Eine Straftat wurde primär als Pflichtverletzung gegenüber der Gemeinschaft verstanden und als ein Indikator dafür betrachtet, dass das straffällige Mitglied aus der Art geschlagen war.430 Der Schutz der Volksgemeinschaft sollte durch die Ausmerzung der gefährlichen Elemente geschehen.431 Die Bewertung der Tat erfolgte zunehmend nach im Inneren des Täters bzw. der Täterin liegenden Maßstäben. Das Strafrecht wurde so vom Tatstrafrecht zum Täter- und Willensstrafrecht. Nicht die Tat und die Rechtsgutsverletzung, sondern die verbrecherische Gesinnung des Täters/der Täterin waren entscheidend. Zur Kategorisierung der VerbrecherInnen wurden zudem

429 REITER-ZATLOUKAL 2014, S. 145. 430 VORMBAUM 2009, S. 185f. 431 VORMBAUM 2009, S. 185f.

Allgemeine Grundlagen des nationalsozialistischen Strafrechts

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verschiedene »Tätertypen« geschaffen.432 Neben dem Schutzzweck wurde in der NS-Strafrechtsideologie auch der Vergeltungsgedanke betont. Der/Die TäterIn sollte das verübte Unrecht »sühnen.«433 Nach Eberhardt Schmidt war die Betonung des Sühnegedankens freilich nur »ein Vernebelungsmanöver«. Ein Staat, dessen Devise laute: Gerecht ist, was dem Volk (sprich: seinen Machthabern) nützt, sei gar nicht in der Lage gewesen, Sühne in einem ethischen Sinn zu interpretieren. Für den NS-Machtstaat habe Sühne nur das repulsive Aufzwingen eines Übels bedeutet, das die Gewalt des Staates dokumentieren sollte.434 Die rigorosen Strafandrohungen und Strafen, die in keinem Verhältnis zur Schwere der Taten standen (z. B. konnten Rundfunkvergehen mit dem Tod bestraft werden), hatten damit auch eine Abschreckungsfunktion. Insgesamt dienten sie der Erhaltung des nationalsozialistischen Systems und den politischen Zwecken der Machthaber durch repressive Vergeltung, terroristische Abschreckung und Unschädlichmachung.435 Zweckmäßigkeit im Sinne reiner »machtmäßiger Massenbeherrschung« sei die einzige Richtlinie des nationalsozialistischen Gesetzgebers gewesen.436 Die Ablehnung des Tatstrafrechts führt zu einem materiellen Verbrechensbegriff. Dieser Begriff besagt zunächst nichts anders, als dass hinter den förmlichen Straftatbeständen eine Auffassung von dem steht, was bestimmte Verhaltensweisen als strafwürdig erscheinen lässt. Damit ist regelmäßig die Vorstellung verbunden, dass aus diesem materiellen Verbrechensbegriff ein Begrenzungsmaßstab für den Erlass und die Interpretation von förmlichen Straftatbeständen abgeleitet wird. Die Berufung nationalsozialistischer Strafrechtswissenschaftler auf den materiellen Verbrechensbegriff ging jedoch in eine andere Richtung. Diese meinten, dass das Strafrecht nicht von den im Gesetz förmlich formulierten Straftatbeständen abhängig sein, sondern »die offenkundige substantielle Gerechtigkeit der Sache« entscheiden solle. Der »Wirklichkeit der Lebensverhältnisse« sei der Vorzug vor den förmlichen Straftatbeständen zu geben und der Rechtsanwender von der strengen Bindung an das Gesetz zu befreien. Denn straflos bleiben sollte kein »volksschädliches« Verhalten. In der NS-Doktrin wurde dies gelegentlich mit der Formel nullum crimen sine poena (kein Verbrechen ohne Strafe) umschrieben, die dem »liberalistischen« Grundsatz nullum crimen sine lege entgegengesetzt wurde. Daraus folgte eine Ablehnung des Analogieverbotes.437

432 433 434 435 436 437

VORMBAUM 2009, S. 185f. SCHMIDT 1995, S. 436f. SCHMIDT 1995, S. 437f. SCHMIDT 1995, S. 436–438; SCHLOSSER 2017, S. 352. SCHMIDT 1995, S. 438. VORMBAUM 2009, S. 186f.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

Im Strafverfahrensrecht kam es zu einer Einschränkung der Rechtsstellung der Beschuldigten, beispielsweise durch die Beschränkung ihrer Rechtsmittel und die Abschaffung des Verbotes der reformatio in peius. Der Einfluss der Staatsanwaltschaften wurde gestärkt und das Legalitätsprinzip eingeschränkt. Diese Änderungen waren auch in den Entwürfen für eine neue Strafverfahrensordnung vorgesehen.438

3.

Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen im Verjährungsrecht

Bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wandte sich das Regime der Reform des Strafrechts zu. Dabei wurde eine Abkehr von dem »liberalen« Reichsstrafgesetzbuch 1871 sowie auch von den »liberalistischen« und »individualistischen« vorangegangenen Reformarbeiten propagiert.439 Der neue Reichsjustizminister Franz Gürtner440 ließ zunächst in seinem Ministerium den Strafgesetzentwurf des Jahres 1927 umarbeiten. Als Grundsätze des neuen Strafrechts wurden in den amtlichen und wissenschaftlichen Darstellungen immer wieder die Aufhebung des Analogieverbots zu Ungunsten des/ der Angeklagten, also die Ersetzung des tatbestandsbezogenen formellen Unrechts durch den Begriff des »materiellen Unrechts«, die Hinwendung zum Willensstrafrecht, der »Einbau ausfüllungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale mit sittlichem Wertungszwang« und endlich ein »völliger Neubau des Besonderen Teils« in Aussicht gestellt.441 Der erste Entwurf für ein nationalsozialistisches Strafgesetz lag im Jahr 1933 vor. Er wurde von einer neu einberufenen Strafrechtskommission, in der Justizminister Gürtner selbst den Vorsitz führte, beraten. Der Kommission gehörten unter anderem der Reichsjustizkommissar und bayrische Justizminister Hans Frank442 und der preußische Justizminister Hanns 438 REITER-ZATLOUKAL 2014, S. 150f; SCHMIDT 1995, S. 451f. 439 SCHMIDT 1995, S. 426f; VORMBAUM 2009, S. 157, 198. 440 Franz Gürtner (* 1881, † 1941): ab 1909 im bayrischen Justizdienst tätig, 1922–1932 Justizminister in Bayern als Vertreter der deutsch-nationalen Bayerischen Mittelstandspartei, von 1932–1941 Reichsjustizminister, 1937 Aufnahme in NSDAP; GRUCHMANN 1966, S. 288f; Franz Gürtner, auf: https://www.dhm.de/lemo/biografie/franz-guertner (abgerufen am 4. 6. 2020). 441 VORMBAUM 2009, S. 198. 442 Hans Michael Frank (* 1900, † 1946): ab 1929 Leiter der Rechtsabteilung der NSDAP, Gründer und Vorsitzender des Nationalsozialistischen Deutschen Juristenbundes (ab 1936 NS-Rechtswahrerbund), 1933/34 bayrischer Justizminister, ab April 1933 Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtspflege, ab 1933 Präsident der Akademie für Deutsches Recht, 1939–1945 Generalgouverneur der besetzten nicht in das Deutsche Reich eingegliederten, polnischen Gebiete, 1946 hingerichtet in Nürnberg; SCHUBERT/REGGE 1988, S. XXIII.

Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen im Verjährungsrecht

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Kerrl443 als stellvertretende Vorsitzende sowie die Staatssekretäre Roland Freisler444 und Franz Schlegelberger an.445

3.1.

Die Verjährung im Strafgesetzentwurf des Jahres 1933

Die Verjährungsregeln des ersten nationalsozialistischen Strafgesetzentwurfs des Jahres 1933 stimmten in Inhalt, Wortlaut und Systematik noch größtenteils mit den Regelungen der Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit überein, freilich mit einigen Verschärfungen. So entsprachen die Verjährungsfristen größtenteils den vom Strafgesetzausschuss verlängerten Fristen. Die gesetzliche Fristverlängerung war freilich als Kompensation für die zeitgleich beschlossene Streichung der behördlichen Fristverlängerung gedacht gewesen.446 Im Entwurf des Jahres 1933 waren nun einerseits die längeren gesetzlichen Verjährungsfristen, andererseits auch die Möglichkeit einer behördlichen Fristverlängerung statuiert. Eine Verlängerung der Verjährungsfrist um maximal die Hälfte der gesetzlichen Frist konnte durch das Gericht auf Antrag der Strafverfolgungsbehörde oder durch die Strafvollstreckungsbehörde vorgenommen werden, wenn es die »besonderen Umstände des Falles gebieten.«447 Die Verjährungsfristen bei den schwersten Straftaten hätten bei beiden Verjährungsarten auf bis zu 45 Jahre verlängert werden können. Unverjährbare Straftaten kannte der Entwurf allerdings nicht. Als weitere Verschärfung des Verjährungsrechts wurde die Wirkung

443 Hanns Kerrl (* 1887, † 1941): ab 1928 Mitglied und ab1932 erster nationalsozialistischer Präsident des preußischen Landtages, ab 1933 Reichskommissar für das preußische Justizministerium, ab 1933 preußischer Justizminister, ab 1934 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, ab 1933 Vizepräsident des Reichstages, ab 1935 Leiter der Reichsstelle für Raumordnung und Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten; SCHUBERT/REGGE 1988, S. XXIV. 444 Roland Freisler (*1893, † 1945): deutscher Jurist und Rechtsanwalt, ab 1933 Mitglied des deutschen Reichstages, Vorsitzender des Ausschusses für Strafrecht der Akademie für Deut sches Recht und stellvertretender Vorsitzender des NS-Rechtswahrerbundes sowie Staatssekretär für Justiz, an der Organisation des Holocaust beteiligt, von 1942 bis zu seinem Tod Präsident des Volksgerichtshofes. Freisler leitete unter anderem den Prozess gegen Christoph Probst und die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Während seiner Präsidentschaft stieg die Zahl der Todesurteile stark an. Als Justizminister Otto Thierack Freisler bei seinem Amtsantritt darauf hinwies, dass die Rechtsprechung des Gerichtes in Einklang mit der Staatsführung stehen müsse, erwidert Freisler, für ihn gebe es nur eine Gerechtigkeit, die gegenüber der Volksgemeinschaft; KÖPKE Abschnitt 2.3.3. 445 SCHUBERT/ REGGE 1988, S. XIII. 446 Siehe dazu Kapitel II.7. und II.9. 447 §§ 82, 85 Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs (1933), abgedruckt in: VORMBAUM/ RENTROP 2008, S. 284.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

des Verlängerungsbeschlusses bei der Verfolgungsverjährung auf alle an der Tat beteiligten Personen erstreckt.448 Ausdrücklich klargestellt wurde außerdem, dass »mit der Strafbarkeit der Tat […] auch die Befugnis, auf Grund der Tat Maßregeln der Besserung und Sicherung anzuordnen oder zuzulassen«, erlöschen sollte.449 Der Entwurf des Jahres 1933 unterstellte auch die verhängten Maßregeln der Besserung und Sicherung der Verjährung. Die Fristen dafür betrugen fünf und zehn Jahre.450 Dies kann als Lockerung betrachtet werden, war doch seit dem Jahr 1922 keine absolute zeitliche Grenze für den Vollzug der einmal verhängten Maßnahmen mehr geplant gewesen.451

3.2.

Die Bewertung der Verjährung in der Strafrechtskommission

Die Mitglieder der Strafrechtskommissionen waren sich darüber einig, dass der Anwendungsbereich der Verjährung im künftigen deutschen Strafrecht beschränkt werden musste.452 So erklärte etwa Staatssekretär Roland Freisler: »Hinsichtlich der Verjährung sehe ich nicht ein, warum man demjenigen, der sich vergangen hat, die absolute Sicherheit dafür geben muß, nach einer Reihe von Jahren seine mehr oder weniger wichtige Einzelpersönlichkeit innerhalb Deutschlands geschützt zu sehen.«453 Der preußische Justizminister Hanns Kerrl ergänzte: »Die Verjährung bezweckt tatsächlich, dem Verbrecher zu sagen, wenn er eine bestimmte Zeit nicht gefaßt sei, würde von Strafe und Sühne Abstand genommen. Ich will mich nicht sofort entscheiden, ob das überhaupt noch geduldet werden kann, jedenfalls gehört eine solche Bestimmung nicht in das Strafgesetzbuch, sondern in die Strafprozeßordnung.«454 Auch Wenzeslaus von Gleispach vertrat die 448 § 82 Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs (1933), abgedruckt in: VORMBAUM/ RENTROP 2008, S. 284. 449 § 79, 83 Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs (1933), abgedruckt in: VORMBAUM/ RENTROP 2008, S. 283. 450 § 83 Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs (1933), abgedruckt in: VORMBAUM/ RENTROP 2008, S. 284. 451 Siehe dazu Kapitel II.6. 452 Die Darstellung beschränkt sich auf die Diskussion zur Regelung der Verjährung der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung. Darüber hinaus wurde diskutiert, ob auch Maßregeln der Besserung und Sicherung verjährbar sein sollten. Auf diese Diskussion wird ebenso wenig eingegangen wie auf die während der NS-Herrschaft ergangenen Verjährungsregeln für die vorbeugenden Maßnahmen und deren Begründung, weil dies den Umfang der Arbeit übersteigen würde. 453 Protokoll der 8. Sitzung der Strafrechtskommission vom 18. Dezember 1933, S. 7, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 191. 454 Protokoll der 8. Sitzung der Strafrechtskommission vom 18. Dezember 1933, S. 12, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 196.

Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen im Verjährungsrecht

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Meinung, dass die herrschende Staatsauffassung der Verjährung durchaus »abhold« sein müsse, weil die böse Tat eigentlich genauso wenig wie die gute Tat aus der Welt geschafft werden könne.455 Der Kieler Strafrechtsprofessor Georg Dahm456 schloss sich der Kritik an: »Ich würde überhaupt keinen Endtermin angeben. Hinter dem Begriff der Verjährung steckt eine zivilrechtliche Vorstellung und die Vertragstheorie. Also ein liberaler Gedanke, der in das neue Strafgesetzbuch nicht mehr hineingehört.«457 Ähnlich äußerte sich auch Reichsjustizminister Gürtner. Schon in der Prägung des Verjährungsbegriffes läge eine unzulässige Übertragung zivilrechtlicher Konstruktionen in die strafrechtliche Sphäre. »Das Recht auf Strafe ist ein Ausfluß der Souveränität, das als solches der Verjährung nicht unterliegt.«458 »Die Volksgemeinschaft ist ewig, deswegen kann die Strafbarkeit einer Handlung nicht beseitigt werden, eine Schuld kann nicht durch Verjährung erlöschen, in diesem Sinne kann die Zeit eine heilende Kraft nicht haben.«459 Im Widerspruch zu diesen theoretischen Ausführungen ging Gürtner der »Gedanke, daß die Zeit eine heilende Kraft hat, ganz aus dem Strafrecht zu beseitigen« »doch zu weit. Die Frist müßte freilich sehr lang sein.«460 Außerdem beschäftigte den Reichsjustizminister ein praktisches Problem, das er über die Verjährung zu lösen gedachte. »Zur Zeit wuchert im deutschen Lande ein Unkraut, das trotz aller Versuche, es niederzutreten, immer aufs neue in Blüte schießt. Ich meine das Unkraut der Denunziation, die einen Umfang angenommen hat, der erschreckend ist und einen tiefen Einblick in eine weit verbreitete Sittenlosigkeit gibt. Diese Tatsache spielt auch für die Verjährung eine Rolle. Nehmen wir an, ein Mann, der wegen einer Unterschlagung ins Ausland gegangen ist, kommt nach Jahren als anständiger Mensch zurück. Soll nun irgendjemand, der von dieser Tat weiß, die durch keine Frist beschränkte Mög455 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 21f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 497f. 456 Georg Dahm (* 1904, † 1963): Professor für Strafrecht an den Universitäten Kiel, Leipzig und Straßburg, 1944 Lehrbeauftragter in Berlin, 1935–1937 Rektor an der Universität Kiel, wo er frühzeitig für die Relegation der jüdischen Studierenden eintrat, 1945 Entlassung aus dem Hochschuldienst, Tätigkeit als Rechtsanwalt, 1951–1955 Dekan der juristischen Fakultät an der Universität Dakka (Pakistan), ab 1955 Professor für Völkerrecht und Internationales Recht in Kiel; SCHUBERT/REGGE 1988, S. XXf; https://www.catalogus-professorum-halensi s.de/dahmgeorg.html (abgerufen am 6. 6. 2020). 457 Protokoll der 8. Sitzung der Strafrechtskommission vom 18. Dezember 1933, S. 12, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 196. 458 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 18, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 493f. 459 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 18, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 494. 460 Protokoll der 8. Sitzung der Strafrechtskommission vom 18. Dezember 1933, S. 12, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 196.

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lichkeit haben, den Mann in ein Strafverfahren zu verwickeln? Ich glaube, dem muß ein Riegel vorgeschoben werden.«461 Damit wollte Gürtner resozialisierte StraftäterInnen durch die Verjährung vor einer Strafe schützen. Auch die beiden Berichterstatter zu den Regelungen über die Verjährung, Gerhard Lorenz462 und Johannes Nagler,463 konnten der Verjährung positive Seiten abgewinnen. Besonders Nagler verteidigte die Verjährung vor dem im Raum stehenden Vorwurf, ein individualistisches und liberalistisches Institut zu sein, und erklärte: »Die deutsche Gesetzgebung hat die Verjährung immer vom Standpunkt der Allgemeinheit aus beurteilt. Individualistische Gesichtspunkte haben […] in der deutschen Entwicklung hinsichtlich der Verjährung niemals eine Rolle gespielt. […] Die Gedankengänge, aus denen heraus man die Verjährung befürwortet, laufen grundsätzlich daraus hinaus: das Ausgleichsbedürfnis klingt im Laufe der Zeit ab/ die Gleichgewichtsstörung, die durch das Verbrechen herbeigeführt worden ist, verschwindet allmählich/ nach einer bestimmten Zeit hat man nicht mehr die rechte Erinnerung an das Verbrechen, es besteht dann auch nicht mehr das Vergeltungsbedürfnis. Daran knüpft der Verzicht des Staates auf die Bestrafung des Täters an. Es ist in Deutschland immer lebendiges Volksempfinden gewesen, daß die Strafe nach gewissen längeren Zeiträumen nicht mehr gerecht sei«.464 Lorenz und Nagler schlugen relativ moderate Verschärfungen des geltenden Verjährungsrechts vor wie beispielsweise die Erstreckung der Wirkung des Verlängerungsbeschlusses auf alle an der Tat Beteiligten, eine unbegrenzte Verjährungsverlängerungsmöglichkeit für die Strafverfolgungsbehörden und eine Verlängerung der maximalen Ruhensdauer während des Hauptverfahrens.465 Außerdem sprachen sie sich dafür aus, die Verjährung weiterhin im materiellen Recht zu regeln, weil der Untergang des Strafklagerechts nur »die Folge der Vernichtung des subjektiven Strafrechts« sei. Diese Vernichtung wiederum sei eine Rechtswirkung des Verzichtes des Staates auf seinen Strafanspruch, der

461 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 22, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 498. 462 Gerhard Lorenz (* 1889, † 1950): ab 1922 Staatsanwalt am LG Leipzig, 1933 Landgerichtsdirektor am LG Leipzig, 1935–1945 Präsident des LG Leipzig, ab 1933 Vorsitzender der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, ab 1935 Mitglied des neu eingerichteten Dienststrafsenates beim Reichsgericht; SCHUBERT/REGGE 1988, S. XXXII. 463 Johannes Nagler (* 1876, † 1951): Schüler von Karl Binding und Anhänger von dessen absoluter Strafrechtstheorie, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht in Basel, Freiburg und Breslau; SCHUBERT/REGGE 1988, S. XXXIV. 464 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 18, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 494. 465 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 16–19, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 492–495.

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wegen des Abklingens des Vergeltungsbedürfnisses erfolge.466 Vor allem bei der mit prozessualen Argumenten nicht zu rechtfertigenden Vollstreckbarkeitsverjährung stünde die materiellrechtliche Einordnung außer Zweifel.467 Durchsetzen konnten sich jedoch im Wesentlichen die Vorschläge von Staatssekretär Freisler, der die Debatte zur Verjährung dominierte und eine besonders ablehnende Haltung gegenüber der Verjährung vertrat. Die Formulierung früherer Entwürfe »Die Strafbarkeit einer Tat erlischt durch Verjährung« bezeichnet er als einen »Schlag ins Gesicht«, weil dies »eine sittliche Unmöglichkeit« darstelle.468 Es widerspräche auch der christlichen Anschauung. Denn die christliche Religion beruhe darauf, »daß man, einerlei, wie man gelebt hat, nur mit einer Schuld aus dem Leben scheiden kann und schließlich darauf hoffen muß, in einem anderen Dasein diese Schuld gestrichen zu bekommen. Es ist aber auch eine deutsche Auffassung, daß nichts, was man getan hat, untergeht, also auch keine Schuld«.469 Außerdem erachtete es Freisler als unbefriedigend, dass das Versagen der Staatsgewalt oder die Fähigkeit des Verbrechers/der Verbrecherin, der/die sich der Verfolgung oder Vollstreckung der Strafe entzogen habe, diesem/dieser einen Vorteil verschaffen solle.470 Am wichtigsten für Freislers Ablehnung der Verjährung war aber ein anderer Aspekt. Es verletze die »Würde des Staates und des vereinten Volkes, von vornherein mit bindender Wirkung auf den Strafanspruch zu verzichten«.471 Das, führte Freisler aus, erscheine ihm wie ein Ablasskauf. Der Staat sage gewissermaßen im Voraus, dass er nach einer gewissen Zeit Ablass gewähren müsse. Das müsse der Staat aber keineswegs. Denn der Staat könne nicht im Vorhinein wissen, wie lange die Verfolgung einer bestimmten Straftat für ihn von Interesse sein werde, weshalb es vorteilhaft sei, auf eine strenge zeitliche Grenze für die Verfolgungstätigkeit zu verzichten. Vielmehr solle der Staat zu jedem Zeitpunkt frei sein, zu entscheiden, ob er Straftaten verfolgen wolle oder eben nicht. Damit hätte freilich das Opportunitätsprinzip anstelle des Legalitätsprinzips gestellt werden müssen. Wolle man die Entscheidung über die Einleitung der Strafverfolgung nicht vollends den Strafverfolgungsbehörden überlassen, könne man 466 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 16, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 492. 467 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 18, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 494. 468 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 19, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 495. 469 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 19, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 495. 470 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 19, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 495. 471 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 19, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 495.

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diese für einige Jahre zur Strafverfolgung verpflichten und erst an die Phase der Verfolgungspflicht eine Phase der Verfolgungsmöglichkeit anschließen lassen, in der die Strafverfolgungsbehörden frei über die Einleitung der Strafverfolgung entscheiden können sollten. »Der Staat würde dann das bleiben, was er sein muss: Herr der Regelung und Liquidierung dessen, was in der von ihm geführten und verwalteten Volksgemeinschaft geschehen ist.«472 Im Anschluss an die Diskussion einigten sich die Kommissionsmitglieder darauf, die Verjährung nicht mehr im materiellen Strafrecht zu regeln. Die Regelungen zur Verfolgungsverjährung sollten in die Strafprozessordnung verschoben werden. Dafür wurden folgende Grundsätze festgelegt: Alle schweren Straftaten, nicht nur die »todesstrafwürdigen« Verbrechen, sollten überhaupt unverjährbar sein. Bei den übrigen Straftaten sollte an eine Phase des Verfolgungszwangs eine Phase der Verfolgungsmöglichkeit anschließen, in der die Verfolgungsbehörden über die Einleitung der Strafverfolgung entscheiden konnten. Beabsichtigt war dabei, den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit zu geben, auf die Verfolgung für einzelne Straftaten oder auch ganze Gruppen von Taten zu verzichten. Bei minderschweren Straftaten war geplant, an die Phase der Verfolgungsmöglichkeit eine Phase des Verfolgungsverbotes anschließen zu lassen. In dieser dritten Phase wäre die Verfolgung somit nicht mehr zulässig gewesen. In Bezug auf die Vollstreckbarkeitsverjährung wurde nur beschlossen, sie künftig im Strafvollzugsgesetz zu regeln.473 Das nationalsozialistische Verjährungskonzept bildete gewissermaßen ein Gegenmodell zu den Verjährungsregeln der Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit.474 Martin Asholt stellt in seiner Habilitation dennoch gewisse Kontinuitäten zur Verjährungsdiskussion der Weimarer Republik fest. So gab es in Deutschland schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme Bestrebungen, die Verjährung ins Prozessrecht zu verschieben. Zudem vertritt Asholt die Auffassung, dass die Opportunitätslösung des nationalsozialistischen Verjährungsrechts ihre Vorläufer in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit hatte.475 In diesen war zum Teil die Möglichkeit vorgesehen gewesen, die Verjährungsfristen durch Gerichtsbeschluss zu verlängern, »wenn es die besonderen Umstände des Falles gebieten.«476 Dieses Kriterium war so unbestimmt, 472 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 19f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 495f. 473 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 21, 23, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 497, 499. 474 Dazu ausführlich Kapitel II. 475 ASHOLT 2016, S. 42–44. 476 So beispielsweise § 81 und § 84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f, siehe dazu ausführlich Kapitel II.6.

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dass damit die Entscheidung über die Verlängerung der Verjährungsfristen in das gerichtliche Ermessen gestellt worden wäre– freilich nicht unbeschränkt lange. Denn in allen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit war im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Entwürfen eine absolute Verjährung für alle Straftaten vorgesehen, das heißt ein Endtermin, an dem die Verjährung jedenfalls eintrat, ohne weitere Möglichkeit zur behördlichen Fristverlängerung.477 Nicht außeracht gelassen werden darf außerdem, dass die zeitlich begrenzte Möglichkeit der Fristverlängerung durch Gerichtsbeschluss die unbeschränkte Unterbrechungsmöglichkeit des deutschen Reichsstrafgesetzbuches und des österreichischen Strafgesetzbuches ersetzen sollte und damit den Einfluss der Behörden auf den Verjährungseintritt bereits beschränkt hätte. In späteren Entwürfen der Zwischenkriegszeit war überhaupt keine Möglichkeit zur Verlängerung der gesetzlichen Verjährungsfristen durch die Strafverfolgungs- und -vollstreckungsbehörden vorgesehen. Denn bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme war das Streben nach einer absoluten zeitlichen Grenze der Strafverfolgung und -vollstreckung zentral. Behördliches Ermessen auf den Eintritt der Verjährung sollte weitgehend ausgeschaltet werden.478 Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen liefen dagegen darauf hinaus, die Entscheidung über den Eintritt der Verjährung in großem Umfang dem Ermessen der Justizverwaltungsbehörden zu überlassen.

3.3.

Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis in den verfahrensrechtlichen Entwürfen

Diese Grundsatzentscheidungen wurden in den Entwürfen für eine Strafverfahrensordnung und ein Strafvollzugsgesetz umgesetzt.479 Mit der Verschiebung der Regelungen über die zeitliche Begrenzung der Strafverfolgung in den Entwurf für eine Strafverfahrensordnung »bekannte sich der deutsche Gesetzgeber« »den sittlichen Grundanschauungen des deutschen Volks entsprechend«, zu dem Satz, dass »die Strafbarkeit einer Tat durch Zeitablauf nicht erlischt.« Das Wort Verjährung sollte im neuen Strafrecht nicht mehr vorkommen, um den grundsätz-

477 Dazu ausführlich Kapitel II.4.–II.7. sowie II.9. 478 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.–V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II.4.–II.10. 479 Die Paragraphenzahlen sowie die Verweise in den Fußnoten beziehen sich auf die letzte Fassung des Entwurfs für eine Strafverfahrensordnung aus dem Jahr 1939. Nahezu idente Regelungen enthielten auch die Vorgängerentwürfe ab dem Jahr 1936, die in SCHUBERT 1991 abgedruckt sind.

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lichen Wandel der Anschauungen hervorzuheben.480 Allerdings sprächen Erwägungen »der Billigkeit und Zweckmäßigkeit dafür, bei weniger schweren Straftaten nach dem Verstreichen einer gewissen Zeitspanne von der Verfolgung abzusehen«.481 Die Gründe, die ein Absehen von der Strafverfolgung nach einer gewissen Zeitspanne rechtfertigen würden, seien verschiedener Art. So könne es »nutzlos hart« sein, einen Mann, der in jungen Jahren eine Verfehlung begangen habe, die erst viele Jahre später entdeckt werde, »nachdem sich der Täter im Leben lange bewährt hat«, »durch die Verfolgung jener alten Schuld um Ansehen und Stellung zu bringen.« »Das Sühnebedürfnis kann abgeklungen sein, die Erinnerung an die Tat verblaßt, und vielfach treten einer späteren Verfolgung Beweisschwierigkeiten entgegen.«482 Übernommen wurden damit seit Langem bekannte klassische Verjährungsbegründungen. Handle es sich aber um Verrat am Volk, um Mord oder um die Taten von BerufsverbrecherInnen, die es lange Zeit verstanden hätten, sich der Verfolgung zu entziehen, so würde es dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, den/die TäterIn nicht auch noch nach vielen Jahren zur Rechenschaft zu ziehen. Daher übe das Verstreichen von Zeit keinen Einfluss auf Taten aus, wegen derer nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Todesstrafe oder die lebenslange Zuchthausstrafe zu erwarten sei.483 Damit waren im Entwurf für eine Strafverfahrensordnung schwere Straftaten de facto unverjährbar und die Einleitung der Strafverfolgung zu jedem Zeitpunkt zwingend. Bei leichten und mittelschweren Straftaten sollte dagegen an eine Phase des Verfolgungszwangs eine Phase der Verfolgungsmöglichkeit anschließen. Dafür wurden folgende Fristen festgelegt: »Der Staatsanwalt kann von der Verfolgung einer Tat absehen nach drei Jahren, wenn der Richter voraussichtlich höchstens auf Haft, Festungshaft, Geldstrafe, allein oder nebeneinander, erkennen würde, nach fünf Jahren, wenn der Richter voraussichtlich höchstens auf Gefängnis, allein oder neben einer Ehrenstrafe, erkennen würde, nach zehn Jahren, wenn der Richter voraussichtlich höchstens auf zeitiges Zuchthaus, allein oder neben einer Ehrenstrafe, erkennen würde.«484 480 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396. 481 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396. 482 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396. 483 § 24 Entwurf zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung abgeschlossen am 1. Mai 1939, S. 9, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 303; Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396. 484 § 24 Entwurf zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung abgeschlossen am 1. Mai 1939, S. 9, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 303.

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Bei den Straftaten, bei denen nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft eine zeitige Zuchthausstrafe zu erwarten war, bestand nach dem Entwurf zwar nicht die Verfolgungspflicht, wohl aber die Verfolgungsmöglichkeit unbefristet lange. Denn »auch bei nicht mit dem Tode oder lebenslangem Zuchthaus zu bestrafenden schweren Straftaten können die Umstände derart sein, daß das Bedürfnis nach einer Strafverfolgung auch nach vielen Jahren nicht erlischt.« Zu dem Interesse des Volksganzen, derartige Taten ohne Rücksicht auf den Zeitablauf verfolgen zu können, komme, »daß keinem Täter, der sich in schwerer Weise gegen die Friedensordnung des Volkes vergangen hat, der Anspruch und die Gewißheit gewährt werden darf, nach Ablauf bestimmter Jahre gegen die Strafverfolgung gefeit zu sein.«485 Die Rechtssicherheit für den/die TäterIn spielte damit für die Statuierung einer zeitlichen Grenze der Strafverfolgung nicht nur keine Rolle. Vielmehr sollte dem Delinquenten/der Delinquentin die absolute Sicherheit genommen werden, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr verfolgt bzw. bestraft werden zu können. Die Verfolgung von Taten, für die der/ die TäterIn eine zeitige Zuchthausstrafe zu erwarten hatte, wurde daher nach dem Entwurf durch den Zeitablauf nicht unzulässig. Der Staatsanwalt konnte bei diesen Taten unbegrenzt lange eine Verfolgung einleiten, davon nach Ende der Phase des Verfolgungszwanges aber auch absehen. Nach welchen Kriterien die Staatsanwaltschaft diese Entscheidung treffen sollte, spezifizierten weder der Text des Entwurfs noch die Erläuternden Bemerkungen. Damit bestand keine Verpflichtung auf eine Besserung der Beschuldigten, deren ordentlichen Lebenswandel oder eine Schadenwiedergutmachung Rücksicht zu nehmen. Nur bei den minderschweren Straftaten folgte auf die Phase der Verfolgungsmöglichkeit ein Verfolgungsverbot, das heißt eine »Unzulässigkeit der Verfolgung wegen Zeitablaufs.« In diesem Sinn ordneten die Entwürfe an: »Der Staatsanwalt verfolgt eine Tat nicht mehr nach fünf Jahren, wenn der Richter voraussichtlich höchstens auf Haft, Festungshaft oder Geldstrafe, allein oder nebeneinander, erkennen würde, nach zehn Jahren, wenn der Richter voraussichtlich höchstens auf Gefängnis, allein oder neben einer Ehrenstrafe, erkennen würde.«486 Nach den Erläuternden Bemerkungen bestand ein praktisches Bedürfnis, derartig minderschwere Taten nicht unbegrenzt lange zum Gegenstand eines Strafverfahrens zu machen.487 Dieses praktische Bedürfnis alleine war nach den Erläuternden Bemerkungen entscheidend für eine tatsächliche zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafverfolgungsbefugnis. Es beruhte wohl auf der 485 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25f, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396f. 486 § 25 Entwurf zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung abgeschlossen am 1. Mai 1939, S. 9, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 303f. 487 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25f, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396f.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

Erkenntnis, dass die endlos lange Verfolgung von geringfügigen Straftaten für den Staat einen materiellen und personellen Aufwand verursacht, der außer Verhältnis zu dessen Verfolgungsinteresse steht. Die absolute zeitliche Grenze der Strafverfolgungsbefugnis bei den minderschweren Straftaten schützte die Staatsanwaltschaften und auch die Beschuldigten vor Beweisschwierigkeiten. In der Phase der Verfolgungsmöglichkeit war dagegen nur eine Seite nämlich der Staat, repräsentiert durch die Staatsanwaltschaften als öffentliche Ankläger, vor den Beweisschwierigkeiten geschützt. Denn es ist naheliegend, dass die Staatsanwaltschaften die Strafverfolgung nur dann aufgenommen bzw. fortgesetzt hätten, wenn genügend belastende Beweismittel für eine Verurteilung vorhanden gewesen wären. Vor einem Untergang der Belastungsbeweise, ergebnislosen Verfahren sowie ungerechtfertigten Freisprüchen und Freisprüchen im Zweifel schützte die Opportunitätslösung des Entwurfes. Durch die Opportunitätslösung nicht geschützt war dagegen der/die Beschuldigte vor einem zeitbedingten Untergang der Entlastungsbeweise. Dieses Ungleichgewicht erklärte Freisler, auf den das nationalsozialistische Verjährungskonzept zum größten Teil zurückgeht, folgendermaßen: »Wenn die zur Überführung des Täters erforderlichen Beweismittel nicht mehr vorhanden sind, dann wird der Fall ohne weiteres erledigt sein. Sind dem Täter die Beweismittel verlorengegangen, durch die er sein Alibi hätte nachweisen können, dann muß ich davon ausgehen, daß er der Täter ist, und dann ist er dafür verantwortlich, daß sein Alibi verlorengegangen ist. [..] Ich sehe keinen Grund, ihm aus dem Verlust der Beweismittel einen Vorteil zuteilwerden zu lassen.«488 Fehlverurteilungen wurden damit in Kauf genommen. Die Bestrafung eines/einer Unschuldigen dient aber weder der Vergeltung noch der Besserung, sondern der reinen »terroristischen Abschreckung«. Dies gilt auch für die Straftaten, für die unbefristet lange ein Verfolgungszwang geplant war. Bei diesen wäre aber auch der Staat nicht vor ergebnislosen Verfahren und ungerechtfertigten Freisprüchen geschützt gewesen. Zu laufen begannen die Verjährungsfristen nach den Entwürfen mit dem Zeitpunkt des Abschlusses der strafbaren Handlung, wenn zur Vollendung der Tat ein Erfolg gehörte, mit dem Eintritt des Erfolges. Zum Schutz vor dem Eintritt der Verjährung während des Hauptverfahrens erweiterten die Entwürfe den Anwendungsbereich des Ruhens. Ruhen sollte die Verjährung während des gesamten Hauptverfahrens, ohne dass eine Höchstdauer festgelegt war. In der Weimarer Zeit hatte in den Strafrechtskommissionen noch die Befürchtung überwogen, dass eine solche Regelung, die Anklagebehörden einerseits zu verfrühten Anklagen, andererseits zu Verfahrensverzögerungen veranlassen würde. 488 Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 21, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 497.

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Diese Überlegung war offensichtlich verworfen worden. Außerdem wurde die Ruhensregelung des Reichsstrafgesetzbuches in die Entwürfe übernommen, wonach der Fristverlauf gehemmt war, solange »die Verfolgung aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift nicht begonnen oder fortgesetzt werden kann«.489 Wie in den Entwürfen für eine Strafverfahrensordnung war auch in den Entwürfen für ein Strafvollzugsgesetz ein dreistufiges Modell für die zeitliche Begrenzung der Strafbefugnis vorgesehen. Keine zeitliche Grenze der Strafvollstreckung und damit ein unbefristeter Vollstreckungszwang war für die verhängten Todesstrafen und die verhängten lebenslangen Zuchthausstrafen geplant. Die Vollstreckung dieser Strafen war also zu jedem Zeitpunkt zwingend. Bei zeitigen Freiheitsstrafen sollte die Vollstreckungsbehörde von der Einleitung der Vollstreckung absehen, wenn seit der Rechtskraft des Urteils mindestens die doppelte Länge der verhängten Freiheitsstrafe verstrichen und die »Vollstreckung vom Standpunkt der Volksgemeinschaft nicht mehr geboten« war.490 Daneben waren feste Mindestfristen vorgesehen. Wenn eine Zuchthausstrafe verhängt worden war, konnte die Vollstreckungsbehörde frühestens nach fünfzehn Jahren, bei anderen Freiheitsstrafen von mehr als drei Monaten frühestens nach fünf und bei allen übrigen Strafen nach drei Jahren auf die Vollstreckung verzichten.491 Auf die Phase der Vollstreckungsmöglichkeit folgte eine Phase des Vollstreckungsverbotes. Nicht mehr vollstreckt werden durften Strafen, wenn »die Frist des Abs. 2 seit ihrem ersten Ablauf von neuem abgelaufen ist«.492 Ein Vollstreckungsverbot hätte damit frühestens nach sechs, nach zehn und nach dreißig Jahren, von der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, bestanden. Die verhängte zeitige Zuchthausstrafe hätte frühestens nach dreißig Jahren nicht mehr vollstreckt werden dürfen.

489 § 26 Entwurf zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung abgeschlossen am 1. Mai 1939, S. 9, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 304. 490 § 48 Abs. 2 Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst allgemeiner Begründung (Reichsjustizministerium, August 1939), abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 427. 491 § 48 Abs. 2 Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst allgemeiner Begründung (Reichsjustizministerium, August 1939), abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 427. 492 § 48 Abs. 3 Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst allgemeiner Begründung (Reichsjustizministerium, August 1939), abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 427; insofern unrichtig ASHOLT 2016, S. 44, der davon ausgeht, dass keine absolute zeitliche Grenze der Strafvollstreckungsbefugnis geplant war.

112 3.4.

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

Die weitere Entwicklung der nationalsozialistischen Strafrechtsreform

Das Projekt der nationalsozialistischen Strafrechtsreform wurde relativ früh »ruhend« gestellt. Reichsminister Gürtner gelang es vor dem Kriegsausbruch nicht, den auf Grundlage der Beschlüsse der Strafrechtskommission erstellten Strafgesetzentwurf vom Kabinett verabschieden zu lassen. Der prozessrechtlichen Einordnung des »Verjährungsinstitutes« entsprechend enthielt der Entwurf für das materielle deutsche Strafgesetzbuch aber ohnehin keine Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der staatlichen Strafmacht mehr. Diese waren, wie dargestellt, in den Entwürfen für eine Strafverfahrensordnung und in den Entwürfen für ein Strafvollzugsgesetz enthalten. Den Entwurf für eine Strafverfahrensordnung und wohl auch den Entwurf für ein Strafvollzugsgesetz legte Reichsjustizminister Gürtner nicht einmal dem Kabinett vor, um die Beratungen des StGBEntwurfs nicht zusätzlich zu belasten. Außerdem waren in den Beratungen des Reichsjustizministeriums mit verschiedenen Gremien grundsätzliche Fragen zu dem Entwurf einer Strafverfahrensordnung offen geblieben.493 Unmittelbar nach dem Kriegsausbruch versuchte Gürtner noch, den Entwurf für ein Strafgesetzbuch von dem »Ministerrat für die Reichsverteidigung« verabschieden zu lassen, der von Adolf Hitler kurz vor dem Kriegsbeginn zu seiner Entlastung eingerichtet worden war. Mit dem Hinweis, dass der Entwurf eine Reihe kriegswichtiger strafrechtlicher Bestimmungen enthalte, gelang es Gürtner im Dezember des Jahres 1939, Hermann Göring für Beratungen im Ministerrat für die Reichsverteidigung zu gewinnen. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Hitler ließ Reichsjustizminister Gürtner im Dezember 1939 mitteilen, dass die Verabschiedung des Deutschen Strafgesetzbuchs im Wege der ordentlichen Gesetzgebung erfolgen müsse und er im Übrigen bezweifle, dass der richtige Zeitpunkt für ein neues Strafgesetzbuch schon gekommen sei.494 Eberhardt Schmidt stellte dazu die These auf, dass Hitler, nachdem seine Macht gefestigt war, kein Interesse an einer umfassenden Strafrechtskodifikation mehr haben konnte und ihm der Gedanke einer Selbstbindung durch eine abschließende Kodifizierung vielmehr als abwegig erscheinen musste, zumal dem NS-Machtstaat Hitlers nicht an Rechtssicherheit und Rechtsbestimmtheit gelegen war.495 Letztendlich waren damit die nationalsozialistischen Kodifikationspläne sowohl im Strafprozessrecht als auch im materiellen Strafrecht gescheitert.496 Allerdings gab es in den Jahren 1944 und 1945 noch einmal weitreichendere Reform-Pläne, welche im Entwurf eines »Gesetzes zur Behandlung Gemein493 494 495 496

VORMBAUM 2009, S. 203. VORMBAUM 2009, S. 200. SCHMIDT 1995, S. 450. SCHMIDT 1995, S. 450; SCHLOSSER 2017, S. 351.

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schaftsfremder« gipfelten. Ziel dieses Gesetzes war es, die Volksgemeinschaft vor Menschen, die gefährliche Anlagen und Eigenschaften aufwiesen, zu schützen.497 Soweit als möglich sollten diese wieder für die Volksgemeinschaft gewonnen werden, wo dies aber nicht möglich war, an einer weiteren Schädigung der Gemeinschaft durch staatliche Zwangsmaßnahmen gehindert werden. Die Klassifizierung als »Gemeinschaftsfremder« war dabei nicht von einer konkreten Straftat oder Anlasstat abhängig.498 Die Gruppe der »Gemeinschaftsfremden« gliederte sich in die Gruppe der »Versager«, der »Arbeitsscheuen« und »Liederlichen«, denen Menschen, die aus »Unverträglichkeit oder Streitlust den Frieden in der Allgemeinheit hartnäckig stören«, gleichgestellt werden konnten, sowie die Verbrechergruppe.499 Als Maßnahme gegen die nicht straffällig gewordenen »Gemeinschaftsfremden« war zwar nicht die Tötung, wohl aber die unbeschränkt lange Unterbringung in einem Lager der Polizei sowie die Sterilisation vorgesehen,500 weil diese häufig Sippen angehören würden, »die im ganzen oder in ihren einzelnen Gliedern Polizei und Gerichte dauernd beschäftigen oder sonst der Volksgemeinschaft zur Last fallen.«501 Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Behandlung »Gemeinschaftsfremder« waren umfassende Änderungen des geltenden Reichsstrafgesetzbuches erforderlich, sodass dessen Wiederverlautbarung geplant war. Den Entwurf zur Neufassung der §§ 1–79 StGB arbeitete der Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht502 zur Neufassung des Strafgesetzbuches aus, dem unter anderem Ferdinand Kadecˇka sowie der Strafrechtsprofessor Edmund Mezger angehörten.503 Mit geringfügigen Abweichungen wurde die Entwurfsfassung des Aka497 Entwurf zu einem Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Begründung des Entwurfes, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 300–302; VORMBAUM 2009, S. 200–202. 498 Entwurf zu einem Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Begründung des Entwurfes, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 301; VORMBAUM 2009, S. 200–202. 499 § 1 Entwurf zu einem Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 298. 500 § 2, § 13 Entwurf zu einem Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 298, 300. 501 Entwurf zu einem Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Begründung des Entwurfes, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 303. 502 Die Akademie für Deutsches Recht (ADR) wurde am 26. 6. 1933 von Hans Frank, dem damaligen Reichsjustizkommissar und bayerischen Staatsminister der Justiz, zur Vorbereitung der Erneuerung des deutschen Rechts im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung gegründet. Die ADR hatte die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ihre wichtigste Aufgabe war die Ausarbeitung, Anregung, Begutachtung und Vorbereitung von Gesetzentwürfen. Ihre Arbeit erfolgte in Ausschüssen, die die Gesetzentwürfe für die verschiedenen Rechtsgebiete erarbeiteten. Formal existierte die Akademie bis zum Ende der NS-Herrschaft, wenngleich ihre Tätigkeit bereits im August des Jahres 1944 infolge des Kriegsgeschehens eingestellt wurde; RÜTHER 2002, S. 148; SCHUBERT 1986, S. VIII– XIII. 503 Zur weiteren Zusammensetzung des Ausschusses siehe SCHUBERT 1988, S. XVI–XVIII.

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demieauschusses vom Justizministerium übernommen.504 Nach der Neubekanntmachung sollte das reichsdeutsche Strafrecht auch in den Reichsgauen der Ostmark gelten. Dies erschien auch deshalb vorteilhaft, weil damit das Problem der Rechtszersplitterung im Deutschen Reich für das Strafrecht gelöst werden hätte können. Nach den Plänen des Justizministeriums sollte das österreichische Strafgesetzbuch am 1. Jänner oder spätestens dem 1. April des Jahres 1945 durch das wiederverlautbarte Reichsstrafgesetzbuch ersetzt werden. Die »wertvollen Elemente« des österreichischen Strafrechts beabsichtigte man aber, zuvor zur Fortentwicklung des Reichsrechts zu nützen.505

3.5.

Die Verjährung im Entwurf des Jahres 1944 zur Neufassung des Allgemeinen Teils des Reichsstrafgesetzbuches

Zu den wertvollen Elementen des österreichischen Strafgesetzbuches gehörten nach Einschätzung des Akademieausschusses und des Reichsjustizministeriums die jahrzehntelang kritisierten und fast 150 Jahre alten Verjährungsregeln des österreichischen Strafgesetzbuches.506 Die Ursache dafür war wohl, dass diese um einiges strenger waren als die Verjährungsbestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches. Nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1871 waren, wie ausgeführt, alle Strafandrohungen und Strafen verjährbar.507 Die Strafandrohung Todesstrafe verjährte zwanzig Jahre nach der Tatbegehung (§ 66 dRStGB 1871), die verhängte Todesstrafe 30 Jahre, nachdem die Strafe rechtskräftig geworden war (§ 67 dRStGB 1871). Die einzige Voraussetzung für den Verjährungseintritt war das Verstreichen der jeweiligen Verjährungsfrist. Im österreichischen Strafrecht dagegen war die Verfolgung der mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten unverjährbar (§ 231 Satz 1 StG 1852).508 Wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre verstrichen waren, trat an die Stelle der Strafandrohung der Todesstrafe die Strafandrohung des schweren Kerkers von zehn bis zwanzig Jahren, sofern die in § 229 genannten Voraussetzungen (Herausgabe des Nutzens aus der Straftat, Wiedergutmachung des Schadens, keine Begehung 504 Mit Ausnahme der Gesetzentwürfe »zur Neufassung der §§ 1–79 StGB« und der Erläuternden Bemerkungen sind keine Beratungsprotokolle oder sonstige Unterlagen überliefert; SCHUBERT 1999, S. XVI–XVIII. 505 Schreiben des Reichsjustizministers Otto Thierack vom 29. 6. 1944, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 260f. 506 Schreiben des Reichsjustizministers Otto Thierack vom 29. 6. 1944, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 260f. 507 Die Verjährungsregeln des Reichsstrafgesetzbuches 1871 und ihre Entstehungsgeschichte werden ausführlich in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.1.–IV.4.2. behandelt. 508 Zu den Verjährungsregeln des österreichischen Strafgesetzbuches 1852 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3., IV.3.3. und Kapitel V.2.

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neuer Straftaten in der Verjährungsfrist, keine Flucht ins Ausland) erfüllt waren (§ 231 Satz 2 StG 1852). Bei diesen Verbrechen war somit, anders als in Deutschland, eine Straffreiheit durch Zeitablauf ausgeschlossen und nur eine gesetzliche Strafmilderung als Folge des Verstreichens von zwanzig Jahren und der Erfüllung der Bedingungen des § 229 StG 1852 vorgesehen. Außerdem kannte das österreichische Strafrecht keine Vollstreckbarkeitsverjährung. Die einmal verhängte Strafe war damit unabhängig von ihrer Höhe unverjährbar. Nachdem mit der Zweiten Strafrechtsangleichungsverordnung509 1943 schwerste Verbrechen auch in Deutschland für unverjährbar erklärt worden waren,510 beabsichtigte der Entwurf des Justizministeriums vom 29. Juni 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB die Übernahme weiterer bedeutender Elemente des in den Reichsgauen der Ostmark geltenden Verjährungsrechts.511 Zunächst war geplant, die Verjährung wie im österreichischen Strafrecht als Strafaufhebungsgrund zu behandeln. Die Strafvollstreckungsverjährung war in diesem Entwurf nach dem Vorbild des österreichischen Strafgesetzbuches überhaupt nicht mehr vorgesehen. Denn »niemand darf sich einen Vorteil daraus herleiten, daß er es verstanden hat, sich jahrelang der ihm auferlegten Sühne für eine Tat zu entziehen. Ob der Staat nach längerer Zeit eine Strafe noch vollstrecken will oder nicht, ist seine Sache, und es ist ein Gnadenentschluß, wenn er von der Vollstreckung einer Strafe Abstand nimmt.«512 Die Verjährungsfristen des Entwurfes lagen zwischen einem und fünfzehn Jahren. Sie richteten sich allerdings nicht nach den abstrakten Strafandrohungen, sondern nach der Strafe, die nach der Einschätzung der Staatsanwaltschaft zu erwarten war.513 Unverjährbar war nach dem Entwurf des Justizministeriums die Strafverfolgung bei den Taten, bei denen nach der Einschätzung der Staatsanwaltschaft die Todesstrafe oder die Strafe des Zuchthauses von lebenslanger sowie von unbestimmter Dauer zu erwarten war. Außerdem war die Strafverfolgungsbefugnis unverjährbar, »wenn der Schuldige514 als gemeinschaftsfeind509 Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs- und der Alpen- und DonauReichsgaue (Strafrechtsangleichungsverordnung) vom 29. Mai 1943, dRGBl I 1943, S. 339– 341. 510 Siehe dazu Kapitel III.4. 511 Schreiben des Reichsjustizministers Otto Thierack vom 29. 6. 1944, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 260f. 512 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Begründung, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 293f. 513 § 66 Abs. 1 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276. 514 Anstelle der Bezeichnung »Beschuldigter« wurde in den Verjährungsregeln des Entwurfes ausschließlich der Begriff »Schuldiger« verwendet. Auch in den Erläuternden Bemerkungen wurde nicht von dem »Beschuldigten« gesprochen, wie dies vor der gerichtlichen Verurteilung üblicherweise geschieht, sondern von dem »Täter« oder »Schuldigen«, was insgesamt eine Vorverurteilung vor der förmlichen gerichtlichen Schuldfeststellung indiziert.

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licher Verbrecher der Polizei zu überweisen wäre.« In all diesen Fällen sollte aber von der Strafverfolgung abgesehen werden, »wenn seit der Tat zwanzig Jahre verstrichen sind und die Strafe oder Maßregel zur Sühne und zum Schutz des Volkes nicht mehr erforderlich ist.«515 Das Kriterium der »Erforderlichkeit zur Sühne oder zum Schutz des Volkes« erscheint freilich unbestimmt und auslegungsbedürftig. Damit hätten die Staatsanwaltschaften wohl im Ergebnis nach Ablauf der Zwanzigjahresfrist relativ frei über die Einleitung oder das Absehen von der Strafverfolgung entscheiden können. Auch die rein zeitabhängige Verjährung des Reichsstrafgesetzbuches beurteilten die Verfasser des Entwurfes kritisch. Sie führe zu lebensfremden und ungerechten Ergebnissen, weil sie auch einem/r TäterIn zugute kommen könne, der/die in der Verjährungszeit weitere Straftaten begangen habe. In diesem Punkt wurde das österreichische Recht ebenfalls als überlegen betrachtet, denn das österreichische Strafrecht verlange von dem/der TäterIn die Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen neben dem Verstreichen von Zeit. Es erachte damit nur den/die TäterIn der Rechtswohltat der Verjährung für würdig, der/die sich nach der Tat bemüht habe, sich wieder in die »Lebensordnung der Gemeinschaft« einzufügen. Habe der/die TäterIn das nicht getan, dann läge darin der Beweis, dass seine/ihre strafbare Handlung »Ausdruck einer entsprechenden inneren Gesamthaltung« sei. In diesem Fall werde er/sie nach dem österreichischen Recht ungeachtet des Zeitablaufs verfolgt und bestraft. Diesen vermeintlichen Grundgedanken des österreichischen Rechts wollte der Entwurf übernehmen. Die Bedingungen des österreichischen Rechts sollten jedoch vereinfacht werden. Die Verjährung war dann ausgeschlossen, »wenn der Schuldige in der Verjährungszeit kein rechtschaffenes Leben geführt« hatte.516 Mit dem Begriff des »rechtschaffenen Lebens« war wohl primär »gemeinschaftstreues Leben« gemeint.517 Jedenfalls war auch dieses Kriterium zu vage, um die Verfolgungsmöglichkeit effektiv zu beschränken. Im Ergebnis hätten die Staatsanwaltschaften wohl bei vielen an sich verjährten Straftaten die unbefris515 § 66 Abs. 5 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276. 516 § 66 Abs. 3 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276; Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Begründung, abgedruckt in: SCHUBERT 1988, S. 293; im Entwurf des Akademieausschusses war zudem ein Verjährungsausschluss vorgesehen, wenn »der Täter […] vor Einleitung des Strafverfahrens den Schaden nicht nach Kräften gutgemacht hat«; § 66 Abs. 3 Entwurf für eine Neubekanntmachung des Allgemeinen Teiles des Reichsstrafgesetzbuchs (Vorschlag des Akademieausschusses 1944), abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 226; dieses Kriterium wurde im Entwurf des Justizministeriums nicht übernommen. 517 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Begründung, abgedruckt in: SCHUBERT 1988, S. 293.

Die gesetzlichen und verwaltungsbehördlichen Änderungen

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tete Möglichkeit zur Einleitung der Strafverfolgung gehabt. Von ihrer Einschätzung der zu erwartenden Strafe hing auch ab, ob eine Straftat grundsätzlich verjährbar oder unverjährbar war, sowie die Länge der Verjährungsfrist. Die Strafverfolgungsbehörden hatten nach dem Entwurf von 1944 insgesamt noch größeren Einfluss auf die zeitliche Begrenzung der Strafverfolgung als nach den Entwürfen für eine Strafverfahrensordnung. Anders als in diesen verfahrensrechtlichen Entwürfen war bei keiner einzigen Straftat ein absolutes Verfolgungsverbot geplant. Damit waren Beschuldigte wiederum nicht vor einem zeitbedingten Untergang der Entlastungsbeweise geschützt. Im Übrigen behielt der Entwurf die Unterbrechungsregel des Reichsstrafgesetzbuches bei und schränkte den Anwendungsbereich der Verjährung damit zusätzlich ein. Die Unterbrechung sollte durch jede Handlung des Richters wegen der Tat gegen »den Schuldigen« erfolgen und unbeschränkt oft möglich sein.518 Daneben war ein zeitlich unbegrenztes Ruhen der Verjährung geplant, »solange auf Grund gesetzlicher Vorschriften die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.« Ruhen sollte die Verjährung außerdem, wenn die Einleitung oder Fortsetzung des Strafverfahrens von einer Vorfrage abhängig war, über die in einem anderen Verfahren entschieden werden musste.519 Das Kriegsgeschehen verhinderte sowohl das Inkrafttreten des »Gesetzes zur Behandlung Gemeinschaftsfremder« als auch die Wiederverlautbarung des Reichsstrafgesetzbuches und damit die Ersetzung der österreichischen Verjährungsregelungen aus dem Jahr 1852 durch die des Entwurfes zur Neufassung der §§ 1–79 StGB.520

4.

Die gesetzlichen und verwaltungsbehördlichen Änderungen im geltenden deutschen und österreichischen Verjährungsrecht

Die nationalsozialistischen Kodifikationspläne bzw. der Plan zur Wiederverlautbarung des Reichsstrafgesetzbuches scheiterten. Eine vollständige Umsetzung der nationalsozialistischen Verjährungskonzepte erfolgte damit nicht. Jedoch wurden während der NS-Herrschaft zahlreiche bedeutende Änderungen am großzügigen deutschen und dem ohnehin schon restriktiven österreichischen Verjährungsrecht vorgenommen, die alle darauf abzielten, die staatliche Straf-

518 § 67 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276. 519 § 67 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 6. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276. 520 VORMBAUM 2009, S. 202.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

macht in zeitlicher Hinsicht zu erweitern und damit den Anwendungsbereich der Verjährung einzuschränken. Die erste Neuregelung im Bereich des Verjährungsrechts erfolgte durch die Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher. Die Verordnung bestimmte, dass Jugendliche über sechzehn Jahre nach den Strafrahmen für Erwachsene bestraft werden konnten, »wenn die bei der Tat gezeigte besonders verwerfliche Gesinnung oder der Schutz des Volkes« eine solche Bestrafung erforderlich machen würden. Das deutsche Recht kannte keine besondere Verjährungsregel für die Straftaten Jugendlicher. Das österreichische Strafgesetzbuch begrenzte die Verjährungsfrist für die Straftaten Jugendlicher jedoch. Diese konnte höchstens zehn Jahre betragen (§ 232 StG 1852). Die Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher hob diese Sonderregelung auf. Nach ihrem Entfall galten die allgemeinen Verjährungsfristen von fünf bis zwanzig Jahren bei Verbrechen auch für die Verfolgung Jugendlicher. Wenn diese ein mit der Todesstrafe bedrohtes Verbrechen begangen hatten, so war dieses nunmehr unverjährbar. Diese Regelungsänderung galt kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung rückwirkend, das heißt auch für Straftaten, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung begangen worden waren.521 Mit der Zweiten Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 wurde das deutsche an das österreichische Strafrecht in einigen Punkten, in denen das österreichische Strafrecht strenger war, angeglichen.522 Die Angleichungsverordnung sah ursprünglich keine Verjährungsvorschriften vor. Am 3. April des Jahres 1943 meldete jedoch das Reichsjustizministerium dem Chef der Reichskanzlei zwei Fälle schwerer Straftaten, die in der Bevölkerung großes Aufsehen erregen würden. Dabei glaubte die Behörde, die Täter bereits zu kennen: »Wie sich erst jetzt herausgestellt hat, hat der Arbeiter Schnurrer im Jahr 1920 die Eheleute Drosihn in Mettstedt ermordet. Schnurrer hatte mit dem ermordeten Ehemann gemeinsame Diebstähle ausgeführt; das Motiv der Tat lag darin, daß Schnurrer glaubte, bei der Verteilung der Beute aus den Diebstählen übervorteilt worden zu sein, und sich das Geld aus der Diebesbeute, das Drohsin bei sich trug, verschaffen wollte. Die Frau Drohsin hat Schnurrer ermordet, um sie als Zeugin der Tat zu beseitigen. Ferner hat im Jahre 1923 der Tischlergeselle Gehleritt in Graudenz seine 9-jährige Tochter Elisabeth ermordet, um sie als Zeugin für Diebstähle, die er begangen hatte, zu beseitigen.«523 In beiden Fällen stehe der 521 § 3 Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939 dRGBl I 1939, S. 2000. 522 VORMBAUM 2011, S. 11. 523 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 97; die Verjährung machte freilich nicht nur Bestrafungen unzulässig. Schon eine Strafverfolgung wegen der Taten und eine Feststellung der Sachverhalte hätten wegen der eingetretenen Verjährung gar nicht mehr vorgenommen werden dürfen.

Die gesetzlichen und verwaltungsbehördlichen Änderungen

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Ablauf der Verjährungsfrist, die bei den mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten nach § 66 dRStGB zwanzig Jahre betrug, der Einleitung der Strafverfolgung entgegen. Die Einzelheiten der Taten seien aber so abscheulich, »dass die Bevölkerung, bei der die Aufdeckung der Taten größtes Aufsehen erregt habe, es nicht verstehen würde, wenn die schweren Bluttaten ungesühnt bleiben müssten.« Die Täter seien daher in beiden Fällen vorläufig in Haft genommen worden.524 Um in diesen beiden Fällen auf dem schnellsten Weg die Einleitung eines Strafverfahrens zu ermöglichen, wurde in die Strafrechtsangleichungsverordnung noch ein Artikel zur Verjährung aufgenommen.525 Unter dem Titel »Änderung der Verfolgungsverjährung« wurde § 66 dRStGB ein Absatz beigegeben: »Der Staatsanwalt kann die Verfolgung einleiten, wenn die Verhängung der Todesstrafe oder von lebenslangem Zuchthaus zu erwarten ist.«526 Damit sollte § 66 dRStGB an den § 231 des öStG angeglichen werden,527 demzufolge »[b]ei Verbrechen, worauf die Todesstrafe verhängt ist, keine Verjährung vor der Untersuchung und Bestrafung [schützt].« Zwischen den beiden Regelungen bestand freilich ein bedeutender Unterschied. Nach dem österreichischen Recht war bei den todesstrafwürdigen Verbrechen die Strafverfolgung unbefristet lange obligatorisch.528 Der geänderte § 66 dRStGB stellte die Einleitung der Strafverfolgung nach Ablauf der Zwanzigjahresfrist ins Belieben der Staatsanwaltschaften, die über die Einleitung der Strafverfolgung frei entscheiden konnten. Nach den Gesetzesmaterialien sollte auf die Einleitung der Strafverfolgung dann verzichtet werden, wenn sich der/die TäterIn in der Zwischenzeit durch sein/ihr Verhalten eines Entgegenkommens würdig gezeigt hatte.529 Was unter »würdig gezeigt« zu verstehen ist, wurde nicht definiert. Sowohl die Einleitung der Strafverfolgung als auch der Verzicht auf diese konnten somit willkürlich erfolgen. Das Ziel war es freilich nicht, den 524 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 97. 525 VORMBAUM 2011, S. 55. 526 Art. 5 Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs- und der Alpen- und Donau-Reichsgaue (Strafrechtsangleichungsverordnung) vom 29. Mai 1943, dRGBl I 1943, S. 340. 527 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 98. 528 Außerdem nahm § 231 StG 1852 auf die abstrakte Strafandrohung, § 66 Abs. 2 dRStGB auf die nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft zu erwartende Strafe Bezug. § 231 StG 1852 schloss nur die mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten von der Verjährung aus, § 66 Abs. 2 dRStGB ermöglichte dagegen auch bei den Straftaten, bei denen nach Einschätzung der Verfolgungsbehörden die Verhängung der lebenslangen Zuchthausstrafe zu erwarten war, eine unbefristete Strafverfolgung. 529 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 98.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

Staatsanwaltschaften völlige Entscheidungsfreiheit zu geben. Vielmehr erklärte das Reichsjustizministerium in seinem Schreiben an die Reichskanzlei, dass mit der fakultativen Einleitungsmöglichkeit dem Justizministerium die Möglichkeit gegeben werde, den Staatsanwaltschaften im Einzelfall eine Weisung über die Einleitung der Strafverfolgung oder das Unterbleiben derselben zu erteilen.530 Im Ergebnis wurde mit der Opportunitätslösung der Zweiten Strafrechtangleichungsverordnung erstmals seit dem Jahr 1871 in ganz Deutschland die Verjährbarkeit der schwersten Straftaten, nämlich aller Taten, bei denen nach Einschätzung der Verfolgungsbehörden die Todesstrafe oder die lebenslange Zuchthausstrafe zu erwarten war, wieder beseitigt.531 Im österreichischen Strafrecht waren die mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten zwar unverjährbar, wenn seit der Tatbegehung aber eine Frist von zwanzig Jahren verstrichen war und der/die Beschuldigte die Bedingungen des § 229 StG 1852 erfüllt hatte, entfiel die Strafandrohung Todesstrafe. Stattdessen durfte nur auf schweren Kerker von zehn bis zwanzig Jahren erkannt werden (§ 231 Satz 2 StG 1852). Diese gesetzliche Strafmilderung wurde vom Reichsjustizministerium als zu kasuistisch empfunden und daher mit der Zweiten Strafrechtsangleichungsverordnung nicht übernommen. Einer eventuell gebotenen Begünstigung des/der Beschuldigten glaubte man, durch die fakultative Verfolgungsmöglichkeit besser Rechnung tragen zu können. Die Frage, ob sich der/die Beschuldigte eine Vergünstigung verdient und daher die Verfolgung zu unterbleiben hatte, sollten nur die Strafverfolgungsbehörden und letztendlich das diesen gegenüber weisungsbefugte Reichsjustizministerium entscheiden können.532 Einige Monate später wurde die gesetzliche Strafmilderung bei den mit der Todesstrafe bedrohten und aus diesem Grund unverjährbaren Straftaten nach Ablauf der Frist von zwanzig Jahren auch in Österreich gestrichen. Dies geschah durch die Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und Donau-Reichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht (2. AnpassungsVO) vom 23. Oktober 1943.533 Mit dieser wurde § 231 Satz 2 StG 1852 rückwirkend aufgehoben.534 Die Strafandrohung Todesstrafe bestand folglich auch dann, wenn seit der Tatbegehung über zwanzig Jahre verstrichen waren. Anders als in 530 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 98; VORMBAUM 1997, S. 489. 531 VORMBAUM 2011, S. 55. 532 Schreiben des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 98. 533 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und Donau-Reichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 577–579. 534 Art. 6 Abs. 2 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und DonauReichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 578.

Die gesetzlichen und verwaltungsbehördlichen Änderungen

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Deutschland war aber nach dem österreichischen Strafgesetzbuch die Strafverfolgung bei den »todesstrafwürdigen« Verbrechen auch nach Ablauf einer Frist von zwanzig Jahren nicht fakultativ, sondern zwingend. Mit der 2. AnpassungsVO wurden außerdem die in Österreich geltenden Verjährungsfristen für Vergehen und Übertretungen erheblich verlängert. Bis zur Erlassung der Verordnung hatten diese Fristen drei Monate, sechs Monate und ein Jahr betragen (§ 532 StG 1852). Die kürzeste Frist von drei Monaten blieb zwar bestehen, der Kreis der Delikte, die ihr unterlagen, wurde aber eingeschränkt. Die beiden übrigen Verjährungsfristen für Übertretungen und Vergehen wurden von sechs Monaten auf drei Jahre und von einem Jahr auf fünf Jahre angehoben.535 Bei Privatanklagedelikten wurde die Frist von sechs Wochen, die dem Opfer ab Kenntnis von Tat und TäterIn zur Klageerhebung zur Verfügung stand, auf drei Monate verlängert (§ 530 StG 1852).536 Auch diese Bestimmungen waren kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Taten anzuwenden, und zwar auch dann, wenn diese bereits verjährt waren. Nur wenn bereits ein rechtskräftiger Freispruch ergangen war, blieb dieser unangetastet. Der Freispruch konnte auch wegen Verjährung erfolgt sein.537 Es ist anzunehmen, dass damit bereits eingetretene Verjährungen in großem Umfang aufgehoben wurden, denn es bestanden wohl viele Fälle, in denen wegen Vergehen und Übertretungen innerhalb der kurzen Verjährungsfristen keine Verfolgung gegen eine/n individuelle/n Beschuldigte/n eingeleitet worden war. Formalrechtlich waren die Rückwirkungsanordnungen unproblematisch, weil weder im »Altreich« noch in den Reichsgauen der »Ostmark« ein verfassungsrechtliches Rückwirkungsverbot in Geltung stand. Selbst die einfachgesetzlichen Rückwirkungsverbote, die sowohl im deutschen538 als auch dem österreichischen Recht539 bestanden, waren vom NS-Regime eingeschränkt worden.540 Automati535 Art. 3 Abs. 3 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und DonauReichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 578. 536 Art. 3 Abs. 2 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und DonauReichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 578; mit der 2. Anpassungs-VO wurde auch die Bestimmung über die Geltendmachung des Ehebruches geändert und die Frist dafür im Ergebnis verlängert; Art. 3 Abs. 1 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und Donau-Reichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 578. 537 Art. 3 Abs. 5 Zweite Verordnung zur weiteren Anpassung des in den Alpen- und DonauReichsgauen geltenden Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1943, S. 578. 538 Vgl. § 2 dRStGB idFv 15. 5. 1871, dRGBl 1871, S. 127; § 2a dRStGB idFv 28. 6. 1935, dRGBl I 1935, S. 839. 539 Art. IV »Kaiserliches Patent, wodurch eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte, Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizei-Uebertretungen vom 3. September 1803, mit Aufnahme mehrerer neuer Bestimmungen, als alleiniges Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen für den ganzen Umfang des Reiches, mit

122

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

sche Rückwirkung entfalteten Strafgesetze freilich auch während der NS-Herrschaft nicht. Einfachgesetzlich konnte eine solche Rückwirkung aber ohne weiteres angeordnet werden.541 Die Auffassung, dass der/die TäterIn mit dem Eintritt der Verjährung einen Anspruch auf Straffreiheit erworben habe, wurde während der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht geäußert.

5.

Vom Strafaufhebungsgrund zum Verfahrenshindernis: Die Judikatur des Reichsgerichtes zur Rechtsnatur der Verjährung

Eine bedeutende Änderung im Bereich des Verjährungsrechts während der NSHerrschaft erfolgte freilich nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch das deutsche Reichsgericht. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war das Reichsgericht von einer rein materiellrechtlichen Natur der Verjährung und einem Erlöschen des staatlichen Strafanspruches ausgegangen. Später betrachtete es die Verjährung als gemischtes Institut, das sowohl Elemente des formellen als auch des materiellen Rechts enthielt. Eine rein prozessrechtliche Auffassung hatte das Reichsgericht zu keinem Zeitpunkt vertreten. In der deutschen Lehre war die Frage nach der Rechtsnatur der Verjährung umstritten, vorherrschend war allerdings eine gemischtrechtliche Einordnung.542 Das Verjährungsinstitut des österreichischen Strafgesetzbuches gehörte dagegen unbestrittener Weise zu dem materiellen Recht. Eine Novellierung der Verbrauchsregelungs-Strafverordnung543 löste eine Änderung der Judikatur des Reichsgerichts zur Rechtsnatur der Verjährung des deutschen Reichsstrafgesetzbuches aus. Die Verbrauchsregelungs-Strafverordnung544 sollte das zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geschaffene Verbrauchs-

540 541 542 543

544

Ausnahme der Militärgränze, kundgemacht, und vom 1. September 1852 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird« (Kundmachungspatent zum StG 1852), RGBl. 117/1852. Art. 1 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, dRGBl I 1935, S. 839; § 1 Verordnung zur weiteren Anpassung des österreichischen Strafrechts an das Reichsrecht, dRGBl I 1940, S. 1117. § 2a dRStGB idFv 28. 6. 1935, dRGBl I 1935, S. 839; MALANIUK 1947, S. 46; PAULI 1992, S. 107. LORENZ 1955, S. 20f; PAULI 1992, S. 106; ZIMMERMANN 1997, S. 36f. Bekanntmachung der neuen Fassung der Verordnung über Strafen und Strafverfahren bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften auf dem Gebiet der Bewirtschaftung bezugsbeschränkter Erzeugnisse (Verbrauchsregelungs-Strafverordnung) vom 26. November 1941, RGBl I 1941, S. 734–738. Verordnung über Strafen und Strafverfahren bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften auf dem Gebiet der Bewirtschaftung bezugsbeschränkter Erzeugnisse (Verbrauchsregelungs-Strafverordnung), RGBl I 1940, S. 610–612.

Vom Strafaufhebungsgrund zum Verfahrenshindernis

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güterbezugssystem (Lebensmittelkarten etc.) strafrechtlich absichern. Sie regelte verschiedene Delikte, für die zunächst mangels eigener Vorschriften die Verjährungsfristen des Reichsstrafgesetzbuches bzw. des österreichischen Strafgesetzbuches galten. Dem Gesetzgeber waren diese Fristen zu kurz, sodass er im Zuge der Novelle eigene längere Verjährungsfristen für die Vergehen und Übertretungen der Verordnung schuf. Eine Rückwirkung der Verlängerung wurde in der Verordnung nicht angeordnet.545 Wenn man die Verjährung als Institut des materiellen Rechts betrachtet, so hätte die Regelungsänderung nach der Übergangsbestimmung des § 2a dRStGB546 keine Rückwirkung entfaltet, weil sie für den/die TäterIn ungünstiger war als das Recht zum Tatzeitpunkt. Der Gesetzgeber ging allerdings davon aus, dass die Fristverlängerung rückwirkend auch für bereits begangene Straftaten galt. Diese Einschätzung entsprach der im Zuge der Strafrechtsreform vorgenommenen Verschiebung der Regelungen über die zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafmacht in das Strafverfahrensrecht bzw. das Strafvollstreckungsrecht. Denn für prozessrechtliche Vorschriften galt die Übergangsbestimmung des § 2a dRStGB nicht. Diese hatten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an Geltung auch für früher begangene Straftaten, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt war.547 In einer ersten Entscheidung vom Februar des Jahres 1942 bestätigte das Reichsgericht zunächst die Einschätzung des Gesetzgebers, der von einer automatischen Rückwirkung der Fristverlängerung und damit implizit auch von einer prozessrechtlichen Natur des Verjährungsinstitutes ausging. Zur Begründung berief sich der erkennende Senat auf den erkennbaren Willen des Gesetzgebers und die anderen Strafsenate, die erklärt hätten, sich dieser Rechtsansicht anzuschließen. Auf die Rechtsnatur der Verjährung ging das Reichsgericht jedoch nicht explizit ein. Auch die Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung thematisierte das Gericht nicht.548 In seinem zweiten Urteil aus dem Mai 1942 zur Verjährung der Delikte der Verbrauchsregelungs-Strafverordnung wurde das Reichsgericht deutlicher und bekannte sich zum ersten Mal zu einer rein prozessualen Verjährungsauffassung. Diese Entscheidung des Reichsgerichtes betraf eine verbotene Hausschlachtung, für die die frühere dreimonatige Verjährungsfrist des § 67 dRStGB bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung abgelaufen war. Damit ging es nicht mehr nur um eine nachträgliche Verlängerung der Verjährungsfrist, sondern um die rückwirkende Aufhebung einer bereits eingetretenen Verjährung, ohne dass 545 546 547 548

PAULI 1992, S. 105. § 2a dRStGB idFv 28. 6. 1935, dRGBl I 1935, S. 839. PAULI 1992, S. 106f. LORENZ 1955, S. 21f; PAULI 1992, S. 105f.

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Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

gesetzlich eine Rückwirkung der Fristverlängerung angeordnet worden war.549 Das Gericht begründete das Urteil mit einem Verweis auf die Grenzen des Einflusses der Zeit im materiellen Recht: »An der Schuld des Täters und an seiner Strafbarkeit ändert der Zeitablauf für sich nichts […] Der Ablauf der Verjährungsfrist schafft demnach keine sachenrechtliche Lage, die es ausschlösse, das Recht der Strafverfolgung dadurch wieder aufleben zu lassen, daß die Strafverfolgung verlängert wird. Vielmehr handelt es sich hier um rein verfahrensrechtliche Vorschriften, die nicht an die Tat als solche gebunden sind.«550 Die Verjährung wurde damit als ein rein technisches Institut des Verfahrens betrachtet, dessen Ausgestaltung im Belieben des Gesetzgebers stand, den Strafanspruch aber nicht berührte.551 Karl Schäfer, der der ministeriellen Strafrechtskommission von 1933 bis 1935 und später der Großen Strafrechtskommission des Bundesministeriums für Justiz in der BRD angehörte, erklärte in einer Sitzung der Großen Strafrechtskommission im Jahr 1958, der Übergang von einer materiellrechtlichen zu einer prozessrechtlichen Verjährungstheorie stelle nur einen weiteren Abbau der rechtsstaatlichen Garantien dar, die der frühere Gesetzgeber zum Schutz des Täters/der Täterin gegen die staatliche Strafgewalt errichtet hatte. Diese geänderte Bewertung des Verjährungsinstitutes stand für Schäfer in einer Entwicklungslinie mit der Aufhebung des Analogieverbotes und der Aufweichung des Rückwirkungsverbotes, also mit Gesetzesänderungen, die das Ziel hatten, die Rechtsstellung des/der Beschuldigten zu beschränken und die Strafmacht des Staates zu erweitern.552 Allerdings galt die prozessrechtliche Einordnung des Verjährungsinstitutes durch das Reichsgericht nicht für den Geltungsbereich des österreichischen Strafgesetzes aus dem Jahr 1852. Denn in einer weiteren Entscheidung vom 24. September des Jahres 1943 bescheinigte das Reichsgericht dem Verjährungsinstitut des österreichischen Strafrechts eine materiellrechtliche Natur. »Nach der Auffassung des österreichischen Strafgesetzbuches bildet die Verjährung nicht nur ein Verfahrenshindernis, sondern auch einen Strafaufhebungsgrund, der die Strafbarkeit der Tat zum Erlöschen bringt.«553 Zur Begründung verwies das Reichsgericht auf den Wortlaut des öStG 1852, das vom »Erlöschen der Untersuchung und Strafe« sprach.554 Auch die Voraussetzungen des § 229 öStG 1852 sprachen nach Auffassung des erkennenden Senates für eine 549 550 551 552 553

ASHOLT 2016, S. 310. RGSt. 76, S. 159–161, zitiert nach ASHOLT 2016, S. 310. LORENZ 1955, S. 22f; PAULI 1992, S. 106f. PAULI 1992, S. 108. Entscheidung des Reichsstrafgerichts vom 24. 9. 1943; auf: https://www-juris-de.uaccess.uni vie.ac.at/jportal/portal/t/a0z/page/homerl.psml/js_pane/Suchportlet4. 554 RGSt. 77, S. 201, zitiert nach ASHOLT 2016, S. 312.

Zusammenfassung

125

materiellrechtliche Einordnung. Der/Die TäterIn könne sich den Nachlass der Strafe verdienen, indem er/sie das vom Gesetz geforderte Verhalten an den Tag lege.555 Im österreichischen Strafrecht galt der Grundsatz der Rückwirkung des neuen milderen Strafgesetzes. War das neue im Entscheidungszeitpunkt geltende Recht aber für den/die TäterIn ungünstiger als das zum Tatzeitpunkt geltende Recht, war das Recht des Tatzeitpunkts anzuwenden. Eine explizite Übergangsbestimmung existierte in Österreich nicht. Der Oberste Gerichtshof hatte dieses Ergebnis jedoch aus Art. IX556 des Kundmachungspatentes zum StG 1852 abgeleitet.557 Da in Österreich kein Rückwirkungsverbot im Verfassungsrang bestand, wäre die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfristen und wohl auch das rückwirkende »Wiederauflebenlassen« eines verjährten Strafanspruches in den Reichsgauen der »Ostmark« durch eine einfachgesetzliche Anordnung möglich gewesen. Ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung entfaltete eine Änderung der als materiellrechtlich eingestuften Verjährungsfristen zum Nachteil des Täters/der Täterin aber auch in Österreich keine Rückwirkung.558

6.

Zusammenfassung

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Verjährung sowohl von der Strafrechtswissenschaft als auch der Politik kritisch bewertet. Phasenweise war sogar geplant, den Begriff »Verjährung« nicht mehr zu verwenden und Befristungen der Strafmacht im Prozessrecht zu regeln. Eine absolute zeitliche Grenze der staatlichen Strafmacht war kaum und wenn dann nur für minderschwere Straftaten vorgesehen. Das NS-Strafrecht tendierte vor allem für die Verfolgungsverjährung zu einer Opportunitätslösung. Bei den meisten, nach manchen Entwürfen bei allen Straftaten hatten die Strafverfolgungsbehörden nach Ablauf bestimmter Fristen nur die Möglichkeit, von der Strafverfolgung abzusehen, während ihr Recht, eine solche vorzunehmen, bestehen blieb. Die Entwürfe für eine Strafprozessordnung von 1936 bis 1939 sahen für minderschwere Straftaten noch eine absolute zeitliche Grenze der Strafverfolgung vor. Für die schwersten Straftaten war dagegen eine unbefristete Verfolgungspflicht geplant. Durchgehend umgesetzt wurde die Opportunitätslösung in 555 ASHOLT 2016, S. 312. 556 »Dieses Gesetz soll auch auf bereits anhängige Untersuchungen und auf alle vor dem bezeichneten Tage begangenen strafbaren Handlungen nur in soferne Anwendung finden, als dieselben durch das gegenwärtige Strafgesetz keiner strengeren Behandlung als nach dem früher bestandenen Rechte unterliegen.« (Art. IX Kundmachungspatent zum StG 1852). 557 MALANIUK 1947, S. 49; RITTLER 1926, S. 71–73. 558 MALANIUK 1947, S. 46, 49; RITTLER 1926, S. 71f.

126

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

diesen Entwürfen nur für mittelschwere Straftaten. In dem Entwurf für ein Strafvollzugsgesetz aus 1939 war die Vollstreckungsbefugnis für schwerste Straftaten »unverjährbar«, für die meisten Straftaten aber war ein dreistufiges Modell mit einer Phase der Vollstreckungspflicht, einer Phase der Vollstreckungsmöglichkeit und daran anschließend eines Vollstreckungsverbots vorgesehen. In dem Entwurf zur Neufassung des Reichsstrafgesetzbuchs 1944 wurde die Vollstreckbarkeitsverjährung dagegen überhaupt nicht mehr zugelassen und jedes rechtskräftige Urteil hätte unbefristet lange vollstreckt werden müssen. Für die Verfolgungsbefugnis war in diesem Entwurf nach Ablauf der Verjährungsfristen die durchgehende Verwirklichung der Opportunitätslösung für alle Straftaten geplant. Kriterien, nach denen die Behörden in der Phase der Verfolgungs- bzw. Vollstreckungsmöglichkeit über die Einleitung der Strafverfolgung und -vollstreckung entscheiden sollten, wurden entweder nicht genannt oder waren zu unbestimmt, um die staatliche Strafmacht tatsächlich zu beschränken. Nach Ablauf der Verjährungsfristen hätten die Behörden und letztendlich das weisungsbefugte Reichsjustizministerium damit über die Strafverfolgung und Strafvollstreckung frei und eigentlich willkürlich entscheiden können. Die staatlichen Strafbefugnisse wären dadurch erheblich erweitert worden. Die nationalsozialistische Strafrechtsreform fand keinen Abschluss. Durch verschiedene Gesetzesänderungen wurden jedoch sowohl die Verjährungsregelungen des Reichsstrafgesetzbuches als auch die ohnehin schon restriktiven Regelungen des österreichischen Strafgesetzes 1852 verschärft. Außerdem bescheinigte das Reichsgericht dem Verjährungsinstitut des Reichsstrafgesetzbuches entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung ausschließlich prozessualen Charakter und ermöglichte damit dem Gesetzgeber auch eine rückwirkende Einschränkung der Verjährbarkeit ohne gesetzliche Rückwirkungsklausel. Das Verjährungsinstitut des österreichischen Strafgesetzbuches wurde dagegen weiterhin dem materiellen Recht zugeordnet.

IV.

Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

1.

Einleitung

Nach der Wiederherstellung der österreichischen Republik im Jahr 1945 stellte sich die Frage, wie mit den ehemaligen nationalsozialistischen Machthabern und MittäterInnen umzugehen sei. In dieser Phase hatte die Verjährung große Bedeutung.559 Für die Ahndung des NS-Unrechts, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit angestrebt wurde, war sie ein Hindernis. Da die Verjährung nach dem damals geltenden Recht mit dem Zeitpunkt der Tatbegehung zu laufen begann, war im Jahr 1945 bereits ein Teil der nationalsozialistischen Straftaten verjährt. Bei den übrigen NS-Verbrechen verkürzte die Verjährung die Zeit, die zu ihrer Verfolgung zur Verfügung stand. Die Sondergesetze, die zur Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen erlassen wurden, enthielten daher auch Bestimmungen, mit denen die Fristen zu deren Verfolgung verlängert wurden. Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Verbrechen galten allerdings nur bis zur NS-Amnestie 1957.560 Mit dem Ende der Entnazifizierungsmaßnahmen wandelte sich auch die Bewertung der Verjährung. War sie zunächst als Hindernis angesehen worden, das die Ahndung des NS-Unrechts erschwerte, wurde sie nun zunehmend als willkommener »Schlussstrich unter die Vergangenheit« betrachtet. Politisch kam die Bereitschaft oder sogar der Wunsch, die strafrechtliche Verfolgung der NS-Straftaten durch die Verjährung zu beenden, im Jahr 1963 zum Ausdruck, als nach langen und kontroversen Debatten beschlossen wurde, die Verjährung nur für einen Bruchteil der natio-

559 Teile dieses Kapitels sind in dem Aufsatz »Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die verdeckte Lösung der Verjährungsfrage in Österreich«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ) 1 (2020), S. 124–148 bereits veröffentlicht. 560 Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957, womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl. 1947/25, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957), BGBl 1957/82.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

nalsozialistischen Tötungsdelikte bis zum 29. Juni des Jahres 1965 zu verlängern. Danach sollte aber ein »Strich unter diese traurige Zeit« gezogen werden.561 Damit wäre in Österreich die Verjährungsfrist für die letzten und schwersten nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere für Mord, spätestens im Jahr 1965 abgelaufen und die Verfolgung der nationalsozialistischen Straftaten strafrechtlich kaum noch möglich gewesen. Ähnlich gestaltete sich die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen Morde einheitlich am Stichtag, dem 8. Mai 1965, geendet hätte.562 Das bevorstehende Ende der strafrechtlichen Verfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland löste internationalen Widerstand und sodann eine große, kontroverse Debatte in der deutschen Politik und Gesellschaft aus. Die geänderten außenpolitischen Voraussetzungen zwangen auch die österreichischen politischen Parteien zu einer erneuten Konfrontation mit der Verjährungsfrage. Das österreichische Parlament beschloss schließlich mit den Stimmen der Abgeordneten der Regierungsparteien (ÖVP/ SPÖ), die Verjährbarkeit für alle bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Delikte rückwirkend aufzuheben.563 Davon betroffen waren auch bis dahin straffrei gebliebene und bereits verjährte Straftaten, die ohne gesetzgeberisches Handeln durch die Strafjustiz nicht mehr verfolgt hätten werden können, sowie ohne Bezug zum Nationalsozialismus begangene Straftaten. Nach der Regierungsvorlage handelte es sich bei dieser Regelung um einen unaufschiebbaren Punkt der geplanten Strafrechtsreform.564 Dieser Behauptung stehen jedoch die Strafgesetzentwürfe der Jahre 1962 und 1964 entgegen. Bei deren Formulierung bestand Einigkeit darüber, dass es im neuen österreichischen Strafgesetzbuch keine unverjährbaren Straftaten geben sollte.565 Im ersten Abschnitt des Kapitels werden zunächst die zwischen den Jahren 1945 und 1965 geltenden Verjährungsregeln des allgemeinen Strafrechts erläutert, die bis zum Jahr 1965 in unterschiedlichem Umfang auch auf die nationalsozialistischen Straftaten Anwendung fanden. Soweit es zum Verständnis der nachfolgenden Ausführungen erforderlich ist, wird auf die Verjährungsfristen für einzelne Delikte eingegangen. Dargestellt werden außerdem die Verjährungsregeln der Strafgesetzentwürfe der Jahre 1962 und 1964 sowie die diesen 561 So der damalige Justizminister Christian Broda, zitiert nach WIRTH 2011, S. 284. 562 VOLLNHALS 2011, S. 390. 563 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4223; Art. 1 und Art. 3 Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79. 564 ErläutRV 650 BlgNR 10. GP (16. 3. 1965). 565 §§ 65, 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53; BRODA 1965, S. 4; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 7.

Einleitung

129

zugrundeliegende Verjährungsbegründung. Auf diese Weise soll gezeigt werden, welchen Sinn und Zweck das Verjährungsinstitut nach den damaligen Auffassungen hatte, wobei man nach dem Jahr 1945 überwiegend wieder zu den Begründungen der Zwischenkriegszeit zurückkehrte und diese fortentwickelte. Im zweiten Abschnitt werden zunächst die besonderen nur für die nationalsozialistischen Straftaten geltenden Verjährungsregeln dargestellt. Daran anschließend wird gezeigt, welche Auswirkungen die NS-Amnestie des Jahres 1957 auf die Verjährung der NS-Verbrechen und damit den Zeitrahmen, in dem diese vom österreichischen Staat verfolgt werden konnten, hatte. Mit der Verjährungsfrage, das heißt der Frage nach der Verlängerung der Verjährungsfristen für die nationalsozialistischen Straftaten, befasste sich das österreichische Parlament erstmals explizit im Jahr 1963. Die Motive für die damals beschlossene geringfügige Fristverlängerung für einen kleinen Teil der NS-Tötungsdelikte werden ebenso herausgearbeitet, wie die Ursachen für das grundsätzliche »Ja« zur Frage nach einem Schlussstrich unter die NS-Straftaten mittels der Verjährung. Untersucht wird außerdem, wie diese Sonderregel für die NS-Delikte begründet wurde. Neben den gesetzlichen Grundlagen wird auch auf die jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten, die für die Änderungen im Verjährungsrecht mitentscheidend waren, eingegangen. Den Schwerpunkt des dritten Abschnittes bildet der Beschluss des österreichischen Parlaments aus dem Jahr 1965, mit dem alle bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Delikte rückwirkend für unverjährbar erklärt wurden. Dieser Beschluss wirft zwei zentrale Fragen auf: Zum einen, warum sich der österreichische Gesetzgeber nun doch dazu entschloss, partiell auf einen »Schlussstrich« mittels Verjährung zu verzichten und eine zeitlich unbefristete Verfolgung der schwersten nationalsozialistischen Straftaten zu ermöglichen. Zum anderen stellt sich die Frage, warum von den Strafgesetzentwürfen der Jahre 1962 sowie 1964 abgewichen und über die nationalsozialistischen Verbrechen hinaus wieder unverjährbare Delikte eingeführt wurden. Sodann werden die praktischen Auswirkungen dargestellt, die diese Gesetzesänderung auf die Möglichkeit zur Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen hatte. Gezeigt wird, welche NS-Verbrechen davon betroffen waren und seither unbefristet verfolgbar sind sowie die Lücken, die die Regelung des Jahres 1965 offenließ. Auf die parallele Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland wird anhand der umfangreichen deutschen Sekundärliteratur566 überblicksmäßig eingegangen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Im Besonderen wird dabei thematisiert, wie sich die österreichische Lösung der Verjährungsfrage von der deutschen unterscheidet und welche Konsequenzen sich daraus für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ergeben. 566 Beispielsweise MIQUEL 2004; VOLLNHALS 2011; SAMBALE 2002; VOGEL 1969.

130

Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

2.

Die Verjährung im allgemeinen Strafrecht

2.1.

Die Verjährungsbestimmungen des österreichischen Strafgesetzes von 1945 bis 1965

Bereits in den vorangehenden Kapiteln wurde ausgeführt, dass im österreichischen Strafrecht – wie in den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen567 – Straftaten nicht unbeschränkt lange verfolgt werden konnten. Abhängig von der Höhe der Strafandrohung waren Fristen gesetzt, mit deren Ablauf der staatliche Strafanspruch »erlosch«. Nach dem österreichischen Strafgesetz aus dem Jahr 1852 betrug die längste Verjährungsfrist zwanzig Jahre. Zu laufen begann diese Frist mit Begehung der strafbaren Handlung.568 Von der Verjährbarkeit ausgenommen und damit unbefristet verfolgbar waren allerdings Straftaten, die mit der Todesstrafe bedroht waren (§ 231 StG 1852).569 Zu den mit der Todesstrafe bedrohten und damit unverjährbaren Straftaten zählte insbesondere der vollzogene Mord (§ 134 StG).570 Außerdem waren Deportationsverbrechen, die sich unter §§ 87, 88 iVm § 86 StG subsumieren ließen (Vernachlässigung von Verpflichtungen beim Betrieb einer Eisenbahn, wenn dies den Tod eines Menschen zur Folge hatte und der Täter dies voraussehen konnte »Eisenbahnerparagraph«), mit der Todesstrafe bedroht gewesen und nun von der Verjährung ausgenommen. Im Falle des Mordes galt dies jedoch nur für den unmittelbaren Täter, den Anstifter und Personen, die unmittelbar bei der Ausführung des Mordes mitwirkten (§ 136 StG). Milder bestraft wurden dagegen »diejenige[n], welche, ohne unmittelbar bei der Vollziehung des Mordes selbst Hand anzulegen und auf tätige Weise mitzuwirken, auf eine in dem § 5 enthaltene entferntere Art zur Tat beigetragen haben (§ 137 StG).« Von dieser Bestimmung profitierten vor allem die sogenannten »Schreibtischmörder« der NSZeit, also Personen, die die planerische Vorbereitungsarbeiten zu den NS-Mas-

567 Beispielsweise in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Griechenland, Norwegen, Polen, Schweden, Spanien, der Schweiz, Tschechien, Ungarn und soweit erkennbar in allen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen; BRÄUEL 1954, S. 430; TRAPPE 2009, S. 129f; ZIMMERMANN 1997, S. 1; vgl. dazu auch die Beiträge in dem umfangreichen, wenn auch veralteten Sammelband in: LISZT 1894, S. 1. 568 § 227f Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen 1852, RGBl 1852/117; im Folgenden abgekürzt mit StG. 569 »Bei Verbrechen, worauf die Todesstrafe verhängt ist, schützt keine Verjährung vor der Untersuchung und Bestrafung.« (§ 231 StG). 570 Der Tatbestand des Mordes wurde in § 134 StG wie folgt definiert: »Wer gegen einen Menschen, in der Absicht, ihn zu tödten, auf eine solche Art handelt, daß daraus dessen oder eines anderen Menschen Tod erfolgte, macht sich des Verbrechens des Mordes schuldig.« Nach der Rechtsprechung war für die Absicht, zu töten, dolus eventualis, das heißt bedingter Vorsatz ausreichend; PICHLER 2016, S. 155.

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131

senmorden leisteten, die von anderen ausgeführt wurden.571 Wie die Strafdrohung war auch die Verjährungsfrist bei der entfernten Beihilfe zum Mord geringer. Sie betrug zehn Jahre.572 Als Totschlag waren nach § 140 StG bekanntlich nur Tötungshandlungen zu qualifizieren, die ohne Tötungsabsicht begangen wurden,573 und Totschlag unterlag ebenfalls der zehnjährigen Verjährungsfrist. Das österreichische Verjährungsrecht enthielt außerdem eine besondere Verjährungsregel für StraftäterInnen, die bei Begehung der Straftat das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Ihre Verbrechen verjährten spätestens zehn Jahre nach der Tatbegehung (§ 232 StG). Während der nationalsozialistischen Herrschaft blieb das österreichische Verjährungsrecht weitgehend unverändert in Geltung.574 Lediglich die Sonderbestimmung für Jugendliche wurde ersatzlos aufgehoben,575 die österreichische Unverjährbarkeitsregel des § 231 StG dagegen als Vorbild für das geplante nationalsozialistische Strafrecht betrachtet.576 Allerdings änderten sich Tatbestände des materiellen Strafrechts und die angedrohten Strafen, an die die Verjährungsfristen des österreichischen StG 1852 anknüpften. So wurden die Tatbestände Mord und Totschlag 1941 neu definiert und zwar rückwirkend für alle vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangenen und noch nicht abgeurteilten Taten mit Geltung auch für die »Ostmark«.577 Nur bei Taten, die vor dem 1. September 1939 begangen worden waren, konnte von der rückwirkenden Anwendung abgesehen und stattdessen auf die damals geltenden Tatbestände des österreichischen Strafgesetzbuches zurückgegriffen werden.578 Zeitgleich mit dem Inkrafttreten der neuen Tatbestände für Mord und Totschlag der § 211f dRStG wurden freilich die entsprechenden Paragraphen (§ 134–139) des österreichischen Strafgesetzes 1852 aufgehoben. Der

571 Personen, die eigenhändig Tathandlungen setzten oder bei der Vollziehung eines Mordes unmittelbar mitwirkten, profitierten von der Privilegierung des § 137 StG jedenfalls nicht; im Unterschied dazu konnten Personen in Deutschland auch dann als Mordgehilfen angesehen werden, die selbst die Tathandlung setzten, wenn sie nicht im eigenen Interesse handelten; GREVE 2000, S. 412, 421–424. 572 Vgl. dazu die an die Strafdrohungen anknüpfenden Verjährungsfristen des § 228 StG. 573 »Wird die Handlung, wodurch ein Mensch um das Leben kommt, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht ausgeübt, so ist das Verbrechen ein Todtschlag.« (§ 140 StG). 574 Dazu ausführlich Kapitel III.4. 575 § 3 Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. 10. 1939, dRGBl I 1939, S. 2000. 576 Schreiben des Justizministeriums an die Reichskanzlei, 3. April 1943, abgedruckt in: VORMBAUM 2011, S. 98. 577 § 2 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941, dRGBl I 1941, S. 549; PICHLER 2016, S. 154. 578 § 6 Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 24. September 1941, dRGBl I 1941, S. 581.

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als »Totschlag« bezeichnete § 140 StG blieb in Kraft, wurde aber in »Körperverletzung mit tödlichem Ausgang« umbenannt.579 Nach der Wiederherstellung des österreichischen Strafgesetzes 1852 in der Fassung vom 13. März 1938 am 12. Juni 1945580 bestimmte ein Übergangsgesetz,581 dass auf die vor dem 12. Juni 1945 begangenen Taten primär das geltende österreichische Recht anzuwenden war. Das Recht im Tatzeitpunkt kam nur dann zur Anwendung, wenn es für den/die TäterIn günstiger war. Ob das im Tat- oder Urteilszeitpunkt geltende Recht (in seiner Gesamtheit) für die/den Beschuldigte/-n günstiger war, musste in jedem Einzelfall festgestellt werden.582 Günstiger war für die/den Beschuldigte/-n jedenfalls die Anwendung der Rechtsordnung, nach der ihr/sein Verhalten nicht oder infolge Verjährung nicht mehr strafbar war. War dies nach beiden Rechtsordnungen der Fall, ging das wiederverlautbarte österreichische Strafgesetz 1852 idFv 1938 vor. Für den/die TäterIn war einerseits die Anwendung der wiederverlautbarten § 137 StG und § 232 StG günstiger, weil das deutsche Recht keine vergleichbaren Bestimmungen für die untergeordnete Beihilfe und jugendliche StraftäterInnen enthielt. Bei der Abgrenzung von Mord und Totschlag war dagegen das deutsche Recht günstiger.583 Denn nach diesem stellten vorsätzliche Tötungshandlungen, anders als nach § 134 StG, nur dann Mord dar, wenn der/die TäterIn grausam, heimtückisch oder aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte (§ 211 dRStGB).584 Waren diese Merkmale nicht nachweisbar, lag Totschlag iSv § 212 dRStGB vor.585 An die Strafdrohungen der Paragraphen § 211 dRStGB und § 212 dRStGB hatten während deren Geltung in Österreich zwischen 1941 und 1945 die weitgehend unveränderten Verjährungsbestimmungen des StG 1852 angeknüpft. Mord iSv § 211 dRStGB war mit der Todesstrafe bedroht gewesen und daher nach 579 § 5 Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 24. September 1941, dRGBl I 1941, S. 582. 580 Gesetz vom 12. 6. 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts, StGBl 1945/25, Kundmachung des Staatsamtes für Justiz vom 3. November 1945 über die Wiederverlautbarung des österreichischen Strafgesetzes (Österreichisches Strafgesetz 1945, A. Slg. Nr. 2). 581 § 1 Gesetz vom 31. Juli 1945, betreffend Übergangsbestimmungen zur Wiederherstellung des österreichischen Strafrechtes und des österreichischen Strafprozeßrechtes, StGBl 1945/105. 582 MARSCHALL 1987, S. 18f. 583 MARSCHALL 1987, S. 20. 584 »Der Mörder wird mit dem Tode bestraft (Abs. 1). Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (Abs. 2).« (§ 211 dRStGB idFv dRGBl I 1941). 585 »Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit lebenslangem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.« (§ 212 dRStGB idFv dRGBl I 1941).

Die Verjährung im allgemeinen Strafrecht

133

§ 231 StG unverjährbar. Für Totschlag iSv § 212 dRStGB galt hingegen infolge der Höhe der Strafdrohung in Österreich eine zwanzigjährige Verjährungsfrist.586 Im ordentlichen Verfahren wurde die Todesstrafe in Österreich im Jahr 1950 abgeschafft. Damit verlor § 231 StG seinen Anwendungsbereich weitgehend, weil nach der Auffassung des Obersten Gerichtshofs (OGH)587 nun auch die bisher unverjährbaren Straftaten unter die zwanzigjährige Verjährungsfrist fielen.588 Diese Einschätzung wurde von der damals herrschenden Lehre und auch von der Strafrechtskommission des Justizministeriums, der neben Strafrechtswissenschaftlern auch Abgeordnete aller Parlamentsparteien angehörten, geteilt.589 Ob der historische Gesetzgeber tatsächlich beabsichtigte, mit der Todesstrafe auch die Unverjährbarkeit zu beseitigen, kann nicht festgestellt werden. Die Gesetzesmaterialien geben dazu keine Auskunft. Eine Korrektur der Rechtsprechung durch eine Gesetzesänderung erfolgte jedenfalls nicht. Zum damaligen Zeitpunkt erschien die Verjährbarkeit aller Straftaten rechtspolitisch durchaus sinnvoll. Sie entsprach seit langem dem internationalen Standard590 und war mit Ausnahme der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich seit 1909 durchgehend geplant gewesen.591 Auch die österreichischen Strafgesetzentwürfe 1962 (StGE 1962) und 1964 (StGE 1964) kannten in Übereinstimmung mit dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch 1871 keine unverjährbaren Straftaten.592 Vielmehr wurde angenommen, dass die allgemeine Verjährungsbegründung auch für schwerste Verbrechen galt.593

586 Vgl. dazu die an die Strafdrohung des § 212 dRStGB anknüpfende Verjährungsbestimmung des § 228 StG; dennoch war diese Abgrenzung für den/die TäterIn die günstigere, weil nach dem wiederverlautbarten österreichischen StG 1852 vorsätzliche Tötungen nicht als Totschlag (iSv § 140 StG) qualifiziert hätten werden können, sondern unverjährbaren, mit der Höchststrafe bedrohten Mord (iSv 134 StG) dargestellt hätten. 587 Gutachten OGH vom 14. 6. 1963, Information über die Entstehungsgeschichte des Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren, BGBl 1963/180, in: Archiv Christian Broda, ÖNB Wien/Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Mappe III.137.3, fol. 48. 588 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963). 589 MARSCHALL 1987, S. 22; NOWAKOWSKI 1955, S. 106; RITTLER 1954, S. 375; diese Rechtsauffassung war schon in der Ersten Republik nach der Abschaffung der Todesstrafe vertreten worden; GLEISPACH, Protokoll der 19. Sitzung der Strafrechtskommission vom 3. März 1934, S. 21f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1988, S. 497f; MARSCHALL 1987, S. 22; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 94. 590 Von den kontinentaleuropäischen Staaten sahen unverjährbare Straftaten nur Dänemark, Italien und die Sowjetunion vor; BRÄUEL 1954, S. 431f. 591 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II. 592 §§ 65, 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53; § 65, § 68 Entwurf eines Strafgesetzbuches samt Erläuterungen (Ministerialentwurf 1964), abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz 1964, S. 94, 97.

134 2.2.

Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Strafgesetzentwurf 1964: Begründung der Straffreiheit durch Zeitablauf

Der Strafgesetzentwurf des Jahres 1964 war ein vom Justizministerium ausgearbeiteter Ministerialentwurf. Er basierte auf dem Kommissionentwurf des Jahres 1962 und den diesem zugrundeliegenden Beschlüssen der im Jahr 1954 eingesetzten Strafrechtskommission.594 Dieser Kommission gehörten neben Experten und Praktikern Vertreter aller im Parlament vertretenen Parteien an.595 Den Vorsitz führte Ferdinand Kadecˇka,596 der bereits in der Zwischenkriegszeit maßgeblichen Einfluss auf die Reformarbeiten gehabt hatte.597 Die Arbeiten an der Strafrechtsreform knüpften bewusst an die österreichische Strafrechtstradition und die Entwürfe der Jahre 1912 und 1927 an.598 Dabei wurde so vorgegangen, dass Kadecˇka als ständiger Referent die Diskussionsgrundlage erarbeitete, über die dann mit einfacher Mehrheit abgestimmt wurde.599 Der Ministerialentwurf 1964 und die dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen verzichteten angesichts der nach wie vor andauernden Kontroverse600 bewusst auf Aussagen über Wesen und Zweck der Strafe.601 Allerdings betrach593 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97; ROEDER 1965, S. 87; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 5–9; gegenwärtig wird diese Auffassung in Deutschland beispielsweise von VORMBAUM 1997, S. 502 vertreten. 594 Zur österreichischen Strafrechtsreform nach 1945, den Verjährungsregelungen des geltenden Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1974 und deren Entstehungsgeschichte siehe ausführlich Kapitel VI. 595 Die Mitglieder der Kommission waren: Generalprokurator Franz Bulla, Rat des OLG Wien Otto Estl, Univ. Prof. Roland Graßberger (der an den Sitzungen jedoch ab 24. September 1955 nicht mehr teilnahm), Rechtsanwalt Hans Gürtler, Erster Präsident des OGH Franz Handler, Univ. Prof. Max Horrow, Sektionschef Hans Karpfer (später ersetzt durch Sektionsrat Dr. Paul Hausner), NR-Abgeordneter und Staatsanwalt Otto Kranzlmar, NR-Abgeordneter Karl Mark, Univ. Prof. Friedrich Nowakowski, Generalanwalt Franz Pallin, Univ. Prof. Theodor Rittler, Ministerialrat Eugen Serini, Rechtsanwalt Rudolf Skrein, der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Wilhelm Malaniuk, sowie der Leitende Erste Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Wien, Franz Douda, und die NR-Abgeordneten Lujo Toncic-Sorinj, Otto Tschadek und Gustav Zeillinger. An die Stelle der NR-Abgeordneten Kranzlmayer und Toncic-Sorinj traten später die Abgeordneten Christian Broda, Franz Hetzenauer und Theodor Piffl-Percevic. Die Abgeordneten Tschadek und Broda nahmen auch als Bundesminister für Justiz an den Sitzungen teil, übten in dieser Zeit ihr Stimmrecht jedoch nicht aus; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Einleitung, S. 2. 596 Zur Person Kadecˇkas siehe FN 307. 597 Dazu ausführlich in Kapitel II. 598 Die Verjährungsregeln dieser Entwürfe werden ausführlich in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II.6. dargestellt. 599 WIRTH 2011, S. 226f. 600 Zum Schulenstreit siehe ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.4.5. 601 NOWAKOWSKI 1965, S. 13.

Die Verjährung im allgemeinen Strafrecht

135

teten sowohl der damalige Justizminister Christian Broda (SPÖ) als auch Ferdinand Kadecˇka sowie der Legist des Ministerialentwurfs Friedrich Nowakowski602 die Strafe nicht als Mittel der Vergeltung, sondern der Prävention und wollten sie in diesem Sinn einsetzen.603 Dementsprechend begründete Nowakowski den Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch durch die Verjährung damit, dass nach Verstreichen einer gewissen Zeitspanne die Strafe weder durch einen spezial- noch einen generalpräventiven Zweck gerechtfertigt sei. In generalpräventiver Hinsicht ging er davon aus, dass die Erinnerungen an Straftaten mit der Zeit verblassen und der Geltungsanspruch der Rechtsordnung durch lange zurückliegende Taten sozialpsychologisch nicht mehr in Frage gestellt wird. Dieser müsse daher nicht durch Strafe bekräftigt werden. In spezialpräventiver Hinsicht erachtete Nowakowski das Wohlverhalten des Täters/ der Täterin als entscheidend. Gegenüber einem/einer TäterIn, der/die sich lange Zeit nichts zu Schulden kommen habe lassen, sei keine Bestrafung erforderlich.604 Diese Auffassung wurde von anderen Mitgliedern der Kommission geteilt.605 Jedoch begründeten diese das Verjährungsinstitut oft auch mit dem abnehmenden Vergeltungsbedürfnis.606 Neu war keines dieser Argumente. Sie wurden bereits im 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung des Verjährungsinstituts vorgebracht,607 wobei in der Strafrechtswissen-

602 Friedrich Nowakowski (* 1914, † 1987) war maßgeblich an der Formulierung der Ministerialentwürfe 1964, 1966 und des Strafgesetzbuchs 1975 beteiligt. Seine massive Ablehnung der Todesstrafe nennt Eduard Rabofsky eine Konsequenz aus Nowakowskis »ersten Leben«: 1940 Eintritt Nowakowskis in die NSDAP, ab Juni 1942 Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Wien beim Sondergericht Wien, ab 1943 Staatsanwalt in Wiener Neustadt unter Aufrechterhaltung der Dienstzuteilung beim Sondergericht Wien; an zumindest zwei Todesurteilen, nämlich gegen tschechische landwirtschaftliche Hilfsarbeiter wegen Rundfunkvergehen, nachweislich beteiligt; im August 1944 Übersiedlung nach Überlingen am Bodensee, von Mitte 1945 bis 1946 Angestellter der Direction de l’Economie Generale Service des Statistiques et d’Etudes Economiques der Militärregierung in der französischen Besatzungszone, ab Mai 1946 Richter, ab 1949 Staatsanwalt in Innsbruck, 1948 Habilitation, 1952 Ernennung zum Professor und Nachfolger Rittlers als Ordinarius für Strafrecht in Innsbruck, ab 1954 Mitglied der Strafrechtskommission, ab 1960 Konsulent für die Strafrechtsreform im Justizministerium. Nach Kriegsende brach er mit der »Strafrechtsbrutalität« des NS-Staates und soll seine Vergangenheit bereut haben; OBERKOFLER 1997, S. 110f; WIRTH 2011, S. 225f. 603 STANGL 1985, S. 64, 71, 128; WIRTH 2011, S. 230f, 419f. 604 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 5–9; so auch heute: MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, Vorbemerkungen §§ 57–60 StGB Z 3. 605 Vgl. dazu auch GRASSBERGER 1932, S. 86; HORROW 1952, S. 265; RITTLER 1954, S. 373. 606 HORROW 1952, S. 265; MALANIUK 1947, S. 361; in diesem Sinn können auch die Ausführungen von GRASSBERGER 1932, S. 86 und RITTLER 1954, S. 373 interpretiert werden. 607 Siehe dazu beispielsweise BRÄUEL 1954, S. 430f; BINDING 1885, S. 823; HYE 1863, S. 76f; LAMMASCH 1897a, S. 112f, 119; LAMMASCH 1897b, S. 308–327; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.

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schaft auch damals keine Einigkeit über den Zweck der Strafe und den Rechtsgrund der Verjährung bestand.608 Angesichts dieser Divergenzen waren die Erläuternden Bemerkungen zu dem Strafgesetzentwurf 1964 diplomatisch formuliert. Sie führten aus, dass das Strafbedürfnis längere Zeit nach der Tat entfällt. Die Verjährung wurde damit begründet, dass die Strafe als Übel dann nicht verhängt werden sollte, wenn »kein Bedürfnis nach Strafe oder Sicherung« mehr besteht. Dieses Bedürfnis richte sich einerseits danach, wie sehr durch die Tat das Bewusstsein der Rechtssicherheit erschüttert worden sei, andererseits nach der Rückfallwahrscheinlichkeit.609 Für Anhänger aller Strafzweckauffassungen scheint diese Begründung annehmbar gewesen zu sein. Denn unter den Begriff »Bedürfnis nach Strafe und Sicherung« konnten sowohl das Bedürfnis nach Vergeltung als auch nach General- und Spezialprävention subsumiert werden. Unverjährbare Strafverfolgungs- oder Strafvollstreckungsansprüche waren im StGE 1964 ebenso wenig wie im Kommissionsentwurf des Jahres 1962 vorgesehen. Der Verzicht auf unverjährbare Straftaten war von der Strafrechtskommission einstimmig beschlossen worden. Die längste Verjährungsfrist der beiden Entwürfe betrug zwanzig Jahre, weil angenommen wurde, dass spätestens dann die Nachteile der Strafverfolgung und Bestrafung für den/die TäterIn, seine/ihre Angehörigen und auch die Allgemeinheit gegenüber den Vorteilen überwiegen würden.610 In prozessualer Hinsicht sprachen nach einhelliger Auffassung der Kommissionsmitglieder die mit dem Zeitablauf zunehmenden Beweisprobleme für die Verjährung der Strafverfolgungsbefugnis – wie dies ebenfalls schon im 19. Jahrhundert vertreten worden war. Das Verstreichen der Zeit könne einerseits dem/der Beschuldigten die Erbringung eines Entlastungsbeweises erschweren, andererseits der Justiz den Schuldbeweis trotz schwerwiegender Verdachtsgründe unmöglich machen. Dies war unerwünscht, weil angenommen wurde, dass Strafverfahren, die bei lange zurückliegenden Taten mit einem Freispruch enden, das Gefühl der Rechtssicherheit eher erschüttern als bekräftigen. Die Tat werde ins allgemeine Bewusstsein zurückgerufen, bleibe jedoch ungesühnt. Die zwanzigjährige Verjährungsfrist erschien den Kommissionsmitgliedern als Höchstgrenze, um auf Basis von einigermaßen zuverlässigen Beweismitteln ein Strafverfahren durchführen zu können. Auch aus diesem Grund waren im Kom608 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V. 609 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97. 610 §§ 65, 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 4.

Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

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missionsentwurf 1962 und dem darauf basierenden StGE 1964 keine unverjährbaren Straftaten vorgesehen.611 Der Strafgesetzentwurf 1964 war im Begutachtungsverfahren heftiger Kritik ausgesetzt, weil er nicht hart genug erschien und kein Bekenntnis zur Strafe als Mittel der Vergeltung enthielt.612 Der großzügige Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch durch bloßes Verstreichen einer bestimmten Zeitspanne bei allen Delikten wurde jedoch nicht explizit kritisiert.613

3.

Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

3.1.

Kriegsverbrechergesetz

Für die nationalsozialistischen Straftaten galten nach Ende des Zweiten Weltkriegs besondere Verjährungsregeln und -fristen. Diese ergaben sich vor allem aus dem Kriegsverbrechergesetz (KVG).614 Das Kriegsverbrechergesetz (KVG) war ein Ausnahmegesetz, das die juristische Aufarbeitung der NS-Diktatur erleichtern sollte. Es enthielt rückwirkende Strafandrohungen, erfasste aber auch Handlungen, die sich unter Straftatbestände des Strafgesetzes 1852 subsumieren hätten lassen. Diese definierte das KVG durch Tatbestandsmerkmale, die sich auf die NS-Diktatur bezogen.615 Daneben enthielt das KVG auch Tatbestände, die durch die bloße Zugehörigkeit zu einer Personengruppe bestimmt waren. Dem lag die Auffassung zugrunde, dass die Träger gewisser Funktionen im nationalsozialistischen Staat infolge der Gestaltung seiner Normen, seiner Verwaltung und Justiz notwendigerweise unmenschliche Handlungen gegen die der natio611 §§ 65, 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93–100; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 4; Zeillinger, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210f. 612 WIRTH 2011, S. 233f, siehe dazu ausführlich Kapitel VI.2.2.2. 613 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 4. 614 Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz=KVG), StGBl 1945/32; das Kriegsverbrechergesetz wurde mehrfach novelliert und schließlich mit der Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 23. Juli 1947 über die Wiederverlautbarung des Verfassungsgesetzes über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz), BGBl 1947/198 als Kriegsverbrechergesetz 1947 wiederverlautbart; MARSCHALL 1987, S. 8; sämtliche Paragraphenangaben beziehen sich auf das Kriegsverbrechergesetz 1947, sofern nicht ausdrücklich abweichend gekennzeichnet. 615 MARSCHALL 1987, S. 8; GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 12.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

nalsozialistischen Staatsgewalt unterworfenen Bürger setzten– und setzen mussten.616 Die Verurteilung der »Schreibtischtäter«, denen ein individueller Tatbeitrag nur selten nachzuweisen war, sollte dadurch erleichtert werden.617 Sehr oft war im KVG die Todesstrafe obligatorisch oder fakultativ angedroht.618 An die Strafandrohungen des KVG knüpften die Verjährungsfristen des österreichischen Strafgesetzes 1852 an. Die vielen mit der Todesstrafe bedrohten Delikte des KVG waren damit bei dessen Erlassung unverjährbar. Der Ausschluss der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren im Jahr 1950 änderte daran vorerst nichts, weil für die Aburteilung der nach dem KVG strafbaren Handlungen Sondergerichte, nämlich die Volksgerichte,619 zuständig waren.620 Bei Delikten, die in deren Zuständigkeit fielen, galt nämlich die Strafandrohung Todesstrafe und damit die an diese anknüpfende Unverjährbarkeitsregel des § 231 StG noch weiter.621 Das staatlich gestützte Unrecht wurde zwar vom NS-Regime organisiert und unterstützt, war aber auch während der NS-Herrschaft formal strafbar, wenn es einen Tatbestand des Strafgesetzbuches oder eines strafrechtlichen Nebengesetzes erfüllte. Strafrechtlich verfolgt wurde das Systemunrecht während der NS-Zeit naturgemäß nicht. Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) subsumierte die systembedingte Nichtverfolgung unter den Ruhenstatbestand des § 69 dRStGB.622 Dieser lautete: »Die Verjährung ruht während der Zeit, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt 616 617 618 619

MARSCHALL 1987, S. 11f. GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 12. MARSCHALL 1987, S. 8. Die Volksgerichte waren Schöffengerichte, die an den Sitzen der Oberlandesgerichte eingerichtet wurden. Sie bestanden aus zwei Berufsrichtern, von denen einer den Vorsitz führte, und drei Laienrichtern. Die Richter und Staatsanwälte, die an den Volksgerichtsverfahren mitwirkten, mussten politisch »unbelastet« sein, d. h. sie durften nicht in die NS-Strafjustiz involviert gewesen sein. Dies führte zu einem chronischen Personalmangel, da in der Justiz der Anteil an Nationalsozialisten besonders hoch gewesen war. Sachlich zuständig waren die Volksgerichte für die Delikte des VerbotsG und des KVG (§ 24 VerbotsG iVm § 13 Abs. 1 KVG) sowie für Taten, welche nach den allgemeinen Strafgesetzen mit Strafe bedroht waren, sofern der Beschuldigte aus nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen gehandelt hatte, die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen waren, wenn die ihm angelastete Tat mit der Todesstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht war (§ 13 Abs. 2 KVG). Die Volksgerichte entschieden grundsätzlich in erster und letzter Instanz unter Ausschluss der ordentlichen Rechtsmittel (Berufung, Nichtigkeitsbeschwerde), ab 1946 konnte aber eine amtswegige Überprüfung des Urteils durch den OGH angeregt werden. Schauprozesse wurden trotz des Fehlens von Rechtsmitteln nicht geführt; KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 40–43; MARSCHALL 1987, S. 12f; PICHLER 2016, S. 197f, 221f. 620 PICHLER 2016, S. 194, 197f. 621 PICHLER 2016, S. 245. 622 Dazu ausführlich ASHOLT 2016, S. 566–594; ZIMMERMANN 1997, S. 135–173.

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werden kann.« Der BGH nahm an, dass die Hemmung der Verjährung für alle Straftaten, deren Verfolgung in der nationalistischen Zeit unmöglich war, unmittelbar aus § 69 dRStGB abzuleiten sei. Der als Gesetz eingestufte »Führerwille« habe der Strafverfolgung objektiv entgegengestanden und daher ein übergeordnetes Verfahrenshindernis dargestellt.623 In späteren Entscheidungen nahm der Bundesgerichtshof keine unmittelbare, sondern nur eine analoge Anwendung des § 69 dRStGB an. Zuletzt schien er im Jahr 2010 allerdings wieder von einer unmittelbaren Anwendung des § 69 dRStGB auf die systembedingte Nichtverfolgung der NS-Verbrechen auszugehen.624 In der Bundesrepublik Deutschland begannen nach dieser Rechtsprechung die Verjährungsfristen für die im Interesse des NS-Regimes begangenen Straftaten, die während der NS-Herrschaft nicht verfolgt worden waren, erst am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, zu laufen. Dafür war lediglich die Feststellung erforderlich, dass eine Tat »aus der Motivierung der NS-Machthaber mit Bestimmtheit nicht geahndet worden wäre, falls sie damals schon Gegenstand eines Strafverfahrens geworden sein würde«.625 Das österreichische Strafgesetz enthielt keine dem deutschen Recht vergleichbare Ruhensbestimmung, die es ermöglicht hätte, die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bei der Verfolgung von NS-Verbrechen nicht in die Verjährungsfrist einzurechnen.626 Nach dem österreichischen Strafrecht lief daher die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Straftaten auch zwischen den Jahren 1938 und 1945 und damit in einer Zeit, in der die NS-Straftäter keine Strafverfolgung für die im Interesse des NS-Regimes gesetzten Verstöße gegen das Strafgesetz zu befürchten hatten. Vor allem verhältnismäßig leichte Straftaten,627 die im Interesse des NS-Regimes begangen worden waren, waren daher 1945 bereits verjährt und nicht mehr strafrechtlich verfolgbar. 623 BGH 1 StR 299/62, vom 2. 10. 1962, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift 1962, S. 2308f; ZIMMERMANN 1997, S. 81. 624 ASHOLT 2016, S. 569; ZIMMERMANN 1997, S. 81f; in der deutschen Lehre ist diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bis heute umstritten; vgl. beispielsweise ASHOLT 2016, S. 577–594; ZIMMERMANN 1997, S. 135–165, jeweils mit weiteren Literaturhinweisen. 625 BGHSt. 23, S. 137, 140, zitiert nach ASHOLT 2016, S. 568f. 626 Die Aufnahme einer § 69 dRStGB entsprechenden Ruhensvorschrift war allerdings seit langem geplant und eine inhaltsgleiche Bestimmung in allen österreichischen Strafgesetzentwürfen seit dem Jahr 1874 durchgehend enthalten dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V. und in dieser Monographie, Kapitel II. 627 Der Zeitpunkt der Verjährung hängt einerseits von der Höhe der Strafandrohung für das jeweilige Delikt, andererseits von dem Zeitpunkt der Tatbegehung ab. Bei Ende der NSHerrschaft in Österreich waren wohl die meisten Vergehen und Übertretungen, die im Interesse des NS-Regimes begangen worden waren, verjährt, weil die Verjährungsfristen für Vergehen und Übertretungen nur drei Monate bis maximal ein Jahr betrugen. In Betracht kommen dabei etwa »Oeffentliche Beschimpfungen oder Mißhandlungen« (§ 496 StG 1852), Diebstähle, die als Übertretungen behandelt wurden (§ 189 StG 1852), und »boshafte Be-

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Dieses Ergebnis änderte das KVG, indem es anordnete, dass die Verjährung der im KVG angeführten strafbaren Handlungen frühestens mit dem Tag des Inkrafttretens des KVG, dem 29. Juni 1945, zu laufen begann (§ 11 Abs. 1 KVG). Sofern der Täter aus »nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen gehandelt hat, die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen sind«, galt dies auch für Straftaten, die nicht nach dem KVG oder dem Verbotsgesetz (VerbotsG),628 sondern nur nach dem allgemeinen Strafgesetz strafbar waren (§ 11 Abs. 1 KVG).629 Eine nach dem Strafgesetz bereits eingetretene Verjährung stand der Untersuchung und Bestrafung bei diesen Taten nicht entgegen (§ 11 Abs. 2 KVG). Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde damit bei den nationalsozialistischen Straftaten nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet und zwar auch dann nicht, wenn nach dem Strafgesetz bereits Verjährung eingetreten war. Letzteres bedeutete, dass Handlungen, die infolge des Verjährungseintritts bereits straffrei geworden waren, nun wieder strafrechtlich verfolgt werden konnten. Die rückwirkende »Wiederbelebung« des staatlichen Strafanspruchs bei bereits verjährten Taten war in der Strafrechtswissenschaft nicht unumstritten. Als notwendig und gerechtfertigt erachtete diese etwa Wilhelm Malaniuk,630 der die faktische Unmöglichkeit der Strafverfolgung durch den österreichischen Staat während der NS-Herrschaft betonte.631 Theodor Rittler,632 Strafrechtspro-

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schädigungen fremden Eigenthumes« (§ 486 StG 1852). NS-Verbrechen waren dann verjährt, wenn sie unter die fünfjährige Verjährungsfrist fielen und zwischen 1938 und Mai 1940 begangen worden waren. Hier wäre beispielsweise an das Verbrechen des Diebstahls in verschiedenen Formen (vgl. §§ 171–180 StG 1852), an nicht qualifizierte Verleumdungen (§ 209f StG 1852) und sogar vorsätzliche, auch schwere Körperverletzungen (vgl. §§ 152–157 StG 1852) zu denken, sofern diese keine Dauerfolgen nach sich zogen. Das VerbotsG und dessen Verjährungsregeln werden im folgenden Abschnitt (Kapitel IV.3.2.) behandelt. MARSCHALL 1987, S. 9. Wilhelm Malaniuk (* 1906, † 1965): Richter und Staatsanwalt, 1938 aus dem Staatsdienst entlassen, 1940–1945 Kriegsdienst, ab 1945 Vizepräsident des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien, 1947–1950 Mitglied der Rückstellungskommission in Wien, 1949 Präsident des Kreisgerichts Korneuburg, Mitglied der Strafrechtskommission zur Neufassung des Strafgesetzbuches, 1955 Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, 1959 Präsident des Österreichischen Juristentags, ab 1959 Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtsho fes, ab 1963 Präsident des OLG Wien; HELLER 2010, S. 643. MALANIUK 1947, S. 47; MALANIUK 1949, S. 25, 144. Theodor Rittler (* 1876, † 1967): ab 1912 ordentlicher Professor für Strafrecht an der Universität Innsbruck, mehrfache Tätigkeit als Rektor und Dekan, Mitwirkung an den österreichischen Strafgesetzesentwürfen 1909 und 1912, 1952 Emeritierung, ab 1954 stellvertretender Vorsitzender der neu eingesetzten Strafrechtskommission. Seine Funktion als Dekan legte er nach der Machtergreifung durch die NSDAP zurück, weshalb ihm die Nationalsozialisten mit Skepsis begegneten. Nach Ende des Kriegs lehnte Rittler mehrfach Maßnahmen ab, die der Ahndung der NS-Verbrechen dienten, begründete seine Vorbehalte aber rechts-

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fessor an der Universität Wien, lehnte es dagegen ab, einen erloschenen Strafanspruch »wiederaufleben« zu lassen.633 Die Frage nach der Zulässigkeit eines rückwirkenden Verjährungsausschlusses wurde jedoch durch die Tatsache überlagert, dass das KVG auch Handlungen unter Strafe stellte, die bei der Begehung erlaubt waren. Im Vordergrund stand daher die Debatte über die Zulässigkeit einer rückwirkenden Strafgesetzgebung an sich.634 Dazu soll lediglich aus rechtstheoretischer Sicht konstatiert werden, dass es zum Zeitpunkt der Entstehung des KVG und während der ganzen Zeit seiner Geltung keine gleich- oder höherrangige Rechtsnorm gab, die die Erlassung rückwirkender Strafbestimmungen verboten hätte. Das KVG wurde in Österreich nämlich als Verfassungsgesetz beschlossen, das strafrechtliche Rückwirkungsverbot war dagegen nur einfachgesetzlich635 normiert.636 Erst mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Jahr 1958 erlangte es Verfassungsrang.637 Bestand damals aber die Möglichkeit, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen, musste es (argumentum a maiore ad minus) auch möglich sein, die Verjährungsfristen für bei der Begehung strafbare Handlungen nachträglich zu verlängern und sogar eine bereits eingetretene Verjährung wieder auszuschließen.

3.2.

Verbotsgesetz

Diese Überlegungen gelten auch für das Verbotsgesetz, das ebenfalls rückwirkende Strafbestimmungen enthielt und als Verfassungsgesetz beschlossen wurde. Das mehrfach novellierte und in Teilen bis heute geltende Verbotsgesetz638 statuierte Entnazifizierungsmaßnahmen wie etwa Registrierungspflichten und die Verpflichtung zur Leistung von Sühneabgaben. Daneben stellte das Ver-

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theoretisch, nicht ideologisch; KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 44, 57f; LINDNER 1957, S. 7– 9; PICHLER 2016, S. 149f. Schreiben von Theodor Rittler an Ch. Broda v. 1. 3. 1965, in: ACB, Mappe III. 295.10, fol. 18. Dazu ausführlich KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 53–59. Art. 9 Kundmachungspatent zum Strafgesetzbuch, RGBl 1852/117. PICHLER 2016, S. 144. Die Wirkung der EMRK war in Österreich zunächst umstritten, vom österreichischen Gesetzgeber wurde ihr jedoch im März 1964 rückwirkend Verfassungsrang eingeräumt; BERKA 2018, S. 407f. Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), StGBl 1945/ 13; nach mehreren Novellen und weiteren Änderungen durch das Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten (Nationalsozialistengesetz), BGBl 1947/25, wurde das Verbotsgesetz in Verbotsgesetz 1947 umbenannt; MARSCHALL 1987, S. 6; sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet, beziehen sich die Paragraphenverweise des folgenden Abschnittes auf das Verbotsgesetz 1947.

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botsgesetz die Betätigung für die »illegale« NSDAP zwischen 1933 und 1938,639 die Betätigung für die nunmehr verbotene NSDAP (»Wiederbetätigung«) sowie Falschangaben bei der Registrierung bzw. eine Unterlassung derselben unter Strafe.640 Zur Aburteilung der nach dem Verbotsgesetz strafbaren Handlungen wurden eigene Sondergerichte, die Volksgerichte, eingerichtet (§ 24 VerbotsG). Das Verbotsgesetz bestimmte, dass die illegale Betätigung für die NSDAP sowie die Mitgliedschaft in der NSDAP, in einem Wehrverband der NSDAP (SA, SS, NSKK, NSFK), dem NS-Soldatenring oder dem NS-Offiziersbund sowie die Anerkennung als »Altparteigenosse« oder »Alter Kämpfer« durch die NSDAP zwischen dem Tag der Wirksamkeit des Verbots der NSDAP in Österreich durch das Dollfuß-Regime am 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938, also dem Tag des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich, als Hochverrat im Sinne von § 58 StG 1852 mit einer Strafe von fünf bis zehn Jahren schwerem Kerker zu belegen war (§ 10 Abs. 1 VerbotsG). Strafrechtlich verfolgt wurde die illegale Betätigung allerdings nur dann, wenn nach Ansicht der österreichischen Bundesregierung (bis November 1945 nach Ansicht der Provisorischen Staatsregierung) hochverräterische Umtriebe zunahmen, außerdem wenn sich der Täter nach dem Inkrafttreten des Verbotsgesetzes in seiner ursprünglichen Fassung für die NSDAP oder für eine ihrer Teilorganisationen irgendwie betätigt hatte oder wenn er nach dem Inkrafttreten des VerbotsG, das heißt nach dem 6. Juni 1945, neuerlich bestimmte Delikte beging (§ 10 Abs. 2 VerbotsG).641 Dieser bedingte Strafaufschub des § 10 Abs. 2 VerbotsG fiel bei der schwerer bestraften qualifizierten »Illegalität« (§ 11 VerbotsG) weg. Eines solchen Verbrechens hatten sich »Illegale« dann schuldig gemacht, wenn sie »Politische Leiter« vom Ortsgruppenleiter oder Gleichgestellten aufwärts gewesen waren oder sie mit dem Rang vom Untersturmführer oder Gleichgestellten aufwärts einem der Wehrverbände oder einer anderen Gliederung angehört hatten. Außerdem waren nach dieser Bestimmung »Blutordensträger« und Träger anderer Parteiauszeichnungen sowie »Illegale«, die im Zusammenhang mit ihrer NSBetätigung besonders unmenschliche Handlungen begangen hatten, zu bestrafen. Als Strafe für die qualifizierte Illegalität nach § 11 VerbotsG war schwerer Kerker von zehn bis zwanzig Jahre und der Verfall des gesamten Vermögens angedroht.642 Diese Strafandrohung galt nach § 12 VerbotsG gleichermaßen für 639 Nach dem Republikanische Schutzbund und der KPÖ wurde der NSDAP nach einer Reihe von Terroranschlägen die Betätigung im österreichischen Ständestaat im Juni 1933 verboten; PICHLER 2016, S. 79f. 640 MARSCHALL 1987, S. 6–8; PICHLER 2016, S. 141. 641 KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 37; PICHLER 2016, S. 128. 642 Mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 18. Juli 1956, womit Gruppen ehemaliger Nationalsozialisten in Ansehung der Strafe des Vermögensverfalls amnestiert werden (Vermögensverfallsamnestie), wurde die Nebenstrafe des Vermögensverfalls eingeschränkt. Bei den

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Personen, die die nationalsozialistische Bewegung auf bestimmte Weise finanziell unterstützt hatten, auch wenn diese selbst keine Mitglieder der NSDAP gewesen waren.643 Die illegale Betätigung für die NSDAP war im österreichischen »Ständestaat« ab dem Wirksamwerden des Betätigungsverbotes am 1. Juli des Jahres 1933 ebenfalls strafbar gewesen, allerdings nur als Verwaltungsübertretung, die mit einer Geldstrafe von bis zu 2.000 Schilling und/oder mit Arrest von bis zu 6 Monaten bedroht war.644 Wenn die Betätigung auf den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich gerichtet war, so konnte sie freilich auch den Tatbestand des Hochverrates (Unternehmung einer Handlung, die auf die gewaltsame Veränderung der Regierungsform gerichtet ist, § 58 StGB 1852) erfüllen, allerdings nur in Verbindung mit einem entsprechenden eben darauf gerichteten Vorsatz.645 Das Verbotsgesetz betrachtete nun schon die Betätigung für die NSDAP während der Zeit ihres Verbotes als Hochverrat, ohne dass eine entsprechende hochverräterische Absicht nachgewiesen werden musste. Folglich qualifizierte das Verbotsgesetz Verhaltensweisen als Hochverrat, die bei ihrer Begehung nicht als Hochverrat strafbar waren, und enthielt damit quasi rückwirkende Straftatbestände.646 Sowohl die illegale Betätigung (§ 10 VerbotsG) als auch die qualifizierte illegale Betätigung (§ 11 VerbotsG) und der »wirtschaftliche Hochverrat« (§ 12 VerbotsG) unterlagen aufgrund der Höhe der jeweiligen Strafandrohung der zehnjährigen Verjährungsfrist647 des § 228 Strafgesetz 1852.648 Kraft ausdrückli-

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strafbaren Handlungen bzw. Funktionen in der NSDAP Organisation, die die Strafbarkeit nach dem § 11 VerbotsG begründeten, war der Vermögensverfall nur mehr dann vorgesehen, wenn der Betroffene politischer Leiter vom Gauleiter (oder gleichgestellt) aufwärts gewesen war oder in einem Wehrverband zumindest den Rang eines Oberführers (oder gleichgestellt) innegehabt hatte. Bei den strafbaren Handlungen des § 12 VerbotsG wurde der Vermögensverfall überhaupt ausgeschlossen (§ 1 leg cit). War das Vermögen bereits für verfallen erklärt und eingezogen worden, so hatten jene Personen, welche unter § 1 der Vermögensverfallsamnestie fielen, Anspruch auf Rückerstattung (§ 2 leg cit); PICHLER 2016, S. 251. KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 37; PICHLER 2016, S. 168f. § 2 Verordnung der Bundesregierung vom 19. Juni 1933, womit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) und dem Steirischen Heimatschutz (Führung Kammerhofer) jede Betätigung in Österreich verboten wird, BGBl 1933/24, S. 569. PICHLER 2016, S. 88, 143. KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 37, 53; PICHLER 2016, S. 143, der sich auch umfassend mit dem juristischen Diskurs zu den »Illegalitätstatbeständen« auseinandersetzt, siehe dazu PICHLER 2016, S. 173–176. Dies trotz unterschiedlicher Strafandrohungen. »Die Zeit der Verjährung wird a) für Verbrechen, worauf lebenslange Kerkerstrafe gesetzt ist, auf zwanzig Jahre; b) bei solchen Verbrechen, die nach dem Gesetze mit einer Strafe von zehn bis zwanzig Jahren belegt werden sollten, auf zehn Jahre; für alle übrigen Verbrechen auf fünf Jahre bestimmt. (§ 228 StG 1852)«. Wo im Gesetz ein gleitender Strafsatz vorgesehen war, richtete sich die Verjährung nach dem höheren Satz; HORROW 1952, S. 279f.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

cher verfassungsgesetzlicher Anordnung begann die Verjährung für die im Verbotsgesetz unter Strafe gestellten Handlungen frühestens mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Verbotsgesetzes, nämlich dem 6. Juni 1945, zu laufen (§ 16 VerbotsG). Die nach dem Verbotsgesetz strafbaren Handlungen verjährten damit am 6. Juni des Jahres 1955, sofern sie während der NS-Herrschaft gesetzt worden waren. Anders als das Kriegsverbrechergesetz normierte das VerbotsG nicht ausdrücklich, dass eine nach den Regeln des Strafgesetz 1852 bereits eingetretene Verjährung der Verfolgung dieser Taten nicht entgegenstand. Allerdings scheint dies der eindeutige Wille des Gesetzgebers gewesen zu sein, der im Übrigen auch aus dem Gesetzeswortlaut abgeleitet werden kann. Andernfalls wären alle zwischen 1. Juli 1933 und 5. Juni 1935 gesetzten hochverräterischen Handlungen iS des VerbotsG bei Inkrafttreten des VerbotsG am 6. Juni 1945 bereits verjährt gewesen.

3.3.

Schlussstrich Verjährung: Die Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes 1957

Das gesetzgeberische Engagement zur Aburteilung der nationalsozialistischen Makrokriminalität war in Österreich von kurzer Dauer. Schon ab dem Jahr 1948 kam es zu immer weitreichenderen Amnestieregelungen für die ehemaligen Nationalsozialisten.649 Bei den Nationalratswahlen im Jahr 1949 waren die »Minderbelasteten« und damit der größte Teil der ehemaligen Mitglieder der NSDAP (rund 540.000 registrierte Nationalsozialisten)650 erstmals wieder wahlberechtigt. Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von damals ca. sieben Millionen bildeten die »Ehemaligen« und ihre Familienangehörigen eine große und wichtige Wählergruppe, um die sich alle politischen Parteien bemühten.651 Nach dem Abzug der Alliierten wurden die Volksgerichte noch im Jahr 1955 abgeschafft und deren Zuständigkeiten auf die ordentlichen Gerichte, insbesondere Geschworenengerichte, übertragen.652 Im ordentlichen Verfahren war die Todesstrafe im Jahr 1950 aufgehoben und durch die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers ersetzt worden.653 Nun trat bei den nach dem KVG strafbaren Handlungen anstelle der Strafandrohung Todesstrafe die Strafandrohung des 649 Dazu ausführlich PICHLER 2016, S. 133–139. 650 Rund 700.000 Österreicher hatten der NSDAP angehört, davon wurden nach 1945 ca. 540.000 registriert, http://de.doew.braintrust.at/m28sm129.html (abgerufen am 24. 6. 2020). 651 REITER 2019, S. 24, 107. 652 GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 22. 653 Bundesgesetz vom 21. Juni 1950, womit die im ordentlichen Verfahren vor den Strafgerichten angedrohte Todesstrafe durch die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers ersetzt wird, BGBl 1950/130.

Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

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lebenslangen schweren Kerkers.654 Dadurch wurden jetzt auch die Delikte, die von diesem Gesetz mit der Todesstrafe bedroht worden waren, verjährbar. Die mit lebenslangem schwerem Kerker bedrohten strafbaren Handlungen fielen unter die zwanzigjährige Verjährungsfrist. Nach der Sondervorschrift des § 11 Abs. 1 KVG begannen die Verjährungsfristen für die im Interesse des NS-Regimes begangenen Straftaten allerdings erst am 29. Juni 1945 zu laufen. Deren Verjährung wäre spätestens am 29. Juni 1965 eingetreten. Bei der Abschaffung der Volksgerichte war damit ein Ende der NS-Prozesse bereits absehbar. Die besonderen Strafandrohungen und Verjährungsregeln für die NS-Straftaten entfielen allerdings schon im Jahr 1957, denn mit der NS-Amnestie 1957655 endete die Entnazifizierung formell. Einerseits wurden die Registrierungspflichten und Sühnefolgen abgeschafft, andererseits die strafrechtlichen Sondergesetze zur Ahndung der nationalsozialistischen Straftaten größtenteils aufgehoben. Nur die Wiederbetätigungstatbestände des Verbotsgesetzes blieben in Geltung. Ein Strafverfahren wegen der Delikte der §§ 10–12 VerbotsG war dagegen nicht mehr einzuleiten. Bereits eingeleitete Strafverfahren waren einzustellen. Die reguläre Verjährungsfrist für die während der NS-Herrschaft gesetzten Verstöße gegen das VerbotsG (§§ 10–12) hatte aber ohnehin bereits am 6. Juni 1955 geendet.656 Bereits damit waren die nach dem VerbotsG strafbaren Handlungen überwiegend nicht mehr verfolgbar. Auswirkungen hatte die NSAmnestie aber auf die Fälle, in denen durch eine gerichtliche Verfolgungshandlung die Verjährung zwischenzeitlich unterbrochen worden war, weil mit der Unterbrechung die Verjährungsfrist neu zu laufen begonnen hatte. Nun waren auch diese Verfahren einzustellen.657 In gewissen bereits abgeurteilten Fällen wurde mit der NS-Amnestie auch eine Strafnachsicht erteilt oder ausgesprochen, dass die Verurteilung getilgt sei.658 Im Gegensatz zu dem Verbotsgesetz, dessen Wiederbetätigungstatbestände bis heute gelten, wurde das Kriegsverbrechergesetz durch die NS-Amnestie zur Gänze aufgehoben. Nur soweit die im KVG unter Strafe gestellten Handlungen auch unter andere strafgesetzliche Vorschriften fielen, waren sie weiter zu verfolgen. Dahinter stand einerseits die Erwägung, dass die meisten unter dieses Gesetz fallenden Verbrechen bereits abgeurteilt oder zumindest gerichtsanhängig gemacht worden seien.659 Andererseits sprachen sich alle politischen Parteien 654 KURETSIDIS-HAIDER 2006b, S. 61; PICHLER 2016, S. 245. 655 Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957, womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl 1947/25, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957), BGBl 1957/82. 656 Siehe dazu Kapitel IV.3.2. 657 Vgl. dazu etwa AB 217 BlgNR 8. GP; StenProtNR, 8. GP 28. Sitzung v. 14. 3. 1957, S. 1240–1290. 658 MARSCHALL 1987, S. 15f; PICHLER 2016, S. 138f. 659 WIRTH 2011, S. 281.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

für die rasche Wiedereingliederung der einfachen »Mitläufer« in die österreichische Gesellschaft aus.660 Mit der Aufhebung des KVG verringerte sich die Zahl der nationalsozialistischen Straftaten, für die infolge der Höhe der Strafandrohung eine zwanzigjährige Verjährungsfrist galt und die zu diesem Zeitpunkt noch verfolgt werden konnten, erheblich.661 Nach dem KVG strafbare Handlungen, die auch unter Tatbestände des StG 1852 subsumiert werden konnten, waren wegen der geringeren Strafandrohungen des StG und der daran anknüpfenden kürzeren Verjährungsfristen vielfach bereits verjährt. So waren beispielsweise die logistischen und organisatorischen Vorbereitungshandlungen zum Massenmord auch nach dem StG 1852 strafbar, in der Regel aber nur als entfernte Beihilfe zum Mord (§ 137 StG). Für die entfernte Beihilfe zum Mord galt eine Verjährungsfrist von zehn Jahren. Diese Frist war 1957 für alle entsprechenden Beihilfehandlungen während der NS-Herrschaft bereits abgelaufen. Die nationalsozialistischen »Schreibtischmörder« waren damit ab der Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes vor einer Strafverfolgung weitgehend geschützt. Schließlich hatte die Aufhebung des KVG auch Auswirkungen auf die Verfolgbarkeit der nationalsozialistischen Straftaten, die unter die längste, das heißt die zwanzigjährige, Verjährungsfrist fielen. Denn mit dem Wegfall der Sonderbestimmung des § 11 Abs. 1 KVG begann die Verjährung nun auch für die nationalsozialistischen Straftaten mit dem Zeitpunkt der Tatbegehung zu laufen.662 Folglich verkürzte sich der Zeitraum, in dem noch eine Strafverfolgung möglich war, auch bei diesen Taten und die Strafbarkeit der schwersten NSVerbrechen endete, abhängig vom Zeitpunkt ihrer Begehung, in Österreich bereits ab 1958 nach und nach. Eine öffentliche oder politische Debatte löste die langsame Verjährung der NS-Verbrechen damals noch nicht aus.

660 KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 333; WIRTH 2011, S. 279–281; am konsequentesten zwischen den »belasteten« und »minderbelasteten« Tätern unterschied die KPÖ. Während sie sich um die Stimmen der »Mitläufer« bemühte, forderte sie eine strenge Bestrafung für die »großen Nazis«. Ihre Abgeordneten stimmten beispielsweise gegen die Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes und die Abschaffung der Volksgerichte; MUGRAUER 2020, S. 228; REITER 2019, S. 21. 661 Die beiden übrigen Verjährungsfristen des § 228 StG betrugen fünf und zehn Jahre. Diese waren für alle während der NS-Herrschaft begangenen Straftaten bereits abgelaufen. 662 KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 348.

Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

3.4.

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Der Verjährungsaufschub 1963: Ein verschobenes Problem

Ab den späten 1950er-Jahren wurde den österreichischen Strafverfolgungsbehörden neues ausländisches Aktenmaterial zugänglich, und auch aus den im Inland und Ausland durchgeführten NS-Verfahren ergaben sich neue Verdachtsmomente, die für die österreichischen Kriegsverbrecherprozesse ebenfalls von Bedeutung waren. Die noch bei der Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes 1957 vertretene Überlegung, dass ohnehin gegen die meisten NS-Straftäter eine Strafverfolgung eingeleitet worden wäre, erwies sich nun als unhaltbare Fehleinschätzung.663 Infolge des Wegfalls der besonderen Verjährungsregel des § 11 KVG, nach der die Zeit der NS-Herrschaft bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Straftaten nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet wurde, endete die Möglichkeit der österreichischen Strafjustiz zur Verfolgung der NS-Verbrechen jedoch bereits langsam, denn auch die längste Verjährungsfrist von zwanzig Jahren lief für die nationalsozialistischen Straftaten zwischen 1958 und 1965 ab. Deshalb wurde befürchtet, dass die Verjährung eine Aufklärung zahlreicher großer Verbrechenskomplexe verhindern werde.664 Dazu kam die Überlegung, dass dieser Umstand von verdächtigen Personen, insbesondere aus Deutschland, durch eine Flucht nach Österreich ausgenützt werden könnte, weil nach dem deutschen Strafrecht die Zeit der NS-Herrschaft, von 1933 bis 1945, bei der Verfolgung von NS-Verbrechen nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet wurde. Die Republik Österreich wollte sich jedoch international nicht dem Verdacht aussetzen, NS-Straftäter bei der Flucht vor Strafe zu unterstützen.665 Das Parlament beschloss daher 1963, den Verjährungsbeginn auf den 29. Juni 1945666 zu verlegen, »sofern es sich um Straftaten nach dem Kriegsverbrechergesetz oder dem Verbotsgesetz handelte oder der Täter aus nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen handelte, die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen waren.«667 Von dieser Regel waren allerdings nur noch nicht verjährte Straftaten erfasst, weil bei bereits verjährten Taten der Täter einen Anspruch auf Straffreiheit erworben habe.668 Eine Rückwirkungs-

663 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 3; WIRTH 2011, S. 281f. 664 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 3; Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 4 und fol. 8–10. 665 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 2. 666 Den Tag des Inkrafttretens des Kriegsverbrechergesetzes. 667 Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren, BGBl 1963/180. 668 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 3, diese Frage wurde bis dahin in der österreichischen Strafrechtswissenschaft kaum thematisiert, ablehnend aber LAMMASCH 1897a, S. 113, später auch Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 1–6, a. A.

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klausel für bereits verjährte Taten iSv § 11 Abs. 2 KVG669 wurde unter den »geordneten Verhältnissen der Gegenwart und der bereits eingetretenen innenpolitischen Befriedung« für nicht mehr vertretbar gehalten.670 Daher war die 1963 beschlossene Verjährungshemmung nur für Straftaten relevant, für die eine zwanzigjährige Verjährungsfrist galt. Dies war vor allem bei Mord (nach § 134 StG und § 211 dRStGB) und Totschlag (nach § 212 dRStGB) der Fall. Straftaten mit geringerer Strafandrohung und daran anknüpfender kürzerer Verjährungsfrist (beispielsweise auch »Schreibtischmord« iSv § 137 StG 1852, Mordtaten Jugendlicher oder Körperverletzung mit Todesfolge) waren bei Inkrafttreten des Bundesgesetzes zur Verlängerung von Verjährungsfristen am 10. Juli 1963 bereits verjährt und daher von der Verschiebung des Verjährungsbeginns nicht betroffen. Bereits verjährt und damit von der Regelungsänderung nicht umfasst waren aber auch vorsätzliche Tötungshandlungen, die vor dem 10. Juli 1943 begangen worden waren. Die geringe Reichweite des Gesetzes war auch politisch bedingt. Sein Zustandekommen hatte sich als langwierig und mühsam erwiesen. Da die ÖVP eine Fristverlängerung als unnötig erachtete, wies der Ministerrat den Gesetzentwurf von Justizminister Broda (SPÖ) mehrfach zurück.671 Der ÖVP-Abgeordnete und spätere Unterrichtsminister Theodor Pfiffl äußerte im Rechtsausschuss Bedenken aus »christlicher Sicht«, weil mit der Verlängerung der Verfolgungsdauer das Racheprinzip anstelle des Sühneprinzips und des Gedankens der Besserung des Täters gestellt werde.672 Dem Wunsch ihrer Abgeordneten entsprechend, regte die ÖVP-Fraktion eine geheime Abstimmung im Nationalrat an. Der Koalitionspartner, die SPÖ, lehnte dies ab. Den Sorgen der ÖVP trug man jedoch insofern Rechnung, als klargestellt wurde, dass berechtigte Furcht vor den drohenden Folgen eines Widerstands keine Willfährigkeit sei und strafausschließend wirken werde.673 In einer Aussprache sicherte der ÖVP-Klubobmann Felix

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Theodor Rittler; Schreiben von Theodor Rittler an Christian Broda v. 1. 3. 1965, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 18. Nach dem Kriegsverbrechergesetz, BGBl 1947/198, begann die Verjährungsfrist frühestens mit dem 29. Juni 1945 (§ 11 Abs. 1 KVG, Zeitpunkt des Inkrafttretens des KVG) zu laufen. Eine nach dem Strafgesetz schon eingetretene Verjährung stand der Verfolgung und Aburteilung nicht entgegen (§ 11 Abs. 2 KVG), siehe dazu Kapitel IV.3.1. ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 3. Information über die Entstehungsgeschichte des Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren, BGBl 1963/180, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 48; Informationen und Unterlagen, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 2; Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 10. StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1122. AB 210 BlgNR 10. GP (5. 7. 1963), S. 1; StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1122.

Die besonderen Verjährungsregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

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Hurdes674 schließlich zu, dass die ÖVP auf eine geheime Abstimmung verzichten werde.675 Innerhalb der ÖVP-Fraktion gab es jedoch großen Widerstand gegen diese Vereinbarung. In der Nacht vor der Abstimmung kam es laut Medienberichten zu heftigen Auseinandersetzungen im ÖVP-Parlamentsklub. Eine Gruppe Abgeordneter hielt am Wunsch nach einer geheimen Abstimmung fest. Hurdes lehnte dies ab, denn die Sozialisten würden dies »als Bruch des Koalitionsabkommens« ansehen. Eine geheime Abstimmung hätte mit einem von 25 Abgeordneten unterzeichneten Antrag erreicht werden können. Entgegen der Klubvorgabe bereitete eine Gruppe ÖVP-Abgeordneter noch am Tag der Plenarsitzung einen entsprechenden Antrag auf geheime Abstimmung vor. Presseberichten zufolge soll Hurdes jedoch die Übergabe des Antrags an den Parlamentspräsidenten verhindert und die kritischen ÖVP-Abgeordneten zur Annahme des Gesetzes geradezu gezwungen haben.676 Angesichts dieser Uneinigkeiten erscheint kaum erstaunlich, dass von ÖVP-Seite keine einzige Wortmeldung zu diesem innerparteilich so umstrittenen Gesetz erfolgte.677 Justizminister Broda (SPÖ) wollte verhindern, dass die Verjährung die Verfolgung von »Vorfällen, welche noch in den letzten beiden Kriegsjahren […] zu so furchtbarer Verbrechen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen geführt haben, zu solchen Massakern wie die Häftlingserschiessung in der Strafanstalt Stein im April 1945 und die Judenerschiessung im Engerauer Todesmarsch« unmöglich machen würde.678 Er verteidigte seinen Gesetzentwurf im Ministerrat, dem Justizausschuss und zuletzt im Nationalrat unter Schilderung von grausamen Blutverbrechen aus den anhängigen Verfahren, die zwi-

674 Felix Hurdes (* 1901, † 1974): Rechtsanwalt, Politiker und Mitbegründer der ÖVP, 1935/1936 Gemeinderat in Klagenfurt für die Vaterländischen Front, 1936–1938 Landesrat für Schulen und Bauten in Kärnten, 1938 Verhaftung und Deportation ins KZ Dachau, 1939 Freilassung, Rechtskonsulent für eine Baufirma, ab 1940 Engagement im Widerstand, 1944 erneute Verhaftung und Anhaltung im KZ Mauthausen, Mitbegründer der ÖVP, 1945–1951 Generalsekretär, 1945 bis 1952 BM für Unterricht, 1945–1966 Abgeordneter zum Nationalrat, 1953–1959 Erster Präsident des Nationalrates, 1962–1966 Klubobmann der ÖVP, parteiintern wurde Hurdes für seine Nachgiebigkeit gegenüber der SPÖ kritisiert; auf: https:// www.oecv.at/Biolex/Detail/12400387 (abgerufen am 5. 9. 2019). 675 Arbeiter-Zeitung, Parlament: VP-Rebellion gegen Verjährungsfristen-Gesetz gescheitert, 11. 7. 1963, S. 2. 676 Salzburger Nachrichten, Hurdes treibt ÖVP in die Isolierung, 11. 7. 1963, S. 2; ArbeiterZeitung, Parlament: VP-Rebellion gegen Verjährungsfristen-Gesetz gescheitert, 11. 7. 1963, S. 2. 677 StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963; die Ursachen für die Ablehnung dieses Gesetzentwurfes sind mangels verfügbarer Quellen nicht feststellbar. 678 Unterlagen v. Ch. Broda zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Verlängerung von Verjährungsfristen, in: ACB, Mappe III.137.8; Unterlagen v. Ch. Broda zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Verlängerung von Verjährungsfristen, in: ACB, Mappe III.137.10.

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schen 1943 und 1945 begangen worden waren:679 »Im Sommer 1944 wurden zehn Häftlinge nur deshalb erhängt, weil sie wegen Krankheit nicht arbeiten konnten. Im Herbst 1944 wurde ein Häftling, der wegen eines geringfügigen Verstoßes gegen die Lagerordnung zunächst 100 Kniebeugen hatte machen müssen, durch einen Tritt in das Genick ermordet. Im Oktober 1944 wurde einem Häftling, der physisch nicht in der Lage war, eine überaus schwere Arbeit zu leisten, der Kopf zertreten. Im November 1944 wurden zwei Häftlinge unter der Beschuldigung, Nahrungsmittel geschmuggelt zu haben, mit einer Keule erschlagen. Mitte März 1945 wurde ein Mann, der ein ihm gehörendes Taschentuch bei der Einlieferung nicht abgeliefert hatte, deswegen mit einem Stock erschlagen. Im August 1943 wurden durch zwei SS-Leute 14 jüdische Häftlinge, die an einem Wassergraben arbeiteten, in den Schlamm gestoßen und ertränkt. Im Herbst 1944 wurden Häftlinge gezwungen, mit anderen Häftlingen um ihr Leben zu kämpfen. Anfangs 1945 wurden alliierte kriegsgefangene Soldaten, die sich geweigert hatten, Panzergräben auszuheben, erschossen.«680 Auf dieser Schilderung aufbauend appellierte Broda an das Verantwortungsbewusstsein der Abgeordneten und Minister, die darüber entscheiden können, »ob furchtbare Blutverbrechen, deren Täter neu entdeckt werden, noch verfolgt werden können oder ungesühnt bleiben sollen.«681 Allerdings räumte auch er ein, dass die lange Zeitspanne, die seit der Tatbegehung vergangen war, die Strafverfolgung erschwere. »Niemand trägt schwerer als die Justizverwaltung, vor allem die Anklagebehörden, aber natürlich auch alle Richter, […] daran, daß […] dem Gericht Tatbestände zur Überprüfung vorgelegt werden, die fast zwanzig Jahre zurückliegen.«682 Auf die Schwierigkeiten der Strafverfolgung viele Jahre nach der Begehung der Taten verwies auch die oppositionelle FPÖ, die die Verlegung des Verjährungsbeginns entschieden ablehnte – dies vor allem mit der Begründung, dass die Beschränkung auf nationalsozialistische Straftaten eine willkürliche Ungleichbehandlung und einen schweren Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 7 BVG darstelle, weil unter Bezugnahme auf eine besondere Weltanschauung und eine politische Einstellung eine Gruppe von Tätern anders behandelt werde.683 679 1. Ministerratsvortrag v. Christian Broda zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Verlängerung von Verjährungsfristen vom 28. 2. 1963, in: ACB, Mappe III.137.1; StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1127. 680 StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1127. 681 Christian Broda, zitiert nach WIRTH 2011, S. 284. 682 StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1126. 683 StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1121, 1122; nach Auffassung der FPÖ verletzte das Gesetz auch die verfassungsrechtlich gewährleistete Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Position scheint auf den Universitätsprofessor und FPÖ-Abgeordneten Helfried Pfeifer zurückzugehen, der selbst Mitglied der NSDAP gewesen war. Da diese Rechtsauffassung nicht weiter begründet wurde und kaum nachvollziehbar erscheint, soll

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Dem Gesetz lag freilich eine andere Auffassung zugrunde: Es sollte keine Ungleichheit geschaffen, sondern vielmehr Gleichheit hergestellt werden. Denn die Verjährungsfristen für die NS-Verbrechen liefen auch während der NS-Herrschaft und damit in einer Zeit in der die Systemtäter keine Strafverfolgung zu befürchten hatten.684 Darin sah auch der OGH eine Begünstigung der NS-Mörder gegenüber allen anderen Mördern, die das Bundesgesetz vom 10. Juli 1963 über die Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren beseitigte.685 Von der österreichischen Bevölkerung wurde das Gesetz kaum wahrgenommen.686 In der Praxis erwies es sich als wenig effektiv. Durch die Beschränkung auf schwerste Straftaten, die zwischen Juli 1943 und 1945 aus nationalsozialistischer Gesinnung oder Willfährigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus begangen worden waren, wurde den Strafverfolgungsbehörden eine zusätzliche Beweislast auferlegt. Bis Ende des Jahres 1964 war dem Bundesministerium für Justiz kein Fall bekannt, in dem das Bundesgesetz über die Verlängerung von Verjährungsfristen eine Rolle gespielt hätte.687 Entgegen den Intentionen der Regierungsparteien war das Verjährungsproblem damit freilich auch nicht gelöst, sondern nur verschoben.

4.

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

4.1.

Außenpolitischer Hintergrund

In der Bundesrepublik Deutschland galt für den Totschlag eine Verjährungsfrist von fünfzehn Jahren. Als im Jahr 1960 die Verjährung dieser NS-Verbrechen bevorstand, stellte die SPD einen Antrag im Bundestag, mit dem die Verjährung abgewendet werden sollte. Der Entwurf für das sogenannte Berechnungsgesetz sah vor, die Verjährung der nationalsozialistischen Verbrechen nicht mit dem Kriegsende, sondern erst mit der Wahl des ersten Kanzlers der Bundesrepublik

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darauf nicht besonders eingegangen werden; PFEIFER 1963, S. 2; Information für BM Broda zu dem Artikel »Verjährungsfristen« von Univ. Prof. Pfeifer, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 5–7. ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 6. 1963), S. 2; 1. Ministerratsvortrag v. Christian Broda zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Verlängerung von Verjährungsfristen vom 28. 2. 1963, in: ACB, Mappe III.137.1, fol. 3–5; Information und Unterlagen, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 5–7. Gutachten OGH vom 14. 6. 1963; Information über die Entstehungsgeschichte des Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren, BGBl 1963/180, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 48; Informationen und Unterlagen, in: ACB, Mappe III.137.3, fol. 2; StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 7. 1963, S. 1122. GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2012, S. 241. Undatierter Bericht an den Minister zum persönlichen Gebrauch, in: ACB, Mappe III.137.5.

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Deutschland am 15. September 1949 beginnen zu lassen. Denn erst mit der Amtsaufnahme der Bundesregierung, so lautete die Begründung, sei der Stillstand der Rechtspflege in vollem Umfang überwunden gewesen.688 Dieser Antrag wurde allerdings mit großer Mehrheit abgelehnt, ohne dass dies eine breite öffentliche Debatte oder größeren außenpolitischen Widerstand ausgelöst hätte.689 Am Stichtag, dem 8. Mai des Jahres 1965, wäre in der BRD auch die Verjährungsfrist (von zwanzig Jahren) für alle nationalsozialistischen Morde abgelaufen. Ab dem Frühjahr 1964 warnten deshalb einflussreiche jüdische Organisationen, vor allem in den USA und Israel, vor einer Verjährung der NS-Verbrechen. Ungeachtet der zunehmenden internationalen Proteste beschloss in Deutschland die CDU/FPD Regierung am 5. November 1964 auf Initiative von Justizministers Ewald Bucher (FDP), der selbst der SA und der NSDAP angehört hatte, und gegen den Willen von Bundeskanzler Ludwig Erhardt (CDU), die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Morde nicht zu verlängern und damit das Problem der NS-Prozesse still aus der Welt zu schaffen.690 Die Ankündigung der Bonner Bundesregierung rief jedoch einen internationalen Sturm der Entrüstung hervor. In den USA machte die Behauptung Schlagzeile, dass bei einer Nichtverlängerung der Verjährungsfristen auch Adolf Hitler, wenn er überlebt hätte, in Deutschland straffrei bleiben werde und am 9. Mai 1965 aus Argentinien in seine deutsche Heimat zurückkehren könne.691 In fünfzehn amerikanischen Städten kam es zu Demonstrationen zumeist vor den deutschen Konsulaten. Abgeordnete des Repräsentantenhauses forderten in einer Petition an die Bonner Bundesregierung und den Bundestag, die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Verbrechen zu verlängern.692 Die US-Regierung drückte die tiefe Beunruhigung der amerikanischen Bürger in einer diplomatischen Note aus.693 Tief empört war man auch in Israel. Nachdem eine Parlamentsresolution an die deutsche Bundesregierung erfolglos geblieben war, wurde dort eine weltweite Kampagne gegen die Verjährung diskutiert.694 In fast allen westeuropäischen Staaten formierte sich Widerstand gegen die Verjährung, zunächst vor allem

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VOLLNHALS 2011, S. 377. Dazu ausführlich VOLLNHALS 2011, S. 376–382. VOLLNHALS 2011, S. 382f. Arbeiter-Zeitung, Bonn: Keine Verjährung für Hitler, 15. 11. 1964, S. 1; Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1; dem war eine Erklärung des Sprechers des deutschen Justizministeriums vorausgegangen, wonach gegen Hitler keine verjährungsunterbrechende Strafverfolgungshandlung gesetzt worden sei, weil dieser tot sei; Arbeiter-Zeitung, Bonn: Keine Verjährung für Hitler, 15. 11. 1964, S. 1. 692 MIQUEL 2004, S. 255, 257. 693 RABOFSKY o. J., S. 22. 694 MIQUEL 2004, S. 248, 250.

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durch die Verfolgtenverbände, später auch auf politischer Ebene.695 Von den westdeutschen Botschaften kamen Warnungen, die Verjährung nicht eintreten zu lassen, »da sonst dem Ansehen Deutschlands im Ausland unermeßlicher Schaden entstehen könne«.696 Die im anglo-amerikanischen Raum unbekannte Verjährung erwecke den Eindruck, als wollten die Deutschen »ihre Nazis« schützen.697 Die Mitglieder der Juridischen Kommission des Europarats verurteilten Bonns Vorgehen einstimmig und erhoben die Forderung, die Vereinten Nationen mit der Angelegenheit zu befassen.698 Die Sowjetunion warf der BRD in einer diplomatischen Note eine faktische »Amnestierung der faschistischen Mörder« und einen Bruch des Völkerrechts vor.699 In Westdeutschland wurde indessen nach fehlenden Aktenbeständen gesucht. Groß war die Sorge der Bundesregierung, dass sich diese im Besitz Ostdeutschlands befänden. Nach Eintritt der Verjährung, vermutete man, werde die DDR diese nach und nach bekannt machen, um damit gegen Westdeutschland zu agitieren.700 Die Argumentation der deutschen Bundesregierung gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist mit grundsätzlichen juristischen Bedenken und rechtsstaatlichen Prinzipien trug im Ausland nicht zur Deeskalation bei – im Gegenteil: Sie erregte besonders, implizierte sie doch, dass es sich bei den NS-Verbrechen um normale Kriminalität gehandelt habe.701 Zudem wurde eine unbeschränkte Verfolgungspflicht der Staaten in Bezug auf Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch aus diversen Völkerrechtsakten abgeleitet.702 Die Bonner CDU/FDP Regierung stand vor einem Dilemma: Einerseits drohte die Verjährung, die Bundesrepublik Deutschland international zu isolieren, andererseits war der Großteil der deutschen Bevölkerung gegen die Verjährungsverlängerung. Bei einer Umfrage der Tübinger Wickert-Meinungsfor695 MIQUEL 2004, S. 262f, RABOFSKY o. J., S. 22. 696 Wörtlich der deutsche Botschafter Karl Heinrich Knappstein in den USA, zitiert nach MIQUEL 2004, S. 255; der Sache nach ähnlich äußerten sich auch andere deutsche Botschafter; MIQUEL 2004, S. 236f; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Gesundes Volksempfinden, 10. 3. 1965, S. 33. 697 MIQUEL 2004, S. 253, 262f. 698 RABOFSKY o. J., S. 22. 699 RABOFSKY o. J., S. 22; Diplomatische Note der UdSSR an die Bonner Bundesregierung v. 18. 1. 1965, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 1f. 700 Schreiben des österreichischen Botschafters in der Bundesrepublik Deutschland an BM Bruno Kreisky v. 6. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.1, fol. 11–15. 701 MIQUEL 2004, S. 253; Schreiben von Bruno Kreisky an Christian Broda v. 4. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 40. 702 Beispielsweise RABOFSKY o. J., S. 17–21; Stellungnahme Arbeitsgemeinschaft für Rechtsentwicklung v. 3. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 75; heute wird dies beispielsweise von SCHABAS 2003, S. 540 vertreten, völkerrechtliche Argumente spielten im politischen Diskurs weder in Österreich noch in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle.

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schungsinstitute sprachen sich 63 Prozent der Männer und 76 Prozent der Frauen dafür aus, die Verfolgung von Nazi-Verbrechern zu beenden.703

4.2.

Forderung: »Keine Verjährung für NS-Verbrechen!«

Der Beschluss der deutschen Bundesregierung und das darauffolgende internationale Echo zwangen auch die österreichische Bundesregierung, sich erneut mit der Verjährungsfrage zu beschäftigen. Noch im November 1964 drängten plötzlich Opfer- und Widerstandsverbände sowie zum Teil Einzelpersonen vehement auf die Einführung der Unverjährbarkeit oder zumindest eine Verlängerung der Verjährungsfristen für schwerste NS-Straftaten.704 Nun griffen auch die österreichischen Medien das Thema auf und begannen sich zu positionieren.705 Die rechtliche Ausgangslage war in Österreich zumindest ebenso kompliziert wie in Deutschland, denn zur Diskussion stand nicht nur die Verlängerung einer noch laufenden Verjährungsfrist, sondern die Aufhebung einer bereits eingetretenen Verjährung. Allerdings war dies den Organisationen und Personen, die gegen die Verjährung der NS-Verbrechen eintraten, oft nicht bewusst, und auch dem Ausland war offenkundig entgangen, dass in Österreich die meisten NS-Straftaten und anders als in Deutschland auch der überwiegende Teil der NS-Morde bereits verjährt waren. Die Forderungen der Organisationen und AktivistInnen, die in Österreich gegen die Verjährung der schwersten NS-Straftaten eintraten, betrafen allein die Verjährung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.706 Das Verjährungsinstitut an sich wurde nicht kritisiert und im Allgemeinen als gerechtfertigt 703 VOLLNHALS 2011, S. 386f; obwohl die überwiegende Mehrheit der großen meinungsbildenden Tages- und Wochenzeitungen mit teilweise emotionalen Berichten für eine Verlängerung eintrat; MIQUEL 2004, S. 286f; so kommentierte etwa der deutsche »Spiegel« diese Zahlen zynisch mit: »Das ist fast die gleiche Mehrheit der Deutschen, die für die Todesstrafe für Taximörder und Sittenstrolche eintritt.«; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Gesundes Volksempfinden, 10. 3. 1965, S. 31. 704 WIRTH 2011, S. 295. 705 Wenngleich das Thema nicht annähernd die gleiche mediale Präsenz wie in der BRD erreichte, wo die Presse nahezu geschlossen auf eine Verjährungsverlängerung drängte und gegen die in der Bevölkerung populäre »Schlussstrichmentalität« anschrieb; VOLLNHALS 2011, S. 386f; uneinig waren sich dagegen die österreichischen Medien; ausdrücklich gegen die Verlängerung der Verjährungsfristen positionierten sich die »Salzburger Nachrichten« und »Die Presse«. Auf eine Verlängerung drängte dagegen die »Volksstimme«, die »Arbeiter-Zeitung« befürwortete eine solche vorsichtig. Die »Krone« erweckte den Eindruck, dass es sich bei der »Verjährungsfrage« um ein rein deutsches Problem handle; GODLER 1964, S. 1f; EMMERICH 1964, S. 3; GRÜNWALD 1965, S. 3; Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1. 706 Sämtlich Argumente, die in diesem Abschnitt dargestellt werden, stammen von österreichischen Organisationen und AktivistInnen.

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erachtet.707 Zur Begründung der Forderungen nach einer Einschränkung der Verjährbarkeit für die nationalsozialistischen Straftaten wurden deren zahlreiche Besonderheiten angeführt, die sich zum Großteil darauf zurückführen lassen, dass es sich bei diesen um staatlich gestütztes »Systemunrecht« handelte. Das industrialisierte Töten wurde vom NS-Regime organisiert und selbstverständlich nicht verfolgt. Es erreichte eine Dimension und zeichnete sich durch eine Grausamkeit aus, die bis dahin in einem zivilisierten, hoch entwickelten Staat unmöglich erschienen war. Die Gewalttaten erfolgten in aller Regel ohne jede persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer. Ein verhältnismäßig großer Teil der österreichischen Bevölkerung hatte sich daran beteiligt. Die NSStraftäter entsprachen nicht dem klassischen Bild, das man von Mördern hatte. Sie waren häufig unbescholtene Bürger, die sich nach Ende des Kriegs problemlos in die Nachkriegsgesellschaft eingliederten.708 In den 1960er-Jahren war nur ein Teil der nationalsozialistischen Straftaten abgeurteilt.709 Bei Individualstraftaten wurde die Bestrafung als Regel, die Verjährung als seltene Ausnahme betrachtet. Die Dimension der NS-Verbrechen, die systembedingte Nichtverfolgung und die besseren Möglichkeiten der Täter, ihre Taten zu verbergen, begründeten allerdings die Annahme, dass sich bei den nationalsozialistischen Straftaten das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren und nicht die Strafe, sondern die Straffreiheit durch Verjährung zur Regel werden würde. Auf dieser Vermutung aufbauend, wurde die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten als eine Art versteckte »Generalamnestie« empfunden.710 Das Bekanntwerden einer Vielzahl von neuen Fällen nach Eintritt der Verjährung erschien vorhersehbar.711 Eine strafrechtliche Verfolgung wäre dann 707 Beispielsweise Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda vom 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 24–28; Entschließung des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an die österreichische Bundesregierung vom 1. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 5; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7; sämtliche Forderungen nach einer Verjährungsverlängerung oder Einführung einer Unverjährbarkeit bezogen sich nur auf die NS-Straftaten. 708 Beispielsweise Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda vom 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 24–28; Entschließung des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an die österreichische Bundesregierung vom 1. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 5; RABOFSYK o. J., S. 7–12; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7; SAMBALE 2002, S. 193–195, 198. 709 GARSCHA 2003, auf: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/schwerpkt_e rmittlg.php (abgerufen am 26. 6. 2020); LOITFELLNER 2009, S. 158–163. 710 In diesem Sinn beispielsweise: Entschließung des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an die österreichische Bundesregierung vom 1. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 5; RABOFSKY o. J., S. 9f; KRISS 1965, S. 92f. 711 COUDENHOVE-KALERGI 1964, S. 2; Entschließung des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an die österreichische Bundesregierung vom 1. 12. 1964, in: ACB,

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freilich nicht mehr möglich gewesen. Darin sah man eine Gefahr für die Zukunft, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Einerseits warfen die Stellungnahmen den bisher unbehelligten NS-Straftätern fehlende Einsicht und Reue vor. Menschen, die an den NS-Gräueltaten mitgewirkt hätten, wären, wenn es ihnen die politischen Umstände gestatten, »wohl wieder fähig, sie aufs neue zu begehen«.712 Nach dieser Auffassung wäre die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wohl zur Spezialprävention, das heißt zur Verhinderung weiterer Straftaten durch die individuellen Täter notwendig gewesen. Freilich erscheint dieser Aspekt vernachlässigbar, weil gleichartige Straftaten nur bei einer Änderung der politischen Verhältnisse befürchtet wurden. Überaus verbreitet war die Annahme, dass die strafbaren Handlungen im Rahmen des nationalsozialistischen Völkermords nicht im gleichen Maß allgemein verurteilt wurden wie gewöhnliche Straftaten.713 Wenn ein Verbrechen vom Staat strafrechtlich nicht verfolgt und von der Rechtsgemeinschaft moralisch nicht verurteilt wird, können sich StraftäterInnen ohne Nachteile zu den Taten bekennen. Nach Eintritt der Verjährung wurden derartige »stolze« Bekenntnisse aus den Reihen der NS-Straftäter erwartet.714 Schließlich habe man »den Volkskörper gereinigt«, »menschliches Unkraut vertilgt« und »die Menschheit von Blutsaugern befreit«. Von den Gesinnungsgenossen werde applaudiert werden und leider auch von einem in seiner Größe noch gar nicht zu bestimmenden Teil der Bevölkerung.715 Für die, die »heute noch der nationalsozialistischen Ideologie huldigen«,716 werde die Straffreiheit der NS-Morde eine nicht geringe Ermutigung bedeuten. Auch könne diese einen gefährlichen Einfluss auf die Jugend ausüben.717

712 713 714

715

716 717

Mappe III.295.10, fol. 5; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7. CSOKOR 1965, S. 27, STRICKS 1965, S. 145f, TORBERG 1965, S. 148f. So beispielsweise: Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1; COUDENHOVEKALERGI 1964, S. 2; GRÜNWALD 1965, S. 3; KRISS 1965, S. 92f; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10.6–7. Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1; GRÜNWALD 1965, S. 3; Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda vom 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 28; Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4. Wörtlich DAIM 1965, S. 27f, ähnlich drastische Formulierungen beispielsweise auch in Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1; GRÜNWALD 1965, S. 3; HOCHWÄLDER 1965, S. 78; KALMAR 1965, S. 80–82; Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4. Stellungnahme »Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich« an BMJ Broda vom 24. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 70. Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda vom 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 28; FRISCH, Vorwort, in: RABOFSKY o. J., S. 4f; HITTMAIER 1965, S. 77; Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in:

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

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Der Vorwurf, »Rache« anzustreben, wurde von zahlreichen AktivistInnen und Organisationen ausdrücklich zurückgewiesen.718 Für die Ermordung von Millionen Menschen könne es ohnehin »keine irdische Sühne« geben.719 Dennoch erscheint naheliegend, dass für die Forderung nach einer Ahndung der NSStraftaten auch Sühnebedürfnisse eine Rolle spielten. Dies brachten Aussagen wie »die, die jetzt nach einem ›Schlussstrich‹ schreien, hätten selbst wohl kaum je Schluss gemacht« zum Ausdruck.720 Die ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten und Bekenner für Österreich forderte ausdrücklich: »Wer schuldig ist, muss sühnen!« »Darum: Keine Verjährung für NS-Verbrechen!«721 Hinter der zentralen Forderung nach »Gerechtigkeit« standen wohl ebenfalls Vergeltungsbedürfnisse.722 Außerdem wurde auf die Opfer und ihre Hinterbliebenen verwiesen, deren Andenken und Leid zumindest eine gerichtliche Feststellung des Unrechts erfordern würden.723 Prophezeit wurde außerdem, dass eine Verjährung des Völkermordes das Vertrauen in die staatliche Justiz erschüttern werde und leicht zu Akten der Selbstjustiz führen könne.724 Insgesamt betrachteten die Verfolgtenverbände, die Widerstandsverbände, die jüdischen Organisationen sowie die einzelnen AktivistInnen,725 die in Österreich gegen die Verjährung eintraten, die bevorstehende (bzw. wohl auch die bereits eingetretenen) Verjährung und damit die Straffreiheit eines großen Teils der NS-Straftaten als eine Gefahr für die Demokratie, die Gesellschaft und den Frieden. Aus diesem Grund forderten sie vehement eine Verlängerung der Verjährungsfristen für die nationalsozialistischen Straftaten oder gar deren Unverjährbarkeit.726

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ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7; Stellungnahme »Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich« an BMJ Broda vom 24. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 70; TOCH 1963; WOTRUBA 1965, S. 152. Beispielsweise FISCHER 1965, S. 42; LOTHAR 1965, S. 101; Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4; SCHUBERT 1965, S. 139f; STRICKS 1965, S. 145f; WEBER 1965, S. 150f. Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4 SCHALLENBERG-KRASSL 1965, S. 156f. Der Freiheitskämpfer, Verjährung? – NEIN! Januar/Februar 1965, S. 3. Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7; Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4. FRISCH, Vorwort, in: RABOFSKY o. J., S. 5f. Ella Lingens, zitiert nach Neues Österreich, Verjährungsfristen für Kriegsverbrechen. Verlängerung wird gründlich geprüft, 6. 12. 1964, S. 4; HAUSER 1965, S. 71f. Auch bei diesen handelte es sich zu einem großen Teil um Personen, die selbst vom NSRegime verfolgt worden waren. Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda vom 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 28; FRISCH, Vorwort, in: RABOFSKY o. J., S. 4f; HITTMAIER 1965, S. 77, Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus vom 5. 12. 1964, in: ACB,

158 4.3.

Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Kleine Lösung: Die Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten

Von Justizminister Christian Broda wurde im Dezember des Jahres 1964 ein Bericht an die Bundesregierung angekündigt, der alle Argumente für und gegen die Verlängerung der Verjährungsfristen für schwerste NS-Verbrechen enthalten sollte. Gegebenenfalls wollte er die Bundesregierung ersuchen, ihn zu ermächtigen, einen Gesetzentwurf vorzubereiten.727 Für Broda waren für die Beantwortung der Verjährungsfrage vier Aspekte relevant, der staatspolitische (d. h. außenpolitische), der verfassungsrechtliche, der moralische und der rechtspolitische.728 Anders als 1963 war er jedoch höchst unschlüssig, sah er in der Verjährungsfrage doch ein gesamtgesellschaftliches Problem, für das er als Justizminister nicht allein zuständig sein könne, weil es sowohl Grundsätze der sozialistischen Gesinnung als auch der staatspolitischen Stellung Österreichs in der Welt beträfe. Vor der Vorlage des Berichts an die Bundesregierung sollte daher die SPÖ über das weitere Vorgehen entscheiden. Broda wollte anschließend die Position vertreten, welche »die Sozialistische Partei einnehmen wird«.729 Neben dem »Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus«730 trat insbesondere Außenminister Bruno Kreisky in der SPÖ für eine Verjährungsverlängerung ein. Er ließ dem Justizminister Berichte verschiedener österreichischer Botschafter zukommen, welche die heftigen internationalen Reaktionen auf die Ankündigung der Bonner Regierung, die NS-Verbrechen am 8. Mai 1965 verjähren lassen zu wollen, ähnlich dramatisch wie ihre deutschen Kollegen schilderten. Deutschland, kommentierte etwa der österreichische Botschafter in Luxemburg, sei gerade dabei, einen Teil des mühsam aufgebauten internationalen »good will« zu verspielen. Die Entscheidung in der Verjährungsfrage werde geradezu als Beweis für oder gegen die Redlichkeit Deutschlands betrachtet und auch Österreichs Haltung nicht unbeobachtet bleiben.731 Kreisky selbst schilderte Broda die Lage in Polen. Österreich werde hier als Opfer und »nicht als Handlanger des Nazismus und seiner Gewalttaten betrachtet«,

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Mappe III.295.10, fol. 4; Stellungnahme des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 6–7; Stellungnahme »Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich« an BMJ Broda vom 24. 12. 1964, ACB, Mappe III.137.5, fol. 70; TOCH 1963; WOTRUBA 1965, S. 152. StenProtNR, 10. GP 63. Sitzung v. 1. 12. 1964, S. 3349–3351. Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4. Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 2 und, fol. 10. Resolution des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus v. 5. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 4; GRÜNWALD 1965, S. 3. Schreiben des österreichischen Botschafters in Luxemburg an BM Bruno Kreisky v. 6. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.1, fol. 10.

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

159

weshalb ein analoges Vorgehen mit Bonn in der Verjährungsfrage nur Unverständnis hervorrufen würde.732 SPÖ-intern wurden unterschiedliche Aspekte thematisiert, wie etwa die Fragen, ob Rache bezweckt werde, was denn geschehen solle, wenn NS-Verbrechen in großem Ausmaß nach Verjährungseintritt bekannt würden, vor allem aber der Zusammenhang zwischen Justiz und Gesellschaft. Dabei setzte sich die folgende Auffassung durch: »Alle müssen mithelfen«, »erzieherische Gründe« und »Wir dürfen niemals vergessen«.733 Für eine Verlängerung der Verjährungsfristen für die schwersten nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sprachen sich neben Außenminister Kreisky auch andere hochrangige SPÖ-Politiker wie Innenminister Hans Czettel und Vizekanzler Bruno Pittermann aus.734 Skeptisch war allerdings der Justizminister, den vor allem der Gedanke beschäftigte, dass die Beweisschwierigkeiten in den nächsten Jahren nicht geringer und die Neigung der Geschworenengerichte zu Freisprüchen nicht kleiner werden dürften.735 Freisprüche, so befürchtete er, könnten das Rechtsgefühl der Bevölkerung sehr verletzen und damit das Gegenteil des angestrebten Erziehungsprozesses bewirken.736 Aus diesem Grund warnte er vor Illusionen über die praktischen Auswirkungen einer Verjährungsverlängerung.737 In moralischer Hinsicht stellte Broda einander die Positionen des deutschen SPD-»Kronjuristen« Adolf Arndt und der Ärztin sowie Widerstandskämpferin Ella Lingens-Reiner738 in seinen Notizen gegenüber.739 Arndt trat als »schwarzes Schaf« der deutschen SPD entgegen der überwiegenden Meinung der SPD-Vertreter lange Zeit gegen eine Verlängerung der Verjährungsfristen ein – dies vorgeblich aus verfassungsrechtlichen Gründen. In einem an Broda gerichteten Schreiben ließ er diesen jedoch wissen: »Wir sollten uns doch nicht einbilden, wir 732 Schreiben von Bruno Kreisky an Christian Broda v. 4. 12. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 40. 733 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 11–28. 734 WIRTH 2011, S. 286; Volksstimme 20. 11. 1964, S. 2. 735 Nach Abschaffung der Volksgerichte 1955 ergingen bis Ende 1964 acht rechtskräftige Verurteilungen, denen vierzehn rechtskräftige Freisprüche gegenüberzustellen sind. Diesen lagen zum Teil offensichtliche Fehlbeurteilungen der Geschworenengerichte zugrunde, weshalb sie internationale Kritik auslösten; GARSCHA, auf: www.nachkriegsjustiz.at/prozes se/geschworeneng/chronik_wg.php (abgerufen am 24. 8. 2019). 736 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 28. 737 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 11–13. 738 Ella Lingens-Reiner (* 1908, † 2002) war eine österreichische Juristin und Ärztin, die als Gegnerin des Nationalsozialismus mehreren Juden/Jüdinnen dabei half, unterzutauchen oder zu fliehen. Von 1943 bis 1945 war Lingens-Reiner in KZ-Haft, wo sie als Ärztin eingesetzt wurde. 1948 erschien ihr Buch »Prisoners of Fear«, in dem sie ihre Erfahrungen im KZ beschrieb. 1980 wurde sie von Yad Vashem (Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust) als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeichnet; BORUT 2005, S. 332f. 739 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 27.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

müssten das Jüngste Gericht spielen!«740 Ella Lingens erklärte dagegen bei einer Tagung des »Bundes Sozialistischer Akademiker«: »Man kann zur Verlängerung der Verjährungsfristen gewiss so oder so stehen. Es gibt Argumente dafür und dagegen. Von der Republik Österreich erwartet man jedoch, daß sie sich für die Verlängerung entscheidet, weil darin ein Bekenntnis liegt, daß Österreich nichts, aber auch gar nichts unversucht lassen wird, um sich von seiner Vergangenheit, so vollständig als es nur denkbar ist, zu distanzieren.«741 »Moralisch – politische Entscheidung – prinzipielle Frage«, schloss Broda seine umfassenden Überlegungen zur Verjährung der nationalsozialistischen Verbrechen, »ich entscheide sie wie die Genossin Lingens. Man sollte nichts unversucht lassen, gerade wenn man keine Illusionen über die praktischen Ergebnisse der Verlängerung hat.«742 Dem Willen seiner Partei und dem Ergebnis seiner eigenen Abwägung entsprechend schlug Justizminister Broda eine Verlängerung der Verjährungsfrist für schwere NS-Blutverbrechen vor.743 Die Verfassungskonformität seines Vorschlags ließ er von seinem engsten Mitarbeiter in der Strafrechtsreform, dem Innsbrucker Strafrechtsprofessor Friedrich Nowakowski, begutachten.744 Da die Verjährungsverlängerung auf während der NS-Zeit aus nationalsozialistischer Einstellung begangene schwere Blutverbrechen beschränkt sein sollte, hatte Nowakowski zu prüfen, ob der Gleichheitsgrundsatz der österreichischen Bundesverfassung (Art. 7 B-VG) diese Ungleichbehandlung gegenüber denselben schweren Delikten, die im gleichen Zeitraum aus nicht nationalsozialistischen Motiven begangenen worden waren, zuließ.745 Anders als andere Wissenschaftler und politische Parteien zog Nowakowski für die Gleichheitsprüfung nicht die Straftat und deren Unwertgehalt heran, 740 Schreiben von Adolf Arndt an Ch. Broda vom 20. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 19; unter dem Druck seiner Partei gab Arndt seine ablehnende Haltung zur Verjährungsverlängerung auf und hielt im Bundestag bei der Verjährungsdebatte 1965 eine Aufsehen erregende Rede, die mit einem persönlichen Schuldbekenntnis endete. Arndt, der sich als junger Anwalt und »Halbjude« für verfolgte jüdische Mandanten eingesetzt hatte und später selbst verfolgt worden war, erklärte, sich schuldig zu fühlen, weil er nicht genug getan hatte. Allerdings frage er sich, wer das von sich sagen könne. Die Behauptung der Deutschen, nichts gewusst zu haben, sei eine nachträgliche Ausflucht. »Aber das verpflichtet uns, das ist unser Erbe. […].« Schon der richterliche Ausspruch, dass das, was geschehen ist, ein Mord war, stelle »einen winzigen Tropfen Gerechtigkeit« dar, »der doch zu erwarten ist zu Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in der Welt liegen«; Rede Arndts in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965, zitiert nach VOLLNHALS 2011, S. 389. 741 BRODA 1965, S. 4. 742 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 27. 743 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.295.1, fol. 14; Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137, fol. 4. 744 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3. 745 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 6f.

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

161

sondern die Erwägungen, auf denen das Verjährungsinstitut beruhte, insbesondere also die angenommene Erlöschung des Strafbedürfnisses in generalund spezialpräventiver Hinsicht sowie die zunehmenden Beweisschwierigkeiten. Gefragt wurde bei der von ihm vorgenommenen Prüfung, ob sich diesbezüglich die aus nationalsozialistischer Einstellung begangenen Blutverbrechen gegenüber aus anderen Motiven begangenen im Tatbestand aber gleichartigen Taten unterscheiden.746 Eine besondere spezialpräventive Strafnotwendigkeit, die eine längere Verfolgung der nationalsozialistischen Straftaten erfordert hätte, bestand nach Auffassung Nowakowskis nicht.747 Denn die Taten seien nur unter den besonderen damals gegebenen Verhältnissen denkbar gewesen. »Die Täter sind den Versuchungen einer verfehlten, jedoch offiziell vertretenen ›Wert‹-ordnung erlegen. Sie waren – soweit sie heute noch leben und verfolgt werden können – zur Tat verhältnismäßig jung. Ihr damaliges Verhalten wird ihnen heute selbst fremd geworden sein. Sie haben sich – zum Teil unter erschwerten Umständen – in das normale Leben eingefügt und sind sozial unauffällig.«748 Durch die Strafe werden die seinerzeit straffällig Gewordenen wieder aus ihrer sozialen Stellung gerissen und ihre soziale Leistungsfähigkeit herabgesetzt oder vernichtet. Die ehemaligen Täter und ihre persönliche Umwelt würden durch die Strafverfolgung zu einem sozialen Stör- und Krisenherd gemacht, ohne dass dies durch ein entsprechendes spezialpräventives Strafbedürfnis gerechtfertigt sei.749 »Alles was in diesem Zusammenhang gegen das Aufrollen von lange zurückliegenden Taten und für die Verjährung spricht, trifft auch auf sie [gemeint sind die nationalsozialistischen Straftaten] zu.«750

746 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8. 747 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 12f. 748 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 12f. 749 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8. 750 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 12f; diese Einschätzung ist im Zusammenhang mit Nowakowskis persönlichen Erfahrungen zu lesen. Er war im Alter von 26 Jahren in die NSDAP eingetreten. In späteren Jahren distanzierte er sich von der Brutalität des nationalsozialistischen Strafrechts und soll seine damaligen Taten bereut haben, siehe dazu FN 602; ob Broda bei der Einholung des Gutachtens bereits von Nowakowskis Vergangenheit wusste, ist unklar. Jedenfalls bekannt war ihm diese ab Oktober 1965. Als im Zuge der Debatte um die NS-Richter im Staatsdienst Nowakowskis NS-Vergangenheit medial thematisiert wurde, erkundigte sich Broda explizit nach dessen Biographie; WIRTH 2011, S. 226.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Die erste atypische Besonderheit sah Nowakowski im Auftauchen großer Mengen belastender Aktenmaterialien viele Jahre nach der Begehung der Taten. Entscheidendes Gewicht wollte er diesem Umstand aber nicht zuerkennen, weil der Zeitablauf auch in diesem Fall dem/der Beschuldigten den Entlastungsbeweis erschweren könne und es außerdem für die Richter und Geschworenen immer schwieriger werde, sich die Verhältnisse zur Zeit des NS-Regimes zu vergegenwärtigen.751 Der entscheidende Unterschied zwischen den in der NS-Zeit aus nationalsozialistischer Einstellung begangenen Blutverbrechen und den im selben Zeitraum aus anderen Motiven begangenen schweren Straftaten bestand nach Nowakowski darin, dass gegenüber der ersten Gruppe das Reaktionsbedürfnis nicht verblasst sei. Die NS-Verbrechen seien im allgemeinen Bewusstsein – auch international – präsent geblieben, womit eine der materiell-rechtlichen Grundlagen der Verjährung fehle. Das neue Auftauchen belastender Materialien gebe den Erinnerungen bis heute Aktualität. Psychologisch werde dieser Effekt durch die Grässlichkeit der Verbrechen verstärkt. Die Begründung der Verjährung im Schrifttum, dass über den Rechtsbruch mit der Zeit »Gras wachse«, treffe auf diese Taten nicht zu.752 »Das Rechtsempfinden könnte (und sollte) sich nicht so leicht damit abfinden, daß solche Taten wegen Zeitablauf nicht mehr verfolgt werden.«753 Zum Strafzweck der Generalprävention gehört auch nach heutiger Auffassung nicht nur die Verbreitung von abschreckender Furcht (negative Generalprävention), sondern auch die Bekräftigung von bestimmten Wertehaltungen (positive Generalprävention). Diese Funktion konnten nach Meinung Nowakowskis weitere NS-Strafverfahren erfüllen, »weil die Einzeltaten Früchte einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung gewesen sind, die durch sie und mit ihnen gebrandmarkt wird.«754 Wegen des im Unterschied zu anderen Straftaten weiter bestehenden generalpräventiven Strafbedürfnisses hielt Nowakowski eine Beschränkung der Verjährungsverlängerung auf schwere NS-Blutverbrechen für vereinbar mit dem Gleichheitssatz des Art. 7 B-VG und bestätigte Justizminister Broda damit gleichzeitig den strafrechtlich mit der Verjährungsverlängerung angestrebten Zweck.755 751 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 10f. 752 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 11. 753 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 12. 754 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 13. 755 BRODA 1965, S. 4.

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

4.4.

163

Größte Lösung: Unverjährbarkeit und allgemeine Verlängerung der Verjährungsfristen

Auch andere österreichische Rechtswissenschaftler meldeten sich in der Verjährungsfrage zu Wort, wenngleich ihre Positionen die weitere Entwicklung nicht beeinflussten. So vertrat der Wiener Strafrechtsprofessor Theodor Rittler hartnäckig die Auffassung, dass schon die Qualifizierung der Verjährung als Institut des materiellen Rechts eine rückwirkende Fristverlängerung ausschließe. Eine solche Möglichkeit führe außerdem zu Rechtsunsicherheit und sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Vor allem erwerbe der/die StraftäterIn mit dem Eintritt der Verjährung einen Anspruch auf Straffreiheit.756 Ein Gesetzgeber, der sich darüber hinwegsetze, verstoße gegen die Grundsätze des Rechtsstaats. Explizite verfassungsrechtliche Normen, die seine Position unterstützt hätten, nannte Rittler freilich nicht.757 Der Rechtsanwalt und spätere Verfassungsrichter Wilhelm Rosenzweig758 sowie die Juristen und ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime Eduard Rabofsky759 und Heinrich Dürmayer760 leiteten dagegen aus diversen 756 Eine Verlängerung der Verjährungsfristen vor dem Eintritt der Verjährung (»unechte Rückwirkung«) erachtete Rittler als rechtlich zulässig. Noch nicht verjährt waren im März 1965 nur die nationalsozialistischen Straftaten, für die die Zwanzigjahresfrist galt, wenn sie zwischen Juli 1943 und 1945 »aus nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen« begangen worden waren, »die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen waren.«; Schreiben von Theodor Rittler an Ch. Broda v. 1. 3. 1965, in: ACB, Mappe III.295.10, fol.18., folgt man der Auffassung Rittlers wäre die Verlängerung der Verjährungsfristen für die allermeisten nationalsozialistischen Verbrechen unzulässig gewesen. 757 Schreiben von Theodor Rittler an Ch. Broda v. 1. 3. 1965, in: ACB, Mappe III.295.10, fol. 18; StenProtNR 10. GP, Session 76 (31. 3. 1965), S. 4211f; in diesem Sinn auch RITTLER 1954, S. 38–40. 758 Wilhelm Rosenzweig (* 1908, † 1992): Rechtsanwalt, Mitbegründer des Bundes Sozialistischer Akademiker (BSA), 1946–1962 geschäftsführender Obmann, 1962–1985 Vizepräsident des BSA, 1954–1979 Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Rosenzweig war in der Sozialdemokratie aktiv. Als Jude und politischer Gegner des Nationalsozialismus flüchtete er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 nach England. 1945 nahm er seine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Wien wieder auf und wurde u. a. als »Parteianwalt der SPÖ« bezeichnet; WIRTH 2011, S. 149, 151. 759 Eduard Rabofsky (* 1911, † 1994): gelernter Autoschlosser, 1930 Eintritt in die KPÖ, 1934 Verhaftung wegen illegaler kommunistischer Tätigkeit, nach seiner Flucht 1934 setzte er diese mit gefälschtem Pass fort, 1941 erneute Verhaftung, 1943 Haftentlassung, danach Einziehung zum Kriegsdienst in die Wehrmacht, am Ende des Krieges desertierte Rabofsky und unterstützte eine sowjetische Einheit bei der Donauübersetzung, 1945/46 Mitarbeiter der österreichischen Staatspolizei, 1948 Promotion zum Dr. iuris, Referent und ab 1968 Leiter der Rechtsabteilung der Arbeiterkammer Wien, 1976 Ernennung zum Honorarprofessor für Arbeits- und Strafrecht; OBERKOFLER 1997, S. 7, 27, 91, 100, 361–377. 760 Heinrich Georg Peter Dürmayer (* 1905, † 2000): Rechtsanwalt, Mitglied der als nationalliberal geltenden Studentenverbindung Marchia, 1934 Beitritt zur KPÖ, 1935 Verhaftung,

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Völkerrechtsakten eine völkerrechtliche Verpflichtung der Republik Österreich zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab. Diese dürfe nicht durch das Rechtsinstitut der Verjährung umgegangen werden.761 Nach der Auffassung von Alfred Verdross,762 der zu bedeutendsten österreichischen Völkerrechtlern des 20. Jahrhunderts gehört, bestand keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Änderung der Verjährungsfristen, weil die Völkermordkonvention erst ab dem Tag ihres Inkrafttretens galt und keine Rückwirkungsklausel enthielt. Es könne jedoch für die Verlängerung oder Aufhebung der Verjährung mit der Begründung eingetreten werden, dass solche Verbrechen nicht unbestraft bleiben dürfen.763 Der Wiener Strafrechtsprofessor Roland Graßberger764 schließlich hielt ein gesetzgeberisches Tätigwerden nicht für erforderlich, sondern ging, ungeachtet

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1937 Haftentlassung und Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden der Republik, nach der Niederlage der Republikaner Flucht nach Frankreich, 1939 Festnahme und Anhaltung in französischen Internierungslagern, 1940 Auslieferung an die Gestapo, 1940–1945 Anhaltung in den Konzentrationslagern Flossenbürg, Auschwitz und Mauthausen, in Auschwitz und Mauthausen Lagerältester, führendes Mitglied des internationalen Lagerwiderstands, 1945–1947 Leiter der Staatspolizei, danach Rechtsanwalt und u. a. Rechtsberater der KPÖ, Generalsekretär des Internationalen Mauthausen Komitees; PERZ 2006, S. 26; PICHLER 2016, S. 62f; SCHÜTZ 2016, S. 370f. GRÜNWALD 1965, S. 3; RABOFSKY o. J., S. 17–21; Schreiben von Heinrich Dürmayer an Ch. Broda v. 30. 11. 1964, in: ACB, Mappe III.137.5, fol. 24–28. Alfred Verdross (* 1890, † 1980): o. Professor für Rechtsphilosophie, Völkerrecht, Internationales Privatrecht an der Universität Wien, nach dem Anschluss wurde Verdross wegen seines Engagements im Ständestaat kurzzeitig beurlaubt, jedoch arrangierte sich Verdross mit dem NS-Regime und konnte ab 1939 wieder unterrichten, 1942 wurde er zum Direktor des Hauptinstituts für Rechtswissenschaften der Universität Wien ernannt, 1957–1977 Richter des Haager Schiedshofes, 1958–1976 Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und 1956–1966 Mitglied der Internationalen Rechtskommission der Vereinten Nationen, 1931/32, 1947/48, 1953/54 Dekan, 1951/52 Rektor der Universität Wien; https://gedenkbuch.univie.ac.at/?id=index.php?id=435&no_cache=1&person_single_id=3 3984 (abgerufen am 26. 6. 2020). VERDROSS 1965, S. 150. Roland Graßberger (* 1905, † 1991): 1928 Promotion zum Dr. iuris, ab 1930 Beschäftigung in verschiedenen Assistenzverträgen am Institut für Strafrechtswissenschaft und Kriminalistik an der Universität Wien, daneben Tätigkeit als gerichtlicher Sachverständiger, 1931 Habilitation, nach dem »Anschluss« wurde Graßberger beschuldigt, das austrofaschistische Re gime als gerichtlicher Sachverständiger unterstützt zu haben, diese Anschuldigungen konnten jedoch widerlegt werden, sodass er während der NS-Zeit im Amt blieb und sogar zum Sachverständigen für Brandsachen und später auch für Militärgerichte bestellt wurde, ab 1946 außerordentlicher Professor und Vorstand des Instituts für Kriminologie der Universität Wien, ab 1948 ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozess und Kriminologie, 1954/55 und 1960/61 Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, 1962/63 Rektor, 1975 Emeritierung; Graßberger setzte sich insbesondere für den Fortbestand der Strafbarkeit von Homosexualität ein und ging von einem naturgegebenen Überund Unterordnungsverhältnis von Mann und Frau aus; EHS/OLECHOWSKI/STAUDIGLCIECHOWICZ 2014, S. 444–446; STANGL 1985, S. 70f.

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der gegenteiligen Auffassung des OGH, davon aus, dass die bei der Tatbegehung mit der Todesstrafe bedrohten Handlungen nach wie vor unverjährbar seien. Gleichzeitig schlug er aber vor, einen Katalog unverjährbarer Delikte ins Strafgesetz aufzunehmen. Welchen Zweck dies haben sollte, führte Graßberger nicht aus.765 Trotz dieser kontroversen juristischen Debatte war die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten primär eine Frage des politischen Willens, nicht der Verfassungskonformität. Denn die beiden Regierungsparteien verfügten gemeinsam über eine Verfassungsmehrheit. Damit hätten sie die rückwirkende Aufhebung der Verjährung für die nationalsozialistischen Straftaten als Verfassungsgesetz beschließen können.766 Eine Überprüfung der Aufhebung der eingetretenen Verjährungen für die NS-Straftaten anhand des Gleichheitssatzes (Art. 7 B-VG) oder des Rückwirkungsverbotes (Art. 7 EMRK) durch den Verfassungsgerichtshof wäre dann von vornherein ausgeschlossen gewesen. Zu Beginn der zweiten »Verjährungsdebatte« im Jahr 1964 nahm jedoch die zweite Regierungspartei, die ÖVP, hinsichtlich der Verjährungsverlängerung für schwerste NSStraftaten, nur diese stand anfänglich zur Diskussion, wie schon 1963 eine eher ablehnende Position ein und bezweifelte deren Notwendigkeit. Jedoch agierten ihre Vertreter zurückhaltend und äußerten sich kaum zur Verjährungsfrage.767 Bewegung in die Lösung des Problems kam im Jänner 1965, als die Tätigkeit eines ostdeutschen Spionagerings in Österreich aufgedeckt wurde.768 Unter dem Eindruck des öffentlichen Entsetzens ermächtigte der Parteivorstand der SPÖ Broda unverzüglich, einen Entwurf für ein Strafrechtsänderungsgesetz vorzubereiten. Das Strafrechtsänderungsgesetz sollte ursprünglich nur Strafbestimmungen zum Schutz vor Werkspionage sowie andere Tatbestände des Strafgesetzentwurfs 1964 beinhalten und damit besonders dringlich erscheinende Re-

765 GRASSBERGER 1965, S. 63; GRÜNWALD 1965, S. 3. 766 Die österreichischen Großparteien (SPÖ/ÖVP) verfügten gemeinsam über mehrere Jahrzehnte hinweg über eine Verfassungsmehrheit (d. h. eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat und Bundesrat), die häufig genützt wurde, um Gesetze und einzelne gesetzliche Bestimmungen im Verfassungsrang zu beschließen. Deren künftige Änderung wurde dadurch erschwert und eine Prüfung durch den VfGH weitgehend ausgeschlossen; dazu ausführlich ÖHLINGER 2017, S. 107–111. 767 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 10; Tagesanzeiger, Österreich verhindert Nazi-Verjährung, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7; Volksstimme 20. 11. 1964, S. 2; WALDBRUNNER 1965, S. 3; befürwortet wurde diese allerdings von der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten und Bekenner für Österreich, die nach ihren Statuten die Opfer des Nationalsozialismus aus christlichen und bürgerlichen Kreisen sowie deren Familienangehörige und Nachkommen vertrat; völlig verzerrt allerdings die Darstellung der Geschehnisse in deren Vereinszeitung: Der Freiheitskämpfer, Verjährung? – NEIN! Januar/Februar 1965, S. 1–3. 768 RIEDE 1965, S. 1; CHORHERR 1965, S. 1.

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formpunkte der Strafrechtsreform vorziehen. Regelungen zur Verjährung waren dagegen nicht vorgesehen.769 Mitte Jänner stellte das Außenministerium seinen Bericht für den Ministerrat zur Verjährungsfrage fertig. Dieser verwies nachdrücklich darauf, dass eine Verlängerung der Verjährungsfrist vom außenpolitischen Standpunkt dringend nötig sei, weil eine Nichtverlängerung im Ausland nicht als Ausdruck rechtsstaatlicher Gesinnung, sondern als Sympathie für und Begünstigung von NSVerbrechern ausgelegt werden würde.770 Wenige Wochen später verabschiedete die Konsultativversammlung des Europarats mit großer Mehrheit eine Empfehlung, in der sie ihre Mitgliedstaaten dazu aufforderte, die Verjährung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Dazu gehörten ausdrücklich die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen vor oder während des Zweiten Weltkriegs begangenen Straftaten.771 Inzwischen hatte Belgien zur weiteren Ahndung der NS-Verbrechen die Verjährungsfrist für die Vollstreckungsverjährung von zwanzig auf 30 Jahre erhöht. In Frankreich waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit für unverjährbar erklärt worden.772 Auch in zahlreichen Ostblockstaaten wie beispielsweise in der Sowjetunion, Polen, der DDR sowie der Tschechoslowakei waren rechtliche Maßnahmen zur Verhinderung der Verjährung der schwersten nationalsozialistischen Verbrechen ergriffen worden.773 Dazu befragt, erklärte Bundeskanzler Josef Klaus bei einer Pressekonferenz in Straßburg am 26. Jänner 1965 erstmals, dass seiner Meinung nach nichts gegen eine generelle Unverjährbarkeit von Mord spräche. Dabei müsse man auch das Vorgehen anderer Staaten berücksichtigen. Wenn etwa Deutschland keine Verjährung von Kriegsverbrechen zuließe, Österreich aber wohl, bestehe die Gefahr, dass Österreich zum Anziehungspunkt für Asylwerber werde, was zweifellos politische Komplikationen mit sich brächte.774 Am selben Tag gab die ÖVP bekannt, dass Verhandlungen über den Inhalt eines Strafrechtsänderungsgesetzes mit den zuständigen SPÖ-Organen aufgenommen werden sollten, wobei die Novelle nach dem Willen der ÖVP auch die Frage der Verbrechensverjährung klären sollte.775 Nun äußerte auch der ÖVPStaatssekretär im Justizministerium, Franz Hetzenauer, seine »persönliche 769 Salzburger Nachrichten 16. 1. 1965, S. 4; Sozialistische Korrespondenz 15. 1. 1965, S. 1–4. 770 Ministerratsvortrag von Christian Broda v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.295.9, fol. 3–4; Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7. 771 MIQUEL 2004, S. 263; deutsche Übersetzung der Empfehlung des Europarats zur Verjährung von Kriegsverbrechen v. 28. 1. 1965, in: ACB, Mappe III.295.9, fol. 5. 772 Ministerratsvortrag von Christian Broda v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.295.9, fol. 3. 773 COUDENHOVE-KALERGI 1964, S. 2; RABOFSKY o. J., S. 22. 774 Mitteilung des Gesandten Thalberger an das Außenministerium v. 26. 1. 1965, in: ACB, Mappe III.138.1, fol. 2. 775 ÖVP-Pressedienst, 2. Aussendung v. 26. 1. 1965, in: ACB, Mappe III.295.12, fol. 18–19.

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Meinung« zur Verjährungsfrage, die sich mit der des Bundeskanzlers deckte und wohl als ÖVP-Parteilinie betrachtet werden kann. So meinte auch er, es sei zu erwägen, § 231 StG 1852 zur Lösung der Verjährungsfrage heranzuziehen.776 Bereits am Tag nach der Erklärung von Bundeskanzler Klaus übermittelte Hetzenauer Justizminister Broda einen vorläufigen Entwurf für ein Strafrechtsänderungsgesetz als Diskussionsgrundlage.777 Vom Vorstoß der ÖVP war man in der SPÖ überrumpelt. Friedrich Nowakowski war noch mit der verfassungsrechtlichen Prüfung der Verjährungsverlängerung für schwerste NS-Straftaten beschäftigt, als ihm der Entwurf Hetzenauers mit der Bitte um rasche Stellungnahme vom Justizministerium zugeleitet wurde.778 Der Entwurf Hetzenauers sah die Unverjährbarkeit der vormals mit der »Todesstrafe« bedrohten Delikte vor, für die »nur« auf Grund des § 1 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1950, BGBl. Nr. 130, die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers die gesetzliche Strafe bildete. Im Übrigen waren im Entwurf Hetzenauers die Verjährungsfristen des Strafgesetzentwurfs 1964 für alle Delikte statuiert, deren Einführung damit vorgezogen worden wäre. Damit wären alle Verjährungsfristen des geltenden Strafgesetzes 1852 verlängert worden, denn im Vergleich zum StG 1852 waren im Strafgesetzentwurf 1964 längere Verjährungsfristen vorgesehen. Allerdings war im StGE 1964 neben der Verlängerung der Verjährungsfristen in der Regel auch eine beträchtliche Senkung der Strafdrohung geplant, sodass sich die Verjährungsfristen für die einzelnen Delikte kaum geändert hätten. Der Entwurf Hetzenauers, der die längeren Verjährungsfristen an die höheren Strafdrohungen des StG 1852 knüpfte, hätte dagegen die Verjährungsfrist für viele Delikte faktisch verdoppelt.779 Nowakowski – den Legisten des Strafgesetzentwurfs 1964 – versetzte der Entwurf des Staatssekretärs geradezu in Panik. Er verwies darauf, dass auch der StGE 1964 keine unverjährbaren Delikte vorsehe, was im Begutachtungsverfahren nicht kritisiert und auch vom Obersten Gerichtshof begrüßt worden sei. Außerdem warnte er davor, nicht zu übersehen, dass von der Unverjährbarkeit nicht nur Mord, sondern alle Delikte betroffen sein sollten, für die bis 1950 die Todesstrafe vorgesehen war, beispielsweise Hochverrat, qualifizierte öffentliche Gewalttätigkeiten (darunter fiel auch die qualifizierte Vernachlässigung von Verpflichtungen beim Betrieb einer Eisenbahn iSv §§ 87, 88 iVm § 86 StG, sog. »Eisenbahnerparagraph«), Verbrechen nach § 4 Abs. 2 des Sprengstoffgesetzes

776 Der Freiheitskämpfer, Verjährung? – NEIN! Januar/Februar 1965, S. 2. 777 Protokoll, Erste Besprechung zwischen Christian Broda und Franz Hetzenauer über den Entwurf zu einem Strafrechtsänderungsgesetz v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.295.6, fol. 2. 778 Schreiben von Friedrich Nowakowski an Christian Broda v. 6. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 1f. 779 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4f.

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und der §§ 3a, 3e, 3f des Verbotsgesetzes.780 Die Verjährungsfristen des Strafgesetzentwurfs 1964 hielt Nowakowski jedoch für angemessen, weil der Führung von Strafverfahren und den mit der Strafe verbundenen Nachteile nach dieser Zeitspanne keine entsprechenden Vorteile, weder in general-, noch in spezialpräventiver Hinsicht, gegenüberstünden.781 Denn selbst schwere Blutverbrechen entschwänden normalerweise dem allgemeinen Bewusstsein und sogar die nächsten Angehörigen der Opfer kämen allmählich zur Ruhe. Mit einem erneuten Aufrollen der Straftat sei in Wahrheit niemandem gedient. Es bestände überhaupt kein öffentliches Interesse daran, bisher ungesühnte Bluttaten nach vielen Jahren im öffentlichen Bewusstsein zu aktualisieren. Auch dem Mörder gegenüber sei es nach Jahrzehnten nicht gerechtfertigt, ihn für seine Taten einstehen zu lassen, weil sich seine Persönlichkeit in der Zwischenzeit verändert habe. Die Strafe würde lediglich einen neuen Krisenherd schaffen und die Straftat für alle Beteiligten wieder quälend aktuell machen.782 Die sozialpsychologischen Voraussetzungen, die nach Meinung Nowakowskis in Bezug auf bestimmte Untaten aus der NS-Zeit bestanden, erachtete er als eine Sondererscheinung, die nicht verallgemeinert werden dürfe.783 Im Ergebnis stellte der Entwurf Hetzenauers mit der generellen Verlängerung der Verjährungsfristen und der Unverjährbarkeit für bestimmte Delikte für Nowakowski einen strafrechtlichen Rückschritt dar, weil er seiner Meinung nach zwecklose Strafen und Strafandrohungen normierte.784 In einem vertraulichen Brief ließ er Broda frustriert wissen, dass er nicht verstünde, warum man sich nicht einfach an die Empfehlung des Europarats halten könne und die Verjährungsfrist nur für Mord mit zusätzlichen Kriterien im Sinne von Völkermord verlängere. Allerdings war Nowakowski die Aussichtslosigkeit dieses Vorschlags mangels eines koalitionären Konsenses bewusst. Resigniert bat er Broda, zumindest das »Ärgste« zu verhindern. Dazu gehörte auch die Ersetzung des Begriffs Todesstrafe, der im neuen Strafgesetzbuch nicht mehr vorkommen sollte, durch eine Aufzählung der nunmehr unverjährbaren Delikte. Abschließend äußerte Nowakowski die Befürchtung, dass mit den neuen Verjährungsregeln der Strafgesetzentwurf 1964 »zu Grabe getragen« werde.785 780 Nicht mit der Todesstrafe bedroht war Totschlag, und zwar weder in der Definition von § 140 StG, noch in der Definition des § 212 dRStGB. 781 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4–9. 782 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4. 783 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3f. 784 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4–9. 785 Schreiben von Friedrich Nowakowski an Christian Broda v. 6. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 1f.

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4.5.

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Verjährungskompromiss und große Lösung

In weiterer Folge wurde auf Betreiben Brodas die neue Unverjährbarkeitsregel auch auf die im Zeitpunkt der Tatbegehung unverjährbaren Straftaten bezogen, für die die nach der Abschaffung der Todesstrafe geltende zwanzigjährige Verjährungsfrist schon abgelaufen war. Damit wurde von der 1963 vertretenen Auffassung abgegangen, dass der/die TäterIn nach Eintritt der Verjährung einen Anspruch auf Straffreiheit habe786 und der »tote Winkel« für die NS-Morde, die zwischen 1938 und 1943 begangen worden waren, geschlossen. Eine generelle Verlängerung der Verjährungsfristen erfolgte nicht, stattdessen wurden besondere Verjährungsfristen für die mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1965 neu geschaffenen Delikte festgelegt.787 Außerdem wurde vereinbart, dass auch im neuen Strafgesetzbuch die mit der Höchststrafe, das heißt der lebenslangen Freiheitsstrafe, bedrohten Delikte unverjährbar sein sollten.788 In Bezug auf das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK789 folgte man in der Regierungsvorlage der Auffassung, dass sich dieses nur auf die Strafe und Strafdrohung im Tatzeitpunkt beziehe und daher die Verjährungsfristen nicht erfasse.790 Dies entspricht im Wesentlichen der heutigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wenngleich er bislang nur festgestellt hat, dass es zulässig ist, eine noch laufende Verjährungsfrist zu verlängern. Ob auch eine bereits eingetretene Verjährung nachträglich aufgehoben und die Straftat wieder verfolgt werden kann, wurde bislang nicht entschieden.791 Für die nationalsozialistischen Straftaten wäre auch ein Rückgriff auf Art. 7 Abs. 2 EMRK792 möglich gewesen, was aber nicht für erforderlich gehalten wurde.

786 In diesem Sinn: Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 5f., wonach das Rückwirkungsverbot den/die TäterIn nur vor einer Verschlechterung der Rechtslage im Vergleich zum Tatzeitpunkt schütze und diesem keinen Anspruch auf Anwendung eines günstigeren Zwischengesetzes gebe. 787 Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79. 788 Protokoll, Besprechung Broda/Hetzenauer, 5. 2. 1965, in: AChB, ÖNB, Handschriftensammlung, III.295.6, S. 3. 789 »Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.« (Art. 7 Abs. 1 EMRK, BGBl 1958/210). 790 ErläutRV 650 BlgNR 10. GP (16. 3. 1965), S. 3. 791 Vgl. dazu EGMR v. 22. 6. 2000 (Coeme u. a. gegen Belgien) Nr. 32492/96; KLEINE-COSACK 2013, S. 422; GRABENWARTER/PABEL 2016, S. 558f. 792 Ausdrücklich vom strafrechtlichen Rückwirkungsverbot ausgenommen ist die Verurteilung und Bestrafung von Personen, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht haben, die im Zeitpunkt ihrer Begehung »nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war«. (Art. 7 Abs. 2 EMRK, BGBl 1958/210).

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Gleichheitsrechtliche Probleme verursachte die Regelung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1965 nach Auffassung beider Regierungsparteien nicht.793 Der Begriff Todesstrafe wurde aus dem Gesetzestext gestrichen. Eine Aufzählung aller unverjährbaren Delikte erfolgte jedoch nicht, vermutlich weil die Tatbestände des Verbotsgesetzes im Gesetzestext nicht aufscheinen sollten.794 Art. 1 des Strafrechtsänderungsgesetzes 1965 lautete nun: »Der erste Absatz des § 231 hat zu lauten: Bei Verbrechen, bei denen nach § 1 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1950, BGBl. Nr. 130, die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers die gesetzliche Strafe bildet, schützt keine Verjährung vor der Untersuchung und Bestrafung.«795 Damit wird auf das Bundesgesetz vom 21. Juni 1950 Bezug genommen, mit dem die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren durch die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers ersetzt wurde.796 Aus der geänderten Bestimmung des § 231 StG 1852 geht nicht hervor, dass sie rückwirkend auch für bereits verjährte Taten und damit für die nationalsozialistischen Massenmorde galt. Erst in Art. 3 Strafrechtsänderungsgesetz 1965 wurde klargestellt, dass der geänderte § 231 StG auch auf alle vor seinem Inkrafttreten begangenen Handlungen anwendbar war.797 Außerdem erweckt die Regierungsvorlage den Eindruck, dass es sich bei dieser Regelungsänderung um einen der besonders dringenden Reformpunkte der Strafrechtsreform handelte, mit denen nicht bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahren zugewartet werden konnte und die daher durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1965 vorgezogen wurden.798 Nach Angaben der Regierungsvorlage sollte mit der Regelung des Art. 1 Strafrechtsänderungsgesetz 1965 nur der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers klargestellt werden, denn 1950 sei keineswegs beabsichtigt gewesen, mit der Todesstrafe auch die Unverjährbarkeit zu beseitigen.799 Da aber der OGH in seiner Rechtsprechung davon ausging, dass

793 ErläutRV 650 BlgNR 10. GP (16. 3. 1965), S. 3f; auch der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts äußerte keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Verjährungsverlängerung durch ein einfaches Gesetz; Ministerratsvortrag von Christian Broda zur Verlängerung von Verjährungsfristen v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.295.9, fol. 3–4. 794 Schreiben von Friedrich Nowakowski an Christian Broda v. 6. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 1. 795 Art. 1 Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79. 796 Bundesgesetz vom 21. Juni 1950, womit die im ordentlichen Verfahren vor den Strafgerichten angedrohte Todesstrafe durch die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers ersetzt wird, BGBl 1950/130. 797 Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79. 798 ErläutRV 650 BlgNR 10. GP (16. 3. 1965), S. 3. 799 Tatsächlich geben die Gesetzesmaterialien dazu keine Auskunft. Der Wille des historischen Gesetzgebers kann daher nicht festgestellt werden.

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seit 1950 alle Delikte verjährbar seien, müsse nun eine Korrektur der Rechtsprechung und eine Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber erfolgen.800

4.6.

Die Verjährungsdebatte im österreichischen Nationalrat

Bei der Abstimmung im Nationalrat stand das Ergebnis bereits fest. Zu Störmanövern, die die Schweizer Presse durch einzelne ÖVP-Abgeordnete befürchtete hatte, kam es nicht.801 Doch brachte die Debatte nochmals die ursprünglichen Positionen der Parteien zum Ausdruck, wobei diese nur soweit dargestellt werden sollen, wie sie für die Beantwortung der oben gestellten Fragen relevant sind. Der SPÖ-Sprecher Alfred Migsch, der selbst wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime im KZ Mauthausen inhaftiert war, betonte, dass für das »Nein« der SPÖ zur Verjährung der nationalsozialistischen Verbrechen die sittliche Verantwortung vor der Geschichte und der Zukunft des Landes entscheidend gewesen sei.802 In seiner Ansprache verwies er zunächst auf die Dimension und Grausamkeit der nationalsozialistischen Massenmorde.803 Dann wandte er sich der Zukunft zu und sprach die im Zuschauerraum des Parlaments anwesenden Jugendlichen an. »Glaubt nicht, daß die Vernichtung der sechs Millionen Juden der Geschichte angehört! Es ist bei dem Gang der Geschichte ohne weiteres möglich, daß ihr oder eure Kinder vor denselben Dingen steht – als Opfer oder als Täter.«804 »Woher«, fragte er sein Publikum, »kamen die Eichmann, die Kaltenbrunner, die Lex, die Novak, die Raja und so weiter und so weiter? Für sie alle ist ein Erlebnis gemeinsam: sie sind irgendwie aufgewachsen in jenen Bewegungen und Strömungen, die um das Ende des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind, antihumanistisch aufgebaut auf den Gedankengängen des Rassendarwinismus, des Herrenmenschentums, der vergoldeten Romantik der germanischen oder der ständischen mittelalterlichen Vergangenheit. Sie alle haben […] antisemitischen Parolen zugejubelt […] und haben sich an antisemitischen Kundgebungen beteiligt. […] Sie alle haben diesen Boden gemeinsam.«805

800 ErläutRV 650 BlgNR 10. GP (16. 3. 1965), S. 4; diese Rechtsansicht des OGH war der Bundesregierung spätestens seit dem Jahr 1963 bekannt; zu diesem Zeitpunkt war jedoch schon die oben beschriebene eingeschränkte Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste nationalsozialistische Gewaltverbrechen um knappe zwei Jahre politisch kaum durchsetzbar, die Wiedereinführung der Unverjährbarkeit wurde von keiner Partei gefordert. 801 Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7. 802 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4202. 803 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4202f. 804 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4204. 805 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4204.

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Daher bestünde die Verpflichtung, die Vernichtung der Juden lebendig zu halten, um die geistige Haltung zu überwinden, die zum Völkermord geführt habe. Durch weitere NS-Prozesse sollte der österreichischen Bevölkerung bewusst werden, dass alle, die am Aufbau eines Verbrecherstaats mitgewirkt hätten, dafür nach dem Sieg der Demokratie zur Verantwortung gezogen würden.806 »Darum geht es zuletzt: Schützen wir nicht die, die keinen Schutz verdienen, schützen wir die österreichische Jugend vor einer Entwicklung, wie sie hinter uns liegt!«807 Der ÖVP-Sprecher Alexander Nemecz betonte in der Nationalratsdebatte, dass mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1965 ein Teil der Strafrechtsreform vorgezogen werde. Die wichtigste Bestimmung sei die Wiederherstellung der Unverjährbarkeit für alle bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen, insbesondere für Mord, weil Blutschuld gesühnt werden müsse. Die dadurch ermöglichte weitere Strafverfolgung der NS-Mörder sei nur eine Folge, aber nicht die Ursache der gesetzlichen Regelung.808 Nemecz ging auf den nur wenige Tage zuvor unter großer medialer Anteilnahme gerichtlich entschiedene »Fall Gerhard Eder« ein. Eder hatte am 15. Februar 1961 ein zwölfjähriges Mädchen, Brigitte Beszentlerer, die am Heimweg vom Kino war, überfallen, missbraucht und dann getötet. Nur weil Gerhard Eder drei Jahre später einen weiteren Mord begangen hatte, konnte er überführt werden. Ohne den zweiten Mord hätte sich Eder nach zwanzig Jahren ohne Risiko der Strafverfolgung zum Mord an »der kleinen Gitti« bekennen können.809 Nemecz vertrat die Ansicht, dass die Bevölkerung für eine solche Gesetzgebung kein Verständnis hätte, ja nicht einmal verstehen würde, warum »wir solche bestialischen Mörder lebenslänglich auf Kosten des Staates erhalten« und daher sowohl die Wiedereinführung der Unverjährbarkeit als auch der Todesstrafe begrüßen würde.810 Die FPÖ-Sprecher Tassilo Broesigke und Gustav Zeillinger führten schwerwiegende verfassungsrechtliche, rechts-, gesellschafts- und sogar außenpolitische Bedenken811 gegen die geplante Regelungsänderung an.812 Den Vorwurf des 806 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4203–4205. 807 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4205; in diesem Sinn auch TOCH 1963: »[…] es geht vor allem darum, daß man aus den Fehlern der Vergangenheit lernt und von der Justiz aus die Gesamtsituation zu überkommen trachtet und die Anklage nicht so sehr gegen Einzelpersonen, sondern gegen die Schuldzusammenhänge richtet.«; so auch der Vorsitzende des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus Joseph Hindel, zitiert nach GRÜNWALD 1965, S. 3. 808 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4206f. 809 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4207f; Kronen Zeitung, Die Mutter Gittis erlitt gestern im Gerichtssaal einen Nervenzusammenbruch – Freitag Urteil, 26. 3. 1965, S. 7. 810 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4207f. 811 Da man damit gegenüber dem Ausland signalisiere, dass es in Österreich noch notwendig sei, Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen; StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210.

Die Verjährungsfrage in Österreich 1965

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SPÖ-Abgeordneten Migsch, Täterschutz zu betreiben, wiesen sie scharf zurück.813 In der Regierungsvorlage sahen die FPÖ-Abgeordneten wie Nowakowski eine Gefahr für den Strafgesetzentwurf 1964, weil damit der Präventionsgedanke im Strafrecht »begraben« und neu zur Diskussion gestellt werde. Denn das Strafrechtsänderungsgesetz 1965 setze die Strafe nun doch wieder als Mittel der Rache und Vergeltung ein und stoße die resozialisierten Täter zurück in das Verbrechen. Dazu kämen die großen Beweisschwierigkeiten, die über zwanzig Jahre nach dem Tatgeschehen eine objektive Feststellung des Sachverhaltes unmöglich machen würden.814 Die Darstellung der Regelungsänderung als vorgezogenen Punkt der Strafrechtsreform überzeugte Broesigke und Zeillinger nicht.815 Zeillinger, der der Strafrechtskommission angehörte, erinnerte Broda an deren Besprechungen, wo man sich darüber einig gewesen war, dass spätestens zwanzig Jahre nach der Tat kein zuverlässiger Beweis mehr möglich sei.816 Der Regierung gehe es bei dem Gesetz nur um eine ganz bestimmte Kategorie von Mördern,817 wo doch Kriegsverbrechen auf beiden Seiten und auch an den »Menschen unserer Zunge« begangen worden seien.818 Nach Auffassung der FPÖ-Abgeordneten stellte die Verlängerung der Verjährungsfristen, ungeachtet der Tatsache, dass sie allgemein für alle Straftaten galt, die nur wegen des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1950 nicht mit dem Tod, sondern dem lebenslangen schweren Kerker bedroht waren, ein Sondergesetz dar. Darin läge eine Rückkehr zu den »faschistischen Prinzipien« der Vergangenheit sowie ein Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat.819 Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahr hätten gezeigt, dass »es offenbar unmöglich ist, das Ideal der Gerechtigkeit zu erreichen, es wäre aber vielleicht möglich gewesen, Frieden und Ordnung zu sichern«.820 Denn die österreichische 812 813 814 815 816 817 818

StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4198–4201, 4210–4215. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4199, 4210–4213. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4198, 4210–4212, 4215. Zeillinger, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210f. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4198, 4210–4212, 4215. Wörtlich Zeillinger, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4213f, sinngemäß auch Broesigke, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4200f. 819 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4198, 4210–4212, 4215. 820 Wörtlich Broesigke, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4201; ähnlich der viel zitierte Ausspruch des deutschen Bundestagsabgeordneten Thomas Dehler (FDP) in der Sitzung des deutschen Bundestags am 10. 3. 1965: »Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit.«, zitiert nach VOGEL 1969, S. 33; kritisch dazu der spätere deutsche Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD): »[…] ist es denn wirklich wahr, daß Rechtssicherheit und Rechtsfrieden die Verjährung erfordern? Ist es nicht vielleicht sogar umgekehrt, daß der Rechtsfrieden viel ärger und tiefer dadurch gestört würde, daß Mordtaten nach 30 Jahren zugegeben, ja öffentlich dargestellt werden können, ohne daß der Betreffende irgendein Risiko eingeht?«, Interview

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Bevölkerung sei mehrheitlich gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist für Kriegsverbrechen. Dies sei auch der Regierung bewusst, weshalb sie versuche, die Verlängerung der Verjährungsfristen als vorweggenommenen Teil der Strafrechtsreform zu tarnen, anstatt einen mutigen Schlussstrich zu ziehen.821 Vor der Abstimmung verließen die FPÖ-Abgeordneten geschlossen den Saal. Das Strafrechtsänderungsgesetz 1965, das die zeitlich unbefristete Verfolgung der nationalsozialistischen Morde822 sowie aller Straftaten, die nur wegen des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1950 nicht mit der Todesstrafe, sondern der Strafe des lebenslangen schweren Kerkers bedroht waren, ermöglichte, wurde einstimmig angenommen.823 Der Deutsche Bundestag beschloss dagegen mit weitaus knapperer parlamentarischer Mehrheit nur eine Verschiebung des Verjährungsbeginns für nationalsozialistische Straftaten auf den 1. Jänner 1950.824 Auch dieser Beschluss war im Wesentlichen nur für Mord (§ 211 dRStGB) relevant. Totschlag (§ 212 dRStGB), für den in Deutschland eine fünfzehnjährige Verjährungsfrist galt, blieb dagegen verjährt.825 Als Folge der Verjährungsdebatte wurde der Personalstand der Ludwigsburger Zentralstelle826 allerdings erheblich aufgestockt, was zu einer Intensivierung der Strafverfolgung führte. Ziel war es, die NS-Prozesse bis Ende 1969 abschließen zu können, um ein neuerliches Aufkommen der Verjährungsfrage zu vermeiden.827 Dies gelang nicht. Der Deutsche Bundestag beschloss daher 1969 die Verjährungsfrist für Straftaten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht waren, auf 30 Jahre zu verlängern,828 und zwar rückwirkend auch für die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangenen Straftaten.829

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mit BM Hans-Jochen Vogel, Der Spiegel, »Wir haben uns schon dreimal geirrt«, 13. 11. 1978, S. 28; VOGEL 1979, S. 1–4. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210, 4214f. Allerdings nur in der engeren Definition des § 211 dRStGB, siehe dazu Kapitel IV.2.1. StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4223. VOLLNHALS 2011, S. 392: bezeichnet diese Lösung als mut- und kraftlos. VOLLNHALS 2011, S. 377, 381f. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat die Aufgabe, Material über nationalsozialistische Verbrechen zu sammeln und auszuwerten, um damit den Staatsanwaltschaften die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Verdächtige zu ermöglichen. Sie nahm ihre Tätigkeit am 1. Dezember 1958 auf; STOLL 2011, S. 73. MIQUEL 2004, S. 317f. Sowie die Unverjährbarkeit von Völkermord; für die NS-Verbrechen war dies allerdings ohne Bedeutung, weil dieses Delikt erst seit 1954 im deutschen Strafrecht verankert war und eine diesbezügliche Rückwirkung für verfassungswidrig erachtet wurde; VOLLNHALS 2011, S. 397. Wobei zu berücksichtigen ist, dass die NS-Morde in der BRD, anders als in Österreich, noch nicht verjährt waren. Eine Fristverlängerung für verjährte Straftaten wurde in der BRD zu keinem Zeitpunkt diskutiert und verfassungsrechtlich für ausgeschlossen gehalten; SAMBALE 2002, S. 77–79; die Regelung des Jahres 1969 wurde auch deshalb beschlossen, um

Der strafrechtliche Zweck der Unverjährbarkeit

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Endgültig gelöst werden konnte die Verjährungsfrage in Deutschland erst 1979 mit der rückwirkenden Einführung der Unverjährbarkeit von Mord.830

5.

Der strafrechtliche Zweck der Unverjährbarkeit

Einen legitimen Strafzweck für die weitere Strafverfolgung der schweren NSBlutverbrechen sah die SPÖ in der Vermittlung von Wertehaltungen und der Bewusstseinsbildung im Sinne von positiver Generalprävention.831 Daneben sollte der Bevölkerung zur Abschreckung und damit der negativen Generalprävention bewusst gemacht werden, dass die Beteiligung an Systemunrecht jedenfalls geahndet wird.832 Die ÖVP lehnte allerdings eine auf NS-Verbrechen beschränkte Lösung ab, weil sie keinen Unterschied zwischen Mördern machen wollte. Mit der Begründung, dass Blutschuld gesühnt werden müsse, ging der ÖVP-Sprecher Nemecz wohl vom Vergeltungsgedanken aus. In dem maßgeblich vom Präventionsgedanken getragenen Strafgesetzentwurf 1964 war die rechtspolitische Frage nach der Sinnhaftigkeit einer unbeschränkten Strafverfolgung dagegen mit »Nein« beantwortet worden. Der Strafgesetzentwurf 1964, die paDruck auf die BRD, der vorbereiteten UN-Konvention mit der »großen« und »echten« Rückwirkung auf bereits verjährte Taten (Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) beizutreten, vorzubeugen; Protokoll der 93. Kabinettssitzung am Mittwoch, dem 13. September 1967, 8. Tagesordnungspunkt; auf: https://www.bundesarchiv.de/cocoon /barch/0000/k/k1967k/kap1_2/kap2_37/para3_9.html (abgerufen am 12. 8. 2020); weder Deutschland noch Österreich sind der Konvention beigetreten; zur UN-Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit siehe Kapitel V.5. 830 ZIMMERMANN 1997, S. 182f; in der 3. und 4. deutschen Verjährungsdebatte (ausführlich dazu MIQUEL 2004, S. 320–369) spielten verfassungsrechtliche Bedenken kaum noch eine Rolle, weil das deutsche Bundesverfassungsgericht die 1965 beschlossene Fristverschiebung im Jahr 1969 für verfassungskonform erklärt hatte, VOLLNHALS 2011, S. 396; das deutsche Bundesverfassungsgericht legte dieser Entscheidung eine prozessuale Verjährungsauffassung zugrunde. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG beziehe sich nur auf den Straftatbestand und die Strafandrohung, nicht auf die Dauer der Verfolgbarkeit und damit auch nicht auf die Verjährung; ASHOLT 2016, S. 46, 356f, 361–363; ZIMMERMANN 1997, S. 193–196; der Übergang von einem materiellrechtlichen zu einem prozessualen Verjährungsverständnis und damit eine Schwächung des Verjährungsgedankens erfolgte während der NS-Zeit durch die Judikatur des Reichsgerichts, siehe dazu Kapitel III.5. 831 Dies deckt sich mit der grundsätzlichen Auffassung der SPÖ vom Zweck der Entnazifizierung, die sie als eine Art »Umerziehung« zur Demokratie verstand. Personen, die der nationalsozialistischen Propaganda erlegen waren, hatten nach dieser Ansicht versagt und mussten umlernen; REITER 2019, S. 20. 832 BRODA 1965, S. 4; Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 11–28; so auch der SPÖ-Sprecher Migsch in der Nationalratsdebatte: StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4202–4205.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

nische Reaktion Nowakowskis, der um denselben fürchtete, die Betonung des Vergeltungsgedankens durch Nemecz sowie die Vorhersage Zeillingers, dass mit der Unverjährbarkeitsregel die Strafrechtsreform »zu Grabe getragen« werde, machen deutlich, dass es sich bei der Unverjährbarkeitsregel gerade nicht um einen Teil derselben handelte. Justizminister Broda kommentierte die österreichischen Verjährungslösung mit »ihre Mörder gegen unsere Mörder«. Damit ist wohl gemeint, dass einerseits – wie von der SPÖ gefordert – die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen Morde verlängert bzw. sogar aufgehoben wurde, andererseits – wie von der ÖVP verlangt – alle Morde gleichbehandelt wurden.833 Dafür hätte es allerdings genügt, einfach nur Mord an sich rückwirkend für unverjährbar zu erklären. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solche Lösung wurden jedenfalls nicht explizit geäußert. Die Einbeziehung aller bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen bildete allerdings die Voraussetzung, um die Regelungsänderung nicht nur als Teil der Strafrechtsreform, sondern auch als »Klarstellung der Rechtslage« darstellen zu können. Die FPÖ-Abgeordneten Zeillinger und Broesigke warfen der Regierung vor, damit eine von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnte Maßnahme zu verschleiern. Wie die österreichische Bevölkerung zur Verjährungsfrage stand, ist indessen nicht erkennbar. Zwar lehnten bei einer Umfrage des IFES 1976 83 % der österreichischen Bevölkerung weitere Kriegsverbrecherprozesse ab,834 für 1965 existieren jedoch, im Gegensatz zur BRD, keine Umfragedaten. Lediglich ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung beklagte die fehlende Bereitschaft der österreichischen Bevölkerung, sich mit dem Völkermord zu beschäftigen, und befürchtete auf Basis einer nach eigenen Worten »systemlosen« Umfrage, dass sich der Großteil der ÖsterreicherInnen gegen eine weitere Verfolgung der NS-Verbrechen und damit auch gegen die vom Europarat empfohlene Verlängerung der Verjährungsfristen für NS-Straftaten aussprechen werde.835 Mit Verweis auf die Situation in Deutschland wurde »die Regelung im getroffenen Sinn« vom ÖVP-Sprecher Nemecz jedenfalls »vor allem auch deshalb […] begrüßt, weil dadurch eine abträgliche politische Auseinandersetzung vermieden wurde«.836 Für die Parteien riskant war eine solche Debatte über eine außenpolitisch geforderte, innenpolitisch wohl umstrittene Maßnahme auch im Hinblick auf die im Herbst 1966 anstehende Nationalratswahl, bei der die ehemaligen Mitglieder der NSDAP und ihre Angehörigen eine große Wählergruppe bildeten. Dementsprechend relativierte Nemecz auch in der Nationalratsdebatte 833 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.295.1, fol. 14; StenProtBR, Sitzung 226 am 9. 4. 1965, S. 5528. 834 WIRTH 2011, S. 455. 835 Arbeiter-Zeitung, Weisse Westen, 15. 11. 1964, S. 1. 836 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4206f.

Die österreichische Lösung: Bewertung

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1965 den Vergeltungsgedanken gerade in Bezug auf die NS-Verbrechen: »Sühne ist aber keine Rache, und es muß einen Trennungsstrich geben zwischen jenen, die einmal einer Idee nachhingen und schon längst wieder den Weg zum österreichischen Vaterland gefunden haben, und jenen, die Blutschuld auf sich geladen haben.«837

6.

Die österreichische Lösung: Bewertung

Von den österreichischen Medien wurden die Änderungen im Verjährungsrecht kaum und teilweise ohne Bezugnahme auf die NS-Verbrechen thematisiert.838 Aus dem Ausland erntete die österreichische Bundesregierung dagegen Lob für ihre »kluge, politisch geschickte und verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung«,839 mit der der Empfehlung des Europarats entsprochen wurde.840 Besondere Anerkennung fand das einheitliche Auftreten der österreichischen Regierung, der in einem Land mit rund 600.000 ehemaligen Nationalsozialisten841 nicht selbstverständliche Verzicht auf »politische-opportunistische Erwägungen«842 sowie die Beschlussfassung vor und unabhängig von der Bundesrepublik Deutschland. Das vorangegangene Zögern wurde als Ringen um eine rechtsstaatliche Lösung gesehen, denn im Grunde seien sich die Regierungsparteien von Anfang an einig gewesen, dass die Rechtswohltat der Verjährung »Unrecht« sei, wenn sie Kriegsverbrechern zugute komme, die sich bisher »der Abrechnung ihrer Untaten entziehen konnten«.843 Die ablehnende Haltung der FPÖ wurde nicht auf rechtsstaatliche Bedenken, sondern die große Anzahl an ehemaligen

837 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4208. 838 Vgl. dazu die gesammelten Zeitungsausschnitte; in: ACB, Mappe III.295.12. 839 Wörtlich: Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7. 840 Tagesanzeiger, Österreich verhindert Nazi-Verjährung, Zürich 11. 2. 1965; Neue Zürcher Zeitung, Die Sühne für Kriegsverbrechen in Österreich, 11. 2. 1965; Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7. 841 Tatsächlich hatten rund 700.000 Österreicher der NSDAP angehört, davon wurden nach 1945 ca. 540.000 registriert, auf: http://de.doew.braintrust.at/m28sm129.html (abgerufen am 24. 6. 2020). 842 Wörtlich: Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7. 843 Wörtlich: Tagesanzeiger, Österreich verhindert Nazi-Verjährung, Zürich 11. 2. 1965; inhaltsgleich die Neue Zürcher Zeitung, Die Sühne für Kriegsverbrechen in Österreich, 11. 2. 1965 und Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7.

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Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Nationalsozialisten in der Partei zurückgeführt– ähnliche Stellungnahmen von einzelnen ÖVP-Politikern großzügig als deren persönliche Meinung abgetan.844 Tatsächlich agierten die beiden Großparteien in Österreich weitaus entschlossener und gemeinschaftlicher als in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Verjährungsfrage insbesondere die stimmenstärkste Partei, die CDU, spaltete.845 Dadurch gelang es der österreichischen Bundesregierung einerseits, gegenüber dem Ausland die Bereitschaft zur weiteren Verfolgung der NS-Verbrechen zu signalisieren, andererseits, im Inland eine breite öffentliche Debatte über ein kontroversielles Thema zu vermeiden. Rückblickend kann daher konstatiert werden, dass die österreichische Bundesregierung mit ihrem Verjährungskompromiss das beschriebene Dilemma bestmöglich löste. Zur juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen trug die rückwirkende Wiedereinführung der Unverjährbarkeit dagegen nur wenig bei.846 Zwar ermöglichte sie eine unbegrenzte Strafverfolgung der nationalsozialistischen Morde, doch endeten die nach 1965 durchgeführten NS-Prozesse, wie von Broda befürchtet, in einer Reihe von Freisprüchen und offensichtlichen Fehlurteilen der Geschworenengerichte, die jedoch auch vor dem Hintergrund der politischen Pardonierung der NS-Verbrechen, fehlender personeller Kapazitäten und Beweisschwierigkeiten zu sehen sind. Ab Mitte der 1970er-Jahre fanden bis 1997 keine NS-Prozesse mehr statt.847 Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass die Unverjährbarkeitsregel des § 231 StG nur einen Bruchteil der nationalsozialistischen Tötungsdelikte erfasste. Der »Mörder vom Schreibtisch« blieb straffrei. Gleiches galt für Personen, die bei der Tatbegehung das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Vor allem gegen diese Gruppe von in Österreich begünstigten NS-Mördern wurden in

844 Tagesanzeiger, Österreich verhindert Nazi-Verjährung, Zürich 11. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.7; besondere Erwähnung fand der ÖVP-Abgeordnete und Volksdeutsche Erwin Machunze, der sich dazu hinreißen ließ, den Regierungsparteien in wütenden Brandreden »Heuchelei« vorzuwerfen. Dieser forderte, zwanzig Jahre nach Kriegsende nicht immer wieder kaum vernarbte Wunden aufzureißen und den Begriff »Kriegsverbrechen« aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu eliminieren; Die Tat, Österreich und die Kriegsverbrecher, Zürich 11. 2. 1965, in: AChB, ÖNB, Handschriftensammlung, III.138.7. 845 MIQUEL 2004, S. 289f. 846 KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 348f. 847 KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 329; WIRTH 2011, S. 289–291, 451f; im Jahr 1997 wurde ein Verfahren gegen Heinrich Gross eingeleitet, dem im Zusammenhang mit dem NS-Euthanasieprogramm mehrfacher Mord als Arzt in der Kinderfachabteilung »Am Spiegelgrund« der Heil- und Pflegeanstalt »Am Steinhof« vorgeworfen wurde. Im Jahr 2000 wurde die Hauptverhandlung wegen Verhandlungsunfähigkeit von Gross unterbrochen und nicht wieder aufgenommen. Nach dem Tod von Gross wurden 2006 sämtliche Verfahren gegen ihn eingestellt. Seither wurden in Österreich keine NS-Prozesse mehr geführt; ACHRAINER/ EBNER 2006, S. 78.

Die österreichische Lösung: Bewertung

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Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit Prozesse geführt.848 Von der Unverjährbarkeitsregel nicht erfasst waren schließlich auch während der NS-Zeit begangene vorsätzliche Tötungen, die nach § 134 StG als Mord, nach der für den/ die TäterIn günstigeren Definition der §§ 211f dRStGB aber nur als Totschlag zu qualifizieren waren. Auch diese Lücken führten bei nationalsozialistischen Tötungsdelikten immer wieder zu Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen wegen Verjährung.849 Eine Änderung der Verjährungsregeln, um diese Mängel zu beheben und auch andere nationalsozialistische Verbrechen bestrafen zu können, wurde jedoch nicht mehr diskutiert.850 In der Bundesrepublik Deutschland führte dagegen die mehrfache Verlängerung der Verjährungsfristen dazu, dass die Verjährung der NS-Morde insgesamt dreimal kurz bevorstand. Unter nicht abnehmender internationaler Aufmerksamkeit war die deutsche Politik und Öffentlichkeit dazu gezwungen, sich immer wieder mit der Frage nach der Notwendigkeit der Durchführung weiterer NS-Prozesse zu befassen. Die beschlossenen Verjährungsverlängerungen waren auch in Deutschland lückenhaft. Totschlag verjährte hier 1960, nachdem ein Antrag auf Verlängerung der Verjährungsfrist seitens der SPD abgelehnt worden war.851 Ein unscheinbarer Paragraph im Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) führte 1968 zu einer weitreichenden Amnestierung der NS-Mordgehilfen. Von dieser profitierten sowohl Schreibtischtäter als auch Befehlsempfänger, weil anders als im österreichischen Recht Mordgehilfen auch Personen sein konnten, die die Tat eigenhändig ausgeführt hatten, sofern die Tat im Interesse eines anderen begangen worden war.852 848 Zuletzt beispielsweise gegen den zur Tatzeit siebzehn- und später achtzehnjährigen SSWachmann im Konzentrationslager Stutthof Bruno D., dem die Beihilfe zum Mord in mindestens 5.230 Fällen vorgeworfen wurde; Einer der letzten NS-Prozesse, in: Die Tageszeitung (taz), 6. 7. 2020, auf: https://taz.de/Stutthof-Prozess-in-Hamburg/!5694017/ (abgerufen am 18. 7. 2020). 849 Siehe dazu Kapitel V.3. 850 Mit dem Inkrafttreten des neuen österreichischen Strafgesetzbuchs (StGB 1974), BGBl. 1974/60 kam es zu Änderungen im Verjährungsrecht. Schwerste Straftaten blieben unverjährbar. Für jugendliche StraftäterInnen galten wiederum besondere Regeln. Die Privilegierung des untergeordneten Tatbeitrags zum Mord iSv § 137 StG entfiel. Die Situation der NS-Straftäter verschlechterte sich dadurch jedoch nicht, weil die neuen Regeln nur soweit angewendet werden durften, als nicht das alte zur Tatzeit geltende Recht für den/die TäterIn günstiger war (§ 61 StGB); MARSCHALL 1987, S. 24f, 29; eine Änderung der Sonderregeln für jugendliche StraftäterInnen wurde von 2010 bis 2015 verstärkt gefordert, um die Verjährung der Kriegsverbrechen des Jugoslawienkriegs zu verhindern, zu einer solchen kam es tatsächlich nicht; MÜLLER 2011. 851 SAMBALE 2002, S. 63; VOLLNHALS 2011, S. 377, 381f. 852 Dazu ausführlich FRIEDRICH 2007, S. 434–438; GREVE 2000, S. 412, 421–424; MIQUEL 2004, S. 358–362; obwohl dieses Ergebnis bei der Novellierung des EGOWiG vom deutschen Gesetzgeber nicht beabsichtigt war, besteht die Vermutung, dass es von einigen Referenten des Bundesjustizministeriums absichtlich herbeigeführt wurde. Mit ihm wurde den seit langer

180

Schlussstrich unter die NS-Verbrechen? Die Verjährungsfrage in Österreich

Die mehrfach kontrovers und öffentlichkeitswirksam geführten Verjährungsdebatten führten aber dazu, dass die Frage nach der Notwendigkeit der Durchführung weiterer NS-Prozesse in den deutschen Medien, der Politik und Bevölkerung über einen Zeitraum von zwanzig Jahren präsent war. Dabei vollzog sich ein Wandel in der politischen Kultur Deutschlands, von moralisch verstockter Abwehrhaltung zu einem selbstkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.853 Den sich regelmäßig wiederholenden Verjährungsdebatten wird daran ein wichtiger Anteil eingeräumt.854 Einen vergleichbaren Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit leistete die Verjährungsfrage in Österreich nicht. Zwar stellte sie sich auch hier angesichts der drohenden Verjährung der NS-Verbrechen, im Ergebnis, dem »vorgezogenen Punkt« der Strafrechtsreform und zugleich »Klarstellung« des gesetzgeberischen Willens, kommt dies jedoch kaum zum Ausdruck. Vielmehr vermied die »österreichische« Lösung eine Debatte über und eine Antwort auf die Frage »Schlussstrich unter die NS-Verbrechen?«.

Zeit bestehenden, aber in der Großen Koalition politisch kaum durchsetzbaren Amnestierungsbemühungen für »Mordgehilfen« Rechnung getragen, siehe dazu GREVE 2000, S. 414, 419f; MIQUEL 2004, S. 333–335; VOLLNHALS 2011, S. 397; insbesondere den Politikern der CDU/CSU erleichterte das Gesetz die Zustimmung zur Verjährungsverlängerung 1969, weil die Auswirkungen einer solchen nun von vornherein begrenzt waren; dazu ausführlich: MIQUEL 2004, S. 344–357; zur »kalten Verjährung« in Österreich siehe Kapitel V. 853 Unter dem Eindruck der mehrteiligen US-amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« sprach sich vor der vierten und letzten deutschen Verjährungsdebatte 1979 erstmals eine knappe Mehrheit der Deutschen für die weitere Verfolgung der NS-Verbrechen aus, wobei der Anteil der Befürworter in der jüngeren Bevölkerung deutlich höher war; VOLLNALS 2011, S. 400f; gegenwärtig scheint allerdings umstritten, ob und inwiefern es sinnvoll ist, NS-Prozesse gegen Greise, die zumeist in untergeordneten Positionen tätig waren, durchzuführen. 854 MIQUEL 2004, S. 380f, VOLLNHALS 2011, S. 375, 399–401.

V.

Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975

1.

Einleitung

Im Jahr 1965 beschloss das österreichische Parlament die rückwirkende Unverjährbarkeit von Mord.855 Daher hätten die nationalsozialistischen Morde in Österreich formal unbefristet lange verfolgt werden können. Dennoch fanden in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren kaum noch NS-Prozesse statt.856 In den wenigen Verfahren fällten die österreichischen Geschworenengerichte eine Reihe von fehlerhaften Freisprüchen, die internationale Empörung und Kritik auslösten. Die österreichische Bevölkerung wiederum hatte kein Interesse an weiteren NS-Prozessen.857 Auch in der Politik bestand Einigkeit, »die Vergangenheit ruhen zu lassen«.858 Eine offene Beendigung der Verfolgung der NSMorde war aber angesichts der zu erwartenden negativen Reaktionen aus dem Ausland und vereinzelt auch aus dem Inland kaum oder nur um den Preis eines internationalen Reputationsverlustes möglich. Außerdem hätte eine solche wohl zu einer gesellschaftlichen Thematisierung der österreichischen NS-Vergangenheit und des Umgangs der Republik mit derselben geführt.859 Vor diesem Hintergrund trat am 1. Jänner des Jahres 1975 das neue österreichische Strafgesetzbuch (StGB)860 in Kraft, dessen Regelungen (namentlich die §§ 61, 62 und 65 StGB), wie im Folgenden gezeigt wird, die Verjährung der meisten von Österreichern im Ausland begangenen NS-Morde und damit das Ende der NS-Prozesse bewirkten. In weiterer Folge fanden in Österreich über855 Dazu ausführlich Kapitel IV.4. 856 KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 346. 857 KURETSIDIS-HAIDER 2001, S. 99f; LOITFELLNER 2006, S. 90; LOITFELLNER 2009, S. 162, 164; WIRTH 2011, S. 453–456. 858 In diesem Sinn Bundeskanzler Bruno Kreisky im Jahr 1975, zitiert nach LOITFELLNER 2009, S. 162. 859 Siehe dazu Kapitel IV.4. 860 Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB 1974), BGBl 1974/60.

182 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 haupt nur noch zwei NS-Prozesse statt.861 Die Auswirkungen dieser Regelungen auf die weitere Möglichkeit der österreichischen Justiz zur Verfolgung der nationalsozialistischen Morde waren damit ähnlich gravierend wie in der Bundesrepublik Deutschland die »Gehilfenverjährung«862 durch die Neufassung von § 50 Absatz 2 des deutschen Strafgesetzbuches durch Art. 1 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG).863 Das folgende Kapitel beschäftigt sich erstmals mit der »kalten Verjährung«864 in Österreich und stellt die Entstehungsgeschichte und den Inhalt der §§ 61, 62 und 65 StGB sowie deren Auswirkungen auf die Möglichkeit zur Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen umfassend dar.865 Die Regelungen werden in die internationale Rechtsentwicklung eingebettet. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob die mit den §§ 61, 62 und 65 StGB bewirkte faktische »Amnestierung der NS-Mörder«866 geplant oder doch nur ein gesetzgeberisches Versehen war.

2.

Die Verfolgung der NS-Straftaten in Österreich nach 1965

Die längste auch für NS-Straftaten geltende Verjährungsfrist betrug in Österreich nach der Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 1950 zwanzig Jahre. Damit hätten die NS-Verbrechen über das Jahr 1965 hinaus kaum noch verfolgt werden können. Unter großem außenpolitischem Druck beschloss das österreichische Parlament im Jahr 1965 die rückwirkende Unverjährbarkeit von Straftaten, die bis zur Aufhebung der Todesstrafe im Jahr 1950 mit eben dieser Strafe bedroht gewesen waren.867 Die mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten waren bis zum 861 KURETSIDIS-HAIDER 2001, S. 101; WIRTH 2011, S. 451f. 862 Anders als in Österreich konnten in Deutschland auch Personen als Mordgehilfen betrachtet werden, die eine Tötung eigenhändig ausgeführt hatten, sofern diese nur im Interesse eines anderen und ohne eigenen Täterwillen gehandelt hatten; GREVE 2000, S. 412, 421–424. 863 Zur deutschen »Gehilfenverjährung« siehe auch Kapitel IV.6. 864 Der Begriff »kalte Verjährung« wurde vom israelischen Justizministerium entwickelt, um die Verjährung der »Gehilfenmorde« in der BRD durch das EGOWiG zu kritisieren. Die Beteuerungen der BRD, dass es sich dabei um ein nicht beabsichtigtes Versehen handelte, wurden bezweifelt. Der nächste logische Schritt, prophezeite das israelische Justizministerium, werde dann wohl die offizielle Amnestierung der NS-Mordgehilfen noch vor den Bundestagswahlen sein; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Kalte Verjährung, 13. 1. 1969, S. 58; MIQUEL 2004, S. 332. 865 Eine erste Fassung dieses Kapitels wurde unter dem Titel »Die ›kalte Verjährung‹ der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ) 1 (2021), S. 194–225 vor Kurzem veröffentlicht. 866 Mit diesem im Ergebnis zutreffenden Ausdruck wird häufig die deutsche »Gehilfenverjährung« des Jahres 1968 bezeichnet, so etwa GLIENKE 2011 und GREVE 2000 schon im Titel ihrer Publikationen. 867 Art. 1 und 3 Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79.

Die Verfolgung der NS-Straftaten in Österreich nach 1965

183

Jahr 1950 unverjährbar gewesen, sodass sich die Rechtslage der NS-Straftäter im Vergleich zum Tatzeitpunkt nicht verschlechterte. Zu den »todesstrafwürdigen« Delikten hatte bis 1950 insbesondere Mord gehört. Die während der NS-Zeit begangenen Morde iSv § 211 dRStGB868 waren als Folge dieser Gesetzesänderung unbefristet lange verfolgbar. Außerdem waren Deportationsverbrechen, die sich unter §§ 87, 88 iVm § 86 StG (sogenannter »Eisenbahnerparagraph«) subsumieren ließen (Vernachlässigung von Verpflichtungen beim Betrieb einer Eisenbahn, wenn dies den Tod eines Menschen zur Folge hatte und der Täter dies voraussehen konnte), mit dem Tod bestraft gewesen und nun wieder von der Verjährung ausgenommen. Die Unverjährbarkeitsregel (§ 231 StG869) erfasste dennoch nur einen Bruchteil der nationalsozialistischen Tötungsdelikte. Denn unverjährbar war nur die unmittelbare Mitwirkung am Mord sowie die Anstiftung zum Mord. Die entfernte Beihilfe zum Mord (§ 137 StG),870 worunter insbesondere organisatorische Vorbereitungshandlungen zum Massenmord (sogenannte »Schreibtischmorde«) fielen, und Totschlag (iSv § 212 dRStGB)871 waren verjährt und konnten nicht mehr bestraft werden.872 Für Personen, die bei der Tatbegehung das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, bestand eine besondere Verjährungsregel. Ihre Straftaten (auch Morde) verjährten spätestens zehn Jahre nach der Tatbegehung (§ 232 StG). Unter zwanzigjährige NS-StraftäterInnen, die rein biologisch am längsten hätten verfolgt werden können, waren daher in Österreich bereits früh vor der Strafverfolgung geschützt. Von der Unverjährbarkeitsregel nicht erfasst waren schließlich auch vorsätzliche Tötungen während der NSHerrschaft, die nach § 134 des österreichischen StG873 als Mord, nach der für den/ 868 »Der Mörder wird mit dem Tode bestraft (Abs. 1). Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (Abs. 2).« (§ 211 dRStGB idFv dRGBl I 1941). 869 Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen 1852 idFv 1938; Kundmachung des Staatsamtes für Justiz vom 3. November 1945 über die Wiederverlautbarung des österreichischen Strafgesetzes, im Folgenden abgekürzt mit StG; hier in der Fassung von Strafrechtsänderungsgesetz 1965, BGBl 1965/79. 870 Nach dieser Bestimmung waren »diejenige[n], welche, ohne unmittelbar bei der Vollziehung des Mordes selbst Hand anzulegen und auf tätige Weise mitzuwirken, auf eine in dem § 5 enthaltene entferntere Art zur Tat beigetragen haben«, zu bestrafen (§ 137 StG). 871 »Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit lebenslangem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.« (§ 212 dRStGB idFv dRGBl I 1941). 872 Siehe dazu MARSCHALL 1987, S. 19–21, 24f, 29; dazu ausführlich Kapitel IV.2.1. und Kapitel IV.6. 873 Der Tatbestand des Mordes wurde in § 134 StG wie folgt definiert: »Wer gegen einen Menschen, in der Absicht, ihn zu tödten, auf eine solche Art handelt, daß daraus dessen oder eines anderen Menschen Tod erfolgte, macht sich des Verbrechens des Mordes schuldig.«

184 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 die TäterIn günstigeren Definition des § 211 dRStGB aber nur als Totschlag iSv § 212 dRStGB zu qualifizieren waren.874 Der damalige Justizminister Christian Broda (SPÖ) hatte im Jahr 1965 vorgeschlagen, die Verjährungsfristen für strafbare Handlungen, die auch den Tatbestand des Völkermordes875 verwirklichten, rückwirkend zu verlängern. Unter den Begriff des Völkermordes hätten auch »Schreibtischmord« iSv § 137 StG und Totschlag iSv § 212 dRStGB subsumiert werden können. Dieser Vorschlag war aber von dem Koalitionspartner, der ÖVP, abgelehnt worden.876 Die letztendlich beschlossene Regelung basierte auf einem Kompromiss der Regierungsparteien (ÖVP/SPÖ). Sie hatte wohl nicht primär den Zweck, eine effektive Grundlage für die weitere Verfolgung der NS-Straftaten zu schaffen, sondern sollte vor allem außenpolitische Komplikationen und eine innenpolitische Auseinandersetzung über ein kontroversielles Thema– die Notwendigkeit weiterer NS-Prozesse– verhindern.877 Dem Ausland wurde mit dem Beschluss der rückwirkenden Unverjährbarkeit von Mord der Eindruck vermittelt, dass Österreich weiter gewillt war, NS-Straftaten zu verfolgen. Im Inland konnte die allgemeine, nicht auf NSVerbrechen beschränkte Regel als vorgezogener Punkt der Strafrechtsreform »getarnt« werden. Besonders die Vertreter der ÖVP leugneten, dass der Gesetzesbeschluss durch die Verjährung der NS-Verbrechen motiviert war.878 Ange-

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Nach der Rechtsprechung war für die Absicht, zu töten, dolus eventualis, das heißt bedingter Vorsatz ausreichend; PICHLER 2016, S. 155. Die Tatbestände Mord und Totschlag wurden im Jahr 1941 neu definiert und zwar rückwirkend mit Geltung auch für die »Ostmark«. Nach der Wiederherstellung des österreichischen Strafgesetzes 1852 in der Fassung vom 13. März 1938 am 12. Juni 1945 (Gesetz vom 12. Juni 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts StGBl. 1945/25) bestimmte ein Übergangsgesetz, dass auf früher begangene Taten primär das geltende österreichische Recht anzuwenden war. Das Recht im Tatzeitpunkt kam dagegen nur dann zur Anwendung, wenn es für den/die TäterIn günstiger war. Bei der Abgrenzung von Mord und Totschlag war das deutsche Recht günstiger. Denn nach diesem stellten vorsätzliche Tötungshandlungen, anders als nach § 134 StG, nur dann Mord dar, wenn der/die TäterIn grausam, heimtückisch oder aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte (§ 211 dRStGB). Waren diese Merkmale nicht nachweisbar, lag Totschlag iSv § 212 dRStGB vor, für den in Österreich nur eine zwanzigjährige Verjährungsfrist galt; dazu ausführlich Kapitel IV.2.1. Im Sinn von § 353 Strafgesetzentwurf 1964, der § 328 StGB 1974 entspricht: »Wer in der Absicht, eine durch ihre Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgesellschaft, zu einer Rasse, einem Volk, einem Volksstamm oder einem Staat bestimmte Gruppe als solche, ganz oder teilweise zu vernichten, Mitglieder der Gruppe tötet, ihnen schwere körperliche (§ 92) oder seelische Schäden zufügt, die Gruppe Lebensbedingungen unterwirft, die geeignet sind, den Tod aller Mitglieder oder eines Teiles der Gruppe herbeizuführen, Maßnahmen verhängt, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind, oder Kinder der Gruppe mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt in eine andere Gruppe überführt, ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.« Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.295.1, fol. 14. Zur »Lösung« der Verjährungsfrage in Österreich siehe insbesondere Kapitel IV.4.–IV.6. Siehe dazu Kapitel IV.4.4.–IV.4.6.

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185

sichts ihrer Entstehungsgeschichte scheint kaum verwunderlich, dass die Unverjährbarkeitsregel tatsächlich keine stabile Grundlage für die weitere Verfolgung der schwersten NS-Straftaten darstellte.879 Für deren Aburteilung waren nach der Abschaffung der Volksgerichte880 am 20. Dezember des Jahres 1955 Geschworenengerichte zuständig. Diese bestanden aus drei Berufs- und acht LaienrichterInnen aus dem Volk. Die Schuldfrage hatten allein die Geschworenen mit einfacher Mehrheit zu beurteilen (sog. »Wahrspruch« der Geschworenen), bei Stimmengleichheit galt die Schuldfrage als verneint. Die Festlegung des Strafausmaßes erfolgte in gemeinsamer Beratung von Berufs- und LaienrichterInnen.881 Die Aburteilung der NS-Straftaten durch die Geschworenengerichte wird allgemein als unrühmliches Kapitel der österreichischen Nachkriegsjustiz betrachtet. Zwischen den Jahren 1956 und 1975 wurden gegen rund 5.500 Personen Ermittlungen wegen nationalsozialistischer Verbrechen eingeleitet.882 Die österreichischen Staatsanwaltschaften erhoben nach der Abschaffung der Volksgerichte aber nur noch in 48 Fällen Anklage gegen beschuldigte NS-Straftäter. In diesen Prozessen ergingen zwanzig rechtskräftige Schuldsprüche, denen 23 rechtskräftige Freisprüche gegenüberzustellen sind.883 Den Freisprüchen lagen teilweise Fehlbeurteilungen der Geschworenen und schwere Verfahrensmängel zugrunde, sodass die Urteile internationale Kritik und Empörung auslösten.884 Die Geschworenenprozesse fielen in eine Zeit, in der Österreich kein politisches Interesse an NS-Prozessen bestand. Nach dem Abzug der Alliierten war es umgehend zur Pardonierung der ehemaligen Nationalsozialisten gekommen, die gemeinsam mit ihren Familien eine große und wichtige Wählergruppe darstellten, um die sich alle politischen Parteien bemühten. Die erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfolgung der NS-Verbrechen wurden, im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland mit der Ludwigsburger Zentralstelle,885 nicht zur Verfügung gestellt, und die wenigen damit betrauten Staatsanwaltschaften waren mit einer Vielzahl von Verfahren überlas879 Wie sogleich der 3. Abschnitt des Beitrags zeigen wird. 880 Zu den Volksgerichten siehe FN 619. 881 Geschworenenprozesse 1956–1975; auf: https://ausstellung.de.doew.at/b146.html (abgerufen am 5. 8. 2020); GARSCHA 1998, S. 14f. 882 Gegen wie viele österreichische NS-TäterInnen nicht ernsthaft ermittelt wurde, ist völlig unbekannt; LOITFELLNER 2009, S. 159. 883 Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen vor österreichischen Gerichten seit 1956. Statistischer Überblick, auf: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/statistik56_ 04.php; KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 346. 884 Geschworenenprozesse 1956–1975, auf: https://ausstellung.de.doew.at/b146.html (abgerufen am 5. 8. 2020); GARSCHA 1998, S. 14f. 885 Zur Funktion der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen siehe FN 826.

186 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 tet.886 Auch die österreichische Bevölkerung zeigte kein Interesse an weiteren NSProzessen. Bei einer Meinungsumfrage des IFES-Instituts im Jahr 1976 stimmten der Aussage »30 Jahre nach Kriegsende soll es keine Kriegsverbrecherprozesse mehr geben« 83 % der Befragten zu. Nur 16 % sprachen sich dagegen aus.887

3.

Die letzten österreichischen NS-Prozesse vor dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974

Sowohl die Aufhebung der Verjährung für die bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Straften im Jahr 1965 als auch das Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 und das Ende der NS-Prozesse fallen in die Ära von Justizminister Christian Broda, der dieses Amt von 1960 bis 1965 und sodann von 1970 bis 1983 innehatte. In gesellschaftspolitischen Fragen war Broda progressiv, er bezeichnete sich als »links von der Mitte der Sozialistischen Partei« stehend.888 In jungen Jahren hatte er sich in der kommunistischen Jugendbewegung889 und während der Herrschaft des Nationalsozialismus im Widerstand engagiert.890 Nachdem Broda im Jahr 1970 erneut das Justizministerium übernommen hatte, wurde bis 1972 gegen vierzehn NS-Straftäter Anklage erhoben. Damit entsteht der Eindruck, dass die österreichische Justiz bestrebt war, noch eine Reihe von NS-Prozessen durchzuführen.891 Die wenigen Ressourcen sollten dabei auf die Verfahren konzentriert werden, in denen eine Verurteilung angesichts der guten Beweislage besonders aussichtsreich erschien.892 Das Ergebnis der Bemühungen war ernüchternd. Von allen zwischen 1970 und 1972 geführten NS-Prozessen endeten nur vier mit einem Schuldspruch. Ihnen standen acht Freisprüchen gegenüber.893 Ein Schuldspruch erging gegen Anton Siller, dem die Ermordung einer nicht feststellbaren Anzahl an polnischen »Jüdinnen und Juden« im Zwangsarbeits886 WIRTH 2011, S. 289–291, 451f. 887 Nicht auszuschließen ist, dass dieses Umfrageergebnis durch die fragwürdigen Entscheidungen der Geschworenenprozesse mitbeeinflusst war; WASSERMANN 2002, S. 161. 888 Interview mit Christian Broda in der Radio-Sendung »Im Brennpunkt« am 29. 4. 1983, zitiert nach WIRTH 2011, S. 504. 889 Was ihm besonders in Wahlkampfzeiten zum Vorwurf gemacht wurde; WIRTH 2011, S. 313–322; dazu auch Kapitel VI.2.2.2. 890 Dazu ausführlich WIRTH 2011, S. 99–116. 891 Im Vergleich dazu wurden in der Amtsperiode seines parteifreien Vorgängers Hans Richard Klecatsky in der ÖVP-Alleinregierung (1966–1970) insgesamt nur zehn Anklagen wegen NSGewaltverbrechen erhoben; WIRTH 2011, S. 451. 892 GARSCHA 1997, S. 11; WIRTH 2011, S. 451. 893 Sodann wurde bis zum Jahr 1975 kein NS-Prozess mehr abgeschlossen; GARSCHA, Winfried, Chronik der gerichtlichen Ahndung von NS-Verbrechen nach der Abschaffung der Volksgerichte, auf: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/chronik_wg.php (abgerufen am 20. 8. 2020).

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187

lager Janowska in Lemberg vorgeworfen wurde. Außerdem hatte Siller laut Anklageschrift untergebenen Angehörigen der Lager-SS und der ukrainischen Miliz mehrfach Befehle zur Ermordung von »jüdischen« Männern und Frauen erteilt. Beim Prozess in Salzburg belasteten insgesamt zwölf ZeugInnen Siller schwer. Das Geschworenengericht befand Siller mit knapper Mehrheit der Ermordung dreier »Juden« und des Mordversuchs in sechzehn weiteren Fällen schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren schwerer Kerker. In 34 anderen Anklagepunkten sprachen die Geschworenen Siller dagegen frei. Die »Salzburger Nachrichten« waren daher der Auffassung, dass dieser Schuldspruch einem Freispruch sehr nahe käme. Am 31. Dezember 1971 wurde Siller bedingt aus der Haft entlassen.894 Angesichts des massiven Tatvorwurfs kam auch das Urteil gegen Karl Macher einem Freispruch nahe. Die Staatsanwaltschaft warf dem SS-Obersturmführer vor, den ihm unterstellten Gendamarie- und Polizeiangehörigen in TomaszówMazowiecki (Polen) den Befehl zur Tötung von insgesamt mehreren tausend »Juden und Jüdinnen« gegeben sowie im Zuge einer Ermordungsaktion zwei Frauen eigenhändig erschossen zu haben. Der Anklage standen nur wenige AugenzeugInnen zur Verfügung, wohingegen ehemalige SS-Kollegen Macher entlasteten. Die Geschworenen verneinten schließlich alle Hauptfragen nach Mord und bejahten lediglich die Eventualfrage, ob Macher schuldig sei, in der Nacht vom 27. auf den 28. April 1942 als verantwortlicher Leiter der Sicherheitspolizei seiner Verpflichtung zur Verhinderung von Erschießungen Angehöriger der jüdischen Intelligenz nicht nachgekommen zu sein. Macher wurde daher wegen qualifizierter öffentlicher Gewalttätigkeit (§§ 87, 88 iVm § 86 StG) zu einer Zusatzstrafe895 von fünf Jahren schwerer Kerker verurteilt.896 Mit einem Schuldspruch endete auch das Verfahren gegen Franz Grün, den ehemaligen Leibwächter des berüchtigten Kommandanten des KZ Plaszow Amon Göth. Die Staatsanwaltschaft warf Grün die Ermordung einer unbekannten Anzahl an Menschen vor, wobei zu Grüns Opfern besonders häufig junge Personen und auch Kleinkinder gezählt hätten. Die Geschworenen sprachen Grün in elf Anklagepunkten frei und in acht schuldig. Nach dem Urteil hatte Grün mindestens sechzehn »jüdische« Männer, Frauen und Kinder ermordet sowie an der Exekution von zumindest 60 Häftlingen mitgewirkt. Dafür wurde er

894 HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 110–112; LOITFELLNER 2002, S. 151. 895 Zu einer Zustrafe, weil Macher im März 1949 vom Volksgericht Wien wegen »Illegalität« zu zweieinhalb Jahren schwerem Kerker verurteilt worden war; HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 112. 896 HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 112–114; LOITFELLNER 2002, S. 154.

188 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 zu einer Zusatzstrafe von neun Jahren schwerer Kerker897 verurteilt, wobei das Urteil die völlige Schulduneinsichtigkeit Grüns betonte.898 Nach dreimaliger Urteilsaufhebung und viermaliger Durchführung der Hauptverhandlung wurde schließlich auch der »Transportchef« Adolf Eichmanns, Franz Novak, der die Deportation von »Juden und Jüdinnen« aus verschiedenen Teilen Europas in die Konzentrations- und Vernichtungslager in den vom Deutschen Reich besetzten Ostgebieten organisierte, schuldig gesprochen. Der Schuldspruch erfolgte aber nicht wegen Mordes, sondern wegen qualifizierter öffentlicher Gewalttätigkeit (§§ 87, 88 iVm § 86 StG), worunter auch die qualifizierte Vernachlässigung von Verpflichtungen beim Betrieb einer Eisenbahn fiel, weil Novak kein unmittelbarer Tatbeitrag an den Ermordungen nachgewiesen werden konnte und die entfernte Mitschuld am Mord (»Schreibtischmord«) bereits verjährt war. Das Geschworenengericht verurteilte Novak zu einer Haftsstrafe von sieben Jahren. Fünf Jahre hatte Novak bereits in Untersuchungshaft verbracht, die Reststrafe wurde ihm von Bundespräsident Rudolf Kirschläger (parteilos) im Gnadenweg erlassen.899 Wie Simon Wiesenthal ausrechnete, bedeutete dies »drei Minuten [erg. Haft] pro Opfer« für den Mann,900 von dem Eichmann behauptete: » Ich hätte meinen Auftrag nie erfüllen können, wenn es mir nicht gelungen wäre, die täglich schwieriger werdenden Transportprobleme zu lösen. Das war hauptsächlich Verdienst meines Sachbearbeiters Franz Novak.«901 Unter den Freigesprochenen befanden sich dagegen die vier in den österreichischen Auschwitz-Prozessen Angeklagten. Der erste Auschwitz-Prozess in Österreich wurde gegen die »Architekten des Todes« Walter Dejaco und Fritz Karl Ertl im Jahr 1972 geführt. Dejaco war während der ganzen Zeit des Bestehens des KZ Auschwitz der Leiter des Planungsbüros der Abteilung Hochbau in der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei, das für die Planung aller zu errichtenden Bauten im Lagerbereich und die Ausführung der Bauentwürfe zuständig war.902 Ertl arbeitete in diesem Büro mit, ließ sich aber Ende des Jahres 1942 an die Front versetzen– nach seinen eigenen Angaben, weil ihm der Zweck der Bauten bewusst geworden war. Dejaco, der als Leiter des Planungsbüros die Pläne unterfertigt hatte, leugnete dagegen, den Zweck der Bauten gekannt zu haben.903 897 Franz Grün war bereits in Polen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Nach Abschluss des Staatsvertrags im Jahr 1955 kam Grün aufgrund von einer Begnadigung zurück nach Österreich, wo die Staatsanwaltschaft zunächst erklärte, von einer weiteren Verfolgung abzusehen; HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 117. 898 HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 117–119. 899 Dazu ausführlich HOLPFER 2005, S. 1–7. 900 Simon Wiesenthal, zitiert nach LOITFELLNER 2002, S. 88. 901 Der Spiegel, ÖSTERREICH/NOVAK-PROZESS. Dritter Versuch, S. 157. 902 LOITFELLNER 2006, S. 186. 903 LOITFELLNER 2006, S. 187.

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Beiden Beschuldigten wurde vorgeworfen, an der Vollziehung der Massenmorde durch Vergasung von Menschen in Auschwitz-Birkenau durch Planung, Errichtung und Instandhaltung der Gaskammern und Krematorien unmittelbar mitgewirkt zu haben. Dejaco war zudem wegen der Ermordung von zwölf »jüdischen« Häftlingen durch Schüsse und Schläge zwischen Herbst 1940 und Sommer 1942 angeklagt.904 Bereits im Vorfeld der Anklageerhebung hatte es rechtliche Bedenken gegeben, ob das Verbrechen der unmittelbaren Mitwirkung am Mord durch die Planung, Errichtung und Instandhaltung der Gaskammern und Krematorien verwirklicht war. Das Justizministerium erteilte jedoch die Weisung, Anklage zu erheben. Die Rechtsfrage sollten die Geschworenen beurteilen.905 Diese entschieden, dass die Planung und Errichtung der Gaskammern und Krematorien lediglich als entfernte Mitschuld nach § 137 StG zu werten seien.906 Im Fall Dejacos erachteten die Geschworenen weder den Tatbestand der unmittelbar tätigen Mitwirkung am Mord, noch den Tatbestand der entfernten Mitschuld am Mord als erfüllt – hatte Dejaco doch angegeben, den Zweck der Bauten nicht gekannt und daher ohne Vorsatz gehandelt zu haben. Auch die Ermordung der Häftlinge betrachteten die Geschworenen als nicht erwiesen. Damit wurde Dejaco als Leiter des Planungsbüros besser beurteilt als Ertl, der sich 1942 freiwillig versetzen hatte lassen. Ertl wurde zwar nicht der unmittelbaren Mitwirkung an den Ermordungen, wohl aber der entfernten Mitschuld an den Morden für schuldig befunden. Die entfernte Mitschuld am Mord (§137 StG) unterlag einer zehnjährigen Verjährungsfrist. Daher war im Ergebnis auch Ertl freizusprechen, zum einen wegen Verjährung, zum anderen wurde der Befehlsnotstand bejaht.907 Der zweite Auschwitz-Prozess wurde gegen Angehörige der Lager-SS, nämlich gegen Franz Wunsch und Otto Graf, geführt. Beide hatten laut Anklageschrift mindestens einmal wöchentlich an den Massenmorden mitgewirkt. Der Anklageschrift zufolge hatte Wunsch Menschen zu den Gaskammern eskortiert und mit Gewalt zum Betreten der Gaskammern gezwungen. Graf wurde vorgeworfen, wiederholt Zyklon B in einen Sanitätswagen geladen, dieses zu den Gaskammern gebracht und sodann in die Gaskammern geworfen zu haben. Zudem waren Wunsch und Graf laut Anklage an den Ermordungsaktionen der Sonderkommandos beteiligt gewesen. Bei beiden erfolgte daher die Anklage wegen mehrfachen Mordes. Graf wurde zudem die Tötung eines »jüdischen« Häftlings

904 905 906 907

MARSCHALL 1987, S. 188f. LOITFELLNER 2006, S. 187. LOITFELLNER 2006, S. 189. MARSCHALL 1987, S. 188–190; LOITFELLNER 2006, S. 189f.

190 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 und der Polin Marilla D. vorgeworfen. Wunsch hatte laut Anklageschrift einen zwanzigjährigen »Juden« erschossen.908 Bei der Einvernahme in der Hauptverhandlung gestanden Graf und Wunsch lediglich, Häftlinge misshandelt zu haben, wenn es zu Übertretungen gekommen war. Der große zeitliche Abstand zu den Taten bereitete den ZeugInnen bei Detailfragen Schwierigkeiten, was der Verteidigung Gelegenheit bot, ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Der Richter schritt auch nicht ein, als der Angeklagte Graf eine Zeugin selbst »verhörte«.909 Die Geschworenen befanden Wunsch schließlich nicht der unmittelbar tätigen, sondern nur der entfernten Mitwirkung iSv § 137 StG an den Ermordungen für schuldig. Die entfernte Mitschuld war aber bereits verjährt. Außerdem bejahten die Geschworenen den Entschuldigungsgrund des Befehlsnotstandes.910 Graf wurde des Totschlags an Marilla D. für schuldig befunden, der aber ebenfalls verjährt war. Sowohl das Verfahren gegen Wunsch als auch gegen Graf endete daher mit einem Freispruch.911 Angeklagt und freigesprochen wurde in dieser Zeitspanne auch der ehemalige SS-Angehörige Andreas Vogel. Dieser hatte sich freiwillig für die Erschießung eines russischen Kriegsgefangenen gemeldet und den ahnungslosen Häftling mit einem Kopfschuss von hinten getötet, nachdem der eigentlich für die Tat bestimmte SS-Mann die Tötung verweigert hatte.912 Obwohl Vogel die Tötung mehrfach reuig gestand, wurde er in zwei Prozessen freigesprochen, womit zumindest im ersten Verfahren niemand, nicht einmal sein Verteidiger, gerechnet hatte.913 Doch die Geschworenen verneinten die Niedrigkeit seiner Beweggründe und die Mordlust, womit die Tötung nur mehr einen verjährten und nicht mehr strafbaren Totschlag darstellte.914 Ähnlich gestaltete sich der Fall von Ferdinand Friedensbacher, der als Angehöriger der Gestapo auf Kreta den angeblichen Leiter einer Widerstandsgruppe eigenmächtig erschossen hatte, weil dieser ihm Auskünfte verweigert hatte. Die Geschworenen bejahten die Tötung, verneinten jedoch die niedrigen Beweggründe und die Grausamkeit. Damit lag wiederum kein Mord, sondern nur verjährter Totschlag vor und Friedensbacher war freizusprechen.915 Im Mai 1970 angeklagt und sodann freigesprochen wurde auch der SSHauptscharführer und Gaswagenfahrer Josef Wendl, dem vorgeworfen wurde, an der Vergasung von mindestens 500 »jüdischen« Männern, Frauen und Kindern 908 909 910 911 912 913 914 915

LOITFELLNER 2006, S. 190f. LOITFELLNER 2006, S. 191f. MARSCHALL 1987, S. 191f; LOITFELLNER 2006, S. 193f. MARSCHALL 1987, S. 190f; LOITFELLNER 2006, S. 194. GARSCHA 2006, S. 272f. LOITFELLNER 2002, S. 148. GARSCHA 2006, S. 273f; LOITFLLNER 2002, S. 148. GARSCHA 2006, S. 275.

Die letzten österreichischen NS-Prozesse

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in dem von ihm gefahrenen Gaswagen und außerdem an der Erschießung 30 weiterer Personen unmittelbar mitgewirkt zu haben. Die Beweislage war ausgesprochen gut und Wendl voll geständig. Allerdings beharrte Wendl darauf, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben. Anhaltspunkte dafür, dass der Versuch, sich dem Tötungsbefehl zu entziehen, Wendl selbst gefährdet hätte, bestanden aber nicht. Auch ein Versetzungsersuchen hatte Wendl zu keinem Zeitpunkt gestellt. Die Geschworenen sprachen Wendel dennoch frei. Sie bejahten die Tatvorwürfe einstimmig, gingen aber ebenso einstimmig davon aus, dass Wendl irrtümlich eine Situation angenommen hatte, in der Befehlsnotstand bestanden habe. Damit war Wendl wegen Putativbefehlsnotstands entschuldigt und freizusprechen.916 In die Reihe dieser Prozesse fügte sich auch das Verfahren gegen Johann Vinzenz Gogl ein. Ihm wurde vorgeworfen, als ehemaliges Mitglied der Wachmannschaft im KZ Mauthausen und im Nebenlager Ebensee mehrere Häftlinge, darunter alliierte Fallschirmspringer und Widerstandskämpfer, ermordet zu haben. Trotz »erdrückender Beweise und erschütternder Zeugenaussagen« in der ersten Hauptverhandlung in Linz sprachen die Geschworenen, unter denen sich auch ehemalige NSDAP-Mitglieder befanden, Gogl einstimmig frei. Die im Verhandlungssaal anwesenden ehemaligen SS-Männer hatten dem angeklagten Kameraden schon während der Hauptverhandlung Mut zugesprochen und die »jüdischen« ZeugInnen verhöhnt. Den Freispruch nahmen sie sodann freudig mit Beifall und »Bravo«-Rufen entgegen.917 Die Reaktionen aus dem Ausland zeigten großes Entsetzen. Der Fall Gogl verursachte das international größte und negativste Echo. Nach der Verkündung des Freispruches wurde die österreichische Botschaft in Washington gestürmt und das Gebäude mit einer Hakenkreuzfahne sowie einem Spruchband mit der Aufschrift »Don’t visit Nazi-Austria« »geschmückt«. Von Seiten der österreichischen Bundesregierung gab es kaum Reaktionen zu dem Urteil. Nur Vizekanzler und Sozialminister Rudolf Häuser (SPÖ), der selbst mehrere Jahre im KZ Dachau inhaftiert gewesen war, kritisierte das Urteil, woraufhin ihn jedoch seinerseits einige Medien (insbesondere die Salzburger Nachrichten und die Kronen-Zeitung) attackierten, weil er mit seinen Aussagen918 die österreichische Justiz im Ausland in Misskredit brächte.919 Wenig später relativierte Häuser seine Äußerungen und erklärte, er habe die Rechtsstaatlichkeit der österreichischen 916 HOLPFER/LOITFELLNER 2006, S. 114–116; MARSCHALL 1987, S. 180. 917 EIBELSBERGER 2006, S. 222; WIRTH 2011, S. 452. 918 Explizit hatte Häuser nach dem Freispruch Gogls die Frage aufgeworfen, ob »in all diesen Fällen nach Recht und Gerechtigkeit entschieden« worden sei oder »Einflüsse neofaschistischer Kräfte« für die Freisprüche verantwortlich gewesen seien, Rudolf Häuser, zitiert nach WIRTH 2011, FN 1667. 919 LOITFELLNER 2002, S. 173; UNDESSER 2009, S. 77f; WIRTH 2011, S. 455.

192 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 Gerichte nicht anzweifeln wollen. Unter bestimmten Voraussetzungen konnte sich Häuser nun sogar eine Verjährung der NS-Morde vorstellen. Justizminister Broda lehnte Häusers Vorschlag aber kategorisch ab.920 Häuser war offenbar nicht bewusst, dass ein Ende der NS-Prozesse ohnehin unmittelbar bevorstand. Denn zu diesem Zeitpunkt war der Strafgesetzentwurf des Justizministeriums, dessen Regelungen letztendlich zu einer Einstellung der meisten NS-Prozesse führten, bereits als Regierungsvorlage in den Nationalrat eingebracht worden. Der Freispruch Gogls wurde jedenfalls nicht rechtskräftig. Nach einer Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hob der Oberste Gerichtshof (OGH) das Urteil auf.921 Wie zu zeigen sein wird, wurde der Prozess gegen Gogl wiederholt.

4.

Der strafrechtliche Zweck der NS-Prozesse in Österreich

Die österreichischen »Skandalfreisprüche« der 1970er-Jahre verdeutlichen die Schwierigkeiten, Jahrzehnte nach der Tatbegehung noch einen gesicherten Schuldbeweis zu erbringen, und den Unwillen der Geschworenen, in NS-Prozessen überhaupt einen Schuldspruch zu fällen. Hält man sich vor Augen, dass die dargestellten Fälle jene waren, die als besonders aussichtsreich galten und auf die alle Kräfte gebündelt worden waren, dann erscheint einerseits fraglich, ob in Geschworenenprozessen überhaupt noch mit Schuldsprüchen wegen NS-Verbrechen zu rechnen war. Andererseits werfen die Geschworenenverfahren und deren Ergebnisse auch die Frage auf, welchen Strafzweck die NS-Prozesse damals in Österreich erfüllen sollten– und erfüllten. Das Strafgesetzbuch 1974 und die dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen verzichteten angesichts der nach wie vor andauernden Kontroverse über den Strafzweck922 bewusst auf ausdrückliche Aussagen über das Wesen und den Zweck der Strafe.923 Allerdings war das Strafgesetzbuch vom Präventionsgedanken geprägt. Als Zweck der Strafe wurde nicht mehr die Vergeltung, sondern die General- und Spezialprävention betrachtet.924 Dementsprechend lag der zeitlichen Begrenzung der staatlichen Strafmacht und -pflicht durch die Verjährung die Vorstellung zugrunde, dass nach Verstreichen einer gewissen Zeitspanne die Strafe weder durch einen spezial- noch einen generalpräventiven Zweck ge-

920 WIRTH 2011, S. 457f. 921 LOITFELLNER 2002, S. 169. 922 Zu den Differenzen über den Zweck der Strafe bei den Arbeiten am Strafgesetzbuch ausführlich STANGL 1985 sowie Kapitel VI.2. 923 NOWAKOWSKI 1965, S. 13. 924 STANGL 1985, S. 64, 71, 128; WIRTH 2011, S. 230f, 419f.

Der strafrechtliche Zweck der NS-Prozesse in Österreich

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rechtfertigt ist.925 Die Erläuterungen zum Strafgesetzbuch waren freilich neutral formuliert und erklärten, dass der Rechtsgrund der Verjährung »der Wegfall des Bedürfnisses nach Strafe und Sicherung« sei. Dieses Bedürfnis richte sich einerseits danach, »wie sehr durch die Tat das Bewußtsein der Rechtssicherheit erschüttert worden ist, andererseits danach, ob ein Rückfall zu befürchten ist.«926 Diese Begründung scheint für Anhänger aller Strafzwecktheorien annehmbar gewesen zu sein, denn unter die Formulierung »Bedürfnis nach Strafe und Sicherung« konnten sowohl das Bedürfnis nach Vergeltung als auch nach Generalund Spezialprävention subsumiert werden. Nach dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974 waren die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Straftaten, wozu insbesondere Mord gehörte, unverjährbar und damit unbefristet lange verfolgbar. Die Erläuterungen führten nicht weiter aus, warum bei schwersten Straftaten unbefristet lange ein Strafbedürfnis gesehen wurde, sondern verwiesen nur auf den Beschluss des Jahres 1965.927 Um eine Verfolgung der schwersten NS-Verbrechen über das Jahr 1965 hinaus zu ermöglichen, hatte die SPÖ damals eine Verlängerung der Verjährungsfristen für schwerste NS-Straftaten gefordert. In strafrechtstheoretischer Sicht hatten ihre VertreterInnen mit generalpräventiven Argumenten und »der erzieherischen Wirkung der NS-Prozesse« argumentiert.928 Die ÖVP hatte einer Änderung der Verjährungsregeln aber nur unter der Bedingung zugestimmt, dass diese nicht auf die schwersten NS-Verbrechen beschränkt werde, sondern allgemein alle Morde bzw. bis 1950 mit Todesstrafe bedrohten Straftaten929 für unverjährbar erklärt wurden. Ihre Vertreter begründeten die unbeschränkte Verfolgungsmöglichkeit für schwerste Straftaten mit dem Vergeltungsgedanken.930 Spezialpräventive Erwägungen spielten in der Debatte über eine weitere Verfolgung der NS-Morde kaum eine Rolle,931 denn die meisten ehemaligen NS-Straftäter hatten sich bereits (wieder) in die Gesellschaft integriert und waren sozial unauffällig. Weitere Straftaten waren von ihnen nicht zu befürchten. 925 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, ACB, Mappe III.138.2, fol. 5–9; so auch heute: MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, Vorbemerkungen §§ 57–60 StGB Z 3. 926 ErläutRV 30 NR 8. GP, S. 161. 927 ErläutRV 30 NR 8. GP, S. 163; dazu ausführlich in Kapitel IV.4.–IV.6. 928 Siehe dazu Kapitel IV.4.3., Kapitel IV.4.6. und Kapitel IV.5. 929 Dazu gehörten neben Mord auch Hochverrat, qualifizierte öffentliche Gewalttätigkeiten (darunter fiel auch die qualifizierte Vernachlässigung von Verpflichtungen beim Betrieb einer Eisenbahn iSv §§ 87, 88 StG iVm § 86 StG), Verbrechen nach § 4 Abs. 2 des Sprengstoffgesetzes und der §§ 3a, 3e, 3f des Verbotsgesetzes; STUTZENSTEIN 2020a, S. 139 sowie Kapitel IV.4.4. 930 STUTZENSTEIN 2020a, S. 142f sowie Kapitel IV.4.6. und Kapitel IV.5. 931 Zu dieser Debatte siehe STUTZENSTEIN 2020a, S. 133–136, 141–143 sowie Kapitel IV.4.– IV.6.

194 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 Die im Jahr 1965 beschlossene rückwirkende Unverjährbarkeit der bis 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten ermöglichte also eine unbefristete Verfolgung der nationalsozialistischen Morde iSv § 211 dRStGB.932 Die Prozesse sollten der Bevölkerung nun einerseits die Schuldzusammenhänge deutlich machen und im Sinne der positiven Generalprävention Wertehaltungen vermitteln, sowie darüber hinaus im Sinne der negativen Generalprävention zudem verdeutlichen, dass wer immer auch für ein Unrechtsregime mordet, dafür zur Verantwortung gezogen wird, damit sich niemals wiederholen kann, was einmal geschehen ist.933 Ob die in den 1970er-Jahren geführten NS-Prozesse den damals angestrebten strafrechtlichen Zwecksetzungen gerecht wurden, erscheint jedoch insgesamt höchst zweifelhaft, da die Geschworenengerichte die wenigen Angeklagten trotz schwerwiegender Tatvorwürfe überwiegend freisprachen. Auch im Falle der Freisprüche stellten die Geschworenengerichte freilich größtenteils fest, dass die Angeklagten Handlungen begangen hatten, die für den Tod von– zum Teil mehreren hundert oder sogar tausenden– Menschen kausal waren. Damit waren die Geschworenenprozesse aber kaum dazu geeignet, potentiellen TäterInnen eines staatlich organisierten Unrechts zu zeigen, »dass ihre Handlungen nicht straflos bleiben«,934 und diese durch die Furcht vor Strafe von Systemstraftaten abzuhalten. Eine »Warnung an die Mörder von morgen«935 stellten sie jedenfalls nicht dar. Sie vermittelten der Bevölkerung eher den Eindruck, dass selbst für Personen, die massenhaft für ein Regime getötet hatten, die Chancen recht gut waren, ungestraft davon zu kommen. Dem Strafzweck der negativen Generalprävention dienten die NS-Verfahren damit nicht mehr. Außerdem konnten die Freisprüche und die Verurteilungen zu in der Regel moderaten Strafen, wie sie in den Geschworenenprozessen ergingen, insgesamt wohl kaum als »gerechte Vergeltung« empfunden werden.936 Auch zur Vermittlung von Wertehaltungen waren die NS-Prozesse und ihre mediale Darstellung wenig geeignet. Einerseits erweckten schon die häufigen Feststellungen von Tötungshandlungen mit darauffolgenden Freisprüchen den Eindruck, dass es sich bei Systemunrecht um minderschweres Unrecht oder gar kein Unrecht handelte, andererseits erfolgte in der medialen Berichterstattung keine Kontextualisierung der angeklagten Einzeltaten. Die österreichischen 932 Siehe dazu auch Kapitel V.2. sowie Kapitel IV.2.1., Kapitel IV.4.5. und Kapitel IV.6. 933 In diesem Sinn beispielsweise der SPÖ Abgeordnete Alfred Migsch, StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4202–4205. 934 Simon Wiesenthal, zitiert nach KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 349. 935 Simon Wiesenthal, zitiert nach KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 349. 936 Einen Überblick über die Geschworenenprozesse gegen NS-Straftäter und deren Ergebnisse bietet GARSCHA, Winfried, auf: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/ 35prozesse56_04.php (abgerufen am 31. 8. 2020).

Der strafrechtliche Zweck der NS-Prozesse in Österreich

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Medien beschrieben die Prozesse zum Teil detailliert, aber ohne Ursachen, Hintergründe und Bedingungen für die gerichtsanhängigen NS-Verbrechen zu beleuchten. Vielmehr betrachtete die Presse die NS-Verbrechen als einzigartige und abgeschlossene Ereignisse sowie justizielle Angelegenheit und nur selten als Geschehen, das auch gegenwartsrelevante Fragen aufwirft (beispielsweise im Bereich des Neonazismus oder Antisemitismus) sowie spezifische politische und gesellschaftliche Voraussetzungen hat. Auch moralische Aspekte, wie Lehren aus der NS-Zeit zu ziehen und Verantwortlichkeiten zu thematisieren, spielten in der Berichterstattung kaum eine Rolle.937 Paradox ist, dass die (kollektive) Täterseite in diesen Prozessen weitgehend unbeleuchtet blieb. Bei der Berichtserstattung über die Täter wurden mehrere Narrative verwendet und diese zumeist nur als ausführende Organe, als »handelndes Werkzeug« von Hitler, Himmler und anderen hochrangigen Nationalsozialisten betrachtet. Ihre individuelle Verantwortung wurde damit negiert.938 Ungeachtet der Tatsache, dass die Angeklagten Österreicher waren, wurden deren Taten als »deutsche Verbrechen« dargestellt und der österreichische Tatbeitrag überwiegend ausgeklammert. Gängig war die Beschreibung der vor Gericht stehenden Täter als »monsterähnlich«, sie wurden als bestialische Ausnahmen von der Regel angesehen. Die Verbrechen und ihre Täter konnten damit als außerhalb der Gesellschaftsordnung stehend wahrgenommen und als »nicht zu uns gehörig« stigmatisiert werden.939 Zudem werteten die Medien teilweise ZeugInnen und überlebende Opfer sprachlich ab. Dies geschah beispielsweise durch die unreflektierte Übernahme von NS-Terminologie. Die gebotene Sensibilität im Umgang mit den Opfern lassen aber auch Berichte vermissen, die diesen vorwerfen nicht Recht, sondern Rache anzustreben.940 Insgesamt stehen diese Darstellungsformen in Einklang mit der Opferthese, die das zentrale Narrativ der österreichischen Republik bildete.941 Sie ersparten der österreichischen Gesellschaft die Erkenntnis, dass die vor Gericht angeklagten Mörder zu ihr gehörten, unabhängig davon, ob die Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen ausschließlich »den Deutschen«, wenigen politischen Entscheidungsträgern oder ein »paar monströsen Randerscheinungen der Gesellschaft« zugeschoben wurde. Damit unterblieb auch die Einsicht, dass die NS-Verbrechen und ihre Bedingungen, wie beispielsweise ein verbreiteter Antisemitismus, Teil der politischen und gesellschaftlichen Kultur waren. Die mediale Präsentation der Verbrechen als etwas Fremdes und Außerge937 938 939 940 941

Dazu ausführlich LOITFELLNER 2002, S. 180–191. LOITFELLNER 2002, S. 184f. LOITFELLNER 2002, S. 187. LOITFELLNER 2002, S. 74–76; UNDESSER 2009, S. 113. Zur österreichischen »Lebenslüge« siehe beispielsweise BOTZ 2012; KURETSIDIS-HAIDER 2001; LOITFELLNER 2009; UHL 2001.

196 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 wöhnliches ermöglichte eine schmerzfreie Darstellung der Prozesse und eine Nichtauseinandersetzung mit der Rolle der ÖsterreicherInnen in der NS-Zeit.942 Damit konnten die NS-Prozesse der österreichischen Bevölkerung aber kaum die Schuldzusammenhänge und strukturellen Bedingungen der NS-Verbrechen verdeutlichen und über die angeklagten Einzeltaten hinaus auch keine Wertehaltungen vermitteln.943 Der positiven Generalprävention durch die NS-Prozesse stand im Übrigen die »Opferthese« fundamental entgegen. Ein Volk, das sich als kollektives Opfer betrachtet, kann gleichzeitig nur schwer ein lernfähiger und lernwilliger Mitverantwortlicher sein. Fraglich ist aber, ob eine staatliche Strafverfolgung zur Generalprävention nicht vor allem dann notwendig ist, wenn ein vom Staat mit Strafe bedrohtes Verhalten von Teilen der Bevölkerung nicht verurteilt wird. Um tatsächlich präventiv zu wirken, hätten aber jedenfalls die gesetzlichen Grundlagen und die strukturellen Bedingungen für die Durchführung der NS-Prozesse, möglicherweise auch der Umgang der Politik mit der Rolle Österreichs während der NS-Herrschaft, geändert werden müssen. In der dargestellten Form waren die NS-Prozesse zur Erfüllung anerkannter Strafzwecke wohl nicht geeignet. Daneben war mit der Art und Weise, in der die NS-Prozesse in Österreich damals geführt wurden, die evidente Gefahr einer sekundären Viktimisierung, das heißt einer weiteren Schädigung der Opfer durch Fehlreaktionen der mit der Tat und den Opfern befassten Personen (bspw. der Polizei, Justiz, Medien oder des sozialen Umfelds) und einer »zweiten Opferwerdung« im Anschluss an die Straftat, verbunden.944

5.

Das interterritoriale und intertemporale Strafrecht des Strafgesetzbuches 1974

Am 1. Jänner des Jahres 1975 trat das neue österreichische Strafgesetzbuch in Kraft. Die fast 150 Jahre dauernde Strafrechtsreform fand damit einen Abschluss. Das österreichische Strafgesetzbuch sah einen Übergang vom Personalitäts- zum Territorialitätsprinzip vor. Dem älteren Personalitätsprinzip lag die Vorstellung von einer unbedingten und schrankenlosen Treuepflicht der StaatsbürgerInnen zu ihrem Staat und dessen (Straf-)Rechtsordnung zugrunde. Dem Personalitätsprinzip entsprechend fielen bis zum Jahr 1975 auch Auslandstaten, die von österreichischen StaatsbürgerInnen begangen worden waren, in den Geltungs942 LOITFELLNER 2002, S. 187. 943 LOITFELLNER 2002, S. 191, die die mediale Berichterstattung über die Geschworenenprozesse wegen NS-Verbrechen untersucht, gelangt zu dem Schluss, dass zumindest diese in Österreich nicht zu einer Vergangenheitsaufarbeitung beigetragen hat. 944 METZNER 2018, S. 52–54.

Das interterritoriale und intertemporale Strafrecht des Strafgesetzbuches 1974

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bereich des österreichischen Strafrechts. Das Territorialitätsprinzip galt dagegen nach dem Strafgesetz 1852 für »Fremde«, das heißt für Staatenlose oder AusländerInnen. Ihre Straftaten wurden vom Staat Österreich nur dann bestraft, wenn sie in seinem Hoheitsgebiet begangen worden waren. Die österreichischen StaatsbürgerInnen aber waren der österreichischen Strafgewalt auch unterworfen, wenn sie im Ausland gegen das österreichische Strafrecht verstießen.945 Dieser unbedingte Geltungsanspruch des österreichischen Strafrechts gegenüber seinen StaatsbürgerInnen wurde mit dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974 aufgegeben. Dieses erklärte das Territorialitätsprinzip zum beherrschenden Grundsatz. Nach dem Inkrafttreten des StGB 1974 am 1. Jänner 1975 bestand die österreichische Strafgewalt diesem entsprechend grundsätzlich nur für im Inland begangene Straftaten (§ 62 StGB). Diese Einschränkung erschien rechtspolitisch sinnvoll und entsprach der allgemeinen Rechtsentwicklung. Außerdem sollte es ÖsterreicherInnen, die dauerhaft im Ausland lebten und dort ihren Wohnsitz hatten, ermöglicht werden, nur nach der Strafrechtsordnung ihres Gastlandes zu leben.946 Zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter waren einige Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip vorgesehen, z. B. für Straftaten, die den österreichischen Staat bedrohten, wie beispielsweise Hochverrat oder der Angriff auf österreichische Staatsorgane (Realprinzip). Der österreichischen Strafgewalt unterlagen zudem auch Straftaten, die auf österreichischen Schiffen oder Flugzeugen begangen wurden (Flaggenprinzip). Für die nationalsozialistischen Morde war keine dieser Ausnahmen einschlägig.947 Daher konnte nur auf den subsidiär anwendbaren § 65 StGB zurückgegriffen werden. Darin war eine stellvertretende Strafrechtspflege in Österreich für Taten von österreichischen StaatsbürgerInnen vorgesehen, die nicht nur nach dem österreichischen, sondern auch nach dem Recht des Tatortstaates strafbar waren. Das Vorliegen von Strafaufhebungsgründen nach dem Tatortrecht schloss die Strafbarkeit der Tat folglich auch in Österreich aus, weil die Tat dann nach den Gesetzen des Tatortes nicht mehr mit Strafe bedroht war (§ 65 Abs. 4 StGB).948 Das heißt: War die strafrechtliche

945 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 79 bis 86, S. 110; ErläutRV 30 NR 8. GP, S. 169f. 946 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 79 bis 86, S. 110. 947 MARSCHALL 1987, S. 31f; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 79 bis 86 sowie §§ 80 bis 82, S. 110, 112–116. 948 Dies ergibt sich schon aus § 65 Abs. 1 StGB, wurde aber in § 65 Abs. 4 StGB 1975 nochmals klargestellt: »Die Strafbarkeit entfällt jedoch: 1. wenn die Strafbarkeit der Tat nach den Gesetzen des Tatorts erloschen ist; […]; 3. wenn der Täter von einem ausländischen Gericht

198 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 Verfolgungs- oder Vollstreckungsbefugnis nach dem Recht des Tatortstaates verjährt, entfiel die Strafbarkeit des Verhaltens auch in Österreich. Für sich genommen, wären diesen Bestimmungen auf die Möglichkeit zur Verfolgung der nationalsozialistischen Straftaten ohne große Bedeutung gewesen.949 Nach dem österreichischen Strafgesetzbuch des Jahres 1974 waren Mord iSv § 75 StGB950 und Völkermord iSv § 321 StGB951 strafbar und unverjährbar.952 Besondere Verjährungsregeln für Gehilfen bestanden nicht. Nur Straftaten von Personen, die bei der Tatbegehung das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, verjährten spätestens zwanzig Jahre nach der Tatbegehung.953 Mord war auch in allen ehemaligen Tatortstaaten mit Strafe bedroht. In einer Vielzahl davon waren die Verjährungsfristen für die nationalsozialistischen Morde rückwirkend verlängert worden, so beispielsweise in der BRD und Belgien.954 Teilweise war sogar die rückwirkende Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschlossen worden, wie beispielsweise in Frankreich, der Tschechoslowakei und Polen.955 Die DDR hatte die Verjährung von Kriegsverbrechen und nationalsozialistischen Verbrechen ausgeschlossen.956 Überdies folgten die Ostblockstaaten einhellig der Ansicht, dass sich die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon aus dem

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rechtskräftig verurteilt und die Strafe ganz vollstreckt oder, soweit sie nicht vollstreckt wurde, erlassen worden oder ihre Vollstreckbarkeit nach dem ausländischen Recht verjährt ist.« Ein Umstand, der in der zeithistorischen Literatur durchgehend übersehen wird; GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f; LOITFLLNER 2002, S. 175; LOITFELLNER 2006, S. 195. »Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.« (§ 75 StGB). »Wer in der Absicht, eine durch ihre Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgesellschaft, zu einer Rasse, einem Volk, einem Volksstamm oder einem Staat bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten, Mitglieder der Gruppe tötet, ihnen schwere körperliche (§ 84 Abs. 1) oder seelische Schäden zufügt, die Gruppe Lebensbedingungen unterwirft, die geeignet sind, den Tod aller Mitglieder oder eines Teiles der Gruppe herbeizuführen, Maßnahmen verhängt, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind, oder Kinder der Gruppe mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt in eine andere Gruppe überführt, ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.« (§ 321 Abs. 1 StGB 1974). »Strafbare Handlungen, die mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, verjähren nicht […].« (§ 57 Abs. 1 StGB). § 36 StGB iVm § 57 StGB. RABOFSKY o. J., S. 22; VOLLNHALS 2011, S. 399; gegenläufig die Entwicklung in Griechenland, wo im Strafgesetzbuch des Jahres 1950 eine absolute Verjährungsfrist von 23 Jahren statuiert war. Eine Unterbrechung der Verjährung durch staatliche Verfolgungsakte war nicht vorgesehen. Sonderregelungen für die NS-Straftaten bestanden nicht. Die nationalsozialistischen Verbrechen waren damit in Griechenland schon ab dem Jahr 1967 nicht mehr verfolgbar; BRÄUEL 1954, S. 438, 440; FLEISCHER 2006, S. 523. ˇ OVÁ/KUC ˇ ERA 2006, S. 447; MOSEIL 2004, S. 169–174; RABOFSKY o. J., S. 22. KOC Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen vom 1. September 1964, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1964 Teil I., S. 127.

Das interterritoriale und intertemporale Strafrecht des Strafgesetzbuches 1974

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geltenden Völkerrecht ergebe.957 Dennoch ratifizierten diese nahezu geschlossen958 die UN-Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit,959 die die rückwirkende Unverjährbarkeit eben dieser Verbrechen vorsah.960 Die UN-Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit trat im November des Jahres 1970 in Kraft und verpflichtete die Vertragsstaaten, erforderlichenfalls ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechend zu ändern.961 Unter Kriegsverbrechen waren im Sinne des Londoner Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 (auch Londoner Charta oder Nürnberger Charta genannt), das die Grundlage für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bildete, »Verletzungen der Kriegsrechte oder Gebräuche« zu verstehen. Solche Verletzungen umfassten, »ohne darauf beschränkt zu sein, Mord, Mißhandlungen oder Verschleppung der entweder aus einem besetzten Gebiet stammenden oder dort befindlichen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit oder zu irgendeinem anderen Zwecke; Ermordung oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See; Tötung von Geiseln; Raub öffentlichen oder privaten Eigentums; mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten und Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung.«962 Mit »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« waren »Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven« gemeint.963 Sowohl nach dem österreichischen Strafrecht als auch nach dem im Jahr 1975 geltenden Recht der meisten ehemaligen Tatortstaaten 957 HEIDELMEYER 1969, S. 18. 958 Vertragsstaaten waren Bulgarien, Jugoslawien, Mongolei, Nigeria, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ungarn, Ukraine, Weißrussland; MILLER 1971, S. 501; die DDR trat der Konvention 1973 bei; auf: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&m tdsg_no=IV-6&chapter=4&lang=en (abgerufen am 19.8.2020); die westeuropäischen Staaten standen der Initiative, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für unverjährbar zu erklären, nicht ablehnend gegenüber, erachteten aber die Wiederaufhebung einer bereits eingetretenen Verjährung angesichts des Rückwirkungsverbotes als bedenklich, MILLER 1971, S. 500f. 959 Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes Against Humanity, 26. 11. 1968; auf: https://web.archive.org/web/20120508073422/http:// www2.ohchr.org/english/law/warcrimes.htm (abgerufen am 19. 8. 2020). 960 MILL 1971, S. 481. 961 Art. IV Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes Against Humanity, 26. 11. 1968; https://web.archive.org/web/20120508073422/http:// www2.ohchr.org/english/law/warcrimes.htm (abgerufen am 19. 8. 2020). 962 Art. 6 lit b Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945; auf: https://www.uni-mar burg.de/de/icwc/zentrum/pdfs/imtcenglish.pdf (abgerufen am 7. 8. 2020). 963 Art. 6 lit c Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945; auf: https://www.uni-mar burg.de/de/icwc/zentrum/pdfs/imtcenglish.pdf (abgerufen am 7. 8. 2020).

200 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 konnten daher noch zahlreiche nationalsozialistische Verbrechen, die ihren Staaten begangen worden waren, bestraft werden. Problematisch werden die Bestimmungen der §§ 62 und 65 StGB in Verbindung mit der Regelung des intertemporalen Strafrechts im Strafgesetzbuch des Jahres 1974. Nach § 61 StGB waren Strafgesetze auch auf Taten anzuwenden, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden waren. Für früher begangene Taten galt dies aber nur dann, wenn die Gesetze, die zur Zeit der Tat gegolten hatten, für den/die TäterIn in ihrer Gesamtauswirkung nicht günstiger waren (§ 61 StGB). Bei objektiv gleichgewichtigen Auswirkungen ging ausdrücklich das neuere Gesetz vor. Eine Kombination aus verschiedenen Rechtslagen war nicht vorgesehen. Anzuwenden war entweder nur das Recht des Tatzeitpunktes oder nur das Recht des Urteilszeitpunktes. Für den/die TäterIn günstiger ist jedenfalls die Rechtsordnung, nach der sein/ihr Verhalten nicht oder nicht mehr strafbar ist. Wenn dies nach beiden Rechtsordnungen der Fall ist, geht das Recht des Urteilszeitpunktes vor.964 Da den Staatsanwaltschaften die Anwendung dieser Bestimmungen zunächst unklar gewesen zu sein scheint, wurde sie in zwei Erlässen965 des Justizministeriums folgendermaßen erklärt:966 Die Staatsanwaltschaften hatten mehrere Prüfschritte vorzunehmen. Zunächst war zu prüfen, ob die in Frage stehende Handlung zur Tatzeit nach dem damals geltenden österreichischen Recht und dem damals geltenden Recht des Tatortstaates (dem Tatort-Tatzeitrecht) strafbar war. War dies der Fall, musste geprüft werden, ob die Handlung auch nach dem gegenwärtig geltenden österreichischen Strafrecht und dem geltenden Recht des Tatortstaates mit Strafe bedroht war. Nur wenn die Handlung nach allen vier Rechtsordnungen (Recht des Tatorts zur Tatzeit, geltendes Recht am Tatort, österreichisches Recht zur Tatzeit, geltendes österreichisches Recht) (noch) strafbar war, konnte sie bestraft werden. War nach einer dieser Rechtsordnungen das Verhalten nicht mit Strafe bedroht oder bereits Verjährung eingetreten, be-

964 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 83, S. 116–118; ErläutRV 30 NR 8. GP, S. 177f. 965 Ein Erlass ist eine Weisung, das heißt eine interne Verwaltungsvorschrift, die von einer übergeordneten an eine nachgeordnete Behörde oder deren Bedienstete ergeht und deren Organisation und Handeln näher bestimmt. Die nachgeordnete Behörde ist an die Regelungen der Erlässe gebunden, sofern diese nicht in Widerspruch zu den Gesetzen stehen; auf: https://www.oesterreich.gv.at/lexicon/E/Seite.991082.html (abgerufen am 7. 8. 2020). 966 12. Erlaß vom 6. März 1975 über die Auslegung des § 61 StGB, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung 2 (1975), S. 15f; 52. Erlaß vom 24. Juli 1975 über die Auslegung des § 65 StGB bei Änderung der Rechtsordnung zwischen Tatbegehung und Beurteilung, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung 4 (1975), S. 82.

Das interterritoriale und intertemporale Strafrecht des Strafgesetzbuches 1974

201

stand keine österreichische Strafbefugnis (mehr).967 Österreichische NS-StraftäterInnen wurden dann von der österreichischen Rechtsordnung vor der Strafverfolgung und Strafvollstreckung geschützt. Eine Auslieferung an einen anderen Staat erfolgte wegen des (ab 1979 verfassungsrechtlichen) Verbotes der Auslieferung eigener StaatsbürgerInnen jedenfalls nicht.968 Durchzuführen war somit ein mehrfacher Günstigkeitsvergleich, von dem die TäterInnen profitierten. Nach dem österreichischen Recht des Tatzeitpunktes konnten von den nationalsozialistischen Verbrechen nur Morde iSv § 211 dRStGB sowie die Deportationsverbrechen, die sich unter §§ 87, 88 iVm § 86 StG (»Eisenbahnerparagraph«) subsumieren ließen, bestraft werden.969 Im Falle des Mordes galt dies nur für Personen, die unmittelbar an der Tatbegehung mitgewirkt hatten, sowie die Anstifter zum Mord. Die entfernte Beihilfe zum Mord (§ 137 StG), worunter insbesondere organisatorische Vorbereitungshandlungen zum Massenmord (sogenannte »Schreibtischmorde«) fielen, und Totschlag (§ 212 dRStGB) waren verjährt und konnten nicht mehr bestraft werden.970 Schon damit war die Möglichkeit zur Verfolgung der NS-Verbrechen gegenüber dem österreichischen Recht des Urteilszeitpunktes erheblich eingeschränkt. Diese Regelungen entsprachen allerdings der bis zum Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 geltenden Rechtslage. Zur Verjährung einer Vielzahl von nach dem österreichischen Recht des Tatund Urteilszeitpunktes noch verfolgbaren NS-Morden führten die nun ebenfalls für maßgeblich erklärten Rechtsordnungen der Tatortstaaten zur Tatzeit. Denn die meisten europäischen Strafrechtsordnungen kannten vor dem Jahr 1945 keine unverjährbaren Straftaten.971 Die längste Verjährungsfrist für die Strafverfolgungsbefugnis lag idR zwischen zehn und 30 Jahren.972 Am häufigsten findet sich die Frist von zwanzig Jahren, so etwa in Deutschland, Griechenland 967 Die Verjährung der NS-Verbrechen war daher nicht stets nach dem Tatort-Tatzeitrecht zu beurteilen, so beispielsweise GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f, sondern nur dann, wenn dieses Recht für den/die TäterIn das günstigste war. 968 § 36 Abs. 3 StG 1852; § 59 Abs. 2 Strafprozessordnung idFv Strafprozeßanpassungsgesetz, BGBl 1974/423; § 12 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1979 über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz- ARHG), BGBl 1979/529. 969 Nach dem Strafgesetzbuch 1974 wären diese Verbrechen wohl überwiegend als nach § 75 StGB strafbare Beihilfe zu den Massenmorden zu qualifizieren gewesen. Für diese galt die Strafandrohung und die Verjährungsbestimmung für Mord ohne Begünstigung. 970 Siehe dazu MARSCHALL 1987, S. 19–21, 24f, 29; STUTZENSTEIN 2020a, S. 126–128 sowie Kapitel IV.2.1. 971 So beispielsweise Belgien, Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Norwegen, Polen, Portugal, die Schweiz, Schweden, Spanien, Ungarn; von den kontinentaleuropäischen Staaten sahen unverjährbare Straftaten nur Dänemark, Italien, Österreich und die Sowjetunion vor; BRÄUEL 1954, S. 431f; MARSCHALL 1987, S. 170f. 972 LOENING 1908, S. 453f.

202 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 und Italien. In manchen Staaten wie etwa in Frankreich und Belgien war diese allerdings deutlich kürzer und betrug nur zehn Jahre.973 Eine Unterbrechung der Verjährung durch einen staatlichen Verfolgungsakt innerhalb der Verjährungsfrist war in vielen europäischen Staaten vorgesehen. Dieser musste idR wegen einer bestimmten, nämlich der später angeklagten Tat gegen den/die Beschuldigte gerichtet sein. Zumeist begann die Verjährungsfrist mit dem Unterbrechungsakt oder nach Aufhören der Strafverfolgung neu zu laufen.974 In einigen Staaten war aber eine absolute Verjährung statuiert, das heißt ein Zeitpunkt, an dem die Verjährung jedenfalls eintrat und keine Fristverlängerung mehr zulässig war.975 So verjährte beispielsweise die strafrechtliche Verfolgungsbefugnis nach dem Polnischen Strafgesetzbuch des Jahres 1932976 ungeachtet staatlicher Verfolgungshandlungen spätestens 25 Jahre nach der Tatbegehung (Art. 87 lit a Polnisches StGB 1932).977 War nach dem Tatort-Tatzeitrecht Verjährung eingetreten, konnten die NS-Verbrechen nicht mehr verfolgt werden.

6.

Das Ende der NS-Prozesse in Österreich

Alle beim Inkrafttreten des neuen österreichischen Strafgesetzbuches noch gerichtsanhängigen NS-Prozesse wurden auf Grundlage der soeben beschriebenen Regelungen der §§ 61 und 65 StGB eingestellt.

973 BRÄUEL 1954, S. 433. 974 BRÄUEL 1954, S. 438; LOENING 1908, S. 455f. 975 Beispielsweise in Belgien, Italien, Polen, der Schweiz und Schweden; BRÄUEL 1954, S. 438; LOENING 1908, S. 455f. 976 Österreich nahm an, dass es sich bei dem Polnischen Strafgesetzbuch 1932 in allen Teilen der besetzen Republik Polen zwischen den Jahren 1939 bis 1945 um das Tatort-Tatzeitrecht handelte, nicht nur im Generalgovernment Polen, sondern auch in den dem Deutschen Reich angegliederten Gebieten Westpolens; zur Frage, ob es nicht naheliegender gewesen wäre, bei Straftaten von Reichsangehörigen auf dem Gebiet Polens das deutsche Recht als Tatort-Tatzeitrecht heranzuziehen, siehe Abschnitt 6. 977 Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, die Verjährungsregeln aller NS-Tatortstaaten im Zeitpunkt der deutschen Besatzung darzustellen. Die Regelungen des polnischen Rechts erscheinen jedoch am bedeutsamsten. Einerseits befanden sich dort die Vernichtungslager zur industrialisierten Tötung der »Juden/Jüdinnen«, in denen nach den Beschlüssen der Wannsee Konferenz die »Endlösung« vollzogen werden sollte. Andererseits war der Anteil der Österreicher unter den deutschen Beamten und Angehörigen der SS- und Polizeieinheiten gerade im Generalgovernment Polen überdurchschnittlich groß. Dies hatte zunächst rein taktische Gründe. Bedeutende Teile Polens hatten lange zur österreichischen Monarchie gehört. Österreich hatte in Polen einen guten Ruf. Der Einsatz von Österreichern in Polen sollte die dortige Verwaltung erleichtern. Die starke Präsenz von Österreichern in Polen hatte aber letztendlich zu Folge, dass viele von ihnen auch an den dortigen Humanitätsverbrechen mitwirkten; WIESENTHAL 1966, S. 206f, mit zahlenmäßigen Schätzungen und Nachweisen.

Das Ende der NS-Prozesse in Österreich

203

Davon betroffen war das Verfahren gegen Ernst Lerch und Helmut Pohl, denen die Teilnahme an der Ermordung von 1,8 Millionen »Juden und Jüdinnen« in Ostpolen während der »Aktion Reinhardt«978 und im Zuge anderer Gewaltverbrechen in Lublin vorgeworfen wurde. Trotz des massiven Tatvorwurfs des »tausendfachen Mordes an Juden«979 wurde die Hauptverhandlung im Mai 1972 nach nur zwei Verhandlungstagen auf Antrag der Staatsanwaltschaft wegen des Nichterscheinens eines Zeugens, der einen Schlaganfall erlitten hatte, »zur Durchführung weiterer Erhebungen« unterbrochen.980 Bis zu dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches am 1. Jänner 1975 wurde das Verfahren nicht wieder aufgenommen.981 Danach war die weitere Verfolgbarkeit der Morde nach den §§ 61, 62 und 65 StGB zu prüfen. An diesem Fall soll die Anwendung der Regelungen verdeutlicht werden. In Österreich war Mord im Tat- und im Urteilszeitpunkt strafbar und unverjährbar.982 Wären die Taten von Lerch und Pohl in Österreich begangen worden, hätten sie über 1974 hinaus bestraft werden können. Auch nach dem im Urteilszeitpunkt geltenden polnischen Recht waren diese Taten noch strafbar, weil in Polen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit rückwirkend für unverjährbar erklärt worden waren.983 Nach dem im Tatzeitpunkt geltenden polnischen Recht verjährten diese Handlungen dagegen spätestens 25 Jahre nach der Tatbegehung (Art. 87 lit a Polnisches StGB 1932). Als für die Täter günstigeres Recht ging das polnische Recht des Tatzeitpunkts vor. Nach diesem war die Teilnahme an den NS-Massenmorden nicht mehr strafbar, und eine Strafbefugnis in Österreich bestand nicht mehr (§ 61 iVm § 65 Abs. 4 StGB). Das Verfahren gegen Lerch und Pohl war daher einzustellen. Diese Prüfung und ihr Ergebnis lassen sich uneingeschränkt auf das Verfahren gegen Wilhelm Eppinger übertragen, dem die »Teilnahme an Massenvernichtungsverbrechen an polnischen Ju¨ dinnen und Juden in Tarnopol als Angehöriger einer Außendienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei Lemberg (Lviv)« vorgeworfen wurde. Das Verfahren gegen Eppinger wurde im Jahr 1978 978 Darunter versteht man die systematische Ermordung von 1,8 bis 2 Millionen »Juden/Jüdinnen« und einer nicht quantifizierbaren Anzahl von Roma und Sinti im Generalgouvernment Polen zwischen März 1942 und Dezember 1943 in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibór und Treblinka; LEHNSTAEDT 2017, S. 2; GARSCHA 2004, auf: http://www.nach kriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/hoefle.php (abgerufen am 19. 8. 2020). 979 VOLKSSTIMME, 16. 5. 1972, zitiert nach LOITFELLNER 2002, S. 175. 980 LOITFELLNER 2002, S. 174f. 981 WISINGER 1991, S. 241 äußert in ihrer Dissertation die Vermutung, dass bewusst zugewartet wurde, um das Verfahren einstellen zu können. 982 Die Lerch und Pohl vorgeworfenen Tötungshandlungen erfüllten sowohl den Mordtatbestand des § 75 StGB 1974 als auch des engeren zur Tatzeit in Österreich geltenden § 211 dRStGB. 983 Gesetz vom 22. April 1962, Gesetzblatt der polnischen Volkrepublik 1964/15, zitiert nach HEIDELMEYER 1969, S. 18.

204 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 eingestellt, weil nach dem polnischen Tatort-Tatzeitrecht bereits Verjährung eingetreten war.984 Im gleichen Jahr erfolgte auch die Einstellung des noch anhängigen Verfahrens gegen Robert Jan Verbelen, der in Belgien auf Platz zwei der Kriegsverbrecherliste stand. Verbelen war im Jahr 1947 in Belgien in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, unter anderem wegen Anstiftung und unmittelbarer Beteiligung an achtzehn Morden, einem öffentlichen Handgranatenanschlag mit acht Schwerverletzen und zahlreichen Denunziationen bei den deutschen Besatzungsbehörden. Nach Ende des Kriegs gelang es Verbelen, in Österreich unterzutauchen und im Jahr 1959 die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.985 Ein nachfolgendes Auslieferungsbegehren Belgiens wurde wegen Verbelens österreichischer Staatsangehörigkeit abgewiesen und stattdessen ein Strafverfahren in Österreich eingeleitet. Das österreichische Geschworenengericht sprach Verbelen frei. Der OGH folgte jedoch einer Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft und hob das Urteil wegen Verfahrensmängeln zum Teil auf. Das Hauptverfahren gegen Verbelen wurde aber nicht wiedereröffnet.986 Im Jahr 1978 wurde das Verfahren schließlich eingestellt, weil nach dem belgischen Recht bereits Verjährung eingetreten war.987 Ein Auslieferungsersuchen der ehemaligen Tatortstaaten hätte Österreich bezüglich seiner eigenen Staatsangehörigen schon wegen des Verbots der Auslieferung eigener StaatsbürgerInnen generell abgelehnt.988 Im Ergebnis negierte das neue österreichische Strafgesetzbuch damit zugunsten der nationalsozialistischen Mörder, die ihre Taten im Ausland begangen hatten, nicht nur die in Österreich grundsätzlich geltende Unverjährbarkeit von Mord, sondern auch die in zahlreichen ehemaligen Tatortstaaten beschlossene rückwirkende Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfristen für die nationalsozialistischen Morde.989 Nach dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches am 1. Jänner 1975 zogen die Staatsanwaltschaften aber nicht nur alle bereits eingebrachten Anklagen wegen 984 985 986 987 988

GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16; LOITFELLNER 2002, S. 174f. LOITFELLNER 2002, S. 110; MARSCHALL 1987, S. 195–197. GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16; MARSCHALL 1987, S. 195–197. MARSCHALL 1987, S. 97. § 36 Abs. 3 StG 1852; § 59 Abs. 2 Strafprozessordnung idFv Strafprozeßanpassungsgesetz, BGBl 1974/423; § 12 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1979 über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz- ARHG), BGBl 1979/529. 989 Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK kann sich in Österreich nur auf das im Tatzeitpunkt geltende österreichische Recht beziehen, nicht auf das Recht einer Rechtsordnung, die nach dem österreichischen Recht im Tatzeitpunkt auf die Taten gar nicht anwendbar war und auf deren Anwendung die österreichischen NS-Straftäter daher nicht vertrauen konnten.

Das Ende der NS-Prozesse in Österreich

205

NS-Straftaten zurück, auch eine ganze Reihe anhängiger Ermittlungsverfahren wegen NS-Morden im Ausland wurde auf Grundlage der § 61 und § 65 StGB eingestellt.990 Dies galt insbesondere für die Ermittlungen gegen mehrere Dutzend Verdächtigte wegen Morden im KZ Auschwitz.991 Damit beendeten die neuen Regelungen des interterritorialen Strafrechts und deren Auslegung in Kombination mit dem intertemporalen Strafrecht die Auschwitz-Prozesse in Österreich nach zwölf Jahre dauernden Ermittlungen, bevor sie wirklich begonnen hatten. Auch das im Zusammenhang mit der »Aktion Reinhardt«, das heißt der Ermordung von 1,8 bis 2 Millionen »Juden und Jüdinnen« im Generalgouvernement Polen, noch anhängige Ermittlungsverfahren gegen mehrere Dutzend Verdächtigte992 wurde auf Grundlage dieser Bestimmungen eingestellt. Die Abteilung 18 im Innenministerium, die einst für die Ausforschung von NSVerbrechern eingerichtet worden war, wurde unter Innenminister Otto Rösch (SPÖ), selbst ehemaliges NSDAP-Mitglied, noch im Jahr 1975 aufgelöst.993 Verschiedentlich wird die Frage gestellt, ob es nicht möglich gewesen wäre, bei Morden durch deutsche Staatsangehörige, als solche galten österreichische Staatsbürger nach dem »Anschluss«, in den besetzten Staaten das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (dRStGB) als Tatort-Tatzeitrecht zu werten.994 In den besetzten Gebieten wurde das deutsche Reichsstrafgesetzbuch nicht eingeführt. Im Generalgouvernement Polen stand beispielsweise das Polnische Strafgesetzbuch des Jahres 1932 während der gesamten Zeit der deutschen Besatzung in Geltung. Allerdings waren im Generalgouvernement wie auch in den anderen besetzten Staaten zur Aburteilung von Straftaten deutscher Reichsangehöriger deutsche Gerichte eingerichtet worden, die nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch urteilten. Das Polnische Strafgesetzbuch 1932 bzw. die Strafgesetzbücher der anderen besetzten Staaten waren damit nicht die Rechtsordnungen, nach denen im Tatzeitpunkt die Strafbarkeit der Taten von Reichsangehörigen beurteilt wurden. Mit der Heranziehung dieser Rechtsordnungen als Tatort-Tatzeitrecht wurde ein Rechtszustand imaginiert, der im Zeitpunkt der Tat zumindest nicht effektiv war. Die reichsdeutschen Täter handelten auch gewiss nicht im Ver-

990 LOITFELLNER 2006, S. 195. 991 LOITFELLNER 2006, S. 195; LOITFELLNER 2009, S. 163. 992 Mit Ende des Jahres 1965 wurden 64 Österreicher im Zusammenhang mit den Massenmorden im Zuge der »Aktion Reinhardt« als Beschuldigte geführt. Acht davon waren bereits 1965 verstorben und das Verfahren gegen sie eingestellt worden. Die Tatvorwürfe gegen Lerch und Pohl wurden aus diesem großen und für die österreichische Justiz offenbar kaum zu bewältigenden Verfahren ausgeschieden und zuerst angeklagt; GARSCHA 2004, auf: http:// www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/hoefle.php (abgerufen am 19. 8. 2020). 993 LOITFELLNER 2009, S. 163f. 994 Winfried Garscha, zitiert nach GARSCHA 2005, S. 15; GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f.

206 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 trauen darauf, nach dem Recht der besetzten Staaten und unter Anwendung von deren jeweiligen Verjährungsvorschriften bestraft zu werden.995 Die Heranziehung des deutschen Reichsstrafgesetzbuches als Tatort-Tatzeitrecht hätte die österreichische Strafbefugnis nach dem Inkrafttreten des StGB 1974 teilweise »gerettet«. Denn in den Fällen, in denen bereits eine gerichtliche Verfolgungshandlung gegen die Beschuldigten gesetzt worden war, wäre nach dem zwischen 1938 und 1945 geltenden deutschen Recht die Verjährung unterbrochen gewesen. Mit dem Aufhören des Unterbrechungsaktes hätte die zwanzigjährige Verjährungsfrist neu zu laufen begonnen und die neuerliche Frist wäre in diesen Fällen wohl 1975 zumeist noch nicht abgelaufen gewesen. Darüber hinaus hätte das deutsche dRStGB eine Unterbrechung durch einen gerichtlichen Verfolgungsakt gegen die Beschuldigten beliebig oft zugelassen und nach dem deutschen Recht die Verjährungsfrist für alle NS-Straftaten überhaupt erst am Stichtag, dem 8. Mai des Jahres 1945, zu laufen begonnen (vgl. § 67–69 dRStGB).996 Mit dieser Auslegung wäre aber wieder vom Territorialitätsprinzip abgewichen und eine für die Täter geltende besondere Rechtsordnung für maßgeblich erklärt worden, was wohl den Intentionen des StGB 1974 zuwiderläuft, weil dieses ja gerade die Rechtsordnung des Tatortes für maßgeblich erklärte. In § 65 StGB wird auf die »Gesetze des Tatortes« Bezug genommen. Im Erlass des Justizministeriums wird von der »Rechtsordnung des Tatortsstaates« gesprochen.997 Tatorte und Tatortstaaten waren aber jedenfalls die besetzten Staaten, nicht das Deutsche Reich, sodass es für Morde in den besetzten Gebieten wohl nicht möglich gewesen wäre, das deutsche Recht als Tatort-Tatzeitrecht heranzuziehen. In den Teilen Polens, die an das Deutsche Reich angegliedert wurden, hatte das Deutsche Reich das deutsche Reichsstrafgesetzbuch eingeführt. Dieses galt dort für die deutschen Staatsangehörigen uneingeschränkt.998 Im Gegensatz zu dem Polnischen Strafgesetzbuch 1932 wurde es auch effektiv angewandt. Die Annexion Westpolens wurde aber völkerrechtlich nicht anerkannt. Aus völkerrechtlicher Sicht war daher ganz Polen lediglich okkupiert. Als Vertreter der besetzten

995 Winfried Garscha, zitiert nach GARSCHA 2005, S. 15; GARSCHA/KURETSIDIS-HAIDER 2006, S. 16f. 996 § 69 dRStGB lautete: »Die Verjährung ruht während der Zeit, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.« Die systembedingte Nichtverfolgung der NS-Straftaten während der NS-Herrschaft wurde unter diesen Ruhenstatbestand subsumiert; ASHOLT 2016, S. 569; VOLLNHALS 2011, S. 390; ZIMMERMANN 1997, S. 81f. 997 52. Erlaß vom 24. Juli 1975 über die Auslegung des § 65 StGB bei Änderung der Rechtsordnung zwischen Tatbegehung und Beurteilung, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung 4 (1975), S. 82. 998 Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 6. Juni 1940, RGBl I, S. 844.

Das Ende der NS-Prozesse in Österreich

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Republik Polens wurde die Exilregierung betrachtet.999 Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs anerkannte Polen die gesetzgeberischen Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht im Strafrecht nicht an. Die deutschen Gesetzgebungsakte wurden für völkerrechtswidrig und nichtig erklärt. Darauf aufbauend erklärte Polen auch die Entscheidungen der deutschen Gerichte, die während der Besatzung gefällt worden waren, für ungültig und ohne Rechtsfolgen. Soweit polnische Gerichte im Generalgouvernment, wo das polnische Strafrecht grundsätzlich in Geltung belassen worden war, Entscheidungen getroffen hatten, wurden diese als gültig anerkannt, allerdings nur soweit sie nicht auf deutscher Rechtssetzung beruhten und nicht gegen die polnische Rechtsordnung verstießen.1000 Nach dem polnischen Recht war somit während der gesamten Phase der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 die Republik Polen Tatort und ihr Recht, das Polnische Strafgesetzbuch 1932, in ganz Polen das Tatort-Tatzeitrecht. Die Anerkennung dieser Entscheidung durch Österreich war wohl alternativlos, auch wenn sie letztendlich zur Verjährung der in Polen durch Österreicher begangenen NS-Morde führte.1001 Diese Auslegung mit all ihren Konsequenzen entsprach den Intentionen des Justizministeriums wie beispielsweise ein Bericht aus dem Jahr 19761002 im Fall von Leon Margewitsch belegt. In den »Breslauer Dokumenten«, die den Frankfurter Auschwitz-Prozess mitauslösten, war dokumentiert, dass der SS-Mann Leon Margewitsch in Auschwitz einen Häftling erschossen hatte. Die österreichische Staatsanwaltschaft nahm daraufhin Ermittlungen gegen Margewitsch auf und hielt in einem Bericht an das Justizministerium fest, dass gegen diesen immer neue Verdachtsmomente auftauchten.1003 Vom Justizministerium wurde ´ 2019, S. 33–35. 999 BENTZIEN 2007, S. 47; BÖHLER 2019, S. 28f; KORKUC 1000 GEILKE 1955, S. 9. 1001 Die Verjährung der in Polen von Österreichern begangenen NS-Morde war selbstverständlich nicht alternativlos. Sie wäre durch eine entsprechende Regelung des österreichischen Gesetzgebers zu vermeiden gewesen. Außerdem erscheint auch die Anerkennung der rückwirkenden Einführung der Unverjährbarkeit für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Polen und anderen NS-Tatortstaaten durch Österreich denkbar. Denn bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt es sich zweifelsfrei um Handlungen, die im Zeitpunkt ihrer Begehung »nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren«. Diese sind vom Rückwirkungsverbot der EMRK ausdrücklich ausgenommen (Art. 7 Abs. 2 EMRK, BGBl 1958/210). Dazu kommt, dass nach der gegenwärtigen Rechtsprechung des EGMR das Verjährungsinstitut zum Prozessrecht gehört und als bloße Verfahrensregel vom Rückwirkungsverbot der EMRK nicht erfasst ist, vgl. dazu EGMR v. 22. 6. 2000 (Coeme u. a. gegen Belgien) Nr. 32492/96; GRABENWARTER/PABEL 2016, S. 558f; KLEINE-COSACK 2013, S. 422. 1002 Bericht des Justizministeriums an die Oberstaatsanwaltschaft, 7. 4. 1976; OStA Wien, Handakt zum Komplex Auschwitz-Verfahren, zitiert nach LOITFELLNER 2006, FN 48. 1003 LOITFELLNER 2006, S. 194.

208 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 der Bericht »mit dem Beifügen zur Kenntnis genommen, dass nach dem TatzeitTatortrecht (vgl. § 65 Abs. 2), und zwar nach § 87 lit a des polnischen Strafgesetzes vom 11. Juli 1932, die längste Verfolgungsverjährungsfrist– und zwar auch im Fall einer rechtzeitigen Unterbrechung der Verjährung– 25 Jahre, seit der Verübung der Tat betragen hatte. Nach der Tat im Ausland vorgenommene rückwirkende Verjährungsausschlüsse oder Verjährungsverlängerungen (vgl. etwa Verordnung einer am Tatort zur Tatzeit noch nicht effektiven polnischen Exilregierung vom 31. August 1944 und spätere Vorschriften) können zu Gunsten des Täters nicht berücksichtigt werden.«1004 Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Margewitsch im April des Jahres 1976 wegen der eingetretenen Verjährung ein.1005 Verfolgt werden konnten nach dem Inkrafttreten des neuen österreichischen Strafgesetzbuches aber noch die nationalsozialistischen Morde iSv § 211 dRStGB,1006 die während der NS-Herrschaft im Geltungsbereich des österreichischen Strafgesetzbuches begangen worden waren. Der Prozess gegen Joseph Gogl, dem Morde im Gebiet des heutigen Österreichs vorgeworfen wurden, konnte daher auch nach dem Inkrafttreten des neuen österreichischen Strafgesetzbuches im Jahr 1975 wiederholt werden. Die Erwartungen an diesen Prozess waren von vornherein gering: Etliche ZeugInnen waren inzwischen verstorben. Andere weigerten sich, noch einmal nach Österreich zu kommen, um in einem Verfahren gegen Gogl auszusagen. In der Hauptverhandlung wurde beispielsweise der Brief eines tschechischen Zeugen verlesen, der schrieb, dass er bereits in Linz gegen Gogl ausgesagt habe und seitdem nicht mehr an die Gerechtigkeit österreichischer Gerichte glaube. Das Geschworenengericht sprach Gogl dann auch nochmals in allen Anklagepunkten frei. Dieser Freispruch war das letzte Urteil, das in Österreich wegen eines nationalsozialistischen Verbrechens erging.1007 1004 Bericht des Justizministeriums an die Oberstaatsanwaltschaft, 7. 4. 1976; OStA Wien, Handakt zum Komplex Auschwitz-Verfahren, zitiert nach LOITFELLNER 2006, FN 48. 1005 LOITFELLNER 2006, S. 194. 1006 Der zur Tatzeit geltende § 211 dRStGB (in Österreich wurde § 211 dRStGB im Jahr 1941 bei grundsätzlicher Weitergeltung des österreichischen Strafgesetzbuches 1852 eingeführt) war für die NS-Täter günstiger als der im Urteilszeitpunkt geltende § 75 StGB, weil nach § 75 StGB jede vorsätzliche Tötung Mord darstellte, § 211 dRStGB aber eine vorsätzliche Tötung nur dann als Mord qualifizierte, wenn besondere Mordmerkmale erfüllt waren und der/die TäterIn grausam, heimtückisch oder aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte. 1007 EIGELSBERGER 2006, S. 224; UNDESSER 2009, S. 54; WIRTH 2011, S. 452; im Jahr 1997 wurde nochmals eine Anklage erhoben und zwar gegen den Arzt Heinrich Gross, dem die Ermordung behinderter Kinder in der Wiener Kinderheilanstalt »Am Spiegelgrund« vorgeworfen wurde. Die Taten waren den Behörden seit Langem bekannt, bis dahin aber als verjährter Totschlag iSv § 212 dRStGB betrachtet worden. Den Tatbestand des Mordes erfüllten die Tötungen nach Ansicht der Strafverfolgungsbehörden nicht, weil diese annahmen, dass die behinderten Kinder nicht haben erkennen können, was mit ihnen ge-

Die »Amnestierung« der NS-Massenmorde – eine Panne?

7.

209

Die »Amnestierung« der NS-Massenmorde – eine Panne?

Die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wurde in Österreich im Jahr 1975 faktisch beendet. Über den Grund dafür wird in der wissenschaftlichen Literatur vielfach spekuliert. Als Ursachen werden die Ergebnisse der Geschworenenprozesse, die negativen Reaktionen auf dieselben sowie das Interesse der Politik und Gesellschaft nach einem »Schlussstrich« angeführt. Vermutet wird, dass diese Gründe den damaligen Justizminister Christian Broda dazu veranlassten, den Staatsanwaltschaften eine zentrale Weisung zu erteilen, keine NS-Prozesse mehr einzuleiten und die anhängigen Verfahren einzustellen.1008 Nachweise, dass Broda eine solche Weisung, die im Übrigen rechtswidrig gewesen wäre, tatsächlich erteilte, existieren nicht.1009 Die Regelungen der § 61 und § 65 des neuen Strafgesetzbuches 1974 ermöglichten außerdem bereits eine rechtskonforme Beendigung einer Vielzahl von Verfahren. Das Interesse an einem Ende der NS-Prozesse wirft freilich die Frage auf, ob diese Bestimmungen bewusst in das neue Strafgesetzbuch aufgenommen wurden, um eine gesetzliche Grundlage für ein Ende der NS-Prozesse zu schaffen. Roland Miklau, Mitarbeiter und ab dem Jahr 1974 Leiter der Straflegislativsektion im Bundesministerium für Justiz,1010 bestritt – »in dieser Frage als Zeitzeuge« –, dass derartige Überlegungen bei der Strafrechtsreform eine Rolle gespielt hatten. Innerhalb des Ministeriums diskutiert worden seien hingegen die Schwierigkeiten des Zeugenbeweises vor den Geschworenengerichten und die Sinnhaftigkeit weiterer Anklagen mit zunehmendem Zeitablauf.1011 Diese Aussage scheint zuzutreffen. Die Regelungen der §§ 61, 62 und 65 StGB finden sich nämlich bereits in dem ersten österreichischen Strafgesetzentwurf der »Zweiten Republik« aus dem Jahr 1962. Dieser war von einer vom Justizministerium eingesetzten Strafrechtskommission unter der Leitung von Ferdinand Kadecˇka ausgearbeitet worden. Kadecˇka hatte der Kommission als Referent die Regelungen des intertemporalen und interterritorialen Strafrechts vorgeschlagen. Von den anderen Kommissionsmitgliedern waren sie einstimmig angenommen

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schah und daher nicht heimtückisch getötet wurden. Das Verfahren wurde im Jahr 2000 unterbrochen und nach dem Tod des Angeklagten im Jahr 2006 eingestellt; ACHRAINER/ EBNER 2006, S. 78f; Der Wiener Euthanasieprozess gegen Heinrich GROSS, auf: http:// www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/geschworeneng/gross_index.php (abgerufen am 14. 8. 2020). APFL/KLENK 2008, S. 10; GARSCHA 1998, S. 9; RENNERT 2013, S. 117; UNDESSER 2009, S. 40; WIRTH 2011, S. 453f. GARSCHA 1997, S. 12. SCHÖCH 1997, S. 355. Roland Miklau, zitiert nach GARSCHA 2005, S. 15.

210 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 worden.1012 Kadecˇka und den übrigen Mitgliedern der Strafrechtskommission kann aber keine böse Absicht unterstellt werden, betrug doch im Jahr 1962 die längste Verjährungsfrist, die auch für Mord galt, zwanzig Jahre.1013 Im Strafgesetzentwurf des Jahres 1962 waren ebenfalls eine Verjährungsfrist von höchstens zwanzig Jahren und keine unverjährbaren Straftaten vorgesehen.1014 Die NSVerbrechen wären damit in Österreich schon nach dem österreichischen Recht spätestens 1965 verjährt gewesen. Es bestand also für die Kommissionsmitglieder keine Notwendigkeit, über den Umweg des intertemporalen und interterritorialen Strafrechts ein Ende der NS-Prozesse herbeizuführen. Im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen erlangten diese Bestimmungen erst Relevanz, als im Jahr 1965 in Österreich unter großem außenpolitischem Druck die rückwirkende Unverjährbarkeit von Mord beschlossen wurde. Dennoch wurden die Bestimmungen des seinerzeitigen Kommissionsentwurfs in alle Nachfolgeentwürfe übernommen.1015 Sie blieben auch in dem unter der ÖVP-Alleinregierung als Regierungsvorlage eingebrachten Strafgesetzentwurf des Jahres 19681016 unverändert, obgleich dieser zahlreiche Änderungen und Verschärfungen gegenüber dem Strafgesetzentwurf des Jahres 1962 vorsah.1017 Die Auswirkungen dieser Regelungen auf die Möglichkeit zur Ahndung der NS-Verbrechen wurden zumindest im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren1018 nicht thematisiert und auch keine Änderungen derselben vorgeschlagen. Es kann daher nicht angenommen werden, dass die Abgeordneten des österreichischen Parlaments in ihrer Gesamtheit die Tragweite der Bestimmungen der § 61 und § 65 StGB erkannten.1019 Diese Schlussfolgerung hätte einige Kombinationsgabe erfordert und umfassende Rechtskenntnisse, vor allem aber Kenntnisse des zwischen 1939 und 1945 geltenden Verjährungsrechts in den 1012 § 79–83 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 58–61; WIRTH 2011, S. 226f. 1013 STUTZENSTEIN 2020a, S. 128, siehe dazu auch Kapitel IV.2.1. 1014 §§ 65, 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53. 1015 § 79–85 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. 94, 97; § 64–71 RV 30 BlgNR 13. GP (16. 11. 1971), S. 12f. 1016 § 71–75 Strafgesetzentwurf 1968; RV 650 BlgNR 10. GP (7. 2. 1968), S. 13f. 1017 WIRTH 2011, S. 357f; dazu ausführlich in Kapitel VI.2. 1018 AB 959 BlgNR 13. GP (16. 11. 1973), S. 14f; StenProtNR, 13. GP 84. Sitzung v. 27. bis zum 29. 11. 1973, S. 7965–8184; StenProtBR 326. Sitzung v. 6. 12. 1973, S. 9762–9838. 1019 Die Debatte im Nationalrat und Bundesrat war ganz auf die umstrittene »Fristenlösung«, die eine Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten vorsah, fokussiert. Die Reglungen des interterritorialen und intertemporalen Strafrechts fanden dagegen keine Erwähnung; StenProtNR, 13. GP 84. Sitzung v. 27. bis zum 29. 11. 1973, S. 7965–8184; StenProtBR 326. Sitzung v. 6. 12. 1973, S. 9762–9838.

Die »Amnestierung« der NS-Massenmorde – eine Panne?

211

ehemaligen NS-Tatortstaaten, vorausgesetzt, über die die Abgeordneten wohl nicht verfügten. Anzunehmen ist daher, dass ihnen die Bedeutung dieser Regelungen zumindest überwiegend nicht bewusst war. Der zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzte Unterausschuss des Justizausschusses im Nationalrat, der sich aus Abgeordneten aller Parlamentsparteien zusammensetzte, befasste sich vor der Beratung im Plenum mit allen Bestimmungen des im Jahr 1971 als Regierungsvorlage eingebrachten Strafgesetzentwurfs. Dies geschah im Allgemeinen detailliert. Vor allem der § 65 StGB, der die stellvertretende Strafrechtspflege in Österreich regelte, wurde aber, auch im Vergleich zu anderen unumstrittenen Bestimmungen, nur kurz behandelt. Die Verjährungsklausel1020 fand keine besondere Erwähnung. Ob dies auf mangelndes Interesse an dieser Regelung oder stillen Konsens, auf diese Weise auch das Problem der NS-Prozesse zu lösen, zurückzuführen ist, kann nicht festgestellt werden.1021 Besonders der Ausschussvorsitzende Gustav Zeillinger (FPÖ),1022 aber auch der Justizsprecher der ÖVP, Walter Hauser,1023 der dem Ausschuss angehörte und wegen seines guten Verhältnisses zu Broda sogar als dessen »Justizzwilling« bezeichnet wurde, waren jedenfalls mit der Frage der Verjährung der NS-Straftaten vertraut. Hauser war seit dem Jahr 1962 Nationalratsabgeordneter und hatte damit die Widerstände in seiner Partei gegen die von der SPÖ propagierte Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten miterlebt.1024 Zeillinger seinerseits hatte im Jahr 1965 energisch für die Verjährung der NS-Straftaten plädiert und im Falle einer Änderung der Verjährungsfristen für diese Taten sogar ein Scheitern der Strafrechtsreform prophezeit.1025 Ob ihre jeweiligen Vorkenntnisse die Genannten misstrauisch hätten machen müssen, kann jedoch nicht beurteilt werden. Zu vermuten ist lediglich, dass zumindest Justizminister Christian Broda die erforderlichen Rechtskenntnisse und zweifellos auch juristische Kombinationsgabe besaß, um die Bedeutung der § 61 und § 65 StGB 1974 zu erkennen. Wie sich seinem Nachlass entnehmen lässt, hatte er sich mehrfach und umfassend mit der Verjährung der NS-Verbrechen befasst. Broda verfügte über Kenntnisse des ausländischen Verjährungsrechts und kannte die Maßnahmen, die im Ausland zur Verhinderung der Verjährung der NS-Verbrechen getroffen worden oder 1020 Siehe dazu FN 948. 1021 ACB, Mappe V.875.6 und V.875.10: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschuss des Justizausschusses vom 1973, 19. Sitzung (26. 2. 1973), S. 13–20; 23. Sitzung (11. 5. 1973), S. 11–13. 1022 Zur Person Zeillingers siehe WIRTH 2011, S. 411f. 1023 Zur Person Hausers siehe WIRTH 2011, S. 411. 1024 Siehe dazu Kapitel IV.3.4. 1025 Dazu ausführlich in Kapitel IV.4.6.

212 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 dort geplant waren.1026 Mit den Regelungen des Strafgesetzbuches 1974 und den dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen war Broda ebenfalls bestens vertraut.1027 Er hatte schon der Strafrechtskommission des Justizministeriums angehört und später als Minister deren Sitzungen beigewohnt. Die Strafgesetzentwürfe der Jahre 1962 und 1964 sowie die letztendlich mit einigen Änderungen als Strafgesetzbuch 1974 beschlossene Regierungsvorlage aus dem Jahr 1971 waren während seiner Amtszeit entstanden.1028 Damit waren Broda einerseits die Regelungen des intertemporalen und interterritorialen Strafrechts in den Strafgesetzentwürfen, andererseits die zur Verhinderung der Verjährung der NS-Verbrechen in vielen Staaten getroffenen Maßnahmen sowie deren Verjährungsregelungen bekannt. Es erscheint insofern höchst unwahrscheinlich, dass dieser hochqualifizierte Jurist die bevorstehende Verjährung einer Vielzahl von NS-Straftaten durch die Regelungen des Strafgesetzbuches 1974 einfach übersehen konnte. Zumindest war Broda in der Lage, die Auswirkungen der § 61 und § 65 StGB auf die Möglichkeit zur Ahndung der NSVerbrechen zu begreifen.1029 Gleiches gilt für Brodas »Cheflegisten« und wichtigsten Mitarbeiter in der Strafrechtsreform, den Strafrechtsprofessor Friedrich Nowakowski.1030 Dieser hatte wesentlichen Anteil an der Formulierung der Ministerialentwürfe 1964 und 1966 sowie des Strafgesetzentwurfs 1971 und des Strafgesetzbuches 1974.1031 Zahlreiche grundsätzliche Konzepte und Einzelregelungen des geltenden Strafgesetzbuches gehen auf Vorschläge Nowakowskis zurück.1032 Die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage 1971, die später mit einigen Änderungen als Strafgesetzbuch beschlossen wurde, waren überwiegend von Nowakowski verfasst worden.1033 Schon einer bloßen Lektüre der Erläuterungen zu den § 62 und § 65 StGB ist zu entnehmen, dass die Verjährbarkeit früher begangener

1026 Siehe dazu ACB, Mappe III.137: NS-Gewaltverbrechen: Verjährung; ACB, Mappe III.138: NS-Gewaltverbrechen: Verjährung; ACB, Mappe III.295: Strafrechtsänderungsgesetz 1965. 1027 Seinem Nachlass kann entnommen werden, dass Broda alle Einzelheiten des Gesetzbuches bekannt waren und er sich auch mit Detailfragen persönlich befasste, siehe dazu nur für die Legislaturperiode von 1970 bis 1975; ACB, Mappe V.849–891. 1028 WIRTH 2011, S. 223f, 418f. 1029 Es ist nicht auszuschließen, dass dies auch auf andere Personen zutrifft. 1030 Zur Person Nowakowskis siehe FN 602. 1031 Dazu ausführlich in Kapitel VI.2. 1032 BRODA 1965, S. 16; BRODA 1971, S. 12; STANGL 1985, S. 44, 53f; WIRTH 2011, S. 224. 1033 STANGL 1985, S. 54 schreibt, dass hauptsächlich Nowakowski die Erläuterungen zum Ministerialentwurf 1964 (Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.)) verfasste. Diese wurden weitgehend und für viele Bestimmungen, darunter auch die §§ 61, 62 und 65 StGB, unverändert in die ErläutRV 30 NR 8. GP übernommen.

Die »Amnestierung« der NS-Massenmorde – eine Panne?

213

Auslandstaten auch nach dem Recht am Tatort zur Tatzeit zu beurteilen ist.1034 Im Jahr 1965 war Nowakowski als Konsulent in der Verjährungsfrage für das Justizministerium tätig gewesen und hatte sich dabei mit der Verjährung der NSVerbrechen befasst.1035 Insofern war auch Nowakowski mit beiden Themenkomplexen, nämlich der Verjährung der NS-Verbrechen und dem interterritorialen und intertemporalen Strafrecht in den Strafgesetzentwürfen vertraut. Angesichts seines Kenntnisstandes und seiner großen juristischen Befähigung erscheint es wie im Falle Brodas höchst unwahrscheinlich, dass Nowakowski nicht der Lage war, die Auswirkungen der § 62 und § 65 StGB auf die juristischen Möglichkeiten zur Ahndung der NS-Verbrechen zu erkennen. Ob Broda und Nowakowski ihr zu vermutendes Wissen1036 im Justizministerium kommunizierten, kann nicht festgestellt werden. Im Hinblick auf das Ziel, die NS-Prozesse ohne Aufsehen beenden zu können, wäre es freilich nicht empfehlenswert gewesen, einen größeren Personenkreis auf die Auswirkungen der § 61 und § 65 StGB auf die Möglichkeit zur Ahndung der NS-Verbrechen im Voraus hinzuweisen, hätte dies doch unnötiges Aufsehen erregen und Widerstand gegen das bevorstehende Ende der Verfolgung der meisten im Ausland begangenen NS-Morde auslösen können.1037 Schließlich lassen die verstärkten Bestrebungen der 1970er-Jahre, noch einige vielversprechende NS-Prozesse, insbesondere im Zusammenhang mit dem Tatkomplex Auschwitz und der »Aktion Reinhardt«, abzuschließen, Raum für Spekulationen. Sie werfen die Frage auf, ob diese Prozesse noch vor dem Abschluss der Strafrechtsreform beendet werden sollten, weil dem Justizminister bewusst war, dass sie nach dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches nicht mehr durchführbar sein würden. Angesichts seiner eigenen Widerstandstätigkeit1038 und seines Eintritts gegen die Verjährung der schwersten NS-Straftaten während seiner ersten Amtsperiode1039 erscheint freilich ausgeschlossen, dass Broda aus Sympathie für die beschuldigten NS-Mörder handelte. In seinen Notizen bezweifelte er aber die Sinnhaftigkeit weiterer NS-Prozesse und befürchtete, 1034 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 79, S. 111f, § 83, S. 116–118; ErläutRV 30 NR 8. GP, S. 172f, 177–179. 1035 Siehe dazu ausführlich Kapitel IV.4.3.–IV.4.5. 1036 Eine eindeutige Bestätigung dieser Vermutung findet sich in Brodas umfangreichen Nachlass nicht. 1037 Als die Verjährung der NS-Verbrechen in Österreich im Jahr 1965 zur Diskussion stand, kämpften Opfer- und Widerstandsverbände, aber auch Einzelpersonen gegen die Verjährung. Darüber hinaus stand die österreichische Regierung außenpolitisch unter Druck, die Verjährung der NS-Morde zu verhindern; dazu ausführlich Kapitel IV.4. 1038 Dazu ausführlich WIRTH 2011, S. 99–116. 1039 STUTZENSTEIN 2020a, S. 130–134, 138f, siehe dazu auch Kapitel IV.3.4. und Kapitel IV.4.3.

214 Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde in Österreich im Jahr 1975 dass fehlerhafte Freisprüche das Gegenteil des angestrebten Erziehungsprozesses bewirken und sich negativ auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung auswirken würden.1040 Im Hinblick auf die Ergebnisse der Geschworenenprozesse erscheint naheliegend, dass Broda nicht mehr mit Schuldsprüchen wegen NS-Straftaten rechnete und jedenfalls keine weiteren »skandalösen« Freisprüche riskieren wollte.1041

8.

Die »kalte Verjährung« in Österreich: Eine Bewertung

Die Strafrechtskommission konzipierte arglos die Regelungen der §§ 61, 62 und 65 StGB. Durch ihren Beschluss schufen die wohl überwiegend ahnungslosen Abgeordneten die gesetzliche Grundlage für die Beendigung einer Vielzahl von NS-Prozessen und Ermittlungsverfahren wegen nationalsozialistischer Morde von Österreichern im Ausland,– ganz ohne die Aufmerksamkeit von kritischen Stimmen aus dem Inland und Ausland zu erregen. Die Regelungen des Strafgesetzbuches 1974 lösten keine kontroverse politische Debatte über die Beendigung der NS-Prozesse aus. Auch nach dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches äußerten sich, soweit erkennbar, weder die österreichischen Medien noch die Politik zur »kalten Verjährung« in Österreich.1042 Die Einstellung des gerichtsanhängigen Prozesses gegen Lerch und Pohl, die unter Heranziehung der §§ 61 und 65 StGB erfolgte, wurde erst durch die Publikation von Karl Marschall im Jahr 1977 öffentlich bekannt.1043 Die deutsche Presse berichtete dagegen umfassend über ihre eigene »kalte Verjährung« des Jahres 19681044 und bedachte die verantwortlichen Politiker mit harter Kritik, kombiniert mit einigem Hohn wegen ihrer Naivität.1045 Ausländische Beobachter reagierten mit Misstrauen und dem Vorwurf an die BRD, ihre

1040 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.137.4, fol. 27. 1041 GARSCHA 1998, S. 14f; WIRTH 2011, S. 453f. 1042 Vgl. dazu die gesammelten Zeitungsausschnitte zur Strafrechtsreform, den Gesetzentwürfen und schließlich dem Strafgesetzbuch in: ACB, Mappe V.866: Strafrechtsreform, Strafgesetzentwurf 1971; Mappe V.882: Strafrechtsreform, Strafgesetzbuch (1973); Mappe V.884: Strafrechtsreform, Strafgesetzbuch (1974) sowie Mappe V.885.6: Strafrechtsreform, Strafgesetzbuch (1975 und 1981), Zeitungsausschnitte Jänner 1975. 1043 LOITFELLNER 2002, S. 175. 1044 Die »Bild am Sonntag« und »Der Spiegel« waren es auch, die den »Verjährungsskandal« wenige Monate nach dem Inkrafttreten des EGOWiG aufdeckten; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Hilfe für Gehilfen, 6. 1. 1969, S. 31f; GREVE 2000, S. 413; WEINKE 2002, S. 302f. 1045 Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Hilfe für Gehilfen, 6. 1. 1969, S. 31f; Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Kalte Verjährung, 13. 1. 1969, S. 58–60; GREVE 2000, S. 413; WEINKE 2002, S. 302f.

Die »kalte Verjährung« in Österreich: Eine Bewertung

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Nazis absichtlich »amnestiert« zu haben.1046 Der Bedeutungsgehalt der §§ 61, 62 und 65 des österreichischen Strafgesetzbuches wurde im Ausland allerdings wohl nicht erkannt. Die zweifelhaften Freisprüche der 1960er und 1970er-Jahre hatten dagegen noch international kritische Schlagzeilen und negative Reaktionen hervorgerufen. Der Umstand, dass in Österreich keine NS-Prozesse mehr geführt wurden, war ohne Kenntnis der Ursachen wenig berichtenswert und kaum schlagzeilentauglich. Dem Ansehen Österreichs diente die »kalte Verjährung« damit durchaus. So hatte Österreich bis zur Waldheim-Affäre ein weitgehend unhinterfragt positives Image im Ausland.1047 Der überwiegende Teil der österreichischen Bevölkerung wünschte sich damals ein Ende der NS-Prozesse. Auch die politischen Parteien hatten kein Interesse mehr an einer weiteren Verfolgung der NS-Straftaten, denn die Täterverfolgung kollidierte mit dem Opfermythos und dem kollektiven Opferverständnis der österreichischen Bevölkerung. Die Bestimmungen der §§ 61, 62 und 65 StGB trugen dem verbreiteten Wunsch nach einem »Schlusstrich« unter die NS-Vergangenheit dezent und verschleiert Rechnung. So gesehen war der Beschluss der §§ 61, 62 und 65 StGB wohl nicht nur ein »Versehen« des Parlaments als Gesetzgeber, sondern für eine Gesellschaft und eine Politik, die sich nicht mit der NS-Zeit auseinandersetzen wollte, auch ein »glücklicher Zufall«. Die Auswirkungen der »kalten Amnestierung« der NS-Mörder durch das Gesetz und des Unterbleibens einer weiteren strafrechtlichen Verfolgung der NSMassenmorde in Österreich auf die gesellschaftliche Wahrnehmung sind dagegen nicht abschätzbar. Von einer staatlichen Verurteilung der NS-Morde wäre jedenfalls ein Beitrag zur gesellschaftlichen Verurteilung derselben zu erwarten gewesen. Die Aufdeckung der Kausal- sowie Schuldzusammenhänge hätte wohl zu einer Sensibilisierung hinsichtlich der strukturellen Rahmenbedingungen der NS-Morde beigetragen. Offen bleibt die Frage, ob eine staatliche Strafverfolgung zur Bekräftigung der Rechtsordnung, der Verhinderung gleichartiger Taten und der Vermittlung von Wertehaltungen nicht vor allem dann notwendig ist, wenn ein vom Staat mit Strafe bedrohtes Verhalten von Teilen der Bevölkerung nicht verurteilt wird.

1046 Der Spiegel, NS-VERBRECHEN/VERJÄHRUNG. Kalte Verjährung, 13. 1. 1969, S. 58, der die ausländischen Reaktionen ausführlich schilderte und stolz darauf verwies, die Fehlleistung des Bonner Parlaments aufgedeckt zu haben; MIQUEL 2004, S. 357f. 1047 UHL 2001, S. 21.

VI.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik« und dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974

1.

Einleitung

Bis zum 1. Jänner des Jahres 1975 stand in Österreich das Strafgesetz aus dem Jahr 1852 in Geltung. Obwohl es bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitergehende Reformversuche gegeben hatte, stellte das Strafgesetz 18521048 im Wesentlichen eine revidierte Ausgabe des Gesetzes über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen aus dem Jahr 1803 dar.1049 Zur Fortsetzung der Arbeiten an der Reform des Strafrechtes kam es daher unmittelbar nach der Kundmachung des Strafgesetzes, dennoch konnte die Strafrechtsreform vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht abgeschlossen werden.1050 Danach wurde der letzte österreichische Strafgesetzentwurf der Monarchie aus dem Jahr 1912 verworfen und stattdessen an einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetz gearbeitet. Die Vorlage eines entsprechenden Strafgesetzentwurfs an die parlamentarischen Vertretungskörperschaften beider Staaten erfolgte im Jahr 1927. Dieser Strafgesetzentwurf beruhte auf dem Entwurf des ehemaligen deutschen Justizministers Gustav Radbruch. Als Vertreter Österreichs hatte Ferdinand Kadecˇka1051 an der Ausarbeitung des Entwurfs Radbruchs mitgewirkt. Er folgte wie Radbruch primär einer spezialpräventiven Strafzweckauffassung und lehnte ein Vergeltungsstrafrecht ab. Der Entwurf Radbruchs verfolgte dann auch vor allem spezialpräventive Zielsetzungen. Trotz einiger Verschärfungen im Zuge des weiteren Gesetzgebungsverfahrens blieben die wichtigsten Charakteristika des Entwurfs unverändert. Allerdings scheiterte dieser gemeinsame deutsch-österreichische Reformversuch am zunehmenden Aufkommen autoritärer Strömungen.1052 1048 1049 1050 1051 1052

Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.3.3. Zum Strafgesetz 1803 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III. Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV. und Kapitel V. Zur Person Kadecˇkas siehe FN 307. Zu diesem gemeinsamen deutsch-österreichischen Reformversuch in der Zwischenkriegszeit siehe ausführlich Kapitel II.

218

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich blieb das österreichische Strafgesetz 1852 in Geltung, weil das NS-Regime beabsichtigte, zeitnah ein neues Strafgesetzbuch auszuarbeiten und im ganzen Deutschen Reich in Kraft zu setzen. Die nationalsozialistische Strafrechtsreform wurde nie beendet.1053 Während der Herrschaft des Nationalsozialismus erfolgten aber zahlreiche Änderungen im österreichischen Strafrecht.1054 Mit dem Gesetz über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts kehrte die österreichische provisorische Staatsregierung am 12. Juni 1945 wieder zum Strafgesetz 1852 in der Fassung vom 13. März 1938 zurück. Dieses wurde am 3. November 1945 wiederverlautbart.1055 In der schwierigen Nachkriegssituation war die Reform des Strafrechts zunächst nur ein Expertenanliegen innerhalb der SPÖ. Der eigentliche Startschuss für die Wiederaufnahme der Strafrechtsreform fiel im Jahr 1953, als der Justizausschuss des Nationalrates den Justizminister um die Einberufung einer Enquete zur Vorbereitung einer Strafgesetzreform ersuchte.1056 Das folgende Kapitel beschreibt zunächst allgemein die Strafrechtsreform nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu ihrem Abschluss. Die wichtigsten Charakteristika der in dieser Phase entstandenen Strafgesetzentwürfe werden vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung herausgearbeitet. Darauf aufbauend folgt eine Analyse von deren Verjährungsregelungen und den Verjährungsregelungen des Strafgesetzbuches 1974. Ob und inwiefern die vorangehenden Strafgesetzentwürfe der Monarchie und der Zwischenkriegszeit diese beeinflussten, wird untersucht. Einen Schwerpunkt des Kapitels bildet die Frage, welche Auswirkungen die bei den Gesetzgebungsarbeiten jeweils vorherrschenden Vorstellungen vom Strafzweck und dem Menschenbild, die mit den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen wechselten, auf die Begründung des Verjährungsinstitutes und die Ausgestaltung der Verjährungsregeln hatten. Wie gewohnt, beinhaltet auch dieses Kapitel für die untersuchte Zeitspanne eine Darstellung des wissenschaftlichen Meinungsstandes zur Begründung der Verjährung. Abschließend werden die theoretischen Konzepte, die dem geltenden Verjährungsrecht zugrunde liegen, auf Widersprüchlichkeit zum positiven Verjährungsrecht untersucht.

1053 Zu der nationalsozialistischen Strafrechtsreform und den nationalsozialistischen Verjährungsvorstellungen siehe Kapitel III. 1054 Siehe dazu Kapitel III.4. 1055 Gesetz vom 12. 6. 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts, StGBl 1945/25; Kundmachung des Staatsamtes für Justiz vom 3. November 1945 über die Wiederverlautbarung des österreichischen Strafgesetzes (Österreichisches Strafgesetz 1945, A. Slg. Nr. 2), siehe dazu auch Kapitel IV.2.1. 1056 WIRTH 2011, S. 221f.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

2.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

2.1.

Der Kommissionsentwurf des Jahres 1962

219

Nach einer einstimmigen Aufforderung des Nationalrats im Juni 1954 berief Justizminister Josef Gerö (parteilos) eine Strafrechtskommission ein, deren konstituierende Sitzung im Oktober desselben Jahres stattfand. Die Kommission bestand aus achtzehn, später zwanzig ausschließlich männlichen Mitgliedern.1057 Neben Parlamentariern gehörten der Kommission Strafrechtsprofessoren, Beamte der Legislativabteilung des Justizministeriums, die für die Arbeiten weisungsfrei gestellt worden waren, und einige Praktiker, insbesondere Richter und Rechtsanwälte, an. Zu ihrem Vorsitzenden wählte die Kommission den damals bereits 80 Jahre alten Ferdinand Kadecˇka. Dieser erarbeitete als Referent Vorschläge für die einzelnen Bestimmungen, über die dann mit einfacher Mehrheit abgestimmt wurde.1058 Kadecˇkas Stellvertreter war der Innsbrucker Strafrechtsprofessor Theodor Rittler.1059 Sowohl personell als auch inhaltlich wurde an die vorangehenden österreichischen Reformarbeiten angeknüpft.1060 Kadecˇka war an der Ausarbeitung der Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit führend beteiligt gewesen,1061 Rittler hatte dagegen an der Erstellung der letzten österreichischen Strafgesetzentwürfe (1909, 1912) der Monarchie mitgewirkt.1062 So befand der spätere Justizminister Christian Broda, dass die Strafrechtskommission dort fortsetzte, »wo andere österreichische Juristen vor ihnen aufgehört hatten.«1063 Nachdem Kadecˇka aus Altersgründen gegen Ende der zweiten Lesung des Kommissionentwurfs aus der Kommission ausschied,1064 führte sein Schüler, der Innsbrucker Strafrechtsprofessor Friedrich Nowakowski,1065 »sein Werk« fort1066 und hatte Broda zufolge als

1057 1058 1059 1060 1061 1062

Namentlich aufgelistet in FN 595. WIRTH 2011, S. 222f, 226f. Zur Person Rittlers siehe FN 632. WIRTH 2011, S. 223, 227. Zu den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit siehe Kapitel II. Zu diesen Strafgesetzentwürfen siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.; KRIECHBAUMER 1981, S. 211f; NOWAKOWSKI 1972, S. 8f. 1063 BRODA 1968a, S. 33. 1064 GRAẞBERGER 1974, S. 721. 1065 Von dessen NS-Vergangenheit (dazu ausführlich FN 602) erfuhr Justizminister Broda wohl erst nach Nowakowskis Ernennung zum Berater des Justizministeriums. Jedenfalls bekannt war ihm diese ab Oktober 1965. Damals hatte die Zeitschrift »Forum«, für die Broda mitunter als Mitautor tätig war, ein Sonderheft mit dem Titel »Die Richter sind unter uns« herausgegeben und unter anderem Nowakowskis NS-Vergangenheit thematisiert. Rund die Hälfte der damals in Österreich aktiven Richter und Staatsanwälte waren auch während

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

»Berater des Justizministeriums den hervorragendsten Anteil an der Ausarbeitung der Strafgesetzentwürfe 1964 und 1966 […].«1067 Bis kurz vor Abschluss der ersten Lesung des Entwurfs war die Strafrechtskommission ein »unpolitisches Expertenforum« und arbeitete frei von Grundsatz- und parteipolitischen Diskussionen.1068 Zur Politisierung der Strafrechtsreform kam es Anfang der 1960er-Jahre. Der Konsens in der Großen ÖVP/SPÖKoalition begann immer mehr zu schwinden. Der Strafgesetzentwurf trug zahlreichen progressiven Forderungen Rechnung und konnte vor allem als Erfolg der SPÖ betrachtet werden. Ein Führungswechsel in der ÖVP brachte Politiker an die Spitze, die sich zwar als Reformer deklarierten, aber wertkonservative Positionen vertraten. In diesem Reformstadium entdeckte die katholische Kirche ihr Interesse an der Strafrechtsreform. Das konservativ-klerikale Lager lehnte teilweise den ganzen Entwurf, insbesondere aber die Kompromisslösungen, die in der Frage der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches und der Homosexualität gefunden worden waren, ab.1069 In der Strafrechtskommission bildeten sich Anfang der 1960er-Jahre starre Blöcke, die es nach Schilderung Nowakowskis zunächst nicht gegeben hatte. Auf Wunsch der »weltanschaulich-politisch konservativen Gruppe« wurde die Möglichkeit geschaffen, bei der zweiten Lesung Minderheitsvoten zu formulieren.1070 Besonders umstritten waren die sogenannten »heißen Eisen« der Reform, das heißt die Frage nach der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches und

1066 1067 1068 1069 1070

der NS-Zeit im Justizdienst tätig und zum Teil an der Fällung von Todesurteilen beteiligt gewesen. Broda stellte sich insgesamt hinter die NS-Richter und Staatsanwälte und damit gegen die österreichische Widerstandsbewegung. So distanzierte er sich vom »Forum«, kündigte an, sich in Zukunft nicht mehr als Mitautor zu betätigen und lehnte die von der Widerstandbewegung geforderten Untersuchungen und Maßnahmen gegen die NS-Richter und Staatsanwälte ab. Der Herausgeber des »Forums« Günther Nenning verfasste daraufhin einen »Abschiedsbrief an einen Freund« und warf Broda vor, sich mit den Falschen zu solidarisieren. »Diese Gesellschaft wird’s Dir nicht danken. Du wirst letztlich ihnen doch verdächtigt bleiben.« Konsequenzen für Nowakowski und die übrigen »NSRichter«, auch solche, die mehrfach an der Verhängung von Todesurteilen beteiligt gewesen waren und persönlich an Hinrichtungen teilgenommen hatten, hatte ihre NS-Vergangenheit bzw. deren öffentliche Bekanntmachung nicht. Allerdings erkundigte sich Broda in diesem Zusammenhang explizit nach Nowakowskis Biographie. Dieser soll Broda in mehreren Gesprächen glaubhaft seine Reue versichert haben und stand auch dann loyal zu Broda, wenn dieser attackiert wurde und die Befürchtung im Raum stand, dass Broda das Justizministerium verlieren könnte. In der Strafrechtswissenschaft wird Nowakowskis NSVergangenheit in der Regel nicht thematisiert, PICHLER 2016, FN 915; WIRTH 2011, S. 226, 291–305. So der damalige Justizminister Christian BRODA 1968a, S. 28. BRODA 1968a, S. 28; in diesem Sinn auch BRODA 1967, S. 116; STANGL 1985, S. 31, 44; WIRTH 2011, S. 224. NOWAKOWSKI 1972, S. 9f; STANGL 1985, S. 35–40. STANGL 1985, S. 55–59; WIRTH 2011, S. 227–229. NOWAKOWSKI 1972, S. 9.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

221

der Homosexualität. Im Kommissionsentwurf des Jahres 1962 (StGE 1962) waren homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen straffrei gestellt. Die »Unzucht wider die Natur« durch einen volljährigen Mann mit einem »jungen Mann« war dagegen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht (§ 244 StGE 1962). Außerdem enthielt der Entwurf einen eigenen Straftatbestand »Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht« (§ 256 StGE 1962).1071 Die »Abtreibung« war nur noch als Vergehen strafbar und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bedroht. Außerdem war eine medizinische Indikation vorgesehen und die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs geplant, wenn dieser durchgeführt wurde, um eine nicht anders abwendbare Gefahr für die körperliche und seelische Gesundheit der Schwangeren abzuwehren. Dabei sollten explizit auch die »wirtschaftlichen Verhältnisse […], unter denen die Frau zu leben gezwungen ist«, berücksichtigt werden. Zu prüfen war außerdem, ob die Angst der Schwangeren ein unheilbar krankes oder behindertes Kind zu gebären, sowie die Schwangerschaft mit einem gewaltsam gezeugten Kind eine Gefahr für die psychische Gesundheit der Schwangeren darstellten. In besonders leichten Fällen konnte das Gericht von der Strafe absehen (§§ 99–102 StGE 1962).1072 Angesichts der Ablehnung des »konservativen Blocks«, der gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Erwachsenen unter Strafe stellen wollte und generell strengere Strafbestimmungen für beide Delikte forderte, hatte Broda aber bereits in der Kommissionsitzung eine Überarbeitung dieser Regelungen im Ministerialentwurf in Aussicht gestellt.1073 Um Konflikte zu vermeiden, war von der Kommission nämlich beschlossen worden, in diesen umstrittenen Teilbereichen nur mehr en bloc abzustimmen, ohne die Einzelheiten zu diskutieren. Damit war klar, dass der Strafgesetzentwurf auch noch gesetzgeberisch überarbeitet werden würde. Abgeschlossen wurde die zweite Lesung im September 1962. Alle weiteren Strafgesetzentwürfe und auch das Strafgesetzbuch 1974 basierten auf dem Kommissionsentwurf 1962.1074

1071 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 135, 140. 1072 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 66–68. 1073 Siehe dazu §§ 99–102, § 244, § 256 und Gegenvorschläge sowie Bemerkungen, Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 66–68, 135, 140; WIRTH 2011, S. 229f. 1074 WIRTH 2011, S. 229f.

222 2.2.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Die Ministerialentwürfe der Jahre 1964 und 1966

Das Justizministerium unter Justizminister Broda arbeitete zunächst den Ministerialentwurf 1964 (StGE 1964) aus. »Cheflegist« des Ministerialentwurfs war Friedrich Nowakowski.1075 Er war es auch, der die Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf überwiegend verfasste.1076 Aufbauend auf den Beschlüssen der Strafrechtskommission und dem Kommissionsentwurf sah der Ministerialentwurf des Jahres 1964 zahlreiche bedeutende Änderungen gegenüber dem geltenden Strafgesetz 1852 vor. 2.2.1. Charakteristika des Ministerialentwurfs 1964 In einem bedeutenden Punkt war in der Strafrechtskommission keine Einigkeit erzielt worden, nämlich in der Frage nach dem Grund und Zweck der Strafe. Sowohl Justizminister Broda und mit ihm wohl die sozialdemokratischen Mitglieder der Strafrechtskommission1077 als auch Ferdinand Kadecˇka und Friedrich Nowakowski, die von allen Strafrechtswissenschaftlern den größten Einfluss auf den Inhalt des Ministerialentwurfs 1964 hatten, lehnten den Vergeltungsgedanken ab und wollten die Strafe ausschließlich als Mittel der Prävention (Spezial- und Generalprävention) einsetzen.1078 Besonders wichtig war Broda, der als »Chefideologe« der Strafrechtsreform bezeichnet werden kann, die Wiedereingliederung des Täters/der Täterin in die Gesellschaft und die Resozialisierung desselben/derselben.1079 In späteren Jahren äußerte Broda mehrfach seine Vision von der »gefängnislosen Gesellschaft« und drückte damit seine Hoffnung aus, dass man im Laufe der Zeit wirksamere, sichere und zweckmäßigere Mittel zum Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrecher und dem Verbrechen schaffen werde

1075 STANGL 1985, S. 71f; WIRTH 2011, S. 224f. 1076 NOWAKOWSKI 1967, S. 16; STANGL 1985, S. 54. 1077 Die SPÖ hatte in dem von Broda mitformulierten rechtspolitischen Abschnittes ihres Parteiprogramms im Jahr 1958 festgehalten, dass das »neue Strafrecht in gleichem Maße dem Schutz der Gesellschaft wie der Wiedereinfügung der Rechtsbrecher in die Gemeinschaft der redlichen Staatsbürger dienen« und im Vordergrund »nicht die Sühne sondern die Besserung« stehen solle, zitiert nach WIRTH 2011, S. 224f; außerdem hatten sowohl Broda als auch sein Vorgänger Justizminister Otto Tschadek (SPÖ) den Gedanken der Zweckstrafe betont, BRODA 1968b, S. 12f; STANGL 1985, S. 54. 1078 Christian Broda, StenProtNR 13.GP, 84. Sitzung v. 29. 11. 1973. S. 8159f; BRODA 1968a, S. 34; BRODA 1968b, S. 12f; GOLTSCHE 2010, S. 97; NOWAKOWSKI 1974, S. 147f; ausführlich NOWAKOWSKI 1981; SCHUBERT 1995, S. XXVII–XXIX; WIRTH 2011, S. 358. 1079 Christian Broda, StenProtNR 9.GP, 15. Sitzung v. 3. 12. 1959, abgedruckt in: NEIDER 1986, S. 12f, BRODA 1968a, S. 34.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

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als jahrelangen Freiheitsentzug.1080 Die vielzitierte und vielkritisierte Vision Brodas entsprach seiner innersten Überzeugung, dass das Gefängnis eine erfolglose Erfindung sei, sie rief jedoch nicht nur in der Opposition, sondern auch SPÖ-intern Kritik hervor.1081 Erkennen lassen Brodas diverse Stellungnahmen aber, dass dem »Vater des Strafgesetzentwurfes«1082 persönlich die Spezialprävention wichtiger war als die Generalprävention, was ihm verschiedentlich den Vorwurf einbrachte, die TäterInnen mehr zu schützen als die Opfer.1083 Die konservativ-klerikale Seite konnte derartigen »Utopien«1084 nichts abgewinnen und hielt am Vergeltungsgedanken fest.1085 Auch zwischen den österreichischen Strafrechtswissenschaftlern und den -praktikern, die in der Kommission vertreten waren, bestand in der Frage des Strafzwecks kein Konsens. Die Strafrechtskommission verzichtete auf eine Einigung, weil ihr eine solche unmöglich erschien und der Versuch einer diesbezüglichen Festlegung eher eine Fortsetzung des Schulenstreits bedeutet hätte.1086 Stattdessen betonten die vom Justizministerium herausgegebenen, überwiegend von Nowakowski verfassten Erläuternden Bemerkungen, wie im Übrigen Nowakowski selbst und zeitweilig auch Broda in eigenen Publikationen, dass man »von verschiedenen Grundauffassungen über Zweck und Möglichkeiten der Strafe aus in der Praxis zu denselben gesetzgeberischen Ergebnissen gelangen« könne. Für den Inhalt der Strafgesetznormen komme es nicht darauf an, welcher Strafzweckauffassung man folge, sodass die gleichen Regelungen von Vertretern der Vergeltungs- und Präventionstheorien akzeptiert werden können.1087 Angesichts der Kontroverse über die Legitimation und den Zweck der Strafe bot diese Formel einen Ausweg, der gemeinschaftliche Arbeiten an der Strafgesetzreform ermöglichte. Ausdrücklich als Strafzweck bezeichneten die Erläuternden Bemerkungen jedoch nur die Spezialprävention (»Resozialisierung des Täters«) sowie die Generalprävention. Das Strafrecht solle »auf die Werthaltung der Allgemeinheit einwirken, die Unwertbedeutung des strafbaren Verhaltens herausstellen und auf diesem Wege dazu beitragen, daß solche Taten unterbleiben.« All diese Aufgaben werden heute ausschließlich der Generalprävention zugeordnet. Die Erläutern1080 FISCHER 2018, S. 26; FISCHER, Vorwort, in: WIRTH 2011, S. 13f; WIRTH 2011, S. 473–475; vermutet wurde, dass Brodas Vorstellung von der »gefängnislosen Gesellschaft« die Strafrechtsreform gefährdet hätte, wenn sie früher geäußert worden wäre; WIRTH 2011, S. 478. 1081 WIRTH 2011, S. 20, 475f. 1082 KRIECHBAUMER 1981, S. 213. 1083 FISCHER, Vorwort, in: WIRTH 2011, S. 13f; WIRTH 2011, S. 475f. 1084 WIRTH 2011, S. 473–476. 1085 STANGL 1985, S. 72; WIRTH 2011, S. 234. 1086 NOWAKOWSKI 1967, S. 15; STANGL 1985, S. 54, 72. 1087 BRODA 1967, S. 116; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Einleitung, S. 4f; NOWAKOWSKI 1967, S. 15; STANGL 1985, S. 54, 72.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

den Bemerkungen gestehen den Anhängern der Vergeltungstheorie jedoch zu, diese Aufgaben auch als »Vergeltung zu deuten«, nur um dann zu erklären, der Entwurf lasse sich »weitgehend von Erwägungen der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit leiten«.1088 Schon nach den bewusst »neutral« und diplomatisch formulierten Erläuternden Bemerkungen dominierten präventive Zielsetzungen den Ministerialentwurf 1964. Dies gilt umso mehr für dessen Inhalt:1089 Generell war die staatliche Strafe als ultima ratio gedacht. Sie sollte nur dort zum Einsatz kommen, wo andere Mittel der gesellschaftlichen Reaktion gegenüber Verhaltensweisen der Menschen, die die Gesellschaft korrigieren will, versagen.1090 Der ultima ratioGrundsatz wurde auch bei der Statuierung der Sanktionsmittel und Strafandrohungen verfolgt. Ein Absehen vom Strafvollzug in Fällen, in denen der Strafzweck durch die bloße Androhung einer Strafe erreicht schien, war mit der bedingten Strafnachsicht und bedingten Verurteilung, deren Anwendungsbereich der StGE 1964 ausdehnte, geplant.1091 Die vom StGE 1964 angedrohten Strafen lagen deutlich unter denen des Strafgesetzes 1852 – und insbesondere bei Massendelikten wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Betrug und Unterschlagung zum Teil auch unter denen des späteren Strafgesetzbuches 1974. Für außergewöhnlich leichte Fälle war darüber hinaus die Möglichkeit zur Verurteilung ohne Strafe geplant.1092 Als weitere bedeutende Neuerung war beispielsweise die Einführung eines »zweispurigen« Systems vorgesehen: Neben den Strafen für schuldhaftes Handeln waren für geistig abnorme RechtsbrecherInnen, entwöhnungsbedürftige RechtsbrecherInnen und RückfallstäterInnen vorbeugende Maßnahmen geplant. Die Maßnahme war vor einer allenfalls zusätzlich verhängten Freiheitsstrafe zu vollziehen und auf diese anzurechnen (sog. Vikariieren). Anstelle der bisherigen Einteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen trat eine Zweiteilung in Verbrechen und Vergehen. Eine einheitliche Freiheitsstrafe (»Einheitsstrafe«) sollte anstelle der Diversifizierung in Kerker, Gefängnis und Arrest treten. Die Homosexualität unter Erwachsenen war im StGE 1964 gar nicht mehr mit Strafe bedroht. Um dem/der RechtsbrecherIn die Resozialisierung zu erleichtern, war die Einführung der Bewährungshilfe für 1088 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Einleitung, S. 4f. 1089 BURGSTALLER 1997, S. 45f; NOWAKOWSKI 1974, S. 147f; STANGL 1985, S. 48f, 53f, 71; WIRTH 2011, S. 358–360, 419f. 1090 NOWAKOWSKI 1974, S. 148; WIRTH 2011, S. 419f. 1091 Christian Broda, StenProtNR 9.GP, 15. Sitzung v. 3. 12. 1959, abgedruckt in: NEIDER 1986, S. 12f, BRODA 1967, S. 117; NOWAKOWSKI 1967, S. 17–20; NOWAKOWSKI 1972, S. 12; NOWAKOWSKI 1974, S. 147f; STANGL 1985, S. 43f, 88. 1092 NOWAKOWSKI 1974, S. 147f; STANGL 1985, S. 43f.

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Erwachsene geplant und die Beschränkung der Auskunftsmöglichkeit über frühere Verurteilungen. Die Strafandrohung für den Schwangerschaftsabbruch wurde allerdings infolge der Uneinigkeiten in der Kommissionssitzung auf drei Jahre erhöht, wobei die Tat weiterhin als Vergehen eingestuft war. Als weitere Verschärfung und Zugeständnis an den konservativen Block war außerdem nur noch eine sozialmedizinische Indikation ohne kriminologische und embryopathische Komponente vorgesehen. Die Möglichkeit eines Absehens von einer Bestrafung des Schwangerschaftsabbruches in besonders leichten Fällen entfiel.1093 Den Vorschlag der Strafrechtskommission erachtete Broda bei den »herrschenden politischen Kräfteverhältnissen« als »undurchsetzbar«.1094 Mit dem Gedanken der Zweckstrafe in Einklang steht das »Schuldverständnis« des Ministerialentwurfs. Traditionell wurde Schuld in einem sozial-ethischen Sinn als Missbrauch der persönlichen Wahlfreiheit verstanden.1095 Eine solche Schulddefinition ist für den Strafzweck der Vergeltung offen. Der Strafgesetzentwurf 1964 wie auch das geltende Strafgesetzbuch 1974 folgen dagegen einer Konzeption Nowakowskis, dem sog. »charakterologischen Schuldbegriff«: Schuld ist nach dieser Ansicht der in der Tat aktualisierte Mangel an Verbundenheit des Täters/der Täterin mit den rechtlich geschützten Werten. Sie besteht in der fehlerhaften Willensbildung im Tatzeitpunkt und dem Abweichen von jenem Verhalten, das von dem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen (maßgerechten Menschen) zu erwarten wäre. Ob dem/der TäterIn seine/ ihre mangelnde Wertverbundenheit angesichts seiner/ihrer Persönlichkeit, Vorerfahrungen etc. persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann, ist für diesen Schuldbegriff unerheblich.1096 Wenn man die strafrechtliche Schuld auf einen Mangel an Wertverbundenheit reduziert und die Frage der Willensfreiheit, das heißt die Frage, ob sich der/die TäterIn frei und bewusst für die Straftat entscheiden konnte, offenlässt, fehlt für eine Vergeltungsstrafe die Legitimation.1097

1093 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz, § 58, S. 86f; WIRTH 2011, S. 231f, 432f. 1094 Christian Broda, Der Weg zur Strafrechtsreform. Antwort an Justizminister Klecatsky, in: Die Zukunft 13 (1967), S. 11, zitiert nach WIRTH 2011, S. 234. 1095 LEWISCH 2007, S. 64; der sozial-ethnische Schuldbegriff steht in Widerspruch zu den aktuellen Erkenntnissen der Neurobiologie, die nicht von einer Willensfreiheit ausgehen (»Keiner kann anders sein, als er ist.«), Einwirkungen auf die Willensbildung, auch durch Strafe, aber für möglich halten; FUCHS/ZERBES 2018, S. 19; MARLIE 2008, S. 44f; TIPOLD, in: HÖPFL/RATZ § 4, RZ 13. 1096 BURGSTALLER 1997, S. 44f; LEWISCH 2007, S. 64f; STANGL 1985, S. 44–49; TIPOLD, in: HÖPFL/RATZ § 4, RZ 10; der entscheidende Kritikpunkt an dieser Auffassung ist, dass dem Täter/der Täterin ein Verhalten zum Vorwurf gemacht wird, für das er/sie möglicherweise nicht verantwortlich ist; TIPOLD, in: HÖPFL/RATZ § 4, RZ 11. 1097 BURGSTALLER 1997, S. 45; zum Strafzweck und dem charakterologischen Schuldbegriff ausführlich NOWAKOWSKI 1981.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

2.2.2. Kritik und Ministerialentwurf 1966 Der Ministerialentwurf 1964 wurde einem umfassenden Begutachtungsverfahren unterzogen. Die einlangenden Gutachten sprachen sich überwiegend und grundsätzlich gegen denselben aus. So lehnten nicht nur die ÖVP-Ministerien, Bünde und Teilorganisationen, sondern auch die katholische Kirche, der Oberste Gerichtshof, alle vier Oberlandesgerichte, die Staatsanwaltschaften, der größte Teil der Anwaltschaft, der Richterschaft und Teile der Universitätslehrer den Ministerialentwurf 1964 ab.1098 Die einlangenden Stellungnahmen zeigen recht deutlich, dass der Strafgesetzentwurf als Gefahr für die bestehende Moralordnung und für verschiedene wirtschaftliche Interessen betrachtet wurde.1099 So kritisierte beispielsweise die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft die Straftatbestände »Quälen und Vernachlässigen eines noch nicht Achtzehnjährigen oder Wehrlosen« und die »Überanstrengung eines noch nicht Achtzehnjährigen oder Schonungsbedürftigen«, weil diese die Dienstnehmer dazu verleiten würden, aufgetragene Arbeiten abzulehnen oder ihrem Dienstgeber gar mit einer Anzeige zu drohen.1100 Die Industriellenvereinigung sah in der geplanten Pönalisierung von Wirtschaftsverbrechen ein »Charakteristikum des Strafrechts totalitärer Regime«. Generell forderten die Wirtschaftsvertreter einen stärkeren Schutz des Privateigentums und höhere Strafen für Vermögensdelikte,1101 weil »die Leute« sonst »lax« werden und versuchen würden, anstatt durch Lohnarbeit durch Straftaten Vermögen zu erlangen.1102 Nach Auffassung seiner Kritiker zeige der Entwurf auch »eine besorgniserregende Einstellung zur Sittenordnung«1103 und stelle eine Gefahr für diese dar.1104 Besonders bemängelt wurde, dass der Strafgesetzentwurf die »gleichgeschlechtliche Unzucht«, die »Abtreibung« sowie die Ehestörung, deren Straflosigkeit der Entwurf vorsah, nicht »ernst genug« nehme. Allgemein erschien der Entwurf nicht »hart« genug. Ein großer Kritikpunkt war außerdem, dass der Strafgesetzentwurf 1964 kein Bekenntnis zur Schuld als Missbrauch der persönlichen Wahlfreiheit und der Strafe als Mittel der Vergeltung enthielt.1105 Diese 1098 STANGL 1985, S. 58, 76f. 1099 Explizit als »Klassenrecht« verstanden die Interessensvertretungen der Industrie und des Gewerbes das Strafrecht und befürchteten eine Verschiebung der politischen Gewichte im Klassenkampf; STANGL 1985, S. 64. 1100 STANGL 1985, S. 63. 1101 STANGL 1985, S. 64. 1102 Gutachten der Vereinigung Österreichischer Industrieller, zitiert nach STANGL 1985, S. 60f. 1103 Wörtlich das Gutachten der Voralberger Rechtsanwaltskammer, zitiert nach STANGL 1985, S. 58. 1104 STANGL 1985, S. 58f. 1105 NOWAKOWSKI 1972, S. 9f; STANGL 1985, S. 44, der die kritischen Gutachten ausführlich analysiert, S. 55–65, 73–76; WIRTH 2011, S. 234.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

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Position vertraten auch die Strafrechtsprofessoren Roland Grassberger und Wilhelm Malaniuk, die sich schon früh von dem Kommissionsentwurf bzw. den Arbeiten in der Kommission distanziert hatten, während Rittler die Entwürfe verteidigte und vergeblich zu einer sachlichen Debatte aufrief.1106 In dieser Phase waren die SPÖ und insbesondere Justizminister Broda politisch geschwächt.1107 Im beginnenden »Winterwahlkampf« war der »linke Schlächter« (Flugblatt aus Niederösterreich, Verfasser unbekannt), »Linksextreme und Kommunist« Broda (Kronen-Zeitung) ein bevorzugtes Angriffsziel der Medien, die diesen als eine kommunistische Bedrohung darstellten. Der SPÖ wurde vorgeworfen, mit dem Strafgesetzentwurf 1964 die Einführung einer »Volksdemokratie« anzustreben, in »kommunistischen Ohren« stelle der Entwurf »Musik« dar (Kronen-Zeitung).1108 Justizminister Broda war, unterstützt von Nowakowski, um eine politische Neutralisierung der Strafrechtsreform bemüht. Er reagierte defensiv und kam den KritikerInnen durch Verschärfungen des Strafgesetzentwurfs entgegen.1109 So waren im umgearbeiteten Strafgesetzentwurf des Jahres 1966 wieder verschiedene Arten der Gefängnisstrafe (Arrest, Gefängnis, Kerker) vorgesehen. Im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs trug der Ministerialentwurf 1966 (StGE 1966) den Kritiken Rechnung, indem er überhaupt nur noch eine strikte medizinische Indikation ohne Bedachtnahme auf die psychische Gesundheit und die wirtschaftliche Situation der Schwangeren statuierte. Der Anwendungsbereich der bedingten Strafnachsicht wurde eingeschränkt. An der Straffreiheit der Homosexualität unter Erwachsenen hielt der Ministerialentwurf 1966 aber fest.1110

2.3.

Der konservative Strafgesetzentwurf der ÖVP-Alleinregierung 1968

Der Legist der beiden Ministerialentwürfe Nowakowski kommentierte später, man könne der Meinung sein, dass der Entwurf 1966 in seiner Kompromissbereitschaft zu weit gegangen sei. »Er war eben als Regierungsvorlage einer Koalitionsregierung gedacht und mußte deshalb auf die Möglichkeit eines ein-

1106 BRODA 1968a, S. 33; Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Einleitung, S. 2; STANGL 1985, S. 55, 68, 71. 1107 Zum Beispiel durch die Habsburg-Krise und den Ohla-Konflikt; GRIEẞLER 2006, S. 24; STANGL 1985, S. 72. 1108 Zitiert nach STANGL 1985, S. 73–76; zur Kritik an dem Strafgesetzentwurf im »Winterwahlkampf« beispielsweise BRODA 1968a, S. 31, 33; NOWAKOWSKI 1972, S. 10; WIRTH 2011, S. 340f. 1109 STANGL 1985, S. 71–73; WIRTH 2011, S. 234f. 1110 GRIEẞLER 2006, S. 23f; WIRTH 2011, S. 234f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

stimmigen Beschlusses im Ministerrat angelegt werden.«1111 Zu einer Aussendung des Entwurfes kam es vor der Nationalratswahl im März 1966 freilich nicht mehr. Nach der Wahlniederlage der SPÖ bildete die ÖVP eine Alleinregierung. Der parteifreie Hans Klecatsky, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck,1112 übernahm das Justizministerium und den Strafgesetzentwurf des Jahres 1966, den er allerdings zu adaptieren gedachte. Dementsprechend nahm die ÖVP-Regierung eindeutige konservative Verschärfungen an dem Ministerialentwurf vor. Der ÖVP-Strafgesetzentwurf aus dem Jahr 1968 betonte den Vergeltungsgedanken und die individuelle sittliche Schuld des Täters/der Täterin stärker. Alle Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht waren, und damit insgesamt 67 zusätzliche Deliktstypen, waren nach dem Entwurf Verbrechen. Die »Abtreibung«, »Blutschande« und die Gotteslästerung fielen mit einer Strafandrohung von jeweils bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe noch nicht darunter. Diese Delikte wurden aber explizit zu Verbrechen erklärt. Der Entwurf stellte die Ehestörung und homosexuelle Handlungen auch unter Erwachsenen wieder unter Strafe. Die Strafandrohung für Ehebruch wurde sogar im Vergleich zum geltenden Strafgesetz aus dem Jahr 1852 verschärft. Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften genossen einen besonderen strafrechtlichen Ehrenschutz. Außerdem sanktionierte der Entwurf eine einfache Körperverletzung als schwere Körperverletzung, wenn sie an einem Seelsorger verübt wurde. Weitere Verschärfungen waren beispielsweise die Einschränkung des Anwendungsbereichs der bedingten Strafnachsicht und die Streichung des Vikariierens.1113 Der ehemalige Justizminister Broda dachte als Justizsprecher der SPÖ nicht daran, ein neues Strafrechtskonzept auszuarbeiten, weil mit den Strafgesetzentwürfen 1964 und 1966 ja schon »ein Konzept der Opposition« vorliege. Von der gemeinsamen Ausgangsbasis, dem Entwurf des Jahres 1966, entfernten sich aber beide Parteien. Während die ÖVP konservative Verschärfungen vornahm, kehrte die SPÖ zu dem progressiveren Ministerialentwurf 1964 und dem Kommissionsentwurf 1962 als Ausgangsbasis zurück. Ein modernes Strafrecht, so Broda, müsse eine klare Absage an das Vergeltungsprinzip beinhalten. Dem 1111 NOWAKOWSKI 1972, S. 10. 1112 Zur Person von Hans Klecatsky siehe Austria Forum. Biographien. Hans Klecatsky, auf: https://austria-forum.org/af/Biographien/Klecatsky%2C_Hans (abgerufen am 27.11. 2020). 1113 Mit der Konsequenz, dass nach einer Anhaltung im Rahmen einer vorbeugenden Maßnahme, die nach dem Entwurf zum Teil unbefristet lange angeordnet werden konnte, auch noch die Freiheitsstrafe verbüßt werden hätte müssen; NOWAKOWSKI 1972, S. 10; STANGL 1985, S. 78f; WIRTH 2011, S. 357; die Darstellung der Änderungen ist keineswegs taxativ, sondern soll nur die Grundstruktur des StGE 1968 verdeutlichen. Zu berücksichtigen ist auch, dass bereits im Entwurf 1966 »konservative« Änderungen vorgenommen worden waren.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

229

Strafgesetzentwurf 1968 warf Broda »Heuchelei«,1114 eine »unwahrhaftige moralisierende Tendenz«1115 und Ansätze zum Totalitarismus vor.1116 Motiviert durch die Strafrechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und eine Reihe von Wahlerfolgen der SPÖ bei den Landtags- und Regionalwahlen dachte er zudem offen darüber nach, ob ein modernes Strafrecht nicht noch über die Beschlüsse der Strafrechtskommission und die Strafgesetzentwürfe der Jahre 1964 und 1966 hinausgehende progressive Neuerungen beinhalten müsse.1117 Justizminister Klecatsky erzählte später, die SPÖ habe offenbar beschlossen, dass die Strafrechtsreform während der ÖVP-Alleinregierung keinesfalls abgeschlossen werden dürfe.1118 Allerdings erfuhr der unter Klecatsky ausgearbeitete Strafgesetzentwurf des Jahres 1968 auch in der ÖVP und ihrem Wählerklientel nur wenig Unterstützung. Die katholische Kirche war in die Erstellung des Entwurfs eingebunden gewesen, dennoch polemisierte die Katholische Presseagentur nach seiner Veröffentlichung gegen denselben.1119 Die Gruppen der Rechtspraktiker (Richter, Staatsanwälte und Anwälte) äußerten sich nicht zum Entwurf. Wolfgang Stangl geht davon aus, dass das Strafgesetz 1852 ihren ideologischen Vorstellungen überwiegend besser entsprach. Vor allem hatten die ÖVP und ihr Wählerklientel insgesamt eigentlich wenig Interesse an einer Strafrechtsreform, weil ihre Interessen durch das geltende StG 1852 gut geschützt waren. Die Reform des Strafrechts war von Beginn an eher ein Projekt der SPÖ gewesen.1120 Im Jahr 1968 brachte die Regierung den konservativen Strafgesetzentwurf als Regierungsvorlage in den Nationalrat ein. Im Justizausschuss fand eine Generaldebatte über die Regierungsvorlage statt, dann wurde sie nicht weiter behandelt.1121

2.4.

Das Strafgesetzbuch 1974

Die Nationalratswahl 1970 führte zu einer progressiven Wende in der Strafrechtsreform. Die SPÖ ging aus dieser Wahl als stärkste Partei hervor. Sie bildete mit Duldung der FPÖ eine Minderheitsregierung. Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Jahr 1971 erreichte die SPÖ eine absolute Mandatsmehrheit und bil1114 BRODA 1968a, S. 30. 1115 Christian Broda beim 19. Parteitag der SPÖ, 2.–4. Oktober 1968, zitiert nach WIRTH 2011, S. 359. 1116 Christian Broda, zitiert nach STANGL 1985, S. 72. 1117 BURGSTALLER 1997, S. 42; STANGL 1985, S. 81f; WIRTH 2011, S. 361–363. 1118 WIRTH 2011, S. 362. 1119 NOWAKOWSKI 1972, S. 10; STANGL 1985, S. 79–81, 84; WIRTH 2011, S. 360f. 1120 STANGL 1985, S. 79–81, 84. 1121 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 53; WIRTH 2011, S. 360f.

230

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

dete eine Alleinregierung, die nach den Nationalratswahlen von 1975 und 1979 fortgeführt werden konnte. Christian Broda gehörte allen vier Regierungen unter Bundeskanzler Bruno Kreisky als Justizminister an.1122 Bereits im Juni des Jahres 1970 legte die SPÖ-Regierung dem Nationalrat ein Strafrechtsänderungsgesetz1123 als Regierungsvorlage vor und zog damit einige wichtige Reformpunkte vor. Das Strafrechtsänderungsgesetz 1971 brachte eine Entkriminalisierung zahlreicher damals »sittlich« noch verpönter, aber für die Allgemeinheit unschädlicher Handlungen– wie beispielsweise der Homosexualität unter Erwachsenen und der Ehestörung. Der Ehebruch stand, wie von der ÖVP gefordert, weiterhin unter Strafandrohung, wurde aber nicht mehr verfolgt, wenn die Ehegatten zum Tatzeitpunkt bereits ein Jahr getrennt gelebt hatten. Außerdem verschob das Strafrechtsänderungsgesetz den Bereich des Verkehrsstrafrechts ins Verwaltungsstrafrecht und statuierte einige neue Straftatbestände wie zum Beispiel den Tatbestand der »Tierquälerei« sowie Bestimmungen zum Schutz von Kindern, von Jugendlichen und Unmündigen. In strafprozessualer Hinsicht stärkte es die Rechte des/der Beschuldigten.1124 Die ÖVP-Strafrechtspläne wurden nach dem Wahlsieg der SPÖ nicht weiterverfolgt. Vielmehr zog das Justizministerium den Ministerialentwurf 1964 als Grundlage für die weiteren Arbeiten heran. Die Regierungsvorlage des Jahres 1971 ging aber darüber und auch über den Kommissionsentwurf hinaus und berücksichtigte die Ergebnisse der in dieser Phase im deutschen Raum intensiv geführten kriminalpolitischen Diskussionen. Viele Neuerungen stammen aus dieser späten Reformperiode.1125 Der Nationalrat setzte dann einen eigenen Unterausschuss ein, dem Abgeordnete aller drei Parlamentsparteien angehörten. Dieser befasste sich detailliert »in ungemein intensiver Arbeit Punkt für Punkt«1126 mit allen Regelungen der Regierungsvorlage. In den meisten Fragen gelang es, Kompromisse zu finden. Der einzige Punkt, in dem man sich nicht einigen konnte, war die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Die Regierungsvorlage 1971 hatte noch eine erweiterte Indikationslösung als Kompromissangebot, das »keine Abstriche mehr verträgt«,1127 an die Opposition vorgesehen. Dieser Kompromiss war jedoch für 1122 GRIEẞLER 2006, S. 25; WIRTH 2011, S. 385–387. 1123 Bundesgesetz vom 8. Juli 1971, mit dem das Strafgesetz, die Strafprozeßordnung und das Gesetz über die bedingte Verurteilung geändert und ergänzt werden (Strafrechtsänderungsgesetz 1971), BGBl 1971/80. 1124 BURGSTALLER 1997, S. 42; NOWAKOWSKI 1972, S. 91–93; STANGL 1985, S. 91–93. 1125 BURGSTALLER 1997, S. 42f; WIRTH 2011, S. 418f. 1126 BURGSTALLER 1997, S. 43. 1127 Justizminister Christian Broda in einem Interview mit der Kleinen Zeitung, 18. 4. 1972, S. 4, zitiert nach KRIECHBAUMER 1981, S. 223 FN 3.

Die österreichische Strafrechtsreform in der »Zweiten Republik«

231

alle Parteien ein unbefriedigender. Für die ÖVP-nahe katholische Kirche stellte jede Form des Schwangerschaftsabbruches »Mord«1128 dar und die ÖVP lehnte die erweiterte Indikationslösung zunächst ab. Andererseits verlangten Teile der SPÖ, vor allem die SPÖ-Frauenorganisation, deutlich liberalere Bestimmungen, insbesondere die straffreie »Abtreibung« innerhalb bestimmter Fristen, teilweise wurde sogar die völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs gefordert.1129 Einem SPÖ-Parteitagsbeschluss folgend stellte die SPÖ einen Abänderungsantrag, der die Fristenregelung, das heißt die generelle Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches während der ersten drei Schwangerschaftsmonate, und danach eine eingeschränkte Indikationslösung vorsah.1130 Während die ÖVP der SPÖ nun »die Hand entgegenstreckte«1131 und wie auch die FPÖ zur Annahme von Brodas ursprünglichem Vorschlag bereit gewesen wäre, rückte die SPÖ nicht mehr von ihrem Parteitagsbeschluss ab–, obgleich dies wohl den zwei jahrzehntelang verfolgten einstimmigen Beschluss des Strafgesetzbuches ermöglicht hätte.1132 In der dritten Lesung des Nationalrats stimmten nur die SPÖ-Abgeordneten für die Annahme der Regierungsvorlage 1971 in der durch den Justizausschuss geänderten Fassung. Der Bundesrat erhob mit ÖVP-Mehrheit Einspruch gegen den Gesetzesbeschluss, woraufhin der Nationalrat am 29. Jänner 1974 erneut nur mit den Stimmen der SPÖ-Abgeordneten einen Beharrungsbeschluss fasste. Am 1. Jänner des Jahres 1975 trat das »Bundesgesetz über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB)« schließlich in Kraft. Damit endete die Strafrechtsreform, mit der über 150 Jahre zuvor begonnen worden war.1133 Das Strafgesetzbuch 1974 baute auf dem Kommissionsentwurf 1962 und dem Ministerialentwurf 1964 auf. Das Strafrecht sollte sich auf den Schutz der Allgemeinheit und des Einzelnen beschränken und nur Verhaltensweisen unter Strafandrohungen stellen, »die das Zusammenleben in der Gesellschaft schwer beeinträchtigen und die deshalb jedermann als strafwürdig erkennen kann.«1134 Diesem Grundsatz folgend sind im Strafgesetzbuch 1974 die schon durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1971 straffrei gestellten homosexuellen Handlung unter Erwachsenen ebenso wenig mit Strafe bedroht wie die Ehestörung.1135 1128 So die Österreichische Bischofskonferenz; KRIECHBAUMER 1981, S. 229. 1129 GRIEẞLER 2006, S. 62; KRIECHBAUMER 1981. 1130 GRIEẞLER 2006, S. 25–27; MESNER 1994, S. 195f; dazu ausführlich WIRTH 2011, S. 421– 429. 1131 So Walter Hauser, Justizsprecher der ÖVP, StenProtNR 13.GP, 84. Sitzung v. 27. 11. 1973, S. 7974. 1132 KRIECHBAUMER 1981, S. 236, 241; WIRTH 2011, S. 358, 423, 427–429. 1133 BURGSTALLER 1997, S. 43f. 1134 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 56. 1135 BURGSTALLER 1997, S. 44; ErläutRV 39 BlgNR 12. GP, S. 8; ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 56; TSCHADEK 1968, S. 61.

232

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Neukriminalisierungen erfolgten etwa im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts, des Terrorismusstrafrechts sowie, infolge eines politischen Kompromisses, auch im »Sittlichkeitsbereich«.1136 Wesentliche Neuerungen im Vergleich zu dem Ministerialentwurf 1964 waren die Neugestaltung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem und die Reduktion kurzer Freiheitsstrafen (bis zu sechs Monaten). Außerdem erfolgten zahlreiche Änderungen im Besonderen Teil. Die Grundstruktur des oben beschriebenen Kommissionsentwurfs 1962 und des Ministerialentwurfs 1964 blieb freilich unverändert.1137 Die Frage nach der Willensfreiheit und der Eigenverantwortung des Menschen für seine Verfehlungen lässt das Strafgesetzbuch offen. Dies ist möglich, weil das Strafgesetzbuch nicht die Intention hat, Unecht zu vergelten und Gerechtigkeit zu verwirklichen,1138 sondern nur die General- und Spezialprävention als seine Zwecke betrachtet.1139 Diese Zielsetzungen waren und sind in einem umfassenden Sinn zu verstehen: Spezialprävention bedeutet keineswegs nur das Bemühen um Resozialisierung, sondern inkludiert auch Individualabschreckung und Sicherung. Generalprävention bedeutet nicht nur Abschreckung der Allgemeinheit, sondern sogar vorrangig Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung durch langfristige Einstellungs- und Bewusstseinsbildung.1140 Sämtliche im zweiten Abschnitt dieses Kapitels beschriebenen Regelungen des Ministerialentwurfs 19641141 waren auch im Strafgesetzbuch 1974 vorgesehen.1142 Auch die Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf 1964 wurden größtenteils wörtlich in die amtlichen Erläuterungen zur Regierungsvorlage 1971 übernommen.1143

1136 Die ÖVP hatte der Entkriminalisierung der Homosexualität unter Erwachsenen durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1971 nur gegen »flankierende Maßnahmen« zugestimmt, nämlich die Straftatbestände »Gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Unzucht«, »Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes oder mit Tieren« sowie »Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht«; STANGL 1985, S. 91. 1137 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 54f; BURGSTALLER 1997, S. 42f; STANGL 1985, S. 100. 1138 BURGSTALLER 1997, S. 44f; dazu ausführlich NOWAKOWSKI 1981: » Dann muß man sich aber fragen: Was autorisiert uns, unserem Nächsten Leiden aufzuerlegen im Namen Gerechtigkeit und nur um der Gerechtigkeit willen, wenn wir doch wissen, daß wir ihm kaum jemals gerecht werden können?«, S. 65. 1139 BURGSTALLER 1997, S. 45–47. 1140 BURGSTALLER 1997, S. 45f; Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 13. 1141 Siehe Kapitel VI.2.2.1. 1142 Nur die Strafandrohungen für Massendelikte waren im StGB 1974 zum Teil höher; STANGL 1985, S. 43. 1143 Vgl. die Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.) mit den ErläutRV 30 BlgNR 13. GP.

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

3.

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

3.1.

Die Verjährungsvorschriften des Kommissionsentwurfs 1962

233

Ferdinand Kadecˇka, der Vorsitzende der Strafrechtskommission, verkörperte die von Broda gerühmte personelle und inhaltliche Kontinuität zu den Reformarbeiten der Zwischenkriegszeit. Diese Kontinuität zeigt sich deutlich im Verjährungsrecht. Wie für alle anderen Paragraphen arbeitete Kadecˇka, dem damit maßgeblicher Anteil an dem Strafgesetzentwurf zukam, die Diskussionsgrundlage aus. Bei den Verjährungsvorschriften orientierte er sich offensichtlich an den entsprechenden und ihm vertrauten Bestimmungen der gemeinsamen deutschösterreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit und insbesondere an dem von ihm mitverfassten Entwurf Radbruch.1144 Deren Regelungen wurden zum Teil wörtlich in den Kommissionsentwurf übernommen. Die Verjährungsregelungen der gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfe bauten ihrerseits auf dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch (1871) und rein deutschen Vorgängerentwürfen auf. Bei den Arbeiten an der Strafrechtsvereinheitlichung kamen von österreichischer Seite im Bereich des Verjährungsrechts kaum Impulse.1145 Insofern könnte man von einer »Germanisierung« des österreichischen Verjährungsrechts sprechen. Jedenfalls glich die Strafrechtskommission mit dem Kommissionsentwurf 1962 das österreichische Verjährungsrecht dem deutschen an. Dies lässt sich an folgenden Punkten feststellen: Im Kommissionsentwurf des Jahres 1962 sind beide Verjährungsarten, das heißt sowohl die Verfolgungs- als auch die Vollstreckbarkeitsverjährung, vorgesehen. Die Verjährungsfrist für beide Verjährungsarten beträgt wie im Entwurf Radbruch maximal zwanzig Jahre. Unverjährbare Straftaten sind im Kommissionsentwurf des Jahres 1962 ebenso wenig wie im Ministerialentwurf 1964 statuiert. Ein diesbezügliches Minderheitsvotum, für das die Stimmen von vier Kommissionsmitgliedern erforderlich gewesen wären, gab es dazu nicht.1146 Außerdem ist der Eintritt der Verjährung im Kommissionsentwurf nur vom Zeitablauf abhängig, und es sind keine zusätzlichen Bedingungen für den Verjährungseintritt vorgesehen. Wohl bedingt durch die intensive Diskussion, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann und

1144 Vgl. dazu §§ 78–84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f. 1145 Siehe dazu ausführlich Kapitel II. 1146 § 69 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53f.

234

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

während der gesamten Zwischenkriegszeit fortgeführt wurde,1147 sieht der Kommissionsentwurf überhaupt keine Unterbrechung und damit keine (unbegrenzte) Möglichkeit zur Fristverdoppelung durch gerichtliche Verfolgungsakte vor, sondern nur noch ein Ruhen der Verjährung, wobei die Ruhenstatbestände des Kommissionsentwurfs größtenteils den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit entnommen sind.1148 Die Regelung des Verjährungsbeginns im Kommissionsentwurf des Jahres 1962 ist für beide Verjährungsarten wortident mit den entsprechenden Regelungen der gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit. Für die Verfolgungsverjährung lautet sie: »Die Verjährungsfrist beginnt, sobald die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährungsfrist erst mit diesem Zeitpunkt.«1149 Bei Erfolgsdelikten beginnt danach die Verjährungsfrist erst mit dem Eintritt des Erfolgs zu laufen. Die Vollstreckbarkeitsverjährung beginnt dagegen mit der Rechtskraft des Urteils.1150 Aus den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit übernahm der Kommissionsentwurf auch die Verpflichtung der Gerichte, vor dem Beginn des Vollzuges von freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen die Notwendigkeit der vorbeugenden Maßnahme erneut zu prüfen, wenn seit ihrer Verhängung drei Jahre verstrichen waren. Verneint das Gericht die Notwendigkeit des Maßnahmenvollzuges, hat dieser auch vor dem Ablauf der Vollstreckbarkeitsverjährungsfrist zu unterbleiben.1151 Eine Sonderbestimmung für Straftaten

1147 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.–V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II. 1148 § 69 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53f, siehe dazu Kapitel II.4.–II.7. und Kapitel II.9. 1149 § 66 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 52; § 79 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154; § 80 RV 49 NR 3. Session, S. 9. 1150 § 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53; § 82 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154; § 83 RV 49 NR 3. Session, S. 10. 1151 § 70 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 54; § 50 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 6, abgedruckt in: SCHUBERT/ REGGE 1995, S. 150; § 63 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 8, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 444; der Kommissionsentwurf unterstellte die verhängten Maßnahmen der Besserung und Sicherung freilich nur dann der Verjährung, wenn sie mit einer Freiheitsstrafe verbunden waren, dazu sogleich in Abschnitt 2.3.

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

235

Jugendlicher ist wie in den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen1152 sowie dem Reichsstrafgesetzbuch1153 und im Gegensatz zum österreichischen Strafgesetz (§ 232 StG 1852) nicht vorgesehen.1154 Schließlich entspricht auch die veränderte Stellung der Verjährungsregelungen im Gesetzestext der Systematik des deutschen Reichsstrafgesetzbuches und der Gesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit, nicht des österreichischen Strafgesetzes, denn die Verjährung ist im Kommissionsentwurf am Ende des Allgemeinen Teils1155 anstatt wie im Strafgesetz 1852 im Anschluss an den Besonderen Teil geregelt. Die tatsächlich höchst veralteten Verjährungsregelungen des österreichischen Strafgesetzes und auch der österreichischen Strafgesetzentwürfe der Monarchie scheinen die Regelungen des Kommissionsentwurfs weniger und jedenfalls nicht ohne Modifikationen beeinflusst zu haben. In abgeschwächter und dem Zweck der Spezialprävention wohl zweckdienlicheren Form baut der Kommissionsentwurf nur auf der Bedingung auf, dass der/die TäterIn innerhalb der Verjährungsfrist keine strafbare Handlung (§ 531 Abs. 2 lit c)1156 oder zumindest kein Verbrechen (§ 229 lit d StG)1157 begangen hat. So normiert der Kommissionsentwurf für die Verfolgungsverjährung: »Begeht der Täter während der Verjährungsfrist neuerlich eine mit Strafe bedrohte Handlung, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, so tritt die Verjährung nicht ein, bevor auch für diese Tat die Verjährungsfrist abgelaufen ist.«1158 Diese Regelung war umstritten. Bei der zweiten Lesung des Kommissionsentwurfes beschlossen die ÖVP-Abgeordneten Theodor-Pfiffl und Franz Hetzenauer gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien Wilhelm Malaniuk1159 und dem Strafrechtsprofessor Max Horrow sowie dem Rechtsanwalt Hans Gürtler ein Minderheitsvotum. Diesem zufolge sollte die Verjährung für die erste Tat gänzlich ausgeschlossen sein, wenn der/die TäterIn in der Verjährungszeit »eine neue mit Kerker bedrohte oder auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende Handlung begeht«.1160 Die Minderheitsvoten wurden nicht begründet, sodass nicht nachvollziehbar ist, warum 1152 § 79–85 RV 49 NR 3. Session, S. 9f; § 78–84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f. 1153 § 66–72 dRStGB 1871. 1154 § 65–70 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51–54. 1155 § 65–70 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51–54. 1156 Wenn die in Frage stehende erste Tat ein Vergehen oder eine Übertretung war. 1157 Wenn die in Frage stehende erste Tat ein Verbrechen war. 1158 § 67 Abs. 1 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 52. 1159 Zur Person Malaniuks siehe FN 630. 1160 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51.

236

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

die Genannten dem/der TäterIn bei einer erneuten Straffälligkeit überhaupt keine Möglichkeit geben wollten, für die erste Tat Straffreiheit zu erlangen.1161 Die Vollstreckbarkeitsverjährungfrist verlängerte sich durch eine erneute Straffälligkeit des Täters/der Täterin nicht. Der Grund für diese Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich. Ein diesbezügliches Minderheitsvotum wurde aber nicht abgegeben.1162 Im Einklang mit dem damals geltenden österreichischen Strafgesetz 1852, allen österreichischen Strafgesetzentwürfen der letzten 150 Jahre sowie auch den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit steht die Einordnung der Verjährung als Strafaufhebungsgrund, nicht als bloßes Prozesshindernis.1163 Nach dem Kommissionsentwurf 1962 »erlischt« die Strafbarkeit einer Tat durch die Verjährung.1164 Der materiell-rechtliche Strafanspruch des Staates geht dadurch unter.

3.2.

Der Rechtsgrund der Verjährung

Der Ministerialentwurf des Jahres 1964 übernahm überwiegend die Verjährungsregelungen des Kommissionsentwurfs 1962. Die Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf erklären diese detailliert und begründen das Rechtsinstitut der Verjährung zunächst allgemein. In dieser Verjährungsbegründung zeigen sich die Differenzen der Kommissionsmitglieder über den Zweck der Strafe.1165 So führen die Erläuternden Bemerkungen aus, dass das Strafbedürfnis längere Zeit nach der Tat entfällt. Die Verjährung wird traditioneller Weise primär damit begründet, dass die Strafe als Übel dann nicht verhängt werden soll, wenn »kein Bedürfnis nach Strafe oder Sicherung« mehr besteht. Dieses Bedürfnis richte sich einerseits danach, wie sehr durch die Tat das 1161 Anhand dieses Votums zeigt sich auch die zunehmende »Blockbildung«. Gemeinsam mit Hetzenauer und Pfiffl bildeten Malaniuk und Gürtler den Kern des »konservativen Blocks«, der eine ganze Reihe von Minderheitsvoten beschloss, so etwa die Beibehaltung von verschiedenen Kategorien von Freiheitsstrafen (Kerker, Gefängnis, Arrest) sowie zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs und der Homosexualität, aber auch zu weniger umstrittenen Strafbestimmungen. Zum Teil schlossen sich diesen auch andere Kommissionsmitglieder an, vgl. dazu die Minderheitsvoten zu den einzelnen Bestimmungen des Entwurfs eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs. 1162 § 68f Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53f. 1163 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III., IV., V. und in dieser Monographie, Kapitel II. 1164 § 65, § 68 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51, 53. 1165 Dazu NOWAKOWSKI 1967, S. 15f; STANGL 1985, S. 54; WIRTH 2011, S. 226.

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Bewusstsein der Rechtssicherheit erschüttert worden sei, andererseits nach der Rückfallwahrscheinlichkeit.1166 Außerdem erklären die Erläuternden Bemerkungen, dass durch ein allzu weites zeitliches Auseinanderfallen von Straftat und Verfolgung oder von Strafurteil und Vollstreckung für den/die TäterIn wie für die Allgemeinheit der erlebnismäßige Zusammenhang zwischen dem sozial-unwerthaften Verhalten und der strafrechtlichen Reaktion darauf verloren gehe. Grundsätzlich erscheine es verfehlt, jemanden, der zwar eine strafbare Handlung begangen, sich jedoch dann lange Zeit hindurch wohl verhalten habe, noch einer Strafe zu unterwerfen. Eine späte Bestrafung brächte in vielen Fällen lediglich schwere Nachteile für den/die Betroffene/n, aber auch für seine/ihre Angehörigen und nicht zuletzt für die Allgemeinheit.1167 Einerseits sollte nach dieser Begründung also die Bestrafung eines nicht mehr gefährlichen und insoweit gebesserten Rechtsbrechers vermieden werden. Andererseits können unter den Begriff »Bedürfnis nach Strafe oder Sicherung« neben der Spezialprävention vor allem das Bedürfnis der Rechtsgemeinschaft nach Vergeltung und nach Generalprävention subsumiert werden. Diese Begründung der Verjährung erscheint für die AnhängerInnen der Präventionstheorien und der relativen Vergeltungstheorie annehmbar gewesen zu sein. Nur wenn man Vergeltung nicht relativ, sondern absolut versteht, die Strafe also nicht zur Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen der Rechtsgemeinschaft oder des Opfers, sondern um ihrer selbst willen, weil eine Straftat begangen wurde, verhängen möchte, kommt diese Verjährungsbegründung nicht in Betracht. Von VertreterInnen absoluter Vergeltungstheorien wurde die Verjährung in der Vergangenheit häufig mit den durch die »Länge der verstrichenen Zeit bewirkten Schwierigkeiten des Beweises« begründet.1168 Unter diesem Gesichtspunkt allein wäre die Verjährung der urteilsmäßig verhängten Strafe aber ebenso wenig erklärbar wie die bloß nach der Schwere des Delikts und nicht nach der Art des Beweises abgestuften Verjährungsfristen. Dementsprechend wurde diesem Argument in den Erläuternden Bemerkungen bloß sekundäre Bedeutung zugestanden.1169

1166 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97. 1167 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97. 1168 So beispielsweise von Karl BINDING 1991, S. 822–826 als prominentesten Vertreter dieser Straf-, und Verjährungsbegründung; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.3. 1169 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 68, S. 97.

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Die Verjährungsbegründungen aller Strafrechtswissenschaftler, die der Strafrechtskommission angehörten, waren in diesen Ausführungen der Erläuternden Bemerkungen enthalten und wurden damit anerkannt.1170 Wie Nowakowski richtig feststellte, betonten und gewichteten die verschiedenen Autoren die einzelnen für die Verjährung sprechenden Argumente unterschiedlich:1171 So erachtete der Strafrechtsprofessor Max Horrow, der alle Strafzwecke anerkannte,1172 als wichtigstes Argument für die Verjährung die Abnahme des Vergeltungsbedürfnisses, daneben fand er auch die Begründung mit der Besserung des Täters/der Täterin (sog. Laudativwirkung) und den zunehmenden Beweisschwierigkeiten überzeugend.1173 Rittler, der ebenfalls einer Vereinigungstheorie zu folgen schien,1174 erklärte die Verjährung damit, dass »das Übel, das der Verbrecher verursacht hat, mit der Zeit verschmerzt wird und aus dem Gedächtnis der Menschen schwindet und daß daher schon aus diesem Grund das Strafbedürfnis entfällt.« Dazu käme noch der Beweismittelschwund und die »Trüglichkeit« der Beweismittel lange Zeit nach der Tat.1175 Ähnlich begründete auch Roland Graßberger,1176 der die relative Vergeltung als wichtigsten Strafzweck erachtete,1177 die Verjährung mit der Abnahme des strafrechtlichen Reaktionsbedürfnisses und der Besserung des Täters/der Täterin. Nach der Auffassung von Wilhelm Malaniuk, der sich schon früh von den Kommissionsarbeiten distanzierte, sollte die Strafe zumindest auch Sühne darstellen und die Verjährung auf dem Grundgedanken beruhen, »daß sich durch Zeitablauf das Vergeltungsbedürfnis verringert und es schließlich erlischt.«1178 Diese Stellungnahmen zur Verjährung zeigen, wie stark der Vergeltungsgedanke in der österreichischen Strafrechtswissenschaft noch verankert war. Von den in der Kommission vertretenen Strafrechtswissenschaftlern lehnten diesen nur Nowakowski und Kadecˇka ab, damit aber diejenigen Kommissionsmitglieder, die den größten Einfluss auf den Inhalt des Strafgesetzbuches hatten. Von Kadecˇka gibt es, soweit erkennbar, keine Äußerungen zum Rechtsgrund der Verjährung. Angesichts seiner Ablehnung des Vergeltungsgedankens ist aber davon auszugehen, dass Kadecˇka, der als Strafzweck primär die Spezialprävention betrachtete,1179 bei der Ausgestaltung des Verjährungsrechts auf ein even1170 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93, 97. 1171 NOWAKOWSKI 1965, S. 9. 1172 HORROW 1952, S. 5f, 98, 189. 1173 HORROW 1952, S. 265, 271. 1174 RITTLER 1954, S. 14–16. 1175 RITTLER 1954, S. 373f. 1176 Zur Person Graßbergers siehe FN 764. 1177 Zum Strafzweckmodell Graßbergers siehe ausführlich STANGL 1985, S. 68–71. 1178 MALANIUK 1947, S. 361; STANGL 1985, S. 55. 1179 GOLTSCHE 2010, S. 97; SCHUBERT 1995, S. XXVI, XXVIII.

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tuelles Vergeltungsbedürfnis des/der Verletzten oder der Rechtsgemeinschaft keine Rücksicht nahm. Nowakowski erläuterte dagegen alle rechtspolitischen Erwägungen, auf denen die Verjährung beruhte, in zwei Gutachten für das Justizministerium.1180 Eine derart umfassende und detaillierte Verjährungsbegründung erfolgte für das österreichische Recht seither nicht. Sie soll daher wiedergegeben werden. In materiellrechtlicher Sicht beruht die Verjährung danach auf dem abnehmenden Reaktionsbedürfnis der Allgemeinheit und des/der Verletzten. Der Geltungsanspruch der Rechtsordnung werde durch lange zurückliegende Taten sozialpsychologisch nicht mehr in Frage gestellt, sodass er nicht mehr durch Strafe bekräftigt werden müsse. Es bedürfe dann generalpräventiv keiner Strafe mehr.1181 Ein Strafverfahren wegen lange zurückliegender Taten rufe lediglich verblasste Erinnerungen wieder ins allgemeine Rechtsbewusstsein. Es bestünde aber kein öffentliches Interesse daran, »unaufgeklärte Bluttaten« im kollektiven Gedächtnis zu erhalten. Dies gelte insbesondere, wenn das Verfahren letztendlich mit einem Freispruch ende.1182 Dieses Risiko sei durch den zeitbedingten Beweismitteluntergang besonders groß. So mache das Verstreichen der Zeit– trotz schwerwiegender Verdachtsmomente– die Erbringung eines für eine Verurteilung ausreichenden Schuldbeweises häufig unmöglich. Wenn aber beispielsweise ein Verfahren wegen eines lange zurückliegenden Mordes mit einem Freispruch ende, werde das Gefühl der Rechtssicherheit erschüttert und nicht bekräftigt.1183 Die Tat werde ins allgemeine Bewusstsein zurückgerufen, sie bleibe jedoch ungesühnt.1184 Andererseits könne dem/der Beschuldigten Jahre nach der Tat die Erbringung eines Entlastungsbeweises, etwa der Nachweis eines Alibis, deutlich erschwert sein.1185 Wer durch spät auftretende Beweise belastet werde, sei möglicherweise als Folge des Zeitablaufs außerstande, Entlastungsbeweise zu erbringen. Oft werde er/sie sich an die wesentlichen Umstände gar nicht mehr erinnern und überdies würden Quellen fehlen, aus denen er/sie seine/ihre Erinnerungen er1180 NOWAKOWSKI 1965a; NOWAKOWSKI 1965b. 1181 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 2. 1182 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8. 1183 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8; Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 2f. 1184 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3. 1185 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3, 5; Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8f.

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gänzen könne. Beweismittel können untergehen und insbesondere Zeugen »der Verschiebung ihrer Erinnerung zum Opfer fallen«, was sie dann aber möglicherweise nicht unsicher erscheinen, sondern vielmehr besonders sicher aussagen ließe. Dem/Der Beschuldigten stünden dann möglicherweise keine Hilfsmittel mehr zur Verfügung, um seine/ihre Unschuld zu beweisen. Je weniger der/ die Verdächtige in Wahrheit mit der Tat zu tun habe, umso schwerer werde es für ihn/sie, sich zu verantworten.1186 Dabei verwies Nowakowski insbesondere auf Karl Binding, der erklärt hatte, dass der Grundsatz in dubio pro reo bei einem Untergang der Entlastungsbeweise nicht schütze.1187 Nowakowski fügte hinzu, dass die Gefahr des Untergangs und der Verzerrung von Beweismitteln mit der Zeit immer größer werde und bei schweren Straftaten, für die eine längere Verjährungsfrist geplant war, am schwersten ins Gewicht falle, weil angenommen wurde, dass bei ihnen das strafrechtliche Reaktionsbedürfnis später erlösche.1188 Dem/Der TäterIn gegenüber sei eine Bestrafung lange Zeit nach der Tat ebenfalls nicht mehr angemessen. Denn diese/r habe sich seit der Begehung der Tat verändert. Er/Sie sei nicht mehr der gleiche Mensch wie früher. Mit den Jahren werde ihm/ihr seine/ihre eigene Tat fremd geworden sein. Seine/Ihre Bestrafung könne dann weder das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl befriedigen, noch spezialpräventiven Bedürfnissen dienen.1189 Gegenüber einem eventuell noch bestehenden Reaktionsbedürfnis würden die Nachteile der Bestrafung überwiegen. Der/Die seinerzeit straffällig Gewordene werde aus seiner/ihrer sozialen Stellung gerissen, seine/ihre Leistungsfähigkeit werde herabgesetzt oder vernichtet. Er/Sie und sein/ihr persönliches Umfeld würden zu einem sozialen Störungs- und Krisenherd gemacht, ohne dass dies durch ein entsprechendes Strafbedürfnis gerechtfertigt wäre.1190 Nach diesen Gesichtspunkten waren nach Nowakowski die Verjährungsregelungen zu gestalten.1191 Seine Begründung der Verjährung umfasste wie auch die von ihm verfassten Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf 1964 alle wichtigen für die Verjährung sprechenden Argumente: die fehlende spe1186 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8f, Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3, 5. 1187 BINDING 1991, S. 822–826; dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.3. 1188 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3, Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 9. 1189 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8, Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 2. 1190 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 8. 1191 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 9f.

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zialpräventive Notwendigkeit, einen für die Gesellschaft ungefährlichen Menschen zu bestrafen, die abnehmende generalpräventive Strafnotwendigkeit, das abnehmende Reaktions- und Sühnebedürfnis der Gesellschaft sowie den Untergang und die Verfälschung von Beweismittel. Besonders betonte Nowakowski dabei die Nachteile einer späten Bestrafung für den/die TäterIn, das Opfer, den Staat und die Allgemeinheit.1192 Die multifaktorielle Verjährungsbegründung der Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf und der Gutachten Nowakowskis hatte zweifelsfrei den Vorteil, für die AnhängerInnen aller Strafzwecktheorien annehmbar gewesen zu sein. Offen lässt sie aber, nach welchen Kriterien Wertungswidersprüche von den Gesetzesverfassern entschieden wurden oder in Zukunft von dem/der RechtsanwenderIn entschieden werden sollten, wenn die für die Verjährung sprechenden Komponenten unterschiedliche Regelungen verlangen. Dieser Frage muss anhand der einzelnen Verjährungsregelungen im Ministerialentwurf 1964 und ihrer jeweiligen Begründung nachgegangen werden.1193

3.3.

Die Verjährungsregelungen des Ministerialentwurfs 1964 und deren Begründung

Die Verjährungsregelungen des Kommissionsentwurfs wurden größtenteils in den Ministerialentwurf 1964 übernommen und in den überwiegend von Nowakowski verfassten und vom Justizministerium herausgegebenen Erläuternden Bemerkungen detailliert erklärt.1194 Nach dem StGE 1962 und dem StGE 1964 erlischt die Strafbarkeit einer Tat durch Verjährung.1195 Vor der Feststellung der Tat und der Schuld bzw. Gefährlichkeit des Täters/der Täterin steht nicht fest, ob eine Strafe oder Sicherungsmaßnahme zu verhängen ist. Die Verjährung verbietet aber bereits diese Fest1192 Friedrich Nowakowski, Gutachten: Zur Verlängerung der Verjährungsfrist für Bluttaten aus der NS-Zeit v. 4. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.3, fol. 9. 1193 Sowohl die Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf 1964 als auch dessen Verjährungsregelungen wurden größtenteils unverändert in die Regierungsvorlage 1971 übernommen, mit der ein Strafgesetzentwurf, der auf dem StGE 1964 aufbaute, in den Nationalrat eingebracht wurde. Der Strafgesetzentwurf 1971 wurde im Bereich des Verjährungsrechts mit nur wenigen Änderungen als Strafgesetzbuch 1974 beschlossen. Eine Analyse der Verjährungsregelungen des StGE 1964 ist daher überwiegend eine Analyse der Verjährungsregelungen des 1974 beschlossenen Strafgesetzbuches. Die noch erfolgten Änderungen werden im Anschluss behandelt. 1194 NOWAKOWSKI 1967, S. 16; STANGL 1985, S. 54. 1195 § 65 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51; § 65 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV.

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stellungen. Insofern versteht es sich von selbst, dass der Verfolgungsverjährung nicht nur die Befugnis zur Verhängung von Strafen, sondern auch zur Verhängung von Maßnahmen der Besserung und Sicherung unterliegt. Die verhängten Maßnahmen der Besserung und Sicherung hätte die Strafrechtskommission nach dem Wortlaut des StGE 1962 nur dann der Vollstreckbarkeitsverjährung unterstellt, wenn sie neben einer Strafe angeordnet worden wären. Die Verfasser des Ministerialentwurfs sahen dagegen keinen Grund für diese möglichweise unbeabsichtigte Einschränkung und unterstellten auch alle verhängten vorbeugenden Maßnahmen der Vollstreckbarkeitsverjährung.1196 Explizit begründet wird die Verjährbarkeit der vorbeugenden Maßnahmen in den Erläuternden Bemerkungen nicht. Die für die Verjährung angeführten Argumente gelten jedoch teilweise auch für sie. Die vorbeugenden Maßnahmen dienen allein der Sicherung der Gesellschaft und der Besserung des Täters/der Täterin, ohne einen Tadel darzustellen. Sie haben also rein spezialpräventive Zielsetzungen. Wenn sich der/die TäterIn innerhalb der jeweiligen Verjährungsfrist nichts mehr zu Schulden kommen lässt, kann davon ausgegangen werden, dass er/sie nicht mehr gefährlich ist und keine Sicherungsmaßnahmen mehr erforderlich sind. a. Verfolgungsverjährung Wie sehr das »Bedürfnis nach Rechtssicherheit« durch die Tat erschüttert wird, ist nach den Erläuternden Bemerkungen von der Schwere der Tat abhängig. Als Indikator wird bei der Verfolgungsverjährung auf die abstrakte Strafandrohung für die in Frage kommende Tat Bezug genommen. Die Schwere der konkreten Tat kann bei der Verfolgungsverjährung nicht berücksichtigt werden, weil deren Eintritt die Strafverfolgung und damit auch eine nähere Prüfung der Tat bzw. einen Schuldspruch und die Strafzumessung ausschließt.1197 Im Vergleich zu dem geltenden Strafgesetz 18521198 verlängerten Kommissionsentwurf und Ministerialentwurf die Verjährungsfristen. Diese betrugen zwanzig, zehn, fünf, drei Jahre und ein Jahr.1199 Die geringfügige Verlängerung begründen die Erläuternden Bemerkungen damit, dass das neue Strafgesetzbuch 1196 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 98. 1197 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen, § 65, S. 94; STROHANZL 1974, S. 137. 1198 Dessen Fristen lagen zwischen zwanzig Jahren und sechs Monaten (§§ 228, 532 StG 1852), sie werden in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III. und IV. detailliert dargestellt. 1199 § 65 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 51; § 65 Abs. 2 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV.

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nur noch für Handlungen gelten werde, deren Unrechtsgehalt zumindest ihre Qualifikation als Vergehen rechtfertigt, bloße Übertretungen also nicht mehr umfassen werde.1200 Außerdem wurden mit dem Kommissionsentwurf und dem StGE 1964 nicht nur die Verjährungsfristen verlängert, sondern in der Regel auch die Strafandrohungen gesenkt, sodass sich die konkreten Verjährungsfristen für die einzelnen Delikte kaum änderten, weil die längeren Verjährungsfristen an kürzere Strafandrohungen anknüpften. Der Entfall der Bedingungen des Strafgesetzes 18521201 für den Verjährungseintritt erleichterte es dem/der TäterIn ebenfalls erheblich, in den »Genuss« der Verjährung zu kommen.1202 Diese wurden als unnötig erachtet, denn so die Erläuternden Bemerkungen, aus der Tatsache, dass der/die TäterIn keinen Nutzen aus der Tat mehr in den Hände halte und den Schaden aus derselben wiedergutgemacht habe, ließen sich keine Rückschlüsse auf das strafrechtliche Reaktionsbedürfnis der Allgemeinheit ziehen. Zur Befriedigung von Genugtuungsbedürfnissen der Geschädigten stehe diesen der Zivilrechtsweg zur Verfügung.1203 Die Wiedergutmachung des Schadens, aber auch der Versuch des Täters/der Täterin, diesen wiedergutzumachen, stellen allerdings Strafmilderungsgründe dar.1204 Außerdem stellt es einen Strafmilderungsgrund dar, »wenn die Tat schon vor längerer Zeit [erg. aber vor Ablauf der Verjährungsfrist] begangen worden ist und der Täter sich seither wohl verhalten hat.«1205 Der Verjährungsausschluss bei einer Flucht des Täters/der Täterin ins Ausland wurde nicht übernommen, weil auch im Fall einer solchen Flucht die Möglichkeit bestehe, ein Strafverfahren »wegen der Tat gegen den Täter bei Gericht anhängig zu machen« und dadurch den Eintritt der Verjährung abzuwehren. Dazu käme die im Vergleich zur Entstehungszeit der Regelungen des geltenden Rechts im Jahr 1803 viel intensivere zwischenstaatliche Zusammen-

1200 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 65, S. 94. 1201 »Die Verjährung kommt aber nur demjenigen zu Statten, der a) von dem Verbrechen keinen Nutzen mehr in Händen; b) auch, in so weit es die Natur des Verbrechens zugibt, nach seinen Kräften Wiedererstattung geleistet; c) sich nicht aus diesen Staaten geflüchtet, und d) in der zur Verjährung bestimmten Zeit kein Verbrechen mehr begangen hat.« (§ 229 StG 1852). 1202 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4f. 1203 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70, S. 93f. 1204 § 40 Z 12 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. X. 1205 § 40 Z 16 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. X.

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arbeit auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung, die es dem/der TäterIn erschwere, sich der Strafverfolgung durch Flucht ins Ausland zu entziehen.1206 Nur die Verlängerung der Verjährungsfrist, wenn der/die TäterIn innerhalb derselben eine neue Straftat begeht, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, wurde für essenziell gehalten. Denn mit der neuen, auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Tat widerlege der/die TäterIn die für die Verjährung sprechende Vermutung der Wesensänderung und Resozialisierung.1207 Die neuerliche Begehung einer strafbaren Handlung sollte aber keinen Ausschluss der Verjährung, sondern nur noch eine Fristverlängerung bewirken und die erste Straftat nicht vor der zweiten verjähren. Dies erscheint insofern sachgerecht, als die Begehung einer weiteren Straftat eine Resozialisierung des Täters/der Täterin nicht gänzlich unmöglich macht, sondern nur zeigt, dass sie innerhalb der ersten Verjährungsfrist noch nicht erfolgt ist. An den Verjährungsregelungen des Kommissionsentwurfs nahm der darauf aufbauende Ministerialentwurf nur wenige ausführlich begründete Änderungen vor, die aus der Feder Nowakowskis zu stammen scheinen1208 und in Übereinstimmung mit seiner und Brodas Strafzweckauffassung stehen. Die meisten dieser Modifikationen waren für den/die Beschuldigte/n oder den/die Verurteilte/n von Vorteil: Die Regelung über den Beginn der Verfolgungsverjährung modifiziert der StGE 1964 dahingehend, dass er die Verjährung im Gegensatz zu dem StGE 1962 nicht mit dem Erfolgseintritt, sondern grundsätzlich dann beginnen lässt, wenn die mit »Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört.«1209 Bezug genommen wird also auf den Zeitpunkt der strafbaren Handlungen bzw. das Handlungsunrecht. Wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg aber erst nach diesem Zeitpunkt eintritt, »so endet die Verjährungsfrist nicht, bevor sie entweder auch vom Eintritt des Erfolges ab verstrichen ist oder seit dem« Abschluss der strafbaren Handlung »ihr Eineinhalbfaches, mindestens aber drei Jahre, abgelaufen sind«.1210 In der Strafrechtskommission war umstritten gewesen, ob die Verjährungsfrist mit dem Abschluss der Handlung oder dem Eintritt des Erfolgs zu laufen beginnen sollte. In der ersten Lesung hatte eine knappe Mehrheit dafür gestimmt, dass die Verjährung 1206 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den §§ 65 bis 70; § 67, S. 94, 96f. 1207 »Auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen mit Strafe bedrohte Handlungen, wenn sie gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet oder auf gleichartige verwerfliche Beweggründe oder auf den gleichen Charaktermangel zurückzuführen sind.« (§ 74 StGB 1974). 1208 NOWAKOWSKI 1967, S. 16; STANGL 1985, S. 54. 1209 § 66 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV. 1210 § 67 Abs. 1 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV.

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mit dem Abschluss der strafbaren Handlung ohne Rücksicht auf den Erfolgseintritt beginnen sollte. In der zweiten Lesung beschloss die Kommission dagegen, die Verjährungsfrist ausnahmslos erst mit dem Erfolgseintritt beginnen zu lassen.1211 Die Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf 1964 sahen in der uneingeschränkten Durchführung dieses Grundsatzes jedoch die Gefahr »unbilliger Härten«. Diese würden sich insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten zeigen. So könne es beispielsweise bei Bauführungen, Installationen, aber auch bei ärztlichen Operationen vorkommen, dass ein Fahrlässigkeitsfehler, der dem/ der TäterIn unter Umständen gar nicht bewusst sei, viele Jahre später einen tödlichen Unfall oder eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers auslöse. Lasse man die Verjährung wie der Kommissionsentwurf ausnahmslos mit dem Erfolgseintritt beginnen, habe der/die TäterIn auch durch ein jahre- oder gar jahrzehntelanges Wohlverhalten keine Möglichkeit, durch die Verjährung straffrei zu werden. Daher sieht der Ministerialentwurf eine Kompromisslösung vor: Der spätere Erfolgseintritt kann den Beginn der Verjährung nur bis zu einer bestimmten Grenze hinausschieben, spätestens wenn seit dem Abschluss der strafbaren Handlung das Eineinhalbfache der regulären Verjährungsfrist verstrichen ist, tritt die Verjährung ein. Wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst nach diesem Zeitpunkt eintritt, ist die Tat somit verjährt, bevor sie strafbar geworden ist. Zur Vermeidung von Härten gegenüber dem/der TäterIn wollte der Ministerialentwurf dies aber in Kauf nehmen.1212 Wie die Erläuterungen zum StGE 1964 und damit wohl Nowakowski richtig feststellen, besteht keine spezialpräventive Notwendigkeit, eine/n TäterIn, der/ die sich Jahre oder Jahrzehnte in Freiheit bewährt hat, zu bestrafen.1213 Eine Sicherung der Gesellschaft vor dem/der TäterIn und seine/ihre Anhaltung zu normentreuem Verhalten sind dann notwendig, wenn er/sie gegen die Strafrechtsordnung verstoßen hat. Eine späte Bestrafung wäre für ihn/sie und sein/ihr soziales Umfeld nur nachteilig. Dagegen können generalpräventive Strafbedürfnisse, das heißt die Notwendigkeit zur Bekräftigung der Strafrechtsordnung durch Strafe, um andere zu normentreuem Verhalten anzuhalten, bei Fahrlässigkeitsdelikten (bei denen es keinen Versuch gibt) jedenfalls nicht entstehen, bevor der strafbare Erfolg eintritt. Gleiches gilt augenscheinlich auch für Vergeltungsbedürfnisse der Rechtsgemeinschaft. Wenn der strafbare Erfolg eintritt und ein Schaden entsteht, werden idR auch strafrechtliche Reaktionsbedürfnisse 1211 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 66, § 67, S. 95. 1212 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 67, S. 95f. 1213 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 67, S. 95f.

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der Allgemeinheit entstehen. Mit der beschriebenen Regelung des Verjährungsbeginns verzichtet der Ministerialentwurf 1964 daher nur wegen der fehlenden spezialpräventiven Strafnotwendigkeit und trotz wahrscheinlicher Vergeltungsbedürfnisse sowie einer generalpräventiven Strafnotwendigkeit auf die Strafverfolgungsbefugnis. Diese Norm zeigt daher eine klare Präferenz für spezialpräventive Gesichtspunkte und eine Orientierung auf den/die TäterIn. Diese Regelung wurde unter dem Titel »Verlängerung der Verjährungsfrist« mit der Verlängerung der Verjährungsfrist bei der Begehung einer weiteren Straftat, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht und den beiden Ruhenstatbeständen des Ministerialentwurfs zusammengefasst.1214 Ruhen sollte die Verfolgungsverjährung, wie schon von der Strafrechtskommission beschlossen, während der Zeit, »während der nach einer gesetzlichen Vorschrift die Verfolgung nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden kann« und »solange wegen der Tat gegen den Täter ein Strafverfahren bei Gericht anhängig ist.«1215 Der erste Ruhenstatbestand war dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch und den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit entnommen. Damit wurde eine Fortlaufhemmung1216 statuiert. Das heißt: Während der Zeiten, in denen kraft gesetzlicher Vorschriften die Strafverfolgung unmöglich ist, läuft die Verjährungsfrist nicht. Sie werden in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet.1217 Anwendungsfälle für diesen Ruhenstatbestand sind Zeiten, in denen parlamentarische Abgeordnete außerberufliche Immunität genießen, sowie die verwandten Fälle der völkerrechtlichen Immunitäten1218, aber auch, wenn der/die Berechtigte bei Privatanklagedelikten und Ermächtigungsdelikten keinen Antrag stellt oder er/sie der Strafverfolgung nicht zustimmt.1219 Für den zuletzt genannten Fall trafen Kommissionsentwurf und Ministerialentwurf jedoch Ausnahmeregelungen. Ein fehlender Antrag/ Eine fehlende Ermächtigung durch den/die Berechtigte/n hemmte den Lauf der Verjährungsfrist nicht, weil damit dem/der Berechtigten die Möglichkeit gegeben worden wäre, den Eintritt der Verjährung bei

1214 § 67 Abs. 1 und 2 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV. 1215 § 67 Abs. 3 und Abs. 4 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIV–XV. 1216 MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, § 58 StGB Z 1. 1217 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 67, S. 96f. 1218 Beispielsweise von DiplomatInnen, fremden Staatsoberhäuptern, RegierungschefInnen während ihrer Funktions- bzw. Amtsperiode. 1219 Der deutsche Bundesgerichtshof subsumierte die systembedingte Nichtverfolgung der NSStraftaten während der NS-Herrschaft unter diesen Ruhenstatbestand des § 69 dRStGB. Der als Gesetz eingestufte »Führerwille« habe der Strafverfolgung objektiv entgegengestanden und daher ein übergeordnetes Verfahrenshindernis dargestellt; dazu ausführlich Kapitel IV.3.1.

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idR minder wichtigen Straftaten unbefristet lange und nach Belieben hinauszuzögern.1220 Schließlich sollte der Lauf der Verjährungsfrist während eines gerichtlichen Strafverfahrens, das wegen der Tat gegen den/die TäterIn geführt wird, unbefristet lange gehemmt sein.1221 Es handelt sich in diesem Fall um eine Ablaufhemmung:1222 Das Gerichtsverfahren hindert nicht den Lauf der Verjährungsfrist an sich, diese läuft während des Verfahrens weiter. Die Dauer des Gerichtsverfahrens wird also in die Verjährungsfrist eingerechnet. Solange das Verfahren anhängig ist, kann die Verjährungsfrist aber nicht ablaufen. In Übereinstimmung mit der Auffassung der Strafrechtskommission erklärten die Erläuternden Bemerkungen, dass ein gerichtliches Strafverfahren gegen eine/n bestimmte/n TäterIn auch dann »anhängig bleibt«, »wenn es gem. § 412 StPO abgebrochen wird, weil der Täter derzeit nicht vor Gericht gestellt werden kann.« Damit sollte ein Verjährungseintritt während einer Auslandsflucht des Täters/der Täterin verhindert werden.1223 b. Vollstreckbarkeitsverjährung Die Vollstreckbarkeitsverjährung war dem alten österreichischen Strafgesetz 1852 noch unbekannt gewesen. Im Kommissionsentwurf und dem StGE 1964 ist sie dagegen vorgesehen, weil die Gründe, die allgemein für die Verjährung sprechen würden, auch dann gelten würden, wenn bereits ein Strafurteil ergangen sei. Eine Verurteilung hindere die Resozialisierung des Täters/der Täterin nicht, und auch in diesem Fall nähme das »Bedürfnis nach Strafe« mit der Zeit ab.1224 Die Fristen für die Vollstreckbarkeitsverjährung richten sich nach der verhängten Strafe, in der der Unwertgehalt der jeweiligen Tat und die Schuld des/ der individuellen Verurteilten konkret zum Ausdruck kommen. Sie sind geringfügig länger als für die Verfolgungsverjährung. Im Kommissionsentwurf betragen sie fünf, zehn und zwanzig Jahre.1225 Der Ministerialentwurf nimmt eine stärkere Ausdifferenzierung vor und statuiert Fristen von fünf, zehn, fünfzehn

1220 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 67, S. 96f. 1221 § 67 Abs. 4 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XV. 1222 MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, § 58 StGB Z 2. 1223 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 67, S. 96f. 1224 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 68, S. 97. 1225 § 68 Abs. 2 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53.

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und zwanzig Jahren.1226 Insgesamt wurden die Fristen im Ministerialentwurf leicht verlängert und dem internationalen Standard angepasst.1227 Die längeren Fristen für die Vollstreckbarkeitsverjährung gegenüber der Verfolgungsverjährung relativieren sich durch die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte. Die konkret verhängte Strafe liegt in aller Regel weit unter der abstrakten Strafandrohung. Beispielweise gilt gegenwärtig bei Vermögensdelikten durch geständige ErsttäterInnen die Dauer von einem Sechstel des abstrakten Strafrahmens als Richtwert für die Rechtsprechung, wobei aber noch die jeweils einschlägigen Erschwerungs- und Milderungsgründe zu berücksichtigen sind.1228 Obwohl die Fristen für die Vollstreckbarkeitsverjährung im Ministerialentwurf 1964 geringfügig länger waren als im Kommissionsentwurf 1962, erweiterte der StGE 1964 den Anwendungsbereich der Vollstreckbarkeitsverjährung beträchtlich. So bezog der Ministerialentwurf auch die von der Strafrechtskommission nicht berücksichtigten Nebenstrafen1229 (bspw. einen Ausschluss vom Wahlrecht oder die Urteilsveröffentlichung) in den Anwendungsbereich der Vollstreckbarkeitsverjährung ein, weil alle Erwägungen, die für die Verjährung der verhängten Strafe überhaupt sprächen, auch für die Nebenstrafen gelten würden.1230 Außerdem eliminierte der StGE 1964 die zahlreichen Ruhenstatbestände des StGE 1962, die für eine Verjährung des Strafurteils kaum Raum gelassen hätten. Nach dem Kommissionsentwurf ruhte die Verjährung nach dem Vorbild des Strafgesetzentwurfs des Jahres 1927, »solange nach einer gesetzlichen Vorschrift die Vollstreckung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann« und »solange dem Verurteilten ein Aufschub oder eine Unterbrechung der Vollstreckung oder bei Geldstrafen eine Zahlungsfrist oder eine Zahlung in Teilbeträgen bewilligt ist.« Außerdem war der Lauf der Verjährungsfrist gehemmt, »solange sich der Verurteilte im Ausland aufhält, um sich der Vollstreckung zu

1226 § 68 Abs. 2 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XV. 1227 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 68, S. 97f. 1228 BEYER/BIRKLBAUER/SADOGHI 2017, § 32, S. 89. 1229 Nebenstrafen sind Strafen, die den gleichzeitigen Ausspruch einer Hauptstrafe voraussetzen. Von den Nebenstrafen sind die Rechtsfolgen zu unterscheiden, die mit der Rechtskraft des Strafurteils ex lege eintreten und keiner besonderen Vollstreckung bedürfen (bspw. der Amtsverlust), sodass eine Vollstreckungsverjährung für sie nicht in Betracht kommt. Das Erlöschen der Rechtsfolgen und die bedingte Nachsicht von Rechtsfolgen gleichen in ihrer Wirkung aber der Verjährung der Vollstreckbarkeit; MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, § 59 StGB RZ 7. 1230 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 68, S. 98.

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entziehen.«1231 Nach den Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf des Jahres 1964 widerspricht es jedoch dem Grundgedanken der Verjährung, wenn man die Verjährungsfrist dadurch verlängert, dass man dem/der Verurteilten, der/die sich während derselben wohl verhalten hat, über das »unbedingt gebotene Maß hinaus bestimmte Zeiträume nicht in die Verjährung« einrechnet.1232 Der StGE 1964 sieht daher keine Hemmung der Vollstreckbarkeitsverjährung während Zeiten vor, in denen die Vollstreckung gesetzlich unmöglich ist. Mögliche Anwendungsfälle wären wie bei der Verfolgungsverjährung Fälle der außerberuflichen Immunität von Angehörigen parlamentarischer Vertretungskörper1233 sowie der völkerrechtlichen Immunitäten, außerdem eine durch den physischen oder psychischen Zustand des/der Verurteilten bedingte Vollzugsuntauglichkeit. Sofern im Falle der parlamentarischen Immunität der jeweilige parlamentarische Vertretungskörper die Zustimmung zur Strafverfolgung erteilt, erstreckt sich diese auch auf die nachfolgende Vollstreckung des Strafurteils. Erlange jemand die parlamentarische Immunität, nachdem und obwohl gegen ihn/sie ein noch nicht vollstrecktes Strafurteil ergangen sei, so müsse es erst recht dem zuständigen Vertretungskörper überlassen bleiben, die Verträglichkeit einer Strafvollstreckung gegen eine/n seiner Abgeordneten mit den Interessen der Allgemeinheit zu beurteilen. Eine Nichteinrechnung der Zeit seiner/ ihrer Immunität in die Verjährungsfrist, obwohl der Vertretungskörpers keine Zustimmung zur Strafvollstreckung erteile, stelle eine unbillige Benachteiligung des/der Abgeordneten dar. Dies gelte gleichermaßen für die Fälle der völkerrechtlichen Immunität. Ebensowenig dürfe der/die Verurteilte wegen seines/ ihres physischen oder psychischen Zustands, der den Vollzug der Strafe oder vorbeugenden Maßnahme vorübergehend unmöglich mache, dadurch benachteiligt werden, dass die Dauer dieses Zustandes in die Vollstreckungsverjährung nicht eingerechnet wird.1234

1231 § 69 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. 53f. 1232 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 98. 1233 Abgeordnete der parlamentarischen Vertretungskörper genießen außerberufliche Immunität, das heißt, sie dürfen wegen einer strafbaren Handlung nur dann verfolgt werden, wenn sie bei der Verübung eines Verbrechens auf frischer Tat ertappt werden oder wenn die jeweilige parlamentarische Vertretungskörperschaft, der der/die Abgeordnete angehört, der Verfolgung zustimmt. Ohne Zustimmung des Nationalrates dürfen sie wegen einer strafbaren Handlung nur dann behördlich verfolgt werden, wenn diese offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des/der Abgeordneten steht; https:// www.parlament.gv.at/PERK/GL/ALLG/I.shtml (16. 10. 2020). 1234 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 99.

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In bewusster Abkehr vom geltenden Recht und entgegen dem Beschluss der Strafrechtskommission sah der Ministerialentwurf des Jahres 1964 bei einem Auslandsaufenthalt des/der Verurteilten keine Hemmung der Verjährung vor. Denn wenn der/die Verurteilte ins Ausland flüchte, um dem Strafvollzug oder der vorbeugenden Maßnahme zu entgehen, müsse er/sie in der Regel einen die Dauer des drohenden Vollzugs weit übersteigenden Zeitraum im Ausland verbringen, weil die Verjährungsfrist für die Strafe in aller Regel um einiges länger als diese selbst sein werde. Damit hindere eine solche Flucht den/die TäterIn in den meisten Fällen länger an der Begehung weiterer Straftaten zum Nachteil der österreichischen Rechtsordnung, als dies im Fall des Vollzuges der Strafe oder Maßnahme der Fall wäre. Daher bestünde kein Grund, die Jahre des Auslandsaufenthalts von der Vollstreckungsverjährung auszunehmen.1235 Eine Hemmung des Verjährungslaufs bei einem Vollstreckungsaufschub oder einer Unterbrechung des Strafvollzugs erachtete der StGE 1964 ebenfalls als nicht notwendig, denn im Interesse einer zweckentsprechenden Strafrechtspflege seien solche ohnedies immer nur in einem Ausmaß zu bewilligen, das hinter der kürzesten Frist von fünf Jahren für die Verjährung der Vollstreckbarkeit beträchtlich zurückbleibe.1236 Durch die beschriebenen Streichungen von Verlängerungstatbeständen wurde der Anwendungsbereich der Strafvollstreckungsverjährung insgesamt beträchtlich erweitert. Überwiegend lagen diesen Eliminierungen spezialpräventive Erwägungen zugrunde. Die Erläuterungen zum Ministerialentwurf gehen davon aus, dass die Strafvollstreckungsverjährung ansonsten kaum praktische Bedeutung gehabt hätte.1237 Einige Ruhenstatbestände des Kommissionsentwurfs, die die Verfasser des Ministerialentwurfs als sachlich gerechtfertigt erachteten, wurden beibehalten und unter der Überschrift »Verlängerung der Verjährungsfrist« geregelt. Auch nach dem Ministerialentwurf des Jahres 1964 wird daher die Probezeit im Fall einer bedingten Nachsicht der Strafe, einer bedingten Entlassung und auch einer bedingten Nachsicht der vorbeugenden Maßnahme nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet.1238 Diese Verjährungshemmung sollte verhindern, dass die Vollstreckbarkeitsverjährungsfrist vor der Probezeit endet, weil nach Eintritt der Verjährung bei einem Widerrufsfall in der Probezeit die verjährte Strafe bzw. 1235 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 99. 1236 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 99. 1237 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 99. 1238 § 69 Abs. 2 Z 1 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. XV.

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Maßnahme nicht mehr vollstreckt hätte werden können. Außerdem erachteten es die Verfasser des StGE 1964 als kriminalpolitisch verfehlt, dem/der Verurteilten sein/ihr Wohlverhalten während der Probezeit, das ja schon die Bedingung für das Unterbleiben eines Widerrufs der bedingten Nachsicht oder der bedingten Entlassung darstellt, durch eine Anrechnung der Zeiten des Wohlverhaltens auf die Vollstreckbarkeitsverjährungsfrist doppelt gutzuschreiben.1239 In Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Strafrechtskommission ist nach dem StGE 1964 die Verjährungsfrist außerdem während der Zeiten gehemmt, in denen der/die Verurteilte auf behördliche Anordnung angehalten wird.1240 Dies wird damit begründet, dass dem/der Verurteilten nicht Zeiträume gutgeschrieben werden sollen, in denen sein/ihr Wohlverhalten in besonderer Weise, nämlich durch die behördliche Anhaltung, staatlich sichergestellt und zumindest teilweise erzwungen wird. Technisch bewirken diese Ruhenstatbestände eine Fortlaufhemmung. Während dieser Zeiten ist der Fristverlauf gehemmt. Mit dem Wegfall des Tatbestandes bzw. Hindernisses läuft die Verjährungsfrist weiter.1241 Nach dem Kommissionsentwurf des Jahres 1962 läuft die Verjährungsfrist auch, wenn sich der/die Verurteilte dem weiteren Vollzug z. B. durch einen geglückten Fluchtversuch aus der Vollzugsanstalt entzieht. Auf diese Weise hätte ein/e Verurteilte/r erreichen können, dass der Strafrest an ihm/ihr nicht mehr vollzogen werden darf. Nach Ansicht des StGE 1964 hätte dies einen verstärkten Anreiz für Fluchtversuche geschaffen, der umso weniger erwünscht war, als die Zielsetzungen des modernen Strafvollzugs vielfach einen Vollzug unter Umständen erfordern würden, der die Flucht erleichtert. Nach den Erläuternden Bemerkungen gilt diese Erklärung gleichermaßen für den Vollzug von vorbeugenden Maßnahmen, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind. Der Vollzug der Freiheitsstrafe oder der vorbeugenden Maßnahme hemmt die Verjährung daher nicht nur, sondern unterbricht sie.1242 Wenn der Vollzug endet, aber ein Teil der Freiheitsstrafe oder der vorbeugenden Maßnahme noch offen, das heißt vollziehbar, ist, dann beginnt nach dem StGE 1964 die gesamte Verjährungsfrist neu zu laufen. Es handelt sich dabei also um eine Unterbrechung wie nach dem StG 1852.1243 1239 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 99f. 1240 § 69 Abs. 2 Z 2 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. XV. 1241 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 100. 1242 § 69 Abs. 3 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. XV. 1243 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 100.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Der Kommissionsentwurf 1962 hätte die Verjährung der verhängten Strafe unabhängig vom Wohlverhalten des Täters/der Täterin eintreten lassen.1244 Nach den Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf des Jahres 1964 widerspricht dies jedoch dem Grundgedanken der Verjährung, »daß die in der Verjährung gelegene Begünstigung durch Wohlverhalten verdient werden muß.« »Wer in der Zeit zwischen Strafurteil und Strafverbüßung neuerlich straffällig wird, verdient eine Begünstigung noch weniger als derjenige, der sich angesichts der vorderhand bloß abstrakten und ungewissen Strafdrohung für eine bereits begangene strafbare Handlung zur Begehung einer neuen hinreißen läßt.«1245 Daher sieht der Ministerialentwurf vor: »Wird gegen den Verurteilten in der Verjährungsfrist auf eine neue Strafe oder vorbeugende Maßnahme erkannt, so tritt die Verjährung der Vollstreckbarkeit nicht ein, bevor nicht auch die Vollstreckbarkeit dieser Strafe oder vorbeugenden Maßnahme erloschen ist.«1246 Jede neue Verurteilung oder Verhängung einer vorbeugenden Maßnahme gegen den/ die TäterIn in der Verjährungsfrist bewirkt somit eine Ablaufhemmung. Die erste Strafe oder vorbeugende Maßnahme verjährt nicht vor der zweiten Strafe oder vorbeugenden Maßnahme. Weswegen die neue Strafe oder Maßnahme ausgesprochen wird, ist – anders als bei der Verfolgungsverjährung – nicht relevant.1247 c. Bewertung der Verjährungsregelungen des StGE 1964 Die einzelnen Verjährungsbestimmungen des Ministerialentwurfs aus dem Jahr 1964 nehmen in besonderer Weise auf den/die TäterIn und sein/ihr Verhalten innerhalb der Verjährungsfrist Bezug. Durch sein/ihr Wohlverhalten während der Verjährungsfrist konnte der/die TäterIn seine/ihre fehlende Gefährlichkeit und Resozialisierung unter Beweis stellen und sich die Straffreiheit in großem Umfang verdienen. Andererseits konnte und sollte eine fortbestehende Gefährlichkeit des Täters/der Täterin den Eintritt der Verjährung zumindest aufschieben. Auf die Verfolgung und Bestrafung eines/einer resozialisierten Täters/Täterin verzichtet der StGE 1964 zum Teil auch dann, wenn eine Bestrafung aus generalpräventiven Gründen erforderlich erscheint. Rein spezialpräventiven Zwecksetzungen diente einerseits die Verjährung der verhängten vorbeugenden Maßnahmen,1248 andererseits auch die aus dem Ent1244 § 69 Abs. 1 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzes. Zweite Lesung (Entwurf 1962). Nach den Beschlüssen der Kommission zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfs, S. XV. 1245 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 98. 1246 § 69 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XV. 1247 Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), § 69, S. 98. 1248 Siehe dazu schon oben Kapitel VI.3.3.

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wurf Radbruchs übernommene Verpflichtung der Gerichte vor dem Beginn des Vollzuges von freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen die Notwendigkeit des Maßnahmenvollzuges erneut zu prüfen, wenn seit ihrer Verhängung drei Jahre verstrichen waren. Stellte das Gericht fest, dass der/die schuldunfähige TäterIn nicht mehr gefährlich war, sollte die einstmals verhängte Maßnahme mangels spezialpräventiver Strafnotwendigkeit nicht mehr vollzogen werden.1249 Die starke Täterorientierung entspricht dem System des Ministerialentwurfs 1964. Die Wiedereingliederung des Täters/der Täterin in die Rechtsgemeinschaft und seine/ihre Resozialisierung sind wichtige Zielsetzungen des StGE 1964 und insbesondere von Justizminister Broda,1250 weshalb ihm auch immer wieder der Vorwurf gemacht wurde, die TäterInnen mehr als die Opfer zu schützen.1251

3.4.

Die Verjährung im Ministerialentwurf des Jahres 1966

Der StGE 1966 war im Wesentlichen eine konservativ verschärfte Version des StGE 1964. Dessen Verjährungsregelungen waren im Begutachtungsverfahren aber nicht kritisiert worden und wurden daher inklusive der dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf 1964 weitgehend unverändert übernommen.1252 Neu ist nur, dass der Ministerialentwurf des Jahres 1966 bestimmte Straftaten von der Verjährbarkeit ausschließt. Für die Verfolgungsverjährung trifft der Ministerialentwurf folgende Regelung: »Strafbare Handlungen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, verjähren nicht.«1253 Nach Ablauf einer Frist von zwanzig Jahren soll jedoch an die Stelle der angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren treten, wenn der/die TäterIn in der Zwischenzeit keine anderen strafbaren Handlungen begangen hat, die auf der gleichen schädlichen Neigung wie die erste Straftat beruhen.1254 Bei diesen Verbrechen ist somit eine Straffreiheit durch Zeitablauf ausgeschlossen und nur eine gesetzliche Strafmilderung als Folge des Verstreichens von zwanzig Jahren vorgesehen. Damit kehrt der Entwurf 1966 zur »relativen Verjährbarkeit« des § 231 StG 1852 zurück. Nach diesem waren die mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten 1249 § 70 Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XV. 1250 Siehe dazu insbesondere Kapitel VI.2.2.1. 1251 FISCHER, Vorwort, in: WIRTH 2011, S. 13. 1252 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4–9. 1253 § 60 Abs. 1 Entwurf eines Strafgesetzbuches: samt erläuternden Bemerkungen (1966), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIX. 1254 § 60 Abs. 1 Entwurf eines Strafgesetzbuches: samt erläuternden Bemerkungen (1966), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIX.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

unverjährbar (§ 231 Satz 1 StG 1852).1255 Wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre verstrichen waren, trat an die Stelle der Strafandrohung der Todesstrafe die Strafandrohung des schweren Kerkers von zehn bis zwanzig Jahren, sofern die in § 229 genannten Voraussetzungen (Herausgabe des Nutzens aus der Straftat, Wiedergutmachung des Schadens, keine Begehung neuer Straftaten in der Verjährungsfrist, keine Flucht ins Ausland) erfüllt waren (§ 231 Satz 2 StG 1852). Die verhängten lebenslangen Freiheitsstrafen nimmt der StGE 1966 generell von der (Vollstreckbarkeits)verjährung aus.1256 Für diese ist auch keine gesetzliche Strafmilderung vorgesehen.1257 In den Erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf 1966 werden die Unverjährbarkeitsregeln nicht weiter begründet.1258 Eine Antwort auf die Frage, warum bei schwersten Straftaten keine Straffreiheit durch Zeitablauf möglich sein soll, fehlt. So verweisen die Erläuternden Bemerkungen lapidar auf das Strafrechtsänderungsgesetz des Jahres 1965, mit dem schwerste Straftaten für unverjährbar erklärt worden waren, und die dafür maßgebenden Erwägungen.1259 Das Strafrechtsänderungsgesetz 1965 war nach langen und kontroversen politischen Debatten beschlossen worden: Im ordentlichen Verfahren war die Strafandrohung Todesstrafe im Jahr 1950 aufgehoben und durch die Strafe des lebenslangen schweren Kerkers ersetzt worden. Mit der Aufhebung der Todesstrafe verlor die Unverjährbarkeitsregel des § 231 StG 1852 ihren Anwendungsbereich. Die längste Verjährungsfrist betrug nun zwanzig Jahre. Sie hätte auch für die schwersten NS-Straftaten spätestens im Jahr 1965 geendet. Die SPÖ erachtete es moralisch, außenpolitisch und schließlich aus generalpräventiven Gründen auch kriminalpolitisch für notwendig, die NS-Straftaten, die die Definition des Völkermordes erfüllten, über das Jahr 1965 hinaus zu verfolgen.1260 Als der außenpolitische Druck auf Österreich immer größer wurde, stimmte die ÖVP einer rückwirkenden Änderung der Verjährungsfristen zu. Um eine Gleichbehandlung aller MörderInnen sicherzustellen, schlug die ÖVP aber vor, nicht nur Völkermord, sondern alle Verbrechen, die bis 1950 mit der Todesstrafe bedroht und bis zu diesem Zeitpunkt auch unverjährbar gewesen waren,1261 1255 Zu den Verjährungsregeln des österreichischen Strafgesetzbuches 1852 siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3., IV.3.3. und V.2. 1256 Das Strafgesetz 1852 ließ einmal verhängte Strafen überhaupt nicht verjähren, weil es keine Vollstreckbarkeitsverjährung kannte. 1257 § 62 Abs. 1 Entwurf eines Strafgesetzbuches: samt erläuternden Bemerkungen (1966), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. XIX. 1258 § 60, § 66 Entwurf eines Strafgesetzbuches: samt erläuternden Bemerkungen. Erläuterungen (1966), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. 102, 105f. 1259 § 60, § 66 Entwurf eines Strafgesetzbuches: samt erläuternden Bemerkungen. Erläuterungen (1966), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. 102. 1260 Zur Entstehungsgeschichte des Strafrechtsänderungsgesetzes 1965 siehe Kapitel IV.4. 1261 Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4f.

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wieder für unverjährbar zu erklären. Diese generelle Regel, die sich nicht auf die nationalsozialistischen Straftaten beschränkte, ermöglichte es der ÖVP, zu leugnen, dass die Gesetzesänderung durch die Verjährung der NS-Morde motiviert war. Ihre Vertreter bezeichneten die neue Unverjährbarkeitsregel als vorgezogenen Punkt der Strafrechtsreform. Dieser Darstellung entsprechend vereinbarten die Regierungsparteien dann, dass auch im neuen Strafgesetzbuch die mit der Höchststrafe, das heißt der lebenslangen Freiheitsstrafe, bedrohten Delikte unverjährbar sein sollten.1262 Kriminalpolitisch begründeten die ÖVP-Vertreter im Jahr 1965 in ihren wenigen Stellungnahmen die Unverjährbarkeit mit der Notwendigkeit der Vergeltung und Sühne, die zumindest bei Mord dem Rechtsempfinden des Volks und damit einem relativen Vergeltungsbedürfnis entspräche.1263 Angesichts der Tatsache, dass sämtliche ÖVP-Vertreter in der Strafrechtskommission gegen die Unverjährbarkeit gestimmt hatten und die Verjährbarkeit aller Straftaten im Begutachtungsverfahren nicht kritisiert worden war, ist zu vermuten, dass die ÖVP mit der generellen Unverjährbarkeitsregel für schwerste Straftaten primär die Absicht verfolgte, eine öffentliche Diskussion über den Umgang Österreichs mit den NS-Verbrechen zu vermeiden und im Hinblick auf die Nationalratswahl im Jahr 1966 den eigentlichen Inhalt dieser potentiell unpopulären und gewiss nicht unumstrittenen Regelung zu verschleiern. Freilich dürfte die ÖVP auch aus kriminalpolitischer Sicht weniger Probleme mit der Unverjährbarkeitsregel gehabt haben als die SPÖ, weil besonders auf ÖVP-Seite auch die Vergeltung als Zweck der Strafe betrachtet wurde.1264 Zur gerechten »Vergeltung« schwerer Straftaten oder zur Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen kann die Strafe unbefristet lange eingesetzt werden. Auf Seite der SPÖ sah man wohl keinen präventiven kriminalpolitischen Zweck, der die unbeschränkte Verfolgung aller bis zum Jahr 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten gerechtfertigt hätte. Sie erkaufte sich mit der generellen Unverjährbarkeit nur die Möglichkeit zur weiteren Verfolgung der schwersten NS-Straftaten. Justizminister Broda kommentierte die österreichische Verjährungslösung mit »ihre Mörder gegen unsere Mörder«1265 und sah darin wohl eine Art politischen Tauschhandel. Damit ist wohl gemeint, dass einerseits – wie von der SPÖ gefordert – die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen Morde verlängert bzw. sogar aufgehoben wurde, andererseits – wie von der ÖVP verlangt – alle Morde gleich behandelt wurden.

1262 Protokoll, Besprechung Broda/Hetzenauer, 5.2.1965, in: AChB, ÖNB, Handschriftensammlung, III.295.6, S. 3. 1263 Dazu ausführlich Kapitel IV.4. 1264 NOWAKOWSKI 1972, S. 9f; STANGL 1985, S. 78f; WIRTH 2011, S. 357. 1265 Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.295.1, fol. 14.

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Nowakowski, der von Broda vorab zur Einführung der Unverjährbarkeit konsultiert worden war, bewertete diese als kriminalpolitisch verfehlt. Aus den oben angeführten Gründen1266 erachtete es Nowakowski als zwecklos, Straftaten unbefristet lange zu verfolgen und verhängte Strafen unbefristet lange zu vollstrecken.1267 Seiner Meinung nach stellte die Unverjährbarkeitsregel einen strafrechtlichen Rückschritt und eine Abkehr vom Zweckgedanken im Strafrecht dar.1268 Insofern erklärt es sich wohl auch, dass die überwiegend von Nowakowski verfassten Erläuternden Bemerkungen zu dem Ministerialentwurf 1966 keine Aussage über den Zweck der Unverjährbarkeit schwerster Straftaten enthielten, denn eine Strafnorm, die nur der Vergeltung und Sühne dient und keinen präventiven Zweck erfüllt, steht tatsächlich in einem Widerspruch zu den Zielsetzungen, die von der SPÖ und insbesondere ihrem Justizminister Christian Broda mit der Reform verfolgt wurden.1269

3.5.

Die Verjährungsregelungen des Strafgesetzentwurfs 1968

Der von der ÖVP-Alleinregierung als Regierungsvorlage eingebrachte Strafgesetzentwurf übernahm die Verjährungsregeln des StGE 1966 und die dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen wörtlich und nahezu unverändert. Dies gilt auch für die Unverjährbarkeitsregel, die weiterhin nur mit einem Verweis auf das Strafrechtsänderungsgesetz 1965 begründet wurde.1270 Mit den Grundsätzen des Strafgesetzentwurfs 1968 scheint diese allerdings besser vereinbar als mit denen des Ministerialentwurfs 1964 und seines Nachfolgers aus dem Jahr 1966, weil der Strafgesetzentwurf 1968 den Vergeltungsgedanken wieder stärker betonte und anerkannte. Zur Vergeltung können schwerste Straftaten unabhängig von einem präventiven Nutzen unbefristet lange verfolgt und bestraft werden. Im Vergleich zu dem Ministerialentwurf 1966 war nur eine Änderung im Bereich des Verjährungsrechts vorgesehen. Die Verjährung wurde an eine zusätzliche Bedingung neben dem Zeitablauf geknüpft. Sie sollte nur eintreten, »sofern der Täter den durch die Tat entstandenen Schaden nach Kräften gutgemacht hat«.1271 Inhaltlich war diese Verjährungsvoraussetzung auch im Strafgesetz 1852 (bzw. im Strafgesetz 1803) statuiert (Leistung von Wiedererstattung nach Kräften). Ihr Urheber Franz Zeiller verfolgte damit primär den Zweck, 1266 1267 1268 1269

Siehe dazu Kapitel VI.3.2. Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4–9. Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 4–9. Christian Broda, StenProtNR 9.GP, 15. Sitzung v. 3. 12. 1959, abgedruckt in: NEIDER 1986, S. 12f; BRODA 1968a, S. 34; STANGL 1985, S. 53f, 95f. 1270 ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 158f. 1271 § 60 Abs. 2 ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 11.

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potentiellen TäterInnen die Hoffnung zu nehmen, durch die Verjährung straffrei zu werden und diese dadurch von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Vor allem bei Vermögensdelikten, die nach Auffassung Zeillers besonders häufig nach rationaler Abwägung begangen wurden, sollte ihnen vor Augen geführt werden, dass sie nur dann in den Genuss der Verjährung kommen würden, wenn sie zuvor den Vorteil aus der Tat aufgegeben hatten. Ist dem/der TäterIn aber bewusst, dass er/sie den Vorteil aus dem Vermögensdelikt aufgeben muss, um durch die Verjährung straffrei zu werden, kann die Verjährung keinen Anreiz zur Begehung eines solchen darstellen.1272 In dem Strafgesetzentwurf 1968 hatte die Bedingung der Schadenswiedergutmachung einen anderen Zweck. Die Erläuternden Bemerkungen erklären, dass das »Abklingen« der »Erschütterung des Bewußtseins der Rechtssicherheit« in »hohem Maße vom Verhalten des Täters nach der Tat abhängig« ist. Wenn sich der/die TäterIn während der Verjährungsfrist nicht einmal bemüht habe, Wiedergutmachung zu leisten, so verhindere er/sie dadurch, »daß die Zeit die durch das kriminelle Unrecht geschlagene Wunde heilt.« Dann bleibe auch das »Bedürfnis nach Verfolgung« (erg. bzw. Vollstreckung) der Tat bestehen.1273 Den Erläuternden Bemerkungen lag damit wohl die Auffassung zugrunde, dass das Vergeltungsbedürfnis der Rechtsgemeinschaft nur dann erlischt, wenn der/die TäterIn sich nach Kräften bemüht hat, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen. Dafür spricht auch die Auffassung der Erläuternden Bemerkungen, dass die »Wiedergutmachung des Schadens nach Kräften« »im Rahmen der von allen Rechtsgenossen anerkannten sittlichen Verpflichtung des Täters zur teilweisen Wiedergutmachung der gestörten Ordnung gesehen werden« müsse.1274 Die stärkere Betonung und Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens im konservativen Strafgesetzentwurf des Jahres 1968 zeigt sich damit auch im Verjährungsrecht.1275 Außerdem wurde die Schadensgutmachung nach Kräften als ein wichtiges Indiz für die Besserung des Täters/der Täterin betrachtet. Habe der/die TäterIn es unterlassen, seine/ihre Kräfte für die Beseitigung des von ihm/ihr verursachten Schadens einzusetzen, »so läßt das für die Zukunft nichts Gutes erwarten«, zumindest sei die Annahme kaum gerechtfertigt, der/die TäterIn sei bereits resozialisiert.1276 Gegen die Verjährungsbedingung der Schadenswiedergutmachung nach Kräften waren bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige

1272 1273 1274 1275 1276

Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. und Kapitel V.2. ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 157f. ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 158. NOWAKOWSKI 1972, S. 10; STANGL 1985, S. 78f; WIRTH 2011, S. 357. ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 158.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Einwendungen erhoben worden.1277 Auf einen Einwand gegen die Schadenswiedergutmachung gingen die Erläuternden Bemerkungen zum Strafgesetzentwurf 1966 ein. So war vorgebracht worden, dass mit der Leistung von Wiedergutmachung für den/die TäterIn die Gefahr verbunden sei, sich selbst zu verraten, was ihm/ihr nicht zugemutet werden könne. Dem hielten die Erläuternden Bemerkungen entgegen, dass kaum Fälle denkbar seien, in denen die Schadensgutmachung nicht auch auf eine Weise geleistet werden könne, durch die der/die TäterIn keine Entdeckung riskiere. Abgesehen davon sollte dem/der TäterIn die Möglichkeit gegeben werden, die Schadensgutmachung bis zum Ende der Hauptverhandlung zu leisten. Der Strafgesetzentwurf 1968 wollte daher – im Gegensatz zu dem StGE 1962, dem StGE 1964 und dem StGE 1966 – an der Verjährungsbedingung der Schadenswiedergutmachung des Strafgesetzes 1852 in der durch die Rechtsprechung erfolgten einschränkenden Auslegung1278 festhalten.1279

3.6.

Die Verjährung im Strafgesetzentwurf 1971 und im Strafgesetzbuch 1974

Der Strafgesetzentwurf aus dem Jahr 1971 kehrte im Bereich des Verjährungsrechts zu den Verjährungsregelungen des Ministerialentwurfs 1966 (= Verjährungsregeln des Entwurfs 1964, ergänzt um die Unverjährbarkeitsregel) zurück. Dieser wurde im Jahr 1971 als Regierungsvorlage in den Nationalrat eingebracht.1280 Wie dargestellt, orientierten sich die Verjährungsvorschriften des progressiven Ministerialentwurfs aus dem Jahr 1964 an dem generalpräventiven und spezialpräventiven Strafbedürfnis. Sichergestellt werden sollte die Bestrafung besserungsbedürftiger RechtsbrecherInnen. Gegenüber dem/der nicht mehr gefährlichen und insofern gebesserten StraftäterIn zeigten sich die Verfasser des StGE 1964 aber großzügig und verzichteten auf seine/ihre Verfolgung oder Bestrafung– zum Teil trotz fortbestehendem generalpräventiven Strafbedürfnis. Die Verjährungsregelungen des StGE 1964 wurden im Jahr 1966 um die Unverjährbarkeitsregel ergänzt und dergestalt mit den dazugehörigen Erläuterungen in die Regierungsvorlage 1971 übernommen.1281 1277 1278 1279 1280

Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3. und Kapitel V. Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.2. ErläutRV 706 BlgNR 11. GP, S. 157f. ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 161–169; vgl. damit die wortidenten Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1966, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. 101–108 und die bis auf die Unverjährbarkeitsregel wortidenten Erläuterungen zum Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches 1964, abgedruckt in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), S. 93–100. 1281 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 11f, 162f.

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Vom Nationalrat wurde nach Einbringung der Regierungsvorlage ein eigener Unterausschuss des Justizausschusses eingesetzt, dem Abgeordnete aller im Nationalrat vertretenen Parteien angehörten. Verhandlungsführer der ÖVP war ihr Justizsprecher Walter Hauser. Als Vertreter der FPÖ gehörte Gustav Zeillinger dem Ausschuss an. Er führte auch den Ausschussvorsitz.1282 Justizminister Broda nahm an den Sitzungen ebenfalls teil, war aber als Minister nicht stimmberechtigt. In mehreren Sitzungen besprachen die Ausschussmitglieder die Verjährungsregelungen des Strafgesetzentwurfs 1971. Erläutert wurden diese von einem Ministerialbeamten des Justizministeriums, von August Matouschek, der als Rechtsgrund der Verjährung wie die Erläuternden Bemerkungen und später auch sein Kollege Eugen Serini das abnehmende Strafbedürfnis, die zunehmenden Beweisschwierigkeiten sowie die Fehlurteilsgefahr nannte. Die Beweisschwierigkeiten würden zu »schlechten und nachteiligen Prozessen« führen, die sich negativ auf das Ansehen der Justiz auswirken würden. In der Bevölkerung fehle das Verständnis, wenn nach langer Zeit noch ein Verfahren eingeleitet werde, das dann meist mit einem Freispruch ende.1283 Die Vertreter der ÖVP und FPÖ hinterfragten diese Begründung nicht, schlugen dem Ausschuss aber verschiedene Verschärfungen des Verjährungsrechts vor. So forderten die Vertreter beider Fraktionen, die Schadenswiedergutmachung zur Bedingung für den Verjährungseintritt zu machen, wie dies der ÖVP-Strafgesetzentwurf 1968 vorgesehen hatte. Jakob Halder (ÖVP) betonte, dass 70–80 % der Delikte Vermögensdelikte seien, und wollte bei diesen den Opfern die Erlangung einer Entschädigung erleichtern.1284 Zeillinger (FPÖ) betrachtete das Erfordernis der Schadenswiedergutmachung als wichtigen und notwendigen Anreiz zur Resozialisierung.1285 Dass nur eine Verlängerung der Verjährungsfrist geplant war, wenn der/die TäterIn ein Delikt begangen hat, das auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, wurde als unzureichend erachtet.1286 Stattdessen forderte der Abgeordnete Halder von der ÖVP, ohne seine Vorschläge zu begründen, dass jedes neue 1282 WIRTH 2011, S. 410f. 1283 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 8, 10, 12. 1284 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 11. 1285 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 9, 12. 1286 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 9, 11, 12.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Verbrechen in der Verjährungszeit die Verjährung ausschließen müsse und zusätzlich einen Verjährungsausschluss bei einer Flucht des Täters/der Täterin ins Ausland.1287 Zeillinger schloss sich diesen Forderungen teilweise an und vertrat die Auffassung, dass der/die TäterIn bei Festhalten an der Voraussetzung der »gleichen schädlichen Neigung« ja »nur« den Beruf wechseln müsse, um immer wieder in den Genuss der Verjährung zu kommen. Statt der Ablaufhemmung für die Dauer eines anhängigen Gerichtsverfahrens schlug Zeillinger eine Unterbrechung und einen Neubeginn des Fristlaufs vor.1288 Für letzteren Vorschlag Zeillingers war rasch eine Lösung gefunden. Die Kommissionsmitglieder einigten sich auf einen Kompromiss und darauf, die vorgesehene Ablaufhemmung für die Dauer eines anhängigen Gerichtsverfahrens durch eine Fortlaufhemmung zu ersetzen. Die Gerichtsanhängigkeit verhindert daher nicht nur, wie in der Regierungsvorlage vorgesehen, den Ablauf der Verjährungsfrist, sondern auch deren Weiterlaufen, sodass bei Beendigung des Verfahrens noch die restliche Verjährungsfrist ablaufen muss.1289 Anders als bei der von Zeillinger vorgeschlagenen Unterbrechung beginnt die Frist bei einer Fortlaufhemmung aber nicht neu zu laufen. Die Verhandlungen über die anderen Änderungsvorschläge waren langwieriger. Der Ministerialbeamte Serini erklärte, dass die Verjährungsvoraussetzung der Schadenswiedergutmachung nach Kräften den Opfern von Vermögensdelikten in der Praxis wenig nütze, weil diese zumeist von mittellosen Personen begangen werden würden, die dann finanziell zur Schadenswiedergutmachung nicht in der Lage seien.1290 Mit der Klausel »nach Kräften« werde ein/e TäterIn, die den Gewinn aus dem Delikt sogleich verbraucht habe, mittellos sei und keine Wiedergutmachung leisten könne, gegenüber dem/der TäterIn begünstigt, der/ die noch einen Nutzen aus der Tat in den Händen halte. Außerdem hätten die Gerichte diese Bedingung ohnehin einschränkend interpretiert und als Schadenswiedergutmachung auch Versicherungsleistungen, Leistungen dritter Personen für den/die TäterIn und Leistungen »im letzten Moment« unmittelbar vor 1287 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 11. 1288 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 13. 1289 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 13–16. 1290 In den Genuss der Verjährung kommen konnten diese dennoch, weil das Strafgesetz 1852 nur die Wiedererstattung des Schadens »nach Kräften« verlangte. Auch der ÖVP-Strafgesetzentwurf 1968 hatte nur die Schadenswiedergutmachung »nach Kräften« verlangt– mittellose TäterInnen also nicht benachteiligt.

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der Urteilsfällung anerkannt. Aus derartigen Schadenswiedergutmachungen könne nicht auf die Besserung des/der TäterIn geschlossen werden. Die im Vergleich zu dem Strafgesetz 1852 langen Verjährungsfristen müssten daher als ausreichend betrachtet werden.1291 Matouschek ergänzte, dass der Ersatz des Schadens nicht die Aufgabe des Strafrechts, sondern des Zivilrechts sei. Die Verjährung wolle und solle im Strafrecht nur den Beweisproblemen und dem abnehmenden Strafbedürfnis Rechnung tragen. Wenn ein Strafverfahren gegen eine/n bekannte/n TäterIn wegen dessen/deren Flucht ins Ausland nicht geführt werde könne, dann bleibe das Verfahren bis zur Einstellung des Verfahrens gegen ihn/sie oder bis zu einem Freispruch anhängig. Solange das Verfahren gerichtsanhängig sei, könne die Verjährungsfrist nicht ablaufen. Nur bei einem Verfahren gegen eine/n unbekannte/n TäterIn verjähre die Tat auch bei einer Flucht desselben/derselben ins Ausland. Außerdem erklärte Matouschek, dass die Bezugnahme der Fristverlängerung auf Delikte, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen, gegenüber dem Strafgesetz 1852 keine Begünstigung des Täters/der Täterin sei. Denn alle derartigen Delikte würden eine Fristverlängerung bewirken, wohingegen nach dem geltenden Recht bei früheren Verbrechen nur neue Verbrechen, nicht aber Vergehen die Verjährung ausschließen würden.1292 Der SPÖ-Abgeordnete Karl Blecha schloss sich Matouscheks Meinung an und betrachtete die Verlängerung der Verjährungsfrist durch jedes neue Delikt, das auf der »gleichen schädlichen Neigung« beruht, sogar als Verschärfung gegenüber dem Strafgesetz 1852. Würde man die Verjährung eines Verbrechens durch die Begehung jedes weiteren Verbrechens gänzlich ausschließen, würden die Gerichte dem Gesetzgeber vorwerfen, sie »zum Mitschleppen von Strafverfahren zu zwingen«. Außerdem betonte er, dass die Bedingung der Schadenswiedergutmachung Vermögensdelikte gegenüber allen Delikten (bspw. Körperverletzungsdelikten, Tötungsdelikten etc.) benachteilige, bei denen aus der Tat kein unmittelbarer Vermögenschaden entstehe und bei denen daher keine Wiedergutmachung verlangt werde.1293 Justizminister Broda stützte sich in seiner Argumentation gegen Verschärfungen im Verjährungsrecht wie so oft auf spezialpräventive Gesichtspunkte und 1291 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 10. 1292 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 12f. 1293 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 13.

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erklärte, dass »sich der Täter in der Verjährungszeit regelmäßig bewährt haben« werde und der Flucht ins Ausland heute weitaus weniger Bedeutung zukomme als früher. Aus der Praxis wusste Broda von einem Fall zu berichten, bei dem ein Täter nach einem Sprengstoffdelikt im Jahr 1934 nach Kanada geflohen war. Nun habe er um Abolition ersucht, um seinen Lebensabend ohne Risiko der Strafverfolgung in Österreich verbringen zu können. Seine Tat war nämlich noch nicht verjährt und durch die Flucht ins Ausland unverjährbar geworden.1294 Ein wichtiges Argument gegen die Bedingung der Schadenswiedergutmachung war nicht vorgebracht worden, nämlich, dass diese den/die zu Unrecht Beschuldigte/n benachteilige. Der/Die wahre TäterIn konnte sich mit der Schadenswiedergutmachung von der Strafverfolgung »freikaufen«. Der/Die zu Unrecht Beschuldigte konnte die Wiedergutmachung leisten, musste sich dafür aber dem Anschein nach selbst verurteilen. Die Alternative für den/die zu Unrecht Beschuldigte/n bestand nur darin, ein Strafverfahren mit den Risiken einer Fehlverurteilung in Kauf zu nehmen.1295 Auf Ersuchen Blechas zeigten sich jedoch sowohl Hauser für die ÖVP als auch Zeillinger für die FPÖ kompromissbereit und erklärten die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Verfolgungsverjährung »in Anbetracht, daß noch schwierigere Aufgaben auf uns zukommen«, »auf sich beruhen lassen« zu wollen.1296 Die Regelungen der Verfolgungsverjährung in der Regierungsvorlage des Jahres 1971 blieben daher bis auf die Ersetzung der Ablauf- durch eine Fortlaufhemmung bei Gerichtsanhängigkeit unverändert und finden sich auch im Strafgesetzbuch des Jahres 1974.1297 Der Ausschuss des Nationalrates beschloss außerdem, eine Regelung über die Herabsetzung des Strafrahmens für Straftaten junger Erwachsener in den Strafgesetzentwurf aufzunehmen. Eine solche war auch im Strafgesetz 1852 enthalten. Gegen eine Person, die bei der Tatbegehung das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat, darf nach dem Strafgesetzbuch 1974 nicht auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt werden. Hat eine solche Person eine Tat begangen, die ausschließlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, so tritt an die 1294 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 12. 1295 Dazu ausführlich HÖGEL 1889, S. 423; HÖGEL 1897, S. 147; HÖGEL 1909, S. 269f, wobei dies im gesamten 19. und frühen 20. Jahrhundert vertreten worden war, siehe dazu auch STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3.3., V.4.2. und Kapitel V.6.2. 1296 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 13. 1297 ACB, Mappe V.875.5: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 18. Sitzung (27. 2. 1973), S. 13.

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

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Stelle dieser Strafdrohung die Androhung einer Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren.1298 Die Herabsetzung des gesetzlichen Strafrahmens führte auch zu einer Verkürzung der an die Strafandrohung anknüpfenden Verfolgungsverjährungsfrist. Die Befugnis zur Verfolgung von Straftaten junger Erwachsener ist niemals unverjährbar. Sie verjährt spätestens zwanzig Jahre nach der Tatbegehung. Im Übrigen sind aber keine besonderen Verjährungsbestimmungen für Straftaten Jugendlicher oder junger Erwachsener vorgesehen. Denn nach dem Jugendgerichtsgesetz 1961 war bezüglich der Verjährung von den ursprünglichen Strafandrohungen und nicht von den nach § 11 Z 1 JGG herabgesetzten Strafrahmen auszugehen (§ 11 Z 2 JGG).1299 Umstrittener als die Regelung der Verfolgungsverjährung war die der im Vergleich zum geltenden Recht neuen Vollstreckbarkeitsverjährung. Die Regelungen der Regierungsvorlage des Jahres 1971 betrachteten sowohl die ÖVP- als auch die FPÖ-Vertreter als zu weitgehend. Beide Fraktionen wollten die Vollstreckbarkeitsverjährung bei einer Flucht ins Ausland ausschließen oder zumindest beschränken. Zeillinger erkundigte sich, ob es überhaupt notwendig sei, die verhängten Nebenstrafen verjähren zu lassen.1300 Hauser schlug vor, eine Verjährung nur für verhängte Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren zuzulassen.1301 Der SPÖ-Abgeordnete Otto Skritek warnte davor, die Vollstreckbarkeitsverjährung durch allzu große Einschränkungen inhaltsleer zu machen.1302 Justizminister Broda erklärte, das Institut der Vollstreckbarkeitsverjährung gehöre zu einer rationalen vernünftigen Strafrechtspflege. »Jahre nach der Verurteilung ist der Verurteilte zumeist voll integriert und es kann keine Resozialisierungsaufgabe der Strafe mehr geben.« »Würden Nebenstrafen wie die Urteilsveröffentlichung noch nach vielen Jahren zu vollziehen sein, könnte dies die Resozialisierung des Verurteilten schwer behindern.«1303 Seine Aussagen im Ausschuss verdeutlichen, dass zumindest Justizminister Broda mit der Verjährung primär deshalb auf die Strafverfolgung und Strafvollstreckung verzichten wollte, weil er 1298 § 36 StGB 1974; AB 959 BlgNR 13. GP, S. 9. 1299 TRIFFTERER 1985, S. 501. 1300 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 1–3. 1301 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 4. 1302 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 4. 1303 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 3f.

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Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

diese wegen der nicht mehr bestehenden Gefährlichkeit des Täters/der Täterin und seiner/ihrer Resozialisierung als überflüssig erachtete. Insgesamt legen diese Äußerungen Brodas wie im Übrigen auch seine übrigen Stellungnahmen nahe, dass er die Spezialprävention als wichtiger erachtete als die Generalprävention. Nach mehrmaliger Diskussion beschloss der Ausschuss nicht nur verhängte lebenslange Freiheitsstrafe, sondern auch verhängte Freiheitsstrafen oder Anordnungen einer Unterbringung von über zehn Jahren von der Vollstreckbarkeitsverjährung auszunehmen.1304 Zusätzlich eingeschränkt wurde der Anwendungsbereich der Vollstreckbarkeitsverjährung dadurch, dass Zeiten, in denen dem/der Verurteilten ein Aufschub des Vollzuges einer Freiheitsstrafe bewilligt wird, überhaupt nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet werden. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der Aufschub wegen einer Vollzugsuntauglichkeit des Täters/der Täterin gewährt wird. Außerdem beschloss der Ausschuss, Auslandsaufenthalte nicht in die Vollstreckungsverjährungsfrist einzurechnen.1305 Im Falle einer Inlandsflucht wurde es dagegen als Aufgabe der Behörden betrachtet, den/die TäterIn zum Strafantritt zu bringen.1306 Die Änderungen wurden getroffen, um Vorsorge zu treffen, das heißt, um in diesen Fällen den Eintritt der Verjährung zu verhindern.1307 Ob diese Änderungen mit dem Sinn und Zweck der Verjährung zu vereinbaren sind, diskutierte der Ausschuss nicht.1308 Eine diesbezügliche Begründung findet sich auch im Ausschussbericht nicht.1309 Die Verpflichtung der Behörde, nochmals zu prüfen, ob eine Unterbringung in einer Anstalt überhaupt noch notwendig ist, wenn seit der Anordnung drei Jahre vergangen sind, wurde nach kurzer Diskussion über diesen Paragraphen gestrichen, wobei Broda die Absicht äußerte, eine entsprechende Regelung ins Strafvollzugsgesetz aufzunehmen.1310 1304 Die längste Vollstreckbarkeitsverjährungsfrist des Strafgesetzbuches 1974, die für Freiheitsstrafen »von mehr als einem, aber nicht mehr als zehn Jahren« gilt, beträgt deshalb fünfzehn Jahre, weil die Strafen, für die nach der § 61 Abs. 3 RV 30 BlgNR 13. GP, S. 11 eine Zwanzigjahresfrist gegolten hatte, für unverjährbar erklärt worden waren; § 59 Abs. 3 StGB 1974. 1305 AB 959 BlgNR 13. GP, S. 13f; STROHANZL 1974, S. 141–143. 1306 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 20. Sitzung (14. 3. 1973), S. 10. 1307 AB 959 BlgNR 13. GP, S. 14. 1308 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 1–7; ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 20. Sitzung (14. 3. 1973), S. 8–11. 1309 AB 959 BlgNR 13. GP, S. 13f. 1310 ACB, Mappe V.875.6: Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 19. Sitzung (28. 2. 1973), S. 7–9; Niederschrift des Bundesministeriums für Justiz

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

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Die vom Ausschuss des Nationalrates beschlossenen Änderungen im Verjährungsrecht stellten allesamt Verschärfungen dar. Ob sie mit der Verjährungsbegründung des Entwurfes vereinbar sind, ist fraglich. So können etwa generalpräventive Strafbedürfnisse unabhängig davon abnehmen, ob sich der/ die Verurteilte im Inland oder Ausland befindet. Der/Die Verurteilte kann sich auch im Ausland resozialisieren. Selbst für das Erlöschen des Vergeltungsbedürfnisses dürfte es recht wenig Unterschied machen, ob sich der/die Verurteilte im Inland versteckt hält oder ins Ausland geflüchtet ist. Das Ruhen der Vollstreckbarkeitsverjährung während Zeiten, in denen dem/der Verurteilten ein Aufschub des Vollzuges gewährt wird, erscheint vor allem als formal-technische Regelung, die den Eintritt der Verjährung während solcher Zeiten verhindern soll. Nowakowski zeigte sich insgesamt dankbar, weil der Unterausschuss des Justizausschusses die Grundlagen des von ihm mitverfassten Strafgesetzentwurfes unverändert gelassen hatte. Zu den Änderungen im Verjährungsrecht äußerte er sich nur dahingehend, dass die Vollstreckbarkeitsverjährung angesichts der Beschlussfassung des Ausschusses den ehest möglichen Vollzug der Strafe, die aber ohnehin auf den Fall der ultima ratio beschränkt sei, nicht gefährden werde.1311 Im Ergebnis bleiben damit freilich nur noch wenige Anwendungsfälle für eine Verjährung der verhängten Strafe bestehen.

3.7.

Die Unverjährbarkeit im Strafgesetzbuch 1974

Die Unverjährbarkeit schwerster Straftaten wurde im Ausschuss nicht besprochen. Selbst Zeillinger, der im Jahr 1965, als eine solche zur Verhinderung der Verjährung der NS-Morde diskutiert worden war, schwere kriminalpolitische Bedenken gegen diese gehabt und Broda gar vorgeworfen hatte, damit dem Vergeltungsgedanken Tür und Tor zu öffnen und die Strafe nun doch wieder als Mittel der »Rache und Vergeltung« einzusetzen und resozialisierte StraftäterInnen »wieder in das Verbrechen, in die Verbrechensatmosphäre zurück« zu stoßen, schien nun keine Bedenken mehr zu haben.1312 Weder in den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage 1971 noch im Ausschussbericht1313 wurde erklärt, warum bei den mit der lebenslangen Freiheitsstrafe bedrohten Straftaten sowie den verhängten lebenslangen Freiheitsstrafen und nach dem Ausschussbeschluss auch bei allen verhängten Freiheitsstrafen von über zehn über die Sitzung des zur Vorbereitung eines Strafgesetzbuches eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses, 20. Sitzung (14. 3. 1973), S. 11. 1311 NOWAKOWSKI 1974, S. 148. 1312 StenProtNR, 10. GP 76. Sitzung v. 31. 3. 1965, S. 4210–4215. 1313 AB 959 BlgNR 13. GP, S. 13f.

266

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

Jahren keine Verjährung eintreten sollte. Die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Jahres 1971 verwiesen wiederum nur auf den Gesetzesbeschluss des Jahres 1965.1314 Ob die unbefristete Bestrafung eines Menschen, der sich seit Jahrzehnten strafrechtskonform verhalten hat und von dem daher anzunehmen ist, dass er für die Allgemeinheit keine Gefahr mehr darstellt, mit dem ultima-ratio-Grundsatz vereinbar ist, der dem Strafgesetzbuch 1974 zugrunde liegt, erscheint fraglich.1315 Von der jüngeren deutschen Strafrechtswissenschaft wird dies mittlerweile bezweifelt.1316 Von der österreichischen Strafrechtswissenschaft wurde die Unverjährbarkeit seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 nicht kritisch hinterfragt.1317 Dies erstaunt angesichts der negativen Begleiterscheinungen, die der Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe nach der überwiegenden Meinung hat. Eine bedingte Strafnachsicht oder Geldstrafe ist bei den unverjährbaren Straftaten bzw. wegen diesen verhängten Strafen wegen deren Schwere nicht möglich. Die Verfolgung und Verurteilung wegen eines unverjährbaren Deliktes führen in der Regel zum Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe. Die folgenden spezialpräventiven Bedenken sind daher sowohl gegen die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung als auch der Strafvollstreckung gerichtet und gelten für beide Verjährungsarten. In Bezug auf die Generalprävention ist freilich zu differenzieren. Schon dem Strafgesetzbuch 1974 liegt die Auffassung zugrunde, dass zumindest kurze Freiheitsstrafen den/die Betroffene/n nicht positiv beeinflussen können und dem Ziel der Spezialprävention mehr schaden als nützen.1318 Die Strafrechtswissenschaft geht gegenwärtig sogar von einer entsozialisierenden Wirkung des Vollzuges einer unbedingten Freiheitsstrafe aus und empfiehlt, soweit als möglich ambulanten Maßnahmen (Geldstrafe, bedingte Strafnachsicht, Konfliktregelung) den Vorzug zu geben: Während des Strafvollzuges fehle es an einer sinnvollen Beschäftigung, die Betroffenen würden zur Unselbstständigkeit erzogen werden, und es bestehe die Gefahr der kriminellen »Anste1314 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 162f. 1315 BRODA 1967, S. 117f; STANGL 1985, S. 96; WIRTH 2011, S. 359f, 432. 1316 Eine Ausnahme wird allenfalls für Völkermord für vertretbar gehalten, weil das kollektive Vergessen angesichts von dessen gesamtgesellschaftlicher Dimension unzweifelhaft länger dauert; ASHOLT 2016, S. 462–467; VORMBAUM 2009, S. 497–502. 1317 Kritisch äußerte sich die österreichische Strafrechtswissenschaft nur zur Verlängerung der Verjährungsfristen für Straftaten, insbesondere für Sexualdelikte an Minderjährigen; die Argumente, die aus diesem Anlass gegen die »überlangen« Verjährungsfristen für diese Taten vorgebracht wurden, gelten jedoch umso mehr für die nach dem Strafgesetzbuch 1974 unverjährbaren Taten, siehe beispielsweise ANZENBERGER 2011, S. 167; BIRKLBAUER 2013, S. 21–36; SCHMOLLER 2000, S. 56f; SCHWAIGHOFER 1998, S. 150–164; dazu ausführlich Kapitel VII.4.7.–VII.4.8. 1318 ErläutRV 30 BlgNR 13. GP, S. 129f; FLORA, in: HÖPFEL/RATZ, WK 2 StGB § 37 RZ 3.

Die Verjährung in der Strafgesetzgebung der »Zweiten Republik«

267

ckung«. Der/Die sozial integrierte TäterIn werde aus seinem/ihrem sozialen Umfeld gerissen, er/sie verliere möglicherweise seine/ihre gesellschaftliche und berufliche Stellung. Die Anhaltung in einer Strafvollzugsanstalt zur Vollziehung einer unbedingte Freiheitsstrafe führe zu einer Stigmatisierung, die dem/der TäterIn die Resozialisierung erschwere.1319 Studien aus Österreich und Deutschland belegen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit umso größer wird, je eingriffsintensiver die staatliche Strafe ist: So werden beispielsweise StraftäterInnen, die nur zu einer Geldstrafe verurteilt werden oder denen die Strafe bedingt nachgesehen wird, seltener rückfällig als Personen, die eine unbedingte Freiheitsstrafe verbüßen.1320 Geht man von einer entsozialisierenden Wirkung des Vollzuges einer unbedingten Freiheitstrafe aus, dann erscheint es in spezialpräventiver Hinsicht zumindest bedenklich, Personen, von denen keine Verstöße gegen die Strafrechtsordnung zu erwarten sind, einem solchen zu unterziehen. Dazu kommt, dass viele Jahrzehnte nach der Tat der generalpräventive Nutzen der Strafverfolgung wie der Strafvollstreckung abnimmt und bei der Verfolgungsverjährung gar nicht mehr sicher ist.1321 Was nun die unbefristete Strafverfolgung anbelangt, so ist fraglich, ob diese durch den Strafzweck der Generalprävention dennoch gerechtfertigt werden kann. Die Beurteilung der Verfolgungsverjährung muss wohl auch davon abhängen, wie groß man das Risiko der Beweisschwierigkeiten einstuft. Je größer die Beweisschwierigkeiten längere Zeit nach der Begehung von Straftaten sind, umso häufiger kommt es zu Fehlverurteilungen, non-liquet-Situationen, Freisprüchen im Zweifel und ungerechtfertigten Freisprüchen. Endet ein Strafverfahren lange Zeit nach der Tat auf eine solche Weise, hat dieses keinen generalpräventiven Nutzen mehr. Weder wirkt ein zweifelhafter Freispruch abschreckend auf die Allgemeinheit, noch vermittelt ein solcher Wertehaltungen. Besonders frustrierend erscheint ein spätes Verfahren in diesen Fällen für die Opfer, die möglicherweise das Gefühl haben, dass ihnen nicht geglaubt wird. Auch Vergeltungsbedürfnisse kann ein spätes Verfahren in all diesen Fällen nicht befriedigen. Generalpräventiv wirkt höchstens eine Fehlverurteilung, eine solche 1319 FLORA, in: HÖPFEL/RATZ, WK 2 StGB, § 37 RZ 3f; FUCHS/ZERBES 2018, S. 13f; GRAFL 2007, S. 198; JERABEK/ROPPER, in: HÖPFEL/RATZ, WK 2 StGB, § 43 RZ 4; SEILER 2015, S. 11 f; WINTERSBERGER, in: WINTERSBERGER, Die vorbeugende Maßnahme gem. § 21 Abs. 1 StGB, 4.2.1. 1320 GRAFL 2007, S. 198; HOHMANN-FRICKE 2012, S. 259f; SEILER 2015, S. 11 f; STUMMERKOLONOVITS/GRAFL 2007, S. 11; WINTERSBERGER, in: WINTERSBERGER, Die vorbeugende Maßnahme gem. § 21 Abs. 1 StGB, 4.2.1. 1321 In diesem Sinn auch: MALECZKY 2019a, S. 107; MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, § 58 StGB Z 3–4; SEILER 2015, S. 155f, 161; STROHANZL 1974, S. 135; TIPOLD, in: LEUKAUF/STEININGER, StGB, § 57, S. 396; § 59, S. 409; zum aktuellen wissenschaftlichen Meinungsstand zum Rechtsgrund der Verjährung siehe ausführlich Kapitel VII.3.

268

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen

kann möglicherweise auch Vergeltungsbedürfnisse befriedigen. Sinn und Zweck des Strafrechts ist es freilich nicht, Unschuldige zu verurteilen, um ein Exempel zu statuieren. Erachtet man das Risiko des Beweismittelunterganges als gering, sind auch seine negativen Begleiterscheinungen vernachlässigbar und ein wenn auch möglicherweise geringerer generalpräventiver Nutzen der späten Strafverfolgung wahrscheinlich.1322 Zwar erscheint naheliegend, dass Erinnerungen an Straftaten mit der Zeit abnehmen und diese sogar aus dem kollektiven Gedächtnis entschwinden können,1323 allerdings können Erinnerungen im öffentlichen Gedächtnis beispielsweise durch Berichterstattung der Massenmedien jederzeit reaktiviert werden.1324 Eine solche kann auch Jahrzehnte nach einer Straftat die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf schwere, wenn auch lange zurückliegende Straftaten richten, sodass eine staatliche Reaktion zur Abschreckung und Vermittlung von Wertehaltungen erforderlich wird. Zur Beurteilung der Unverjährbarkeit von verhängten Strafen, das heißt der Strafvollstreckungsbefugnis, müssen nur generalpräventive und spezialpräventive Erfordernisse gegeneinander abgewogen werden, weil die Verjährbarkeit der urteilsmäßig festgestellten Strafe nicht mit Beweisschwierigkeiten begründet werden kann. In jedem Fall haftet der Unverjährbarkeit und damit der unbefristeten Strafverfolgung und -vollstreckung der Makel an, dass damit eine Person, von der keine Gefahr ausgeht, zur Abschreckung der Allgemeinheit, der Vermittlung von Wertehaltungen sowie insgeheim wohl auch zur Befriedigung von Genugtuungsbedürfnissen zum »Instrument der staatlichen Kriminalpolitik«1325 gemacht wird.1326

1322 In diesem Sinn Stellungnahme von Friedrich Nowakowski v. 5. 2. 1965, in: ACB, Mappe III.138.2, fol. 3, NOWAKOWSKI 1965, S. 9, siehe dazu auch Kapitel VI.3.2. Mittlerweile wird im Strafrecht und auch bei der Ausgestaltung der Verjährungsregeln zunehmend auf die Interessen der Opfer Bezug genommen (sog. »Wiederentdeckung des Opfers«). Ob mit den Opferinteressen eine Verjährung vereinbar ist oder der Opferschutz zumindest bei schwersten Straftaten eine Unverjährbarkeit erfordert, wird im nachfolgenden Kapitel untersucht. 1323 Zwingend ist dies keineswegs und eine gegenläufige Entwicklung nicht ausgeschlossen. Ein anschauliches Beispiel bildet der Verlauf der Verjährungsdebatten in Deutschland zwischen 1965 und 1979. Der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung in der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte (unter anderem als Folge des Films »Holocaust«) eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und das zunehmende Bedürfnis nach einer judiziellen Vergangenheitsbewältigung; dazu ausführlich Kapitel IV.6. 1324 Kritisch zur Begründung der Verjährung mit der Abnahme des Strafbedürfnisses in generalpräventiver Hinsicht: ASHOLT 2016, S. 144–154; MANTOVANI 2014, S. 80–86. 1325 VORMBAUM 1997, S. 502. 1326 In diesem Sinn auch VORMBAUM 1997, S. 502.

Zusammenfassung

4.

269

Zusammenfassung

Mit dem Ministerialentwurf 1964 erfolgte eine Abkehr vom Vergeltungsgedanken. Dieser verfolgte ausschließlich präventive Ziele, besonders die Besserung und Resozialisierung der straffällig Gewordenen. Überhaupt sollte die Strafe nur ultima ratio sein und nur dann zum Einsatz kommen, wenn andere Mittel der gesellschaftlichen Reaktion versagen. Diese Zielsetzungen zeigen sich auch im Verjährungsrecht des Entwurfes. Der Gesetzestext und die Erläuternden Bemerkungen zu den einzelnen Verjährungsregelungen machen deutlich, dass deren Ausgestaltung nach ausschließlich generalpräventiven und vor allem nach spezialpräventiven Gesichtspunkten erfolgte. Die Verjährungsregelungen des StGE 1964 und die diesbezüglichen Erläuterungen wurden größtenteils unverändert in alle nachfolgenden Strafgesetzentwürfe und dazugehörende Erläuternden Bemerkungen übernommen. Dies gilt auch für den konservativen ÖVP-Strafgesetzentwurf 1968, der nur eine kleinere Änderung der Verjährungsbestimmungen vorsieht, die der Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens in diesem Strafgesetzentwurf entspricht. Sodann kehrte die SPÖ-Alleinregierung im Jahr 1971 mit dem als Regierungsvorlage eingebrachten Strafgesetzentwurf weitgehend zu dem unter Justizminister Broda ausgearbeiteten Ministerialentwurf 1964 und damit auch zu dessen Verjährungsregelungen zurück. Der zuständige Ausschuss des Nationalrates nahm im Bereich der Verjährung eher geringfügige Änderungen vor. Die Analyse des Strafzweck- und Verjährungskonzepts des Ministerialentwurfs 1964 gilt daher auch für das geltende Strafgesetzbuch 1974. Ab dem Jahr 1966 und damit auch in dem StGB 1974 ist aber die Unverjährbarkeit schwerster Straftaten und verhängter Strafen statuiert. Der allgemeine Ausschluss bestimmter Straftaten und Strafen von der Verjährung erfolgte aus politischen Gründen bedingt durch die NS-Verbrechen und wurde strafrechtlich nicht für notwendig erachtet. Nach derzeitigem Forschungsstand scheint gesichert, dass der Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe einen Menschen, der sich seit zumindest zwei Jahrzehnten strafrechtskonform verhalten hat, eher entsozialisiert als resozialisiert und eine bereits erfolgte Resozialisierung zunichtemachen kann. Besonders aus Sicht der bei den Arbeiten an der Strafrechtsreform speziell berücksichtigten spezialpräventiven Strafzwecktheorie bestanden daher schwere Bedenken gegen die Unverjährbarkeit.

VII. »Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974

1.

Einleitung

Das folgende Kapitel1327 widmet sich den Entwicklungen im Verjährungsrecht seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches im Jahr 1974. Es beinhaltet eine Darstellung der wichtigsten Änderungen, die seit damals im Verjährungsrecht vorgenommen wurden. Außerdem wird der aktuelle wissenschaftliche Meinungsstand zum Zweck der Strafe und der Verjährung analysiert. In diesem Zusammenhang wird die Frage behandelt, wie sich die zunehmende Bedachtnahme auf das Opfer, die sogenannte »Wiederentdeckung des Opfers«,1328 auf die Ausgestaltung der Verjährungsregelungen auswirkt. Dabei soll auch geprüft werden, inwieweit eine Verjährung mit den Opferinteressen vereinbar ist. In den 1960er- und 1970er-Jahren hatten die NS-Verbrechen deutlich gemacht, dass die Verjährung die effektive Ahndung von Systemunrecht unmöglich machen und eine Vergangenheitsbewältigung erschweren kann.1329 Ab den 1990er-Jahren zeigten erneut Gruppen von Straftaten problematische Nebenwirkungen der Verjährung auf. Anhand dieser Beispiele wird analysiert, unter welchen Voraussetzungen die Verjährung zum Problem wird.1330 Die durch diese Anlassfälle veranlassten Regelungsänderungen werden dargestellt, und es wird der Frage nachgegangen, ob und welchen strafrechtlich relevanten Zweck längere Verjährungsfristen für bestimmte Gruppen von Straftaten oder Opfer haben können.

1327 Die Überschrift bezieht sich auf den Beitrag von Philipp ANZENBERGER »›Überlange Verjährungsdauer‹ nach § 58 Abs. 3 Z 3 StGB: Opferschutz als Strafzweck?« 2011, S. 164. 1328 So JESIONEK 2005, S. 42f, 48; in diesem Sinn auch BURGSTALLER 1999, S. 53f. 1329 Siehe dazu Kapitel IV. und Kapitel V. 1330 Siehe dazu außerdem das Endresümee, in das auch die diesbezüglichen Erkenntnisse der vorangehenden Kapitel einbezogen werden.

272

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

2.

Änderungen im Verjährungsrecht seit 1974

2.1.

Die Verjährung von Jugendstraftaten und Straftaten junger Erwachsener

Die erste größere Änderung im Verjährungsrecht brachte keine Novelle des Strafgesetzbuches, sondern eine Neufassung des Jugendgerichtsgesetzes. Das neue und bis heute in Kraft stehende Jugendgerichtsgesetz aus dem Jahr 19881331 bestimmte im Gegensatz zu seinem Vorgängergesetz, dem Jugendgerichtsgesetz des Jahres 1961, programmatisch: »Die Anwendung des Jugendstrafrechts hat vor allem den Zweck, den Täter von strafbaren Handlungen abzuhalten«.1332 Damit wird ausdrücklich der Vorrang der Spezialprävention angeordnet, während auf generalpräventive Strafbedürfnisse nur ausnahmsweise Bedacht zu nehmen ist. Die Wahrung der beruflichen und gesellschaftlichen Chancen der jugendlichen StraftäterInnen1333 ist ein wichtiges Ziel des Jugendstrafrechts. Der spezialpräventiven Ausrichtung des JGG liegt die Auffassung zugrunde, dass Jugendkriminalität regelmäßig nur eine Begleiterscheinung einer zeitlich begrenzten Adoleszenzkrise mit bloßem Episodencharakter ist, nach deren Überwindung die Wiedereingliederung in die Gesellschaft leichter fällt.1334 Mit dem JGG-ÄndG 20151335 wurden Regelungen für junge Erwachsene, das sind Personen, die das 18, aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben, im JGG getroffen und der Vorrang der Spezialprävention gegenüber der Generalprävention auch auf junge Erwachsene ausgedehnt,1336 denn entwicklungspsychologischen Studien zufolge ist der Reifungsprozess Heranwachsender in vielen Fällen auch mit Vollendung des 18. Lebensjahres – und damit dem Erreichen der Volljährigkeit noch nicht abgeschlossen.1337 Bis dahin galt für junge Erwachsene die Regelung des § 36 StGB, demzufolge gegen diese keine lebenslange Freiheitsstrafe, sondern höchstens eine Freiheitsstrafe von zwanzig Jahren verhängt

1331 Bundesgesetz vom 20. Oktober 1988 über die Rechtspflege bei Jugendstraftaten (Jugendgerichtsgesetz 1988 – JGG), BGBl. 1988/599. 1332 § 5 Z 1 Jugendgerichtsgesetz 1988. 1333 Jugendlich sind Personen von der Vollendung des 14. Lebensjahres bis zur Erreichung der Volljährigkeit. Bei Inkrafttreten des JGG 1988 lag das Volljährigkeitsalter bei 19 Jahren. Es wurde im Jahr 2001 auf 18 Jahre gesenkt; online Lehrbuch Zivilrecht, in: BARTA, Heinz (Hrsg.), auf: https://www.uibk.ac.at/zivilrecht/buch/kap4_0.xml?section=1;section-view= true (abgerufen am 2. 3. 2021). 1334 SCHROLL, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 JGG § 5, RZ 7f. 1335 Bundesgesetz, mit dem das Jugendgerichtsgesetz 1988, das Strafgesetzbuch und das Bewährungshilfegesetz geändert werden, und mit dem ein Bundesgesetz zur Tilgung von Verurteilungen nach §§ 129 I, 129 I lit. b, 500 oder 500a Strafgesetz 1945 sowie §§ 209 oder 210 Strafgesetzbuch erlassen wird (JGG-ÄndG 2015), BGBl I 2015/154. 1336 SCHROLL, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 JGG § 5, RZ 9/1. 1337 MAHLER 2013/2014, S. 7.

Änderungen im Verjährungsrecht seit 1974

273

werden darf. Aufgrund dieser Regelung waren Straftaten junger Erwachsener niemals unverjährbar.1338 Das Jugendgerichtsgesetz 1988 sieht für Straftaten Jugendlicher und in der geltenden Fassung auch für Straftaten junger Erwachsener eine gesetzliche Strafmilderung vor.1339 Nach dem Jugendgerichtsgesetz 1961 war bezüglich der Verjährung von den allgemeinen Strafandrohungen für das jeweilige Delikt und nicht von den herabgesetzten Strafrahmen für Jugendliche auszugehen.1340 Nach dem neuen JGG 1988 dagegen ist, wenn in einem Strafgesetz auf einen für den/die TäterIn fallbezogen relevanten Strafrahmen Bezug genommen wird, für Jugendliche von den durch § 5 Z 2-5 JGG reduzierten Strafgrenzen auszugehen und seit dem Jahr 2015 von den durch § 19 Abs. 1 JGG herabgesetzten Strafandrohungen für junge Erwachsene. Dies gilt auch für die Verjährungsfristen, was zu einer Verkürzung der allgemeinen Verjährungsfristen für Delikte Jugendlicher und junger Erwachsener führt. Unverjährbare Jugendstraftaten und Straftaten junger Erwachsener gibt es daher weiterhin nicht.1341 Der Justizausschuss des Nationalrats erachtete in Übereinstimmung mit der Regierungsvorlage zum JGG 1988 die kürzeren Verjährungsfristen für Straftaten Jugendlicher insbesondere deshalb als gerechtfertigt, weil das Verstreichen eines längeren Zeitraumes nach der Tat ohne neuerliche Straffälligkeit bei einer/einem Jugendlichen angesichts von dessen/deren raschen persönlichen Entwicklung stärker ins Gewicht falle als bei einem/einer Erwachsenen.1342 Damit wird nicht nur die Strafe, sondern auch der Entfall der Strafe durch Verjährung bei Jugendstraftaten primär mit spezialpräventiven Gesichtspunkten begründet. Außerdem entspricht nach den Erläuternden Bemerkungen eine Verkürzung der Verjährungszeit für Jugendstraftaten einer alten Tradition des österreichischen Strafrechts.1343 Damit wird auf den § 232 StG 1852 Bezug genommen, der für Straftaten von Personen bis zum vollendeten zwanzigsten Lebensjahr eine höchstens zehnjährige Verjährungsfrist normierte. Die Verjährungsfristen konkretisieren nur die Abnahme des Strafbedürfnisses mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zur Tat. Dieses bewertet der Gesetzgeber bei Jugendlichen durch die reduzierten Strafrahmen von vornherein als geringer.1344

1338 Siehe dazu Kapitel VI.3.6. 1339 Siehe dazu § 5 Z 2–6 Jugendgerichtsgesetz 1988, BGBl. 1988/599 sowie gegenwärtig § 5 Z 2– 6a, § 19 Jugendgerichtsgesetz 1988 idFv BGBl. 2015/154. 1340 Siehe dazu Kapitel VI.3.6. 1341 ErläutRV 486 BlgNR 17. GP, S. 25f; SCHROLL, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 JGG § 5, RZ 29. 1342 AB 486 BlgNR 17. GP, S. 5f. 1343 ErläutRV 486 BlgNR 17. GP, S. 25f. 1344 SCHROLL, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 JGG § 5, RZ 29.

274 2.2.

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Sonstige Änderungen im Verjährungsrecht

Im Übrigen erfolgten mehrere kleinere Änderungen im Verjährungsrecht des Strafgesetzbuches. Diese waren erforderlich, um Gesetzesänderungen und Entwicklungen im allgemeinen Teil des Strafrechts gerecht zu werden. Beispielsweise wurde mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 19961345 der Verfall eingeführt und die Abschöpfung der Bereicherung ausgebaut1346 und gleichzeitig festgelegt, dass auch diese der Verjährung unterliegen. Die Nebenstrafen werden nicht mehr ausdrücklich erwähnt, sind aber durch den Begriff »Strafen« weiterhin miterfasst.1347 Die Hemmung der Verjährung, solange gegen den/die TäterIn ein Gerichtsverfahren anhängig ist, wurde durch »die Zeit zwischen der erstmaligen Vernehmung als Beschuldigter der erstmaligen Androhung oder Ausübung von Zwang gegen den Täter wegen der Tat (§§ 93 Abs. 1, 105 Abs. 1 StPO), der ersten staatsanwaltschaftlichen Anordnung oder Antragstellung auf Durchführung oder Bewilligung von im 8. Hauptstück der StPO geregelten Ermittlungsmaßnahmen und Beweisaufnahmen zur Aufklärung des gegen den Täter gerichteten Verdachts, der Anordnung der Fahndung oder Festnahme, des Antrags auf Verhängung der Untersuchungshaft oder der Einbringung der Anklage und der rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens« ersetzt.1348 Die Einführung der Diversion spiegelte sich auch im Verjährungsrecht und führte zur Aufnahme eines neuen und eigenen Hemmungstatbestandes. Die Verjährung ruht nun auch während der Fristen zur Zahlung eines Geldbetrages samt allfälliger Schadensgutmachung und zur Erbringung gemeinnütziger Leistungen samt allfälligem Tatfolgenausgleich sowie während der Zeit von der Stellung eines Ersuchens der Staatsanwaltschaft an einen Konfliktregler über die Information des Opfers, des Beschuldigten und ihrer Vertreter über die Möglichkeit eines Tatausgleichs bis zur Mitteilung des Konfliktreglers über die Ausgleichsvereinbarungen und ihrer Erfüllung.1349

1345 Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch, die Strafprozeßordnung, das Auslieferungsund Rechtshilfegesetz, das Bewährungshilfegesetz, das Tilgungsgesetz, das Strafregistergesetz, das Suchtgiftgesetz, das Lebensmittelgesetz und das Sicherheitskontrollgesetz geändert werden (Strafrechtsänderungsgesetz 1996), BGBl. 1996/762. 1346 ErläutRV 33 BlgNR 20. GP, S. 22. 1347 § 57 Abs. 4 StGB, § 59 StGB idFv Strafrechtsänderungsgesetz 1996, BGBl. 1996/762; ErläutRV 33 BlgNR 20. GP, S. 43. 1348 § 58 Abs. 3 Z 2 StGB 1974 idFv Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Strafgesetzbuch, das Jugendgerichtsgesetz 1988 und das Finanzstrafgesetz geändert werden, BGBl. 2007/93. 1349 § 58 Abs. 3 Z 4 StGB 1974 idFv Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Strafgesetzbuch, das Jugendgerichtsgesetz 1988 und das Finanzstrafgesetz geändert werden, BGBl. 2007/93.

Der Rechtsgrund der Verjährung

275

Aus all diesen Änderungen lassen sich keine Rückschlüsse auf die Beurteilung des Verjährungsinstitutes aus straftheoretischer Sicht ziehen. Zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses von Strafzweck und Begründung einer Verjährung tragen sie nicht bei, weshalb auf sie nicht näher eingegangen werden soll.

3.

Der Rechtsgrund der Verjährung

3.1.

Die Begründung der Verjährung durch die österreichische Strafrechtswissenschaft

Der lange Streit über den Rechtsgrund und die Berechtigung der Verjährung scheint seit den 1970er-Jahren endgültig beendet zu sein. Als Strafzwecke werden von der österreichischen Strafrechtswissenschaft seit langem nur noch die General- und die Spezialprävention betrachtet, während der Vergeltungsgedanke heute nahezu einhellig abgelehnt wird.1350 In der Ablehnung des Vergeltungsgedankens unterscheidet sich Österreich gravierend von Deutschland, wo Vergeltung, Spezial- und Generalprävention als nebeneinander zu verfolgende Strafzwecke betrachtet werden. Vereinzelt üben StrafrechtswissenschaftlerInnen daran Kritik. Von der deutschen Rechtsprechung und überwiegend auch von der Lehre wird jedoch am Vergeltungsgedanken festgehalten.1351 Gewissermaßen das Spiegelbild zur Begründung der Strafe stellt in Österreich die Begründung der Verjährung dar. Die Ursache für die Zulassung der Verjährung wird im Entfall oder Schwinden des Strafbedürfnisses und der generalund spezialpräventiven Strafnotwendigkeit gesehen. Im Vergleich zur Einführung des Strafgesetzbuches in den 1970er-Jahren1352 hat sich geändert, dass die Verjährung überhaupt nicht mehr mit dem Entfall des Vergeltungsbedürfnisses begründet wird. Den zunehmenden Beweisschwierigkeiten wird nur sekundäre Bedeutung zugestanden.1353 Die Unverjährbarkeit wird in Österreich entweder nicht1354 oder nach wie vor damit begründet, dass bei diesen Straftaten das Strafbedürfnis nicht erlischt.1355 Die m. E. Willkür dieser Formel – es lässt sich wohl bei allen Straftaten, die einen gewissen Schweregrad erreichen, sagen, dass EBNER, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB Vor §§ 32–36, RZ 7. MARLIE 2008, S. 42, 44–46; PAWLICK 2011, S. 78f, 92f; STUCKENBERG o. J., S. 12. Siehe dazu Kapitel VI. BIRKELBAUER 2013, S. 23f; MALECZKY 2019a, S. 107; MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, Vor §§ 57–60 Z 3; SCHWAIGHOFER 1998/1999, S. 151f; SEILER 2015, S. 155f, 161; STROHANZL 1974, S. 135; TIPOLD in: LEUKAUF/STEININGER, StGB § 57, RZ 1f; § 59, RZ 1; TRIFFTERER 1985, S. 499; TRIFFTERER 1994, S. 499. 1354 BIRKLBAUER 2013, S. 23f; MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB, Vor §§ 57–60 Z 3; STROHANZL 1974, S. 135; TIPOLD in: LEUKAUF/STEININGER, StGB § 57, RZ 1f; § 59, RZ 1. 1355 SCHWAIGHOFER 1998/1999, FN 11; SEILER 2015, S. 156.

1350 1351 1352 1353

276

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

das Strafbedürfnis nicht erlischt – wurde soweit erkennbar in Österreich nie hinterfragt.1356 Die Rechtfertigung der Verjährung mit der Abnahme der general- und spezialpräventiven Strafnotwendigkeit macht Sinn. Straft man, um den/die TäterIn zu bessern, diese/n von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten und um die Gesellschaft vor ihm/ihr zu schützen sowie zur Abhaltung anderer von derselben strafbaren Handlung und zur Vermittlung von Wertehaltungen, kann die Strafverfolgung und Strafvollstreckung nur unterbleiben, wenn sie zur Erreichung dieser Zielsetzungen nicht mehr notwendig ist. Dies setzt die Annahme voraus, dass nach Ablauf der jeweiligen Verjährungsfrist für das Delikt keine general- und spezialpräventive Strafnotwendigkeit mehr besteht. Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert hatte die Strafrechtswissenschaft Zweifel an der zeitlich bedingten Abnahme des Strafbedürfnisses in general- und auch spezialpräventiver Hinsicht.1357 In jüngerer Zeit wurde die Abnahme der Strafnotwendigkeit innerhalb der allgemeinen Verjährungsfrist politisch und gesellschaftlich nur für Straftaten an Minderjährigen in Frage gestellt und diesem Zweifel durch Gesetzesänderungen Rechnung getragen.1358 Insgesamt kann festgestellt werden, dass die aktuelle österreichische Strafrechtswissenschaft wenig Interesse an einer Beschäftigung mit dem Verjährungsinstitut hat. Eine kritische Auseinandersetzung mit deren Begründungen erfolgte in Österreich in den letzten Jahrzehnten nicht mehr. Lediglich in einer Diplomarbeit findet sich neben den dargestellten Argumenten auch die Überlegung, dass die Verjährung grundsätzlich auch aus Gründen der Prozessökonomie sinnvoll sei – wie dies auch schon seit dem 18. Jahrhundert immer wieder argumentiert worden war. Würde man ein System der Verjährung im Strafrecht nicht kennen, so würde dies dazu führen, dass lange Zeit zurückliegende Straftaten immer verfolgt werden könnten (bzw. wegen des Legalitätsprinzips richtigerweise verfolgt werden müssten), unabhängig davon, um welches Delikt es sich handele, und selbst dann, wenn aufgrund von fehlenden Beweisen eine Verurteilung nicht erwartet werden könne. Dadurch würden dem Staat und damit dem/der SteuerzahlerIn große Ausgaben für Ermittlungsmaßnahmen und Prozessführungen entstehen, die dann ins »Leere laufen würden«.1359 Auch wenn es von der österreichischen Strafrechtswissenschaft nicht ausgesprochen wird, ist die Prozessökonomie wohl ein gewichtiges Argument, das gegen die Abschaffung der Verjährung für alle Straftaten spricht. Für ein Strafrechtssystem, das auf dem Legalitätsprinzip aufbaut, also grundsätzlich Verfol1356 Zur wissenschaftlichen Bewertung der Unverjährbarkeit ausführlich Kapitel VI.3.7.; zu den politischen Gründen für deren Einführung siehe Kapitel IV.4. 1357 Siehe dazu insbesondere STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II., IV. und V. 1358 Siehe dazu Abschnitt 4. 1359 HARTER 2014, S. 11f.

Der Rechtsgrund der Verjährung

277

gungszwang vorsieht, ist eine zeitliche Begrenzung der Verfolgungspflicht im Sinne der Justizökonomie sinnvoll, weil die Verfolgungsbehörden sonst sämtliche Altfälle Jahre und Jahrzehnte nach der Tat unabhängig von ihrer Schwere aufgreifen müssten. Wäre es aber tatsächlich general- oder spezialpräventiv notwendig, alle Altfälle unbefristet lange zu verfolgen, um die Gesellschaft vor kriminellen Übergriffen zu schützen, müssten diese Ressourcen wohl aufgewendet werden. Andernfalls würde die fehlende Strafverfolgung bei diesen Straftaten die Kriminalitätsrate längerfristig erhöhen und damit auch die Ausgaben für die Strafverfolgung wieder steigen. In Fällen der leichten und mittelschweren Kriminalität ist dies aber wohl nicht der Fall. Da der Verzicht auf eine Strafverfolgung mittels der Verjährung längere Zeit nach der Tatbegehung zu keiner erheblichen Steigerung der Kriminalitätsrate führt, ist er auch im Interesse der Kostenökonomie.

3.2.

Kritik an der österreichischen Verjährungsbegründung

Von der deutschen Strafrechtswissenschaft wird die Begründung der Verjährung mit der Abnahme einer präventiven Strafnotwendigkeit nach wie vor infrage gestellt. Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in den aktuellen deutschen Diskurs zur Verjährung gegeben werden. In Bezug auf die negative Generalprävention vertritt beispielsweise Martin Asholt1360 in seiner Habilitation zur Verjährung die Auffassung, dass bei leichten Straftaten mit kurzer Verjährungsfrist die Aussicht auf eine baldige Verjährung rational planende TäterInnen zur Begehung von Straftaten motivieren könne. Bei schweren Straftaten mit langer Verjährungsfrist nimmt Asholt dagegen an, dass die Verjährung außerhalb des Planungshorizonts liegt und keinen zusätzlichen Anreiz zur Begehung von Straftaten bietet.1361 Ein unter der Leitung von Tatjana Hörnle, Strafrechtsprofessorin und Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht,1362 erstelltes Gutachten für den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland geht deutlich weiter und greift auf ein altes Argument zurück, das insbesondere von Feuerbach und den Anhängern der Theorie vom psychologischen Zwang vertreten wurde:1363 Wenn der Staat eine Strafe androhe und zugleich mit der Verjährung Straflosigkeit in Aussicht stelle, mindere dies generell, 1360 Mittlerweile Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafrechtsgeschichte an der Universität Passau; auf: https://www.jura.uni-passau.de/asholt/leh rstuhlinhaber/ (abgerufen am 18. 11. 2020). 1361 ASHOLT 2016, S. 131–133. 1362 Auf: https://csl.mpg.de/de/personen/tatjana-hoernle/ (abgerufen am 18. 11. 2020). 1363 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1., III.5. und III.7.

278

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

und nicht nur bei leichten Straftaten, die Abschreckungswirkung der Strafandrohung.1364 Nach modernem Verständnis von der positiven Generalprävention könnte die Verjährung dann eintreten, wenn eine staatliche Strafverfolgung und eine Strafvollstreckung zur Stabilisierung der Normtreue, Normanerkennung und Normorientierung der Bevölkerung nicht mehr erforderlich sind. Hauptkritikpunkt an dieser These ist die Unmöglichkeit ihrer empirischen Verifikation. Ob die Strafandrohungen und die Strafe tatsächlich der positiven Generalprävention dienen, ist nicht nachweisbar und insofern ist auch nicht nachweisbar, wann zur positiven Generalprävention keine Strafverfolgung und Strafvollstreckung mehr erforderlich sind.1365 Asholt lehnt auch das Argument der zeitbedingten Besserung des Täters/der Täterin ab. Diese sei nicht erweisbar. Ebenso könne der umgekehrte Fall vorkommen, nämlich, dass der/die TäterIn unmittelbar nach der Straftat erschüttert und ängstlich sei und seine/ihre verbrecherischen Instinkte erst mit der Zeit wiederaufkommen würden.1366 »Die eingetretene [Verjährung] wirkt nunmehr als letzter entscheidender Impuls, sich keine Zügel mehr aufzuerlegen.«1367 Selbst, wenn man von einer Besserung des Täters/ der Täterin und dessen/deren innerlichen Entfernung von der Tat ausgehe, würden die unterschiedlichen Verjährungsfristen je nach Schwere der Tat gewiss nicht mit der unterschiedlichen Geschwindigkeit des Besserungsprozesses korrelieren.1368 Wenn die Besserung tatsächlich entscheidend wäre, müsse eine erwiesene Besserung bereits vor Eintritt der Verjährung rechtliche Konsequenzen haben, nämlich die Beendigung der Strafverfolgung oder die Nichtvollstreckung der verhängten Strafe. Asholts Haupteinwand gegen die Begründung der Verjährung mit der zeitabhängigen Besserung ist, dass dann letztlich nicht der Zeitablauf, sondern die Besserung der Rechtsgrund der Verjährung ist. Seiner Ansicht nach braucht die Verjährung eine Erklärung, die aufzeigt, warum die Zeit allein den Grund für die Verjährung liefert.1369 Hörnle erachtet die Annahme, dass ein/e TäterIn, der/die sich lange Zeit nichts zu Schulden habe kommen lassen, resozialisiert sei und nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden müsse, als legitim, aber für das deutsche Recht nicht ausreichend, weil dann andere Strafzwecke wie die Genugtuungsbedürfnisse der Opfer vernachlässigt werden würden.1370

1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370

HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 12. ASHOLT 2016, S. 144–148; MITSCH 2006, S. 703f. ASHOLT 2016, S. 119. So LOURIE 1914, S. 13 den ASHOLT 2016, S. 119 zur Begründung dieser Auffassung zitiert. ASHOLT 2016, S. 118–120. ASHOLT 2016, S. 118–120. HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 11.

Der Rechtsgrund der Verjährung

279

Zweifel an der generalpräventiven Verjährungsbegründung erscheinen berechtigt, weil es nicht zwingend vorkommen muss, dass Erinnerungen an Straftaten schwinden und eine Bestrafung lange Zeit nach der Tat zur Normbekräftigung nicht mehr erforderlich ist. Besonders im Zeitalter der elektronischen Datenspeicherung und der Massenmedien können Erinnerungen an eine Straftat archiviert und jederzeit im kollektiven Gedächtnis aktualisiert werden, was dann eine staatliche Reaktion erforderlich machen kann.1371 Ob und wie lange eine staatliche Strafverfolgung und -vollstreckung zur Abhaltung anderer von strafbaren Handlungen längere Zeit nach der Tat bzw. der Urteilsfällung erforderlich ist, hängt generell wohl von der Schwere und der Art der Tat ab. In spezialpräventiver Hinsicht kann in einem jahre- und jahrzehntelangen Wohlverhalten aber zweifelsfrei ein Indiz für die Besserung und für die fehlende spezialpräventive Strafnotwendigkeit gesehen werden. Dieser fehlenden spezialpräventiven Strafnotwendigkeit wird durch die Verjährung Rechnung getragen. Die Auffassung, dass die Verjährung ausschließlich mit der Zeit begründet werden muss, ist für das österreichische Recht nicht nachvollziehbar.

3.3.

Exkurs: Die gegenwärtige Suche nach den theoretischen Grundlagen der Verjährung in Deutschland

In Deutschland besteht über den Sinn und Zweck des Verjährungsinstitutes und die Berechtigung der einzelnen für die Verjährung sprechenden Argumente kein Konsens. Als Argumente für die Verjährung werden einerseits der »Rechtsfrieden, andererseits die Prinzipien der Rechtssicherheit und Verfahrensökonomie« genannt. Sie sei »im Interesse Aller: der Täter, der Opfer, der Beschuldigten und Anzeigeerstatter, vor allem aber der Allgemeinheit und der Rechtsgemeinschaft.«1372 Die deutsche Strafrechtswissenschaft versteht unter Rechtsfriede zumindest überwiegend das Bedürfnis der Gesellschaft, einen »Schlussstrich« unter die Straftat zu ziehen und nach einer Aussöhnung mit dem/der TäterIn.1373 Gegen die Begründung der Verjährung mit dem so verstandenen Rechtsfrieden wird vorgebracht, dass die Bevölkerung den verbreiteten Fällen der Alltagskriminalität schnell, manchmal schon unmittelbar nach der Tat gleichgültig gegenüberstehe. Gleichgültigkeit und das Bedürfnis nach einem Schlussstrich seien aber nicht dasselbe.1374 Bei schweren Straftaten läge sogar die Annahme nahe, dass das 1371 1372 1373 1374

MANTOVANI 2014, S. 80–86. POLLÄHNE 2012, S. 16. HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 8. HÖRNLE 2015, S. 121.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Unbehelligt-Lassen der TäterInnen eher Empörung verursache, als einem allgemeinen Bedürfnis nach einem Schlussstrich zu entsprechen.1375 Zeitverstreichen könne zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens führen, zwingend sei das aber nicht, denn das Strafbedürfnis der Bevölkerung könne mit dem zeitlichen Abstand zur Straftat nicht nur ab-, sondern auch zunehmen.1376 In Deutschland wird dazu häufig auf die NS-Verbrechen verwiesen, deren mangelnde Ahndung den Frieden in der Nachkriegsgesellschaft zunächst nicht gefährdete. Auf eine Phase der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung in der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte aber eine Auseinandersetzung mit der NSZeit, Empörung der nachgeborenen Generationen über die fehlende Verfolgung des NS-Unrechtes und das zunehmende Bedürfnis nach einer judiziellen Vergangenheitsbewältigung.1377 Diese Entwicklung lässt sich anhand der deutschen Verjährungsdebatten nachvollziehen. Bei der ersten deutschen Verjährungsdebatte im Jahr 1963 lehnte die Bevölkerung eine Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten überwiegend ab. Bei der vierten und letzten Verjährungsdebatte im Jahr 1979 sprach sich erstmals eine knappe Mehrheit für die Einführung der Unverjährbarkeit von Mord und damit die weitere Verfolgung schwerster NS-Straftaten aus.1378 In Österreich war dagegen spätestens ab den 1970er-Jahren das Bedürfnis nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit vorherrschend.1379 Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass nicht pauschal gesagt werden kann, wann die Bevölkerung bei einer bestimmten Kategorie von Straftaten den Wunsch nach einem Schlussstrich sowie einer Versöhnung mit dem/der TäterIn und wann nach einer strafrechtlichen Ahndung verspürt.1380 Außerdem stellt sich die Frage, ob es in präventiver Hinsicht tatsächlich Sinn macht, die zeitliche Grenze der Strafverfolgung bei Systemstraftaten, an denen große Teile der Bevölkerung beteiligt sind, nach dem Rechtsempfinden eben dieser Bevölkerung zu bestimmen. Vielmehr erscheint naheliegend, dass eine staatliche Strafverfolgung zur Bekräftigung der Rechtsordnung, der Verhinderung gleichartiger Taten und der Vermittlung von Wertehaltungen vor allem dann notwendig ist, wenn ein solches vom Staat mit Strafe bedrohtes Verhalten von der Allgemeinheit nicht verurteilt wird. Als weiteres aktuelles Beispiel für die Ambivalenz der These »Rechtsfriede durch Verjährung« beschreibt der Potsdamer Strafrechtsprofessor Wolfgang

1375 1376 1377 1378 1379 1380

HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 8f. ASHOLT 2016, S. 146–148. ASHOLT 2016, S. 148–150. Dazu ausführlich Kapitel IV.4.1., IV.4.6. und IV.6. Dazu ausführlich Kapitel V. ASHOLT 2016, S. 151f.

Der Rechtsgrund der Verjährung

281

Mitsch1381 den Kinderraub in Spanien, der während der Franco-Diktatur begann und bis in die 1990er-Jahre andauerte. Dessen Ausmaß wurde erst in den letzten Jahren aufgedeckt. Bis zu 300.000 Babys wurden ihren Eltern, insbesondere Angehörigen der Opposition, jungen unverheirateten Müttern und armen Familien, geraubt und an streng katholische und meist wohlhabende Paare verkauft.1382 Eine strafrechtliche Verfolgung des Kinderraubes ist wegen Verjährung nicht mehr möglich. Nach Auffassung von Mitsch steht die Verjährung in diesem Fall einer »reinigenden«, »befreienden« Aufarbeitung jahrelang verdrängter Konflikte und damit auch der Wiederherstellung des Friedens entgegen.1383 Nahezu alle europäischen Staaten, die nach einem Systemwechsel Unrechtstaten des alten Regimes verfolgen wollten, mussten sich mit der Verjährung auseinandersetzen. Im Vordergrund stand die Frage, ob das Systemunrecht trotz der eingetretenen Verjährung verfolgt werden konnte.1384 Die strafrechtliche Verfolgung systemischer Menschenrechtsverletzungen durch das alte Regime gehört zum Kern der Transitional Justice. Darunter wird die Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden, die ein Staat nach einem Regimewechsel ergreift und die darauf abzielen, schwere Menschenrechtsverletzungen des Vorgängerregimes auszugleichen, also Opfer zu entschädigen, TäterInnen zu bestrafen, die Wahrheit über die Taten aufzudecken, Verantwortlichkeiten zu benennen und Wiederholungen zu verhindern. Die strafrechtliche Verfolgung des Systemunrechts stellt neben der Wahrheitsfindung und Reparation nur einen, freilich wesentlichen Bereich dieses Transformationsprozesses dar.1385 Das Unterlassen einer strafrechtlichen Verfolgung, z. B. wegen der inzwischen eingetretenen Verjährung, und das Ignorieren von massiven Menschenrechtsverletzungen können in Post-Konfliktgesellschaften vorübergehend als einfacher Ausweg erscheinen, gefährden aber die Ziele der Transitional Justice, schwerwiegende Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten, um Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung zu erreichen.1386 In diesem Sinn äußerte auch der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan: »There cannot be real peace without justice. […] We have learned that the rule of law delayed is lasting peace denied,

1381 Auf: https://www.uni-potsdam.de/de/ls-mitsch/index (abgerufen am 18. 11. 2020). 1382 CLEVEN 2018, auf: https://www.welt.de/geschichte/article182596390/Franco-Diktatur-Die -geraubten-Babys-spalten-Spanien-bis-heute.html (abgerufen am 30. 10. 2020). 1383 CLEVEN 2018, auf: https://www.welt.de/geschichte/article182596390/Franco-Diktatur-Die -geraubten-Babys-spalten-Spanien-bis-heute.html (abgerufen am 30. 10. 2020); MITSCH 2019, S. 703f. 1384 TRAPPE 2009, S. 129–131. 1385 FREUDENREICH 2010, S. 18–21; WIRTH 2011, S. 461. 1386 What is Transitional Justice? auf: https://www.ictj.org/about/transitional-justice (abgerufen am 1. 3. 2021).

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

and that justice is a handmaiden of true peace.«1387 Nach dieser Auffassung ist dauerhafter Friede ohne judizielle Aufarbeitung des vorangehenden Unrechts nicht möglich. Rechtsfriede kann freilich auch anders definiert werden. Soweit erkennbar ist, wird unter diesem Begriff in Österreich lediglich verstanden, dass ein Konflikt nicht mehr staatlich ausgetragen werden kann. Auf dem Papier, für das Recht, ist der Konflikt erledigt.1388 Einem so verstandenen Rechtsfrieden dient die Verjährung zweifellos. Dann wird die Begründung der Verjährung mit dem Rechtsfrieden aber inhaltsleer und sagt nicht mehr, als dass der Staat den Konflikt nicht mehr klären, sondern beenden und »Papierfriede« will.1389 Dem Argument der Rechtssicherheit für den/die TäterIn oder die Allgemeinheit durch Verjährung wird entgegengehalten, dass die Verjährungsregeln überaus kompliziert und differenziert sind, sodass es für eine/n juristische/n Laiin/Laien nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, ob und wann die Verjährung eintritt.1390 In Bezug auf den/die TäterIn wird zudem bezweifelt, ob diese/r einen Anspruch auf Rechtssicherheit hat, also, ob dessen/deren Vertrauen lange Zeit nach der Tat nicht mehr strafrechtlich verfolgt zu werden, überhaupt schutzwürdig ist.1391 Vom Aspekt der Vergeltung ausgehend wird vorgebracht, dass die Notwendigkeit eines Schuldausgleichs abnimmt, wenn der/die TäterIn über einen langen Zeitraum hinweg in Furcht vor der Strafverfolgung oder Strafe gelebt hat.1392 Damit wird eine Art poena naturalis angenommen. Dieser Gedanke stammt aus dem französischen Recht und wurde früher als »Sühnetheorie« bezeichnet.1393 Ihr zufolge stellt die Furcht vor der Strafe ein Strafäquivalent dar. Gegenwärtig wird dieser Vorstellung entgegengehalten, dass die im Einzelfall mögliche Reue und Furcht vor der Strafe nicht verallgemeinerungsfähig sind.1394 Als weiterer Grund für die Verjährung wird angeführt, dass diese einen »Disziplinierungseffekt« auf die Strafverfolgungsbehörden habe und sie zu zeitnahem Einschreiten anhalte.1395 Dieses Argument wird zurecht als nicht überzeugend erachtet, weil die Verjährung einer Straftat, die durch Nachlässigkeit der Strafverfolgungsorgane verursacht wurde, für diese selbst keine negativen Konse1387 UN-Pressemitteilung, 24. 9. 2003, auf: http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsI D=8339&Cr=justice&Cr1= (abgerufen am 23. 3. 2009). 1388 RECHBERGER/SIMOTTA 2017, S. 9f; VOLLMAIER 2009, S. 67. 1389 In diesem Sinn auch VOLLMAIER 2009, S. 67 in Bezug auf die zivilrechtliche Verjährung. 1390 HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 8. 1391 ASHOLT 2016, S. 106. 1392 SATZGER 2012, S. 434f. 1393 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.4. 1394 ASHOLT 2016, S. 121f; HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 10; HÖRNLE 2015, S. 122. 1395 SATZGER 2012, S. 435.

Der Rechtsgrund der Verjährung

283

quenzen hat und die Verjährung im Übrigen unabhängig von einer schuldhaften Verzögerung ist.1396 Überforderte und gleichgültige PolizeibeamtInnen und StaatsanwältInnen könne die Verjährung kaum zu Aktivität, sondern eher zu weiterem Zuwarten anspornen, um dann »endlich Ruhe zu haben«.1397 Es wird aber als ungerecht erachtet, Verzögerungen im Ermittlungsverfahren pauschal auf individuelles Versagen anstatt auf beschränkte Ressourcen zurückzuführen.1398 Die Entlastung der Justiz stellt ebenfalls ein Argument für die Verjährung dar.1399 Die Verjährungsfristen werden aber nach der Schwere der Straftaten bestimmt, woraus geschlussfolgert wird, dass Kapazitätserwägungen ein Motiv für die Verjährung sein können, aber nicht deren eigentlichen Grund darstellen, denn justizökonomisch wäre es wohl, alle Delikte nach kurzer Zeit verjähren zu lassen.1400 Nach einer anderen Auffassung sind die Argumente, die die Verjährung tragen, zwar überwiegend pragmatisch-prozessualer Natur, können aber nur die Verjährung von leichten bis mittelschweren Straftaten rechtfertigen.1401 Asholts Verjährungstheorie zufolge stellt nicht, was in der Zeit zwischen Tat und Urteil bzw. zwischen Urteil und Strafvollstreckung passiert (beispielsweise eine Besserung des Täters/der Täterin, ein Schwinden der Beweismittel oder eine Wiederherstellung des Rechtsfriedens), sondern die Zeit selbst den Rechtsgrund der Verjährung dar.1402 Dazu zieht Asholt den Begriff des materiellen Unrechts heran und geht von einem »Schmelzen der Relevanz des Unrechts bis zum vollständigen Erlöschen« in der Zeit aus.1403 Die konkrete Straftat verliere ihren materiellen Unrechtsgehalt. Verjährung bedeute, dass im Zeitpunkt des Verjährungseintrittes objektiv kein strafrechtliches Unrecht mehr vorhanden sei, an das die staatliche Beurteilung anknüpfen könne, denn wenn kein strafrechtlich relevantes Unrecht vorliege, habe die Strafe keinen Bezugsgegenstand mehr.1404 Das hochkomplexe Konzept Asholts beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Zeitvorstellungen,1405 wobei er von einem Stufenmodell ausgeht: Der Kernbereich grundlegender Normen unterliege als »überpositives Recht« nicht dem Einfluss der Zeit. Dieses beanspruche überzeitliche Gültigkeit. Das positive Recht gelte dagegen nur für einen bestimmten Zeitabschnitt. Auf der dritten Stufe werde das Recht durch die rechtserhebliche Situation, die konkrete Straftat, konkretisiert. Dieses konkrete Rechtsverhältnis unterliege unmittelbar 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405

ASHOLT 2016, S. 104. HÖRNLE 2015, S. 123. HÖRNLE 2015, S. 123. SATZGER 2012, S. 435; VORMBAUM 1997, S. 501f. ASHOLT 2016, S. 104f. HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 17; HÖRNLE 2015, S. 123. ASHOLT 2016, S. 179. ASHOLT 2016, S. 280. ASHOLT 2016, S. 281. ASHOLT 2016, S. 177–223.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

der Zeit und verändere sich durch diese.1406 Diese zeitbedingte Veränderung bezeichnet Asholt als Abnehmen der strafrechtlichen Relevanz und rechtfertigt damit die Verjährung.1407 Asholts These lässt freilich Fragen offen. So zieht Asholt die klassischen Verjährungsbegründungen wie die zeitbedingte Wiederherstellung des Rechtsfriedens, die Abnahme der generalpräventiven Strafnotwendigkeit sowie des Vergeltungsbedürfnisses der Rechtsgemeinschaft und die Besserung des Täters/ der Täterin ausnahmslos in Zweifel und hält keine davon für völlig überzeugend.1408 Wenn aber sämtliche Strafzwecke unabhängig vom Zeitverstreichen fortbestehen sollen, stellt sich die Frage, wie gleichzeitig die Unrechtsrelevanz der Tat abnehmen kann, denn wenn man einen zeitunabhängigen Fortbestand generalpräventiver Strafbedürfnisse, spezialpräventiver Strafbedürfnisse und Vergeltungsbedürfnisse wegen einer Straftat annimmt, erscheint schwer vorstellbar, dass dieses strafrechtliche Unrecht zugleich nicht mehr relevant sein soll. Die Verjährungstheorie Asholts scheint auf der Begründung von dessen Habilitationsbetreuer Thomas Vormbaum, emeritierter Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und juristische Zeitgeschichte an der Universität Hagen,1409 aufzubauen, der ebenfalls davon ausgeht, dass das strafrechtliche Unrecht mit der Zeit seine Relevanz für die Gegenwart verliert. Nach Auffassung Vormbaums sind für die Abnahme der Unrechtsrelevanz freilich die Veränderungen in der Gesellschaft, die Unrechtsbewertung durch diese sowie die Wesensänderung des Täters/der Täterin entscheidend.1410 Mitsch zieht die These Asholts (und implizit auch Vormbaums) von der abnehmenden Relevanz des strafrechtlichen Unrechts mit der Zeit zumindest in außergewöhnlichen Fällen in Zweifel. Als Beispiel beschreibt Mitsch die Verfolgung des Unglücks bei der Loveparade in Duisburg, bei dem 21 Menschen ums Leben kamen und 652 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Da eine Urteilsfällung vor Eintritt der im deutschen Strafgesetzbuch statuierten absoluten Verjährungsfrist von zehn Jahren für die fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung nicht zu erwarten war, hatte der Vorsitzende der Strafkammer vorgeschlagen, das Strafverfahren gegen die Angeklagten einzustellen.1411 Die Reaktionen auf diesen Vorschlag waren Empörung und Ablehnung. Nach Auffassung von Mitsch belegen sie, dass sich »in den zehn Jahren, die seit der 1406 1407 1408 1409

ASHOLT 2016, S. 249f, 260. ASHOLT 2016, S. 253, 259. ASHOLT 2016, S. 177–179, siehe dazu schon Kapitel VII.3.2. Auf: https://www.fernuni-hagen.de/universitaet/aktuelles/2017/01/am-24-vormbaum-pro ells-preis.shtml (abgerufen am 18. 11. 2020). 1410 VORMBAUM 1997, S. 497–499. 1411 GRUNAU 2020, auf: https://www.dw.com/de/loveparade-2010-fragen-nach-schuld-und-ve rantwortung/a-54144724 (abgerufen am 30. 10. 2020); MITSCH 2019, S. 722.

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285

Loveparade-Katastrophe verstrichen sind, eine die Verjährung rechtfertigende Beruhigung in der Bevölkerung und erst recht bei den betroffenen Opfern und Opferangehörigen nicht eingestellt hat«.1412 Er vermutet sogar, dass das von vielen als Skandal empfundene Unvermögen der Strafrechtspflege zur fristgerechten strafrechtlichen Aufarbeitung dieses erschütternden Falles das Bedürfnis der Bevölkerung nach konsequenter strafrechtlicher Verfolgung erhöht und dazu geführt hat, dass das Ahndungsbedürfnis nach Eintritt der Verjährung stärker war als zuvor.1413 Ein anderes aktuelles Beispiel für die Steigerung der Unrechtsrelevanz mit der Zeit stellen nach Auffassung Mitschs die schon erwähnten massenhaften Zwangsadoptionen von Kindern während der Franco-Diktatur in Spanien dar, deren Umfang erst vor wenigen Jahren öffentlich bekannt wurde. Nach Auffassung von Mitsch werfen diese Fälle die Frage auf, ob die Zeit nicht nur eine »relevanzmindernde Wirkung in Bezug auf das Strafrechtsunrecht« haben kann, sondern es auch »spezifische Ausprägungen von Relevanz« gibt, die mit dem Zeitverstreichen überhaupt erst entstehen und sich steigern. Die Verjährung erachtet er als »Produkt des realen Zustandes der Welt«, dessen Veränderung (beispielsweise im Hinblick auf die Lebenserwartung, die Kriminalitätsbelastung sowie die Zerstörung der geoökologischen Systeme) auch die Verjährung in Frage stellen könne.1414 »Wird heute im Jahr 2019 eine Gewässerverunreinigung begangen, ist diese Tat spätestens im Jahr 2029 verjährt. Kann man sich nicht vorstellen, dass z. B. im Jahr 2050 die strafrechtliche Ahndung dieser Tat auf großes gesellschaftliches Interesse stieße, wenn es die Verjährung nicht mehr gäbe?«1415 Dieser kurze Einblick in den aktuellen deutschen Diskurs verdeutlicht, dass die Suche nach dem Rechtsgrund der Verjährung in Deutschland nicht abgeschlossen ist. Es werden allerdings durchwegs Argumente vorgebracht, die aus den vorigen Kapiteln bereits bekannt sind, auch wenn diese Begründungen in Österreich gegenwärtig nicht vertreten werden. Selbst die These Asholts erscheint nicht völlig neu. Sie erinnert an die Begründung der Verjährung mit der Macht der Zeit, die insbesondere von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu dessen Ende beliebt war.1416 Angesichts des großen Stellenwertes, den der Vergeltungs- und 1412 MITSCH 2019, S. 722f. 1413 MITSCH 2019, S. 722f; inzwischen wurden auch die Verfahren gegen die letzten Angeklagten wegen Verjährung eingestellt; BURGER 2020, auf: https://www.faz.net/aktuell/poli tik/love-parade-prozess-die-katastrophe-nach-der-katastrophe-16867750.html (abgerufen am 30. 10. 2020). 1414 MITSCH 2019, S. 723f. 1415 MITSCH 2019, S. 724; dass die Relevanz von strafrechtlichem Unrecht aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen nicht nur ab-, sondern auch zunehmen kann, zeigen in Österreich im Übrigen die in Kapitel VII.4. und VII.5. besprochenen Straftaten. 1416 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.–IV.5. und Kapitel V.

286

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Sühnegedanke in Deutschland hat, und der nahezu geschlossenen Ablehnung von »Vergeltung als Strafzweck« in der österreichischen Judikatur und Strafrechtswissenschaft ist der deutsche Diskurs freilich nur eingeschränkt auf Österreich übertragbar.

4.

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

4.1.

Vorgeschichte des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998

»Ex-Zögling klagt an: ›Groer hat mich sexuell mißbraucht‹. Der Fall Groer«, diese Titelgeschichte des Profils stellte im März 1995 einen Tabubruch dar. Ein ehemaliger Schüler beschuldigte niemand Geringeren als den Erzbischof von Wien, Vorsitzenden der österreichischen Bischofskonferenz und Kardinal Hans Hermann Groër, ihn als Kind sexuell missbraucht zu haben. Der Veröffentlichung waren langjährige Recherchen vorangegangen. Der verantwortliche Redakteur Joseph Votzi kannte aus seiner eigenen Internatszeit Berichte von angeblichen sexuellen Übergriffen Groërs auf ehemalige Mitschüler, die von Groër in Religion unterrichtet worden waren. Öffentlich gegen Groër auftreten wollte jedoch zunächst niemand. Das Profil veröffentlichte schließlich als Art Annonce für Groër Opfer einen Hirtenbrief Groërs, in dem dieser aus der Bibel zitierte »Weder Knabenschänder noch Lustknaben werden in den Himmel kommen.«1417 Empört von dieser Aussage meldete sich tatsächlich ein ehemaliger Schüler Groërs, Josef Hartmann, und erzählte in einem Interview, von Groër mehr als zwanzig Jahre zuvor als vierzehnjähriger Internatsschüler missbraucht worden zu sein.1418 Die katholische Kirche und ihre Würdenträger stellten sich zunächst hinter den Erzbischof und verteidigten diesen (»kranke Seelen«, »Bubenstreich«).1419 Der Bericht des Profils und die Veröffentlichung der Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Groër, den höchsten österreichischen katholischen Geistlichen, löste eine Dynamik aus: Immer mehr vorgebliche Missbrauchsopfer von Geistlichen meldeten sich zu Wort und machten ihre Geschichte öffentlich. Unterdessen bezichtigten auch immer mehr ehemalige Schüler Groërs den Kardinal des 1417 VOTZI 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich/spotlight-groer-affaere-tabubruch-62 67726 (abgerufen am 30. 10. 2020). 1418 Addendum 20. 3. 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrauch/groer/ (abgerufen am 30. 10. 2020); Interview von Josef Votzi mit Josef Hartmann, in: Profil 13, 27. 3. 1995, abgedruckt in: CZERNIN 1998, S. 78–82; VOTZI 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich /spotlight-groer-affaere-tabubruch-6267726 (abgerufen am 30. 10. 2020). 1419 Addendum 20. 3. 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrauch/groer/ (abgerufen am 30. 10. 2020); VOTZI 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich/spotlight-groer-affaere-ta bubruch-6267726 (abgerufen am 30. 10. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

287

Missbrauchs. Groër wies die Vorwürfe zurück, gab inhaltlich aber keine weitere Stellungnahme ab.1420 Noch vor Ostern des Jahres 1995 trat er als Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz zurück und zog sich in das von ihm gegründete Kloster Marienfeld zurück. Ein Jahr später wurde er zum Prior des Hauses St. Josef in Maria Roggendorf, einem Ableger des Stift Göttweigs, seinem Stammkloster, ernannt.1421 Während es still um die Affäre Groër zu werden begann, wurde der Kardinal im Dezember 1997 ins Stift Göttweig eingeladen, um dort Benediktiner-Fratres zu Diakonen zu weihen. Daraufhin konfrontierten mehrere Mönche ihren Abt Clemens Lashofer mit Vorwürfen gegen Groër. Sie berichteten, von diesem sexuell bedrängt und sogar im Beichtstuhl zu homosexuellen Handlungen gezwungen worden zu sein. Groërs wegen hätten mehrere Mönche das Kloster verlassen. Ein Dutzend dieser angeblichen Opfer Groërs brachten ihre Vorwürfe schriftlich vor. Abt Lashofer enthob Groër daraufhin seiner Funktion als Prior des Hauses in Maria-Roggendorf und beantragte nach Vorwürfen der Medien, er habe die Anschuldigungen gegen Groër zu lange ignoriert, eine Apostolische Visitation des Vatikans. Diese wurde bewilligt und vom Abt-Präses der Benediktiner, dem Amerikaner Marcel Rooney, durchgeführt, der tagelang Mönche und Ausgetretene befragte.1422 Rooneys Visitationsbericht wurde nie veröffentlicht.1423 Drei Jahre, nachdem das Profil erstmals über die Vorwürfe berichtet hatte, erklärten die Bischöfe Christoph Schönborn, Johann Weber, Georg Eder und Egon Kapellari im Jahr 1998 aber, zur »moralischen Gewissheit« gelangt zu sein, dass die Vorwürfe gegen Groër »im Wesentlichen zutreffen«.1424 Groër bat »Gott und die Menschen« um Vergebung, »wenn ich Schuld auf mich geladen habe«.1425 Er musste von allen kirchlichen Ämtern zurücktreten und lebte fortan zurückgezogen in einem Kloster der Nazareth-Schwestern in Dresden.1426 Zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Vorwürfe gegen Groër kam es aber wegen der eingetretenen Verjährung nicht.1427 1420 Addendum 20. 3. 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrauch/groer/ (abgerufen am 30. 10. 2020); VOTZI 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich/spotlight-groer-affaere-ta bubruch-6267726 (abgerufen am 30. 10. 2020). 1421 WORM 1998, S. 713f. 1422 WORM 1998, S. 714. 1423 WORM 1998, S. 714. 1424 Wortlautauszüge aus Erklärungen um Causa Groer, abgedruckt in: Der Standard 24. März 2003, auf: https://www.derstandard.at/story/1249998/wortlautauszuege-aus-erklaerungen -um-causa-groer (31. 10. 2020). 1425 Wortlautauszüge aus Erklärungen in der Causa Groer, abgedruckt in: Der Standard 24. März 2003, auf: https://www.derstandard.at/story/1249998/wortlautauszuege-aus-erk laerungen-um-causa-groer (31. 10. 2020). 1426 WORM 1998, S. 714. 1427 WORM 1998, S. 717; ausführlich dargestellt wird die Affäre Groër in CZERNIN 1998.

288

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Die Missbrauchsaffäre fügte der katholischen Kirche schweren Schaden zu und hatte eine Welle von Kirchenaustritten zur Folge. Im März 1995 führte sie zu einem Kirchenvolksbegehren. Die Initiative »Wir sind Kirche« sammelte mehr als 500.000 Unterschriften und forderte grundlegende Reformen in der katholischen Kirche wie die Abschaffung des Pflichtzölibats und die volle Gleichberechtigung von Frauen.1428 Justizminister Nikolaus Michalek (parteilos) setzte indessen eine Arbeitsgruppe zur Reform des Sexualstrafrechts ein, die ihre Tätigkeit Anfang des Jahres 1997 aufnahm. Ihre Aufgabe war es, die Grundlagen für eine umfassende Erneuerung des Sexualstrafrechts sowie für flankierende Maßnahmen zu erarbeiten. Einige als besonders dringend erkannte Reformpunkte wurden mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 umgesetzt.1429

4.2.

Die Anlaufhemmung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 für Sexualstraftaten an Minderjährigen

Nach der im Jahr 1998 geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs 1974 betrug die Verjährungsfrist für den Grundtatbestand der Vergewaltigung (§ 201 StGB)1430 und des Beischlafs mit Unmündigen (§ 206 StGB)1431 angesichts der Höhe der Strafandrohungen (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren) zehn Jahre.1432 Hatten die Vergewaltigung oder der Beischlaf mit dem/der Unmündigen eine Schwangerschaft, eine schwere Körperverletzung1433 oder gar den Tod des Opfers zur Folge oder wurde die vergewaltigte Person durch die Tat längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt oder in besonderer Weise erniedrigt, so erhöhte sich der gesetzliche Strafrahmen, sodass die Verjäh1428 Addendum 20. 3. 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrauch/groer/ (abgerufen am 30. 10. 2020); Eine Chronologie der Ereignisse, auf: https://wir-sind-kirche.at/ueber-uns/ge schichte (31. 10. 2020); VOTZI 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich/spotlight-groe r-affaere-tabubruch-6267726 (abgerufen am 30. 10. 2020). 1429 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 8. 1430 »Wer eine Person mit schwerer, gegen sie gerichteter Gewalt oder durch eine gegen sie gerichtete Drohung mit gegenwärtiger schwerer Gefahr für Leib oder Leben zur Vornahme oder Duldung des Beischlafes oder einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen. Als schwere Gewalt ist auch eine Betäubung anzusehen.« (§ 201 Abs. 1 StGB); sämtliche Gesetzesauszüge dieses Abschnittes stammen aus der bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsänderungsgesetzes im Jahr 1998 gültigen Fassung des Strafgesetzbuches 1974, sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet. 1431 »Wer mit einer unmündigen Person den außerehelichen Beischlaf unternimmt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.« (§ 206 Abs. 1 StGB). 1432 § 57 Abs. 2 StGB; ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 11. 1433 Eine länger als 24 Tage dauernde psychische Beeinträchtigung des Opfers mit Krankheitswert stellt eine schwere Körperverletzung dar (siehe dazu § 84 Abs. 1 StGB).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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rungsfrist dann zwanzig Jahre betrug.1434 Wenn die Vergewaltigung nicht mit schwerer gegen das Opfer gerichteter Gewalt oder durch eine gegen dieses gerichtete Drohung mit einer gegenwärtigen schweren Gefahr für Leib oder Leben, sondern »nur« mit einfacher Gewalt, mit Entziehung der persönlichen Freiheit oder mit Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben begangen wurde, war nur eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr angedroht und die Verjährungsfrist betrug drei Jahre.1435 Beim Grundtatbestand der »Geschlechtlichen Nötigung« (§ 202 StGB),1436 der »Schändung« (§ 205 StGB),1437 der »Unzucht mit Unmündigen« (§ 207 StGB)1438 sowie beim »Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses« (§ 212 StGB)1439 und der »Kuppelei« (§ 213 StGB)1440

1434 § 201 Abs. 3, § 206 Abs. 2 StGB iVm § 57 Abs. 2 StGB. 1435 § 201 Abs. 2 StGB iVm § 57 Abs. 2 StGB. 1436 »Wer außer den Fällen des § 201 eine Person mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zur Vornahme oder Duldung einer geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.« (§ 202 StGB). 1437 « Wer eine Person weiblichen Geschlechtes, die sich in einem Zustand befindet, der sie zum Widerstand unfähig macht, oder die wegen einer Geisteskrankheit, wegen Schwachsinns, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen (Abs. 1). Wer eine Person, die sich in einem Zustand befindet, der sie zum Widerstand unfähig macht, oder die wegen einer Geisteskrankheit, wegen Schwachsinns, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, außer dem Fall des Abs. 1 zur Unzucht mißbraucht oder zu einer unzüchtigen Handlung mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen (Abs. 2).« (§ 205 StGB). 1438 »Wer eine unmündige Person auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht mißbraucht oder zu einer unzüchtigen Handlung mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.« (§ 207 Abs. 1 StGB). 1439 »Wer sein minderjähriges Kind, Wahlkind, Stiefkind oder Mündel und wer unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber einer seiner Erziehung, Ausbildung oder Aufsicht unterstehenden minderjährigen Person diese zur Unzucht mißbraucht oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine unzüchtige Handlung an sich selbst vorzunehmen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.« (§ 212 Abs. 1 StGB). 1440 »Wer eine Person, zu der er in einem der im § 212 bezeichneten Verhältnisse steht, unter den dort genannten Voraussetzungen zur Unzucht mit einer anderen Person verleitet oder einer solchen Unzucht zuführt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen (Abs. 1). Handelt der Täter, um sich oder einem anderen einen Vermögensvorteil zu verschaffen, so ist er mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen (Abs. 2).« (§ 213 StGB).

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

betrug die Verjährungsfrist fünf Jahre.1441 Hatte die Unzucht mit dem/der Unmündigen eine schwere Körperverletzung des Opfers zur Folge, erhöhte sich die Verjährungsfrist auf zehn Jahre. Wenn die Unzucht mit dem/der Unmündigen oder die »Geschlechtliche Nötigung« den Tod des Opfers zur Folge hatte, betrug die Verjährungsfrist zwanzig Jahre.1442 Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 wurden die Straftatbestände des »Beischlafs mit Unmündigen« und der »Unzucht mit Unmündigen« geändert und durch die Straftatbestände des »Schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen«1443 und des »Sexuellen Missbrauchs von Unmündigen«1444 ersetzt. Die Strafandrohungen für den schweren sexuellen Missbrauch und den Missbrauch von Unmündigen entsprachen denen für den Beischlaf mit Unmündigen und der Unzucht mit Unmündigen. Der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen war aber weiter gefasst als der Beischlaf mit Unmündigen und

1441 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 8. 1442 § 202 Abs. 2, § 207 Abs. 2 StGB iVm § 57 Abs. 2 StGB. 1443 »Wer mit einer unmündigen Person den Beischlaf oder eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternimmt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen (Abs. 1). Ebenso ist zu bestrafen, wer eine unmündige Person zur Vornahme oder Duldung des Beischlafs oder einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen (Abs. 2). Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) oder eine Schwangerschaft der unmündigen Person zur Folge, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren, hat sie aber den Tod der unmündigen Person zur Folge, mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren zu bestrafen (Abs. 3). Übersteigt das Alter des Täters das Alter der unmündigen Person nicht um mehr als drei Jahre und hat die Tat weder eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) noch den Tod der unmündigen Person zur Folge, so ist der Täter nach Abs. 1 und 2 nicht zu bestrafen, es sei denn, die unmündige Person hätte das dreizehnte Lebensjahr noch nicht vollendet (Abs. 4).« (§ 206 StGB idFv Strafrechtsänderungsgesetz 1998, BGBl I 1998/153). 1444 »Wer außer dem Fall des § 206 eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vornimmt oder von einer unmündigen Person an sich vornehmen läßt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen (Abs. 1). Ebenso ist zu bestrafen, wer eine unmündige Person zu einer geschlechtlichen Handlung (Abs. 1) mit einer anderen Person oder, um sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, dazu verleitet, eine geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen (Abs. 2). Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) zur Folge, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, hat sie aber den Tod der unmündigen Person zur Folge, mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren zu bestrafen (Abs. 3). Übersteigt das Alter des Täters das Alter der unmündigen Person nicht um mehr als vier Jahre und ist keine der Folgen des Abs. 3 eingetreten, so ist der Täter nach Abs. 1 und 2 nicht zu bestrafen, es sei denn, die unmündige Person hätte das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet (Abs. 4).« (§ 207 StGB idFv Strafrechtsänderungsgesetz 1998, BGBl I 1998/153).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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umfasste auch Handlungen, die zuvor nur unter den Tatbestand der Unzucht mit Unmündigen subsumiert worden waren.1445 Eine Hemmung bzw. eine Verlängerung der Verjährungsfrist bei bestimmten Straftatbeständen hatte das österreichische Strafgesetzbuch ursprünglich nicht vorgesehen. Diese Rechtslage wurde – »nicht zuletzt im Lichte jüngster aufsehenerregender Fälle sexuellen Missbrauchs, insbesondere an Kindern« – als unbefriedigend angesehen, da viele Sexualstraftaten an Unmündigen erst Jahre nach deren Begehung, oft erst nach Ablauf der Verjährungsfrist, bekannt werden würden.1446 Die Erläuternden Bemerkungen verwiesen auch auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die zeigen würden, dass Personen, die im Kindesalter sexuell missbraucht worden seien, oft erst mit Erreichen der Adoleszenz (oder noch später) über den Tathergang sprechen könnten und erst dann fähig seien, das Erlebte zu verarbeiten. Dies gelte vor allem dann, wenn die Missbrauchshandlungen im Familienverband stattgefunden hätten, wo die Möglichkeit der manipulativen Druckausübung um ein Vielfaches größer sei.1447 Diesen Argumenten für eine Verlängerung der Verjährungsfrist wurde das geminderte Strafbedürfnis gegenüber einem/einer TäterIn entgegengehalten, der/die sich während der Verjährungsfrist wohl verhalten hat. Außerdem komme es nach Ablauf einer gewissen Zeit zu einer Verdünnung der Beweislage und die Beweisführung werde mangels verlässlicher Beweismittel immer schwieriger.1448 Auf diesen zuletzt angeführten prozessualen Erwägungen baute ein Haupteinwand gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf: Ein Freispruch würde sich mangels verlässlicher Beweismittel und des damit verbundenen Unvermögens, den/die TäterIn strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können, psychisch negativ auf das Opfer auswirken.1449 Trotz dieser Bedenken wurde mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 eine Hemmung der Verjährung für taxativ aufgezählte Sexualstraftaten gegen Minderjährige bis zur Erreichung der Volljährigkeit (nach § 21 Abs. 2 ABGB in der jeweils geltenden Fassung) eingeführt. Zur Bezeichnung derselben etablierte sich der Begriff Anlaufhemmung,1450 weil der Beginn des Verjährungsverlaufs gehemmt wurde. Ziel dieser Maßnahmen war es, eine längere Strafverfolgungsmöglichkeit für diese Delikte zu eröffnen, womit vorrangig der besonderen psychologischen Situation eines zur Tatzeit minderjährigen Opfers Rechnung 1445 Dafür wurden die Alterstoleranzklauseln ausgeweitet, siehe dazu SCHWAIGHOFER 1998/ 1999. 1446 Nikolaus Michalek, StenProtNR 20. GP, 137. Sitzung des Nationalrates v. 17. 7. 1998, S. 73. 1447 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12. 1448 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12. 1449 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12; in diesem Sinn beispielsweise SCHWAIGHOFER 1998/ 1999. 1450 Zu den verwandten Begriffen der Fortlauf- und Ablaufhemmung siehe Kapitel VI.3.3.a.

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getragen und der besondere Unrechtsgehalt des sexuellen Kindesmissbrauchs unterstrichen werden sollte.1451 Eine inhaltsgleiche Regelung existierte in Deutschland bereits seit dem Jahr 1994: Nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 78b Abs. 1 Z 1) ruhte bei sexuellem Missbrauch von Kindern, sexuellem Übergriff, sexueller Nötigung, Vergewaltigung mit oder ohne Todesfolge und sexuellem Missbrauch (§§ 176-179 dStGB) die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Die Begründung dafür war ähnlich wie in Österreich. Außerdem erhoffte man sich in Deutschland von den längeren Verfolgungsmöglichkeiten eine abschreckende Wirkung.1452 Das Strafrechtsänderungsgesetz 1998 führte dazu, dass die Verjährung bei der Vergewaltigung (§ 201 StGB), der geschlechtlichen Nötigung (§ 202 StGB), der Schändung (§ 205 StGB), dem schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen (§ 206 StGB), dem sexuellen Missbrauch von Unmündigen (§ 207 StGB), dem Missbrauch eines Autoritätsverhältnis (§ 212 StGB) sowie der Kuppelei (§ 213 StGB) erst mit der Volljährigkeit des Opfers zu laufen begann.1453 Diese Aufzählung war abschließend. Nach den Erläuternden Bemerkungen sollte dadurch keinesfalls der Eindruck einer negativen Bewertung der Sexualität als solcher oder einer Verharmlosung rein körperlicher Gewalt gegenüber Kindern entstehen. Vielmehr sei rein körperliche Gewalt im Allgemeinen sichtbarer, auffälliger und damit unabhängig von der Artikulationsfähigkeit des Kindes schon aus diesem Grund unmittelbarer und leichter verfolgbar als sexuelle Gewalt.1454 Außerdem nahm der Gesetzgeber an, dass die Barrieren gegenüber dem Ingangsetzen einer Strafverfolgung bzw. der Schaffung der Voraussetzungen hierfür bei Sexualstraftaten ungleich höher seien als bei rein körperlichen Misshandlungen. Als Ursachen dafür wurden die »Natur des sexuellen Missbrauchs«, die damit verbundenen psychischen Implikationen auf Seiten der Opfer sowie der trotz steigender Anzeigenzahlen in jüngster Zeit immer noch gegebene Grad an Tabuisierung gesehen. Innerhalb des Sexualstrafrechts beschränkte sich die Verjährungshemmung auf jene schweren Delikte, bei denen dem Opfer entweder Gewalt angetan wurde (§§ 201, 202 StGB), keine Gewalt angetan zu werden brauchte, weil es bereits widerstandsunfähig war, oder ihm die Diskretions- oder Dispositionsfähigkeit fehlte (§ 205 StGB) oder es sich kraft Altersunterschiedes oder Beziehung zum Täter in einem strukturellen Gewaltbzw. Autoritätsverhältnis befand (§§ 206, 207, 212, 213 StGB).1455 Die Fristverlängerung galt rückwirkend für noch nicht verjährte Straftaten: Die Verjährungshemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB war »auch auf vor dem 1451 1452 1453 1454 1455

ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12. SCHWAIGHOFER 1998/1999. § 58 Abs. 3 Z 3 StGB idFv Strafrechtsänderungsgesetz 1998, BGBl I 1998/153. ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12. ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 12.

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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Inkrafttreten begangene Taten anzuwenden, sofern die Strafbarkeit zu diesem Zeitpunkt nicht bereits erloschen« war.1456 Damit statuiert das Strafrechtsänderungsgesetz eine »unechte« Rückwirkung. Eine solche bezieht sich auf vor dem Inkrafttreten der Verjährungsverlängerung begangene Taten, aber im Gegensatz zur »echten« Rückwirkung nur dann, wenn diese noch nicht verjährt sind. Die Fälle, die Anlass für diese Regelung gewesen waren, waren aber überwiegend bereits verjährt und daher von der »unechten« Rückwirkung nicht erfasst.1457 Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Der 37-jährige Josef behauptet, im Jahr 1995 mit 14 Jahren, das heißt im Jahr 1972, missbraucht worden zu sein.1458 Die Verjährungsfrist von zehn Jahren für den Grundtatbestand der Unzucht mit Unmündigen begann nach der bis zum Jahr 1998 geltenden Rechtslage im Jahr 1972 zu laufen und endete im Jahr 1982. Bei Inkrafttreten des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 war diese Tat seit 16 Jahren verjährt.1459 Einen Widerspruch zum verfassungsgesetzlichen Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK stellte diese »unechte Rückwirkung« nicht dar. Denn Art. 7 EMRK untersagt lediglich die Verurteilung wegen einer Handlung oder Unterlassung, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war, sowie die Verhängung einer höheren als der zur Tatzeit angedrohten Strafe.1460 Außerdem betrachtet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verjährungsvorschriften nicht als Regelungen des materiellen Rechts, sondern des Prozessrechtes, die nicht in den Schutzbereich des Art. 7 EMRK fallen.1461 Ob eine echte Rückwirkung, das heißt in diesem Fall eine Verjährungshemmung bis zur Volljährigkeit des Opfers, auch bei nach der alten Rechtslage verjährten Taten mit der Konsequenz eines möglichen »Wiederauflebens« des staatlichen Strafanspruchs möglich gewesen wäre, wurde im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens nicht thematisiert. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu dieser Frage liegt noch nicht vor.1462 Grundsätzlich sind in Österreich Strafgesetze nur auf Taten anzuwenden, die nach ihrem Inkrafttreten begangen werden. Auf früher begangene Taten sind sie dann anzuwenden, wenn die Gesetze, die zur Zeit der Tat gegolten haben, für den/ 1456 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 37. 1457 So insbesondere sämtliche Vorwürfe gegen Groër; WORM 1998, S. 717. 1458 Interview von Josef Votzi mit Josef Hartmann, in: Profil 13, 27. 3. 1995, abgedruckt in: CZERNIN 1998, S. 78f. 1459 Sofern der/die Beschuldigte in der Verjährungsfrist weitere Taten begangen hat, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen, endet die Verjährungsfrist für alle Taten aber erst mit Ablauf der letzten Frist (§ 58 Abs. 2 StGB). Im Fall Groërs waren offenbar alle ihm vorgeworfenen Taten verjährt. 1460 ErläutRV 1230 BlgNR 20. GP, S. 37. 1461 HARTER 2014, S. 35f. 1462 Vgl. dazu EGMR v. 22. 6. 2000 (Coeme u. a. gegen Belgien) Nr. 32492/96; KLEINE-COSACK 2013, S. 422; GRABENWARTER/ PABEL 2016, S. 558f.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

die TäterIn in ihrer Gesamtauswirkung nicht günstiger waren (§ 61 StGB). Nach der Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshof ist die Verjährung aber generell nach dem im Entscheidungszeitpunkt geltenden Recht zu beurteilen, nach dem Recht des Tatzeitpunktes nur dann, wenn die Verjährung bereits während dessen Geltung eingetreten ist und die Tat bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung straflos wurde. Als potentiell den Entfall der Strafbarkeit bewirkende Normen sind Verjährungsvorschriften damit in den Günstigkeitsvergleich einzubeziehen, vermögen die Rechtslage aber nur dann zu Gunsten des Täters/der Täterin zu beeinflussen, wenn das die Strafaufhebung aktualisierende Fristende auf einen Zeitpunkt fällt, in dem die jeweilige Verjährungsnorm in Geltung ist. Ansonst nimmt der Oberste Gerichtshof eine rückwirkende Ausdehnung des strengeren Verjährungsrechts auf Altfälle vor, weil die strafbefreiende Wirkung der Verjährung erst mit Ablauf der Verjährungsfrist eintritt.1463 Diese Argumentationslinie des OGH wird vereinzelt kritisiert, weil damit der materiell-rechtlichen Einordnung der Verjährung als Strafaufhebungsgrund die Grundlage entzogen werden würde, sodass diese nur noch als Verfolgungshindernis fungieren könne.1464 Rechtspolitisch wird damit aber zweifellos das vom Gesetzgeber intendierte Ergebnis erzielt.

4.3.

Verjährung und Institutionsversagen

Es dauerte mehrere Jahre, bevor institutioneller Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlungen in Österreich erneut öffentlich diskutiert wurden. Das Thema blieb allerdings präsent. Immer wieder wurden aufsehenerregende Fälle von schweren Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch in und durch kirchliche Institutionen publik gemacht. Diese betrafen aber zunächst nicht Österreich, sondern insbesondere Irland und die USA.1465 In Deutschland und Österreich wurde das Thema des Kindesmissbrauchs durch Angehörige der katholischen Kirche erst im Jahr 2010 zu einem Problem für die katholische Kirche. Den Anfang machte der Leiter des Canisius-Colleges der Jesuiten in Berlin Klaus Mertens, der zu Jahresbeginn aufdeckte, dass Jesuiten in den 1970er- und 80er-Jahren systematisch und über Jahre hinweg Schüler missbraucht hätten. Damit begann das »annus horribilis« für die katholische Kirche in Deutschland. In den folgenden

1463 MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB § 57 RZ 23. 1464 So insbesondere DURL 2011, S. 93. 1465 Kurier 15. 2. 2019, auf: https://kurier.at/chronik/welt/chronologie-des-missbrauchsskandal s-in-der-katholischen-kirche/400408160 (abgerufen am 11. 11. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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Monaten wurden Dutzende weitere Verdachtsfälle in deutschen Bistümern bekannt.1466 Die »Welle der Schande«1467 schwappte auf Österreich über, wo in rascher Folge immer neue Missbrauchsvorwürfe gegen Geistliche und Ordensmitglieder geäußert und schwere Misshandlungen und Missbrauchsfälle in katholischen Institutionen aufgedeckt wurden.1468 Die Zahl der Kirchenaustritte erreichte ein Rekordniveau. Die katholische Kirche stand unter Druck und war zum Handeln gezwungen.1469 Sie reagierte mit der Einsetzung der Unabhängigen Opferschutzkommission, die von der ehemaligen steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic geleitet wird. Diese soll seither als Anlaufstelle für Betroffene fungieren und diesen eine Wiedergutmachung für erlittenen Missbrauch anbieten. Mutmaßliche Täter werden an die Diözesankommissionen gemeldet und die Fälle, die sich ab dem Jahr 2000 ereigneten, direkt an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Mit Stand 2019 waren dies sechzehn Fälle, von denen sieben demselben Priester zuzuordnen sind.1470 Dagegen erhielten über 2.000 Betroffene Ausgleichszahlungen. Je nach Missbrauchsfall wurden 5.000, 15.000 oder 25.000 € ausbezahlt, nur in Extremfällen noch größere Summen. Im Durchschnitt ergibt sich ein Betrag von knapp 11.000 € für die Betroffenen. Bisher wurde ca. 93 % aller Anträge stattgegeben.1471 Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Australien, den USA und Irland, wo unabhängige, staatliche Kommissionen eingerichtet wurden, hat in Österreich die katholische Kirche selbst die Aufarbeitung übernommen. Die KlasnicKommission untersucht im Auftrag der Kirche die Vorwürfe gegen ihre Geistlichen, um für sie über Entschädigungsgesuche ihrer Opfer zu entscheiden. Aus diesem Grund wird der »Unabhängigen« Opferschutzkommission der Vorwurf gemacht, eine Täterorganisation zu sein und eben diese Unabhängigkeit infrage gestellt. Die meisten Täter des kirchlichen Missbrauchs scheinen in Österreich unbehelligt zu bleiben. Die Kirchenarchive blieben im Gegensatz zu einigen anderen Ländern verschlossen. Eine statistische Erfassung von Priestern und Ordensmitgliedern, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, gibt es bis 1466 SPRICK/HETZEL 2020, auf: https://www.sueddeutsche.de/politik/vatikan-katholische-kir che-missbrauchsskandal-chronik-1.4339949 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1467 LAHODYNSKY 2010, auf: https://www.profil.at/home/missbrauch-die-kirche-krise-gesch ichte-264726 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1468 LAHODYNSKY 2010, auf: https://www.profil.at/home/missbrauch-die-kirche-krise-gesch ichte-264726 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1469 LAHODYNSKY 2010, auf: https://www.profil.at/home/missbrauch-die-kirche-krise-gesch ichte-264726 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1470 HÖNIGSBERGER/BRAUNISCH/BELJAN 2019, auf: https://www.addendum.org/missbra uch/aufarbeitung-international/ (abgerufen am 3. 11. 2020). 1471 HÖNIGSBERGER/BRAUNISCH/BELJAN 2019, auf: https://www.addendum.org/missbra uch/aufarbeitung-international/ (abgerufen am 3. 11. 2020).

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

jetzt nicht. Die veröffentlichten Dokumente nennen die Täter nicht namentlich.1472 Der interne Umgang der Kirche mit den Beschuldigten ist unklar. Angesichts der Anzahl an Betroffenen, der bekannten Praktik, Beschuldigte an eine andere Stelle zu versetzen, sowie einer möglicherweise gegebenen Wiederholungsgefahr bei noch lebenden Tätern erscheint dies nicht unproblematisch.1473 Kurze Zeit später wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht, dass von 1945 bis in die frühen 1990er-Jahre auch in vielen staatlichen Kinderheimen folterartige Strafen zur Erziehungspraxis gehört hatten und sexueller Missbrauch häufig vorgekommen war.1474 Transparente Untersuchungsberichte fehlen bis heute weitgehend. Tatorte waren aber Kinderheime in allen neun Bundesländern.1475 Nach dem Vorbild der Klasnic-Kommission wurden Landeskommissionen zur Entschädigung der Opfer eingerichtet.1476 Die Entschädigungspraxis ist länderweise unterschiedlich geregelt. In Kärnten wurden im Durchschnitt 12.000 € an 124 Opfer bezahlt.1477 In Wien erhielten rund 2.400 Opfer im Schnitt 17.700 € Entschädigung. Zusätzlich wurde ihnen eine kostenlose Psychotherapie angeboten.1478 Vorarlberg zahlte im Durchschnitt 9.000 € Entschädigung an 159 Opfer,1479 Tirol nur etwa 5.000 € an ca. 580 Personen.1480 Die Therapiekosten übernahmen diese beiden Länder für einen Bruchteil der Betroffenen.1481

1472 Wie es auch datenschutzrechtlich geboten ist. 1473 HÖNIGSBERGER/BRAUNISCH/BELJAN 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrau ch/aufarbeitung-international/ (abgerufen am 3. 11. 2020); HÖNIGSBERGER/BRAUNISCH 2019, auf: https://www.addendum.org/missbrauch/zwischen-kerkerhaft-und-versetzung/ (abgerufen am 11. 11. 2020); HÖNIGSBERGER/BRAUNISCH u. a. 2019, auf: https://www.ad dendum.org/missbrauch/ (abgerufen am 11.11. 2020). 1474 MEINHART 2016, auf: https://www.profil.at/oesterreich/heimkinder-klagen-an-oesterrei ch-6499707 (abgerufen am 14. 5. 2017); Wiener Zeitung 17. 4. 2012, auf: https://www.wiener zeitung.at/nachrichten/chronik/oesterreich/451380_Missbrauch-Vom-Taeter-zum-Opfers chutz.html (abgerufen am 3. 11. 2020). 1475 WEISS 2012, S. 10f, dessen Werk »Tatort Kinderheim. Ein Untersuchungsbericht« bietet einen gesamtösterreichischen ersten Überblick über die Geschehnisse in den Kinderheimen. 1476 Wiener Zeitung 17. 4. 2012, auf: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/oester reich/451380_Missbrauch-Vom-Taeter-zum-Opferschutz.html (abgerufen am 3. 11. 2020). 1477 ORF Kärnten 16. 11. 2016, auf: https://kaernten.orf.at/v2/news/stories/2809263/ (abgerufen am 3. 11. 2020). 1478 ORF Wien 12. 11. 2019, auf: https://wien.orf.at/stories/3021309/ (abgerufen am 3. 11. 2020). 1479 Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2015. Mangels aktueller Daten müssen sie herangezogen werden. Die Opferschutzstelle war aber über diesen Zeitpunkt hinaus tätig; Vorarlberger online 6. 7. 2015, auf: https://www.vol.at/missbrauch-in-heimen-studie-offenba rt-systematische-gewalt/4383596 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1480 Salzburger Nachrichten 31. 7. 2020, auf: https://www.sn.at/panorama/oesterreich/missbrau ch-in-tiroler-heimen-land-verzichtet-auf-verjaehrung-90892687 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1481 Vorarlberger online 6. 7. 2015, auf: https://www.vol.at/missbrauch-in-heimen-studie-offen bart-systematische-gewalt/4383596 (abgerufen am 3. 11. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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Wie in Bezug auf die katholische Kirche kann auch hier kritisiert werden, dass die Entschädigung der Opfer durch die verantwortlichen »Täterorganisationen« erfolgt. Die Länder waren für die Heime verantwortlich. Die Obsorge für die Heimkinder lag teilweise bei ihren Behörden. Naheliegend ist, dass diese in vielen Fällen zumindest ihre Aufsichtspflichten verletzten. Als dramatisches Beispiel für eine solche fehlende Leitung und Aufsicht durch Verwaltungskörper eignet sich das Kinderheim Wilhelminenberg der Stadt Wien, weil die Geschehnisse im Heim gut aufgearbeitet sind und der Untersuchungsbericht allgemein zugänglich ist. In Bezug auf viele andere Heime ist ein behördliches Versagen angesichts des Umfangs an Fällen zumindest wahrscheinlich,1482 kann aber mangels transparenter Untersuchungen schwerer nachgewiesen werden.1483 In ihrem Endbericht aus dem Jahr 2013 kommt die Kommission Wilhelminenberg zu dem Ergebnis, dass die Heimkinder über Jahrzehnte schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt waren, sogar Fälle von Kinderprostitution sollen vorgekommen sein.1484 »Den verantwortlichen Stadträten war die Situation im Kinderheim Wilhelminenberg – zumindest was die physische Gewalt betrifft – spätestens seit den 1960er-Jahren in vollem Ausmaß bekannt.«1485 Die Kommission konstatiert, dass die Aufsichtsbehörden trotz massiver Beschwerden von Opfern, Verwandten und sogar von vereinzelten ErzieherInnen keine Maßnahmen gegenüber der Heimleitung vornahmen. Die Verwaltungsbehörden waren regelmäßig mit Vorwürfen konfrontiert, schenkten diesen jedoch entweder keinen Glauben, insbesondere dann nicht, wenn sie von Betroffenen selbst kamen, oder verfolgten Beschwerden nur halbherzig. Sogar nachgewiesene Verfehlungen hatten regelmäßig keine dienstrechtlichen Konsequenzen.1486 Noch im Jahr 1973 führte der damalige Leiter des Jugendamts die Probleme im Heim auf die »Art der Mädchen, die dort untergebracht sind«, zurück.1487 Auch die personellen Kontinuitäten zu Personen, die im NS-Regime tätig waren, und die mangelnde Ausbildung des Heimpersonals seien der Vollständigkeit halber erwähnt.1488 Das behördliche Totalversagen setzte sich bis zur Schließung des Heimes im Jahr 1977 fort, als alle Protokolle der MitarbeiterInnen wie etwa Dienstbücher, 1482 SIEDER/SMIOSKI 2012, S. 522–524. 1483 Die Ereignisse in anderen Wiener Heimen wurden nicht in derselben Weise erforscht; Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 216; auch aus anderen Bundesländern scheint es bislang keine derart umfassenden Untersuchungsberichte zu geben. 1484 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 210–214; ORF Wien 20. 6. 2012, auf: https://wien.orf.at/v2/news/stories/2537990/ (abgerufen am 3. 11. 2020). 1485 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 214. 1486 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 213. 1487 ZÖCHLING 2013, auf: https://www.profil.at/home/kinderheim-wilhelminenberg-zu-entse tzen-360390 (abgerufen am 13. 5. 2017). 1488 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 84, 92–102.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Protokollbücher, Dienstpläne, Personallisten oder sonstige Aufzeichnungen, die die administrativen Abläufe im Kinderheim betrafen, vernichtet wurden.1489 Wenngleich der offizielle Untersuchungsbericht darüber wenig aussagt bzw. mangels Akten aussagen kann,1490 wird politische Einflussnahme vorsichtig als »zumindest denkbar«1491 beschrieben und mehrmals auf gewerkschaftliche Involvierung hingewiesen.1492 Amtlich bekannt waren Missstände beispielsweise auch in Tirol, wo Kontrollberichte des Landes aus den 1960er- und 1970er-Jahren schwerwiegende Mängel in den Kinderheimen feststellten, aber zu keinen weiteren Konsequenzen führten.1493 Einige Bekanntheit erlangte der Fall der Erzieherin Brigitte Wanker, die sich, nachdem interne Meldungen ignoriert worden waren, an den ORF wandte. Nachdem dieser im September 1980 tatsächlich eine Reportage über die schockierenden Zustände in Tiroler Kinderheimen ausgestrahlt hatte, wurde Wanker von der Politik, Kirche, den Medien und der Öffentlichkeit in Tirol attackiert, was sie schließlich dazu veranlasste, nach Wien zu übersiedeln. Für die TäterInnen gab es keine Konsequenzen.1494 Der Historiker Horst Schreiber, Autor der Studie »Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol«, kommt zu dem Schluss: »Selbst wenn über die Zustände in den Heimen etwas herausgekommen ist, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine öffentliche Debatte zu verhindern. Heimkinder konnten die eigenen Akten nicht einsehen.«1495 Damit habe das Land aktiv zur Verjährung der Taten beigetragen.1496

4.4.

Exkurs: Die zivilrechtliche Verjährung von Schadenersatzansprüchen

Aus den beschriebenen Straftaten entstanden Schadenersatzansprüche gegenüber dem/der TäterIn und der verantwortlichen Institution. Die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche beträgt grundsätzlich drei Jahre ab Kenntnis von SchädigerIn und Schaden. Bei Minderjährigen kommt es auf den 1489 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 213; MEINHART 2016, auf: https:// www.profil.at/oesterreich/heimkinder-klagen-an-oesterreich-6499707 (abgerufen am 14. 5. 2017). 1490 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 23. 1491 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 179. 1492 Endbericht der Kommission Wilhelminenberg 2013, S. 23, 94, 129, 167, 179, 225, 233. 1493 HÖNIGSBERGER 2014, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich/recht-ist-staendig-gebe ugt-worden/80.579.223 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1494 HÖNIGSBERGER 2013, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich/heimskandal-brigitte-w anker-die-landesverraeterin/18.976.804 (abgerufen am 4. 11. 2020). 1495 SCHREIBER zitiert nach HÖNIGSBERGER 2014, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich /recht-ist-staendig-gebeugt-worden/80.579.223 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1496 SCHREIBER zitiert nach HÖNIGSBERGER 2014, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich /recht-ist-staendig-gebeugt-worden/80.579.223 (abgerufen am 3. 11. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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Kenntnisstand ihres/ihrer gesetzlichen Vertreters/Vertreterin an. Für Ansprüche aus strafbaren Handlungen, die »nur vorsätzlich begangen werden können und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sind«, gilt aber die lange Verjährungsfrist von dreißig Jahren, die unabhängig vom Kenntnisstand mit dem schädigenden Ereignis zu laufen beginnt (§ 1489 ABGB). Vergewaltigung (§ 201 StGB), geschlechtliche Nötigung (§ 202 StGB), schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen (§ 206 StGB), sexueller Missbrauch von Unmündigen (§ 207 StGB) und schwere Körperverletzungen (§ 84 StGB) erfüllen diese Definition. Bloße Misshandlungen, die als Beleidigung iSv § 115 StGB strafbar sein können, und leichte Körperverletzungen (§ 83 StGB) sind nicht mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht. Ersatzansprüche auch wegen langjähriger physischer Gewalt verjähren also nach drei Jahren, sofern diese keine schweren Körperverletzungen zur Folge haben. Die lange Verjährungsfrist beginnt grundsätzlich mit dem schädigenden Ereignis zu laufen. Bei Straftaten an Minderjährigen lief sie aber wie die kurze dreijährige Frist erst dann, wenn der/die gesetzliche VertreterIn des/der Minderjährigen von Schaden und SchädigerIn Kenntnis erlangte. Erlangte der/die gesetzliche VertreterIn keine Kenntnis, begann sie mit der Volljährigkeit des Opfers zu laufen (§ 1494 ABGB aF). Dies galt auch dann, wenn der/die gesetzliche VertreterIn selbst der/die TäterIn war (§ 1495 1. Satz ABGB) oder wenn der/die gesetzliche VertreterIn wegen eines Naheverhältnisses zu dem/der TäterIn die Rechte des/der geschädigten Minderjährigen nicht wahrnahm.1497 Das Gewaltschutzgesetz 2019 änderte diese Rechtslage und normierte für Schadenersatzansprüche minderjähriger Personen aus qualifiziert strafbaren Handlungen, die nur vorsätzlich begangen werden können und mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind (§ 1489 Satz 2 ABGB), generell eine Verjährungshemmung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des Opfers (§ 1494 Abs. 2 ABGB). Für derartige Ansprüche gilt die lange Verjährungsfrist von 30 Jahren. Sie können daher gegen den/die TäterIn mindestens bis zum 48. Lebensjahr des minderjährigen Opfers geltend gemacht werden. Diese Hemmung ist nicht mehr vom Kenntnisstand des/der gesetzlichen Vertreters/Vertreterin und seinem/ihrem Verhältnis zum/zur TäterIn abhängig. Die Änderung galt rückwirkend aber nur für Ersatzansprüche, die bei Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht verjährt waren.1498 1497 EDER-RIEDER 2003/2004; MADL in: KLETECKA/SCHAUER, ABGB-ON 1.06 § 1489, RZ 23. 1498 Initiativantrag 970 BlgNR 26. GP, S. 31; gehemmt ist der Verjährungsbeginn auch gegen Personen, die »aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit an der Durchsetzung ihrer Rechte gehindert« sind und zwar solange, »bis sie die Entscheidungsfähigkeit wieder erlangt [erg. haben] oder ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann« (§ 1494 Abs. 1 ABGB). Bis zum

300

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Die lange Verjährungsfrist von 30 Jahren ist nur auf Ansprüche gegenüber dem/der StraftäterIn selbst anwendbar, nicht aber auf Ansprüche gegenüber aus welchen Gründen auch immer mithaftenden Personen und Institutionen, die keine qualifiziert strafbaren Handlungen gesetzt haben. Für Ansprüche gegen den Geschäftsherrn, der ohne eigenes Verschulden für »Verbrechen« seiner Gehilfen mithaftet (§ 1313a, § 1315 ABGB), beispielsweise für SchulbetreiberInnen, die für kriminelle Taten ihrer LehrerInnen und ErzieherInnen haften, gilt nur die kurze Verjährungsfrist. Gleiches gilt für juristische Personen, die wegen »Verbrechen« ihrer (auch in gehobener Position tätigen) DienstnehmerInnen nur innerhalb der Dreijahresfrist ersatzpflichtig sind. Von einem Teil der Lehre wird diese Rechtsprechung des OGH kritisiert, weil juristische Personen für das Handeln ihrer Organe wie für eigenes Verhalten einzustehen hätten. Teile der jüngeren Lehre bejahen die Anwendbarkeit der langen Verjährung gegen eine juristische Person dagegen (nur) dann, wenn diese als Verband iSd § 1 Abs. 2 VbVG1499 für eine mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohte Straftat, welche nur vorsätzlich begangen werden kann, nach § 3 VbVG selbst strafrechtlich verantwortlich ist. Aufgrund des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots kann dies aber nur für solche Straftaten gelten, die nach dem Inkrafttreten des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes am 1. 1. 2006 begangen worden sind.1500 Die hier infrage stehenden Missbrauchshandlungen bzw. körperlichen Misshandlungen in den Kinderheimen fanden überwiegend im Zeitraum von 1945 bis in die frühen 1990er-Jahre statt. Anzunehmen ist, dass in den meisten dieser Fälle die Verjährung erst mit der Volljährigkeit der Opfer zu laufen begann. Gegenüber den verantwortlichen Institutionen und Körperschaften beträgt die Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche aber nur drei Jahre. Daher hatten bei Bekanntwerden der Fälle die Opfer idR keinen zivilrechtlichen Rechtsanspruch auf Entschädigung gegenüber der verantwortlichen Institution mehr. Ein Anspruch gegen den/die TäterIn, der der 30-jährigen Verjährungsfrist unterliegt, wäre eher denkbar. Für das Opfer ist ein Anspruch gegenüber der Institution und Körperschaft aber deutlich günstiger, vor allem, weil dessen/deren Haftungsfond größer ist. Außerdem ist wahrscheinlich, dass inzwischen viele TäterInnen gar nicht mehr am Leben sind.1501 Inkrafttreten des 2. Erwachsenen-Schutzgesetzes im Jahr 2018 wurden sie als »Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben«, bezeichnet. Die bereits begonnene Verjährungszeit läuft zwar auch nach Verlust der Geschäftsfähigkeit fort. Sie kann aber nie früher als zwei Jahre nach Wegfall der Hindernisse enden (§ 1494 Abs. 3 ABGB); MADL in: KLETECKA/SCHAUER, ABGB-ON 1.06 § 1494, RZ 4. 1499 Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz – VbVG), BGBl. 2005/151. 1500 MADL in: KLETECKA/SCHAUER, ABGB-ON 1.06 § 1489, RZ 24. 1501 ARORA 2018, auf: https://www.derstandard.at/story/2000077759800/das-spiel-auf-zeit-ge gen-die-heimopfer (abgerufen am 4. 11. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

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Die Verjährung wird im Zivilverfahren nicht von Amts wegen beachtet, der/die Beklagte muss sie einwenden (§ 1501 ABGB). Von dieser Möglichkeit machen die beklagten Körperschaften, Institutionen und TäterInnen Gebrauch und berufen sich auf die Verjährung, die nicht umsonst als »moralisch schwächster Verteidigungsgrund«1502 bezeichnet wird.1503 Denn mit der Verjährungseinrede werden die Vorwürfe inhaltlich nicht bestritten, sondern nur eingewandt, dass diese nicht mehr geklärt werden dürfen. Moralisch schwach erscheint der Verjährungseinwand vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass viele Organisationen durch ihr Verhalten aktiv zur Verjährung und dem Erlöschen eines Rechtsanspruches auf Entschädigung beigetragen haben. Schon das Wissen, dass der/die Beklagte durch Berufung auf die Verjährung eine Abweisung der Klage erreichen kann, dürfte viele Opfer von der Erhebung einer Klage, deren Erfolg ja von vornherein vom guten Willen des Beklagten abhängt, abhalten, zumal sie bei Klageabweisung als Kläger die Prozesskosten zu tragen haben. Damit sind die ehemaligen Opfer aber rechtlos und auf die freiwilligen Entschädigungen durch die Klasnic-Kommission bzw. die Landeskommissionen angewiesen. Der Landtag in Tirol hat allerdings nach heftiger Kritik der Opposition an der Praxis, mit der Verjährungseinrede Klagen von Missbrauchsopfern abzuwehren, vor kurzem ein Gesetz (Gesetz über den Verzicht des Landes Tirol auf die Einrede der Verjährung gegenüber Opfern von psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt in Heimen der Jugendwohlfahrt) beschlossen, in dem vorgesehen ist, dass das Land unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber den Insassen von Landeskinderheimen auf den Verjährungseinwand verzichtet. Dieses trat am 15. Oktober 2020 in Kraft.1504 Zum zivilrechtlichen Schadenersatz gehören insbesondere Verdienstentgang, Heilungskosten und Schmerzensgeld (§ 1325 ABGB). Dazu kommt unter Umständen noch ein Anspruch auf Entschädigung für geleistete unbezahlte oder stark unterbezahlte Zwangsarbeit.1505 Pauschale Berechnungen über die Höhe der Ersatzansprüche sind angesichts der unterschiedlichen Fallgestaltungen undurchführbar. Der zivilrechtliche Schadenersatz wäre aber wohl in den aller1502 BAR 1999, S. 582f. 1503 HÖNIGSBERGER 2014, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich/recht-ist-staendig-gebe ugt-worden/80.579.223 (abgerufen am 3. 11. 2020); ORF Wien 12. 11. 2019, auf: https://wie n.orf.at/stories/3021309/ (abgerufen am 3. 11. 2020); Vorarlberger online 6. 7. 2015, auf: https://www.vol.at/missbrauch-in-heimen-studie-offenbart-systematische-gewalt/4383596 (abgerufen am 3. 11. 2020). 1504 Salzburger Nachrichten 31. 7. 2020, auf: https://www.sn.at/panorama/oesterreich/missbrau ch-in-tiroler-heimen-land-verzichtet-auf-verjaehrung-90892687 (abgerufen am 3. 11. 2020); Anlaufstelle für Opferschutz, auf: https://www.tirol.gv.at/gesellschaft-soziales/opferschutz (abgerufen am 4. 11. 2020). 1505 HÖNIGSBERGER 2020, auf: https://kurier.at/chronik/oesterreich/tirol-liess-heimkinder-f uer-sich-schuften/811.743 (abgerufen am 4. 11. 2020).

302

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

meisten Fällen bei weitem höher gewesen als die kommissionelle Entschädigung, die nur symbolische Bedeutung haben kann. Freilich trägt im Zivilprozess das Opfer als Kläger die Beweislast. Ein Zivilprozess ist oft kostenintensiv und mit einem erheblichen finanziellen Risiko verbunden. Ob ein genereller Verzicht auf die Verjährung durch die verantwortlichen Organisationen für die Opfer tatsächlich vorteilhafter gewesen wäre als die kommissionellen Entschädigungen, kann daher nicht pauschal beurteilt werden. Zweifelsfrei wäre ein genereller Verjährungsverzicht wohl nur zusätzlich zur kommissionellen Entschädigung von Vorteil für die Opfer. Zum Ausgleich der finanziellen Nachteile der Heimkinder, viele hatten keine Ausbildung erhalten und/oder konnten nicht bzw. nur eingeschränkt am Arbeitsmarkt teilnehmen, beschloss der Nationalrat im Jahr 2017 einstimmig die Einführung der Heimopferrente. Anspruchsberechtigt sind Personen, die zwischen dem 10. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1999 in einem Kinder- oder Jugendheim des Bundes, eines Bundeslandes, einer Kirche oder in einer Pflegefamilie untergebracht waren und dort Opfer von Gewalt wurden. Die Rente gebührt aktuell in der Höhe von monatlich 325,90 €. Die Heimopferrente wird nicht versteuert und ist nicht auf das jeweilige Existenzminimum anzurechnen. Zunächst war die Anspruchsberechtigung vom vorangehenden Erhalt einer kommissionellen Entschädigung abhängig. Außerdem erhielten nur BezieherInnen einer Eigenpension und dauerhaft arbeitsunfähige BezieherInnen einer Mindestsicherung die Heimopferrente.1506 Seit dem Jahr 2018 haben den Anspruch auf Heimopferrente auch Personen, die in Kinder- und Jugendheimen oder Kranken-, Psychiatrie- und Heilanstalten der Gemeinden oder entsprechenden privaten Einrichtungen Opfer von Gewalt wurden, wenn die Zuweisung durch das Jugendamt erfolgte. Auch für Betroffene, die von den Kommissionen keine Entschädigung erhalten haben, besteht nun die Möglichkeit, vorsätzliche Gewaltdelikte bei der von der Volksanwaltschaft eingerichteten Rentenkommission darzulegen und eine Entschädigung zu erhalten. Außerdem können nun auch Personen, die Rehabilitationsgeld oder eine wegen Erwerbsunfähigkeit weitergewährte Waisenpension erhalten, um eine Heimopferrente ansuchen.1507 1506 Heimopferrente, auf: https://volksanwaltschaft.gv.at/heimopferrente (abgerufen am 9. 11. 2020); Parlamentskorrespondenz Nr. 644, 1. 6. 2017, auf: https://www.parlament.gv.at/PA KT/PR/JAHR_2017/PK0644/ (abgerufen am 9. 11. 2020); REBENWEIN 2019, auf: https://ku rier.at/chronik/wien/missbrauch-in-wiener-kinderheimen-52-millionen-fuer-die-opfer/4 00666619 (abgerufen am 9. 11. 2020). 1507 Heimopferrente, auf: https://volksanwaltschaft.gv.at/heimopferrente (abgerufen am 9. 11. 2020); Parlamentskorrespondenz Nr. 644, 1. 6. 2017, auf: https://www.parlament.gv.at/PA KT/PR/JAHR_2017/PK0644/ (abgerufen am 9. 11. 2020); REBENWEIN 2019, auf: https://ku rier.at/chronik/wien/missbrauch-in-wiener-kinderheimen-52-millionen-fuer-die-opfer/4 00666619 (abgerufen am 9. 11. 2020).

Die Verjährung von Straftaten an Minderjährigen

303

Das Heimopferrentengesetz ist nicht nur als Versuch der teilweisen Wiedergutmachung und »Geste der Verantwortung«1508 zu begrüßen, sondern auch, weil damit den Heimopfern ein echter bundesweit einheitlicher Rechtsanspruch eingeräumt wird, was gegenüber der länderweise unterschiedlichen kommissionellen Entschädigungspraxis zweifelsfrei eine Verbesserung darstellt. Die Heimopferrente wird zusätzlich zur kommissionellen Entschädigung gewährt.

4.5.

Die Anlaufhemmung des 2. Gewaltschutzgesetzes für Straftaten an Minderjährigen

Im Jahr 2008 und damit noch vor der öffentlichen Bekanntmachung des strukturellen Missbrauchs in österreichischen kirchlichen und staatlichen Kinderheimen brachte die damalige Bundesregierung (SPÖ/ÖVP) einen Gesetzentwurf für ein zweites Gewaltschutzgesetz in den Nationalrat ein, der das Ziel verfolgte, den Schutz für die Opfer von strafbaren Handlungen zu verbessern. Vor allem das Recht von Kindern auf staatlichen Schutz sollte gestärkt werden.1509 Zu diesem Zweck statuierte die Regierungsvorlage eine neue und im Vergleich zu dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 erweiterte Anlaufhemmung: »In die Verjährungsfrist werden nicht eingerechnet: […] die Zeit bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers einer strafbaren Handlung gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, wenn das Opfer zur Zeit der Tatbegehung minderjährig war«.1510 Die erweiterte Anlaufhemmung begründete die Regierungsvorlage mit Erfahrungen, die zeigen würden, dass Personen, die als Kinder oder Jugendliche Opfer einer Straftat wurden, oft sehr lange Zeit benötigen würden, um über das Geschehene hinwegzukommen. In dieser Zeit seien sie meist außer Stande, über das Erlebte zu sprechen oder gar Strafanzeige zu erstatten; häufig würden solche Erlebnisse über Jahre verdrängt werden und erst im Erwachsenenalter aus dem Unterbewusstsein wieder auftauchen. Um dieser Erkenntnis gebührend Rechnung zu tragen, solle einerseits die Zeit von der Tat bis zur Erreichung des 28. Lebensjahres des Opfers nicht in die Verjährung eingerechnet werden, andererseits die Verjährungshemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB nicht auf taxativ aufgezählte Delikte beschränkt sein, sondern allgemein bei strafbaren Hand-

1508 Heimopferrente, auf: https://volksanwaltschaft.gv.at/heimopferrente (abgerufen am 9. 11. 2020); Parlamentskorrespondenz Nr. 644, 1. 6. 2017, auf: https://www.parlament.gv.at/PA KT/PR/JAHR_2017/PK0644/ (abgerufen am 9. 11. 2020). 1509 ErläutRV 678 BglNR 23. GP, S. 4–6; Initiativantrag 271 BlgNR 24. GP, S. 15. 1510 § 58 Abs. 3 Z 3 StGB.

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lungen gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung zur Anwendung gelangen.1511 Damit verweisen die Gesetzesmaterialien auf das aus der Entwicklungspsychologie bekannte und verbreitete Phänomen der »Recovered Memory Syndrome«. Darunter versteht man, dass die Erinnerungen an einen im Kindesalter erlebten Missbrauch, speziell aus der frühen Kindheit, verdrängt und vergessen werden, aber Jahre und Jahrzehnte später plötzlich aus dem Unterbewusstsein auftauchen. Die Opfer leiden häufig an psychosomatischen Störungen wie Panikattacken, Angstzuständen, Schlaf- und Essstörungen, Durchfall, Migräne, Depressionen, (chronischen) Schmerzen oder anderen Krankheiten, Alkohol-, Zigarettenmissbrauch oder anderen Suchterkrankungen, deren Ursachen ihnen nicht bekannt sind. Oft erinnern sich die Opfer erst nach einem völligen Zusammenbruch, selbstverletzendem Verhalten oder einem Selbstmordversuch im Rahmen einer psychologischen Therapie schubweise an den erlebten Missbrauch.1512 Die traumatischen Erinnerungen tauchen häufig in Form von Sinneseindrücken auf (z. B. sich aufdrängende Bilder, Geräusche, Gerüche, Körperempfinden), die ohne Zusammenhang und isoliert ins Bewusstsein dringen können. Die Betroffenen sind oft unfähig, das Erlebte in Worte zu fassen (»speechless terror«).1513 Nicht auszuschließen ist freilich, dass Erinnerungen an Erlebnisse suggeriert werden, die tatsächlich nicht stattgefunden haben (»False Memory Syndrom«).1514 Bevor der Nationalrat das zweite Gewaltschutzgesetz beschließen konnte, kündigte die ÖVP die Regierungskoalition vorzeitig auf. Nach den Neuwahlen und der Neukonstituierung des Nationalrates brachten die SPÖ-Abgeordneten noch im Dezember 2008 einen Initiativantrag ein, der inhaltlich der Regierungsvorlage entsprach und dessen Begründung überwiegend und auch in Bezug

1511 AB 106 BlgNR 24.GP, S. 22; ErläutRV 678 BglNR 23. GP, S. 24; Initiativantrag 271 BlgNR 24. GP, S. 34f. 1512 ANZENBERGER 2010, S. 45f; EDER-RIEDER 2003/2004. 1513 Dazu kommt das belastende Gefühl, das Erlebte sei nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Es kann zu sogenannten »Voll-Flashbacks« kommen, das heißt, die Person erlebt das Geschehen im »Jetzt-Zeit-Modus«. Diese Erinnerungen entziehen sich teilweise oder vollständig der willentlichen Abrufbarkeit, können dann auch nicht verdrängt werden, EDER-RIEDER 2003/2004. 1514 Skepsis ist bei Erinnerungen an Missbrauchshandlungen, die in die Zeit vor dem dritten Lebensjahr zurückgehen, und solchen nach dem dritten Lebensjahr, die sehr detailliert dargestellt werden, angebracht, sodass andere Beweismittel wie unabhängige Zeugen oder ein Geständnis des Täters, zum Schutz des Beschuldigten vor richterlichen Fehlurteilen für erforderlich gehalten werden. In der Praxis führt ein Missbrauchsvorwurf durch das vorgebliche Opfer ohne weitere Beweismittel aber ohnehin nicht zur Verurteilung des leugnenden Beschuldigten, sondern in dubio pro reo zu einer Einstellung des Verfahrens oder zumindest einem Freispruch; ANZENBERGER 2010, S. 46f; EDER-RIEDER 2003/2004.

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auf die Verjährung übernahm.1515 Außerdem brachte der Nationalratsabgeordnete August Wöginger (ÖVP) eine von rund 2.000 Personen unterzeichnete Petition1516 ein, mit der die Abschaffung der Verjährung bei Sexualdelikten an Minderjährigen gefordert wurde.1517 Die Petition bezeichnet die Verjährung und die damit verbundene Unmöglichkeit der Verfolgung verjährter Missbrauchsfälle als »nicht nachvollziehbare gesetzliche Situation, die auf großes Unverständnis bei den Opfern und in der Bevölkerung stößt.« »Wir setzen uns für Gerechtigkeit gegen die Verjährung des sexuellen Missbrauchs ein.«1518 Die Petition und der Initiativantrag wurden in einer Sitzung besprochen und sodann das Zweite Gewaltschutzgesetz in der dargestellten Form einstimmig beschlossen, was dem Anliegen der Petition zumindest entgegenkam. Das Zweite Gewaltschutzgesetz1519 trat am 1. Juni 2009 in Kraft und damit unmittelbar bevor die massenhaften schweren Kindesmisshandlungen und Missbrauchsfälle in den österreichischen Kinderheimen einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.1520 1515 1516 1517 1518 1519

Initiativantrag 271 BlgNR 24. GP, S. 23. Petition für Verjährungsverbot für Sexualstraftaten, 1/PET, 24. GP, S. 1f. August Wöginger, StenProtNR 24. GP, 16. Sitzung v. 11. 3. 2009, S. 320. Petition für Verjährungsverbot für Sexualstraftaten, 1/PET, 24. GP, S. 1f. Bundesgesetz, mit dem die Exekutionsordnung, die Zivilprozessordnung, das Außerstreitgesetz, das Gerichtliche Einbringungsgesetz 1962, das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung 1975, das Strafvollzugsgesetz, das Tilgungsgesetz 1972, das Staatsanwaltschaftsgesetz, das Verbrechensopfergesetz, das Strafregistergesetz, das Sicherheitspolizeigesetz und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch geändert werden (Zweites Gewaltschutzgesetz – 2. GeSchG), BGBl 2009/40. 1520 StenProtNR 24. GP, 16. Sitzung v. 11. 3. 2009, S. 325–328; Weitere strafrechtliche Neuerungen des 2. Gewaltschutzgesetzes sind eine Verlängerung der Probezeit bei einer bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe wegen strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung. Darüber hinaus besteht eine zusätzliche fakultative Verlängerungsmöglichkeit bei schwereren Verurteilungen mit unter Umständen lebenslanger Überwachung. Außerdem wurde das »Institut der gerichtlichen Aufsicht« bei der bedingten Entlassung von Sexualstraftätern und sexuell motivierten Gewalttätern sowie der Tatbestand der »fortgesetzten Gewaltausübung« (§ 107b StGB) eingeführt. Für einige Sexualdelikte erweiterte das Strafrechtsänderungsgesetz den Strafrahmen, für andere brachte es Mindeststrafen. Außerdem beinhaltet das 2. Gewaltschutzgesetz ein Tätigkeitsverbot als vorbeugende Maßnahme, mit dem die Möglichkeit geschaffen wurde, Sexualstraftätern die Ausübung von bestimmten Berufen sowie von bestimmten ehrenamtlichen Tätigkeiten zu untersagen. Des Weiteren wurden mit diesem Gesetz die Tilgungsfristen für viele Sexualdelikte erweitert und entweder verdoppelt oder um die Hälfte erhöht. Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren wegen einer im 10. Abschnitt des StGB (Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung) bezeichneten strafbaren Handlung sind seit dem Inkrafttreten des zweiten Gewaltschutzgesetzes grundsätzlich untilgbar. Frühestens fünfzehn Jahre nach dem Beginn der Tilgungsfrist kann der Betroffene aber die Tilgung beantragen, über die vom erkennenden Gericht zu entscheiden ist; AB 106 BlgNR 24. GP; Zweites Gewaltschutzgesetz, BGBl 2009/40; ErläutRV 678 BglNR 23. GP; Initiativantrag 271 BlgNR 24. GP; Dadurch will das zweite Gewaltschutzgesetz den Täter für die Zukunft an der Begehung von Sexualstraftaten hindern; ErläutRV 678 BglNR 23. GP, S. 5. Dessen Resozialisierung wird freilich erschwert.

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Auch in der Schweiz zeichneten sich zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit Tendenzen hinsichtlich der Verschärfung der Verjährungsbestimmungen betreffend Kindesmissbrauch ab. So hatten bei einer Volksbefragung im Jahr 2008 52 % der Stimmberechtigten für die Unverjährbarkeit von schwerem sexuellem Missbrauch an Kindern unter zwölf Jahren gestimmt, obwohl sich sowohl der Bundesrat (das heißt die Regierung der Schweiz) als auch das Parlament für die weitere Verjährbarkeit dieser Straftaten ausgesprochen hatten, etwa, weil lange Zeit nach der Tat ein Verfahren kaum noch erfolgversprechend sei und durch die verspätete Verfahrensführung die Gefahr einer Enttäuschung und Retraumatisierung der Opfer entstehe. Am 1. Jänner 2013 trat eine entsprechende Gesetzesänderung in Kraft.1521 Beeinflusst von dieser Volksbefragung in der Schweiz stellte der Vorarlberger Landtag im Jahr 2009 einstimmig einen Antrag an die Bundesregierung, mit dem er diese aufforderte, die Unverjährbarkeit von Kindesmissbrauch zu beschließen. Die Bundesregierung kam dieser Aufforderung aber nicht nach.1522 Im Skandaljahr 2010 beantragten die Abgeordneten des BZÖ mit einem Entschließungsantrag1523 die Abschaffung der Verjährung von Verletzungs- und Missbrauchsdelikten an Minderjährigen. Der Justizausschuss lehnte diesen Antrag mehrheitlich ab.1524 Für den Antrag sprachen sich bei der Debatte im Nationalrat nur die Abgeordneten der FPÖ und des BZÖ aus, deren Sprecher auch auf die furchtbaren Ereignisse im Kinderheim Wilhelminenberg verwiesen. Der Antrag fand keine Mehrheit im Parlament.1525

1521 ODEA 2013, auf: https://www.swissinfo.ch/ger/sexualdelikte_missbrauch-verjaehrt-nichtmehr/34612082 (abgerufen am 8. 11. 2020). 1522 Abschaffung der Verjährungsfrist für Sexualdelikte gefordert, 2. 12. 2008, in: vol.at, auf: https://www.vol.at/abschaffung-der-verjhrungsfrist-fr-sexualdelikte-gefordert/2230002 (abgerufen am 09. 11. 2020); Streichung der Verjährungsfrist bei Kindesmissbrauch, 12. 3. 2009, in: vol.at, auf: https://www.vol.at/streichung-der-verjhrungsfrist-bei-kindesmissbra uch/2169945 (abgerufen am 9. 11. 2020). 1523 Entschließungsantrag betreffend die Abschaffung der Verjährungsfristen von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige, AE 1083 BlgNR 24. GP, S. 1. 1524 BIRKLBAUER 2013, FN 33. 1525 Heinz-Christian Strache (FPÖ), StenProtNR 24. GP, 135. Sitzung v. 6. 12. 2011, S. 82–84; Peter Westenthaler (BZÖ), StenProtNR 24. GP, 135. Sitzung v. 6. 12. 2011, S. 90f; Parlamentskorrespondenz Nr. 1194, 6. 12. 2011, auf: https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/ JAHR_2011/PK1194/#XXIV_NRSITZ_00135 (abgerufen am 19. 11. 2020).

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4.6.

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Die Konsequenzen der Anlaufhemmungen auf die Verfolgung der »Heimkinderverbrechen«

Die Missbrauchsfälle und schweren, zum Teil folterartigen Misshandlungen in den katholischen und staatlichen Kinderheimen, die im Jahr 2010 aufgedeckt wurden, ereigneten sich überwiegend von 1945 bis in die frühen 1990er-Jahre. Die Anlaufhemmungen des Strafrechtsänderungsgesetzes aus dem Jahr 1998 und des 2. Gewaltschutzgesetzes aus dem Jahr 2009 galten nur für Straftaten, die bei Inkrafttreten der jeweiligen Regelung noch nicht verjährt waren. Die meisten der in Frage stehenden Handlungen waren schon vor der ersten Anlaufhemmung im Jahr 1998 verjährt gewesen. Für Vergewaltigung und »Unzucht mit Unmündigen«, die weder den Tod noch eine schwere Körperverletzung oder eine Schwangerschaft des Opfers zu Folge hatten, galt damals eine zehnjährige Verjährungsfrist. Wenn diese Straftaten bis inklusive des Jahres 1987 begangen worden waren, dann waren sie im Jahr 1998, dem Jahr, in dem erstmals eine Anlaufhemmung eingeführt wurde, bereits verjährt und nicht mehr verfolgbar. Die erste Anlaufhemmung galt ab dem Jahr 1998 und damit für ab dem Jahr 1988 begangene »einfache« »Unzucht mit Unmündigen« und Vergewaltigungen. Qualifizierte »Unzucht mit Unmündigen« und qualifizierte Vergewaltigungen, für die eine Zwanzigjahresfrist galt, fielen bereits dann unter die erste und in weiterer Folge zweite Anlaufhemmung, wenn sie ab dem Jahr 1978 begangen worden waren. Einige Beispiele sollen die Rechtslage verdeutlichen:1526 Wenn etwa im Jahr 1975 ein Kind missbraucht wurde, betrug die Verjährungsfrist nach der damals geltenden Rechtslage zehn Jahre. Sie endete im Jahr 1985. Hatte der Missbrauch aber eine schwere Körperverletzung oder den Tod des missbrauchten Kindes zur Folge, betrug die Verjährungsfrist zwanzig Jahre. Diese endete im Jahr 1995, also bevor irgendwelche Sonderregelungen für derartige Taten galten. Verschiebt man den Tatzeitpunkt um einige Jahre nach hinten, ändert sich diese Rechtslage. Ein im Jahr 1980 begangener schwerer Kindesmissbrauch an einer damals Neunjährigen verjährte nach der im Tatzeitpunkt geltenden Rechtslage im Jahr 1990. Hatte die Tat aber den Tod oder eine schwere Körperverletzung des Kindes zur Folge, betrug die Verjährungsfrist zwanzig Jahre. Sie wäre im Jahr 2000 abgelaufen. Da aber ab dem Inkrafttreten des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 die Verjährung bei noch nicht verjährten (taxativ aufgezählten) Sexualdelikten erst mit der Erreichung der Volljährigkeit (damals Vollendung des 19. Lebensjahres)1527 des Opfers zu laufen begann, ist die 1526 Dabei wird davon ausgegangen, dass keine anderen Hemmungstatbestände außer § 58 Abs. 3 Z 3 StGB erfüllt sind. 1527 Die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters im Jahr 2001 auf achtzehn Jahre wirkte nicht auf diesen bereits verwirklichten Lebenssachverhalt zurück; OGH 14 Os 129/10t, EvBl 2011/63, abgedruckt in: JAP 9 (2011), S. 421–423 (422).

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Verjährungsfrist für diese Tat erst ab dem Jahr 1990 zu rechnen und wäre zwanzig Jahre später, im Jahr 2010, abgelaufen. Der Beginn der Verjährungsfrist für vorsätzliche Straftaten an Minderjährigen wurde allerdings mit dem 2. Gewaltschutzgesetz nochmals hinausgeschoben. Diese ist seit dem Jahr 2009 erst mit der Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers zu rechnen, daher verjährte die Tat erst im Jahr 2019. Für bloße Misshandlungen ohne Verletzungsfolge (§ 115 StGB) und einfache Körperverletzungen (§ 83 StGB) galt bis zum Jahr 1997 nur eine Verjährungsfrist von einem Jahr.1528 Selbst für schwere Körperverletzungen (§ 84 StGB) und Körperverletzungen mit Dauerfolgen (§ 85 StGB) galt nur eine Verjährungsfrist von fünf Jahren.1529 Auf derartige Straftaten bezog sich die erste Anlaufhemmung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 nicht, weil dieser nur taxativ aufgezählte Sexualdelikte unterlagen. Für andere Straftaten an Minderjährigen gab es bis zum Jahr 2009 keine Sonderregel. Derartige Taten, die in den Kinderheimen begangen worden waren, mussten also zeitnah verfolgt worden sein, was wohl in den seltensten Fällen passierte. Bei Aufdecken der »Heimkinderskandale« im Jahr 2010 waren sie jedenfalls verjährt. Insgesamt ist zu vermuten,1530 dass der größte Teil der Sexualdelikte und nahezu alle Misshandlungen und Körperverletzungen, die in den staatlichen und kirchlichen Kinderheimen von 1945 bis in die frühen 1990er-Jahre verübt worden waren, verjährten, ohne dass die TäterInnen vorher dafür zur Verantwortung gezogen worden wären.

4.7.

Wissenschaftliche Bewertung der Anlaufhemmungen

Die österreichische Strafrechtswissenschaft betrachtet die Anlaufhemmungen überwiegend kritisch. Gegen diese wurden die für die Verjährung sprechenden Gründe, nämlich vor allem die fehlende Notwendigkeit einer Spezialprävention bei TäterInnen, die sich während der allgemeinen Verjährungszeit nichts zu Schulden hätten kommen lassen, vorgebracht.1531 »Wenn sich ein Täter seit der Tatbegehung lange Zeit hindurch wohl verhalten hat, so hat er auch ohne Strafe eben das getan, was durch die Bestrafung in erster Linie hätte erreicht werden sollen: ihn von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten. Somit ist eine Bestrafung lange Zeit nach der Tat spezialpräventiv nicht mehr geboten.«1532 1528 Das Strafrechtsänderungsgesetz 1996 erhöhte den Strafrahmen für die leichte Körperverletzung und die Verjährungsfrist verlängerte sich auf drei Jahre; vgl. § 83 StGB idFv Strafrechtsänderungsgesetz 1996, BGBl 1996/762. 1529 Siehe dazu § 57 Abs. 2 StGB idFv BGBl 1974/60. 1530 Mangels Statistiken kann nur vermutet werden. 1531 ANZENBERGER 2011, S. 167; SCHWAIGHOFER 1998/1999. 1532 SCHWAIGHOFER 1998/1999.

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Aber auch generalpräventiv sei nach Ablauf einer längeren Zeit keine Bestrafung des Täters/der Täterin mehr notwendig: Eine positive generalpräventive Wirkung zur Stärkung der Normentreue der Bevölkerung werde am ehesten durch eine zeitnahe Reaktion des Staates auf strafbares Verhalten erzielt. Ein Schuldspruch in großem zeitlichem Abstand zu einer Tat, die bereits weitgehend in Vergessenheit geraten sei, wirke nur beschränkt oder gar nicht.1533 Außerdem wird auf die fehlende statische Erfassbarkeit einer generalpräventiven Wirkung der Strafe hingewiesen.1534 Da sie keinen legitimen Strafzweck für die Anlaufhemmung und spätere Bestrafung von Sexualstraftaten an Minderjährigen sehen, gehen einige Strafrechtswissenschaftler davon aus, dass diese nur der von ihnen abgelehnte Vergeltung dient.1535 Hinzu kämen die zunehmenden Beweisschwierigkeiten. Lange Zeit nach der Straftat sei diese kaum noch nachweisbar, weshalb das Strafverfahren in aller Regel mit einem Freispruch enden würde. Damit schade die Verjährungshemmung dem Opfer.1536 Die Einstellung des Strafverfahrens oder der Freispruch des Täters wegen Verjährung sei einem Freispruch in der Sache vorzuziehen und bewahre das Opfer vor Enttäuschung und Retraumatisierung, weil dieses bei einem Freispruch in der Sache wohl das Gefühl habe, dass ihm inhaltlich nicht geglaubt werde.1537 Außerdem können die Anlaufhemmungen dem Opfer auch schaden, wenn die Anzeige von Dritten erstattet wird, obwohl das Opfer kein Interesse an der »unangenehmen Aufwärmung von Kindheitserlebnissen« hat.1538 Andere WissenschaftlerInnen können der überraschend verbreiteten Auffassung, die Verjährung diene auch dem Opferschutz, nichts abgewinnen.1539 Es erscheine »nur schwer vorstellbar«, »dass ein Opfer sexuellen Missbrauchs zufriedener ist, wenn ihm mitgeteilt wird, dass der Täter wegen eingetretener Verjährung überhaupt nicht mehr verfolgt werden kann, als wenn ein Verfahren gegen den Täter eingeleitet wird, das dann schließlich in einem Freispruch wegen des Grundsatzes in dubio pro reo endet. In letzterem Fall bestand immerhin eine reale Chance, dass der Täter seiner (vom Opfer vermutlich als ›gerecht‹ empfundenen) Strafe zugeführt wird.«1540 Nach Meinung einiger Autoren soll die Verjährung trotz Minderjährigkeit des Opfers nach den allgemeinen Regeln zu laufen beginnen, aber bei den von der 1533 1534 1535 1536 1537 1538 1539 1540

ANZENBERGER 2011, S. 167; SCHWAIGHOFER 1998/1999. SCHWAIGHOFER 1998/1999. ANZENBERGER 2011, S. 167, 169; SCHWAIGHOFER 1998/1999. SCHWAIGHOFER 1998/1999. BIRKLBAUER 2013, S. 29f. SCHMOLLER 2000, S. 56f; SCHWAIGHOFER 1998/1999. ANZENBERGER 2010, S. 48; EDER-RIEDER 2003/2004. Wörtlich ANZENBERGER 2010, S. 48; in diesem Sinn auch EDER-RIEDER 2003/2004.

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ersten Anlaufhemmung betroffenen Delikten erst zwei bis drei Jahre nach der Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs des Opfers enden.1541 Der Innsbrucker Strafrechtsprofessor Klaus Schwaighofer schlägt außerdem vor, die Verfolgung in den von der Anlaufhemmung betroffenen Fällen von einem Antrag des Opfers abhängig zu machen, weil es denkbar sei, dass eine Verfolgung des Täters/der Täterin den Interessen des Opfers massiv widerspreche.1542 Hält man sich vor Augen, dass sexualisierte Gewalt an Minderjährigen ganz überwiegend durch Familienangehörige oder im engeren Bekanntenkreis verübt wird, erscheint freilich die Gefahr groß, dass das Opfer unter Einfluss der Familie und des Täters/ der Täterin auf einen derartigen Antrag verzichtet.1543 Des Weiteren haben Angehörige der Beschuldigten ohnehin das Recht, die Aussage zu verweigern. Auf diese Weise können Missbrauchsopfer eine strafrechtliche Verfolgung eines Täters/einer Täterin aus dem Familienverband auch nach der geltenden Rechtslage unmöglich machen. Die Salzburger Strafrechtsprofessorin Maria Eder-Rieder ging davon aus, dass für Opfer mit recovered memories die Hemmung der Verfolgungsverjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers infolge deren Sexualdelikte – je nach Schwere des Delikts – erst mit deren 23., 28. bzw. 38. Lebensjahr verjährten, jedenfalls von Bedeutung war. Zudem seien Jugendliche bei Missbrauchshandlungen im Familienkreis oft manipulativem Druck ausgesetzt. Die Furcht vor dem Täter, dessen Autorität und Einfluss bewirke, dass jugendliche Missbrauchsopfer unfähig seien, Strafanzeige zu erstatten oder bei einer Befragung eine verwertbare Aussage abzulegen.1544 Die vorgeschlagene Verkürzung der Verjährungshemmung auf zwei bis drei Jahre nach Erreichung der Volljährigkeit bezeichnet Eder-Rieder als unzureichend, um zum Abbau des psychischen Leidensdruckes von Missbrauchsopfern beizutragen. Diejenigen Opfer, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter stünden, seien bis zum 20. bzw. 21. Lebensjahr zumeist körperlich, seelisch, sozial und finanziell noch nicht gefestigt genug, um ohne Hilfe durch Außenstehende rechtliche Schritte gegen den/die TäterIn einzuleiten.1545 Zusätzlich regte Eder-Rieder an, über eine Ausdehnung der Anlaufhemmung auf alle gravierenden mit Gewalt verbundenen Delikte gegen Minderjährige wie z. B. körperliche Misshandlungen, die eine schwere Körper1541 SCHWAIGHOFER 1998/1999, S. 150–164; SCHICK in: HÖPEL/RATZ, WK2 StGB, Vorbemerkungen §§ 201–212 StGB, RZ 13f; SCHMOLLER 2000, S. 57. 1542 SCHWAIGHOFER 1998/1999. 1543 Nur 10–15 % der sexuellen Übergriffe auf Kinder werden durch einen Fremdtäter verübt. In diesen Fällen ist das Risiko des Vergessens und Verdrängens geringer; ANZENBERGER 2010, S. 45f; Sexuelle Gewalt an Kindern, auf: https://www.familie.at/site/oesterreich/famili enpolitik/krise/missbrauch (abgerufen am 8. 11. 2020). 1544 In diesem Sinn auch PHILIPP in HÖPEL/RATZ, WK StGB2, Vorbemerkungen §§ 201–212 StGB, Rz 13. 1545 EDER-RIEDER 2003/2004.

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verletzungen zur Folge haben, oder massive Freiheitsentziehungen nachzudenken. In Annäherung an das Zivilrecht1546 schlug sie die Bezugnahme auf gegen Minderjährige gerichtete Vorsatztaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind, vor.1547 Seit dem Inkrafttreten des Zweiten Gewaltschutzgesetzes gilt bei allen Delikten gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung eine Anlaufhemmung bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers, wenn dieses zur Zeit der Tatbegehung minderjährig war. Damit wurde der Umfang der Anlaufhemmung weit über das von Eder-Rieder vorgeschlagene Ausmaß erweitert, was aber überwiegend auf Kritik stieß. Die »unnötige Verlängerung der Verjährung von Delikten mit minderjährigen Opfern«1548 wird gegenwärtig vor allem deshalb kritisiert, weil diese auch Bagatelldelikte, die kein besonderes Traumatisierungspotential haben, umfasst.1549 Es gebe keinen sachlichen Grund, warum eine fahrlässige leichte Verletzung eines Säuglings länger verfolgt werden müsse als die Vergewaltigung einer erwachsenen Person.1550 »Ein Baby stürzt im Krankenhaus vom Wickeltisch und verletzt sich leicht; der Großvater sperrt seinen Enkel zur Strafe für zwei Stunden in den Keller; ein Oberstufenschüler nötigt seiner Klassenkameradin ihr Pausenbrot ab– dass all diese Delikte noch Jahrzehnte nach der Tat verfolgt werden können, ist dogmatisch kaum erklärbar und dürfte auch in den Augen der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis stoßen.«1551

4.8.

Anlaufhemmung und Unverjährbarkeit

Viele Argumente, die gegen die Anlaufhemmungen vorgebracht werden (die zunehmenden Beweisschwierigkeiten, die steigende Fehlurteilsgefahr, die Entsozialisierung eines/einer gebesserten Täters/Täterin, die schwindenden Erinnerungen an Straftaten und damit verbunden die fehlende generalpräventive Strafnotwendigkeit) gelten umso mehr für die Unverjährbarkeit von Straftaten. Die unverjährbaren Straftaten im Strafgesetzbuch sind gegenwärtig Mord (§ 75 StGB), erpresserische Entführung bei Tod eines Menschen (§ 102 Abs. 3 StGB), schwerer Raub bei Tod eines Menschen (§ 143 Abs. 2 StGB), Herstellung und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bei Wissen um den Einsatz der Kampfmittel (§ 177a Abs. 2 StGB), Vergewaltigung bei Tod der vergewaltigten 1546 1547 1548 1549 1550 1551

Siehe dazu Abschnitt 4.4. EDER-RIEDER 2003/2004. MALECZKY 2009, S. 232. ANZENBERGER 2011, S. 168f; MALECZKY 2009, S. 232f; SEILER 2015, S. 161. MALECZKY 2009, S. 232f. ANZENBERGER 2011, S. 168.

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Person (§ 201 Abs. 2 StGB), schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen bei Tod der unmündigen Person (§ 206 Abs. 3 StGB) sowie Luftpiraterie (§ 185 Abs. 2 StGB) und vorsätzliche Gefährdung der Sicherheit der Luftfahrt (§ 186 Abs. 3 StGB), jeweils bei Tod einer größeren Zahl von Menschen.1552 Unverjährbar sind außerdem strafbare Handlungen nach dem 25. Abschnitt des Strafgesetzbuches (»Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen«). Dazu kommen bestimmte Delikte in strafrechtlichen Nebengesetzen wie Wiederbetätigung nach den § 3a, 3e, 3f des Verbotsgesetzes, Seeraub bei Tod einer größeren Zahl von Menschen nach dem Seeschifffahrtsgesetz (§ 45 Abs. 2) und Suchtgifthandel nach § 28a Abs. 5 Suchtmittelgesetz1553. Besondere Gründe, die den Staat an der zeitnahen Verfolgung dieser Straftaten hindern könnten, sind im Unterschied zu den Straftaten an Minderjährigen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum/zur TäterIn stehen, und generell Sexualdelikten1554 nur bei Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erkennbar. Die Unverjährbarkeit bestimmter Delikte1555 wird im Gegensatz zu den Anlaufhemmungen von der österreichischen Strafrechtswissenschaft nicht kritisch hinterfragt.1556 Unverjährbare Straftaten können auch dann verfolgt werden, wenn der/die TäterIn 60, 70 Jahre strafrechtskonform gelebt hat.1557 Die Unverjährbarkeit ist also in spezialpräventiver Hinsicht noch weniger notwendig als die Anlaufhemmungen. Die unhinterfragte Akzeptanz der Unverjährbarkeit scheint nur durch die unterschiedliche Bewertung der Straftaten bedingt. Die unverjährbaren Straftaten werden als größeres Unrecht empfunden als die im Strafrechtsänderungsgesetz 1998 taxativ aufgezählten und erst recht als die unter die zweite Anlaufhemmung fallenden Straftaten. Die unterschiedliche Unrechtsbewertung zeigt sich im Übrigen auch in den Strafandrohungen. Schwaighofer erachtet bei den unverjährbaren Delikten eine unbefristete Strafverfolgung explizit als gerecht. Bei Sexualdelikten an Minderjährigen geht er dagegen davon aus, dass schon die Anlaufhemmung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des 1552 MAREK, in: HÖPFEL/RATZ, WK 2 StGB § 57 RZ 1. 1553 »Wer vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28b) übersteigenden Menge erzeugt, einführt, ausführt oder einem anderen anbietet, überlässt oder verschafft, ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen (Abs. 1). […] Mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe ist zu bestrafen, wer eine Straftat nach Abs. 1 begeht und in einer Verbindung einer größeren Zahl von Menschen zur Begehung solcher Straftaten führend tätig ist (Abs. 5).« (§ 28a Suchtmittelgesetz, BGBl I 1997/112, zuletzt geändert durch BGBl I 2007/110). 1554 Siehe dazu auch die Abschnitte 5–8. 1555 Zur wissenschaftlichen Bewertung der Unverjährbarkeit siehe auch Kapitel VI.3.7. 1556 Dazu auch Abschnitt 3.1. 1557 Wie die NS-Prozesse, die in Deutschland bis in die letzten Jahre gegen greise Männer geführt wurden, die seit dem Kriegsende keine Straftaten begangen haben, zeigen, siehe dazu Kapitel IV. und Kapitel V.

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Opfers »ungerecht« ist oder zumindest von der Bevölkerung als »ungerecht« empfunden wird.1558 Aufgrund der kontinuierlichen politischen Bestrebungen, die Verfolgungsdauer von Sexualdelikten an Minderjährigen auszuweiten, kann Letzteres bezweifelt werden. Lehnt man die Vergeltung als Strafzweck ab, dann kann diese im Übrigen weder eine Anlaufhemmung noch die Unverjährbarkeit rechtfertigen.

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Im Oktober 2017 warfen mehrere Frauen dem Filmproduzenten Harvey Weinstein sexuelle Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung vor. Daraufhin rief die Schauspielerin Alyssa Milano dazu auf, unter dem Hashtag #Metoo Erfahrungen über sexuelle Belästigung und Gewalt zu teilen, um auf das Ausmaß des Problems aufmerksam zu machen. In den darauffolgenden Monaten wurden in den USA und Europa in großem Umfang Fälle von sexuellem Missbrauch und Belästigung öffentlich gemacht, mit teilweise prominenten Tätern und Opfern. Die Opfer hatten regelmäßig und aus verschiedenen Motiven heraus geschwiegen.1559 Ein Teil des Problems schien auch darin zu bestehen, dass Dritte, die übergriffiges Verhalten mitbekamen oder im Nachhinein davon erfuhren, zu selten einschritten. Quentin Tarantino, der als Regisseur zahlreiche Produktionen mit Weinstein gemeinsam verwirklicht hatte, erklärte dazu selbstkritisch: »I knew enough to do more than I did«.1560 Die publik gemachten Erfahrungen lagen teilweise Jahre und Jahrzehnte zurück. Da alle kontinentaleuropäischen Staaten und die meisten US-Bundesstaaten eine Verjährung von Straftaten kennen,1561 konnten viele der geäußerten Vorwürfe, auch gegen Weinstein, strafrechtlich nicht mehr geklärt werden.1562 Die »Metoo-Debatte« erreichte auch Österreich, wo insbesondere der Skisport in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet. Den Anfang machte die Ex-Profiski1558 SCHWAIGHOFER 1998/1999. 1559 BURTSCHER 2019, auf: https://www.sn.at/wirtschaft/oesterreich/was-von-metoo-uebrigbleibt-78477022#login (abgerufen am 10. 11. 2020); Der Standard 16. 10. 2017, auf: https:// www.derstandard.at/story/2000066101816/alyssa-milano-initiierte-einen-auschrei-untermetoo (abgerufen am 9. 11. 2020), RODENBECK 2018, S. 1227f. 1560 RODENBECK 2018, S. 1227f. 1561 BRÄUEL 1954, S. 430; DOYLE 2017, S. 25–30; TRAPPE 2009, S. 129f; ZIMMERMANN 1997, S. 1. 1562 BURTSCHER 2019, auf: https://www.sn.at/wirtschaft/oesterreich/was-von-metoo-uebrig-b leibt-78477022#login (abgerufen am 10. 11. 2020); MENDEN 2018, auf: https://www.suedde utsche.de/panorama/me-too-debatte-sexualdelikt-verjaehrt-1.4118309 (abgerufen am 10. 11. 2020); LANDSBERG 2020, auf: https://www.dw.com/de/metoo-gericht-verurteilt-harve y-weinstein-wegen-vergewaltigung-zu-23-jähriger-haftstrafe/a-52689531 (abgerufen am 10. 11. 2020).

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läuferin Nicola Werdenigg, die von pädophilen Übergriffen in den 1970er-Jahren am Ski-Internat Neustift, sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch im (Profi)skisport sowie ihrer eigenen Vergewaltigung berichtete.1563 Diese Enthüllungen zogen zum Teil befremdliche Reaktionen nach sich. Der Präsident des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV) Peter Schröcksnadel forderte Werdenigg auf, dem ÖSV Namen zu nennen, setzte ihr dafür eine Frist und stellte eine Klage wegen »übler Nachrede« von Seiten des ÖSV in Aussicht.1564 Werdenigg lehnte die öffentliche Nennung von Namen ab. »Dafür habe ich keine rechtliche Grundlage mehr«.1565 Der Staatsanwaltschaft berichtete sie von den Vorfällen, die das Verfahren wegen der Vergewaltigung einstellte, weil die Tat jedenfalls verjährt war.1566 Ein Pädagoge des Ski-Internates Neustift war wegen sexuellen Übergriffen in den späten 1990er-Jahren zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Die Vorwürfe gegen den sodann von mehreren Seiten hauptbelasteten ehemaligen Heimleiter aus den 1970er-Jahren waren jedoch bereits verjährt.1567 Aus juristischer Sicht wäre Werdenigg die Nennung von Namen tatsächlich nicht zu empfehlen gewesen. Der Eintritt der strafrechtlichen Verjährung bedeutet zwar nicht, dass Vorwürfe nicht mehr öffentlich gemacht werden dürfen, da der Vorwurf sexueller Übergriffe für den Beschuldigten aber erhebliche Nachteile haben kann, hat er die Möglichkeit, sich dagegen mittels Klage zur Wehr zu setzen. Für diesen besteht in solchen Fällen die Möglichkeit, eine Privatanklage wegen »übler Nachrede« (§ 111 StGB) gegen den-, diejenige zu erheben, der/die die Vorwürfe äußert. Der/Die UrheberIn der Vorwürfe kann die Verurteilung wegen »übler Nachrede« nur durch einen Wahrheits- oder Gutglaubensbeweis abwehren.1568 Daneben käme auch eine Strafbarkeit des Urhebers/der Urheberin der Vorwürfe wegen Verleumdung oder eine zivilrechtliche 1563 WERDENIGG 2017, auf: https://www.derstandard.at/story/2000068105376/sexualisierte-g ewalt-im-skisport-ich-kann-ueber-das-erlebte-sprechen (abgerufen am 9. 11. 2020). 1564 Die Presse 28. 11. 2017, auf: https://www.diepresse.com/5328700/schrocksnadel-an-werde nigg-eine-entschuldigung-wurde-reichen (abgerufen am 9. 11. 2020); Tiroler Tageszeitung 10. 12. 2017, auf: https://www.tt.com/artikel/13708380/staatsanwaltschaft-ermittelt-oesv-er waegt-juristische-schritte (abgerufen am 9. 11. 2020). 1565 Kurier 22. 11. 2017, auf: https://kurier.at/sport/wintersport/werdenigg-das-haette-schroeck snadel-wissen-muessen/299.222.010 (abgerufen am 22. 11. 2017). 1566 BÄRTSCH 2019, auf: https://www.nzz.ch/sport/missbrauch-in-oesterreichs-skisport-aus-ei nem-schneeball-wurde-eine-lawine-ld.1449879?reduced=true (abgerufen am 9. 11. 2020); Die Presse 28. 11. 2017, auf: https://www.diepresse.com/5328700/schrocksnadel-an-werdeni gg-eine-entschuldigung-wurde-reichen (abgerufen am 9. 11. 2020). 1567 Die Presse 5. 3. 2019, auf: https://www.diepresse.com/5590156/padagoge-wegen-missbrau chs-in-skihauptschule-neustift-angeklagt (abgerufen am 22. 11. 2020); Kleine Zeitung 27. 2. 2020, auf: https://www.kleinezeitung.at/sport/5775803/Tirol_Missbrauch-an-Skihauptsch ule_Paedagoge-muss-in-Haft (abgerufen am 22. 11. 2020); Kurier 3. 12. 2017, auf: https://ku rier.at/sport/wintersport/vertuschter-sexueller-missbrauch-in-skihauptschule-neustift/30 0.628.159 (abgerufen am 22. 11. 2020). 1568 Vgl. dazu § 111 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl 1974/60 idFv BGBl I 2018/70.

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Klage auf Schadenersatz wegen Rufschädigung gegen diese/n in Betracht.1569 Eine Verurteilung des Täters/der Täterin ist dagegen nach Eintritt der Verjährung jedenfalls ausgeschlossen. Diese Rechtslage lässt sich beispielsweise am Rechtsstreit zwischen dem österreichischen Ex-Skirennläufer und Alpinskitrainer Karl Kahr und einer ehemaligen Profiskifahrerin, deren Ehemann sowie der »Süddeutschen Zeitung« verdeutlichen. Letztere hatte im Jahr 2018 getitelt: »Österreich bebt […]. Der Süddeutschen Zeitung liegen nun neue Erklärungen von früheren Leistungssportlerinnen vor, in denen eine der prominentesten Figuren überhaupt aus dem alpenländischen Skizirkus als Beschuldigter auftaucht: Karl ›Charly‹ Kahr, einer der erfolgreichsten Trainer des Österreichischen Ski-Verbandes (ÖSV). […] Die Vorwürfe gegen den heute 85-jährigen früheren Coach Kahr, der von 1966 bis 1970 die österreichischen Alpinfrauen trainierte [..], reichen von sexueller Nötigung bis zu Vergewaltigung. Die SZ hat Kahr mit Details zu drei konkreten Vorwürfen konfrontiert, erhoben von zwei Frauen, gestützt von einer weiteren.«1570 Auf Basis dieser Anschuldigungen wurde von der Staatsanwaltschaft Leoben ein Ermittlungsverfahren gegen Karl Kahr eingeleitet, jedoch, wie erwartet, kurze Zeit später wegen Verjährung eingestellt. Nach dem Bericht der »Süddeutschen« wurde aber nicht nur die Staatsanwaltschaft Leoben, sondern auch Kahr selbst aktiv: Er brachte Klage gegen die »Süddeutsche Zeitung« wegen übler Nachrede, Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und Verletzung des Identitätsschutzes ein. Außerdem klagte Kahr eine ehemalige Vorarlberger-Skirennläuferin und deren Ehemann wegen übler Nachrede.1571 Diese hatten in privaten WhatsApp-Nachrichten schwere Vorwürfe gegen Kahr erhoben, die von der Empfängerin, der Ex-Profiskifahrerin Annemarie Moser-Pröll, an Kahr weitergeleitet worden waren.1572 Das Bezirksgericht Bludenz sprach die Vorarlberger-Skiläuferin vom Vorwurf der üblen Nachrede frei, weil deren Nachrichten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen seien und die Empfängerin Moser-Pröll wisse, ob deren Inhalt wahr sei oder nicht. Geeignet, Kahr in Moser-Prölls Achtung »verächtlich zu machen oder herabzusetzen«, seien die ihr gegenüber geäußerten Vorwürfe 1569 PILNACEK/SWIDERSKI, in: HÖPFEL/RATZ, WK2 StGB § 297, Rz 16; HOLZMÜLLER 2017, auf: https://www.profil.at/gesellschaft/metoo-was-sich-aendern-muss-8381650 (abgerufen am 6. 5. 2018); MUTZ 2017, auf: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/metoo-da s-nennen-von-namen-bringt-nichts-hoechstens-eine-klage (abgerufen am 5. 5. 2018). 1570 KNUTH/KISTNER/CATUOGNO/WIEGAND 2019, auf: https://www.sueddeutsche.de/spo rt/missbrauch-oesterreich-ski-vorwuerfe-1.3859632 (abgerufen am 13. 2. 2021). 1571 ORF 24. 10. 2018, auf: https://steiermark.orf.at/news/stories/2943461/ (abgerufen am 31. 1. 2019); BERGER 2019, auf: https://derstandard.at/2000095784868/Der-Kahr-Prozess-Skispo rt-Suff-und-sexuelle-Gewalt?ref=rec (abgerufen am 7. 2. 2019). 1572 CATUOGNO 2019, auf: https://www.sueddeutsche.de/sport/missbrauchsvorwuerfe-oester reich-kahr-sueddeutsche-zeitung-1.4286018 (abgerufen am 9. 11. 2020).

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daher nicht gewesen. Der Ehemann der Ex-Skiläuferin wurde freigesprochen, weil dieser im guten Glauben, dass seine Vorwürfe wahr seien, gehandelt habe. Kahr, der von der österreichischen Skiprominenz viel Unterstützung erhalten hatte,1573 brachte zunächst Berufung gegen das Urteil ein. Später zog er diese ebenso wie die Klage gegen die »Süddeutsche Zeitung« zurück.1574 Die unter dem Schlagwort »MeToo« unter anderem auf (sozial)medialen Kanälen geführte Debatte diente nicht nur der Offenlegung einzelner Vorfälle, sondern leitete vor allem eine Diskussion über ein gesamtgesellschaftliches Problem ein. Dieses kann in seiner Gesamtheit schwerlich erfasst werden, wenn keine Einzelbeispiele erörtert werden dürfen.1575 Jedenfalls berechtigt, ihr Leid öffentlich zu machen, seien nach Auffassung des deutschen Regierungsrates und Referenten des Bundesministeriums für Justiz, Julian Rodenbeck, die Betroffenen von verjährten Übergriffen:1576 »Wenn Opfer es jahrelang aus Scham, Angst und/oder weil die Gesellschaft ihnen kein genügendes Maß an Schutz vor weiteren Nachteilen geboten hat, unterlassen haben, Vorwürfe anzuzeigen oder öffentlich zu machen, dann ist das nicht aus einer gleichgültigen Haltung gegenüber den Taten geschehen […]. Sie waren möglicherweise bedroht davon, erneut Nachteile zu erleiden, weil ihnen nicht geglaubt würde oder Vorwürfe aus vielfältigen Gründen heraus runtergespielt würden. Das ist aber ein gesellschaftlicher und zugleich ein rechtsstaatlicher Missstand: Gesellschaft und Rechtsstaat haben Opfer zu schützen, es darf keinen Raum für eine ›Kultur des Schweigens‹ bestehen. Betroffene von Übergriffen sollten die berechtigte Erwartung haben können, dass ihr Mut, Taten anzuzeigen, mit der Bestrafung der Täter belohnt wird und nicht mit weiteren Nachteilen für sie selbst einhergeht.«1577 In der Praxis werden diese Erwartungen freilich nicht erfüllt. Einen Vorteil davon, Übergriffe nach Eintritt der Verjährung öffentlich zu machen, hat das Opfer nicht. Es besteht keine Aussicht auf eine Verurteilung des Täters/der Täterin. Wenn die zivilrechtliche Verjährungsfrist abgelaufen ist, kann auch kein Schadenersatz mehr erlangt werden. Mit der Nennung des Täters/der Täterin in einer »für einen Dritten wahrnehmbaren Weise« (§ 111 StGB) ist für das Opfer zudem das Risiko verbunden, selbst wegen übler Nachrede verurteilt oder schadenersatzpflichtig zu werden. Man kann nun der Meinung sein, dass das Opfer eben innerhalb der Verjährungsfrist tätig werden muss und danach die 1573 Kurier 13. 3. 2018, auf: https://kurier.at/sport/wintersport/missbrauchsvorwuerfe-ex-ski-s tars-unterstuetzen-ex-oesv-trainer-charly-kahr/313.766.632 (abgerufen am 9. 11. 2020). 1574 CATUOGNO 2019, auf: https://www.sueddeutsche.de/sport/missbrauchsvorwuerfe-oester reich-kahr-sueddeutsche-zeitung-1.4286018 (abgerufen am 9. 11. 2020). 1575 RODENBECK 2018, S. 1232. 1576 RODENBECK 2018, S. 1232. 1577 RODENBECK 2018, S. 1230.

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Interessen des zu Unrecht und, wenn man die hohen Dunkelziffern1578 bei Sexualdelikten einkalkuliert, wohl zumindest teilweise zu Recht Beschuldigten Vorrang haben. Allerdings sind zahlreiche Gründe1579 dafür denkbar, warum insbesondere Opfer von Sexualdelikten vor Ablauf der regulären und für Straftaten an Erwachsenen nicht verlängerten Verjährungsfristen keine Anzeige erstattet haben. Die gegenwärtige Rechtslage bietet einem zu Unrecht und auch zu Recht Beschuldigten schon vor Eintritt der Verjährung die gezeigten Möglichkeiten, sich vor gesellschaftlichen Nachteilen zu schützen, die der Vorwurf einer Straftat mit sich bringen kann. Es erscheint m. E. aber durchaus nicht notwendig, den Beschuldigten zusätzlich zu begünstigen, indem man vorgeblichen und bei Sexualdelikten oft strukturell unterlegenen Opfern mittels zivilrechtlicher und strafrechtlicher Verjährung sämtliche Rechtsschutzmöglichkeiten nimmt. Diese Rechtslage ist eher dazu geeignet, eine Kultur des Schweigens zu konservieren. Zur Aufdeckung struktureller Probleme trägt sie jedenfalls nicht bei. In Österreich führte die »#Metoo-Debatte«, anders als die »Heimkinderskandale«, zu keiner öffentlichen, politischen oder wissenschaftlichen Diskussion über Änderungen im Verjährungsrecht. In Deutschland war für schwere Sexualdelikte bereits im Jahr 2015 eine Verjährungshemmung bis zum vollendeten 30. Lebensjahr des Opfers eingeführt worden. Diese gilt auch dann, wenn das Opfer im Tatzeitpunkt nicht mehr minderjährig ist. Spezifische Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Missbrauchstätern und Opfern, die auch im Erwachsenenalter vorkommen, werden damit berücksichtigt. Außerdem ruht in Deutschland seit dem Jahr 2013 auch die zivilrechtliche Verjährungsfrist von 30 Jahren für Entschädigungsansprüche wegen Verletzung des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung sowie wegen vorsätzlicher Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit bis zum vollendeten 21. Lebensjahr des Opfers und zusätzlich, solange TäterIn und Opfer in einer Haushaltsgemeinschaft leben.1580 In einigen europäischen Staaten wie den Niederlanden und Spanien wurden Sexualdelikte für unverjährbar erklärt.1581 Frankreich verlängerte im Zuge der »Metoo-Debatte« die Verjährungsfrist für sexuelle Gewalt an

1578 Siehe dazu sogleich Abschnitt 6. 1579 Dazu in Abschnitt 6. 1580 Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Verjährungsfristen. Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch, auf: https://beauftragter-missbrauc h.de/recht/strafrecht/verjaehrungsfristen (abgerufen am 8. 11. 2020). 1581 HETZEL 2010, auf: https://diepresse.com/home/panorama/religion/554719/Keine-Verjaeh rung-fuer-Sexualdelikte (abgerufen am 27. 1. 2019); Frankfurter Allgemeine 30. 10. 2018, auf: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/sexueller-missbrauch-soll-in-spanien-nic ht-mehr-verjaehren-15864671.html (abgerufen am 27. 1. 2019).

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

minderjährigen Opfern von zwanzig auf 30 Jahre, wobei die Frist dort mit der Volljährigkeit des Opfers zu laufen beginnt.1582

6.

Strafverschärfungen und Dunkelziffer bei Sexualdelikten sowie Änderung der Strafrahmen für junge Erwachsene

Die Strafrahmen für Sexualdelikte wurden in den letzten Jahren mehrfach1583 und zuletzt durch das Gewaltschutzgesetz 20191584 erhöht. Das Gewaltschutzgesetz stand unter der Zielsetzung des Opferschutzes. Die Strafverschärfungen für Sexualdelikte wurden nur mit Verweis auf das Regierungsprogramm der ÖVP und FPÖ begründet, in dem »härtere Strafen für Sexual- und Gewaltverbrecher« vorgesehen waren.1585 Die Strafandrohungen für Rückfalltäter wurden zwingend verschärft, die bestehende Mindeststrafandrohung für Vergewaltigung von einem auf zwei Jahre Freiheitsstrafe erhöht und die bedingte Strafnachsicht bei einer Verurteilung wegen Vergewaltigung ausgeschlossen. Während für junge Erwachsene bisher generell niedrigere Höchst- und Mindeststrafandrohungen bestanden hatten, gelten für sie nun bei strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben sowie Sexualdelikten, die mit einer Höchststrafe von mindestens fünf Jahren bedroht sind, die Strafandrohungen und damit die Verjährungsfristen für Erwachsene.1586 Das Gewaltschutzgesetz 2019 stieß aus verschiedenen Gründen auf Kritik der Wissenschaft, Justiz, Psychotherapeuten1587 und Opferschutzorganisationen: Der Wiener Strafrechtsprofessor Robert Kert etwa kritisierte die Strafrahmenerhöhungen, die politisch besonders hervorgehoben wurden, als populistisch. »Was ist das für eine Kriminalpolitik, dass ich auf Facebook oder in Zeitungsforen schaue, um zu sehen, was die Leute wollen?«, fragte Kert. »Das Strafrecht ist zu 1582 Frankreich bringt härtere Gesetze gegen sexuelle Gewalt auf den Weg, 22. 3. 2018, auf: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/92005/Frankreich-bringt-haertere-Gesetze-gegensexuelle-Gewalt-auf-den-Weg (abgerufen am 10. 11. 2020). 1583 Es würde den Rahmen der Arbeit übersteigen, all diese Änderungen im Detail darzustellen. Es wird daher nur auf die letzte Änderung eingegangen, um im Anschluss die geltende Rechtslage im Hinblick auf die Verjährung abschließend beurteilen zu können. Zur Strafrahmenerweiterung des 2. Gewaltschutzgesetzes 2009 und der Kritik der Wissenschaft an der darin enthaltenen Anlaufhemmung, siehe Abschnitt 4.5 und 4.7. Für einen Überblick über die Strafverschärfungen für Sexualdelikte seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches im Jahr 1974, siehe SCHENDER 2019, S. 201–203; MALECZKY 2019b, S. 81–84. 1584 Gewaltschutzgesetz 2019, BGBl I 2019/105. 1585 Initiativantrag 970 BlgNR 26. GP, S. 23, 35. 1586 KERT 2019, S. 257f. 1587 Diese kritisierten vor allem die Aushöhlung ihrer Verschwiegenheitspflicht durch eine Erweiterung der Anzeigepflicht, weil diese Betroffene und TäterInnen von offenen und ehrlichen Aussagen abhalten könne; KERT 2019, S. 256f.

Strafverschärfungen und Dunkelziffer bei Sexualdelikten

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schade, um für so eine populistische Politik missbraucht zu werden.«1588 Der damalige Übergangsjustizminister Clemens Jabloner stieß sich vor allem an den höheren Strafandrohungen für junge Erwachsene und nannte diese einen »zivilisatorischen Rückschritt«. Die österreichische Jugendgerichtsbarkeit und der schonendere Umgang mit jungen Erwachsenen hätten sich bewährt und zu einem Rückgang der Rückfallquote in dieser Altersgruppe geführt, mit deren Erhöhung nun zu rechnen sei.1589 Außerdem wurde auf die Ergebnisse empirischer Untersuchungen verwiesen, die zeigen, dass höhere Strafandrohungen (»ob drei oder fünf Jahre«) bei Gewaltund Sexualdelikten keine präventive Wirkung hätten. Wichtig sei vor allem, dass der Staat interveniere, gerade diese Voraussetzung wird bei Sexualdelikten zumeist als nicht erfüllt erachtet. Die Verurteilungsrate bei Vergewaltigung beträgt in Österreich 13 %. In 87 % der angezeigten Fälle wird das Ermittlungsverfahren eingestellt oder der Täter freigesprochen.1590 Die Verurteilungsrate bei den übrigen Sexualdelikten liegt in Österreich zwischen 9,4 % und 17,7 %.1591 Dafür verantwortlich gemacht werden überwiegend Beweisprobleme sowie auch das Fehlen von Ressourcen zur Beweissicherung und Beweiserhebung. In der geringen Verurteilungsrate wird neben anderen Gründen (wie beispielsweise Scham- und Schuldgefühle der Opfer, Druck aus dem sozialen Umfeld, Furcht vor den Konsequenzen, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, Miterleben von Strafverfahren oder öffentlichen Debatten zu sexueller Belästigung und Gewalt, bei denen die Glaubwürdigkeit von Opfern infrage gestellt wird, diesen Falschaussagen vorgeworfen werden oder Ähnliches) eine Ursache für die hohe Dunkelziffer und die geringe Anzeigebereitschaft bei Sexualdelikten gesehen.1592 Einer Prävalenzstudie zufolge wird beispielsweise nur eine von zwölf Vergewaltigungen angezeigt. In den übrigen Fällen von sexueller Gewalt erstatten insgesamt nur 6,4 % der Opfer Anzeige, was einem Verhältnis von 1:15 entspricht.1593

1588 Robert Kert, zitiert nach AICHINGER 2018, auf: https://rdb.manz.at/document/rdb.tso.LI diepresse20181801 (abgerufen am 13. 11. 2020); in diesem Sinne auch KERT 2019, S. 258; MALECZKY 2019b, S. 84. 1589 Clemens Jabloner, zitiert nach HUBER 2019, auf: https://kontrast.at/jabloner-parlament-zi vilisatorischer-rueckschritt/ (abgerufen am 13. 11. 2019). 1590 Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt Wien, Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt gegen Frauen, Stand September 2019, S. 5f. 1591 Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt Wien, Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt gegen Frauen, Stand September 2019, S. 6–9. 1592 Bund Autonome Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt Österreich (BAFÖ), Sexuelle Gewalt an Frauen: einige Zahlen, S. 4f; auf: https://www.sexuellegewalt.at/site/assets/file s/1451/zahlen_fakten-1.pdf (abgerufen am 2. 3. 2021). 1593 Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt Wien, Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt gegen Frauen, Stand September 2019, S. 5.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Die meisten Vergewaltigungen finden im Bekanntenkreis statt.1594 Vor allem dann hätten die Opfer oft Hemmungen, Anzeige zu erstatten. »Betroffene suchen meist Abhilfe oder Schutz und wollen nicht eine möglichst hohe Bestrafung des Vaters, Bruders oder Lebensgefährten.«1595 Die hohen Mindeststrafandrohungen1596 können sich bei Taten im Familienkreis negativ auf die Anzeigebereitschaft auswirken.1597 Auch der Verein autonomer Frauenhäuser erachtete die Strafverschärfungen als unnötig. Wichtig seien Maßnahmen, um die Anzeigeund Verurteilungswahrscheinlichkeit zu erhöhen, wie bessere Schulungen der Justizbeamten, die Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo erst in der Hauptverhandlung und verpflichtende Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft auch bei »Aussage gegen Aussage« in der polizeilichen Einvernahme, weil derzeit bei widersprechenden Aussagen von Opfer und Täter oft gar kein Verfahren eingeleitet werde.1598 Kritisiert werden die Strafverschärfungen des Gewaltschutzgesetzes 2019 auch im Hinblick auf die entsozialisierende Wirkung von unbedingten Haftstrafen. Dagegen würden Therapie und Verhaltenstraining die Rückfallquote senken, dafür fehle es aber meistens an finanziellen Mitteln.1599 1594 Nach der Kriminalstatistik des Jahres 2019 gab es nur bei 80 von 881 der angezeigten Vergewaltigungen keine Beziehung zwischen Täter und Opfer; Polizeiliche Kriminalstatistik 2019, S. 33. 1595 Katharina Beclin, in: SON HOANG/KROISLEITNER 2019, auf: https://www.derstandard.a t/story/2000097805486/scharfe-kritik-an-haerteren-strafen-fuer-sexualverbrecher (abgerufen am 13. 11. 2020). 1596 Bei einem Schuldspruch wegen Vergewaltigung ist eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren und bis zu zehn Jahren zu verhängen, wenn die Tat eine schwere Körperverletzung des Opfers zur Folge hat von mindestens fünf Jahren bis zu fünfzehn Jahren (§ 201 StGB). Der einvernehmliche Beischlaf oder »eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung« mit einer unmündigen Person ist mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bedroht (§ 206 StGB). Die Verjährungsfrist von zehn Jahren für den Grundtatbestand der Vergewaltigung und den »Schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen« sowie von zwanzig Jahren für die qualifizierte Vergewaltigung und den qualifizierten »Schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen« sind bis heute unverändert. Wenn die Taten aber den Tod des Opfers zur Folge haben, sind sie »mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe« zu bestrafen und unverjährbar (vgl. dazu § 201, 206 StGB iVm § 57 Abs. 1 StGB). Diese Strafrahmen für die Todesfolge wurden bereits mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2001, BGBl 2001/130 (für den »Schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen«) und dem Strafrechtsänderungsgesetz 2004, BGBl 2004/15 (für die Vergewaltigung) eingeführt. 1597 Katharina Beclin, in: SON HOANG/KROISLEITNER 2019, auf: https://www.derstandard.a t/story/2000097805486/scharfe-kritik-an-haerteren-strafen-fuer-sexualverbrecher (abgerufen am 13. 11. 2020); KERT 2019, S. 258. 1598 Katharina Beclin, Maria Rösslhuber, in: SON HOANG/KROISLEITNER 2019, auf: https:// www.derstandard.at/story/2000097805486/scharfe-kritik-an-haerteren-strafen-fuer-sexua lverbrecher (abgerufen am 13. 11. 2020). 1599 Katharina Beclin, in: SON HOANG/KROISLEITNER 2019, auf: https://www.derstandard.a t/story/2000097805486/scharfe-kritik-an-haerteren-strafen-fuer-sexualverbrecher (abgerufen am 13. 11. 2020); gemeinsame Stellungnahme der Richtervereinigung, Opferschutzver-

Strafverschärfungen und Dunkelziffer bei Sexualdelikten

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Stellt man den Strafverschärfungen für Sexualdelikte in den letzten Jahren die hohen Dunkelziffern sowie die geringen und rückläufigen Verurteilungsquoten1600 gegenüber, gewinnt man den Eindruck, dass die Strafrahmenerhöhungen nicht zur effektiveren Ahndung dieser Verbrechen beitragen. Mit ihnen wird wohl tatsächlich das Ziel verfolgt, die Begehung dieser Taten zurückzudrängen. Außerdem soll wohl der Anschein erweckt oder aufrechterhalten werden, dass gegen Sexualstraftäter streng vorgegangen wird, was in der Praxis nur in sehr wenigen Fällen geschieht. Die hohen Strafandrohungen für Sexualdelikte und die entsozialisierende Wirkung der unbedingten Haftstrafen werden durch die Anlaufhemmung für Straftaten an Minderjährigen besonders problematisch, weil es nun vorkommen kann, dass über einen Täter, der sich mehrere Jahrzehnte strafrechtskonform verhalten hat, eine hohe Freiheitsstrafe verhängt werden muss. Die fehlende spezialpräventive Strafnotwendigkeit, einen resozialisierten Täter zu bestrafen, wird aber zumindest zu einer Minderung der Strafhöhe führen, denn es stellt einen Strafmilderungsgrund dar, »wenn die Tat schon vor längerer Zeit [erg. aber vor Ablauf der Verjährungsfrist] begangen worden ist und der Täter sich seither wohl verhalten hat.«1601 Doch auch wenn viele Strafmilderungsgründe und kein Erschwerungsgrund vorliegen, müssen die Mindestfreiheitsstrafen verhängt und zum Teil vollzogen werden. Eine bedingte Strafnachsicht ist nur bei der Verhängung einer Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren möglich, wenn »die bloße Androhung der Vollziehung allein oder in Verbindung mit anderen Maßnahmen genügen werden, um ihn [erg. den Täter] von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten, und es nicht der Vollstreckung der Strafe bedarf, um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken.«1602 Bei einer Verurteilung wegen Vergewaltigung ist eine gänzliche Nachsicht der Strafe jedenfalls ausgeschlossen.1603 Tatsächlich mindern kann die Nachteile einer durch die Anlaufhemmung hinausgeschobenen Strafe für den resozialisierten Täter wohl nur die Anwendung des außerordentlichen Strafmilderungsrechts (§ 41 StGB).

1600 1601 1602 1603

bände und Rechtsanwaltskammer, zitiert nach HUBER 2019, auf: https://kontrast.at/jablone r-parlament-zivilisatorischer-rueckschritt/ (abgerufen am 13. 11. 2019); KERT 2019, S. 258; MALECZKY 2019b, S. 82, 84. Im Jahr 1993 lag die Verurteilungsrate bei Vergewaltigung immerhin bei 28,4 %. Seither ist die Tendenz fallend; Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt Wien, Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt gegen Frauen, Stand September 2019, S. 6. § 34 Abs. 1 Z 18 StGB. § 43 Abs. 1 StGB. § 43 Abs. 3 StGB; eine teilbedingte Strafnachsicht ist möglich, wenn die verhängte Freiheitsstrafe drei Jahre nicht übersteigt und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, »daß der Rechtsbrecher keine weiteren strafbaren Handlungen« begehen wird. Dies gilt auch bei der Vergewaltigung (§ 43a StGB).

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Mit der Heranziehung der Strafandrohungen für Erwachsene bei bestimmten Straftaten von jungen Erwachsenen und den daraus resultierenden längeren Verjährungsfristen wird für diese von dem Ziel der Wiedereingliederung und Resozialisierung, das mit dem Jugendgerichtsgesetz vorrangig verfolgt wird, abgegangen. Die Resozialisierung des/der jungen Erwachsenen wird insoweit anderen Zielen, die im Opferschutz, der Generalprävention, aber auch der Vergeltung gesehen werden können, untergeordnet.

7.

Opferschutz und Anlaufhemmung

Neue Erkenntnisse der Opferforschung belegen, dass die Vergeltung des ihnen zugefügten Unrechtes nicht das Hauptanliegen der Verbrechensopfer ist. Diesen geht es darum, als Opfer einer strafbaren Handlung anerkannt und im Strafverfahren schonend behandelt zu werden. Außerdem streben sie nach voller Wiedergutmachung.1604 An der Spitze der befürworteten Ziele kriminalrechtlicher Strafe steht bei den Opfern die positive Spezialprävention. Opfer richten an staatliches Strafen primär den Anspruch, den/die TäterIn zu bessern und zu resozialisieren. Es folgen Abschreckungswünsche im Hinblick auf den Rest der Bevölkerung (negative Generalprävention), fast genauso häufig aber auch im Hinblick auf den/die TäterIn (negative Spezialprävention). Aspekte der positiven Generalprävention, also Bestrebungen zur Stärkung des Rechtsbewusstseins und des Rechtsgefühls in der Bevölkerung, kommen an vierter Stelle.1605 Opferbezogene Strafrechtsansprüche (wie die Tatfolgenbeseitigung, Wiedergutmachung und Vermeidung einer erneuten Viktimisierung) reihen die Verbrechensopfer in der Hierarchie der Präferenzen hinter der positiven und negativen General- und Spezialprävention. Wenn Kriminalitätsopfer ihre Ansprüche an die Zielrichtung staatlichen Strafens formulieren, denken diese nicht zuerst an sich selbst. Die Ursachen dafür können in der strafrechtlichen Sozialisierung der österreichischen Bevölkerung liegen. Diese hat durch jahrzehntelange kriminalpolitische Diskussionen gelernt, Strafe mit Prävention zu assoziieren.1606 An sechster Stelle wird von den Opfern Spezialprävention durch Sicherung, das heißt durch Verwahrung des Täters/der Täterin im Strafvollzug, angestrebt. Der Sicherungsfunktion räumen Opfer nur gegenüber der reinen Vergeltung den Vorrang ein. Der »Vergeltung«, der »Sühne« und dem »Schuldausgleich« wird die geringste Berechtigung zugestanden. Absolute Straftheorien korrespondieren 1604 JESIONEK 2005, S. 49. 1605 SAUTNER/HIRTENLEHNER 2009, S. 213f. 1606 SAUTNER/HIRTENLEHNER 2009, S. 214.

Opferschutz und Anlaufhemmung

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damit am wenigsten mit den Bedürfnissen und der Einstellung von Kriminalitätsopfern. Angesichts der Tatsache, dass bei den Befragten Opfer von schweren Delikten überrepräsentiert waren, kann vermutet werden, dass bei einer wirklich repräsentativen Opferauswahl die absoluten Straftheorien noch stärker an Bedeutung verlieren würden.1607 Aus der Tatsache, dass österreichische Verbrechensopfer nicht primär nach Vergeltung streben, folgert der Grazer Zivilprozessrechtler Philipp Anzenberger,1608 dass die Anlaufhemmung auch dem Ziel des Opferschutzes nicht gerecht wird, habe doch die Verfolgung einer Straftat beispielsweise 30 Jahre nach der Tatbegehung nur noch einen Sinn, nämlich Vergeltung.1609 Wie oben dargestellt, ist die Auffassung, die Verjährung diene dem Opferschutz in der österreichischen Strafrechtswissenschaft, weit verbreitet. Ob dies tatsächlich der Fall ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Die Verjährung läuft auf jeden Fall dem zentralen Opferbedürfnis nach Anerkennung als Verbrechensopfer zuwider. Die strafrechtliche Verjährung erschwert auch die zivilrechtliche Erlangung einer Entschädigung, weil dann kein Privatbeteiligtenanschluss im Strafverfahren möglich ist und das Opfer auf eigene Kosten und eigenes Risiko eine zivilrechtliche Klage erheben muss. Im Zivilverfahren ist das Opfer als KlägerIn beweispflichtig. Dieses ist mit einem erheblichen finanziellen Risiko und Kosten verbunden. Es gibt keine unabhängige Ermittlungsbehörde und andere Unterstützungen des Strafprozesses für das Opfer wie etwa eine psychosoziale und juristische Prozessbegleitung (Opferanwalt). Ein verurteilendes Erkenntnis im Strafverfahren erleichtert hingegen die Erlangung einer (zusätzlichen) Entschädigung wegen einer Straftat im darauffolgenden Zivilprozess, denn die Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung wirkt derart, dass sich der/die Verurteilte im Zivilprozess nicht darauf berufen kann, er/sie habe die Tat, derentwegen er/sie vom Strafgericht verurteilt wurde, nicht begangen. Freisprechende Entscheidungen entfalten dagegen nach der Rechtsprechung des OGH keine Bindungswirkung.1610 Der Eintritt der strafrechtlichen Verjährung verhindert die Erlangung einer zivilrechtlichen Entschädigung nicht völlig, das tut die zivilrechtliche Verjährung. Für Ersatzansprüche aus Straftaten, die nicht mit einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe bedroht sind, und bloßen Fahrlässigkeitsdelikten gilt eine zivilrechtliche Verjährungsfrist von nur drei Jahren, die mit Kenntnis von Schädiger und Schaden zu laufen beginnt (§ 1489 ABGB). Im Strafrecht beträgt 1607 SAUTNER/HIRTENLEHNER 2009, S. 214. 1608 Auf: https://zivilverfahrensrecht.uni-graz.at/de/institut/instituts-mitarbeiterinnen/habiliti erte/institut-instituts-mitarbeiterinnen-habilitierte-assoz.-prof.-mmmag.-dr.-philipp-anz enberger/ (abgerufen am 20. 11. 2020). 1609 ANZENBERGER 2011, S. 167, 169. 1610 RECHBERGER/SIMOTTA 2017, S. 557–559.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

die Frist ebenfalls drei Jahre, wenn die Tat mit mehr als sechsmonatiger, aber höchstens einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist. Ansonsten gilt die kürzeste strafrechtliche Verjährungsfrist von nur einem Jahr (§ 57 Abs. 2 StGB). Wie beschrieben, beträgt bei vorsätzlichen Straftaten, die mit einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe bedroht sind, die Verjährungsfrist des ABGB für Ersatzansprüche 30 Jahre, die strafrechtliche Verjährungsfrist dagegen nur fünf bis zwanzig Jahre (§ 57 Abs. 2 StGB). Bei Minderjährigen kann sich die strafrechtliche Verjährungsfrist durch die Anlaufhemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB für Straftaten gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung bis zum vollendeten 28. Lebensjahr des Opfers deutlich verlängern. Lässt man weitere Hemmungstatbestände im Zivil- und Strafrecht außer Acht, wird aber auch die längste strafrechtliche Verjährungsfrist von zwanzig Jahren höchstens gleichzeitig mit der langen zivilrechtlichen Verjährungsfrist von 30 Jahren, die mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des minderjährigen Opfers zu laufen beginnt, enden. Nur bei den wenigen strafrechtlich unverjährbaren Taten übersteigt die Dauer der strafrechtlichen Verfolgungsbefugnis die Dauer der zivilrechtlichen Ersatzpflicht des Täters/der Täterin. Zumeist ist die strafrechtliche Verjährung kürzer und erschwert nach ihrem Eintritt dem Opfer die Erlangung einer zivilrechtlichen Entschädigung. Damit schadet die strafrechtliche Verjährung dem Opfer zivilrechtlich und liegt insoweit nicht in dessen Interesse. Die Argumentationen gegen die Anlaufhemmungen, die sich auf die Bedürfnisse der Opfer beziehen, überzeugen daher insgesamt nicht zur Gänze.1611 Jahre nach der Tat ist anzunehmen, dass die Initiative zur Einleitung eines Strafverfahrens in der Regel von den Betroffenen selbst ausgeht. Eine Bevormundung der Opfer mittels Verjährung ist nicht sinnvoll, um diesen Enttäuschungen zu ersparen, denn ein Missbrauchsopfer, das nach jahre- oder jahrzehntelangem Schweigen den Mut findet, eine Straftat anzuzeigen, wird wohl ebenfalls enttäuscht sein, wenn ihm mitgeteilt wird, dass der Rechtsstaat wegen Verjährung nicht mehr tätig wird.1612 Sinnvoll wäre aber, beispielsweise durch unabhängige, im öffentlichen Bewusstsein präsente und leicht zugängliche Beratungsstellen das Opfer vorweg über das Prozessrisiko und die Wahrscheinlichkeit eines Freispruches aufzuklären.1613 Dann kann das Opfer eine informierte Entscheidung treffen. Diese Rechtsberatung müsste jedenfalls im Vorfeld erfolgen, bevor Anzeige erstattet und das Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt wird, weil die Staatsanwaltschaft aufgrund der geltenden Offizialmaxime bei Vorliegen eines Anfangsverdachts zu Ermittlungen verpflichtet ist und Opfer im 1611 Siehe dazu Abschnitt 4.7. 1612 In diesem Sinn auch ANZENBERGER 2010, S. 48; EDER-RIEDER 2003/2004. 1613 Diesen Vorschlag äußern HÖRNLE/KLINGBEIL/ROTHBART 2014, S. 82–85.

Opferschutz und Anlaufhemmung

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österreichischen Strafprozess kein generelles Aussageverweigerungsrecht haben. Das informierte Opfer ist aber als mündige Person zu behandeln und sollte selbst entscheiden dürfen, ob es die psychischen Belastungen des Strafverfahrens und das Risiko eines Freispruches auf sich nehmen will. Welche Konsequenzen es für ein Opfer haben kann, wenn es Vorwürfe von Straftaten in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise äußert, wurde im fünften Abschnitt dargestellt. Während der/die Beschuldigte die Möglichkeit hat, wegen übler Nachrede Anklage oder wegen Rufschädigung Klage gegen das Opfer zu erheben, kann das Opfer nach Eintritt der Verjährung im besten Fall eine eigene Verurteilung abwehren. Auch die bloße Drohung mit einer Klage oder Anklage gegen ein vorgebliches Opfer kann ein wirksames Instrument sein, um dieses zum Schweigen zu bringen, wenn das Opfer kein Risiko eines Prozesses eingehen will. Diese Möglichkeiten hat ein/e Beschuldigte/r auch vor Eintritt der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verjährung. Vor Ablauf der strafrechtlichen Verjährungsfrist wird das Opfer aber durch die staatliche Strafverfolgung besser geschützt, denn der/die Beschuldigte hat strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten. Bevor die Zivilverjährung abläuft, kann das Opfer außerdem auf Schadenersatz klagen. Sowohl die strafrechtliche Verjährung als auch die zivilrechtliche Verjährung schwächen dessen Position. Nach deren Eintritt kann nur noch das Opfer und nicht mehr der einstige Täter verurteilt und ersatzpflichtig werden. Für das Opfer hat es dann rechtlich nur Nachteile, Vorwürfe betreffend sexuelle Übergriffe zu äußern. Es scheint zu ewigem Schweigen verdammt. Wenn man tatsächlich die Auffassung vertritt, dass Straftaten, bei denen eine Verurteilung generell unwahrscheinlich ist, im Interesse der Opfer nicht verfolgt werden sollten, müsste man – konsequent weitergedacht – im Opferinteresse Sexualdelikte generell straffrei stellen: Denn wenn man von einer Verurteilungsrate von ca. 15 % ausgeht,1614 würde man mit einer generellen Straffreiheit 85 % der Anzeigeerstatterinnen vor einer Retraumatisierung und der Enttäuschung schützen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Damit ließe man freilich das Opfer sowie potentielle Opfer ungeschützt und nähme Wiederholungstaten in Kauf, der Staat würde also gewissermaßen vor diesen Straftaten kapitulieren. Dem vermeintlichen Opferinteresse an einer Straffreiheit der Täter in Fällen, in denen eine Verurteilung generell unwahrscheinlich ist, stünden dann wohl überwiegende andere Interessen, wie die Interessen der potentiellen Opfer und der gefährdeten Personengruppen, entgegen.

1614 Zur Verurteilungsrate bei Sexualdelikten siehe Abschnitt 6.

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8.

»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Bewertung: Anlaufhemmung und Strafzweck

Als nächstes gilt es zu klären, ob die Anlaufhemmung nur dem Opferschutz dient oder auch noch anderen anerkannten Strafzwecken. Die generalpräventive Wirkung der Strafe ist nicht nachweisbar, im Allgemeinen wird von einer solchen ausgegangen. Naheliegend ist, dass eine Strafverfolgung und Bestrafung des Täters/der Täterin auf die Allgemeinheit abschreckender wirkt als eine schlichte Untätigkeit der Behörden, weil Verjährung eingetreten ist. Gerade bei den Sexualdelikten bestehen hohe Dunkelziffern, was das Risiko erhöht, dass die Vorwürfe nach Eintritt der Verjährung erstmals geäußert werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es generalpräventiv sinnvoll ist, die Verfolgungsdauer gerade bei Straftaten, bei denen die Beweisschwierigkeiten in aller Regel schon unmittelbar nach der Tat groß sind, auszudehnen. Eine Einstellung des Verfahrens in Ermangelung von Beweisen oder ein Freispruch in dubio pro reo wird sich generalpräventiv kaum positiv auf die Bevölkerung auswirken. Noch stärker erschüttert es das Vertrauen von Opfern und Allgemeinheit aber wohl, wenn den Vorwürfen eines Opfers, das zuvor keine Möglichkeit hatte, Anzeige zu erstatten, schlichtweg nicht nachgegangen wird. Ein Beobachter gewinnt dadurch nämlich den Eindruck, dass diese Delikte ohnehin nicht verfolgt werden und straflos bleiben. Welche Folgen es hat, wenn man die Verjährung in einer Zeit laufen lässt, in der die Opfer in der Regel außerstande sind, Anzeige zu erstatten, haben die Missbrauchsfälle in den staatlichen und kirchlichen Kinderheimen anschaulich unter Beweis gestellt.1615 Die allermeisten TäterInnen wurden strafrechtlich nicht belangt, was auch von der Bevölkerung wahrgenommen wird. Das Rechtsempfinden der Bevölkerung und der Opfer hat die schlichte Untätigkeit der staatlichen Justiz wohl stärker erschüttert, als wenn es in einem Teil der Fälle zu einem Freispruch im Zweifel gekommen wäre. Zumindest in einigen Fälle wäre angesichts vieler übereinstimmender Zeugenaussagen wohl eine Verurteilung möglich gewesen. Eine Verfolgung der Straftaten hätte wohl auch eher Wertehaltungen vermittelt und abschreckender gewirkt als das Unterbleiben derselben wegen Verjährung. Die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung bei Sexualdelikten wird dadurch zumindest abgeschwächt. Spezialpräventiv besteht wohl tatsächlich keine Notwendigkeit, einen Menschen, der sich während der allgemeinen Verjährungsfrist strafrechtskonform verhalten hat, zu bestrafen. Im Hinblick auf die Höhe der Strafandrohungen für Sexualdelikte erscheinen die nachteiligen Folgen einer durch Anlaufhemmung hinausgeschobenen und späten Strafverfolgung für den/die resozialisierte Verurteilte/n schwerwiegend. Die hohen und nach Ansicht der Strafrechtswissen1615 Siehe dazu die Abschnitte 4.1. und 4.3.

Bewertung: Anlaufhemmung und Strafzweck

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schaft zu hohen Strafandrohungen für Sexualdelikte haben wohl das Ziel, die hohen Dunkelziffern und niedrigen Verurteilungsquoten auszugleichen. Es gehört aber nicht zu den Funktionen der Verjährung, ihrerseits dann die Konsequenzen dieser Strafandrohungen zu mildern. Wenn diese zu hoch sind, müssen sie herabgesetzt und nicht die Strafverfolgung mittels Verjährung aufgegeben werden. Auch die entsozialisierende Wirkung der unbedingten Haftstrafen, die dem Strafzweck der Besserung und Resozialisierung zuwiderläuft, ist ein allgemeines Problem. Dieses müsste zum Anlass genommen werden, das Straf- und Vollzugssystem zu hinterfragen und zu reformieren. Es handelt sich dabei nicht um ein Problem, das über die Verjährung gelöst werden kann. Freilich ist diese Wirkung des unbedingten Strafvollzuges bei TäterInnen, die ihre Resozialisierung durch jahrzehntelanges Wohlverhalten unter Beweis gestellt haben, besonders problematisch. In dessen/deren Interesse wäre eine Herabsetzung der gesetzlichen Strafandrohungen nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist zu erwägen, also für Zeiträume, in denen eine Straftat nur noch verfolgt werden kann, weil sie unter die Anlaufhemmung fällt. Berechtigt erscheint die Kritik an der Auswahl der Delikte, die unter die zweite Anlaufhemmung fallen.1616 Eine Verjährungshemmung bis zum vollendeten 28. Lebensjahr des Opfers ist insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten wohl auch generalpräventiv nicht notwendig und im Hinblick auf die Nachteile für den/die TäterIn sowie letztendlich auch die Allgemeinheit jedenfalls unverhältnismäßig. Insofern erscheint der Vorschlag Eder-Rieders überlegenswert, demzufolge die Verjährungshemmung auf Vorsatzdelikte, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind, beschränkt werden soll.1617 Unverständlich ist, warum die Verjährungsfrist bis zum 28. Lebensjahr eines Missbrauchsopfers gehemmt ist, wenn dieses im Tatzeitpunkt siebzehn Jahre alt ist, dagegen sofort zu laufen beginnt, wenn dieses im Tatzeitpunkt achtzehn Jahre alt ist. Überlegenswert wäre daher die Übernahme der strafrechtlichen Verjährungshemmung des deutschen Rechtes, wo bei schweren Sexualdelikten der Lauf der Verjährungsfrist bis zum vollendeten 30. Lebensjahr des Opfers unabhängig von dessen Alter zur Tatzeit gehemmt ist.1618 Damit wird spezifischen Abhängigkeitsverhältnissen, die auch zwischen erwachsenen Missbrauchsopfern und Tätern bestehen und eine zeitnahe Anzeige verhindern können, wohl besser Rechnung getragen. Die hohen Dunkelziffern und niedrigen Verurteilungsraten bei Sexualdelikten sind aber kein Problem, das primär über das Verjährungsrecht gelöst werden kann.

1616 Siehe dazu Abschnitt 4.7. 1617 EDER-RIEDER 2003/2004. 1618 Siehe dazu Abschnitt 5.

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»Opferschutz als Strafzweck?«: Die Entwicklung des Verjährungsrechts

Eine Systemwidrigkeit stellt dar, dass bei den unverjährbaren Straftaten nach Verstreichen einer Frist von zwanzig Jahren die gesetzliche Strafandrohung herabgesetzt wird,1619 wohingegen der gesetzliche Strafrahmen bei den Straftaten, die unter die Anlaufhemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB fallen, unverändert bleibt. Wenn das Opfer im Tatzeitpunkt beispielsweise acht Jahre alt ist, ist bei Straftaten, die unter die zwanzigjährige Verjährungsfrist fallen, die ursprüngliche gesetzliche Strafandrohung noch 40 Jahre nach der Tat unverändert anwendbar. Darin liegt wohl ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch, der durch eine gesetzliche Herabsetzung der Strafandrohung nach Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist beseitigt werden könnte, was, wie bereits angemerkt, zugleich auch die Nachteile der späten Strafverfolgung für den/die resozialisierte/n TäterIn abmildern würde. Mit dem System der Hemmungstatbestände ist die Anlaufhemmung für Zeiten, in denen das Opfer in der Regel nicht in der Lage ist, Anzeige zu erstatten, und der Staat in weiterer Folge nicht tätig werden kann, durchaus kompatibel. Denn der Ablauf oder der Fortlauf der Verjährungsfrist ist auch in anderen Fällen gehemmt, in denen der Staat objektiv keine Möglichkeit zur Strafverfolgung hat, wie beispielsweise während einer Flucht des Täters/der Täterin ins Ausland oder während Zeiten, in denen der/die TäterIn Immunität genießt. Sorge, dass infolge dieser Hemmungstatbestände eine objektiv zwecklose Strafe verhängt und ein/e resozialisierte/r TäterIn gestraft wird, hat seit den 1970er-Jahren1620 niemand mehr geäußert. Insgesamt erscheint ein Hinausschieben des Verjährungseintrittes durch die Anlaufhemmung spezialpräventiv nicht notwendig und angesichts der entsozialisierenden Wirkung des Strafvollzugs sogar nachteilig. Die Anlaufhemmung kann aber ebenso wie die Unverjährbarkeit1621 mit generalpräventiven Zielsetzungen, das heißt der Abhaltung anderer von derart schweren Taten, die für das Opfer gravierende Folgen haben, und dem Opferschutz begründet werden.

1619 »Strafbare Handlungen, die mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, sowie strafbare Handlungen nach dem fünfundzwanzigsten Abschnitt verjähren nicht. Nach Ablauf einer Frist von zwanzig Jahren tritt jedoch an die Stelle der angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren. [..].« (§ 57 Abs. 1 StGB), siehe dazu auch Kapitel VI.3.4. und VI.3.6. 1620 Siehe dazu Kapitel IV.4.4.–IV.4.6., IV.5., VI.3.4. 1621 Zur wissenschaftlichen Bewertung der Unverjährbarkeit siehe Kapitel VI.3.7.

Zusammenfassung

9.

329

Zusammenfassung

Seit dem Inkrafttreten des geltenden Strafgesetzbuches im Jahr 1974 wird der Grund für die Zulassung der Verjährung unbestrittenermaßen in dem Entfall oder Schwinden der general- und spezialpräventiven Strafnotwendigkeit sowie ergänzend den zunehmenden Beweisschwierigkeiten gesehen. Mit dem Jugendgerichtsgesetz 1988 wurden aus spezialpräventiven Erwägungen heraus besondere kürzere Verjährungsfristen für Straftaten Jugendlicher eingeführt, seit dem Jahr 2015 sind auch die Verjährungsfristen für Straftaten junger Erwachsener verkürzt. Im Übrigen erfolgten mehrere kleinere Änderungen im Verjährungsrecht des Strafgesetzbuches, aus denen sich keine Rückschlüsse auf eine straftheoretische Beurteilung ziehen lassen. In den letzten Jahrzehnten verdeutlichten die Heimkinderverbrechen und die der #metoo-Debatte zugrundeliegenden Straftaten für Österreich, dass die Verjährung insbesondere dann zu einem Problem wird, wenn Gruppen von Straftaten aus systemischen Gründen innerhalb der Verjährungsfristen nicht verfolgt werden. Die strafrechtliche Verfolgung des Täters/der Täterin ist dann de facto ausgeschlossen und wichtige Bedürfnisse der Verbrechensopfer können nicht befriedigt werden. Festgestellt wurde außerdem, dass eine weitgehende Verjährung von systemischem Unrecht, von dem viele Personen betroffen sind, generalpräventiv nachteilig ist. Auch wenn die Vergeltung seit langem nicht mehr als Strafzweck anerkannt wird, können der Bevölkerung derartige Ergebnisse ungerecht und unverständlich erscheinen. Die öffentliche Stimmung bei Bekanntwerden der Missbrauchsfälle und Misshandlungen in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen war im Jahr 1998 für die Einführung und im Jahr 2009 die Ausweitung der Anlaufhemmung für bestimmte Delikte an Minderjährigen mitverantwortlich. Diese Änderungen sollten den Interessen der Verbrechensopfer Rechnung tragen, die konkrete Ausgestaltung der Anlaufhemmung führte aber zu Wertungswidersprüchen.

VIII. Darstellung der Forschungsergebnisse

Das Endresümee präsentiert nun die Forschungsergebnisse der Monographie. Zunächst werden die in den einzelnen Kapiteln behandelten Unterfragen beantwortet bzw. die im ersten Kapitel dargestellten Forschungsergebnisse nochmals zusammengefasst. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für die Beantwortung der übergeordneten Forschungsfragen. Eines der Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit war es, zu analysieren, wie sich die verschiedenen Begründungen der Strafe, das heißt die Strafzwecktheorien, zur Verjährung verhalten. Außerdem wird kapitelübergreifend dargestellt, in welchen Fällen die Verjährung in Österreich in der Vergangenheit zu einem gesellschaftlichen Problem wurde. Gemeinsamkeiten dieser Ereignisse werden herausgearbeitet und die Unterschiede zu den vielen Fällen, in denen die Verjährung nicht kontrovers diskutiert, sondern allgemein akzeptiert wurde, aufgezeigt. Beantwortet wird auch die Frage, ob die Verjährung allgemein oder zumindest in diesen Problemfällen die Erreichung eines bekannten Strafzwecks vereitelt bzw. vereitelte. Ziel dieser Arbeit ist es freilich nicht, die Sinnhaftigkeit des Verjährungsinstitutes zu beurteilen, sondern mithilfe des historischen Diskurses, der Gesetze, Gesetzesmaterialien und sonstigen Quellen zu zeigen, wie sich die Begründung der Strafe zur Begründung ihrer zeitlichen Grenze, der Verjährung, verhält. Vorauszuschicken ist, dass im Untersuchungszeitraum in der Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsgesetzgebung die Frage dominierte, ob es einen Zeitpunkt gäbe, in dem die Strafverfolgung und Strafvollstreckung nicht mehr im Interesse der Allgemeinheit und des Staates sei. Den Interessen von Opfern und TäterInnen kam im wissenschaftlichen Diskurs zur Verjährung für den größten Teil der Untersuchung allenfalls eine untergeordnete Bedeutung zu. Das heißt, auch wenn der/die TäterIn ein großes Interesse am Verjährungseintritt hatte, sollte er/sie bestraft werden, solange dies, aus welchem Grund auch immer, im Interesse der Allgemeinheit für notwendig erachtet wurde. Auf die Interessen des

332

Darstellung der Forschungsergebnisse

Opfers wird bei der Ausgestaltung der Verjährungsregelungen erst in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf einzelne Delikte verstärkt Rücksicht genommen.1622

1.

Die scheinbare Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung

Die vernunftrechtlichen Strafgesetzbücher des deutschen Raums standen dem Verjährungsgedanken tatsächlich skeptisch gegenüber. Im Josephinischen Strafgesetz (1787) war die Verjährung ausgeschlossen und im preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) zumindest nicht ausdrücklich geregelt, um die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung nicht abzuschwächen. Die preußische Kriminalordnung (1805) und das bayrische Strafgesetzbuch (1813) statuierten neben dem Verstreichen der Verjährungsfrist weitere Bedingungen für den Eintritt der Verjährung, deren Erfüllung vor allem die Besserung der DelinquentInnen beweisen sollte. Die ursprüngliche Wirkung der rezipierten praescriptio hatte darin bestanden, dass sie eine gerichtliche Untersuchung der verjährten Tat, ein Verfahren und eine Feststellung des Täters/der Täterin verhinderte. Durch die zusätzlichen Voraussetzungen erfuhr das Wesen der Verjährung wesentliche Änderungen, denn waren diese nicht erfüllt, fand ein Verfahren statt. Die Verjährung schützte damit nicht mehr vor Beweisschwierigkeiten und der Fehlurteilsgefahr. Verlässt man den deutschen Raum, zeigt sich jedoch ein völlig anderes Bild. In dem Leopoldinischen Strafgesetzbuch (1786), dem Code pénal (1791) sowie dem Code d’instruction criminelle (1808) war die Verjährung in einem Ausmaß anerkannt, das im Gebiet des heutigen Österreichs bis jetzt nicht erreicht wurde. Als logische Konsequenz der vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien kann die Verjährungskritik der Aufklärungsbewegung jedenfalls nicht betrachtet werden. In den französischen Kriminalgesetzbüchern und dem Leopoldinischen Strafgesetzbuch erfolgte die Begründung der Strafe auf Basis der Präventionstheorien, ohne dass daraus auf die Unzulässigkeit der Verjährung oder auch nur die Notwendigkeit, diese an Bedingungen zu knüpfen, geschlossen worden wäre. Auch der österreichische Strafgesetzentwurf 1783 sowie die Erwägungen, die den freilich restriktiven Verjährungsregelungen der preußischen Kriminalordnung und des bayrischen Strafgesetzbuches zugrunde lagen, belegen, dass sich die Verjährung auf Basis der Präventionstheorien schlüssig begründen lässt. Gleichermaßen brachten die Wissenschaftler der Aufklärung sowohl zur Kritik als auch der Begründung der Verjährung Argumente vor, die überwiegend auf spezial-, aber auch generalpräventiven Überlegungen und ausnahmsweise sogar der Gerechtigkeit basierten.

1622 Siehe dazu insbesondere Kapitel VII. und sodann Endresümee VIII.10.

Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana

333

Die aufklärerischen Strafzwecktheorien waren damit nicht per se verjährungsfeindlich, sondern einer Begründung der Verjährung durchaus zugänglich. Besondere Schwierigkeiten bestanden dabei freilich für die Anhänger der Wiedervergeltungslehre von Immanuel Kant, unmöglich war die Begründung der Verjährung jedoch auch ihnen nicht. Die Strafzwecktheorien der Aufklärung, insbesondere die Präventionstheorien, bildeten eine Basis, auf der man sowohl Argumente für als auch gegen die Verjährung aufbauen konnte. Nicht die vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien, sondern die auf sie gestützten weiteren Vorstellungen waren daher für das scheinbar ablehnende, tatsächlich jedoch ambivalente Verhältnis der Aufklärungsbewegung zur Verjährung verantwortlich.1623

2.

Fortschritt oder Reaktion? Die Verjährungsregeln der Franziskana aus dem Jahr 1803

Im Ergebnis beruhen die restriktiven Verjährungsregeln der Franziskana auf derselben Grundlage wie der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches.1624 Im Vordergrund stand das staatliche Ziel, andere von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Zu diesem Zweck nahm die Franziskana sowohl die Bestrafung eines/einer gebesserten Täters/Täterin als auch eines/einer möglicherweise zu Unrecht Beschuldigten in Kauf. Denn weder die mit der Zeit zunehmenden Beweisschwierigkeiten und die daraus resultierende Fehlurteilsgefahr noch eine mögliche Besserung eines/einer ehemals straffällig Gewordenen spielten bei der Ausgestaltung der österreichischen Verjährungsregeln eine entscheidende Rolle. Der/die individuelle TäterIn und seine/ihre Resozialisierung waren damit einerseits für die Ausgestaltung der Strafen andererseits auch für ihre zeitlichen Begrenzung durch die Verjährung von untergeordneter Bedeutung. Damit stehen sowohl der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches als auch die restriktiven Verjährungsregeln der Franziskana im Einklang mit den rigorosen Sanktionsapparaten beider Gesetzbücher und der diesen zugrundeliegenden generalpräventiven Strafzwecktheorie. Die individuellen StraftäterInnen waren insofern Mittel zum Zweck. Weil sie verbrochen hatten, sollten sie bestraft werden, und zwar so hart und so lange, wie es notwendig erschien, um andere von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Nur der zeitliche Nutzen der Strafverfolgung für den Staat wurde anders bewertet. Gerade die

1623 Siehe dazu Kapitel I.2., zu diesem Ergebnis kommt auch ASHOLT 2016, S. 21. 1624 Siehe dazu Kapitel I.3.

334

Darstellung der Forschungsergebnisse

harten Strafen der beiden Gesetzbücher widersprachen aber den Forderungen der Aufklärungsbewegung nach einer Humanisierung des Strafrechts.1625

3.

Die schrittweise Durchsetzung des Verjährungsgedankens in der ersten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts

Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts wird als die verjährungsskeptische Findungsphase bezeichnet.1626 Die in dieser Phase ergehenden Strafgesetzbücher ließen die Verjährung zu, schränkten ihren Anwendungsbereich aber durch Ausnahmen und Bedingungen stark ein. Außerdem war ihnen allesamt die Verjährung der verhängten Strafe unbekannt. In diese Phase fällt neben der preußischen Kriminalordnung (1805), dem bayrischen Strafgesetzbuch (1813) und dem darauf aufbauenden oldenburgischen Strafgesetzbuch (1814) auch die österreichische Franziskana (1803). Diese war selbst unter den verjährungskritischen Strafgesetzbüchern der ersten Phase am restriktivsten.1627 In den 70 Jahren vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches wandelte sich die deutsche Partikularstrafgesetzgebung zur Verjährung unter dem Einfluss des französischen Rechts von zurückhaltenden zu großzügigen Verjährungsregeln.1628 Parallel zu Deutschland setzte sich auch in Österreich der Verjährungsgedanke schrittweise durch. Der Entwurf Zeillers aus dem Jahr 1823 gehörte wie die Franziskana 1803 zur verjährungskritischen Findungsphase. Die Entwürfe Jenulls aus den Jahren 1829 und 1838/39 fallen zeitlich wie inhaltlich in die Konsolidierungsphase. Voll durchsetzen konnte sich der Verjährungsgedanke schließlich in dem Entwurf Anton Hyes von Glunek aus dem Jahr 1863, der den Beschluss des Deutschen Juristentags des Jahres 1861 umsetzte. Aus dem Rahmen fällt lediglich das Strafgesetz 1852, das die Verjährungsregelungen des Strafgesetzes 1803 ohne größere Änderungen übernahm und nicht mehr zeitgemäß war. Bemerkenswert ist, dass die Verjährung in einer Phase weitreichende Anerkennung erfuhr, in der die traditionell verjährungsfeindliche Wiedervergeltungslehre vorherrschte. Die inhaltsleere Berufung auf die »Macht der Zeit«, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders bei deren Anhängern großer Beliebtheit erfreute, kann die Verjährungsfeindlichkeit der Vergeltungstheorie freilich nicht verdecken. Muss gestraft werden, nur weil verbrochen wurde, dann vermag die Zeit daran nichts zu ändern, denn sie kann das be1625 1626 1627 1628

HOKE 1996, S. 249, 431; HORROW 1947, S. 47f; SCHLOSSER 2017, S. 249f. ASHOLT 2016, S. 22. Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.1. ASHOLT 2016, S. 33f.

Die Verjährungsskepsis in Österreich

335

gangene Verbrechen nicht ungeschehen machen. Die Verjährungsfeindlichkeit der Vergeltungstheorie zeigte sich in Deutschland in der zunehmenden politischen Betrachtungsweise des Verjährungsinstituts, das man nicht mehr straftheoretisch zu begründen versuchte.1629 In Österreich war die Durchsetzung des französischen Verjährungsmodells nur eine vorläufige und die großzügigen Verjährungsregelungen des Entwurfes von Hye wurden im weiteren Gesetzgebungsverfahren wieder eingeschränkt.1630 Angesichts der Tatsache, dass sich aus präventiv-theoretischen Erwägungen Argumente für wie gegen die Verjährung ableiten lassen, sowie vor allem der Verjährungsfeindlichkeit der Vergeltungstheorie erstaunt dies freilich nicht.1631

4.

Die Verjährungsskepsis in Österreich in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts

Die Verjährung wurde bei den österreichischen Strafrechtsreformarbeiten zwischen 1863 und 1895 durchgehend mit der Macht der Zeit begründet und die Wirkungen der Zeit unter Zuhilfenahme anderer Verjährungstheorien spezifiziert. Mit dem Verstreichen der Zeit gerate die Straftat allmählich in Vergessenheit, sie hebe die Folgen der strafbaren Tat auf und ändere in der Regel auch die zur Rechtswidrigkeit hinneigende Gesinnung des Täters/der Täterin. Damit verliere die Straftat ihre das allgemeine Rechtsbewusstsein verletzende Eigenschaft und der Zweck, der die Strafe rechtfertige, entfalle. Als unterstützende Argumente für die Verfolgungsverjährung wurden wiederum die mit der Zeit zunehmenden Beweisschwierigkeiten für die Strafjustiz und die Beschuldigten angeführt. Die österreichischen Entwürfe folgten damit einer multifaktoriellen Verjährungstheorie. Diese Kombination führte in Österreich jedoch nicht zu einer Stärkung des Verjährungsgedankens, weil sich gegen die Gesamtargumentation alle Gründe anführen lassen, die gegen die Einzelargumente sprechen. Zudem können die einzelnen Zielsetzungen unterschiedliche Regelungen erfordern.1632 Dazu kommt, dass jede Wirkung, die man der Zeit zur Begründung der Verjährung grundsätzlich beimaß, im Laufe der Reformarbeiten bezweifelt und nur in Kombination mit den anderen Wirkungen für entscheidend gehalten wurde. Außerdem hatte die österreichische Strafgesetzgebung ein Institut zu begründen, das vom Standpunkt der den Entwürfen von 1863 bis 1895 primär zugrunde 1629 1630 1631 1632

ASHOLT 2016, S. 34. Dazu ausführlich in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V. Siehe dazu Kapitel I.4. ASHOLT 2016, S. 162–164.

336

Darstellung der Forschungsergebnisse

gelegten Vergeltungstheorie schwer zu rechtfertigen ist. Auf der anderen Seite war man bestrebt, das österreichische Verjährungsrecht dem großzügigen deutschen anzugleichen. Dies führte einerseits zu einem permanenten Wechsel zwischen großzügigen und restriktiven Verjährungsvorstellungen in den österreichischen Strafgesetzentwürfen, andererseits waren die einzelnen Regelungen in sich widersprüchlich. Die Strafrechtswissenschaft dieser Zeit stellte die Verjährung nicht grundsätzlich in Frage und entwickelte eifrig Verjährungstheorien, setzte sich aber durchaus kontrovers mit den einzelnen Argumentationen auseinander. Allgemeine oder auch nur überwiegende Zustimmung fand mit Ausnahme der Berufung auf die vage »Macht der Zeit« keine einzige der zahlreichen Verjährungsbegründungen. Der deutsche Schulenstreit beeinflusste die beiden wichtigsten Verfasser des österreichischen Strafgesetzentwurfs des Jahres 1912 (bzw. des Vorentwurfs 1909) in ihren Auffassungen über den Rechtsgrund der Verjährung. Durchsetzen konnte sich Hugo Högel, der die Gerechtigkeit zur Grundlage des Strafgesetzes machen wollte, sich zur Rechtfertigung der Verjährung primär auf die zunehmende Fehlurteilsgefahr berief und materiellrechtliche Verjährungsbegründungen ablehnte. Dies führte zu dem seltsamen Ergebnis, dass in den vorangegangenen Strafgesetzentwürfen, die als Hauptzweck der Strafe die Vergeltung erachteten, der Entfall der Strafverfolgung und Strafvollstreckung durch Verjährung zumindest auch mit der fehlenden präventiven Notwendigkeit einer Bestrafung begründet wurde, während in den letzten österreichischen Strafgesetzentwürfen der Monarchie, die auf der Vereinigungstheorie basierten, eine im Laufe der Zeit möglicherweise entfallende Strafnotwendigkeit in präventiver Hinsicht nicht angenommen oder zumindest für nicht entscheidend gehalten wurde.1633

5.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahm Österreich an den deutschen Reformarbeiten im Bereich des Strafrechts teil. In der Folgezeit wurden mehrere Strafgesetzentwürfe ausgearbeitet, deren Übernahme sowohl die Republik Österreich als auch die Weimarer Republik beabsichtigte.1634 Überblickt man die ca. ein Jahrzehnt andauernden Arbeiten an einem gemeinsamen deutsch1633 Siehe dazu Kapitel I.5. 1634 Zum gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafrechtsreformversuch siehe ausführlich Kapitel II.2., II.3. und zu dessen Ende Kapitel II.9.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

337

österreichischen Strafrecht, so fällt im Verjährungsrecht auf, dass alle wesentlichen Impulse und konkreten Vorschläge zur Ausgestaltung der Verjährungsregeln von deutscher Seite kamen. Von den österreichischen Vertretern wurde nur eine präzisere Formulierung der Regelung über den Verjährungsbeginn und eine geringfügige Verkürzung der zweitlängsten Verjährungsfrist von zwanzig auf fünfzehn Jahre vorgeschlagen.1635 Der Anwendungsbereich der Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit war unter dem Einfluss Deutschlands deutlich größer als im damals geltenden österreichischen Recht und den österreichischen Strafgesetzentwürfen des »langen« 19. Jahrhunderts. Dies zeigt sich schon in der in Deutschland selbstverständlichen Zulassung beider Verjährungsarten sowie in dem Verzicht auf unverjährbare Straftaten und zusätzliche Bedingungen für den Verjährungseintritt.1636 Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bestand zudem sowohl in Deutschland als auch in Österreich das Bestreben, die Möglichkeiten zur Erweiterung der regulären Verjährungsfristen durch behördliche Maßnahmen zu beschränken.1637 Damit wurde der Anwendungsbereich der Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit insgesamt auch gegenüber dem geltenden deutschen Reichsstrafgesetzbuch erweitert. Denn bei anhängigen Verfahren fühlten sich die Strafverfolgungsbehörden in der Regel dazu verpflichtet, rechtzeitig auf einen gerichtlichen Unterbrechungsakt hinzuwirken,1638 sodass es in der Praxis häufig zu einer beträchtlichen Verlängerung der Verjährungsfristen kam. Auf diese Weise konnten die Strafverfolgungsbehörden Straftaten der Verjährung überhaupt entziehen.1639 Dieser »Konstruktionsfehler« des geltenden deutschen wie österreichischen Rechts sollte beseitigt und die behördlichen Verlängerungsmöglichkeiten beschränkt bzw. später sogar gestrichen werden.1640 Selbst im Vergleich zu den großzügigen Verjährungsregelungen des dRStGB 1871, seinen deutschen Vorgängerentwürfen der Jahre 1909, 1913 und 1919, dem österreichischen Gegenentwurf 1922 sowie den deutsch-österreichischen Nachfolgeentwürfen der Jahre 1927 und 1930 weitreichende Verjährungsregelungen waren im Strafgesetzentwurf des sozialdemokratischen Justizministers, Straf1635 1636 1637 1638

Siehe dazu Kapitel II.4.–II.10. Siehe dazu Kapitel II.4.–II.10. Siehe dazu Kapitel II.4.–II.10. sowie STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.–V.6.4. So beantragten die Staatsanwaltschaften in Deutschland häufig sachlich nicht gebotene Prozesshandlungen wie formularmäßige Ermittlungen oder die Aktenübersendung, um durch die gerichtliche Handlung eine Unterbrechung zu erreichen; Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6–8, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411–413. 1639 Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 19. Dezember 1927, S. 6–8, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 411–413. 1640 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.–V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II.4.–II.10.

338

Darstellung der Forschungsergebnisse

rechtsprofessors und Liszt-Schülers Gustav Radbruch aus dem Jahr 1922 vorgesehen, der den Besserungs- und Erziehungsgedanken als Leitmotiv betrachtete. Der nach ihm benannte Entwurf Radbruchs war der erste Strafgesetzentwurf, der von deutschen und österreichischen Vertretern gemeinsam ausgearbeitet wurde. Dieser verkürzte die Verjährungsfristen und beschränkte die Unterbrechungsmöglichkeit im Vergleich zum dRStGB 1871 sowie den rein deutschen Vorgängerentwürfen und auch dem österreichischen Gegenentwurf.1641 Bei der Ausarbeitung des Entwurfs Radbruchs war die österreichische Seite durch den Ministerialbeamten Ferdinand Kadecˇka vertreten.1642 Die Verjährungsregelungen dieses Strafgesetzentwurfes waren einerseits die Grundlage für die weiteren Arbeiten am gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzbuch,1643 andererseits bildeten die Verjährungsregelungen des Strafgesetzentwurfs Radbruchs auch die Grundlage für die österreichischen Strafgesetzentwürfe, die nach dem Jahr 1945 ausgearbeitet wurden. Dies ist auf den Einfluss Kadecˇkas zurückzuführen, der in der »Zweiten Republik« als Referent für die ersten österreichischen Strafgesetzentwürfe Bestimmungen vorschlug und sich dabei zumindest im Bereich des Verjährungsrechtes an dem von ihm mitverfassten Entwurf Radbruchs orientierte.1644 In Bezug auf die Begründung der Verjährung setzte sich eine Tendenz fort, die sich in Deutschland bereits bei der Ausarbeitung des Reichsstrafgesetzbuches gezeigt hatte.1645 Dem Gesetzgeber kam es bei der Konzeption der Verjährungsregeln nicht auf den Rechtsgrund der Verjährung an. Die Verjährung wurde vielmehr als Institut der Kriminalpolitik betrachtet. Folglich standen bei der Ausgestaltung der Verjährungsregeln in der Zwischenkriegszeit kriminalpolitische Zweckmäßigkeitserwägungen im Vordergrund.1646 Nach einer möglichen Begründung des Einflusses der Zeit im Recht, die argumentativ mit den einzelnen Regelungen der Verjährung in Verbindung gebracht werden konnte, wurde nicht bzw. in Österreich nicht mehr gesucht. Die in Österreich bis dahin zentrale Frage nach der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der Strafverfolgung und -vollstreckung längere Zeit nach der Tat verlor mit dem Anschluss an die deutschen Reformarbeiten an Bedeutung. Vielmehr trat das Interesse der Justizbürokratie an einer effektiven Steuerung des Strafverfahrens in den Vordergrund.1647

1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647

Siehe dazu Kapitel II.4.–II.6. und Kapitel II.9. Dazu in Kapitel II.3.2. Siehe dazu Kapitel II.6.–II.7. und II.9. Siehe Kapitel VI.3.1. Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. ASHOLT 2016, S. 40f. ASHOLT 2016, S. 40; dazu ausführlich in Kapitel II.4.–II.10.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit

339

Sucht man nach den theoretischen Grundlagen der Verjährung, ist die Zwischenkriegszeit insofern wenig ergiebig. Das geringe Interesse an dem Rechtsgrund der Verjährung kommt in den amtlichen Erläuterungen zu den deutschösterreichischen Strafgesetzentwürfen zum Ausdruck, wo sich keine Begründung der Verjährung findet.1648 Franz von Liszt stellte das intellektualistische 19. Jahrhundert dem voluntaristischen 20. Jahrhundert gegenüber, was im Bereich des Verjährungsrechts voll zutrifft. Insgesamt zeigte sich in der Zwischenkriegszeit eine Tendenz zur Enttheoretisierung des Verjährungsrechts.1649 Österreichische wissenschaftliche Publikationen, die sich auch nur am Rande mit der Verjährung befassten, findet man in dieser freilich kurzen Phase kaum.1650 Äußerungen zum Rechtsgrund des Instituts erfolgten in der österreichischen Literatur dieser Zeit nicht. Ein Zusammenhang zwischen der bei den Arbeiten an der Strafrechtsreform in der Zwischenkriegszeit proklamierten Kompromisslösung in Form der Vereinigungstheorie und der Rechtfertigung des Verjährungsinstituts kann nicht festgestellt werden, weil damals schlichtweg keine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Rechtsgrund der Verjährung erfolgte. Die Frage, warum man nach Verstreichen gewisser Fristen auf den staatlichen Strafanspruch verzichten wollte, kann für diese Phase nicht beantwortet werden. In Deutschland unterlagen freilich bereits seit dem Jahr 1871 alle Straftaten und Strafen der Verjährung. Insofern ist anzunehmen, dass es dort zu einer Gewöhnung an die rein zeitabhängige Verjährung gekommen war. Festgehalten werden soll außerdem, dass in den demokratischen Republiken der Zwischenkriegszeit eine relative große Bereitschaft bestand, der Verjährung einen weiten Anwendungsbereich zu geben. Mit der Einschränkung der Verjährung als Institut des »liberalen Staates«1651 wurde dann allerdings bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme begonnen.1652

1648 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung, Berlin 1925, S. 56–58, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 296–298; Begründung zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1927), S. 59–62, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 539–542; ErläutRV 49 NR 3. Session, S. 115–118, siehe dazu Kapitel II.8. 1649 ASHOLT 2016, S. 41. 1650 Lediglich LAMMASCH/RITTLER 1926, S. 52–57; KADECKA 1931, S. 38–40. 1651 In diesem Sinn und im »totalen Staat« entsprechend kritisch bewerteten beispielsweise die Professoren Georg Dahm und Edmund Mezger die Verjährung, Protokoll der 8. Sitzung der Strafrechtskommission vom 18. Dezember 1933, S. 12, 18, abgedruckt in: SCHUBERT 1988, S. 196, 202. 1652 Das nationalsozialistische Verjährungskonzept wird in Kapitel III. ausführlich behandelt.

340

6.

Darstellung der Forschungsergebnisse

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafmacht, das heißt die Verjährung, sowohl von der Strafrechtswissenschaft als auch der Politik kritisch bewertet. Die strengen Verjährungsregelungen der nationalsozialistischen Gesetzentwürfe unterscheiden sich stark von den zu Beginn der NS-Herrschaft geltenden großzügigen Regelungen des deutschen Reichsstrafgesetzbuches und von den Bestimmungen der Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit. Mitunter war gar geplant, den Namen Verjährung nicht mehr zu gebrauchen, um den grundsätzlichen Wandel der Anschauungen hervorzuheben.1653 Während für die gemeinsamen deutschösterreichischen Strafgesetzentwürfe der Weimarer Republik bzw. der Ersten Republik die großzügigen Verjährungsregelungen des Reichsstrafgesetzbuches die Grundlage gebildet hatten, wurden die strengen österreichischen Verjährungsregeln des Strafgesetzes 1852 als veraltet betrachtet. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wandelte sich diese Einschätzung. Das reichsdeutsche Verjährungsrecht wurde abgelehnt und das restriktive österreichische Verjährungsrecht als Vorbild für die nationalsozialistische Strafrechtsreform und einzelne Strafgesetznovellen herangezogen.1654 Eine absolute zeitliche Grenze der staatlichen Strafmacht war während der NSHerrschaft kaum und wenn dann nur für minderschwere Straftaten geplant. Das NS-Strafrecht tendierte vor allem für die Verfolgungsverjährung zu einer Opportunitätslösung.1655 Die Opportunitätslösung befreite die Verfolgungsbehörden nach Ablauf bestimmter Fristen von ihrer Strafverfolgungspflicht. Bei den meisten, nach manchen Entwürfen bei allen Straftaten hatten die Behörden die Möglichkeit, von der Strafverfolgung abzusehen, wenn seit der Tatbegehung bestimmte Fristen verstrichen waren. Ihr Recht, eine solche vorzunehmen, blieb dagegen bestehen. Damit erweiterte die Opportunitätslösung die staatliche Strafmacht mehr, als sie sie beschränkte. Parallelen bestehen insofern zum Josephinischen Strafgesetzbuch, das die Verjährung gar nicht zuließ und damit auf eine zeitliche Beschränkung der Strafmacht verzichtete, dafür den Behörden aber die Möglichkeit gab, mittels Begnadigung von dem Vollzug der Strafe abzusehen, ohne bindende Kriterien für die Entscheidung über die Begnadigung zu statuieren.1656 1653 Begründung des Entwurfs zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, S. 25, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, S. 396. 1654 Siehe dazu beispielsweise III.3.5. und III.4. 1655 Siehe dazu im Detail Kapitel III.3. und III.4. 1656 Siehe dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.1. sowie in dieser Monographie, Resümee VIII.2.

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

341

In den Entwürfen für eine Strafprozessordnung war für minderschwere Straftaten noch eine absolute zeitliche Grenze der Strafverfolgung statuiert. Bei den schwersten Straftaten war dagegen eine unbefristete Verfolgungspflicht geplant. Durchgehend umgesetzt war die Opportunitätslösung in diesen Entwürfen nur für mittelschwere Straftaten.1657 In dem Entwurf zur Neufassung des Reichsstrafgesetzbuchs aus dem Jahr 1944 war die Opportunitätslösung dagegen vollständig verwirklicht und weder eine unbefristete Verpflichtung der Behörden zur Strafverfolgung noch eine absolute zeitliche Grenze ihrer Verfolgungsbefugnis vorgesehen.1658 Die Vollstreckbarkeitsverjährung wurde während der NS-Herrschaft noch kritischer beurteilt als die Verfolgungsverjährung. Sie stellt auch den bei weitem größeren Eingriff in die staatliche Strafmacht dar, weil sie nicht nur die abstrakte Verfolgungsbefugnis gegen eine/n nicht festgestellte/n und oft auch nicht mehr feststellbare/n TäterIn, sondern das Recht, das rechtskräftige Urteil, den staatlichen Machtspruch, zu vollstrecken, zum Erlöschen bringt. In dem Entwurf für ein Strafvollzugsgesetz war die Vollstreckungsbefugnis bei schwersten Straftaten »unverjährbar«, für die meisten Straftaten aber war ein dreistufiges Modell vorgesehen. Auf eine Phase der Vollstreckungspflicht sollte eine Phase der Vollstreckungsmöglichkeit und daran anschließend ein Vollstreckungsverbot folgen.1659 In dem Entwurf zur Neufassung des Reichsstrafgesetzbuchs war die Zulassung der Vollstreckbarkeitsverjährung nach dem Vorbild des österreichischen Strafgesetzes 1852 nicht geplant. Ein rechtskräftiges Urteil hätte danach unbefristet lange vollstreckt werden müssen.1660 Kriterien, nach denen die Behörden in der Phase der Verfolgungs- bzw. Vollstreckungsmöglichkeit über die Einleitung der Strafverfolgung und -vollstreckung entscheiden sollten, wurden in manchen Gesetzentwürfen1661 bzw. dem mit der Zweiten Strafrechtsangleichungsverordnung neu eingefügten § 66 Abs. 2 dRStGB1662 nicht genannt. In anderen Entwürfen wurde dagegen auf den »Standpunkt der Volksgemeinschaft«1663 oder den »Schutz des Volks«, die »Erforderlichkeit der Sühne« sowie das »rechtschaffene Leben« des/der Beschul-

1657 1658 1659 1660 1661

Dazu ausführlich in Kapitel III.3.3. Siehe dazu Kapitel III.3.5. Siehe dazu Kapitel III.3.3. Siehe dazu Kapitel III.3.5. So in den Entwürfen zu einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung, abgedruckt in: SCHUBERT 1991, siehe dazu Kapitel III.3.3. 1662 Dazu ausführlich Kapitel III.4.; nach den Gesetzesmaterialien musste sich der/die TäterIn der Begünstigung innerhalb der Verjährungsfrist »würdig« erwiesen haben. 1663 So in § 48 Abs. 2 Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst allgemeiner Begründung (Reichsjustizministerium, August 1939), abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 427, siehe dazu Kapitel III.3.3.

342

Darstellung der Forschungsergebnisse

digten seit der Tatbegehung Bezug genommen.1664 Diese Kriterien hätten den Behörden die Berücksichtigung von general- und spezialpräventiven Strafbedürfnissen sowie Vergeltungsbedürfnissen der Rechtsgemeinschaft ermöglicht. Beispielsweise hätte es vom »Standpunkt der Volksgemeinschaft« geboten sein können, resozialisierte TäterInnen nicht mehr zu bestrafen oder Straftaten nicht mehr zu ahnden, die aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden waren. Damit wäre der Schluss verbunden gewesen, dass eine Strafe dann weder zur Sühne noch zum Schutz des Volks notwendig ist. Jede dieser Auslegungen ist aber nur möglich, nicht zwingend. Die Erläuternden Bemerkungen legen nahe, dass mit »rechtschaffen« primär »gemeinschaftstreu« gemeint war.1665 Die herangezogenen Kriterien erscheinen insgesamt jedenfalls zu unbestimmt, um die staatliche Strafbefugnis tatsächlich zu beschränken. Die Behörden und letztendlich das weisungsbefugte Reichsjustizministerium hätten in der Phase der Opportunität relativ frei über die Durchführung der Strafverfolgung und -vollstreckung entscheiden können. Damit hätte die Opportunitätslösung diesen die Möglichkeit gegeben, das Strafrecht willkürlich einzusetzen. Von dieser Möglichkeit sollte wohl primär zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung des nationalsozialistischen Regimes Gebrauch gemacht werden. Die Verschiebung der Regelungen über die zeitliche Begrenzung der Strafverfolgungs- und -vollstreckungsbefugnis in das Verfahrensrecht brachte die Schwächung des Verjährungsgedankens zum Ausdruck.1666 Umgesetzt wurde diese Neuerung nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch das Reichsgericht, das dem Verjährungsinstitut des Reichsstrafgesetzbuches entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung ausschließlich prozessualen Charakter bescheinigte und damit dem Gesetzgeber auch eine rückwirkende Einschränkung der Verjährbarkeit und eine Aufhebung eingetretener Verjährungen ohne gesetzliche Rückwirkungsklausel ermöglichte. Das Verjährungsinstitut des österreichischen Strafgesetzbuches wurde dagegen auch vom Reichsgericht dem materiellen Recht zugeordnet.1667 Dessen ohnehin schon restriktiven Verjährungsregeln erfuhren jedoch während der NS-Herrschaft weitere Verschärfungen, die allerdings bereits mit dem Gesetz vom 12. Juni 1945 über die »Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts« zurückgenommen wurden.1668

1664 So in § 66 Entwurf des Justizministeriums vom 29. 06. 1944 zur Neufassung der §§ 1–79 StGB. Entwurf, abgedruckt in: SCHUBERT 1999, S. 276, siehe dazu Kapitel III.3.5. 1665 Siehe dazu Kapitel III.3.5. 1666 Siehe dazu Kapitel III.3.2.–III.3.3. und III.5. 1667 Siehe dazu Kapitel III.5. 1668 Siehe Kapitel IV.2.1.

Die Verjährungsfeindlichkeit des nationalsozialistischen Strafrechts

343

Das nationalsozialistische Verjährungskonzept bildete insgesamt ein Gegenmodell zu den Verjährungsregeln der Strafgesetzentwürfe der Zwischenkriegszeit.1669 Martin Asholt stellt in seiner Habilitation dennoch gewisse Kontinuitäten fest: So gab es in Deutschland schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme Bestrebungen, die Verjährung ins Prozessrecht zu verschieben. Zudem vertritt Asholt die Auffassung, dass die Opportunitätslösung des nationalsozialistischen Verjährungsrechts ihre Vorläufer in den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit hatte.1670 In diesen war zum Teil die Möglichkeit vorgesehen gewesen, die Verjährungsfristen durch Gerichtsbeschluss zu verlängern, »wenn es die besonderen Umstände des Falles gebieten«.1671 Dieses Kriterium war so unbestimmt, dass damit die Entscheidung über die Verlängerung der Verjährungsfristen in das gerichtliche Ermessen gestellt worden wäre, allerdings nicht unbeschränkt lange, denn in allen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit war im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Entwürfen eine absolute Verjährung für alle Straftaten vorgesehen, das heißt ein Endtermin, an dem die Verjährung jedenfalls eintrat, ohne weitere Möglichkeit zur behördlichen Fristverlängerung.1672 Nicht außeracht gelassen werden darf außerdem, dass die zeitlich begrenzte Möglichkeit der Fristverlängerung durch Gerichtsbeschluss die unbeschränkte Unterbrechungsmöglichkeit des deutschen Reichsstrafgesetzbuches und des österreichischen Strafgesetzbuches ersetzen sollte und damit den Einfluss der Behörden auf den Verjährungseintritt bereits beschränkt hätte. In späteren Entwürfen der Zwischenkriegszeit war überhaupt keine Möglichkeit zur Verlängerung der gesetzlichen Verjährungsfristen durch die Strafverfolgungs- und -vollstreckungsbehörden vorgesehen, denn bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme war das Streben nach einer absoluten zeitlichen Grenze der Strafverfolgung und -vollstreckung zentral gewesen. Behördliches Ermessen hinsichtlich des Eintritts der Verjährung sollte weitgehend ausgeschaltet werden.1673 Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen liefen dagegen darauf hinaus, die Entscheidung über den Eintritt der Verjährung in großem Umfang dem Ermessen der Justizverwaltungsbehörden zu überlassen.1674 1669 Dazu ausführlich in Kapitel II. 1670 ASHOLT 2016, S. 42–44. 1671 So beispielsweise § 81 und § 84 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 (= Entwurf Radbruchs 1922), S. 10f, abgedruckt in: SCHUBERT/REGGE 1995, S. 154f, siehe dazu ausführlich Kapitel II.6. 1672 Dazu ausführlich Kapitel II.4.–7. sowie II.9. 1673 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.6.3.–V.6.4. und in dieser Monographie, Kapitel II.4.–II.10. 1674 Dazu ausführlich Kapitel III.3., III.4. und III.6.

344

Darstellung der Forschungsergebnisse

Das Ziel, das vom NS-Regime mit der Einschränkung des Verjährungsinstitutes verfolgt wurde, bestand wohl schlicht darin, die staatliche Strafmacht in zeitlicher Hinsicht zu erweitern. Die Mitglieder der Strafrechtskommission formulierten dieses staatliche Interesse recht deutlich, indem sie die Auffassung vertraten, ein bindender Verzicht des Staates auf seinen Strafanspruch sei unmöglich und verletze dessen Würde. In diese Richtung geht auch das Argument, es handle sich bei der Verjährung um ein zivilrechtliches Institut, das nur im Verhältnis zwischen gleichberechtigten Partnern zur Anwendung kommen dürfe, die Strafrechte des Staates aber nicht beschränken könne.1675 Die Tendenz, auf eine staatliche Selbstbeschränkung, die auch die Verjährung mit sich bringt, zu verzichten, entspricht der nationalsozialistischen Strafrechtsideologie1676 und dem Regierungssystem der Diktatur.

7.

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik« und dem Strafgesetzbuch des Jahres 1974

Bei den Strafrechtsreformarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich wurde bewusst an die Reformarbeiten der Zwischenkriegszeit angeknüpft. Der Vorsitzende der Strafrechtskommission des Justizministeriums Ferdinand Kadecˇka hatte Österreich schon bei den Arbeiten an der gemeinsamen deutschösterreichischen Strafrechtsreform der Zwischenkriegszeit vertreten. Als Referent schlug Kadecˇka die einzelnen Bestimmungen vor, über die dann vom Ausschuss diskutiert wurde.1677 Im Verjährungsrecht orientierte er sich an den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen, insbesondere an dem von ihm mitverfassten Entwurf Radbruchs. Deren Verjährungsregelungen bauten auf dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch (1871) und rein deutschen Vorgängerentwürfen auf. Bei den Arbeiten an der Strafrechtsvereinheitlichung der Zwischenkriegszeit kamen, wie oben dargestellt, von österreichischer Seite im Bereich des Verjährungsrechts kaum Impulse.1678 Auf diese Weise fanden zahlreiche Elemente des deutschen Verjährungsrechts Eingang ins Strafgesetzbuch 1974, wohingegen sich kaum Einflüsse des österreichischen Rechts nachweisen lassen.1679 1675 1676 1677 1678 1679

Der Diskurs der NS-Juristen zur Verjährung wird in Kapitel III.3.2. dargestellt. Zu dieser siehe Kapitel III.2. Siehe dazu Kapitel VI.2.1. Resümee VIII.5.; dazu ausführlich Kapitel II.4.–II.10. Zu den Verjährungsregelungen des Kommissionsentwurfs 1962, die die Grundlage für sämtliche weiteren Strafgesetzentwürfe der »Zweiten Republik« und das Strafgesetzbuch 1974 bildeten, siehe Kapitel VI.3.1., dabei wird auch gezeigt, welche Regelungen aus den deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit übernommen wur-

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik«

345

Wie in den anderen Strafgesetzen und Strafgesetzentwürfen, die in dieser Arbeit behandelt werden, zeigt sich auch in den nach dem Jahr 1945 ergehenden Strafgesetzentwürfen und dem Strafgesetzbuch 1974 ein Zusammenhang zwischen deren Begründung der Strafe und deren Begründung der Verjährung, das heißt zwischen Strafzweck- und Verjährungstheorie: Die Strafrechtskommission des Justizministeriums legte sich bei der Ausarbeitung des Kommissionsentwurfs nicht auf eine bestimmte Strafzwecktheorie fest. Die Erläuterungen zu dem darauf aufbauenden Ministerialentwurf 1964 wurden bewusst »neutral« und für alle Strafzwecktheorien offen formuliert. Der Gesetzestext des Ministerialentwurfs 1964 zeigt aber keine Einflüsse des Vergeltungsgedankens. Vielmehr liegen dem Gesetzestext selbst ausschließlich generalpräventive und spezialpräventive Zielsetzungen zugrunde. Insgesamt zeigt der Ministerialentwurf 1964 eine starke Fokussierung auf den/die TäterIn. Dessen/Deren Besserung und Resozialisierung stellt neben dem Schutz der Allgemeinheit ein wesentliches Ziel des StGE 1964 dar. Überhaupt sollte die Strafe nur ultima ratio sein und nur dann zum Einsatz kommen, wenn andere Mittel der gesellschaftlichen Reaktion versagen.1680 Diese Ausrichtung des Ministerialentwurfs 1964 verwundert nicht, entstand er doch unter der Federführung von Justizminister Christian Broda, der als »Vater des Strafgesetzentwurfs«1681 betrachtet wird. Broda war bestrebt, das Strafrecht zu rationalisieren und den Vergeltungsgedanken zu eliminieren. Von allen Strafrechtswissenschaftlern beeinflussten wohl Ferdinand Kadecˇka und Friedrich Nowakowski den Strafgesetzentwurf 1964 und letztendlich auch das Strafgesetzbuch 1974 am stärksten. Sie teilten Brodas Ablehnung des Vergeltungsgedankens und zumindest Kadecˇka auch seine Präferenz für die spezialpräventive Strafzwecktheorie.1682 Der Gesetzestext und die Erläuternden Bemerkungen zu den einzelnen Verjährungsregelungen des StGE 1964 zeigen deutlich, dass auch die Ausgestaltung des Verjährungsrechts ausschließlich nach generalpräventiven und spezialpräventiven Gesichtspunkten erfolgte. Beide Verjährungsarten sind zugelassen, die Fristen nahezu gleich lang. Das Argument der Beweisschwierigkeiten, das nur die Verfolgungsverjährung gerechtfertigt hätte, hatte damit nur unterstützende Bedeutung. Die Länge der Verjährungsfrist richtet sich nach der abstrakten Strafandrohung für das in Frage kommende Delikt oder nach der verhängten Strafe für die Tat. In diesen kommt nach den Erläuternden Bemerkungen das Ausmaß des strafrechtlichen Reaktionsbedürfnisses zum Ausdruck und danach wurden auch die Verjährungsfristen bestimmt. Die vom StGE 1964 verfolgten Zwecke den, und werden die kaum erkennbaren Einflüsse des österreichischen Strafgesetzes 1852 herausgearbeitet. 1680 Siehe dazu Kapitel VI.2.2.1. 1681 KRIECHBAUMER 1981, S. 213. 1682 Siehe dazu Kapitel VI.2.2.1.; zur Strafzweckauffassung Kadecˇkas siehe auch Kapitel II.3.2.

346

Darstellung der Forschungsergebnisse

sind die Generalprävention und die Spezialprävention. Wenn kein Strafbedürfnis in generalpräventiver und spezialpräventiver Hinsicht mehr besteht, dann soll die Verjährung eintreten.1683 Das Verjährungsrecht des StGE 1964 nimmt besondere Rücksicht auf die spezialpräventive Notwendigkeit der Strafverfolgung und -vollstreckung. Wenn sich der/die TäterIn in der Verfolgungsverjährungsfrist eines Strafgesetzverstoßes schuldig macht, der auf der »gleichen schädlichen Neigung« beruht, oder er/ sie in der Vollstreckungsverjährungsfrist nochmals wegen irgendeines Strafdeliktes verurteilt wird, endet die Verjährungsfrist für die erste Tat nicht, bevor auch die Frist für die zweite Tat abgelaufen ist. Einerseits soll dies sicherstellen, dass nur der/die gebesserte und resozialisierte TäterIn in den Genuss der Verjährung kommt. Andererseits wird angenommen, dass von einem/einer TäterIn, der/die sich längere Zeit strafrechtskonform verhalten hat, keine größere Gefahr ausgeht als von einem durchschnittlich rechtstreuen Menschen. Im Hinblick auf die Nachteile des Übels Strafe will der StGE 1964 den/die resozialisierte/n TäterIn bei fehlender spezialpräventiver Strafnotwendigkeit vor derselben schützen. Dieses Ziel wird auch mit der Streichung des noch im Strafgesetzentwurf 1962 vorgesehenen Ruhens der Verjährung, wenn dem Beginn oder der Fortsetzung der Strafvollstreckung ein rechtliches Hindernis entgegensteht, was beispielsweise bei parlamentarischer Immunität oder Vollzugsuntauglichkeit des/der Verurteilten der Fall ist, sowie der Streichung des Ruhens bei einer Flucht des/der Verurteilten ins Ausland verfolgt.1684 Mit seiner Regelung des Beginns der Verfolgungsverjährung nimmt der StGE 1964 zur Vermeidung von Härten für den/die TäterIn sogar eine Verjährung in Fällen in Kauf, in denen zweifelsfrei generalpräventive Strafbedürfnisse und Vergeltungsbedürfnisse der Rechtsgemeinschaft bestehen.1685 Rein spezialpräventiven Zwecksetzungen diente außerdem die Verjährung der verhängten vorbeugenden Maßnahmen1686 sowie auch die aus dem Entwurf Radbruchs übernommene Verpflichtung der Gerichte, vor dem Beginn des Vollzuges von freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen die Notwendigkeit des Maßnahmenvollzuges erneut zu prüfen, wenn seit ihrer Verhängung drei Jahre verstrichen waren. Stellte das Gericht fest, dass der/die schuldunfähige TäterIn nicht mehr gefährlich war, sollte die einstmals verhängte Maßnahme mangels spezialpräventiver Strafnotwendigkeit nicht mehr vollzogen werden.1687 Die Täterorientierung des Ministerialentwurfs und die besondere Bedachtnahme auf dessen/deren Resozialisierung zeigen sich damit auch im Verjährungsrecht. 1683 1684 1685 1686 1687

Siehe dazu Kapitel VI.3.2. und Kapitel VI.3.3. Dazu ausführlich Kapitel VI.3.3.a) und b). Dazu ausführlich Kapitel VI.3.3.a). Siehe dazu schon oben Kapitel VI.3.3. Siehe dazu Kapitel VI.3.3.c).

Die Verjährung in den Strafgesetzentwürfen der »Zweiten Republik«

347

Die Verjährungsregelungen des Ministerialentwurfs 1964 und die diesbezüglichen Erläuterungen wurden größtenteils unverändert in alle nachfolgenden Strafgesetzentwürfe und dazugehörenden Erläuternden Bemerkungen übernommen.1688 Dies gilt auch für den konservativen ÖVP-Strafgesetzentwurf des Jahres 1968. Dieser sieht nur eine kleinere Änderung der Verjährungsbestimmungen vor, die der Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens in diesem Strafgesetzentwurf entspricht. Er fordert für den Eintritt der Verjährung über den Zeitablauf hinaus die Schadenswiedergutmachung nach Kräften. Dieses Erfordernis beruht auf der Annahme, dass das Vergeltungsbedürfnis der Rechtsgemeinschaft schneller erlischt, wenn der/die TäterIn den verursachten Schaden wiedergutgemacht oder sich zumindest darum bemüht hat. Außerdem erachtet der Strafgesetzentwurf 1968 bei Nichterfüllung dieser Bedingung die Resozialisierung des Täters/der Täterin als nicht erwiesen.1689 Die SPÖ-Alleinregierung kehrte im Jahr 1971 mit dem als Regierungsvorlage eingebrachten Strafgesetzentwurf weitgehend zu dem unter Justizminister Broda ausgearbeiteten Ministerialentwurf aus 1964 und damit auch zu dessen Verjährungsregelungen zurück. Die vom Unterausschuss des Justizausschusses des Nationalrates beschlossenen Änderungen waren eher gering. Generell fällt auf, dass in den Ausschussberatungen die ÖVP-Vertreter, die noch stärker am Vergeltungsgedanken festhielten,1690 gemeinsam mit den FPÖ-Vertretern Verschärfungen im Verjährungsrecht vorschlugen und sogar die weitgehende Streichung der Vollstreckbarkeitsverjährung forderten, ohne allerdings Bezug auf eine Strafzwecktheorie zu nehmen. Die Ministerialbeamten und SPÖ-Vertreter agierten gewissermaßen als Verteidiger der Regelungen der Regierungsvorlage. Vor allem Justizminister Broda argumentierte dabei mit der fehlenden spezialpräventiven Strafnotwendigkeit: StraftäterInnen, die lange Zeit strafrechtskonform gelebt hatten, seien in der Regel wieder voll integriert. Da dann keine Resozialisierungsaufgabe des Strafrechts mehr bestünde, sollte die Verjährung der staatlichen Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungspflicht eine zeitliche Grenze setzen.1691 Das Grundkonzept des Ministerialentwurfs 1964 blieb dann auch erhalten. Die Analyse von dessen Strafzweck- und Verjährungskonzept gilt auch für das Strafgesetzbuch 1974. Wenn die Nachteile des Übels Strafe für den/die TäterIn, sein soziales Umfeld und die Allgemeinheit insgesamt als größer als der generalpräventive und spezialpräventive Nutzen derselben erachtet werden, soll Verjährung eintreten. Ein/e nicht mehr gefährliche/r TäterIn kann lange Zeit 1688 Siehe dazu Kapitel VI.3.3.–VI.3.6. 1689 Siehe dazu Kapitel VI.3.5. 1690 Zu den Divergenzen über den Zweck der Strafe bei den Arbeiten an der Strafrechtsreform der »Zweiten Republik« siehe Kapitel VI.2.2. und VI.2.3. sowie Kapitel VI.3.2. 1691 Siehe dazu Kapitel VI.3.6.

348

Darstellung der Forschungsergebnisse

nach der Begehung der strafbaren Handlung sogar dann durch die Verjährung straffrei werden, wenn generalpräventive Strafbedürfnisse bestehen.1692 Die Verjährung der verhängten Strafe ist seit dem Jahr 1975 Bestandteil des österreichischen Strafrechts. In der Praxis kommt die Vollstreckbarkeitsverjährung wohl weitaus seltener vor als die Verfolgungsverjährung. Der Anwendungsbereich der Vollstreckbarkeitsverjährung wurde außerdem vom Unterausschuss des Justizausschusses gegenüber den Vorgängerentwürfen deutlich beschränkt. Dies geschah ohne Bezugnahme auf die theoretischen Grundlagen der Verjährung. Ob die Fortlaufhemmung, das heißt die Nicht-Einrechnung von Zeiten, in denen sich der/die TäterIn im Ausland befindet, mit der Begründung der Verjährung vereinbar ist, erscheint fraglich. Flüchtigen TäterInnen wird damit jedenfalls die Möglichkeit genommen, während ihres Auslandsaufenthaltes straffrei zu werden, und das war das Ziel der Ausschussmitglieder.1693 Dafür beschloss der Unterausschuss des Justizausschusses des Nationalrates eine Herabsetzung der gesetzlichen Höchststrafandrohung für Taten junger Erwachsener.1694 Infolgedessen beträgt die Verfolgungsverjährungsfrist für Taten junger Erwachsener maximal zwanzig Jahre, die Straftaten junger Erwachsener sind also niemals unverjährbar.1695 Dies trägt der gegenwärtig vorherrschenden Auffassung Rechnung, dass angesichts der noch nicht abgeschlossenen persönlichen Entwicklung jugendlicher StraftäterInnen deren Resozialisierung rascher möglich ist.1696 Davon abgesehen waren bei Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 aber noch keine besonderen Verjährungsbestimmungen für Straftaten Jugendlicher oder junger Erwachsener vorgesehen.1697 Eine Systemwidrigkeit stellt im Ministerialentwurf 1966, der Regierungsvorlage 1971 und auch dem Strafgesetzbuch 1974 jedenfalls die Unverjährbarkeit der schwersten Straftaten und verhängten Strafen dar, die ab dem Jahr 1966 vorgesehen ist. Der Legist der Strafgesetzentwürfe Nowakowski, der diese auch inhaltlich stark beeinflusste, sah in der Unverjährbarkeitsregel eine Abkehr vom Zweckgedanken im Strafrecht und eine Gefahr für die gesamte Strafrechtsreform, weil seiner Meinung nach eine unbefristete Strafverfolgung und -vollstreckung kriminalpolitisch nicht notwendig sei und diese eine Rückkehr zum Vergeltungsgedanken bedeute.1698 Diese Regelungsänderung war durch den besonde1692 1693 1694 1695

Siehe Kapitel VI.3.3. und VI.3.6. sowie VI.4. Siehe dazu Kapitel VI.3.6. § 36 StGB 1974; AB 959 BlgNR 13. GP, S. 9. Verhängte Strafen von über zehn Jahren sind allerdings immer unverjährbar, auch dann, wenn sie über eine/n junge/n Erwachsene/n verhängt werden, siehe dazu Kapitel VI.3.6. 1696 Dazu ausführlich Kapitel VII.2. 1697 Zu den Verjährungsregelungen des Strafgesetzbuchs 1974 inklusive der vom Unterausschuss des Justizausschusses des Nationalrates beschlossenen Änderungen siehe Kapitel VI.3.6. 1698 Dazu ausführlich Kapitel IV.4.4.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

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ren Fall der NS-Morde bedingt, deren Verjährung verhindert werden sollte. Ursprünglich gab es keine Partei, die eine unbefristete Verfolgung schwerster Straftaten und Vollstreckung schwerster Strafen kriminalpolitisch für notwendig erachtet hatte, aus politischen Gründen wurde aber keine Sonderregel für die NSMorde getroffen, sondern der Weg einer allgemeinen Regelungsänderung gewählt.1699 Nach derzeitigem Wissensstand wirkt der Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe1700 auf einen Menschen, der sich seit zumindest zwei Jahrzehnten strafrechtskonform verhalten hat, eher entsozialisierend als resozialisierend und kann eine bereits erfolgte Resozialisierung zunichtemachen.1701 Dann aber läuft eine unbefristete Strafverfolgung und Strafvollstreckung dem vom Strafgesetzbuch 1974 angestrebten und von Justizminister Broda seinerzeit sogar bevorzugten Strafzweck der Spezialprävention tatsächlich zuwider.

8.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

8.1.

Sonderregeln für die nationalsozialistischen Straftaten

In der unmittelbaren Nachkriegszeit ordnete das Kriegsverbrechergesetz (KVG) an, dass die Verjährung der im KVG angeführten strafbaren Handlungen frühestens mit dem Tag des Inkrafttretens des KVG, dem 29. Juni 1945, zu laufen begann (§ 11 Abs. 1 KVG). Sofern der/die TäterIn aus »nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen gehandelt hat, die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen sind«, galt dies auch für Straftaten, die nicht nach dem KVG oder dem VerbotsG, sondern nur nach dem allgemeinen Strafgesetz strafbar waren (§ 11 Abs. 1 KVG). Nach dem Verbotsgesetz (VerbotsG) begann die Verjährung für die von ihm unter Strafe gestellten Handlungen frühestens mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerbotsG, nämlich dem 6. Juni 1945, zu laufen (§ 16 VerbotsG). Eine nach dem Strafgesetz bereits eingetretene Verjährung stand der Untersuchung und Bestrafung bei diesen Taten nicht entgegen (§ 11 Abs. 2 KVG). Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde damit bei den nationalsozia1699 Siehe dazu ausführlich Kapitel IV.2.2. und Kapitel IV.4. sowie zusammenfassend Kapitel VI.3.4.; vorgeschlagen wurde dieser Ausweg von der ÖVP, die die allgemeine Unverjährbarkeit schwerster Straftaten mit dem Vergeltungsgedanken begründete und damit kriminalpolitisch weniger Probleme mit der Unverjährbarkeit schwerster Straftaten hatte als die SPÖ. 1700 Die Strafverfolgung wegen einer unverjährbaren Straftat wird wegen deren Schwere in der Regel zum Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe führen. 1701 Zur kriminalpolitischen Bewertung der Unverjährbarkeit ausführlich Kapitel VI.3.7.

350

Darstellung der Forschungsergebnisse

listischen Straftaten nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet und zwar auch dann nicht, wenn nach dem Strafgesetz bereits Verjährung eingetreten war. Letzteres bedeutete, dass Handlungen, die infolge des Verjährungseintritts bereits straffrei geworden waren, nun wieder strafrechtlich verfolgt werden konnten.1702 Beiden Gesetzen scheint die richtige Überlegung zugrunde zu liegen, dass der Aufschub der Verjährung notwendig war, um die nationalsozialistischen Straftaten überhaupt effektiv verfolgen zu können. Denn während der NS-Zeit wurde das staatlich gestützte Systemunrecht trotz formaler Strafbarkeit vom Regime naturgemäß nicht verfolgt. Nach dem damals geltenden österreichischen Strafrecht begann die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen Straftaten aber mit dem Zeitpunkt der Tatbegehung zu laufen. Vor allem verhältnismäßig leichte Straftaten, die im Interesse des NS-Regimes begangen worden waren, wären daher 1945 bereits verjährt und nicht mehr strafrechtlich verfolgbar gewesen. Bei anderen NS-Straftaten hätte sich in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Begehung die Dauer, die dem Staat zur Strafverfolgung zur Verfügung stand, verkürzt. Dieses Ergebnis korrigierte das KVG. Eine Auseinandersetzung mit dem Zweck der Verjährung fand damals nicht statt.1703 Nach der Abschaffung der Volksgerichte im Jahr 1955 und der NS-Amnestie im Jahr 1957 galten für NS-Straftaten keine Sonderregelungen mehr, sondern uneingeschränkt die allgemeinen Straftatbestände und Verjährungsregelungen. Da damals die längste Verjährungsfrist zwanzig Jahre betrug, verjährten auch die schwersten NS-Verbrechen im Anschluss an die Aufhebung des KVG im Jahr 1957 nach und nach. Spätestens im Jahr 1965 wären ohne vorangehendes behördliches Einschreiten alle NS-Straftaten verjährt gewesen.1704 Im Jahr 1963 beschloss das österreichische Parlament allgemein, den Verjährungsbeginn auf den 29. Juni 19451705 zu verlegen, »sofern es sich um Straftaten nach dem Kriegsverbrechergesetz oder dem Verbotsgesetz handelte oder der Täter aus nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen handelte, die im Interesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung ergangen waren.«1706 Von dieser Regel waren allerdings nur noch nicht verjährte Straftaten erfasst, weil bei bereits verjährten Taten der Täter einen Anspruch auf Straffreiheit erworben habe. Eine Rückwirkungsklausel für bereits verjährte Taten iSv § 11 Abs. 2 1702 Zur Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Rückwirkungsverbot siehe Kapitel IV.3.1. 1703 Zum Kriegsverbrechergesetz und dem Verbotsgesetz sowie insbesondere ihren Verjährungsregelungen siehe Kapitel IV.3.1. und IV.3.2. 1704 Siehe dazu Kapitel IV.3.3. 1705 Den Tag des Inkrafttretens des Kriegsverbrechergesetzes, an dem bis zu dessen Aufhebung die Verjährungsfrist für die von ihm erfassten Delikte zu laufen begann. 1706 Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren, BGBl 1963/180.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

351

KVG1707 wurde unter den »geordneten Verhältnissen der Gegenwart und der bereits eingetretenen innenpolitischen Befriedung« für nicht mehr vertretbar gehalten.1708 Daher war die 1963 beschlossene Verjährungshemmung nur für die nationalsozialistischen Straftaten relevant, für die eine zwanzigjährige Verjährungsfrist galt und auch für diese nur dann, wenn sie nach dem 9. Juli 1943 begangen worden waren.1709 Diese nochmalige Verjährungshemmung hatte wohl das Ziel, eine Verfolgung neu bekannt gewordener NS-Verbrechen, die in den letzten beiden Kriegsjahren begangen worden waren, zu ermöglichen. Argumentiert wurde, dass es eine ungerechtfertigte Begünstigung der NS-Mörder gegenüber allen anderen Mördern darstelle, wenn man die Verjährung in einer Zeit, nämlich der Zeit der NS-Herrschaft, laufen lasse, in der die Systemstraftäter keine Strafverfolgung zu befürchten gehabt hatten.1710 Eine kriminalpolitische Diskussion über die Vereinbarkeit der Regelung mit dem Zweck der Verjährung fand diesmal in Ansätzen statt: Der ÖVP-Abgeordnete und spätere Unterrichtsminister Theodor Pfiffl äußerte im Rechtsausschuss Bedenken aus »christlicher Sicht«, weil mit der Verlängerung der Verfolgungsdauer das Racheprinzip anstelle des Sühneprinzips und des Gedankens der Besserung des Täters gestellt werde.1711 Die FPÖ gab die zunehmenden Beweisschwierigkeiten zu bedenken, die auch Justizminister Broda einräumte, der das Gesetz aber als nötig erachtete, bevor im Jahr 1965 ein »Strich unter diese traurige Zeit«1712 gezogen werden und die Verjährung eintreten sollte.1713

1707 Nach dem Kriegsverbrechergesetz, BGBl 1947/198, begann die Verjährungsfrist frühestens mit dem 29. Juni 1945 (§ 11 Abs. 1 KVG, Tag des Inkrafttretens des KVG) zu laufen. Eine nach dem Strafgesetz schon eingetretene Verjährung stand der Verfolgung und Aburteilung nicht entgegen (§ 11 Abs. 2 KVG), siehe dazu Kapitel IV.3.1. 1708 ErläutRV 143 BlgNR 10. GP (18. 06. 1963), S. 3. 1709 Alle anderen NS-Straftaten waren bei Inkrafttreten des Bundesgesetzes zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren am 10. Juli 1963 bereits verjährt und damit von der Verjährungshemmung nicht erfasst. 1710 Dies war auch die Auffassung des OGH. Das Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen führte nach dessen Ansicht zu keiner Ungleichbehandlung der NS-Straftäter, sondern stellte Gleichheit her, war also mit dem Gleichheitssatz des Art. 7 B-VG vereinbar, siehe Kapitel IV.3.4.; zur Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Rückwirkungsverbot siehe Kapitel IV.4.4. 1711 StenProtNR 10. GP, Sitzung 22 am 10. 07. 1963, S. 1122. 1712 So der damalige Justizminister Christian Broda, zitiert nach WIRTH 2011, S. 284. 1713 Zum Bundesgesetz zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren und der diesbezüglichen politischen Diskussion siehe ausführlich Kapitel IV.3.4.

352 8.2.

Darstellung der Forschungsergebnisse

Der kriminalpolitische Diskurs zur Verlängerung der Verjährungsfristen für schwerste NS-Straftaten

Bedingt durch die außenpolitische Entwicklung1714 war die österreichische Politik schon im Jahr 1964 erneut mit der Verjährungsfrage konfrontiert. Erstmals fand auch eine politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der kriminalpolitischen Notwendigkeit einer weiteren Verfolgung der schwersten NSStraftaten statt. Organisationen von Opfer-, und Widerstandskämpfern sowie zum Teil auch Einzelpersonen traten nun gegen die Verjährung der NS-Morde ein.1715 Das Verjährungsinstitut an sich wurde dabei nicht kritisiert und auch die Verjährung schwerster Straftaten im Allgemeinen als gerechtfertigt erachtet. Die Forderung nach einer Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste Straftaten bezog sich nur auf die NS-Verbrechen. Diese weisen als staatlich gestütztes Systemunrecht zahlreiche Besonderheiten auf, aus denen eine besondere generalpräventive Strafnotwendigkeit abgeleitet wurde. Die NS-Verbrechen hatten eine Dimension erreicht und sich durch eine Grausamkeit ausgezeichnet, die bis dahin in einem zivilisierten, hoch entwickelten Staat undenkbar erschienen war. Sie waren keineswegs in Vergessenheit geraten, sondern im allgemeinen Rechtsbewusstsein und kollektiven Gedächtnis präsent. Auch in den 1960erJahren wurden noch neue NS-Straftaten bekannt, welche die Bevölkerung beschäftigten. Die Brutalität der Verbrechen verstärkten diesen Effekt psychologisch. Zudem erschien das Bekanntwerden einer Vielzahl von neuen Fällen nach Eintritt der Verjährung vorhersehbar. Damit fehlte eine der beiden materiellrechtlichen Grundlagen, auf welche die Verjährung gestützt wurde, nämlich die erloschene Erinnerung an die Straftaten. Da die NS-Verbrechen höchst präsent waren, wurde deren weitere Verfolgung auch zur Vermittlung von Wertehaltungen und der Bewusstseinsbildung im Sinne von positiver Generalprävention als notwendig erachtet. Daneben sollte der Bevölkerung zur Abschreckung im Sinne der negativen Generalprävention bewusst gemacht werden, dass die Beteiligung an Systemunrecht jedenfalls geahndet wird.1716 Dazu kommt, dass sich ein verhältnismäßig großer Teil der österreichischen Bevölkerung an den NS-Straftaten beteiligt hatte. Bei gewöhnlichen Straftaten wurde die Bestrafung als Regel, die Verjährung als seltene Ausnahme betrachtet. Die Dimension der NS-Verbrechen, die systembedingte Nichtverfolgung und die 1714 Dazu ausführlich Kapitel IV.4.1. 1715 Deren Argumente gegen die Verjährung der NS-Straftaten werden in Kapitel IV.4.2. ausführlich behandelt. 1716 Siehe Kapitel IV.4.2. sowie Kapitel IV.4.3., IV.4.6. und IV.5.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

353

besseren Möglichkeiten der Täter, ihre Taten zu verbergen, begründeten allerdings die Annahme, dass sich bei den nationalsozialistischen Straftaten das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren und nicht die Strafe, sondern die Straffreiheit durch Verjährung zur Regel werden würde. Auf dieser Vermutung aufbauend, wurde die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten als eine Art versteckte »Generalamnestie« empfunden. Diese hätte den NS-Straftätern auch die Möglichkeit gegeben, sich ohne jedes Risiko der Strafverfolgung zu ihren Taten zu bekennen.1717 Überaus verbreitet war die Annahme, dass die Bevölkerung die strafbaren Handlungen, die im Rahmen des nationalsozialistischen Völkermords begangen worden waren, nicht im gleichen Maß allgemein verurteilte wie gewöhnliche Straftaten. Befürchtet wurde, dass die Straffreiheit der NS-Morde für die AnhängerInnen der NS-Ideologie eine Ermutigung darstellen werde und einen gefährlichen Einfluss auf die Jugend ausüben könne. Auch aus diesem Grund wurde eine weitere strafrechtliche Verfolgung des NS-Unrechtes zur Abhaltung anderer von gleichartigen Taten durch Abschreckung und Bewusstseinsbildung als besonders notwendig erachtet.1718 Die Organisationen und AktivistInnen, die gegen die Verjährung schwerster NS-Straftaten eintraten, beriefen sich darüber hinaus vielfach auf Gerechtigkeitserwägungen.1719 Von den politischen Parteien war es die SPÖ, die für eine Verlängerung der Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten eintrat. In kriminalpolitischer Sicht argumentierten ihre VertreterInnen mit der besonderen generalpräventiven Strafnotwendigkeit und der erzieherischen Wirkung der NS-Prozesse.1720 Die ÖVP lehnte eine auf die NS-Verbrechen beschränkte Sonderregelung ab1721 und schlug stattdessen vor, Mord und überhaupt alle bis zum Jahr 1950 mit der Todesstrafe bedrohten und bis dahin unverjährbare Straftaten wieder für unverjährbar zu erklären. Die Rückkehr zur Unverjährbarkeit begründete sie mit der von der SPÖ eigentlich abgelehnten Vergeltung, obgleich die gewählte Lösung wohl vor allem pragmatische Gründe hatte.1722 Die letztendlich beschlossene Regel entsprach diesem ÖVP-Vorschlag und war ein Kompromiss zwischen den Regierungsparteien, den Broda mit »ihre

1717 1718 1719 1720

Siehe Kapitel IV.4.2. Siehe Kapitel IV.4.2. sowie Kapitel IV.4.3., IV.4.6. und IV.5. Siehe Kapitel IV.4.2. Siehe Kapitel IV.4.3., IV.4.6. und IV.5. Dies deckt sich mit der grundsätzlichen Auffassung der SPÖ vom Zweck der Entnazifizierung, die sie als eine Art »Umerziehung« zur Demokratie verstand. Personen, die der nationalsozialistischen Propaganda erlegen waren, hatten nach dieser Ansicht versagt und mussten umlernen; REITER 2019, S. 20. 1721 Verfassungsrechtlich wäre eine solche wohl möglich gewesen, siehe Kapitel IV.4.3. und IV.4.5. 1722 Siehe Kapitel IV.4.4.–IV.4.6. und IV.5.–IV.6.

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Darstellung der Forschungsergebnisse

Mörder gegen unsere Mörder« charakterisierte.1723 Damit ist wohl gemeint, dass einerseits – wie von der SPÖ gefordert – die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen Morde verlängert bzw. sogar aufgehoben wurde, andererseits – wie von der ÖVP verlangt – keine Sonderregel für die NS-Verbrechen getroffen und stattdessen eine allgemeine Regelungsänderung vorgenommen wurde. Diese stellten die ÖVP-Vertreter und die amtlichen Erläuterungen als »vorgezogenen Punkt der Strafrechtsreform« dar. Damit konnte eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Notwendigkeit der weiteren Verfolgung schwerster NS-Straftaten weitgehend vermieden werden.1724 Dementsprechend vereinbarten die Regierungsparteien, dass auch im neuen Strafgesetzbuch schwerste Straftaten und verhängte Strafen unverjährbar sein sollten.1725 Die Rückkehr zur Unverjährbarkeit bedeutete freilich eine Abkehr von den Regelungen der Strafgesetzentwürfe 1962 und 1964, bei deren Abfassung man davon ausgegangen war, dass nach Ablauf bestimmter Fristen keine general- und spezialpräventive Strafnotwendigkeit mehr bestehen würde.1726 Sowohl Nowakowski als auch die FPÖ-Vertreter sahen daher in der Unverjährbarkeitsregel eine Rückkehr zum Vergeltungsgedanken und eine Gefahr für die Strafrechtsreform, weil eine unbefristete Strafverfolgung und Strafvollstreckung ihrer Ansicht nach keinen strafpräventiven Zweck erfüllte. Nach Auffassung Nowakowskis war nur bei den schwersten NS-Straftaten eine Verjährungsverlängerung aus den oben angeführten generalpräventiven Gründen kriminalpolitisch zu rechtfertigen, nicht aber die allgemeine Unverjährbarkeit schwerster Straftaten.1727 Spezialpräventive Erwägungen wurden in der Verjährungsdebatte überwiegend gegen die Verjährungsverlängerung für schwerste NS-Straftaten und auch die allgemeine Unverjährbarkeitsregel vorgebracht. Diesbezüglich hätte kein Unterschied zwischen den NS-Straftätern und anderen StraftäterInnen bestanden. Die NS-Mörder hatten vielmehr in Einklang mit einer offiziell vertretenen, wenn auch verfehlten Werteordnung gehandelt. Sie waren häufig vor und nach dem Krieg rechtstreue und gute integrierte Bürger gewesen. Es bestand kein Anlass, sie durch Strafe zu resozialisieren und zu reintegrieren. Auch die Gesellschaft musste nicht vor ihnen geschützt werden, vielmehr waren von ihnen unter den bestehenden demokratischen Verhältnissen keine gleichartigen Straftaten zu erwarten. Spezialpräventive Argumente sprachen daher nicht nur gegen eine allgemeine Unverjährbarkeitsregel, sondern auch gegen eine Verlängerung der zwanzigjährigen Verjährungsfrist für schwerste NS-Straftaten.1728 1723 1724 1725 1726 1727 1728

Handschriftliche Notizen v. Christian Broda, in: ACB, Mappe III.295.1, fol. 14. Siehe dazu Kapitel IV.4.–IV.6. Siehe Kapitel IV.4.5. Siehe dazu Kapitel IV.2.2. und VI.3.1.–VI.3.3. Siehe Kapitel IV.4.3., IV.4.6. und IV.5. Siehe Kapitel IV.4.2., IV.4.3., IV.4.6. und IV.5.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

8.3.

355

Die österreichische Lösung der Verjährungsfrage: Bewertung

Politisch kann die österreichische Verjährungslösung als gelungen betrachtet werden.1729 Einerseits wurde damit gegenüber dem Ausland die Bereitschaft zur weiteren Verfolgung der NS-Verbrechen signalisiert, andererseits im Inland eine breite öffentliche Debatte über ein kontroversielles Thema vermieden.1730 Den angestrebten generalpräventiven Zweck erfüllte die im Jahr 1965 beschlossene Unverjährbarkeitsregel allerdings nicht. Schon die verschleierte Vorgehensweise der österreichischen Bundesregierung, die eine Bezugnahme auf die NS-Straftaten vermied und die neue Unverjährbarkeitsregel als vorgezogenen Punkt der Strafrechtsreform und zugleich Klarstellung des gesetzgeberischen Willens darstellte,1731 verhinderte bewusst eine politische und gesellschaftliche Debatte über die Notwendigkeit der weiteren Verfolgung schwerer NS-Verbrechen.1732 Die Unverjährbarkeitsregel ermöglichte zwar eine unbegrenzte Strafverfolgung der nationalsozialistischen Morde, doch fanden nach dem Jahr 1965 nur noch wenige NS-Prozesse statt. In diesen ergingen zahlreiche Freisprüche und offensichtliche Fehlurteile der Geschworenengerichte, die jedoch auch vor dem Hintergrund der politischen Pardonierung der NS-Verbrechen, nicht ausreichender personeller Kapazitäten und Beweisschwierigkeiten zu sehen sind.1733 Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die beschlossene Unverjährbarkeitsregel nur einen Bruchteil der nationalsozialistischen Tötungsdelikte erfasste. Der »Mörder vom Schreibtisch« blieb straffrei. Gleiches galt für Personen, die bei der Tatbegehung das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Vor allem gegen diese Gruppe von in Österreich begünstigten NS-Mördern wurden in Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit Prozesse geführt. Von der Unverjährbarkeitsregel nicht erfasst waren schließlich auch während der NSZeit begangene vorsätzliche Tötungen, die nach § 134 StG als Mord, nach der für den/die TäterIn günstigeren Definition der §§ 211f dRStGB aber nur als Totschlag zu qualifizieren waren. Diese Lücken führten bei nationalsozialistischen Tötungsdelikten immer wieder zu Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen wegen Verjährung.1734 Selbst im Falle der Freisprüche stellten die Geschworenengerichte allerdings größtenteils fest, dass die Angeklagten Handlungen begangen hatten, die für den Tod von zum Teil mehreren hundert oder sogar tausenden Menschen kausal 1729 Sie war jedenfalls verfassungskonform und sowohl mit dem Gleichheitssatz als auch dem Rückwirkungsverbot vereinbar, siehe Kapitel IV.4.5. 1730 Siehe Kapitel IV.6. 1731 Siehe dazu Kapitel IV.4.4.–IV.4.6. und IV.5.–IV.6. 1732 Siehe Kapitel IV.6. 1733 Siehe dazu Kapitel IV.6. und ausführlich V.1.–V.3. 1734 Siehe Kapitel IV.6. und Kapitel V.2.–V.3.

356

Darstellung der Forschungsergebnisse

waren.1735 Die häufigen Feststellungen von Tötungshandlungen mit darauffolgenden Freisprüchen und die wenigen Verurteilungen zu moderaten Strafen waren nicht dazu geeignet, potentiellen TäterInnen eines staatlich organisierten Unrechts zu zeigen, »dass ihre Handlungen nicht straflos bleiben«,1736 und diese durch die Furcht vor Strafe von Systemstraftaten abzuhalten. Sie vermittelten der Bevölkerung eher den Eindruck, dass selbst für Personen, die massenhaft für ein Regime getötet hatten, die Chancen recht gut waren, ungestraft davonzukommen. Auch Wertehaltungen konnten die NS-Prozesse und ihre mediale Darstellung kaum vermitteln. Einerseits erweckten schon die häufigen Feststellungen von Tötungshandlungen mit darauffolgenden Freisprüchen den Eindruck, dass es sich bei Systemunrecht um minderschweres Unrecht oder gar kein Unrecht handelte, andererseits erfolgte in der medialen Berichterstattung keine Kontextualisierung der angeklagten Einzeltaten.1737 Die medialen Darstellungsformen standen vielmehr in Einklang mit der Opferthese, die das zentrale Narrativ der österreichischen Republik bildete.1738 Sie ersparten der österreichischen Gesellschaft die Erkenntnis, dass die vor Gericht angeklagten Mörder zu ihr gehörten, unabhängig davon, ob die Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen ausschließlich »den Deutschen«, wenigen politischen Entscheidungsträgern oder ein »paar monströsen Randerscheinungen der Gesellschaft« zugeschoben wurde.1739 Damit unterblieb auch die Einsicht, dass die NS-Verbrechen und ihre Bedingungen, wie beispielsweise ein weit verbreiteter Antisemitismus, Teil der politischen und gesellschaftlichen Kultur waren.1740 Insofern konnten die NS-Prozesse der österreichischen Bevölkerung kaum die Schuldzusammenhänge und strukturellen Bedingungen der NS-Verbrechen verdeutlichen und keine Wertehaltungen vermitteln.1741 Der positiven Generalprävention und dem kollektiven Lernen durch die NSProzesse stand im Übrigen die »Opferthese« fundamental entgegen. Eine Bevölkerung, die sich als kollektives Opfer betrachtet, kann gleichzeitig nur schwer ein lernfähiger und lernwilliger Mitverantwortlicher sein. Fraglich ist aber, ob eine staatliche Strafverfolgung zur Generalprävention nicht vor allem dann 1735 1736 1737 1738

Dazu Kapitel V.3.–V.4. Simon Wiesenthal, zitiert nach KURETSIDIS-HAIDER 2006a, S. 349. Dazu in Kapitel V.4. Zur österreichischen »Lebenslüge« siehe beispielsweise BOTZ 2012; KURETSIDIS-HAIDER 2001; LOITFELLNER 2009; UHL 2001. 1739 LOITFELLNER 2002, S. 187. 1740 LOITFELLNER 2002, S. 187. 1741 LOITFELLNER 2002, S. 191, die die mediale Berichterstattung über die Geschworenenprozesse wegen NS-Verbrechen untersucht, gelangt zu dem Schluss, dass zumindest diese in Österreich nicht zu einer Vergangenheitsaufarbeitung beigetragen hat; dazu auch in Kapitel V.4.

Die Verjährung der nationalsozialistischen Straftaten

357

notwendig ist, wenn ein vom Staat mit Strafe bedrohtes Verhalten von Teilen der Bevölkerung nicht verurteilt wird. Um tatsächlich präventiv zu wirken, hätten aber jedenfalls die gesetzlichen Grundlagen und die strukturellen Bedingungen für die Durchführung der NS-Prozesse, möglicherweise auch der Umgang der Politik mit der Rolle Österreichs während der NS-Herrschaft, geändert werden müssen.1742 In der dargestellten Form1743 waren die NS-Prozesse zur Erfüllung der generalpräventiven Zielsetzungen, die die SPÖ im Jahr 1965 mit der Unverjährbarkeit der schwersten NS-Straftaten angestrebt hatte, nicht geeignet.1744 Außerdem konnten die vielen Freisprüche und die wenigen Verurteilungen zu in der Regel moderaten Strafen, wie sie in den Geschworenenprozessen ergingen, insgesamt wohl kaum als »gerechte Vergeltung« empfunden werden. Daneben war mit der Art und Weise, in der die NS-Prozesse in Österreich damals geführt wurden, die evidente Gefahr einer sekundären Viktimisierung, das heißt einer weiteren Schädigung der Opfer durch Fehlreaktionen der mit der Tat und den Opfern befassten Personen (bspw. der Polizei, Justiz, Medien oder des sozialen Umfelds) und einer »zweiten Opferwerdung« im Anschluss an die Straftat, verbunden.1745

8.4.

Die »kalte Verjährung« der nationalsozialistischen Morde

Im Jahr 1975 trat das neue österreichische Strafgesetzbuch in Kraft. Dessen Regelungen des intertemporalen und interterritorialen Strafrechts1746 bewirkten, dass die meisten von ÖsterreicherInnen im Ausland begangenen NS-Morde mit einem Schlag verjährten. Angesichts der juristischen Komplexität dieser Regelungen sowie der mangelnden Thematisierung ihrer Konsequenzen ist davon auszugehen, dass ihr Bedeutungsgehalt nur vereinzelten politischen Entscheidungsträgern und Rechtswissenschaftlern bekannt war.1747 Die Beendigung der NS-Prozesse und Ermittlungsverfahren wegen nationalsozialistischer Morde von Österreichern im Ausland auf Grundlage der §§ 61, 62 und 65 des Strafgesetzbuches 1974 erfolgte, ohne die Aufmerksamkeit von kritischen Stimmen aus dem Inland und Ausland zu erregen. Die Regelungen lösten keine kontroverse politische und gesellschaftliche Debatte über die Beendigung der NS-Prozesse aus. Die zweifelhaften Freisprüche der 1960er- und 1970er-Jahre hatten dagegen noch 1742 1743 1744 1745 1746

Siehe Kapitel V.4. Zu den nach dem Jahr 1965 durchgeführten NS-Prozessen ausführlich in Kapitel V.3. Dazu in Kapitel IV.5. Dazu Kapitel V.4. Zu diesen juristisch hochkomplexen Regelungen und ihren Konsequenzen siehe Kapitel V.5. und V.6. 1747 Siehe Kapitel V.7.

358

Darstellung der Forschungsergebnisse

international kritische Schlagzeilen und negative Reaktionen hervorgerufen. Der Umstand, dass in Österreich keine NS-Prozesse mehr geführt wurden, war ohne Kenntnis der Ursachen wenig berichtenswert und kaum schlagzeilentauglich. Dem Ansehen Österreichs diente die »kalte Verjährung« damit überaus. So hatte Österreich bis zur Waldheim-Affäre ein weitgehend unhinterfragt positives Image im Ausland.1748 Der überwiegende Teil der österreichischen Bevölkerung wünschte sich damals ein Ende der NS-Prozesse. Auch die politischen Parteien hatten kein Interesse mehr an einer weiteren Verfolgung der NS-Straftaten, denn die Täterverfolgung kollidierte mit dem Opfermythos und dem kollektiven Opferverständnis der österreichischen Bevölkerung. Die Bestimmungen der §§ 61, 62 und 65 StGB trugen dem verbreiteten Wunsch nach einem »Schlussstrich« unter die NS-Vergangenheit dezent und verschleiert Rechnung. So gesehen war ihr Beschluss wohl nicht nur ein »Versehen« des Parlaments als Gesetzgeber, sondern für eine Gesellschaft und eine Politik, die sich nicht mit der NS-Zeit auseinandersetzen wollte, auch ein »glücklicher Zufall«.1749 Welche Auswirkungen es auf die gesellschaftliche Wahrnehmung in Österreich hatte, dass eine Vielzahl von NS-Massenmorden nicht verfolgt wurde, ist nicht abschätzbar. Von einer staatlichen Verurteilung der NS-Morde wäre jedenfalls ein Beitrag zur gesellschaftlichen Verurteilung derselben zu erwarten gewesen. Die Aufdeckung der Kausal- sowie Schuldzusammenhänge hätte wohl zu einer Sensibilisierung hinsichtlich der strukturellen Rahmenbedingungen der NS-Morde beigetragen. Der »Opfermythos« wäre durch eine konsequente Verfolgung der österreichischen NS-Mörder kontinuierlich in Frage gestellt und möglicherweise frühzeitiger aufgebrochen worden.1750 Mit Verurteilungen in NS-Prozessen war aber, wie die letzten österreichischen NS-Prozesse zeigten,1751 schon vor dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches im Jahr 1975 kaum noch zu rechnen gewesen.1752 Dazu hätte der Gesetzgeber eine geeignete gesetzliche Grundlage und Rahmenbedingungen schaffen müssen. Nur dann wäre eine judizielle Vergangenheitsaufarbeitung und die Erreichung der angestrebten generalpräventiven Wirkung überhaupt möglich gewesen. Die österreichische Verjährungslösung des Jahres 1965 war diesbezüglich nicht geeignet. Diese hatte wohl auch nicht primär den Zweck, eine geeignete gesetzliche Grundlage zur Verfolgung der schwersten NS-Straftaten zu schaffen, sondern sollte vor allem außenpolitische Komplikationen und eine innenpolitische Auseinandersetzung über ein kontroversielles Thema, die Notwendigkeit 1748 1749 1750 1751 1752

Siehe Kapitel V.8. Siehe Kapitel V.8. Siehe dazu Kapitel V.8. Dazu Kapitel V.2. Siehe Kapitel V.2.–V.3., V.7.–V.8.

Aktuelle Entwicklungen im Verjährungsrecht

359

weiterer NS-Prozesse, verhindern.1753 Eine Bereitschaft des Gesetzgebers, diese Rechtslage zu ändern, bestand nicht.1754

9.

Aktuelle Entwicklungen im Verjährungsrecht

Im Strafgesetzbuch 1974 ist die im Jahr 1965 vereinbarte Unverjährbarkeit schwerster Straftaten und Strafen bis heute verankert. Diese Vereinbarung war politisch und durch die Zeitumstände bedingt. Wie dargestellt, wurde sie zur Erfüllung eines präventiven Strafzwecks nicht allgemein für notwendig befunden. Insofern ist es beachtenswert, dass schwerste Straftaten und Strafen bis heute unverjährbar sind, während gerade die NS-Morde durch das Günstigkeitsprinzip1755 und sodann die »kalte Verjährung« davon kaum betroffen waren.1756 Die Unverjährbarkeitsregel schränkte den weiten Anwendungsbereich, den die Verjährung in den österreichischen Strafgesetzentwürfen der Jahre 1962 und 1964 hatte, deutlich ein.1757 Ähnlich weitreichende Verjährungsregelungen wie in anderen Staaten, insbesondere in Deutschland oder Frankreich, standen damit in Österreich zu keinem Zeitpunkt in Geltung. Auch international scheint der Verjährungsgedanke seine Glanzzeit derzeit hinter sich gelassen zu haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand in Europa die Tendenz, schwerste Straftaten, insbesondere Mord, oder auch nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord überwiegend rückwirkend von der Verjährung auszunehmen.1758 In den letzten Jahrzehnten nahmen, bedingt durch die in zahlreichen europäischen Staaten erst nach Eintritt der Verjährung bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in kirchlichen und staatlichen Institutionen sowie von verjährten sexuellen Übergriffen im Rahmen der #metoo-Debatte, Ausnahmen und Einschränkungen der Verjährbarkeit zu.1759 In Österreich wurde im Jahr 1998 der Beginn der Verfolgungsverjährung für taxativ aufgezählte Sexualdelikte gegen Minderjährige vom Zeitpunkt der Tatbegehung auf das vollendete 18. Lebensjahr des Opfers verlegt.1760 Im Jahr 2009 wurde der Verfolgungsverjährungsbeginn für alle Delikte an Minderjährigen, die gegen Leib und Leben, die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung oder die 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759

Siehe Kapitel IV.4.–IV.6. sowie V.2. Dazu Kapitel V.1. und V.8. Siehe dazu Kapitel IV.2.1., IV.6. und V.5. Dazu Kapitel VIII.8.4. und Kapitel V.5.–V.6., V.8. Siehe Kapitel VI.3.4. Siehe dazu vor allem Kapitel V.5. Siehe dazu Kapitel VII.4.2., VII.4.5., VII.5. sowie außerdem die Einzelbeiträge zu den Verjährungsregelungen verschiedener europäischer Staaten in SIEBER/CORNILS 2010, S. 566–705. 1760 Siehe dazu Kapitel VII.4.2.

360

Darstellung der Forschungsergebnisse

Freiheit gerichtet sind, darüber hinausgehend auf das vollendete 28. Lebensjahr des Opfers verschoben.1761 Diese Anlaufhemmungen werden damit begründet, dass ein minderjähriges Opfer von Gewalt, das häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis zum/zur TäterIn steht, in der Regel erst nach Erreichung der Volljährigkeit bzw. des vollendeten 28. Lebensjahres in der Lage ist, über das Erlebte zu sprechen. Sie erfolgten vor allem zum Schutz der minderjährigen Opfer.1762 Diesen liegt allerdings eine ähnliche Auffassung zugrunde wie den Verjährungshemmungen des Kriegsverbrechergesetzes, des Verbotsgesetzes und des Bundesgesetzes zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren: Zeiten, in denen bestimmte Straftaten im Allgemeinen nicht verfolgt werden, sollen nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet werden.1763 Fälle, in denen bestimmte Gruppen von Straftaten innerhalb der regulären Verjährungsfristen nicht verfolgt werden, sind es auch, in denen die Verjährung in der Vergangenheit zu einem Problem wurde und in Zukunft werden kann. Die Nichtverfolgung kann unterschiedliche Gründe haben, beispielsweise durch ein politisches System,1764 behördliches Versagen, institutionelle Missstände oder auch gesellschaftliche Konventionen bedingt sein. Werden Gruppen von Straftaten innerhalb der regulären Verjährungsfristen in der Regel nicht verfolgt, so erhöht dies das Risiko, dass sie nach Eintritt der Verjährung bekannt werden. Von diesem systemischen Unrechte sind viele Personen als Opfer oder TäterInnen betroffen. Gerade deshalb kann eine staatliche Strafverfolgung und Bestrafung bei Bekanntwerden der Straftaten für erforderlich gehalten werden, um der Allgemeinheit und potentiellen TäterInnen den Unwertgehalt der Taten zu vermitteln und um gleichartige Taten in Zukunft zu verhindern. Handelt es sich um staatlich organisiertes oder gedecktes Unrecht oder Straftaten, die gesellschaftlich nicht verurteilt werden, dann kann die Strafverfolgung auch eingesetzt werden, um das System zu überwinden, das die Taten ermöglicht hat und das mit den angeklagten Einzeltaten verurteilt wird. Für den/die individuelle TäterIn ist freilich problematisch, dass der Unrechtsgehalt dieser Straftaten im Zeitpunkt der Tatbegehung staatlich oder gesellschaftlich häufig als gering oder nicht vorhanden eingestuft wurde. Die TäterInnen handelten dann trotz formaler

1761 1762 1763 1764

Siehe dazu Kapitel VII.4.5. Siehe Kapitel VII.4.2. und VII.4.5. Dazu Kapitel IV.3. Eine rechtsvergleichende Betrachtung zeigt, dass sich fast alle europäischen Staaten, in denen es nach einem Systemwechsel zur Verfolgung von staatsgestütztem Unrecht kam, mit der Frage auseinandersetzten mussten, ob und inwiefern trotz eingetretener Verjährung der relevanten Straftaten eine Strafverfolgung möglich war. Dabei stellte sich insbesondere die Frage nach einer rückwirkenden Verlängerung bereits abgelaufener Verjährungsfristen; TRAPPE 2009, S. 129; ausführlich dazu TRAPPE 2009, S. 123–134; ZIMMERMANN 1997.

Verjährung und Strafzweck

361

Strafbarkeit wohl primär im Vertrauen auf diese faktische Unrechtsbewertung, die sich nachträglich änderte. Die seit dem Jahr 2009 geltende Anlaufhemmung wird von der österreichischen Strafrechtswissenschaft jedenfalls als überschießend kritisiert, weil sie auch Bagatelldelikte ohne besonderes Traumatisierungspotential umfasst und dazu führen kann, dass eine fahrlässige leichte Körperverletzung eines Kleinkindes länger verfolgt werden muss als eine Vergewaltigung einer erwachsenen Person, worin ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch gesehen wird.1765

10.

Verjährung und Strafzweck

In Deutschland gibt es derzeit Lehrmeinungen, die sich generell wieder für großzügigere Verjährungsregelungen aussprechen und insbesondere die Abschaffung der Unverjährbarkeit fordern. Sie raten diesbezüglich zu einer Rückbesinnung auf den ultima-ratio-Grundsatz: »Strafe bedeutet ein Übel, das, wenn es die Interessen der Allgemeinheit gestatten, vermieden werden soll.«1766 Die Vermeidung des Übels Strafe kann auch über die Verjährung geschehen. Ob den Interessen der Allgemeinheit restriktive oder großzügige Verjährungsregelungen besser entsprechen, wurde aber, wie dargestellt, sehr unterschiedlich beurteilt. Am besten vereinbar erscheint die Verjährung mit der spezialpräventiven Strafzwecktheorie.1767 Schon dem Leopoldinischen Strafgesetzbuch 1786, der preußischen Kriminalordnung 1805 und dem bayrischen Strafgesetzbuch 1813 lag vor allem eine spezialpräventive Verjährungsbegründung zugrunde.1768 Das Verjährungsinstitut wurde, sofern es vorgesehen war, auch in Österreich fast durchgehend mit der Vermutung der Besserung eines Delinquenten/einer Delinquentin, der/die während der Verjährungsfrist strafrechtskonform gelebt hat, begründet.1769 In Zeiten, in denen der Gedanke der Spezialprävention in Österreich populär war, waren stets großzügige Verjährungsregelungen geplant. Dies

1765 Siehe Kapitel VII.4.7. 1766 VORMBAUM 1997, S. 497; in diesem Sinn auch ASHOLT 2014, S. XII. 1767 Zu diesem Schluss kommt auch Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 2, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 407. 1768 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.2., II.4.3. und II.4.5. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.2. 1769 Siehe STUTZENSTEIN, Kapitel III.5.3., IV.3., IV.4.3., V. sowie in dieser Monographie, Kapitel II.8., VI.3., VII.3.1.; Diese Vermutung lag wohl schon den Verjährungsregelungen der Strafgesetzentwürfe von Georg von Kees 1783 zugrunde, siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.2., Einwände gegen diese Begründung sind dennoch möglich, siehe dazu insbesondere STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.2.

362

Darstellung der Forschungsergebnisse

war etwa in dem Entwurf Radbruchs1770 und den darauf aufbauenden österreichischen Strafgesetzentwürfen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1965 ergingen, der Fall.1771 Das Jugendgerichtsgesetz 1988 normiert den Vorrang der Spezialprävention gegenüber der Generalprävention für Straftaten Jugendlicher und seit dem Jahr 2015 auch junger Erwachsener ausdrücklich. Ebenfalls aus spezialpräventiven Erwägungen heraus sieht es besondere kürzere Verjährungsfristen für diese Straftaten vor.1772 Die österreichischen Strafgesetzentwürfe, die nach 1945 ergingen, und das geltende Strafgesetzbuch 1974 gehen einerseits von einer Besserung des Täters/ der Täterin innerhalb der Verjährungsfrist aus. Darüber hinaus liegt ihnen die Annahme zugrunde, dass eine späte Bestrafung1773 nicht mehr resozialisierend, sondern entsozialisierend wirken könne und diese den/die gebesserte TäterIn aus seinem/ihrem Umfeld reiße.1774 Die Besserungstheorie tendiert freilich dazu, nicht das Zeitverstreichen alleine für den Verjährungseintritt genügen zu lassen, sondern auch einen Besserungsnachweis zu fordern. Im geltenden Strafgesetzbuch besteht dieser bei der Verfolgungsverjährung darin, dass der/die Beschuldigte in der Verjährungsfrist keine neue Straftat, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, begeht (§ 58 Abs. 2 StGB), und bei der Vollstreckbarkeitsverjährung darin, dass der/die Verurteilte in der Verjährungsfrist nicht wegen einer anderen Straftat verurteilt wird (§ 60 Abs. 1 StGB). Darin kann eine Einschränkung des Verjährungsgedankens gesehen werden. Auf dieser Grundlage aber ist die spezialpräventive Strafzwecktheorie jedenfalls offen für die Anerkennung des Verjährungsinstitutes und als verjährungsfreundlich zu bewerten. Am schwersten fällt die Begründung der Verjährung vom Standpunkt absoluter Strafzwecktheorien.1775 Soll die Strafe Gerechtigkeit herstellen und muss diese erfolgen, weil verbrochen wurde, dann kann das Verstreichen einer gewissen Zeitspanne daran nichts ändern. Besonders die Anhänger der Wiedervergeltungslehre von Immanuel Kant lehnten die Verjährung daher ab und beantworteten die Frage: »Sollen Forderungen der Gerechtigkeit verjähren?« mit »Nein«. Verbrechen müssen zu jeder Zeit an ihren Urhebern bestraft werden und die Zeit, welche zwischen der Tatbegehung und der Bestrafung liege, habe auf die Gerechtigkeit keinen Einfluss.1776 1770 1771 1772 1773 1774 1775

Siehe Kapitel II.3.2. und II.6. Siehe dazu Kapitel VI.2.–VI.3. Dazu Kapitel VII.2. Auch eine späte Strafverfolgung kann zu einer späten Bestrafung führen. Siehe Kapitel VI.3.2. In diesem Sinn auch Schetter, Protokoll der 43. Sitzung des 32. Ausschusses vom 20. Dezember 1927, S. 2, abgedruckt in: SCHUBERT 1995, S. 407. 1776 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.2.

Verjährung und Strafzweck

363

Nichtsdestotrotz erreichte die Verjährung in Deutschland den Höhenpunkt ihrer Anerkennung in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts in einer Phase, in der die Vergeltungstheorie eine Renaissance erlebte. Deren zahlreiche Anhänger begründeten die Verjährung damals primär mit der »heilenden und sühnenden Macht der Zeit«.1777 Diese inhaltsleere Begründung kann die Verjährungsfeindlichkeit der Vergeltungstheorie aber nicht verdecken. Georg Friedrich Wächter und Karl Binding bezeichneten die Anerkennung der Verjährung durch die Vertreter der Vergeltungstheorie zu Recht als inkonsequent. Die Berufung auf die »Macht der Zeit« diene nur dazu, diese Inkonsequenz zu überdecken. Im Anschluss an Binding verlor die Begründung der Verjährung mit der »heilenden und tilgenden Wirkung der Zeit« an Bedeutung.1778 Schlüssig begründet werden kann die Verjährung vom Standpunkt einer absoluten Vergeltungstheorie nur mit prozessualen Argumenten, insbesondere den zunehmenden Beweisschwierigkeiten und der daraus resultierenden Fehlurteilsgefahr. Dieser Argumentation folgten beispielsweise Karl Binding und Hugo Högel.1779 Dem preußischen Strafgesetzbuch des Jahres 1851 und den österreichischen Strafgesetzentwürfen aus den Jahren 1909 und 1912 lag diese Begründung zugrunde.1780 In ihnen waren keine unverjährbaren Straftaten und keine Bedingungen neben dem Zeitverstreichen vorgesehen, weil diese mit einer rein prozessualen Verjährungsbegründung nicht zu vereinbaren gewesen wären. Die Verjährung der urteilsmäßig verhängten Strafen kann ebenfalls nicht mit den Beweisschwierigkeiten und der Fehlurteilsgefahr begründet werden. Deren Verjährung war folgerichtig im preußischen Strafgesetzbuch explizit ausgeschlossen und in den österreichischen Strafgesetzentwürfen der Jahre 1909 und 1912 nicht statuiert worden.1781 Eine rein prozessuale Verjährungsbegründung hat den Vorteil, dass sie mit allen Strafzwecktheorien kompatibel und insofern neutral ist. In Österreich hatte diese im Untersuchungszeitraum aber keine große Bedeutung. In allen behandelten österreichischen Strafgesetzbüchern und den meisten Strafgesetzent-

1777 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.–IV.5. und V.3.–V.7. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.4.–I.5. 1778 BINDING 1991, S. 824; WÄCHTER 1881, S. 302; dieser Auffassung schlossen sich später andere Autoren an, so beispielsweise BAR 1909, S. 388; HUGGENBERGER 1949, S. 19; LOENING 1908, S. 410; LOURIE 1914, S. 16. 1779 Dazu ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.3. und V.6. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.5. 1780 Siehe ausführlich STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. und Kapitel V.6.4. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.4.–I.5. 1781 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.2. und Kapitel V.6.4. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.4.–I.5.

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Darstellung der Forschungsergebnisse

würfen1782 waren bzw. sind unverjährbare Straftaten und/oder zusätzliche Bedingungen neben dem Verstreichen der Verjährungsfrist vorgesehen, die mit einer rein prozessualen Verjährungsbegründung unvereinbar sind. Auch die Verjährbarkeit der verhängten Strafe ist seit dem Jahr 1863 in den meisten österreichischen Strafgesetzentwürfen sowie auch dem Strafgesetzbuch 1974 statuiert. Mit einer rein prozessualen Verjährungsbegründung ist sie ebenso wenig erklärbar1783 wie die beschriebenen Anlaufhemmungen des Kriegsverbrechergesetzes, des Verbotsgesetzes, des Bundesgesetzes zur Verlängerung von Verjährungsfristen im Strafverfahren sowie zuletzt des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 und des Zweiten Gewaltschutzgesetzes 2009. Dieser untergeordneten Bedeutung prozessualer Verjährungsbegründungen entsprechend war in Österreich, anders als beispielsweise in Deutschland oder Frankreich, während des gesamten Untersuchungszeitraumes die Einordnung der Verjährung als Institut des materiellen Rechts unstrittig. Am ambivalentesten ist das Verhältnis der generalpräventiven Strafzwecktheorie zur Verjährung. Anhänger der generalpräventiven Strafzwecktheorie vom psychologischen Zwang standen der Verjährung kritisch gegenüber, weil sie fürchteten, dass die mit der Verjährung in Aussicht gestellte Straffreiheit und sodann die tatsächliche Straflosigkeit von bekannten VerbrecherInnen infolge der Verjährung die generalpräventive Abschreckungswirkung der Strafandrohungen abschwächen werde. Diese Auffassung wurde etwa von Aloys Kaspar Kleinschrod, Johann Anselm Ritter von Feuerbach und Franz von Zeiller vertreten.1784 Sie war auch für die restriktiven Verjährungsregelungen des Strafgesetzbuches 1803 und 1852 mitverantwortlich.1785 Dem Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass eine Strafe auch lange Zeit nach der Tat jedenfalls abschreckender wirkt als Straflosigkeit wegen Verjährung.1786 Auch zahlreiche Restriktionen im Verjährungsrecht, die im Laufe des 19. Jahrhunderts geplant waren, basieren auf der Annahme, dass die Verjährung die generalpräventive Wirkung der Strafandrohung abschwäche.1787 Eine generalpräventive Begründung der Verjährung geht hingegen von der Annahme aus, dass das Andenken an Straftaten mit der Zeit aus dem kollektiven 1782 Ausnahmen stellen insofern der soeben beschriebene Strafgesetzentwurf des Jahres 1912 und der Vorentwurf 1909 dar. 1783 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2. 1784 Dazu in STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.3.1. und II.3.3. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.2.–I.3. 1785 Siehe dazu STUTZENSTEIN 2021, Kapitel III.5.3. und Kapitel III.7.–III.8. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.3. 1786 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.1. sowie in dieser Monographie, Kapitel I.2. 1787 Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.3.–V.4. und V.7.

Verjährung und Strafzweck

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Gedächtnis schwindet. Straftaten, an die sich niemand mehr erinnere, müssen zur Bekräftigung der Rechtsordnung, der Abschreckung und Abhaltung anderer von gleichartigen Straftaten, der Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung und der Vermittlung von Wertehaltungen nicht verfolgt und bestraft werden.1788 Diese Begründung der Verjährung liegt den Strafgesetzentwürfen von Georg von Kees 1783, den Entwürfen zum Strafgesetz 1803, dem Strafgesetz 1803 selbst sowie dem Strafgesetz 1852, wohl auch dem Strafgesetzentwurf 1823, den Strafgesetzentwürfen 1829 und 1838/1839, den österreichischen Strafgesetzentwürfen 1863 bis 1893 sowie den Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit, der »Zweiten Republik« und dem geltenden österreichischen Strafgesetzbuch zugrunde. International wurde sie insbesondere in Frankreich an der Wende vom 18. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert vertreten und war dort hauptverantwortlich für die extensiven Verjährungsregelungen des französischen Rechts.1789 Außerdem findet sich diese Begründung bei den Arbeiten an den deutschen Partikularstrafgesetzbüchern.1790 Auf dem Argument der schwindenden Erinnerung an die Straftat baute auch die relative Vergeltungstheorie auf. Relative Vergeltung ist Vergeltung zur Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen des/der Verletzten oder überwiegend der Rechtsgemeinschaft. Während des 19. Jahrhunderts1791 und auch noch bei den Arbeiten am geltenden Strafgesetzbuch, das heißt bis in die 1970er-Jahre, wurde angenommen, dass Vergeltungsbedürfnisse im Laufe der Zeit erlöschen.1792 Gegenwärtig wird in Österreich weder die absolute noch die relative Vergeltung als legitimer Strafzweck anerkannt und dieses Argument nicht mehr vertreten.1793 Dagegen sind vielfältige Einwände denkbar. So wurde etwa vorgebracht, dass das Rechtsempfinden des Volkes parteiisch zu sein pflege und vielen Straftaten gegenüber gar nicht vorhanden sei. Insofern solle sich die zeitliche Grenze der Strafverfolgung nicht nach dem Empfinden des Volkes richten, das im Übrigen in unterschiedliche Richtungen weisen könne. Bei schweren Straftaten wurde das Erlöschen des Vergeltungsbedürfnisses überhaupt bezweifelt.1794 Insbesondere bei Systemstraftaten wäre es wohl unmöglich, das Rechtsempfinden der Bevölkerung über die Strafverfolgung und Strafvollstreckung entscheiden zu lassen. Gegenwärtig wird die Verjährung in Österreich ausnahmslos mit der Abnahme des Strafbedürfnisses in general- und spezialpräventiver Hinsicht sowie 1788 1789 1790 1791 1792 1793 1794

Diese Begründung findet sich im Untersuchungszeitraum nahezu ununterbrochen. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel II.4.4. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.2.2. Siehe STUTZENSTEIN 2021, Kapitel IV.4.3., V.3.–V.5. Siehe Kapitel VI.3.2., VI.3.5.–VI.3.6. Dazu Kapitel VII.3.1. Dazu beispielsweise STUTZENSTEIN 2021, Kapitel V.5.2. und V.6.2.

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Darstellung der Forschungsergebnisse

sekundär immer nur ergänzend mit den zunehmenden Beweisschwierigkeiten begründet. Argumente der Prozessökonomie, die zweifellos für die Verjährung sprechen, spielen im Diskurs zur Begründung der Verjährung keine Rolle. Die Verjährungsbegründung ist seit einigen Jahrzehnten unumstritten.1795 Ob die Begründung der Verjährung mit dem schwindenden Andenken an die Straftat bzw. das Urteil und darauf aufbauend dem Entfall der generalpräventiven Strafnotwendigkeit noch überzeugen kann, ist jedoch fraglich. So scheint bei systemischem Unrecht, von dem viele Personen betroffen sind bzw. Kenntnis haben, schon das kollektive Vergessen unmöglich oder zumindest erschwert, was insbesondere die NS-Verbrechen anschaulich zeigten. Verdrängungsversuche von großen Teilen der österreichischen Bevölkerung bedeuteten noch kein allgemeines Vergessen und konnten die Erinnerung an den Holocaust auch zu keiner Zeit auslöschen. Verdrängungstendenzen und die österreichische Schlussstrichpolitik erschwerten lediglich die Vergangenheitsaufarbeitung und führten zu einer verzerrten Wahrnehmung im plebiszitären Gedächtnis. Gegenwärtig wird im Wachhalten der Erinnerungen an die nationalsozialistischen Straftaten und deren Opfer eine pädagogische und politische Aufgabe gesehen.1796 Auch in anderen Fällen von systemischem Unrecht erscheint ein kollektives Vergessen oder Verdrängen gerade in generalpräventiver Hinsicht problematisch und wenig wünschenswert. Werden derartige Straftaten kollektiv verdrängt oder vergessen und nicht öffentlich gemacht, so können die Faktoren, die zu ihnen geführt haben, nicht aufgezeigt und überwunden werden. Außerdem gibt es kein Vergessen vor Kenntniserlangung. Im Zeitalter der elektronischen Massenmedien können lange zurückliegende und möglicherweise bereits vergessene Straftaten oder Strafurteile großen Bevölkerungsgruppen jederzeit (wieder) leicht zur Kenntnis gebracht werden. Bei verhältnismäßig leichten Straftaten wird eine solche Berichterstattung lange Zeit nach der Tat auf kein Interesse der Allgemeinheit stoßen, wohl aber bei schweren Straftaten, insbesondere bei Auftauchen neuer Verdachtsmomente, Bekanntwerden des/der mutmaßlichen Täters/Täterin oder eines/einer untergetauchten Verurteilten. Die Annahme, dass die Erinnerungen an Straftaten oder Verurteilungen mit der Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis schwinden, ist dann unzutreffend, sodass die Begründung der Verjährung mit der entfallenden generalpräventiven Strafnotwendigkeit darauf nicht gestützt werden kann. Für alle beiden Verjährungsarten sprechen aber auch in solchen Fällen spezialpräventive Erwägungen und für die Verfolgungsverjährung auch die zunehmenden Beweisschwierigkeiten.

1795 Siehe dazu Kapitel VII.3.1. 1796 LOTFELLNER 2009, S. 168f.

Verjährung und Strafzweck

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Die Frage nach der Vereinbarkeit der Verjährung mit den Opferinteressen wird erst seit den 1990er-Jahren diskutiert.1797 Zumindest in jenen Fällen, in denen die Initiative zur Einleitung der Strafverfolgung vom Opfer ausgeht, wird es dessen Interessen jedenfalls widersprechen, wenn seinen Vorwürfen wegen Verjährung nicht nachgegangen wird. Dies wiegt umso schwerer, wenn dem Opfer in der Verjährungsfrist die Anzeigeerstattung erschwert oder völlig unmöglich war, wie es beispielsweise bei Opfern von staatlich organisiertem Unrecht oder minderjährigen Missbrauchsopfern der Fall ist. Ob man zur Abhaltung der Allgemeinheit von gleichartigen Straftaten einen Menschen bestrafen möchte, der seit langer Zeit strafrechtskonform gelebt hat, und damit das Risiko eingeht, dessen zu vermutende Resozialisierung zu zerstören, ist letztendlich eine Wertungsfrage. Bei schweren Straftaten und vor allem systemischem Unrecht kann eine späte Strafverfolgung und Strafvollstreckung aber jedenfalls mit generalpräventiven Erwägungen sowie unterstützend den Opferinteressen gerechtfertigt werden. Diese sind dann nicht zwecklos und keine bloße Vergeltung.1798

1797 Siehe dazu Kapitel VII.4.–VII.8. 1798 Siehe dazu auch Kapitel VI.3.7. und Kapitel VII.8.

Rechtspolitische Reformüberlegungen

Da die zeitbedingte Abnahme der generalpräventiven Strafnotwendigkeit vor allem bei schweren Straftaten keineswegs sicher ist, sollte die Begründung der Verjährung überdacht werden. Eine grundsätzliche Umgestaltung des geltenden Verjährungsrechts ist nach Ansicht der Autorin jedoch nicht geboten. Einige Reformvorschläge wurden bereits im siebenten Kapitel der Arbeit dargelegt und behandelt. In Anlehnung an Eder-Rieder wird angeregt, die Anlaufhemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB für Delikte gegen Leib und Leben, die Freiheit oder die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung an Minderjährigen auf Vorsatzdelikte, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind, zu beschränken. Auf diese Weise könnte eine strafrechtspolitisch nicht erforderliche jahrzehntelange Verfolgung von Bagatelldelikten ausgeschlossen werden.1799 In Deutschland wurde für schwere Sexualdelikte im Jahr 2015 eine Verjährungshemmung bis zum vollendeten 30. Lebensjahr des Opfers eingeführt. Diese gilt auch dann, wenn das Opfer im Tatzeitpunkt nicht mehr minderjährig ist. Die Übernahme dieser Regelung erscheint auch für Österreich wünschenswert, weil damit der Tatsache Rechnung getragen würde, dass spezifische Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Missbrauchstätern und Opfern, die Opfern eine zeitnahe Anzeigeerstattung erschweren, auch im Erwachsenenalter vorkommen.1800 Nach der gegenwärtig in Österreich bestehenden Rechtslage beginnt beispielsweise die Verjährungsfrist für die Vergewaltigung einer Achtzehnjährigen mit der Tatbegehung, für eine Vergewaltigung oder auch nur eine leichte Körperverletzung einer Siebzehnjährigen erst mit der Erreichung des 28. Lebensjahres des Opfers zu laufen. Strafrechtspolitisch und auch aus Opferperspektive ist die unterschiedliche Verfolgungsdauer nicht gerechtfertigt, weshalb eine Änderung dieser Regelung im beschriebenen Sinne zu begrüßen wäre. In Österreich sind Straftaten unverjährbar, die entweder nur mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder aber alternativ mit einer Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig 1799 Siehe dazu auch Kapitel VII.4.7. und Kapitel VII.8. 1800 Siehe Kapitel VII.5. und Kapitel VII.8.

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Rechtspolitische Reformüberlegungen

Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind. Wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre verstrichen sind, wird bei diesen die gesetzliche Strafandrohung herabgesetzt. Die Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe entfällt und wird durch eine Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren ersetzt (§ 57 Abs. 1 StGB). Bei den Straftaten, die unter die Anlaufhemmung des § 58 Abs. 3 Z 3 StGB fallen, bleibt der gesetzliche Strafrahmen hingegen unverändert, auch wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre vergangen sind. Darin liegt ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch. Zur Beseitigung dieser Systemwidrigkeit sollte die Strafandrohung für die unter die Anlaufhemmung fallenden Straftaten herabgesetzt werden, wenn die Verjährungsfrist nach den allgemeinen Regeln abgelaufen wäre und die Straftat nur noch wegen der Verschiebung des Verjährungsbeginns verfolgt werden kann. Dadurch würden zugleich auch die Nachteile der verspäteten Strafverfolgung für den/die resozialisierte/n TäterIn abgemildert werden.1801 Im Übrigen können bei leichten und mittelschweren Straftaten die geltenden Verjährungsregelungen durchaus beibehalten werden, wohingegen bei den derzeit unverjährbaren Straftaten,1802 die allesamt einen hohen Unrechtsgehalt aufweisen und den Tod eines oder mehrerer Menschen zur Folge haben, angesichts der Folgen für potenzielle Opfer generalpräventiven Zielsetzungen der Vorrang zu geben ist. Es empfiehlt sich daher, bei diesen an der Unverjährbarkeit festzuhalten.1803 Um Nachteile für resozialisierte TäterInnen auszugleichen, könnte aber über eine stärkere gesetzliche Strafmilderung nach Ablauf der Zwanzigjahresfrist nachgedacht werden. Denkbar wäre auch, die Anwendung des außerordentlichen Strafmilderungsrechts des § 41 StGB obligatorisch vorzuschreiben, wenn seit der Tatbegehung zwanzig Jahre verstrichen sind und die begründete Annahme besteht, dass der/die TäterIn auch bei Verhängung einer das gesetzliche Mindestmaß unterschreitenden Freiheitsstrafe keine weiteren strafbaren Handlungen mehr begehen wird. Einerseits könnte eine Entsozialisierung des/der resozialisierten Täters/Täterin auf diese Weise weitgehend vermieden werden. Andererseits läge mit dem Strafurteil ein staatliches Unwerturteil vor, das wohl auch bei Verhängung einer geringeren Strafe die gewünschte generalpräventive Wirkung erzielen würde. Den Interessen der Verbrechensopfer nach einer staatlichen Anerkennung des ihnen angetanen Unrechts würde damit ebenfalls Rechnung getragen werden. Außerdem wäre dem Opfer durch die strafrechtliche Verurteilung die Erlangung einer zivilrechtlichen Entschädigung erleichtert. 1801 Siehe dazu auch Kapitel VII.8. 1802 Siehe Kapitel VII.4.8. 1803 Die Frage, ob auch andere Straftaten unverjährbar sein sollten und gegebenenfalls welche, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden.

Conclusio

In der vorliegenden Monographie wurde die Entwicklung des österreichischen Verjährungsrechts erstmals umfassend untersucht, wobei der Forschungsgegenstand angesichts der Tatsache, dass die Verjährung gerade in der jüngeren Vergangenheit wiederholt zum Problem und zum Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Diskussionen wurde, von erheblicher juristischer und gesellschaftlicher Relevanz ist. Die Arbeit schließt bedeutende Forschungslücken, indem sie die Begründung der Verjährung analysiert, und leistet einen Beitrag zu einem besseren Verständnis eines vielfach als selbstverständlich erachteten und von der Strafrechtswissenschaft seit langem vernachlässigten Rechtsinstituts. Darüber hinaus wurde erstmals dargestellt, wie sich die Verjährung in Österreich in der Vergangenheit auf die Ahndung von systemischem Unrecht auswirkte. Im Einstiegskapitel werden die historischen Wurzeln des geltenden Verjährungsrechts im römischen Recht sowie die Einflüsse des heimisch-deutschen Rechts auf die strafrechtliche Verjährung herausgearbeitet. Es folgt eine kritische Analyse der in der älteren Literatur vertretenen These von der Verjährungsfeindlichkeit der Aufklärung, und anhand von vernunftrechtlichen Strafgesetzbüchern und Werken der zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft wird nachgewiesen, dass diese sowohl international als auch für das österreichische Recht zu undifferenziert und unzutreffend ist. Bestätigt werden kann die These Asholts, dass nicht die vernunftrechtlichen Strafzwecktheorien, sondern die auf sie gestützten Annahmen, das vermeintlich ablehnende, tatsächlich aber ambivalente Verhältnis der Gesetzgebung und Wissenschaft der Aufklärung zur Verjährung prägten. Die Arbeit zeigt, dass der Verjährungsausschluss des Josephinischen Strafgesetzbuches 1787 und die restriktiven Verjährungsregeln der Franziskana 1803 auf derselben Grundlage beruhen und die kritische Haltung der Strafrechtswissenschaft zur Verjährung auf die beiden Gesetzbüchern zugrundgelegte generalpräventive Strafzwecktheorie zurückzuführen ist. Der/die individuelle TäterIn sollte so lange bestraft werden, wie es notwendig erschien, um andere von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Der zeitliche Nutzen der

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Conclusio

Strafverfolgung für den Staat wurde jedoch anders bewertet, denn bei der Abfassung der Franziskana hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass eine unbeschränkt lange Verfolgung aller Straftaten unverhältnismäßig sei. Ein weiteres Ergebnis der Arbeit ist, dass sich der Verjährungsgedanke in der österreichischen Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft parallel zu den deutschen Partikularstaaten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend durchsetzte und diese Entwicklung durch das französische Recht beeinflusst war. Jedoch ist feststellbar, dass man in Österreich von der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts populären Begründung der Verjährung mit der »heilenden und sühnenden Macht der Zeit« nicht voll überzeugt war. Dies zeigt sich vor allem darin, dass in den Strafgesetzentwürfen der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts ein permanenter Wechsel zwischen großzügigen und restriktiven Verjährungsvorstellungen erfolgte. Einerseits war Österreich nämlich bestrebt, sein Strafrecht inklusive dem Verjährungsrecht dem deutschen Recht anzugleichen. Andererseits bestanden offenkundige und vielfältige Bedenken gegen die Befristung der staatlichen Strafmacht. Angesichts der Tatsache, dass sich aus präventiv-theoretischen Erwägungen Argumente für, aber auch gegen die Verjährung ableiten lassen, sowie vor allem der Verjährungsfeindlichkeit der damals vorherrschenden Vergeltungstheorie erstaunt dies freilich nicht. Weiters zeigt sich, dass in den gemeinsamen deutsch-österreichischen Strafgesetzentwürfen der Zwischenkriegszeit unter deutschem Einfluss großzügige Verjährungsregelungen vorgesehen waren. Nachwiesen werden konnte auch, dass aufgrund von personellen Kontinuitäten bei den Arbeiten an der Strafrechtsreform der Zwischenkriegszeit und den österreichischen Reformarbeiten nach 1945 die Verjährungsregelungen dieser Entwürfe und Elemente des deutschen Verjährungsrechts Eingang in die Strafgesetzentwürfe der »Zweiten Republik« fanden. Zum ersten Mal ausführlich untersucht wurde das nationalsozialistische Verjährungskonzept. Dabei hat sich erwiesen, dass sowohl die Gesetzgebung als auch die Wissenschaft während der NS-Herrschaft einer Beschränkung der staatlichen Strafmacht durch die Verjährung ablehnend gegenüberstanden. Im Zuge der Arbeiten an der NS-Strafrechtsreform war weitgehend geplant, auf eine Selbstbeschränkung des Staates durch die Verjährung zu verzichten und nach Ablauf bestimmter Fristen das Opportunitätsprinzip anstelle des Legalitätsprinzips treten zu lassen. Die Vollstreckbarkeitsverjährung sollte teilweise überhaupt abgeschafft werden. Die gesetzlichen und judiziellen Änderungen, die das Verjährungsrecht in dieser Zeit erfuhr, zeigen eine ähnliche Tendenz und zielten ebenfalls auf eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Verjährung und damit eine Erweiterung der staatlichen Strafmacht in zeitlicher Hinsicht ab.

Conclusio

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Da bei den Strafrechtsreformarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich bewusst an die Arbeiten der Zwischenkriegszeit angeknüpft wurde, waren in den österreichischen Strafgesetzentwürfen der frühen 1960er-Jahre weitreichende Verjährungsregelungen vorgesehen. Dieses großzügige Verjährungskonzept erfuhr in Österreich jedoch keine vollständige Umsetzung. Wie sich gezeigt hat, war die Abkehr von den überaus weitreichenden Verjährungsregelungen vor allem politisch und durch die Zeitumstände bedingt. Ab den 1960erJahren konnten in Österreich nämlich die bereits erfolgten bzw. anstehenden Verjährungen der schwersten NS-Verbrechen und die internationalen Bestrebungen zur Verhinderung derselben nicht länger ignoriert werden. Der österreichische Nationalrat beschloss daher im Jahr 1965 rückwirkend die Wiedereinführung der Unverjährbarkeit für alle bis zum Jahr 1950 mit der Todesstrafe bedrohten Straftaten. In der Arbeit konnte weiters nachgewiesen werden, dass diese allgemeine, nicht auf die NS-Verbrechen beschränkte Regelungsänderung das Ziel hatte, innenpolitische Diskussionen über den Umgang Österreichs mit der NS-Zeit zu vermeiden und durch die Gesetzesänderung zugleich gegenüber dem Ausland Bereitschaft zur weiteren Verfolgung der NS-Straftaten zu signalisieren. Obwohl bis dahin geplant war, alle Straftaten verjähren zu lassen, wurde diese Gesetzesänderung im Inland als vorgezogener Punkt der geplanten Strafrechtsreform dargestellt. Dementsprechend vereinbarten die Regierungsparteien damals, dass auch im neuen österreichischen Strafgesetzbuch schwerste Straftaten und Strafen unverjährbar sein sollten. Gezeigt werden konnte, dass die bis heute bestehende und seit langem nicht hinterfragte Unverjährbarkeit schwerster Straftaten und verhängter Strafen allein auf diese Vereinbarung zurückzuführen ist und kriminalpolitisch nicht für notwendig erachtet wurde. Besonders aus Sicht der bei den Arbeiten an der Strafrechtsreform speziell berücksichtigten spezialpräventiven Strafzwecktheorie bestanden vielmehr schwere Bedenken dagegen, resozialisierte StraftäterInnen endlos lange strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Ein weiteres Untersuchungsergebnis ist, dass die Verjährung die Ahndung und Aufarbeitung des NS-Unrechts in Österreich zwar erschwerte, allerdings rechtsstaatliche Möglichkeiten bestanden hätten, um die Verjährung für schwere NS-Verbrechen aufzuheben, die nicht genutzt wurden. Gezeigt werden konnte, dass mit der Gesetzesänderung des Jahres 1965 keine effektive Grundlage zur Verfolgung der schwersten NS-Verbrechen geschaffen wurde, sondern vielmehr die NS-Morde aufgrund des Günstigkeitsprinzips, zahlreicher Regelungslücken und sodann durch die »kalte Verjährung« kaum von der neuen Unverjährbarkeitsregel betroffen waren. Darüber hinaus wurde der wichtigste Grund für das Ende der NS-Prozesse in den 1970er-Jahren erstmals umfassend dargestellt und gezeigt, dass die Verfol-

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Conclusio

gung der von Österreichern im Ausland begangenen NS-Morde aufgrund von hochkomplexen, in ihren Auswirkungen auch für Juristen schwer verständlichen Regelungen im neuen österreichischen Strafgesetzbuch beendet werden musste, weil diese mit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches am 1. Jänner 1975 eine plötzliche Verjährung der Taten bewirkten. Ob die sogenannte »kalte Verjährung« ein gesetzgeberisches Versehen oder geplant war, ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen jedoch nahe, dass zumindest hochrangigen politischen Entscheidungsträgern, allen voran Justizminister Christian Broda, bewusst war, dass die Regelungen des Strafgesetzbuches 1974 die Verjährung der meisten von Österreichern im Ausland begangenen NSMorde bewirken würden. Die Arbeit behandelt auch die aktuellen Entwicklungen im Verjährungsrecht seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1974 und analysiert den Einfluss der Heimkinderverbrechen sowie der #metoo-Debatte auf Änderungen der Verjährungsregelungen. Kriminal- und gesellschaftspolitische Diskussionen über die Verjährung bestimmter Straftaten sowie deren anlassfallbedingten Änderungen wurden dabei dargestellt, gesetzliche Wertungswidersprüche aufgezeigt und mögliche Lösungen vorgeschlagen. Ein zentrales Anliegen der Arbeit war es, das Verhältnis der verschiedenen Strafzwecktheorien zur Verjährung zu analysieren. Dabei hat sich gezeigt, dass die spezialpräventive Strafzwecktheorie besonders offen für die Zulassung der Verjährung ist, wenngleich sie dazu tendiert, den Eintritt der Verjährung neben dem Verstreichen der Zeit an zusätzliche Bedingungen zu knüpfen, aus deren Erfüllung auf die Besserung des Täters/der Täterin geschlossen werden kann. Auf der Grundlage einer absoluten Strafzwecktheorie ist die Verjährung mit materiellrechtlichen Erwägungen nicht schlüssig begründbar, was die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populäre Begründung der Verjährung mit der »Macht der Zeit« nur kurzzeitig verdecken konnte. Auf Basis aller Strafzwecktheorien schlüssig begründet werden kann die Verfolgungsverjährung aber mit prozessualen Erwägungen, insbesondere den zunehmenden Beweisschwierigkeiten und der daraus resultierenden Fehlurteilsgefahr. In Österreich kam dieser Begründung im Untersuchungszeitraum allerdings nur untergeordnete Bedeutung zu. Dementsprechend war die Einordnung der Verjährung als Institut des materiellen Rechts im Gegensatz zu Deutschland oder Frankreich stets unstrittig, auch wenn die Verjährung teilweise nicht im allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts, sondern im Anschluss an den besonderen Teil geregelt wurde. Das Verhältnis der generalpräventiven Strafzwecktheorie zur Verjährung war in der Vergangenheit besonders ambivalent, weil auf ihrer Grundlage die Verjährung gleichermaßen befürwortet wie abgelehnt wurde. Eine generalpräventive Begründung der Verjährung basiert auf der Annahme, dass das Andenken an Straftaten mit der Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis schwindet. Straftaten, an

Conclusio

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die sich niemand mehr erinnere, müssen zum Zweck der Generalprävention nicht verfolgt und bestraft werden. Auf dem Argument der schwindenden Erinnerung an die Straftat baute auch die relative Vergeltungstheorie auf, auf deren Grundlage bis in die 1970er-Jahre angenommen wurde, dass Vergeltungsbedürfnisse im Laufe der Zeit erlöschen. Nach Ansicht der Autorin kann allerdings die Begründung der Verjährung mit dem schwindenden Andenken an die Straftat bzw. das Urteil und darauf aufbauend dem Entfall der generalpräventiven Strafnotwendigkeit zumindest bei schweren Straftaten und systemischem Unrecht nicht mehr überzeugen, denn es ist eine nicht bewiesene Annahme, dass Straftaten mit der Zeit kollektiv vergessen werden. Vor allem bei systemischem Unrecht legen die Untersuchungsergebnisse nahe, dass kollektives Vergessen nicht die Regel bildet. Außerdem gibt es kein Vergessen vor Kenntniserlangung. Im Zeitalter elektronischer Massenmedien können Straftaten auch lange Zeit nach der Tat einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, was vor allem zur Generalprävention eine staatliche Reaktion erforderlich machen kann. Allgemeine Aussagen über die Vereinbarkeit der Verjährung mit den Opferinteressen lassen sich nicht treffen, weil diese sehr unterschiedlich sein können. Zumindest in jenen Fällen, in denen die Initiative zur Einleitung der Strafverfolgung vom Opfer ausgeht, wird es dessen Interessen jedenfalls widersprechen, wenn seinen Vorwürfen wegen Verjährung nicht nachgegangen wird. Weitere Nachteile, welche die strafrechtliche Verjährung, abgesehen von der Straflosigkeit des Täters/der Täterin, für das Opfer haben kann, beispielsweise im Hinblick auf dessen zivilrechtliche Entschädigungsansprüche, aber auch im Hinblick auf zivilrechtliche Klagen wegen Rufschädigung oder Privatanklagen wegen »übler Nachrede« gegen das vorgebliche ursprüngliche Opfer, wurden in der Arbeit herausgearbeitet. Bestätigt hat sich, dass die Verjährung in der Vergangenheit vor allem dann ein Problem war, wenn Gruppen von Straftaten innerhalb der regulären Verjährungsfristen nicht verfolgt wurden. Beispiele dafür sind in Österreich die NSVerbrechen und – wenngleich nicht direkt vergleichbar – die Verbrechen an den Heimkindern und die der #metoo-Debatte zugrundeliegenden Straftaten. Bei systemischem Unrecht besteht bei Nichtverfolgung innerhalb der Verjährungsfrist ein erhöhtes Risiko, dass Straftaten nach Eintritt der Verjährung bekannt werden, weil davon viele Personen als Opfer oder TäterInnen betroffen sind. Gerade in solchen Fällen kann eine staatliche Strafverfolgung und Bestrafung bei Bekanntwerden der Straftaten zur Generalprävention für erforderlich gehalten werden. Aus spezialpräventiver Sicht erscheint es dagegen nicht notwendig und unter Umständen sogar nachteilig, einen/eine TäterIn, der/die sich während eines längeren Zeitraums nach der Tat oder der Verurteilung strafrechtskonform verhalten hat, strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen.

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Conclusio

Schlussfolgernd kann festgestellt werden, dass general- und spezialpräventive Zielsetzungen im Verjährungsrecht vielfach unterschiedliche Regelungen erfordern würden und die gegenwärtig vorherrschende Begründung der Verjährung mit der Abnahme des Strafbedürfnisses in general- und spezialpräventiver Hinsicht zu undifferenziert ist. Eine grundlegende Umgestaltung des geltenden Verjährungsrechts wird dennoch nicht vorgeschlagen, dessen Begründung sollte freilich überdacht werden. Reformüberlegungen, um general- und spezialpräventive Zielsetzungen im Bereich der Verjährung besser zu vereinbaren und bestehende Wertungswidersprüche auszugleichen, bilden den rechtspolitischen Abschluss der Untersuchung.

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Abstract (Deutsch)

Die Verjährung begrenzt die staatliche Strafmacht und Strafpflicht zeitlich. Im österreichischen Strafrecht stellt sie seit langem eine nicht näher hinterfragte Selbstverständlichkeit dar. Nichtsdestotrotz traten in den letzten Jahrzehnten vor allem negative Auswirkungen der Verjährung in den Vordergrund, weil diese die Verfolgung von Straftaten, die als schweres Unrecht empfunden wurden, verhinderte. Rechtspolitisch unerwünschte Nebenwirkungen der Straffreiheit durch Zeitablauf sind seit langem bekannt. Ab der Aufklärung wurde die Verjährung kontrovers diskutiert, zum Teil stark kritisiert und in Österreich zwischenzeitlich abgeschafft. Während das Verjährungsinstitut an sich im Laufe des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der kontinentaleuropäischen Rechtsentwicklung zunehmend Anerkennung fand, blieb die Frage, warum die Verjährung zuzulassen sei, bis gegen Mitte der 1970er-Jahre fast ebenso umstritten wie die damit im engen Zusammenhang stehende Frage nach dem Zweck der Strafe. Die vorliegende Monographie widmet sich der Entwicklung des Gedankens der Straffreiheit durch Zeitablauf im Gebiet des heutigen Österreichs. Diese wird einerseits anhand des geltenden österreichischen Rechts und der zahlreichen österreichischen Strafgesetzentwürfe dargestellt, andererseits anhand des wissenschaftlichen Diskurses zur Verjährungsbegründung von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Grundsätzlich nachgegangen wird der Frage, wie die Verjährung als zeitliche Begrenzung der staatlichen Strafmacht begründet wurde und gegenwärtig begründet wird. Außerdem untersucht die Arbeit das Verhältnis der verschiedenen Strafzwecktheorien zur Begründung der Verjährung. Ein weiteres Forschungsfeld der Arbeit sind die Auswirkungen, die die Verjährung auf die Aufarbeitung von systemischem Unrecht in Österreich hatte. Aufgezeigt werden die Ursprünge eines gegenwärtig als selbstverständlich erachteten Rechtsinstituts, weil insbesondere die NS-Verbrechen und die Verbrechen an den Heimkindern sowie die der #metoo-Debatte zugrundeliegenden Straftaten zeigen, dass eine Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen und der Entwicklung der Verjährung auch heute notwendig und relevant ist.

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Abstract (Deutsch)

Reformüberlegungen, um general- und spezialpräventive Zielsetzungen im Bereich der Verjährung besser zu vereinbaren und bestehende Wertungswidersprüche auszugleichen, bilden den rechtspolitischen Abschluss der Untersuchung.

Abstract (English)

This book is concerned with the development and theoretical foundations of a temporal limit to criminal prosecution und punishment in the area of presentday Austria. It examines the relationship between the various theories on the purpose of criminal justice and the justification of periods of limitation. Another aspect of the research focuses on the effects that the limitation periods have had on the social and legal reappraisal of systemic injustice, such as the Nazi crimes and the crimes against children in children’s homes, as well as the crimes underlying the #metoo debate in Austria. Reform considerations to better reconcile the interests of victims, rehabilitated offenders and society form the conclusion of the study.