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German Pages 362 Year 2006
Elena Smirnova Die Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv im Deutschen
≥
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Elena Smirnova
Die Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv im Deutschen Eine funktional-semantische Analyse unter besonderer Berücksichtigung sprachhistorischer Aspekte
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-019103-5 ISBN-10: 3-11-019103-2 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany
Vorwort Die Einordnung der Konstruktion würde + Infinitiv in das Paradigma der Tempus- und Modussysteme des Deutschen ist seit längerem Diskussionsgegenstand in der germanistischen Linguistik. Diese Studie nimmt den Faden dieser Diskussion auf und untersucht diese Konstruktion synchron und diachron unter dem Gesichtspunkt der Grammatikalisierung. Die Arbeit zielt erstens auf eine genaue Funktionsbestimmung und paradigmatische Einordnung der Form im heutigen Deutsch und zweitens auf eine diachrone Nachzeichnung der Entwicklung dieser Form als mehrfach verzweigter Grammatikalisierungsprozess. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2005/2006 von der Philosophischen Fakultät der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Herbst 2005 abgeschlossen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Seither erschienene Literatur konnte nur noch in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Bei der Entstehung dieses Buches habe ich viel Unterstützung erfahren: An erster Stelle danke ich Frau Prof. Dr. Gabriele Diewald, Universität Hannover, die die Arbeit zu jedem Zeitpunkt mit wertvollen Ratschlägen begleitet hat. Sie weckte mein Interesse für das Thema und ließ mir die Freiheit, eigene Wege zu gehen. Weiterhin sage ich vielen anderen Dank, namentlich Herrn Alihan Kabalak, Zeppelin University Friedrichshafen, Frau Linde Roels, Universität Antwerpen und Herrn Timm Lehmberg, Universität Hannover, für zahlreiche Hinweise und kritische Lektüre des Manuskripts. Herrn Prof. Dr. Hans Bickes, Universität Hannover, bin ich dankend verbunden. Er hat die Arbeit im Dissertationsverfahren an der Philosophischen Fakultät der Universität Hannover begutachtet. Danken möchte ich schließlich dem Verlag Walter de Gruyter für die Bereitschaft zur Drucklegung des Manuskripts und meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen für ihre Unterstützung.
Hannover, im August 2006
Elena Smirnova
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ......................................................................................................... 1 1.1. Untersuchungsgegenstand und Problemstellung...................................... 1 1.2. Untersuchungsmethode................................................................................ 4 1.2.1. Das Konzept der gemeinsamen semantischen Basisstruktur.............. 4 1.2.2. Das Prinzip der Kompositionalität.......................................................... 6 1.3. Datenbasis....................................................................................................... 8 1.4. Gliederung der Arbeit ................................................................................... 9
2. Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion.........................11 2.1. Würde + Infinitiv in Grammatiken............................................................11 2.1.1. DUDEN-Grammatik ..............................................................................11 2.1.2. IDS-Grammatik........................................................................................13 2.1.3. Helbig/ Buscha, Deutsche Grammatik ................................................15 2.1.4. Flämig, Grammatik des Deutschen .......................................................16 2.1.5. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache ..............................17 2.1.6. Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik.................................17 2.2. Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-ModusSystem............................................................................................................19 2.2.1. Würde + Infinitiv als Tempus Futur Präteritum ..................................22 2.2.2. Würde + Infinitiv als Modus Konjunktiv II..........................................25 2.2.3. Würde + Infinitiv und seine pragmatischen Grundlagen ...................30 2.2.4. Aspektuelle / aktionale Grundlagen von würde + Infinitiv................33 2.2.5. Andere Ansätze.........................................................................................37
3. Die Diachronie von würde + Infinitiv....................................................41 3.1. Würde + Infinitiv in historischen Grammatiken.....................................42 3.2. Einige Studien zur Diachronie von würde + Infinitiv.............................48 3.3. Das diachrone Korpus................................................................................54 3.4. Methodisches Vorgehen bei der diachronen Untersuchung ................57
4. Evidentialität .................................................................................................61 4.1. Semantischer Kerngehalt der Kategorie Evidentialität..........................62 4.2. Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension ....................................................................................................63
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Inhaltsverzeichnis
4.3. Evidentialität als deiktisch determinierte Dimension ............................70 4.3.1. Die grundlegende Opposition [DIREKT] vs. [INDIREKT] ...........71 4.3.2. [SUBJEKTIV] als Merkmal für die Subklassifizierung von indirekten Evidentialitätsmarkern.............................................................78 4.3.2.1. Starke und schwache Deiktika.............................................................78 4.3.2.2. Serialisierung innerhalb der Kategorie Evidentialität ......................81 4.4. Evidentialität und Faktizität.......................................................................86 4.4.1. Faktizität und Modus ...............................................................................87 4.4.2. Inferentielle Evidentialität.......................................................................91 4.4.3. Inferentielle Evidentialität und epistemische Modalität .....................92 4.5. Evidentialitätsmarker im Deutschen ........................................................98 4.5.1. Scheinen + zu + Infinitiv .........................................................................100 4.5.2. Drohen + zu + Infinitiv...........................................................................100 4.5.3.Versprechen + zu + Infinitiv.....................................................................101 4.5.4. Werden + Infinitiv ...................................................................................103 4.6. Zusammenfassung.....................................................................................105
5. Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv .............................................109 5.1. Werden + Infinitiv: modal oder temporal? .............................................109 5.2. Die relationale Bedeutungsschablone von werden .................................114 5.3. Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv .............121 5.4. Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion....................................131 5.4.1. Würde + Infinitiv als Marker einer Grund-Folge-Relation...............132 5.4.2. Würde + Infinitiv als Präteritum von werden + Infinitiv....................133 5.4.3. Würde + Infinitiv in der erlebten Rede................................................144 5.4.4. Würde + Infinitiv als Konjunktiv II von werden + Infinitiv..............149 5.5. Zusammenfassung.....................................................................................153
6. Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II ...........................................156 6.1. Indikativ vs. Konjunktiv...........................................................................156 6.2. Der Konjunktiv I.......................................................................................160 6.3. Der Konjunktiv II .....................................................................................162 6.4. Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv...............164 6.5. Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart.........................................172 6.5.1. Typische Verwendungskontexte des Konjunktivs II........................173 6.5.1.1. Konzessivsätze.....................................................................................174 6.5.1.2. Konsekutivsätze...................................................................................175 6.5.1.3. Komparativsätze..................................................................................175 6.5.1.4. Relativsätze...........................................................................................176 6.5.2. Würde + Infinitiv in typischen konjunktivischen Kontexten...........177 6.5.2.1. Konzessivsätze.....................................................................................177
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6.5.2.2. Konsekutivsätze...................................................................................179 6.5.2.3. Komparativsätze..................................................................................180 6.5.2.4. Relativsätze...........................................................................................181 6.5.2.5. Würde + Infinitiv im Nebensatz einer konditionalen Periode......182 6.6. Würde + Infinitiv vs. Konjunktiv II........................................................184 6.7. Zusammenfassung.....................................................................................189
7. Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen .............................192 7.1. Konditionalkonstruktionen als typischer Verwendungskontext von würde + Infinitiv .........................................................................................192 7.2. Was ist eine Konditionalkonstruktion? ..................................................195 7.3. Arten der konditionalen Verknüpfung...................................................197 7.3.1. Inhaltliche Verknüpfung .......................................................................198 7.3.2. Epistemische Verknüpfung ..................................................................199 7.3.3. Illokutive (pragmatische) Verknüpfung ..............................................200 7.4. Die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion .....................201 7.5. Kurze Zwischenbilanz ..............................................................................207 7.6. Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen..................................209 7.6.1. Würde + Infinitiv und inhaltliche konditionale Verknüpfung .........212 7.6.2. Würde + Infinitiv und epistemische (inferentielle) konditionale Verknüpfung ..............................................................................................220 7.6.3. Würde + Infinitiv und illokutive konditionale Verknüpfung ...........232 7.7. Zusammenfassung.....................................................................................239
8. Die diachrone Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv 242 8.1. Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte......................................................................................................242 8.2. Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen........259 8.3. Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen...267 8.3.1. Der Konjunktiv in älteren Sprachstufen des Deutschen .................267 8.3.2. Der Konjunktiv zur Kennzeichnung der indirekten Rede ..............274 8.3.3. Würde + Infinitiv in der indirekten Rede ............................................276 8.4. Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I .................................................................................279 8.4.1. Würde + Infinitiv in kritischen Kontexten I.......................................283 8.4.2. Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion: zum Grammatikalisierungsstatus im Frühneuhochdeutschen ....................295 8.5. Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II .................................................................................................297 8.5.1. Werden-Periphrasen in kritischen Kontexten II .................................298 8.5.2. Würde + Infinitiv in kritischen Kontexten II .....................................305
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Inhaltsverzeichnis
8.6. Bemerkungen zum Synkretismus im Flexionsparadigma von werden............................................................................................................313 8.7. Zum Grammatikalisierungsstatus von würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart.............................................................................319 8.8. Zusammenfassung.....................................................................................323
9. Bilanz .............................................................................................................329 Literatur .............................................................................................................336
1. Einleitung 1.1. Untersuchungsgegenstand und Problemstellung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Konstruktion würde + Infinitiv und ihrem Status in dem verbalen Paradigma der deutschen Sprache. Dieses Thema stellt ein aktuelles Diskussionsfeld dar. In der bisherigen Forschung haben sich bereits einige Theorien zur Einstufung dieser Konstruktion herauskristallisiert (vgl. Kap.2.). Es lässt sich allerdings anhand zahlreicher und zum Teil weit auseinanderliegenden Einordnungsversuche feststellen, dass über den Platz der Konstruktion würde + Infinitiv im verbalen Paradigma der deutschen Gegenwartssprache kein Konsens besteht. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse vorliegender Studien zur Synchronie der betreffenden Periphrase wird in der Arbeit eine eigene korpusbasierte Analyse vorgenommen. Das zentrale Ziel der Arbeit ist, für das gesamte Spektrum unterschiedlicher Bedeutungen von würde + Infinitiv eine einheitliche relationale Bedeutungsschablone zu entwerfen, auf die verschiedene Lesarten der Konstruktion zurückgeführt werden können. Das Konzept einer gemeinsamen, allen Bedeutungsvarianten zugrunde liegenden Basisstruktur wird als eine geeignete Methode nicht nur für die rein deskriptive Behandlung, sondern auch für die Erklärung verschiedenartiger Interpretationen der Fügung würde + Infinitiv angesehen. Die Bedeutung der Fügung setzt sich kompositionell aus zwei Bestandteilen zusammen: aus dem Beitrag der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv und aus demjenigen der konjunktivischen Flexion. Unterschiedlich starke Realisierung einer dieser Komponenten – entweder der werden-Komponente oder der KonjunktivKomponente – führt zur Entstehung unterschiedlicher Lesarten von würde + Infinitiv. Die Hervorhebung der Konjunktiv-Relation des abstrakten Basisschemas löst die konjunktivische Interpretation der Fügung aus. Wenn dagegen die werden-Komponente in der Grundstruktur an Gewicht gewinnt, entstehen Bedeutungsvarianten von würde + Infinitiv, die als Entsprechungen der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv angesehen werden können und daher aus der eigenen Leistung dieser Periphrase am besten zu erklären sind. Die entfaltete, beide Komponenten umfassende, Bedeutungsschablone wird im Sprachgebrauch allerdings auch re-
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Einleitung
alisiert, was zur Entstehung ambiger Interpretationen von würde + Infinitiv führt. All diese Phänomene werden mit Bezug auf eine gemeinsame relationale Struktur der Konstruktion erläutert. Vor diesem Hintergrund wird die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv und ihr semantisch-funktionaler Status in der Arbeit auch eingehend behandelt. Für werden + Infinitiv wird angenommen, dass ihr semantischer Kern als evidentielle Bedeutung beschrieben werden kann, die in verschiedenen Kontexten temporale (futurische), modale oder expressive Interpretationen erlaubt. Daher wird in der vorliegenden Arbeit der Beschreibung der semantisch-funktionalen Domäne Evidentialität eine besondere Stellung eingeräumt. In Analogie zu solchen grammatischen Kategorien wie Tempus und Modus wird sie als eine deiktisch determinierte Dimension betrachtet, die nach bestimmten allgemeinen Prinzipien aufgebaut ist. Dieser Aufbau spiegelt sich in der Einordnung von bedeutungstragenden Elementen innerhalb jeder deiktischen Kategorie wider, was auch für Evidentialität nachgewiesen wird. Für das Deutsche im Besonderen ergibt sich, dass Evidentialität (noch) keine ausgebaute grammatische Kategorie darstellt und deutsche Evidentialitätsmarker dementsprechend (noch) nicht als reine grammatische Zeichen angesehen werden können. Ihre Semantik ist noch stark an die lexikalische Bedeutung ihrer konstituierenden Elemente gebunden. Die zusätzliche faktizitätsbewertende Komponente, die deutsche Evidentialitätskonstruktionen zum Ausdruck bringen, lässt eine enge Wechselbeziehung zwischen Evidentialität und Faktizität (Modus) in der deutschen Sprache vermuten. Die im Laufe der synchronen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse werden die Basis für die anschließende diachrone Betrachtung der Konstruktion würde + Infinitiv bilden. Als theoretische und methodologische Grundlage hierbei werden zahlreiche Arbeiten zur Grammatikalisierung und zum syntaktischen und morphologischen Wandel verwendet (z.B. Hopper/ Traugott 1993, Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991, Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994, Lehmann 1995, Diewald 1997 und 1999, Wischer/ Diewald (Hg.) 2002). Es wird versucht, die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv als einen Grammatikalisierungsprozess in seinen wichtigsten Schritten bzw. Phasen vorzustellen. Morphologische und semantische Veränderungen der Konstruktion werden untersucht und beschrieben. Die Untersuchung von Wandlungsprozessen, die die Konstruktion würde + Infinitiv in der Sprachgeschichte durchlaufen hat und die sie zu ihrer heutigen Bedeutung gebracht haben, werden die Einstufung der Konstruktion in das grammatische System wesentlich erleichtern. Die vorgenommene diachrone Beobachtung wird zeigen, welche Funktionen schon immer vorhanden waren und welche sich erst in den späteren Phasen entwickelt haben. Die genauere Betrachtung der einzelnen Phasen des
Untersuchungsgegenstand
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Bedeutungswandels und der Grammatikalisierung vermag auf viele Fragen, die sich allein aus synchroner Sicht nicht beantworten lassen, ein Licht werfen. So wird anhand diachroner Analyse nachgewiesen, dass die konjunktivische Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv, die im heutigen Deutsch kaum etwas von der lexikalischen Bedeutung des Verbs werden in ihrer Bedeutung aufweist (im Gegensatz zu anderen Verwendungen, die als Entsprechungen der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv angesehen werden können), sich zunächst in solchen Kontexten des Frühneuhochdeutschen entwickeln und behaupten konnte, in die sie eben durch diese Komponente Eingang fand. Die allmähliche Verlagerung des Akzents auf die Konjunktiv-Relation im relationalen Schema der Fügung auch außerhalb dieser Kontexte führte zur Verblassung der lexikalisch begründeten werden-Komponente. Diese Reinterpretation erfolgte allerdings nicht einheitlich für alle würde-Formen, da eine andere Art relevanter Kontexte eine andere Entwicklung der Fügung triggerte. Dies führte zur „Verzweigung“ in der Entwicklungsgeschichte von würde + Infinitiv, was die hochgradige Polyfunktionalität der Periphrase im heutigen Deutsch zur Folge hatte. Die hier vertretene Hypothese lautet, dass diese Polyfunktionalität durch eine gemeinsame abstrakte Basisstruktur erklärt werden kann. Ein besonderer Wert bei der diachronen Analyse wird auf die Veränderungen im relationalen Schema des Verbs werden gelegt. Es wird gezeigt, dass seine abstrakte dreigliedrige Schablone auch in seinen heutigen auxiliaren Verwendungen konstant bleibt. Die Veränderungen betreffen einzelne Positionen des abstrakten Schemas, die im Prozess der Grammatikalisierung von unterschiedlichen Elementen bzw. Informationen besetzt werden. Die Struktur selbst blieb allerdings erhalten. Die Zusammenführung der Ergebnisse einer synchroner und einer diachroner Untersuchung, die auf der Grundlage eines einheitlichen Modells durchgeführt werden, ermöglicht eine „neue“ systematische Klassifizierung unterschiedlicher Bedeutungsvariationen der Konstruktion würde + Infinitiv. Die gemeinsame grundlegende Bedeutungsschablone bildet die Basis für getroffene Differenzierungen in zwei Hauptlesarten. Weitere Spezifizierungen ergeben sich aus der Interpretation dieser beiden Lesarten.
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Einleitung
1.2. Untersuchungsmethode 1.2.1. Das Konzept der gemeinsamen semantischen Basisstruktur Für die synchrone Betrachtung der Konstruktion würde + Infinitiv in ihren unterschiedlichen Bedeutungsfacetten wird das Konzept einer abstrakten semantischen Basisstruktur als geeignet angesehen. Meine Hypothese ist, dass der Fügung würde + Infinitiv eine für alle ihre Lesarten grundlegende semantische Basisstruktur zugrunde gelegt werden kann und dass sich das synchrone sowie das diachrone Spektrum ihrer Gebrauchsweisen als je spezifische Realisierung dieser semantischen Basis darstellen lässt. Dieses Verfahren ist im Wesentlichen der Untersuchung von Diewald (1999) entnommen, das sie anhand von Sweetsers (1988) Konzept des „Bildschemas“ (image schema) zur Beschreibung von unterschiedlichen Modalverbbedeutungen im Deutschen entwickelt hat. Das Bildschema ist laut Sweetser (1988, 390 ff.) diejenige semantische Struktur, die beim Bedeutungswandel erhalten bleibt, während andere semantischen Merkmale der lexikalischen Ausgangsbedeutung abgebaut werden. Sweetser (1988) untersucht die Entwicklung des englischen go-Futurs und identifiziert eine abstrakte schematische Basisstruktur vom Verb go, die im Laufe des Wandels konstant geblieben ist. Diese Struktur besteht in der Bewegung (movement) entlang einer Linie (linearity) vom Ausgangspunkt, der die Position des Ego bezeichnet, in Richtung auf ein Ziel hin, das vom Ego entfernt ist: The claim, then, is that a topologically structured image schema (leaving out such particulars as rate, manner, distance between source and goal) is abstractable from go, and coherently mappable onto the domain of futurity with preservation of the topology. In this mapping, we lose the sense of physical motion. We gain, however, a new meaning of future prediction or intention – together with its likely background inferences. […] I shall argue that, for the go-future and the other cases I am about to examine: (1) Meaning-transfers in historical semantic change, including grammaticalization, show preservation of image-schematic structure. (Sweetser 1988, 392) [Hervorhebung E.S.]
Als semantisches Basisschema für das Verb werden wird hier eine relationale Struktur (vergleichbar mit image schema von Sweetser) konstruiert. Das ist eine gerichtete Relation, die grafisch als ein Vektor zwischen einem Ausgangspunkt (Quelle) über einen Weg oder Pfad zu einem Ziel dargestellt wird (vgl. Diewald 1999, 28): Ausgangspunkt
→
Weg
→
Ziel
Untersuchungsmethode
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Die Positionen Ausgangspunkt, Weg und Ziel in diesem relationalen Schema werden als abstrakte semantische Merkmale und nicht etwa als Tiefenkasus, Thetarollen o.ä. betrachtet (vgl. Diewald 1997, 112 in Anlehnung an Rauh 1998, 335). Der Ausgangspunkt markiert die Position, von der die durch das Verb spezifizierte Relation ausgeht – Handlung, Vorgang u.ä. Bei Handlungsverben beispielsweise wird der Ausgangspunkt mit der Rolle des Agens besetzt. Das ist typischerweise der belebte Urheber der Handlung. Das Ziel ist diejenige Rolle, die den Endpunkt der gesamten Relation markiert. Im Deutschen ist dieses Ziel im Allgemeinen durch das indirekte Objekt, das Dativobjekt, realisiert, das ebenso wie ein Ausgangspunkt mit dem semantischen Merkmal der Belebtheit korreliert. Um ein Beispiel zu bringen (aus Diewald 1997, 112f.): (1) Sie schreibt ihr. Sie → schreibt → ihr A → [Relator] → Z Der Pfad als Relator, der im Allgemeinen im Handlungsverb schreiben selbst ausgedrückt ist, bringt die semantische Spezifikation der Relation zum Ausdruck. Dieses Schema kann erweitert werden, indem die Position des Pfades (der Relator) durch eine Zusätzliche Position inneres Ziel expandiert wird: Pfad = Relator (+ inneres Ziel). Das innere Ziel wird als ein markanter Punkt auf dem Weg betrachtet, der jedoch darüber hinaus auf das Ziel gerichtet ist: (2) Sie schreibt ihr einen Brief. Sie → schreibt → einen Brief → ihr A → [Relator] → IZ → Z Das Basisschema der gerichteten Relation (mit möglicher Einführung der Position inneres Ziel) wird hier als Grundbaustein aufgefasst. Dieser Grundbaustein enthält keine weiteren Bestimmungen oder Merkmale als die dargestellte Ausrichtung von der Quelle über einen Weg auf das Ziel: alle beteiligten Elemente (Ausgangspunkt, Weg, Ziel) sind als abstrakte, inhaltlich nicht determinierte Einheiten verstanden. Diese Basisstruktur wird ferner als nicht weiter reduzierbare Grundeinheit der kognitiven Strukturierung von Bedeutungen aufgefasst (vgl. Diewald 1999, 29). Das Konzept des abstrakten relationalen Schemas wird in der vorliegenden Untersuchung den grundsätzlichen methodologischen Hintergrund für die Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv bilden. Es wird ein Versuch unternommen, für das Verb werden eine abstrakte relationale Bedeutungsschablone zu konstruieren, das allen seinen Verwendungen (als Vollverb, als Kopulaverb, als Auxiliar) zugrunde gelegt werden kann. Auf der Grundlage der relationalen Schablone des Lexems werden
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Einleitung
wird diejenige von der Konstruktion werden + Infinitiv erarbeitet. Die Bedeutung der inferentiellen Evidentialität von werden + Infinitiv wird durch diese relationale Struktur erklärt. Ferner wird versucht, die relationale Bedeutungsschablone der Konstruktion würde + Infinitiv zu entwerfen. Für diese polyfunktionale Periphrase wird somit eine (abstrakte) Kernbedeutung angenommen, der kleinste gemeinsame Nenner, der in jeder Verwendung der Konstruktion präsent ist. Mit dem Nachweis einer grundlegenden Kernbedeutung von würde + Infinitiv erfolgt einerseits die systematische Einordnung der Periphrase in das heutige deutsche Verbalparadigma, die nicht mehr von grundsätzlich verschiedenen „Verwendungstendenzen“ bzw. „Varianten“ der Fügung ausgeht, sondern diese verschiedenen Lesarten aus einer gemeinsamen Struktur ableitet und erklärt. Andererseits wird dieses konstruierte relationale Schema darauf angewendet, die diachrone Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv als einen kontinuierlichen Grammatikalisierungsprozess darzustellen. Eine solche Beschreibung trägt ferner dazu bei, den umstrittenen Status der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv im deutschen Verbalsystem sowohl synchron als auch diachron besser zu beleuchten. 1.2.2. Das Prinzip der Kompositionalität Einige Studien (Confais 1990, Fabricius-Hansen 2000, Fritz 2000b, Engel 2002, Kotin 2003) zu würde + Infinitiv betonen, dass diese Konstruktion sich am besten kompositionell erklären lässt. Dabei wird nicht nur an die analytische Form dieser Bildung gedacht: das Auxiliar werden (in der Konjunktiv II-Form) plus Infinitivkomplement. Bei der Konstruktion würde + Infinitiv handelt es sich um eine andere Art der Kompositionalität. Sie stellt eine komplexe Struktur dar, die zwei Elemente in sich vereint: einerseits die Periphrase werden + Infinitiv samt all ihrer inhaltlich-funktionalen Komplexität und andererseits die Konjunktivflexion des Auxiliars werden. Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass zwischen der Funktionsleistung der Periphrase werden + Infinitiv und des „würde-Gefüges“ ein tiefer ontologischer Zusammenhang besteht. Offenkundig kann es sich hierbei nicht um zwei grundsätzlich unterschiedliche Entitäten handeln, deren Kategorialfunktionen keine wesentlichen Affinitäten aufweisen. Bei der Unersuchung der historischen Entwicklung beider Verbalperiphrasen habe ich die prognostische Funktion als ein – wenngleich nur sehr allgemeines – Tertium angenommen. Im Folgenden versuche ich nun zu zeigen, welche Modifikationen der prognostischen Hauptfunktion sich aus dem Konjunktiv-Morphem ergeben. (Kotin 2003, 224) [Hervorhebung E.S.] Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass der Bedeutungsbeitrag der Konstruktion der würde-Konstruktion sich in seinem Kern kompositionell
Untersuchungsmethode
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erklären lässt aus dem Beitrag der Konstruktion werden + Infinitiv und dem des präteritalen Konjunktivs und dass das Fehlen der Indikativkonstruktion *wurde + Infinitiv vor diesem Hintergrund gut motiviert ist – ebenso wie das zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug schillernde temporale Verhalten der Konstruktion, das seine Entsprechung im präsentischen werden + Infinitiv hat. (Fabricius-Hansen 2000, 83) [Hervorhebung E.S.]
Die hier vorgenommene Untersuchung knüpft an diese wichtigen Erkenntnisse an und stellt sich zur Aufgabe, die semantisch-funktionale Leistung der Periphrase würde + Infinitiv aus den genannten Komponenten heraus zu erklären. Daher ist es erforderlich, im Vorfeld eine isolierte Beschreibung beider Bestandteile der Fügung zu präsentieren, um im Weiteren das Zusammenspiel von diesen Elementen innerhalb einer Struktur (würde + Infinitiv) erforschen zu können. Es erscheint daher sinnvoll, diese beiden Komponenten mithilfe eines möglichst einheitlichen Modells darzustellen, damit ihre anschließende Zusammenführung und daraus entstehende Wechselwirkungen und Überlappungen zwischen ihnen systematisch dargestellt werden können. Hierbei stütze ich mich auf die Beschreibungsmethode, die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt wurde. Sowohl für die Konstruktion werden + Infinitiv als auch für den Konjunktiv II werden zunächst ihre eigenen relationalen Bedeutungsschablonen konstruiert. Diese werden auf der Grundlage der einschlägigen Studien zu diesen Phänomenen (zum Konjunktiv II: Flämig 1962, Jäger 1971, Graf 1977, Kasper 1987a, b; Dietrich 1992, Radtke 1998, Diewald 1999 u.a.; zu werden + Infinitiv: Vater 1975, 1997; Marschall 1987, Leiss 1992, Thieroff 1992, Amrhein 1996, Marillier 1997, Fritz 2000b, Kotin 2003, Diewald 2005, Diewald/Habermann demn.; Mortelmans 2001, 2004, demn. u.a.) und der im Laufe der eigenen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse erarbeitet und dann in einem kompositionellen Schema der Konstruktion würde + Infinitiv zusammengeführt. Das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit wird somit von zwei grundlegenden Perspektiven bestimmt: zum einen wird angestrebt, die wesentlichen Kern- bzw. Hauptbedeutungen der in Frage kommenden sprachlichen Erscheinungen in abstrakten relationalen Bedeutungsschablonen zu erfassen, die (zumindest fast) allen ihren Varianten zugrunde gelegt werden können. Zum anderen, von der Annahme der kompositionellen Beschaffenheit der Konstruktion würde + Infinitiv ausgehend, wird versucht, die relationale Bedeutungsschablone dieser Fügung als Zusammenführung von Bedeutungsstrukturen ihrer beiden Bestandteile zu erarbeiten. Diese „entfaltete“ Bedeutungsschablone wird im Weiteren auf unterschiedliche Lesarten und damit verbundene Verwendungskontexte dieser Konstruktion angewendet.
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Einleitung
1.3. Datenbasis Die vorliegende Untersuchung, die sowohl eine synchrone als auch eine diachrone Analyse der Konstruktion würde + Infinitiv anstrebt, bedarf einer soliden empirischen Basis. Dafür wurde ein eigenes Datenkorpus angelegt. Wesentlich für die Auswahl des Materials ist die Berücksichtigung möglichst vieler relevanter Daten in deren adäquaten Verteilung auf die Quellen verschiedener Epochen, Textsorten und Themenbereiche. Für die synchrone Analyse des Gegenwartdeutschen wurden Belege aus den COSMAS-II-Korpora des Instituts für deutsche Sprache Mannheim bezogen. COSMAS-II-Korpora sind Sammlungen von Textmaterialien, die in elektronischer Form zur Verfügung stehen.1 Folgende Teilkorpora der IDS-Textsammlung wurden verwendet: Mannheimer Korpus 1/2 (MK1/2), Wendekorpus/West (W1B), Der Spiegel 1994 (S94). Verschiedene Textquellen wurden erfasst: schriftliche Textsorten unterschiedlicher Art (Romane, wissenschaftliche Texte, Zeitschriftenartikeln: Berichte, Kommentare, Interviews, Lesebriefe etc.) und mündliche Texte (Bundestagsprotokolle). Unten folgt die Aufzählung der einbezogenen Quellen mit den Abkürzungen, die bei dem Zitieren einzelner Belege in der Arbeit verwendet werden: [Bamm] [Böll] [BP] [Frisch] [Grass] [Larsen] [Pegg] [Spiegel] [Stephan]
MK1/WBO Bamm, P. “Ex ovo”, Essays (1956) MK1/LBC Böll, H. „Ansichten eines Clowns“, Roman (1963) W1B/BT1-3 Bundestagsprotokolle (1.Hj. 1989- 2.Hj. 1990) MK1/LFH Frisch, M. „Homo Faber“, Roman (1957) MK1/LGB Grass, G. „Die Blechtrommel“, Roman (1962) MK2/TRL Larsen, V. “Die heimlichen Wege der schönen Prinzessin”, Trivialroman (o.J.) MK2/TRL Pegg, J. “Nacht des Jägers”, Trivialroman (o.J.) S94 Der Spiegel 1994, Hefte 36 und 42 MK2/TRL Stephan, S. “Ihre Liebe gab ihr Leben”, Trivialroman (o.J.)
Die Gesamtzahl der ausgezählten Belege beläuft sich auf 872, davon 265 aus der gesprochenen Sprache (BP). Des Weiteren wurden Belege sekundär aus anderen Arbeiten übernommen. Die Quellen für diese Belege sind hier nicht eigens genannt. Die Übernahme wird im Text immer kenntlich gemacht. Gelegentlich werden
_____________ 1
Die Korpora sind im Internet unter http://www.ids-mannheim.de/cosmas2 zu finden. Der Zugang zu den meisten Textquellen ist frei, es ist nur eine Anmeldung für das Programm COSMAS-II erforderlich. Es können mithilfe des Programms auch benutzerdefinierte Suchanfragen ausgeführt werden. Für die Zusammenstellung des eigenen Korpus für diese Arbeit wurde nach allen Vorkommnissen von würde(st, t, n) gesucht, wobei hinterher Belege mit würde als Vollverb, Kopula und Auxiliar zur Passivbildung aussortiert wurden.
Gliederung
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auch selbstkonstruierte Beispiele verwendet (vor allem wenn es um Substitutionstests und Paraphrasierungen geht). Das Korpus für die diachrone Untersuchung wird in Kap.3.3. vorgestellt.
1.4. Gliederung der Arbeit Die Kapiteln 2. und 3. stellen eine zusammengefasste Forschungsgeschichte der Konstruktion würde + Infinitiv in der germanistischen Literatur vor. In Kapitel 2. werden die Ansichten der gängigen Grammatiken des Gegenwartsdeutschen zum synchronen Status der Periphrase wiedergegeben sowie einige Studien vorgestellt, die sich intensiv mit den Fragen der funktional-semantischen Klassifizierung und der Bestimmung des Platzes der Konstruktion würde + Infinitiv im heutigen deutschen Verbalparadigma befassen. Kapitel 3. beleuchtet dieselben Fragen aus der diachronen Perspektive. Dabei wird in Kap.3. auch das Korpus historischer Daten beschrieben und das methodische Vorgehen bei der diachronen Untersuchung vorgestellt. Kapitel 4. befasst sich mit der Kategorie Evidentialität, deren inhaltlich-funktionalen Charakteristiken sowie deren Korrelationen mit der Kategorie der epistemischen Modalität. Es wird eine Lösung vorgeschlagen, die Konstruktionen werden + Infinitiv und würde + Infinitiv neben den anderen verbalen Konstruktionen (scheinen / drohen / versprechen + zu + Infinitiv) als eine Evidentialitätskonstruktion anzusehen, die in der heutigen deutschen Sprache noch in einen Grammatikalisierungsprozess involviert sind. Die Kapiteln 5. bis 7. bilden den Hauptteil der synchronen Untersuchung. In Kapitel 5. wird die semantische Basisschablone der Konstruktion werden + Infinitiv erarbeitet und anschließend die Konstruktion würde + Infinitiv als modusneutrale präteritale Entsprechung dieser in spezifischen Kontexten beschrieben. In Kapitel 6. wird die relationale Bedeutungsschablone des Konjunktivs II konstruiert und anschließend mit derjenigen von werden + Infinitiv zusammengefügt, wobei das semantische Basisschema der Konstruktion würde + Infinitiv entsteht. Zwei Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv werden anhand spezifischer Kontexte beschrieben und auf das erarbeitete relationale Bedeutungsschema zurückgeführt. Anschließend werden in Kapitel 7. Konditionalkonstruktionen und ähnliche Kontexte behandelt, wobei kontextuelle und situative Faktoren ermittelt werden, die verschiedene Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv favorisieren. Ergebnisse dieser Analyse haben einen allgemeinen
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Einleitung
Wert, sofern sie auf weitere Verwendungskontexte der Fügung übertragen werden können. In Kapitel 8. wird die diachrone Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv als ein umfassender Grammatikalisierungsprozess in seinen einzelnen Phasen dargestellt. Dabei wird die Herausbildung unterschiedlicher Lesarten der Fügung im Zusammenhang mit anderen werdenKonstruktionen gebracht, sodass nicht nur die Diachronie von würde + Infinitiv selbst analysiert wird, sondern auch Erkenntnisse gewonnen werden, die die funktionale Leistung der Periphrase werden + Infinitiv beleuchten und das Verschwinden der indikativischen präteritalen Fügung *wurde + Infinitiv zu erklären versuchen. Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv wird auch mithilfe der konstruierten relationalen Schablone dargestellt. Kapitel 9. fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Es wird eine kurze Bilanz der durchgeführten synchronen sowie diachronen korpusbasierten Analyse gezogen und einige generalisierende Aussagen auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse formuliert.
2. Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion 2.1. Würde + Infinitiv in Grammatiken In diesem Kapitel wird ein kurzer Überblick darüber gegeben, wie die Konstruktion würde + Infinitiv in gängigen Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache behandelt wird. Wie in den einleitenden Kapiteln schon gezeigt werden konnte, bereitet die Beschreibung der semantischfunktionalen Leistung dieser Fügung und die damit einhergehende Einordnung deren in das Verbalparadigma des Gegenwartsdeutschen beträchtliche Schwierigkeiten, die nicht selten zu Unstimmigkeiten bzw. weit auseinander gehenden Auffassungen führen. 2.1.1. DUDEN-Grammatik Die Konstruktion würde + Infinitiv wird hier nach morphologischen Kriterien als Konjunktiv II-Form von werden + Infinitiv definiert und „würdeUmschreibung“ genannt. Diese Periphrase kann laut DUDEN (1998, 2005) an die Stelle einer einfachen Konjunktivform (Konjunktiv I und II) treten. Allerdings gelte sie, wenn sie in der indirekten Rede gebraucht wird, als typisches Kennzeichen der (gesprochenen) Umgangssprache (DUDEN 1998, 167). Feste Regeln lassen sich für die Verwendung der würde-Umschreibung in der Standardsprache nicht angeben, sondern nur „Gebrauchstendenzen“. Unten seien diese Tendenzen kurz wiedergegeben: 1. würde-Form „als Ersatz für ungebräuchliche und nicht eindeutige Formen“.1 Die letztgenannten werden zur Vermeidung eines gespreizten Stils sogar im geschriebenen Deutsch gegen das würdeGefüge ausgetauscht: (1) Sie beendete die Unterhaltung mit der Bemerkung, dass sie sich niemandem schnell anschließen würde (statt: anschlösse).
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Ungebräuchlich (gehoben oder geziert) werden viele Konjunktiv II-Formen mit Umlaut bezeichnet, wie etwa beföhle/befähle, bärste, flöchte, göre, mölke, schölle, tröffe u.a. Ausnahme bilden nur drei Formen fände, käme und bekäme, die als nicht geziert und nicht gehoben betrachtet werden. Zu nicht eindeutigen Konjunktivformen gehört der Konjunktiv II regelmäßiger (schwacher) Verben, auch er wird deshalb durch die würde-Form ersetzt.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
2. würde-Form als Ersatz für den Konjunktiv Futur des Verbs werden (werden werde) und für den Konjunktiv Futur Passiv (gelobt werden werde) „aus Gründen des Wohlklangs“. 3. würde-Form als mit dem Konjunktiv Futur aus werden + Infinitiv konkurrierende Konstruktion, „besonders dann, wenn das redeeinleitende Verb im Präteritum (Perfekt, Plusquamperfekt) steht und das in der indirekten Rede Berichtete auf das Geschehen in der Zukunft zieht“ (ebd.). In solchen Fällen wirke allerdings die werden-Form „gewählter“ und „vornehmer“ als die mit würde + Infinitiv. 4. in der erlebten Rede wird die würde-Form häufig anstelle des Indikativs/ Konjunktivs Präteritum verwendet.2 5. in den konjunktivischen Konditionalsätzen wird die würde-Form (übernommen aus der direkten in die indirekte Rede) in den meisten Fällen dem Konjunktiv II vorgezogen: (2) Eine schon größere Minderheit von Priestern erklärt stets, wenn irgendwo in der Welt eine Umfrage nach dem Zölibat gehalten wird: Sie würden sofort heiraten (statt: heirateten), wenn sie im Amt bleiben könnten. „Die würde-Form wirkt manchmal allerdings schwerfälliger als der Konjunktiv II, der dann den Vorzug verdient; ein Missverständnis muss dabei freilich ausgeschlossen sein“ (DUDEN 1998, 168). Hinsichtlich der temporalen Einordnung der Konstruktion würde + Infinitiv gibt diese Grammatik den folgenden Überblick (Abb. 2-1): Vergangenheitsbezug Gegenwarts- oder Zukunftsbezug man hätte gelacht/ würde gelacht haben man lachte/ würde lachen man wäre gekommen/ würde gekommen man käme/ würde kommen sein Abbildung 2-1. Zeitreferenz im Konjunktiv (DUDEN 2005, 523)
Demzufolge kann die einfache Konstruktion würde + Infinitiv sowohl Gegenwart als auch Zukunft bezeichnen, und wenn würde in Verbindung mit dem Infinitiv Perfekt auftritt, auch die Zeitstufe „vergangen“. Besondere temporale Bedeutung (die Zeitstufe „Zukunft“) der Konstruktion wird nicht erwähnt, in dieser Hinsicht wird würde + Infinitiv dem einfachen
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Im Kapitel über erlebte Rede wird erwähnt: „In der erlebten Rede werden Präsens und Futur I mit Zukunftsbezug vorzugsweise durch die würde-Form wiedergegeben“ (DUDEN 1998, 786).
Würde + Infinitiv in Grammatiken
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(synthetischen) Konjunktiv gleichgestellt, der bekanntlich keine ausgeprägte temporale Opposition „Gegenwart-Zukunft“ realisiert. Wenn man allerdings zwei letzte Ausgaben (1998 vs. 2005) dieser Grammatik vergleicht, so fällt auf, dass sich die Auffassung von der Leistung der Periphrase würde + Infinitiv in den letzten Jahren leicht verändert hat3, vgl.: Für den einfachen oder umschriebenen Konjunktiv II im Haupt- oder Nebensatz tritt ohne Bedeutungsunterschied auch würde + Infinitiv bzw. würde + Partizip + haben/sein auf, und zwar vor allem [...] – in einer Ausdrucksweise, die der gesprochenen Sprache nahe steht. (1998, 167) [Hervorhebung E.S.]
vs. Mit dem Grundtempus des Konjunktivs II (Konj.Prät.) bezieht der Sprecher sich auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges (d.h. Nichtvergangenes) [...] Die würde-Form wird in diesem Funktionsbereich des Konjunktivs II weitgehend gleichbedeutend mit der Grundform gebraucht. (2005, 523) [Hervorhebung E.S.]
Während die ältere Ausgabe (1998) also darauf aufmerksam macht, dass die Konstruktion würde + Infinitiv für die gesprochene Sprache typisch ist oder dieser „nahe steht“, fehlt ein solcher Hinweis in der später erschienenen Ausgabe. Die Fügung wird als „weitgehend gleichbedeutend“ mit dem synthetischen Konjunktiv II betrachtet, ohne Einschränkung auf die gesprochene Sprache. Diese Bemerkung ist m.E. insofern wichtig, dass sie eine Entwicklungstendenz anzeigt, die sich in der heutigen deutschen Sprache abzeichnet. Das ist die intensive Verbreitung und Etablierung der würde-Form als analytischer Konjunktiv II im deutschen Modusparadigma. 2.1.2. IDS-Grammatik Die IDS-Grammatik stellt die Konstruktion würde + Infinitiv systematisch neben das Tempus-Modus-Paradigma des Deutschen. Im Paradigma finde sie keinen Platz, während die periphrastischen werden-Formen (Indikativ und Konjunktiv) in das Paradigma noch eingegliedert werden können (Abb. 2-2):
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An dieser Stelle möchte ich meiner Kollegin, Linde Roels (Universität Antwerpen, Belgien) danken für diesen hilfreichen Hinweis.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
Tempuskategorie gemäß Stamm präs prät fut
er geht er ging er wird gehen
er gehe er ginge er werde gehen
präsperf prätperf futperf
er ist gegangen er war gegangen er wird gegangen sein
er sei gegangen er wäre gegangen er werde gegangen sein
Indikativ
Konjunktiv
Tempusoppositionen im Konjunktiv
+ fut + perf + perf + perf
Abbildung 2-2. Tempuskategorien und -oppositionen im Konjunktiv (Zifonun u.a. 1997, 1735)
„Angesichts ihres ungeklärten Status lassen wir die würde-Formen – was das paradigmatische System angeht – als Zweitformen jeweils neben Konjunktiv Präteritum und Konjunktiv Präteritumperfekt treten“ (Zifonun u.a. 1997, 1736). Im Konjunktiv sei somit anders als im Indikativ neben der synthetischen Präteritalbildung zusätzlich eine analytische Möglichkeit gegeben, die keine Entsprechung im Indikativ habe:
Indikativ Konjunktiv
Präteritum Aktiv synthetisch analytisch er ging *er wurde gehen er ginge er würde gehen
Abbildung 2-3. Würde + Infinitiv als analytische Bildung zum synthetischen Konjunktiv (Zifonun u.a. 1997, 1736)
Die Konstruktion würde + Infinitiv wird hier also als analytische Erweiterung des synthetischen Konjunktivs eingestuft. Nach Zifonun u.a. (1997) lassen sich die würde-Formen semantisch nicht als Konjunktiv Futur klassifizieren. Ein möglicher Zukunftsbezug ergebe sich vielmehr ganz parallel zum Konjunktiv Präsens und Präteritum. Dass die Konstruktion würde + Infinitiv häufig temporal vorausweisend gebraucht wird, erklären die Autoren aus der „lautlichen und bildungsmäßigen Nähe“ zum Konjunktiv Futur: (3) Er glaubte, dass er sich erkälten werde/würde. In der erlebten Rede aber, führen die Autoren an, kann die würdeForm kaum gegen den Konjunktiv Präteritum ausgetauscht werden:
Würde + Infinitiv in Grammatiken
(4)
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Morgen würde sie sich allerlei Entschuldigungen ausdenken.
In derartigen Beispielen sei die Konstruktion würde + Infinitiv nicht als Konjunktiv einzustufen, sondern als „Indikativ Futurpräteritum“ (vgl. Thieroff 1992). Die besondere Leistung der Konstruktion in solchen Kontexten bestehe darin, dass mit ihrer Hilfe die Aussage entsprechend dem consecutio temporum angepasst wird. Die Konstruktion würde + Infinitiv hat also laut dieser Auffassung zwei Funktionen – zum einen sei sie analytischer Modus Konjunktiv, was ihre primäre Funktion sei, und zum anderen sei sie ein Tempus „Indikativ Futurpräteritum“, dessen Funktionsbereich allerdings auf die erlebte Rede beschränkt sei. Die temporale Funktionsleistung der Konstruktion würde + Infinitiv wird hier ähnlich wie in der DUDEN-Grammatik (1998, 2005) beschrieben. Die Bezeichnungen „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ fehlen aber und werden durch „Vorzeitigkeit“, „Gleichzeitigkeit“ und „Nachzeitigkeit“ ersetzt, was dem temporalen Konzept der IDSGrammatik entspricht. Würde + Infinitiv steht somit für die Stufen „Gleichzeitigkeit“ und „Nachzeitigkeit“, würde + Infinitiv Perfekt – für die Stufe „Vorzeitigkeit“. 2.1.3. Helbig/ Buscha, Deutsche Grammatik Die Konstruktion würde + Infinitiv wird in der „Deutschen Grammatik“ von Helbig/ Buscha (2001, 172 f.) als „eine besondere Konjunktivform aus dem Konjunktiv Präteritum von werden und dem Infinitiv (I und II) des Verbs“ bezeichnet, die als Ersatz für nahezu alle anderen Konjunktivformen auftreten kann. 1. „Besonders häufig werden Konjunktiv Präteritum und Futur durch würde-Formen ersetzt, vor allem, wenn sie mit den indikativischen Formen zusammenfallen und die durch die Konjunktivformen ausgedrückten Funktionen auch nicht durch andere Sprachmittel gekennzeichnet sind“ (ebd).4 Die Verbreitung der
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Die würde-Form wird verwendet (Helbig/Buscha 2001, 172): i) wenn die uneingeleitete indirekte Rede nicht von der direkten Rede zu unterscheiden ist; ii) wenn ein Konditionalsatz als Ausdruck einer potentiellen Bedingung in der Vergangenheit oder als Ausdruck einer hypothetischen Bedingung in der Gegenwart interpretierbar ist; iii) anstelle von veralteten oder ausschließlich gehobenen präteritalen Konjunktivformen von unregelmäßigen Verben.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
würde-Form sei als eine generelle Tendenz in der gesprochenen Sprache zu sehen. 2. „Seltener ist der Ersatz des Konjunktivs Perfekt und Plusquamperfekt durch würde + Infinitiv II, da diese Formen in der Regel eindeutig sind und die würde-Form umständlicher wäre“ (ebd.). Mehr ist in dieser Grammatik, die hauptsächlich für den Ausländerunterricht konzipiert ist, über die Konstruktion würde + Infinitiv leider nicht zu lesen. Bekanntlich bemühen sich die DaF-Grammatiken, Gebrauchsregeln und -weisen eines sprachlichen Phänomens in vereinfachter Form vorzustellen. Dabei führen diese Bemühungen häufig zu Übergeneralisierungen, was auch in diesem Fall zu beobachten ist: die Konstruktion würde + Infinitiv sei eine „besondere Konjunktivform“, die in meisten Fällen alle synthetischen Konjunktivformen zu ersetzen vermag. 2.1.4. Flämig, Grammatik des Deutschen Diese Grammatik beschränkt sich innerhalb der Beschreibung des Konjunktivs II auf zwei Sätze zu würde + Infinitiv (Flämig 1991, 409): „Unterscheiden sich die Formen des Konjunktivs II nicht eindeutig von den entsprechenden Indikativformen, z.B. bei regelmäßigen (schwachen) Verben und bei sollen, wollen, gebraucht man oft die würde-Formen zur Verdeutlichung: (5) Ich stellte Ihnen (morgen) das Buch zur Verfügung. – Ich würde Ihnen (morgen) das Buch gern zur Verfügung stellen. Gewöhnlich treten würde-Formen auch für ungebräuchliche unregelmäßige (starke) Verben ein“. Schon die in dieser Grammatik angeführten Beispielsätze (5), die Synonymität beider Formen (des Konjunktivs II und der würde-Form) veranschaulichen sollen, werfen einige Fragen hinsichtlich ihrer postulierten Identität, z.B.: warum steht im zweiten Satz mit würde das Modaladverb gern, das im ersten nicht vorhanden ist? Diese eher spärliche Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv vermag dem Leser kaum einen schlüssigen Überblick über die Bedeutung und Funktion der Fügung im heutigen Deutsch zu geben. 2.1.5. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache Dieses Werk, wie schon der Titel nahe legt, orientiert sich primär an Texte und beschreibt Funktionen einzelner sprachlichen Einheiten in Texten.
Würde + Infinitiv in Grammatiken
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Die Konstruktion würde + Infinitiv wird in dieser Grammatik leider nur einseitig behandelt. Weinrich (2003, 240 f.) bezeichnet die Fügung würde + Infinitiv als „analytischer Restriktiv“ (= der restriktive Konjunktiv) und stellt sie semantisch dem synthetischen Konjunktiv II völlig äquivalent: „Beide Formenreihen [synthetischer und analytischer Restriktiv] haben jedoch die gleiche Bedeutung und unterscheiden sich nur durch verschiedene Gebrauchsbedingungen“. Und an anderer Stelle: „Vom synthetischen Restriktiv unterscheidet sich der analytische Restriktiv durch eine völlig andere Bildungsweide seiner Formen, nicht jedoch durch eine andere Bedeutung“ (S. 245). Unterschiedliche Gebrauchsbedingungen beider Formen seien generell, dass „die analytischen Formen des Restriktivs mit hoher Wahrscheinlichkeit dann auftreten, wenn sich die synthetischen Formen des Restriktivs formal nicht von denen des Präteritums unterscheiden oder wenn sie sonstwie ungebräuchlich sind, vor allem in den Gesprächsrollen Hörer/ Singular und Hörer/ Plural“ (S. 246). Andere Gebrauchsweisen der Konstruktion würde + Infinitiv werden in dieser Grammatik nicht berücksichtigt. 2.1.6. Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik Eisenberg (1999, 2004) beschäftigt sich in seiner Grammatik eingehend mit der Frage, wie der Status der würde-Formen im Verbalparadigma des Deutschen zu bestimmen sei. Zunächst wird auf die mangelnde Beachtung flexivischer Form dieser Konstruktion hingewiesen: Die meisten Grammatiken erwähnen zwar, dass diese Formen morphologisch aus dem Konjunktiv Präteritum von werden mit dem Infinitiv (Präsens oder Perfekt) gebildet werden, versuchen dabei anschließend fast ausnahmslos diese Formen in das Konjunktivparadigma zu integrieren. Dabei nimmt man meist an, dass den indikativischen Formen des Futurs jeweils zwei konjunktivische Formen gegenüberstehen (Eisenberg 1999, 122): Fut I
er wird arbeiten
Fut II
er wird gearbeitet haben
er werde arbeiten er würde arbeiten er werde gearbeitet haben er würde gearbeitet haben
Als Argumente für derartige Eingliederung in das Paradigma gelten meist (i) die Leistung der Formen mit würde in ihrer Ersatzfunktion für die konjunktivischen Formen und (ii) formale Gesichtspunkte. Eisenberg sagt, dass diese Argumente die Stellung der würde-Formen im Paradigma
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
keineswegs erklären. Semantische Ähnlichkeit von er würde arbeiten und er arbeitete legt für ihn noch keinen eindeutigen Beweis vor, diesen Formen die gleiche Stellung im Paradigma einzuräumen. Der Autor erwähnt auch, dass die Konstruktion er würde arbeiten nicht Konjunktiv zu er wird arbeiten, sondern zu *er wurde arbeiten sei. Die indikativische Entsprechung wurde (ward) + Infinitiv gab es zwar einmal im Deutschen, heute wird sie aber nicht mehr gebraucht. Nach all diesen kritischen Überlegungen beantwortet Eisenberg allerdings nicht die aufgeworfene Frage, wie der Status der Konstruktion würde + Infinitiv im Verbalparadigma der deutschen Sprache denn zu bestimmen ist. Für eine mögliche Deutung „mindestens bestimmter Vorkommen“ der Konstruktion verweist er auf die Studie von Thieroff (1992). Thieroff definiert das würde-Gefüge als Tempus Futur Präteritum (I oder II) und deutet es als Modus Indikativ (der Ansatz von Thieroff 1992 wird in Kap.2.2.1. vorgestellt). Eine vollständige Integration der Konstruktion würde + Infinitiv in das Verbalparadigma des Deutschen könnte laut Eisenberg (2004, 123; in Anlehnung an Fabricius-Hansen 2000) so aussehen, dass würde + Infinitiv als analytische Konjunktivform dem synthetischen Indikativ gegenübergestellt wird, wobei der synthetische Konjunktiv der Vollverben keinen Platz mehr in diesem Paradigma finden wird: „Er [der analytische würde-Konjunktiv] muss die Funktionen übernehmen, die im ‚traditionellen’ Paradigma den synthetischen Formen des Präs und Prät zukommen, jedenfalls soweit der Konj Prät dieselben Verwendungen wie der Konj Präs hat“. Begründet wird diese Ansicht unter anderem damit, dass die würde-Konstruktion schon heute die meisten Funktionen des synthetischen Konjunktivs zu übernehmen vermag, vor allem in der gesprochenen Sprache; diese Tendenz werde mit der Zeit noch mehr zunehmen, bis der synthetische Konjunktiv irgendwann verschwunden ist. Normierungsbestrebungen zum Erhalt des synthetischen Konjunktivs und insbesondere des Konjunktivs I in der indirekten Rede sind damit ausdrücklich als am Geschriebenen orientiert zu verstehen. Das Geschriebene verwendet ja mit dem Präteritum generell mehr synthetische Formen als Gesprochene. (Eisenberg 2004, 124)
Zusammenfassend für diesen Abschnitt lässt sich formulieren, dass die Beschreibungen von würde + Infinitiv, die in den gängigen Grammatiken gegeben werden, die Bedeutung und Gebrauchsweisen dieser Konstruktion nur unzureichend darstellen können. Sie konzentrieren sich meist auf eine Funktion, die dieser Konstruktion auch ohne Zweifel in der heutigen deutschen Sprache zukommt – die analytische Entsprechung des synthetischen Konjunktivs II. Einige erwähnen eine weitere Gebrauchsweise der Konstruktion – in der erlebten Rede, in der würde + Infinitiv eher indikativische als konjunktivische Funktion zu erfüllen scheint, und bezeichnen
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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sie meist als ein besonderes Stilmittel. Keine der Darstellungen gibt einen umfassenden Überblick über alle Funktionen und Bedeutungen von würde + Infinitiv. Umso weniger bemühen sie sich darum, eine gemeinsame Grundbedeutung für die Fügung festzulegen, über die unterschiedliche Verwendungsweisen bzw. Lesarten erklärt werden könnten. Dies wird unter anderem dadurch erschwert, dass der Status der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv auch nicht eindeutig festgelegt ist: immer häufiger wird ihr Status als Tempus Futur bestritten, weil ihre modale Lesart dadurch nicht erklärt werden kann, eine endgültige Lösung steht allerdings noch aus. Die Stellung der Konstruktion würde + Infinitiv im verbalen TempusModus-System des Deutschen ist also bis heute nicht genau geklärt (vgl. Bausch 1979, 61, 66 f.; Fabricius-Hansen 1997, 16 f. u.a.). Es gibt in der neueren Forschung einige Konzeptionen, die sich detailliert mit der Konstruktion würde + Infinitiv befassen und an ihrer Einordnung in das deutsche Verbalparadigma arbeiten. Einige wichtige werden im folgenden Kapitel vorgestellt.
2.2. Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen TempusModus-System Die Periphrase würde + Infinitiv wird in vielen Standardbeschreibungen des deutschen Tempus-Modus-Systems traditionell als analytische Erweiterung des synthetischen Konjunktiv-Paradigmas behandelt (vgl. Kap.2.1.). Einige Einschränkungen werden allerdings gemacht, wenn der temporale Beitrag der Konstruktion berücksichtigt wird. Bausch (1979, 66 f.)5 kritisiert zu recht: „die angenommene Opposition zwischen der Morphemklasse er gäbe und der Morphemklasse er würde geben nach Zeitstufen widerspricht der Annahme, die würde-Umschreibung sei eine ‚Ersatzform’, die auf alle Verben angewendet werden kann und unter bestimmten morphologischen und stilistischen Bedingungen obligatorisch ist. Die Grammatiken behaupten damit einerseits, die würde-Umschreibung sei ein Äquivalent, eine Variante der synthetischen Konjunktivbildung, andererseits definieren sie jedoch im Widerspruch hierzu diese Variante im Rahmen des Tempusparadigmas als Nicht-Variante“.
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Bausch (1979, 65f.) kritisiert die Auffassung der meisten von ihm durchgesehenen Grammatiken, dass sie eine Symmetrie zwischen Indikativen und Konjunktiven nach zeitreferentiellen Kategorien aufstellen, welche unter kommunikativem Aspekt nicht standhält, weil „der Status der würde-Umschreibung nur unzureichend reflektiert und gemäß den Vorstellungen der Sprachpflege der synthetisch gebildete Konjunktiv als Musterparadigma beibehalten wird“.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
Fabricius-Hansen (1998, 141 ff.) fasst alle in der linguistischen Literatur bislang vorhandenen Theorien, die die Konstruktion würde + Infinitiv innerhalb des heutigen Verbalsystem des Deutschen einzuordnen versuchen, in vier Gruppen zusammen: 1. würde + Infinitiv wird als ein präteritales konjunktivisches Pendant des Futurs definiert, d.h. es handelt sich um Futurformen des Konjunktivs II. Das ergebe das folgende Paradigma (s. Abb. 2-4) (die folgenden drei Tabellen sind aus Fabricius-Hansen (1998, 141 f.) ohne Veränderungen übernommen): Indikativ I6 Präsens raucht kommt Perfekt hat geraucht ist gekommen Futur wird rauchen wird kommen Futur Perfekt wird geraucht haben wird gekommen sein
Konjunktiv I Präsens rauche komme Perfekt habe geraucht sei gekommen Futur werde rauchen werde kommen Futur Perfekt werde geraucht haben werde gekommen sein
Indikativ II Präteritum rauchte kam Plusq. hatte geraucht war gekommen
Konjunktiv II Präteritum rauchte käme Plusq. hätte geraucht wäre gekommen Futur Prät. würde rauchen würde kommen Futur Prät. Perf. würde geraucht haben würde gekommen sein
Abbildung 2-4. würde + Infinitiv als konjunktivische Entsprechung des Futurs
2. würde + Infinitiv wird als eine präteritale modusambivalente Futurkonstruktion eingestuft, d.h. als Futur Präteritum des Indikativs und als Futur des Konjunktivs II (Abb. 2-5):
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Fabricius-Hansen (1998) verwendet die Bezeichnung ‚Indikativ II’ für Indikativformen mit präteritalem Finitum.
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
Indikativ I Präsens raucht kommt Perfekt hat geraucht ist gekommen Futur wird rauchen wird kommen Futur Perfekt wird geraucht haben wird gekommen sein
Konjunktiv I Präsens rauche komme Perfekt habe geraucht sei gekommen Futur werde rauchen werde kommen Futur Perfekt werde geraucht haben werde gekommen sein
Indikativ II Präteritum rauchte kam Plusq. hatte geraucht war gekommen Futur Prät. würde rauchen würde kommen Futur Prät. Perf. würde geraucht haben würde gekommen sein
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Konjunktiv II Präteritum rauchte käme Plusq. hätte geraucht wäre gekommen Futur Prät. würde rauchen würde kommen Futur Prät. Perf. würde geraucht haben würde gekommen sein
Abbildung 2-5. würde + Infinitiv als modusambivalente präteritale Futurkonstruktion
3. würde + Infinitiv wird als eine analytische Form des präteritalen Konjunktivs (bzw. des Konjunktivs II) eingestuft, wobei würde + Infinitiv temporal dem einfachen Konjunktiv Präteritum und würde + Infinitiv Perfekt dem Konjunktiv Plusquamperfekt entspricht. Demnach fehlen dem Präteritalsystem eigene Futurformen (Abb 2-6): Indikativ I Präsens raucht kommt Perfekt hat geraucht ist gekommen Futur I wird rauchen wird kommen Futur II wird geraucht haben wird gekommen sein Indikativ II Präteritum rauchte kam Plusquamperf. hatte geraucht war gekommen
Präsens rauche komme Perfekt habe geraucht sei gekommen Futur I werde rauchen werde kommen Futur II werde geraucht haben werde gekommen sein
Konjunktiv I
Konjunktiv II synthetisch analytisch Präteritum Konditional I (rauchte) würde rauchen käme würde kommen Plusquamperf. Konditional II hätte geraucht würde geraucht haben wäre gekommen würde gekommen sein
Abbildung 2-6. würde + Infinitiv als analytischer Konjunktiv II
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
4. würde + Infinitiv wird als eine analytische modusneutrale Form verstanden, die temporal jeweils dem einfachen Präteritum (Indikativ und Konjunktiv) und dem Plusquamperfekt (Indikativ und Konjunktiv) entspricht. Die letztgenannte Möglichkeit, die Konstruktion würde + Infinitiv in das Tempus-Modus-System einzuordnen, postuliert ein Äquivalenzverhältnis nicht nur zwischen synthetischen Konjunktiv II-Formen und der würdeKonstruktion (käme = würde kommen, wäre gekommen = würde gekommen sein), sondern auch zwischen der würde-Konstruktion und dem Indikativ Präteritum und Plusquamperfekt (kam = würde kommen, war gekommen = würde gekommen sein). In diese Richtung wurde noch nie ernsthaft gearbeitet und es wurde noch keine plausible These dafür in der sprachwissenschaftlichen Literatur aufgestellt (vgl. Fabricius-Hansen 1998, 143). Die in Kap.2.1. erwähnten Standardbeschreibungen des Deutschen, die die Konstruktion würde + Infinitiv traditionell als analytische Erweiterung des synthetischen Konjunktiv-Paradigmas behandeln, vertreten die erste und die dritte Auffassungen, indem sie explizit für das erste Modell plädieren, jedoch nebenbei erwähnen, dass würde + Infinitiv als Ersatz für die Formen des Konjunktivs Präteritum und Plusquamperfekt verwendet werde. Der Konstruktion wird also ihr temporaler Status „Zeitstufe Zukunft (in der Vergangenheit)“ zugleich zu- und abgesprochen. Dies führt oft zu den Schwierigkeiten der funktionalen Bestimmung der Konstruktion würde + Infinitiv, wie Bausch (1979, 66) treffend dargelegt hat (s.o.). 2.2.1. Würde + Infinitiv als Tempus Futur Präteritum Die zweite (von den vier in Kap.2.2. dargestellten) Position findet sich am ausführlichsten bei Thieroff (1992, 140 ff., 235 ff., 266 ff.; vgl. auch Jørgensen 1966, Weinrich 1971, Lauridsen/ Poulsen 1995). Thieroff plädiert für die Modusneutralität der Konstruktion würde + Infinitiv. Für ihn stellt würde + Infinitiv eine indikativische Tempusform dar, ähnlich wie die englische Periphrase would + Infinitiv, die die Funktion eines future in the past führt. In Anlehnung an Paul (1920) und Jørgensen (1966) sieht er die Funktion der Fügung würde + Infinitiv primär darin, dass sie die Zukunft von einem Standpunkt der Vergangenheit aus bezeichnet. Als reine Tempusform wird sie von ihm „FuturPräteritum I“ genannt. Maßgeblich für diese Betrachtung gilt die Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv in der erlebten Rede. Schon 1903 hat E. Herdin in seinem Aufsatz „Würde + Infinitiv als Indikativ Futuri praeteriti gebraucht“ die These aufgestellt, dass würde + Infinitiv in der erlebten Rede die Funktion eines Tempus im Indikativ habe.
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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Nun ist die Form würde allerdings ein deutlicher Konjunktiv im Verhältnis zu wurde [...], aber würde + Infinitiv, das eine reine Flexionsform ist und für das moderne Sprachgefühl sich aus den selbständigen Bedeutungen von werden und dem Infinitiv nicht erklärt, steht keine entsprechende indikativische Form auf demselben Standpunkte wie das auch von Hause aus konjunktivische deuchte, das teils als Indikativ, teils Konjunktiv und für das Sprachgefühl nur durch Analogie als jenes oder dieses aufgefasst wird. (Herdin 1903, 196 f.)
Für die Klassifizierung von würde + Infinitiv als ein Tempus im Indikativ führt Thieroff (1992, 148) folgende Gründe an: • „es steht für eine Zeitstufe wie die anderen Tempora; • es steht in der Umgebung von indikativischen „präteritalen“ Tempora (Präteritum, Plusquamperfekt); • es dient als Ersatz für das aufgegebene *wurde + Infinitiv; • es wird bei einer Umsetzung aus erlebter Rede in direkte Rede regelmäßig durch indikativisches werden + Infinitiv, also durch das Tempus Futur I ersetzt. Dies zeigt wiederum, dass würde + Infinitiv im Vergangenheitskontext dieselbe Funktion hat wie das Futur I im Gegenwartskontext“. Gegen den Einwand, dass das Vorkommen eines solchen Tempus zu marginal sei, um einen eigenen Platz im Tempussystem zu erlangen, versucht Thieroff zu demonstrieren, dass würde + Infinitiv auch außerhalb der erlebten Rede dieselbe indikativische temporale Funktion erfüllt. Außerdem äußert er sich gegen die verbreitete Auffassung (vgl. von Roncador 1988, 171), nach der die Tempora in erlebter Rede „abgeleitet“ seien. Laut dieser Auffassung haben alle Tempora der erlebten Rede eine von den Tempora außerhalb der erlebten Rede verschiedene Bedeutung. Thieroff weist diese Annahme zurück und versucht zu zeigen, dass das Präteritum sich temporal in der erlebten Rede nicht anders verhält als außerhalb derselben. Damit folgt er der „Auffassung von der Autonomie der Tempora in der erlebten Rede“ (von Roncador 1988): dieser zufolge können die Tempora innerhalb der erlebten Rede wie in anderen Kontexten interpretiert werden, d.h. die erlebte Rede wird nicht durch ihre Tempora, sondern durch andere Kontextelemente konstituiert (Thieroff 1992, 148 f.). Um zu beweisen, dass die Konstruktion würde + Infinitiv auch außerhalb der erlebten Rede ihre Funktion als „FuturPräteritumI“ führt, legt Thieroff besonderen Wert darauf, zu zeigen, dass die erlebte Rede lediglich durch den Kontext konstituiert werde. In vielen Fällen könne man nicht mit Sicherheit behaupten, ob es sich um die erlebte Rede oder um einen Erzählbericht handelt, beide Möglichkeiten seien gleichermaßen gegeben. Und auch in solchen Sätzen, die keine erlebte Rede sein können, liege eindeutig ein FuturPräteritum I im Indikativ vor, wie die Umsetzung in den Gegenwartskontext zeige (Thieroff 1992, 151):
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
(6)
Man spürte es in den Gliedern, dass das Wetter umschlagen würde.
(6’)
Man spürt [...], dass das Wetter umschlagen wird.
Thieroff erwähnt auch, dass mit dem Ausschalten der Konstruktion *wurde (ward) + Infinitiv die consecutio temporum im deutschen Nebensatz die Verwendung von würde + Infinitiv erforderlich machte: (7) Er weiß, was geschehen wird. (7’) statt (7’’)
Er wusste, was geschehen würde. *Er wusste, was geschehen wurde. (aus Thieroff 1992, 151)
An diese Beobachtungen anknüpfend, führt Thieroff einige Beispiele an, die veranschaulichen sollen, dass würde + Infinitiv als FuturPräteritumI auch in Kontexten erscheine, in denen gar keine Konjunktivform möglich ist: (8) Ich dachte an die Gossen, in denen ich einmal liegen würde. (8’)
*Er dachte an die Gossen, in denen er einmal liegen
werde/liege.
(9)
Als Karlchen kam, wusste ich, was ich tun würde.
(9’)
*Als Karlchen kam, wusste er, was er tun werde/tue.
Thieroff analysiert auch das Vorkommen von würde + Infinitiv im Vergleich zu Präteritum und stellt fest, dass das „FuturPräteritumI“ sich in nahezu allen Kontexten hinsichtlich der Obligatorik und Austauschbarkeit mit dem Präteritum genau so verhält wie das „FuturI“ in Bezug auf das Präsens. Als einzige Ausnahme bezeichnet Thieroff die Obligatorik der würde-Konstruktion in den Matrixsätzen mit wenn, sobald, bis und solange eingeleiteten Temporalsätzen. Hiermit versucht Thieroff zu beweisen, dass würde + Infinitiv „im gleichen Sinne ein Tempus des Indikativs ist wie das FuturI“ (Thieroff 1992, 156). Bekanntlich sind sich heute deutsche Grammatiken und Sprachwissenschaftler noch nicht darüber einig, ob die traditionell „Futur I“ genannte grammatische Form wirklich eine Tempusform ist. Die Diskussion um den Status der Konstruktion werden + Infinitiv in der deutschen Gegenwartssprache dauert an. Thieroff stuft diese Form als Tempus Futur ein. Diese Grundannahme führt er in die Bestimmung des kategorialen Status
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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von würde + Infinitiv über. Dass die Fügung würde + Infinitiv präteritale Entsprechung indikativischer Fügung werden + Infinitiv in spezifischen Kontexten darstellt, ist m.E. eine unbestreitbare Tatsache. Diese Bedeutung allerdings als Kern- oder Hauptbedeutung der Periphrase anzunehmen, würde eine unnötige Reduzierung ihres tatsächlichen funktionalsemantischen Spektrums bedeuten (vgl. auch Kritik des Konzepts bei Fritz 2000b). 2.2.2. Würde + Infinitiv als Modus Konjunktiv II Eine andere Ansicht vertritt Fabricius-Hansen (1997; 1998; 2000; vgl. auch Bausch 1979, Freund/ Sinquist 1998, Jermolajeva 1977, Zifonun u.a. 1997 u.a.). Sie räumt zunächst ein, dass die Stellung der Konstruktion würde + Infinitiv im deutschen Tempus-Modus-System unklar sei: …würde + Infinitiv „scheint gewissermaßen noch zu schillern zwischen einem analytischen Konjunktiv II, gleichbedeutend mit dem synthetischen Konjunktiv Präteritum und Plusquamperfekt, und einer präteritalen konjunktivischen und vielleicht sogar indikativischen Entsprechung des Futur I bzw. II. Es steht aber zu vermuten, dass die würde-Formen mit der Zeit generell den Platz als analytische Konjunktiv II-Formen einnehmen und am Ende möglicherweise, bis auf vereinzelte auxiliare Ausnahmen, die einzigen Konjunktiv II-Formen überhaupt sein werden. (Fabricius-Hansen 1997, 17)
Fabricius-Hansen definiert die Konstruktion würde + Infinitiv als Modalitätsmarker in modal markierten Tempussystemen der indirekten und erlebten Rede („reportive Modalität“) sowie der Irrealität („irreale Modalität“). Laut ihrer Konzeption lassen sich für die gegenwärtige Standardsprache drei unterschiedlich differenzierte, für jeweils verschiedene modale Funktionen „reservierte“ Tempussysteme ansetzen, in denen die Konstruktion würde + Infinitiv einen jeweils verschiedenen Platz – bzw. keinen Platz – einnimmt (Fabricius-Hansen 1998, 150): 1. das modal unmarkierte (indikativische) Basissystem mit sechs Tempora Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Futur und Futur Perfekt7. In diesem Basissystem findet die Konstruktion würde + Infinitiv keinen Platz. 2. das viergliedrige (Tempus)system zur Markierung der reportiven Modalität. Dieses System gilt für die so genannten Indirektheitskontexte (vgl. Zifonun u.a. 1997, 175; der allgemeine Terminus für indirekte Rede, indirektes Referat, berichtete Rede u.dgl.). Mithilfe der Konstruktion würde + Infinitiv wird die Per-
_____________ 7
Futur und Futur Perfekt hier entsprechen traditionellen und üblicheren Bezeichnungen Futur I und Futur II.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
sonenperspektive gegenüber dem umgebenen Rahmentext, in die die Redewiedergabe eingebettet ist, verschoben. „Es wird ein anderes Bewusstseinszentrum [...] eingeführt, dessen Jetzt die Zeit des wiedergegebenen Sprech- oder Bewusstseinsaktes ist und dessen epistemischer Horizont dementsprechend von dem der referierenden Person (des Autors) abweicht“ (Fabrisius-Hansen 1998, 151). Die Funktion der Konstruktion würde + Infinitiv bestehe darin, auf die Zukunft – relativ zu dem aus der Sicht des Referenten vergangenen Jetzt der wiedergegebenen Person – zu referieren (Abb. 2-7): Konjunktiv I einfache Form rauche, komme Konjunktiv II einfache Form rauchte, käme Indikativ II einfache Form rauchte, kam
vor Konjunktiv II Perfekt habe geraucht sei gekommen Konjunktiv II Perfekt hätte geraucht wäre gekommen Indikativ II Perfekt hatte geraucht war gekommen
nach
Konjunktiv Futur I einfache Form werde rauchen/kommen Futur II einfache Form würde rauchen würde kommen
vor Konjunktiv Futur I Perfekt werde geraucht haben werde gekommen sein Futur II Perfekt würde geraucht haben würde gekommen sein
Abbildung 2-7. Das viergliedrige Tempussystem des Deutschen zur Markierung der reportiven Modalität (Fabricius-Hansen 1998, 153)
3. das zweigliedrige (Tempus)system zur Markierung der irrealen Modalität. Dieses System finde sich in irrealen, kontrafaktischen, potentialen Kontexten. Die temporale Opposition zwischen dem einfachen Konjunktiv Präteritum und der Konstruktion würde + Infinitiv, die im zweiten System manifestiert wird, werde hier aufgehoben und die würde-Form diene als analytische Form des Konjunktivs II (Abb. 2-8):
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
synthetischer Konjunktiv II einfache Form rauchte, käme vor synthetischer Konjunktiv II Perfekt hätte geraucht wäre gekommen
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analytischer Konjunktiv II einfache Form würde rauchen würde kommen
analytischer Konjunktiv II Perfekt würde geraucht haben würde gekommen sein
Abbildung 2-8. das zweigliedrige Tempussystem zur Markierung der irrealen Modalität (Fabricius-Hansen 1998, 154)
In beiden Systemen, die die Konstruktion würde + Infinitiv enthalten, findet „eine Verschiebung relevanter Parameter oder Indizes statt, indem im einen Fall die epistemische Perspektive des aktuellen Sprechers zur aktuellen Sprechzeit durch die einer anderen oder in einer anderen Situation lokalisierten Person ersetzt wird und im anderen Fall eine ‚Welt’ berücksichtigt werden muss, die, aus der Sicht des aktuellen Sprechers betrachtet, von der ‚wirklichen’ Welt abweicht“ (Fabricius-Hansen 1998, 155). Mit anderen Worten, die Konstruktion würde + Infinitiv erfülle entsprechend ihrer konjunktivischen morpho-syntaktischen Form grundsätzlich typisch „konjunktivische“ Funktionen, auch wenn sie in bestimmten Kontexten funktional dem Indikativ nahe kommt. In einer später erschienenen Arbeit „Die Geheimnisse der deutschen würde-Konstruktion“ (2000) betrachtet Fabricius-Hansen die Konstruktion würde + Infinitiv in engem Zusammenhang mit der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv. Dabei versucht sie, den funktionalen Status der würde-Konstruktion kompositionell aus den beiden Funktionen des präteritalen Konjunktivs – Ausdruck der Irrealität und der Indirektheit (Zifonun u.a. 1997, 1743 ff.) – und der Eigenleistung der Konstruktion werden + Infinitiv herzuleiten. Die Eigenleistung von werden + Infinitiv sieht sie hierbei darin, dass es als „temporal-modaler Operator“ (Fabricius-Hansen 2000, 88) das im Satz beschriebene Geschehnis/ Ereignis dem Bereich dessen zuweist, „was für den Sprecher zur Sprechzeit mit der Realität verträglich ist, aber keine Realität hat“.8 Die irreale Konstruktion würde + Infinitiv lasse sich also als irrealer Konjunktiv des mit der Fügung werden + Infinitiv ausgedrückten ‚NonRealis’ erklären. „Die Konstruktion werden + Infinitiv markiert, dass wir aus der Sicht der Sprecherin die Faktenwelt verlassen; und der präteritale
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Vgl. in diesem Zusammenhang Marschall (1987): „nicht verifiziert, aber bestätigbar“. Näher dazu s. Kap.5.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
Konjunktiv verschiebt die Welt-Origo weiter ins Irreale“ (FabriciusHansen 2000, 91). Die Verwendung von würde + Infinitiv in Indirektheitskontexten sei auch eine typisch konjunktivische Funktion – die Markierung einer verschobenen Personenperspektive. Die jüngeren Auffassungen von Fabricius-Hansen (2000) unterscheiden sich von ihren früheren Ansichten (1997, 1998) nicht grundsätzlich. Die Konstruktion würde + Infinitiv wird immer noch in zwei verschiedene modal markierte Systeme (reportiv und irreal) eingebettet. Der grundlegende Unterschied zwischen den früheren und der neueren Arbeit liegt darin, dass die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv nicht mehr als Tempus Futur aufgefasst wird, sondern als ein ambivalenter „modaltemporaler Operator“ verstanden wird. Die Systeme, in die die Konstruktion würde + Infinitiv Eingang findet, existieren in der neueren Konzeption lediglich nicht mehr als Tempussysteme und werden auch nicht als Systeme erwähnt. Im Laufe der angedeuteten kompositionellen Analyse versucht Fabricius-Hansen zu zeigen, dass würde + Infinitiv immer als konjunktivische Entsprechung der neu definierten Konstruktion werden + Infinitiv auftritt. Dabei erfülle sie ihrer morphologisch-syntaktischen Form entsprechend (fast) immer typische konjunktivische Funktionen in typischen konjunktivischen Kontexten. Fast immer, aber nicht immer. Fabricius-Hansen (2000) erwähnt auch von der prototypischen Kernfunktion „abweichende“ Verwendungen der Konstruktion würde + Infinitiv in der Sprache, die sich ihrer Meinung nach nicht kompositionell erklären lassen: 1. Die Konstruktion würde + Infinitiv kann auch in Indirektheitskontexten, gleichbedeutend mit dem einfachen Konjunktiv Präteritum, dem gegenwartsbezogenen Indikativ Präsens der direkten Rede entsprechen. Damit verliert sie ihre charakteristische temporale Funktion, Zukunft aus der Sicht der Vergangenheit auszudrücken.9 2. Umgekehrt können einfache Konjunktivformen in der erlebten Rede mit Zukunftsbezug für die Konstruktion würde + Infinitiv eintreten. Somit erfüllt der Konjunktiv Präteritum in der erlebten Rede die Funktion der würde-Fügung, als Futur-Tempus relativ zum Grundtempus Indikativ Präteritum zu dienen. Diese beiden Verwendungsmöglichkeiten von würde + Infinitiv zeigen für Fabricius-Hansen eine Entwicklung an, die zum funktionalen An- und
_____________ 9
Verwunderlich ist an dieser Stelle die Bemerkung zur „temporalen Funktion“ der Fügung, wobei in der Arbeit doch versucht wird, werden + Infinitiv nicht als eine Tempusform einzuordnen.
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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Ausgleich zwischen dem Konjunktiv II und der würde-Konstruktion in Indirektheitskontexten führe. Am Ende dieser Entwicklung stehe der vollständige Funktionszusammenfall zwischen dem synthetischen Konjunktiv II und dem würde-Gefüge als seiner analytischen Entsprechung. 3. Die Konstruktion würde + Infinitiv kommt vereinzelt auch in präteritalen Erzähltexten vor, ohne dass damit eine Verschiebung der Personenperspektive markiert wird. Dabei wird mit ihrer Hilfe die Nach-Vergangenheit ausgedrückt.10 Solche Fälle bezeichnet Fabricius-Hansen als sekundäre Verwendungen der Konstruktion würde + Infinitiv, die auch „irgendwie modal markiert“ sind: Es wird zwar von einem – willkürlichen – Punkt in der Vergangenheit in die relative ‚Zukunft’ geschaut, diese ‚Zukunft’ ist jedoch mit Bezug auf den relevanten Redehintergrund des Erzählers determiniert und unterscheidet sich eben dadurch von der in der Origo eines Individuums verankerten undeterminierten Zukunft – der persönlichen Zukunft im eigentlichen Sinne. (Fabricius-Hansen 2000, 95)
Die Konzeption von Fabricius-Hansen ist ein Versuch, die Konstruktion würde + Infinitiv, die in verschiedenen Kontexten unterschiedliche (modale sowie temporale) Bedeutungen aufweist, auf eine gemeinsame Grundlage zurückzuführen. Als Ausgangspunkt für eine solche Erklärung wird hier die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv angenommen. Würde + Infinitiv sei somit die konjunktivische Entsprechung der indikativischen werden-Fügung. Dabei würden die Funktionen der Letzteren durch die konjunktivische Form so modifiziert, dass würde + Infinitiv zum Ausdruck entweder der Indirektheit (reportiv) oder Irrealität (potential, kontrafaktisch) gebraucht werden kann. Der Ansatz bringt somit morphosyntaktische und funktionale Merkmale der Konstruktion würde + Infinitiv auf der Basis der indikativischen Fügung werden + Infinitiv zusammen. Der konjunktivischen Form entsprechen typisch konjunktivische Funktionen, wenn auch mit einigen Ausnahmen, die sich mit diesem Modell und mit der Annahme einer immer präsenten konjunktivischen Bedeutung leider nicht erklären lassen. Fabricius-Hansen sieht die Konstruktion würde + Infinitiv immer als eine konjunktivische Entsprechung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv, was zur Folge hat, dass einige Verwendungen von würde + Infinitiv innerhalb dieser Theorie ausgegrenzt und unerklärt bleiben, da sie sich entweder nicht als „konjunktivisch“ (d.h. modusneutral oder indikativisch, vgl. Thieroff 1992) oder nicht als „temporal“ (d.h. sie sind völlig äquivalent mit dem synthetischen Konjunktiv II) erweisen. Solche Ge-
_____________ 10 Thieroff (1992) unterstreicht besonders den empirischen Wert solcher Beispiele, die als Beweis dafür angesehen werden, würde + Infinitiv als Tempus „FuturPräteritumI“ im Tempus-Modus-Paradigma des Deutschen einzustufen.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
brauchsweisen der Konstruktion würde + Infinitiv machen jedoch einen erheblichen Anteil ihrer Verwendungen und dürften m.E. bei einem Einordnungsversuch nicht außer Acht gelassen werden. 2.2.3. Würde + Infinitiv und seine pragmatischen Grundlagen Eine andere Möglichkeit, die Konstruktion würde + Infinitiv in das Verbalparadigma der Gegenwartssprache einzustufen, schlägt Fritz (1998; 2000a, b) vor. Er definiert würde + Infinitiv als Marker des Sprecherbezugs im Unterschied zur merkmallosen ‚Finitheit’ des Indikativs und des Konjunktivs. Der Konstruktion würde + Infinitiv wird in dieser Konzeption eine zusätzliche selbständige Zeichenkomponente zugeschrieben, die sie von der Fügung werden + Infinitiv scheidet – der ‚Hypothesenbezug’ (Fritz 2000b, 186). Als zwei grundlegende Bedeutungsvarianten von würde + Infinitiv werden die „modus-hypothetische“ und die „sprecher-hypothetische“ Lesarten der Konstruktion genannt. Bei der ‚modus-hypothetischen’ Variante „werden die Markierungen so kombiniert, dass zur hypothetisch verstandenen Finitheit die Sagenskomponente hinzutritt, wodurch eine den Konjunktiv II sprecherweisend modifizierende Bedeutung erreicht wird“ (Fritz 2000b, 187). In diesem Fall werden die Bedeutungskomponenten ‚Finitheit’, ‚Präteritum’, ‚Hypothesenbezug’ durch das übergeordnete Merkmal ‚Sprecherbezug’ vereint und in ihm eingeschlossen. Der unmarkierte ‚Sprecherbezug’ modifiziere eine bereits semantisch ‚hypothetische’, also explizit modal markierte Form. Dadurch erzeuge die Konstruktion stark sprecherakzentuierte Lesarten. Aus dieser Sicht sei würde + Infinitiv „keine konjunktivische Zweitform mit unsicherem Status, sondern bringt gegenüber dem Konjunktiv II einen verstärkten Bezug auf den Sprecher des Satzes zum Ausdruck“ (Fritz 2000b, 187). Verschiedene Verwendungen der Konstruktion lassen sich laut Fritz aus dieser stark sprecherbezogenen Bedeutung leicht erklären: a) Die Konstruktion würde + Infinitiv trete für den Fall ein, dass die Konjunktiv I-Formen mit Indikativformen zusammenfallen. Referierte Äußerungen beziehen sich schon auf den Sprecher des ursprünglichen Satzes, was eine doppelte Markierung ‚sprecherbezogen’, die durch würde + Infinitiv normalerweise erzeugt wird, erübrigen. Somit sei das Ende der Markierungsmöglichkeiten erreicht, eine zusätzliche Markierung der referierten sprechermodifizierten Hypothese gebe es nicht.
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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b) Außerdem ergeben sich zahlreiche würde-Formen, die dem Zusammenfall des Konjunktivs II mit dem Präteritum schwacher Verben ausweichen. Dies lasse sich dadurch erklären, dass ein merkmalhaftes Zeichen, was würde + Infinitiv im Gegensatz zum einfachen Konjunktiv II sei, die Leistungen des merkmallosen Zeichens übernehmen kann, weil es die Eigenschaften des Letzteren mit einschließt. c) Bei vielen mittlerweile ungebräuchlichen Formen starker Verben trete fast immer die Umschreibung mit würde ein (vgl. b)). Das temporale Vorausweisen zählt Fritz (2000b) nicht zu den eigentlichen Funktionen der Konstruktion würde + Infinitiv, sondern sieht es als Weiterinterpretation des hypothetischen Sagens an. Bei den ‚sprecher-hypothetischen’ Varianten der Konstruktion beziehe sich die Semantik der ‚Hypothese’ nicht mehr auf die ‚Finitheit’, wie bei dem ‚modus-hypothetischen’ Typ, sondern auf den Sprecherbezug. Der Bezug der ‚Hypothese’ auf den Sprecher statt auf den Modus erlaube das Ansetzen einer ‚sprechersicheren’ Lesart, da die merkmalhafte Form würde tun nun das ‚sprechersichere’ tat einschließe. So sei in der erlebten Rede, zum Beispiel, die unmarkierte Form, die die Konstruktion würde + Infinitiv ersetzen kann, das einfache Präteritum. Die würde-Form erfülle hier aber keine vorausweisende Funktion, wie z.B. von Thieroff (1992) angenommen wird. Der Zukunftsbezug sei lediglich die relativ vorausweisende ‚sprechersichere’ Interpretation des Sprecherverweises von werden + Infinitiv in der Vergangenheit. Und die temporal zukunftsweisende Variante der Konstruktion werden + Infinitiv an sich wird in dieser Konzeption bloß als Weiterdeutung des Sprecherbezuges (Sprechersicherheit) verstanden. Zusammenfassend gibt Fritz (2000, 197) folgende Übersicht (Abb. 29): Origo: vergangen
Origo: gegenwärtig
würde + Infinitiv ‚SPR’ + täte Wenn es gelänge, würden alle gewinnen. ‚modus-hypothetisch’
würde + Infinitiv ‚SPR’ + täte Wenn es gelänge, würden alle gewinnen. ‚modus-hypothetisch’
würde + Infinitiv ‚SPR’ + ‚HYP’ + tat Es würde gelingen. ‚sprecher-hypothetisch’ und ‚sprechersicher’
werden + Infinitiv ‚SPR’ + tut Es wird gelingen. ‚sprechersicher’
So würde es (gewesen) sein. ‚sprecher-hypothetisch’ und ‚sprecherunsicher’
So wird es (gewesen) sein. ‚sprecherunsicher’
Abbildung 2-9. Würde + Infinitiv als Marker des Sprecherbezugs
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
Durch die Einführung des Merkmals „Sprecherbezogenheit“ versucht Fritz (2000b), sowohl werden + Infinitiv als auch würde + Infinitiv in der Vielfalt der mit diesen Formen zu erzielenden Bedeutungen zu erfassen. Eine zusätzliche Semantik des zeitlichen Vorausweisens lehnt er ab. Es wird aber eingeräumt, dass der Sprecherverweis immer auf die temporale Leistung hin interpretiert werden könne. Bei der ‚hypothetisch’ markierten Form würde + Infinitiv sei „die dominante Variante [...] die ‚modus-hypothetische’ Form, bei der gegenüber der Entsprechung von werden mit Infinitiv im Präteritum die epistemische ‚Sicherheit’ bereits semantisch merkmalhaft verhindert ist“ (Fritz 2000b, 200). Fritz behandelt die Konstruktion würde + Infinitiv im Zusammenhang mit der Fügung werden + Infinitiv, indem die Letztere (ähnlich wie bei Fabricius-Hansen) die Grundlage für die Erklärung bietet. Die beiden Formen werden grundsätzlich außerhalb von den Kategorien Tempus und Modus betrachtet. Dieser Ansatz erklärt die semantisch-funktionale Leistung der Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer Besonderheit. Die sprachliche Erscheinung würde + Infinitiv wird somit einer neuen Analyse unterzogen. Deren Ziel ist es, alle Verwendungen und Interpretationen dieses Phänomens auf der Basis einer gemeinsamen Komponente zu erklären. Und diese Komponente wird „Sprecherbezug“ oder „Sprecherverweis“ genannt. Die vorliegende Arbeit kommt zu den ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Einordnung von Varianten oder Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv. Die grundlegende Bedeutung von werden-Periphrasen liegt m.E. allerdings nicht im „Sprecherverweis“, sondern in der evidentiellen Bedeutungskomponente dieser Fügungen. Der Sprecherbezug ergibt sich daraus, dass die inferentielle Evidentialität immer einen starken Bezug auf den aktuellen Sprecher mit einschließt. Somit bietet die vorliegende Untersuchung eine Lösung zur Bestimmung des Status von würde + Infinitiv, die diese Konstruktion innerhalb der grammatischen Kategorien ansiedelt und sie nicht kategorial von diesen aussondert. 2.2.4. Aspektuelle / aktionale Grundlagen von würde + Infinitiv Ein weiterer Versuch, die Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer semantisch-funktionalen Leistung und im engen Zusammenhang mit der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv zu beschreiben und somit ihren Platz im deutschen Verbalsystem zu bestimmen, unternimmt Kotin (2003). Bei der Untersuchung der historischen Entwicklung beider Verbalperiphrasen nimmt Kotin (2003, 224 ff., 175 ff.) ihre prognostische Funktion als ein – „wenngleich auch sehr allgemeines“ – Tertium an.
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Die Konstruktionen würde + Infinitiv sowie werden + Infinitiv werden unter Berücksichtigung der Spezifik der jeweiligen temporalen Perspektive betrachtet – der Zukunft, der Gegenwart und der Vergangenheit. In der temporalen Perspektive der Zukunft, die weitgehend epistemisch markiert sei, erhöhe sich die Unsicherheit der Prognose durch das Konjunktivmorphem im Vergleich zur werden-Periphrase: (10) Ich werde/ würde morgen zu dir kommen. Hier könne die Konstruktion würde + Infinitiv noch ihre faktische Lesart haben, wobei zur voluntativen Komponente die Unsicherheit hinzukommt im Gegensatz zu der Konstruktion werden + Infinitiv. „Der Sprecher rechnet u.a. damit, dass seine Absicht vom Hörer zwar nicht missbilligt werden muss, jedoch abgelehnt werden könnte“ (Kotin 2003, 224). Deshalb wirke die würde-Fügung in solchen Fällen höflich. Die voluntative Komponente werde aber neutralisiert, sobald kein anthropozentrischer Kontext vorliegt – dann bleibe lediglich die abgeschwächte Prognostik erhalten: (11) Die Lieferung wird/ würde in zwei Tagen kommen. Wenn aber auch die nichtfaktischen Verwendungen von würde + Infinitiv in Betracht gezogen werden, lasse sich die Bedeutung der Konstruktion nicht mehr als durch Konjunktivform abgeschwächte faktische Prognose definieren: (12) Wenn die Lieferanten schneller wären, würden wir die Lieferung schon in zwei Tagen bekommen. Kotin versucht diese Nichtfaktizität zu erklären, indem er das Vorhandensein von fördernden oder hemmenden Faktoren annimmt, die die Gewissheit einer Prognose beeinflussen. Das Vorhandensein solcher Faktoren sei seinerseits ungewiss dank der Zukunftsperspektive, die per se ungewiss sei. Insofern seien wenn-dann Sätze Aussagen einer „doppelten Prognose“: „Im wenn-Teil wird die Option und im dann-Teil die Faktizität einer von dieser Option abhängigen Handlung o.ä. prognostiziert“ (Kotin 2003, 226). Die Wirkung anderer fördernder oder hemmender Faktoren werde in der Regel sprachlich nicht kodiert, was aber nicht bedeute, dass diese Faktoren aus dem prognostischen Schema der würde-Konstruktion ausgeschlossen seien: (13) Wären die Lieferanten schneller, würden wir die Lieferung in zwei Tagen bekommen, wenn (vorausgesetzt, dass) die Zollpapiere in Ordnung sind. Explizite Erwähnung einer oder mehreren Optionen sei möglich. Wenn es sich dabei um einen Umstand handele, der das Geplante, Ge-
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
wünschte oder Prognostizierte unmöglich macht, sei die Grenze erreicht, hinter welcher sich eine „positive“ Prognose in eine „negative“ verwandele. Eine im wenn-Teil genannte kontraoptionale Situation führe zur nichtfaktischen Prognose im dann-Teil der Sequenz: (14) Die Lieferanten sind leider zu langsam. Wenn sie aber etwas schneller wären, würden wir die Lieferung schon in zwei Tagen bekommen. Der Unterschied zwischen einer faktischen und einer nichtfaktischen Prognose lasse sich in den meisten Fällen abhängig von der Situation und dem Kontext erkennen. In der temporalen Perspektive der Gegenwart trete die Konstruktion würde + Infinitiv vor allem in nichtfaktisch-prognostischer Funktion auf (Kotin 2003, 227). Dies sei auf die epistemische Neutralität der Gegenwartsperspektive zurückzuführen. Die Konjunktivmarkierung des prognostischen Zeichens werden + Infinitiv kodiere zusätzlich die Nichtfaktizität: (15) Er wird jetzt im Büro sitzen versus (16)
Er würde jetzt im Büro sitzen, wenn er keine andere Arbeit hätte.
Würde wird somit in seinen gegenwartsbezogenen Verwendungen als ein „nichtfaktisch-prognostisches Auxiliarverb“ klassifiziert. Kotin erwähnt aber auch, dass würde + Infinitiv in seltenen Fällen parallel zu werden + Infinitiv eine Annahme über die Gegenwart ausdrücken kann: (17) Das wird so sein. – Das würde so sein. Diese Verwendungen lassen sich laut Kotin durch die typische Abschwächung der normalerweise mithilfe der Konstruktion werden + Infinitiv ausgedrückten Annahme über die Gegenwart durch das Konjunktivmorphem erklären. Hier sei würde seiner Funktion nach ein „prognostisches Modalverb“. In der temporalen Perspektive der Vergangenheit werde die Konstruktion würde + Infinitiv verwendet, um „ein in Bezug auf die Aktzeit zeitlich nachgestelltes Ereignis zu kodieren (Nachzeitigkeit in der Vergangenheit)“ (Kotin 2003, 228): (18) Schon 1807 wusste Napoleon, dass er 1812 Russland überfallen würde.
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Hierher gehören auch Verwendungen der Konstruktion in der erlebten Rede: (19) Frau Richter überlegte noch einmal, was auf sie zukam. Sie würde bestimmt noch zwei Briefe schreiben. Um 20 Uhr würde dann ihre Kollegin kommen ... Die Besonderheit der Konstruktion würde + Infinitiv, wenn sie in Vergangenheitskontexten verwendet wird, liege daran, dass die Prognostik durch die Gewissheit der Vergangenheitsperspektive vermittelt werde. Wenn man aber die Situation aus der Sicht der Personen, auf die referiert wird, betrachtet, erscheine diese wie eine Prognose für Zukunft. Wenn die in einer Aussage beschriebene Handlung sich ausschließlich auf die Prognose der Zukunft in der Vergangenheit bezieht, bezeichnet Kotin würde als „prognostisches Auxiliarverb“. Die indirekte Rede ist ein weiterer Verwendungsbereich von würde + Infinitiv: (20) Er sagt/ sagte/ hat gesagt, er würde kommen. Dabei verhält sich würde + Infinitiv synonymisch zu den anderen sprachlichen (konjunktivisch sowie ohne konjunktivische Markierung) Möglichkeiten, indirekte Rede wiederzugeben: (21) Er sagt/ sagte/ hat gesagt, er werde kommen. (22)
Er sagt/ sagte/ hat gesagt, er wird kommen/...dass er kommt/kommen wird.
Kotin erklärt solche Fälle nicht: „Warum der Konjunktiv als optatives oder nichtfaktisches Zeichen zur Kodierung Indirekter Rede verwendet wird, liegt außerhalb der Fragestellung dieser Abhandlung und verdient eine selbständige Erörterung“ (Kotin 2003, 231). Zusammenfassend stellt Kotin die Funktionsleistung des Verbs werden in den Periphrasen mit dem Infinitiv folgendermaßen dar (die Tabelle 210 ist in leicht veränderter Form aus Kotin 2003, 233 übernommen):
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Temporale Perspektive Zukunft
werden + Infinitiv PAf PM
Gegenwart
PM
Vergangenheit
Paf (PM)
würde + Infinitiv PAfak Pan PMak MI Pan MI PMak PAfak (PMak)
Legende nach Kotin: PAf = prognostisches Auxiliarverb bei faktischer Prognose; PAn = prognostisches Auxiliarverb bei nichtfaktischer (kontrafaktischer) Prognose ; PM = prognostisches Modalverb (nur faktische Prognose); ak = Abschwächung der Prognose durch das Konjunktivmorphem; MI – Marker für Indirekte Rede; In Klammern stehen seltene bzw. stark markierte Verwendungen. Abbildung 2-10. Die Funktionsleistung des Auxiliars werden
Die oben dargelegte Konzeption von Kotin (2003) versucht die mit werden/ würde gebildeten Verbalperiphrasen in ihren unterschiedlichen semantischen und funktionalen Leistungen auf einen gemeinsamen Nenner (Tertium) zu bringen und dadurch einheitlich ihre vielfältigen Bedeutungsvarianten zu erklären. Als grundlegende Gemeinsamkeit wird in diesem Fall die prognostische Funktion der Bildungen mit werden/ würde angesehen. Kotin untersucht verschiedene Verwendungen dieser Konstruktionen und stellt in (fast) jedem Fall fest, dass die prognostische Funktion immer vorhanden sei. Schwierigkeiten bereitet ihm lediglich die Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv in der indirekten Rede. Diese kann er nicht unter die Definition „Prognose“ bringen und er verzichtet auf eine nähere Betrachtung. Die Untersuchung von Kotin ergibt aber keineswegs eine einheitliche Klassifizierung von würde + Infinitiv innerhalb des deutschen Verbalparadigmas: das Verb werden wird mal als prognostisches Auxiliar (was für Kotin offensichtlich immer mit der temporalen Bedeutung „Zukunft“ verbunden ist), mal als Modalverb eingestuft, dazu kommt noch seine Bedeutung als „Marker für Indirekte Rede“. Möglicherweise ist die explizite Einordnung des Verbs werden als Mitglied verschiedener grammatischer Kategorien (Modalverb, prognostisches Auxiliar) ein Schritt zu viel. Die Interpretation prognostischer Bedeutung als Markierung modaler Werte im Sinne einer grammatischen Kategorie des Modus geht m.E. nicht notwendigerweise aus den möglichen Nuancierungen einer sprecherspezifischen Prognose von „sicher“ bis zu „unsicher“ hervor. Sowohl als Auxiliar als auch als Modalverb transportiere werden/ würde die prognostische Komponente und modifiziere somit die Aussage. Die Annahme eines gemeinsamen Bedeutungskerns für alle werden-Fügungen
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und die Zurückführung dieser prognostischen Kernbedeutungskomponente auf die ursprüngliche aktionale Semantik des Lexems werden sind zweifelsohne sehr wichtige Erkenntnisse, die in dieser Arbeit weiterverfolgt werden. 2.2.5. Andere Ansätze Auch einige andere Ansätze, die sich eigentlich nicht so detailliert mit der Konstruktion würde + Infinitiv befassen, jedoch einige Thesen zu deren Beschreibung vor allem im Zusammenhang mit der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv aufgestellt haben, verdienen hier erwähnt zu werden. Der Ansatz von Redder (1999) bietet eine differenzierte Betrachtung von werden in vier verschiedenen Varianten – als Vollverb, als Kopulaverb, als Modalverb und als Hilfsverb – im Sinne einer kompositionellen Strukturanalyse. Die Bedeutung des Verbs werden wird innerhalb dieser Konzeption einheitlich für alle morpho-syntaktischen Zusammenhänge bestimmt. Die semantischen und funktionalen Differenzen zwischen unterschiedlichen Verwendungen des Verbs werden (als Vollverb, Kopulaverb, Modalverb oder Hilfsverb) ergeben sich laut Redder (1999) aus formalen Kennzeichen und semantischen Typen seiner Ergänzungen. Diese Ergänzungen (hier Kokonstituenten genannt) werden als eigenständige Formen behandelt, anders als in den traditionellen Paradigmenbestimmungen. Funktional-pragmatisch ergibt sich eine Gleichbehandlung des Verbs werden in seinen verschiedenen Verwendungen. Die Kategorisierung von werden als ‚Vollverb’ versus ‚Auxiliar’ wird aufgehoben. Dadurch wird auch das Verbalparadigma des Deutschen erheblich reduziert. Alle mit werden gebildeten Formen, die traditionellerweise als Paradigmenformen der jeweiligen Ergänzungen behandelt werden, sofern sie verbaler Art sind, entfallen im Rahmen einer solchen Analyse als Einzelne. Das Deutsche verfüge demgemäß „formal weder über ein ‚Futur’ noch über ein ‚Passiv’, so man diese Kategorien als morphologische gemäß flektierender Sprache sensu stricto nimmt“ (Redder 1999, 326). Im Laufe einer handlungstheoretischen Untersuchung kommt sie zum Ergebnis, dass das Verb werden als ein Mittel zur „sprachlichen Geltendmachung eines Übergangs“ (Redder 1999, 303) definiert wird. Bezogen auf Handlungen, was meistens durch eine Infinitiv-Ergänzung erzielt wird, drücke werden die Übergangsphase zwischen der mentalen Vorgeschichte einer Handlung und der Handlungsausführung aus. Das Verb werden diene also „der Versprachlichung des Übergangs von der mentalen Phase in die Phase der aktionalen Verwirklichung noch vor eben dieser Realisierung“
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
(ebd.), mit anderen Worten: werden diene der Verbalisierung als solcher mit Blick auf einen Modalitätsumschlag des Handelns. Im Gegensatz zu den anderen Modalverben sei werden neutral gegenüber der einzelnen Modalitäten (S. 304): (23) X muß sich zu Y entwickeln X kann sich zu Y entwickeln >„X wird sich zu Y entwickeln/ „X wird in Y übergehen“ kurz: „X wird Y“ Werden im Allgemeinen erfasst Redder unter Verwendung der philosophischen Kategorien für zwei grundlegende Modalitäten: „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“. Demnach lautet die Bedeutungsbestimmung von werden wie folgt: „Der Ausdruck werden dient der Versprachlichung im Sinne einer sprachlichen Nach-außen-Setzung und insofern sprachlichen Geltendmachung des Umschlagens von Möglichkeit in Wirklichkeit“ (ebd.). Für den Fall würde + Infinitiv schlägt sie folgende Beschreibung vor: „Die mentale Möglichkeit im Falle von Handlungsbezug und die außersprachliche Möglichkeit bei Prozessen oder Sachverhalten schlägt vermöge des Konjunktivs II lediglich in eine mentale Wirklichkeit um, wobei dem Umschlag selbst mittels werden sprachliche Realität verliehen bleibt“ (S. 323). Im Laufe der sprachgeschichtlichen Entwicklung habe sich aber die „würde-Umschreibung“ als Ersatzform für die Konjunktiv II-Formen beliebiger Verben standardisiert, wodurch die Differenz zwischen der würde-Prädikation und dem einfachen Konjunktiv II allmählich einschleife. Der Ansatz von Redder (1999) wurde hier kurz vorgestellt, um zu zeigen, dass es ganz unterschiedliche Möglichkeiten und konzeptionelle Richtungen zur Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv gibt, die in der sprachwissenschaftlicher Literatur aufgegriffen und entwickelt werden. Da die vorliegende Arbeit aber die Grammatikalisierungsforschung als theoretische Grundlage annimmt, dient die Darstellung solcher Konzeption bloß einem vollständigen Überblick über die Arbeiten zu würde + Infinitiv. Sie wird für die hier vorgenommene Analyse nicht weiter verfolgt. Das Verb werden in der Konstruktion würde + Infinitiv (bzw. werden + Infinitiv) als ein selbständiges Element anzusehen und damit aus dem verbalen Tempus-Modus-Paradigma auszuschließen, erscheint m.E. für eine historische Entwicklungsanalyse der mit werden gebildeten Periphrasen weniger geeignet als eine Untersuchung im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie. Des Weiteren ist auch die Studie vom Amrhein (1996) zu erwähnen, die sich eingehend mit der Semantik von werden befasst. Er stellt fest, dass die Konstruktion würde + Infinitiv grundsätzlich polyfunktional ist, wobei sie (in der temporalen Vergangenheitsperspektive) zwei Lesarten hat:
Würde + Infinitiv in Modellen zum deutschen Tempus-Modus-System
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„Würde in indikativischer Lesart steht [...] in einer paradigmatischen Reihe wie die Modalverbformen konnte und musste; als Irrealis gelesen, steht würde dagegen in derselben Bedeutungsreihe wie könnte“ (S. 21). Dass würde + Infinitiv die indikativische Lesart hat, ist seiner Meinung dadurch zu erklären, dass „werden nur eine Form des Präteritums [hat], eben die umgelautete“ (S. 40). Dies führt im Sprachgebrauch dazu, dass würde + Infinitiv in den Vergangenheitskontexten lesartambig ist, zwischen indikativischer und irrealer Bedeutung. Und weiter: „Es scheint so, dass die modusambivalente Form des Vergangenheitsfuturs in Zweifelsfällen aufgrund seiner Morphologie als Konjunktiv interpretiert wird; unserer Ansicht nach muss aber die Wahl der Konjunktivform gerade umgekehrt aus der Semantik von werden begründet werden“ (S. 41). Die These, dass würde dank des festgestellten Synkretismus der präteritalen Indikativ- und Konjunktiv II-Form einerseits „indikativisch“ und andererseits „konjunktivisch“ interpretiert werden kann, werde ich weiterverfolgen. Dabei scheint der Aspekt der Neutralisierung bzw. eines Neutralisierungskontextes eine wichtige Rolle bei der Interpretation der Fügung zu spielen. Bei einem Neutralisierungskontext handelt es sich um einen Kontext, der die Formopposition Indikativ vs. Konjunktiv aufhebt. Amrhein plädiert in seiner Arbeit dafür, dass im Falle von werden die umgelautete Form würde die neutrale Form darstellt, und das aus folgenden Gründen: i) das indikativische Vergangenheitsfutur würde + Infinitiv hat eine wesentlich niedrigere Frequenz als der gleichlautende Konjunktiv; und ii) unterscheidet sich werden von den Modalverben in seiner aspektuellen Semantik: Letztere sind statisch, werden aber ist – als inchoatives Verb – dynamisch. Möglicherweise legt die Form des Konjunktivs II stärkere Betonung auf die Tatsache, dass das angezeigte Ereignis in der Vergangenheit noch nicht der Fall war, also aus präteritaler Perspektive noch mit Ungewissheit befrachtet war. Jedenfalls scheinen sowohl die niedrige Frequenz des Vergangenheitsfuturs als auch die Auflösung der Markiertheitsopposition zugunsten des Konjunktivs II die wesentlichen Ursachen dafür zu sein, dass die Existenz des indikativen Präteritums von werden + Infinitiv so lange von der deutschen Grammatikschreibung übersehen wurde. (Amrhein 1996, 125).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisher unternommenen Klassifizierungsversuche der Konstruktion würde + Infinitiv, die meist aus der synchronen Betrachtungsperspektive gemacht wurden (mit Ausnahme von Kotin 2003), sich in einer grundlegenden Erkenntnis einig sind: sie bemühen sich um die Ableitung der Kernbedeutung von würde + Infinitiv von der eigenen Leistung der indikativischen Fügung werden + Infinitiv. Es wird angestrebt, eine gemeinsame semantische Grundlage für alle Verwendungen von würde + Infinitiv zu erarbeiten.
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Würde + Infinitiv als polyfunktionale Konstruktion
Diese Arbeit knüpft auf diese Erkenntnisse an, versucht jedoch die synchrone Betrachtungsperspektive um die diachrone zu ergänzen. Die Untersuchung der diachronen Entwicklung dieser Konstruktion eröffnet, wie sich zeigen wird, eine alternative Sicht, indem sie Erkenntnisse dafür liefert, die Grammatikalisierung der Konstruktion würde + Infinitiv nicht als einen linearen Entwicklungsprozess anzusehen, sondern eher als einen verzweigten Vorgang, der die Herausbildung zwei distinktiver Bedeutungsvarianten von würde + Infinitiv triggerte. Dies führt ferner dazu, dass die Annahme einer gemeinsamen Grund- oder Kernbedeutung für diese Periphrase in synchroner Hinsicht zwar berechtigt ist, sich aber aus der diachronen Perspektive am besten erklären lässt, da der Prozess der Grammatikalisierung bei einer der würde-Varianten schon so weit fortgeschritten ist, dass die eigene durch die lexikalische Bedeutung des Verbs werden begründete Leistung des Auxiliars nicht ohne weiteres in allen heutigen Verwendungskontexten nachvollzogen werden kann.
3. Die Diachronie von würde + Infinitiv Grammatiken des Deutschen, die auch de historische Entwicklung sprachlicher Phänomene berücksichtigen (Behaghel 1924, Blatz 1895, Erdmann 1886, Paul 1920, Wilmanns 1906 u.a.), geben einen ziemlich einheitlichen Überblick über das Aufkommen der Periphrase würde + Infinitiv. Dabei bringen sie diese Entwicklung in engen Zusammenhang mit dem Entstehen des deutschen analytischen „Futurs“ – der Umschreibung mit werden + Infinitiv. Zweifellos stehen diese Formen sowohl aus der diachronen als auch aus der synchronen Perspektive gesehen im engen verwandtschaftlichen Zusammenhang. Die früher (schon im Althochdeutschen) nachgewiesene indikativische Fügung werden + Infinitiv fungierte als Basisform. Es wäre daher zu erwarten, dass es für die Bestimmung des funktionalen Status dieser Konstruktion in den früheren Sprachstufen genügen würde, die Bedeutung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv und die morphologische Information von würde + Infinitiv zu identifizieren, was in der heutigen deutschen Sprache allerdings nicht der Fall zu sein scheint. Zum einen ist der heutige Status der indikativischen Konstruktion immer noch stark umstritten (s. dazu Kap.5), zum anderen lässt sich die heutige Verwendungsweise der Fügung würde + Infinitiv nicht ausschließlich aus der funktionalen Leistung ihres indikativischen Pendants herleiten. Ob sich allerdings in früheren Entwicklungsperioden des Deutschen eine funktionale Übereinstimmung beider Formen beobachten ließ, ist eine relevante Frage für die in dieser Arbeit vorgenommene diachrone Untersuchung. Dieser wird in Kap.8. nachgegangen, dabei reicht die auf empirischen Daten basierte Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv bis in das Frühneuhochdeutsche.1 Für die Behandlung früherer Entwicklung der Konstruktion werden Evidenzen aus den prominenten historisch fundierten Grammatiken der deutschen Sprache oder einigen wenigen diachronen Studien zu werden-Periphrasen herangezogen.
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Dies geschieht nicht zuletzt aus Platzgründen, vor allem aber von den historischen Daten ausgehend, dass würde + Infinitiv in seiner der heutigen ähnlichen Funktion erst in der frühneuhochdeutschen Zeit Verbreitung fand, in der Zeit davor aber nur vereinzelt nachgewiesen ist, wie es in allen historischen Grammatiken vorzufinden ist.
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
3.1. Würde + Infinitiv in historischen Grammatiken In der althochdeutschen Zeit kommen die Verbindungen von werden und Infinitiv bzw. Partizip Präsens noch sehr selten vor und haben lediglich inchoative Bedeutung (vgl. z.B. Otfrid): (1) thô ward mund sînêr sâr sprëchantêr (1, 9, 29) (2)
wio ër sëhenti wurti (3, 20, 122).
Die Formen tauchen im 13. Jahrhundert schon häufiger auf (Paul 1920, 126f.; Beispielsätze ebd.): (3) so wirt belîben an dëm mer dër soldân (Konrad v. Würzburg, Part.) (4)
dâ bî wart man sie erkennen (Berthold)
Die Bildungen mit werden bezeichneten den Beginn einer Tätigkeit, das Geraten in einen Zustand. In dieser Hinsicht kommen diese Konstruktionen den gegenwärtigen Verbindungen von Infinitiv mit beginnen, anfangen nahe. Bis ins in die frühneuhochdeutsche Zeit war die Konstruktion mit dem Partizip Präsens noch geläufig, dann machte der Infinitiv dem Partizip Konkurrenz. Die Fügungen mit dem Partizip Präsens verschwanden seit jener Zeit allmählich aus dem Gebrauch. Dies ist die kurz zusammengefasste Anfangsgeschichte der Konstruktionen (oder „Umschreibungen des Verbums“, wie sie meist in den durchgesehenen Grammatiken bezeichnet werden) mit werden (in unterschiedlichen Tempus- und Modusformen) und Infinitiv bzw. Partizip Präsens, die aus den meisten Ausführungen zu diesem Thema gewonnen werden konnte. Die einzige bis heute noch nicht vollständig geklärte und deswegen auch nicht einheitlich dargestellte Frage ist diejenige, wie und warum der Infinitiv allmählich das Partizip aus der Fügung verdrängte. Die Fakten zeugen davon, dass die Konstruktionen eine Zeitlang nebeneinander gebraucht wurden und dabei die gleiche Bedeutung trugen. Die These, die das Anpassen der Partizipialformen an die infinitivischen durch die lautliche Abschleifung der Partizipialendungen erklärte, erschien vor ungefähr einem Jahrhundert noch als eine akzeptable Lösung dieser Frage. Mittlerweile werden die Fügungen mit Partizip Präsens und Infinitiv als voneinander in gewisser Unabhängigkeit entstandene Formen angesehen, wobei werden + Infinitiv nach einer kurzen Phase des Mit-Existierens die Oberhand gewann und durch seine Verbreitung die partizipialen Formen
Würde + Infinitiv in historischen Grammatiken
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verdrängt wurden.2 Da dies nicht unmittelbar zum Thema der vorliegenden Arbeit gehört und die vorgenommene Untersuchung nicht wesentlich beeinträchtigen kann, wird hier auf die nähere Betrachtung dieser Entwicklung (wie auch auf eine umfassende Behandlung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv in der diachronen Perspektive) verzichtet. Die spätere historische Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv wird in der gegenwärtigen Literatur leider nicht mehr so einheitlich und eindeutig vorgestellt. Welche semantischen und funktionalen Veränderungen sie seit der späten mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Zeit durchlaufen hat und zu welchen Bedeutungen die Letzteren geführt haben können, bleibt immer noch unvollständig geklärt. Im Laufe der frühneuhochdeutschen Periode verschwindet die indikativische präteritale Form ward/wurde + Infinitiv aus dem Sprachgebrauch. Ob die konjunktivische Konstruktion würde + Infinitiv nach dem Verschwinden ihrer indikativischen Entsprechung an indikativischer Bedeutung gewann, ist eine Hypothese, ist aber noch nicht genau untersucht und daher nicht bestätigt. Was die eigentliche Leistung der Konstruktion würde + Infinitiv betrifft, so sind sich hier die Sprachforscher seit vielen Jahrzehnten nicht einig. Unten seien nur einige wichtige Auffassungen aufgeführt. Vorab aber ein Zitat, das die bei der Einordnung der Konstruktion würde + Infinitiv aufkommende Schwierigkeiten sehr bildhaft schildert: Wunderlichs Definition als ‚Konjunktiv des periphrastischen Ausdrucksmittels für die inchoative Aktionsart’ (‚Dt. Satzb.’, I 366) wandelt nur die beanstandete Vulgatmeinung ab. Wilmanns spricht (‚Deutsche Grammatik’, III, 1, 1906, S. 178ff.) von einem ‚irrealen Optativ’ Präteriti, ohne seinen Systemplatz näher zu umreißen. Als ‚Möglichkeitsform der Vergangenheit’ oder auch als einen ‚Conditionalis’ sucht sie Sütterlin (‚Die deutsche Sprache der Gegenwart’, 1907, S. 267) zu charakterisieren. Nach H.Paul (‚Deutsche Grammatik’, IV, 1920, S. 153) bezeichnet ich würde mit Infinitiv „zunächst wirklich die Zukunft von einem Standpunkt der Vergangenheit aus“, ist aber dann „zum Ausdruck der Irrealität geworden“ und „konkurriert“ „mit dem einfacheren Konj. Prät. oder Plusquamp.“ Als bloßen Ersatz für den einfachen Konjunktiv Präteriti scheint auch Behaghel (‚Deutsche Syntax’, II, 1924, S. 243f.) die Umschreibung mit würde anzusehen. Er behauptet sogar, daß sie heute „in der Umgangssprache wie in der Schriftsprache durchaus die Regel“ sei. „Wo die Schriftsprache noch einfache Formen hat, sind es wohl archaische Weiterführungen älteren Sprachgebrauchs; zum Teil sogar bewußte, denn in neuerer Zeit wird vielfach in grammatischen Anweisungen die unumschriebene Form dringend empfohlen“ – wie in unserem Sprachdienstheft [Sprachdienst 1958, Heft 6, S. 84f.], und davon möchte sich der historisch betrachtende Gelehrte augenscheinlich distanzieren. I.Dals ‚Kurze deutsche Syntax’ (1952) bestimmt die Verbindung von würde mit dem Infinitiv zwar zutreffend als „eigentlichen Konj. Prät. des mit werden umschriebenen Fu-
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Zur Widerlegung der ‚Abschleifungstheorie“ vgl. z.B. Kleiner (1925), Saltveit (1962), Schmid (2000), Harm (2001) u.a.
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
turums“ (S. 155), weiß aber im übrigen aber ebenfalls nicht, wohin damit. (Schröder 1959, 71)
Und nun ausführlicher dazu. Hermann Paul (1920) betrachtet die Konstruktion würde + Infinitiv grundsätzlich als Ausdruck eines zukünftigen Geschehens in der Vergangenheitsperspektive analog zu werden + Infinitiv in der Gegenwartsperspektive. Die Konstruktion werden + Infinitiv im Konjunktiv Präteritum, d.h. würde + Infinitiv, „hat die gleiche Entwicklung wie das Präsens durchgemacht, und es ist so ein Mittel geschaffen, ein zukünftiges Geschehen vom Standpunkte der Vergangenheit aus zu bezeichnen“ (Paul 1920, 148).3 Aus dieser primär temporalen Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv leitet Paul (1920) ihre modale Bedeutung ab. Da das Zukünftige immer ungewiss bleibe, gelange die Konstruktion werden + Infinitiv als Tempus Futur dazu, ungewisse Ereignisse auch in der Gegenwart und in der Vergangenheit zu bezeichnen. Ähnlich verhalte sich auch würde + Infinitiv: „Ich würde mit Infinitiv bezeichnet zunächst wirklich die Zukunft von einem Standpunkt der Vergangenheit aus [...] Dann aber ist es, der eben erwähnten Verwendung des Futurs entsprechend, zum Ausdruck der Irrealität geworden“ (Paul 1920, 153): (5) Ich würde dir das gestatten, wenn es zu Deinem Vorteil wäre. In dieser ausschließlich modalen Bedeutung konkurriere die Ausdrucksform würde + Infinitiv mit dem „einfacheren“ Konjunktiv Präteritum oder Plusquamperfekt. Ihre Ausbreitung werde dadurch begünstigt, das die Konjunktivformen häufig nicht von dem Indikativ zu unterscheiden sind. Die Bildungen würde mit Infinitiv bzw. mit Partizip Präsens sind in der mittelhochdeutschen Zeit noch relativ selten. Erst mit dem Beginn der neuhochdeutschen Zeit finden sie Verbreitung, vor allem im „hypothetischen Hauptsatz“ (Behaghel 1924, II, 243): „So findet man schon im Dekamerone auf 100 Seiten (S. 200-300) neun Beispiele, wo das Vollverbum in der Umschreibung mit würde erscheint, auf neun Fälle, wo noch der Konjunktiv Präteritum verwandt wird. [...] Bei Liselotte ist die Umschreibung bereits allgemein geworden; auf S. 400-460 stehen neun Beispiele mit würde, keines des einfachen Konjunktivs, und heute ist die Umschreibung in der Umgangssprache wie in der Schriftsprache durchaus die Regel“. Dass die „Umschreibung“ zur Herrschaft kam, erklärt Behaghel
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Die Auffassung von Paul (1920) vermag vielleicht aufgrund der (von ihm vor allem als temporal gesehen) Parallelitäten zwischen werden und würde + Infinitiv die funktionale Leistung der letzten als „Futur der Vergangenheit“ zu erklären, seine Beschreibung erklärt dennoch nicht, warum anstelle von ward die Form würde verwendet wurde (und wird).
Würde + Infinitiv in historischen Grammatiken
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(1924) hauptsächlich durch den Zusammenfall der Formen des Konjunktivs und des Indikativs regelmäßiger Verben. In den hypothetischen Nebensätzen aber „meidet das Neuhochdeutsche bis in die neueren Zeiten die Umschreibung mit würde und weicht damit der Gleichförmigkeit mit dem würde des Hauptsatzes aus“ (ebd.). Der Autor verzeichnet auch eine weitere Verbreitung der Konstruktion würde + Infinitiv, die sich auf den Nebensatz ausdehnt. Dieses Vordringen werde unter anderem dadurch bestätigt, dass dieser Umstand Bekämpfung von Seiten der Sprachpfleger erfuhr. Die Entwicklung der Konstruktion werden + Infinitiv aus der aktional markierten Konstruktion mit der Bedeutung ‚Eintritt in einen Zustand/eine Handlung’ zu einer Umschreibung mit allgemein futurischer Bedeutung würde nicht zuletzt durch die perfektive Bedeutung des Verbs werden erleichtert (Wilmanns 1906, 178f.). Je mehr aber diese futurische Auffassung der Konstruktion werden + Infinitiv zukam, „um so mehr ließ der Sprachgebrauch das Präteritum wart sprëchen, das diese Bedeutung nicht teilen konnte, fallen; nur den irrealen Optativ würde sprechen, der keine Vergangenheitsbedeutung hatte, hielt er fest“ (ebd.). Die Konstruktion würde + Infinitiv habe immer, auch wenn sie den Konjunktiv Präteritum (irrealen Optativ Präteritum) vertritt, „etwas von ihrer futurischen Bedeutung“ (Wilmanns 1906, 197) und sei daher nicht in allen Sätzen als Ersatzform zulässig oder geläufig. “Ihre Hauptstätte haben sie in konditionalen Hauptsätzen; in den konditionalen Nebensätzen soll man sie meiden [...] Als berechtigt wird man sie besonders da anerkennen müssen, wo die Aussage zugleich als nichtwirklich und als zukünftig bezeichnet werden soll“ (S.198). DWB (1854) beschreibt zwei Hauptverwendungen von würde + Infinitiv folgendermaßen: 1. „präteritale konjunktivformen von werden mit einer verbalen grundform, die zukunft von einem standpunkt der vergangenheit aus bezeichnend“ (DWB 1854 Bd. 29, 255): (6) weil sie (die römischen buben) wol gewust, das mit dem Turcken vnd Frantzosen dis iar so stehen wurde (Luther, Briefwechsel 1537?, 38) (7)
Blandine glaubte, dasz in ihrem leben sich nicht viel ändern würde, sie würde die ziege melken, sich die suppe kochen und handeln gehen ... sie hatte nie mangel gelitten, würde ihn auch ferner nicht leiden (E.Zahn, Die da kommen und gehen 1909, 175)
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
2. „konditional, als ersatzfügung für die präteritale möglichkeitsform in hypothetischen sätzen gebraucht“ (ebd., 257): a) die Verwendung im übergeordneten Satz sei seit dem 16. Jahrhundert oft bezeugt: (8) ob dise swingen, die steine worden schrîen (Beheim, Lk. 19, 40) (9)
und wär ich ietz eur leis- er hort es würd euch morgen greuen (O.von Wolkenstein 20,40)
b) auch in hypothetischen Aussagen, „deren zugrunde liegende bedingung nicht in einem konditionalsatz ausdrücklich genannt ist“ (ebd.): (10) denn ihr Jüden würdet ja nimmermehr einen gehenkten ... heiden nach seinem tod für einen herrn anbeten (Luther, Briefwechsel 8, 90) (11)
ich würde rathen, ihren (anrede) plan aufzuschieben (Goethe I 23, 20)
c) die Verwendung im untergeordneten Satz sei einigermaßen geläufig nur im Spätmittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen gewesen: (12) wo sich aber des sich halsstarriglich wegern würde, alsdann soll man ihr sagen, dasz sie ihr lebenlang keinen andern ehlichen mann haben kann noch soll (Luther, Briefwechsel 8, 135) Die „hypothetischen Aussagen“ werden hier also als unvollständige Konditionalsätze verstanden, in welchen die Bedingung lediglich nicht genannt wird. Bei solcher Generalisierung4 kommen Gebrüder Grimm auf zwei Funktionen von würde + Infinitiv – eine eindeutig temporale und eine konditionale. Die „Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwickelung der deutschen Sprache“ (Blatz 1895) unterscheidet ebenfalls zwischen zwei Verwendungsbereichen der Konstruktion würde + Infinitiv: 1. „Das Futurum I hat zwei Konjunktive, ich werde, du werdest geben, – und ich würde geben...“ (Blatz 1895, Bd.1, 567); 2. „Die Konjunktivform ich würde geben heißt, sofern sie nicht die Zukunft, sondern als Gegenwart eine Bedingung ausdrückt, auch
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Näheres zu Konditionalkonstruktionen s. Kap.7.
Würde + Infinitiv in historischen Grammatiken
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Bedingungsform oder Conditionalis der Gegenwart (Conditionalis I)“ (ebd.) Der Autor beschreibt leider nicht ausführlich, welche Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv als „Konjunktiv Futurum I“ zukommt, außer dass sie sich auf die Zukunft bezieht. Erwähnt wird aber, dass der „Konjunktiv Futuri“ sehr selten oder gar nicht im Hauptsatz vorkomme, „da das Futurum im Indikativ an sich schon eine solche Handlung bezeichnet, deren Eintreten, da sie erst künftig ist, nicht ganz sicher erscheint“ (Blatz 1895, Bd.2, 520). Dies lässt vermuten, dass die Konstruktion würde + Infinitiv laut dieser Auffassung (wenn sie keine Bedingung ausdrückt – also kein „Konditionalis“ sei) typische konjunktivische Funktionen erfüllen soll – als Ausdruck für etwas Vorgestelltes oder Gewünschtes. Die mit würde beschriebene Handlung/ Geschehen müsste dann allerdings in der Zukunft angesiedelt sein. Diese Form sei nicht mit dem gleichlautenden „Conditionalis I“ zu verwechseln, z.B. (13) Ich glaube nur, dass ich den Herrn in meinem Leben wieder nie zu sehen bekommen würde. [Hier liege der Konjunktiv Futuri vor]. Die Konstruktion würde + Infinitiv als „Conditionalis I“ wird in der „Neuhochdeutschen Grammatik...“ als stellvertretende Form für den hypothetischen Konjunktiv Präteritum verstanden. Sie bezeichne „einen angenommenen Fall (eine Bedingung) aus der Gegenwart [...] entweder: a) als möglicher Weise eintretend hingestellt: Conditionalis I (= Konjunktiv Potentialis): (14) Im Falle du in Not geraten solltest, würde ich dich gerne unterstützen (= unterstütze ich) b) oder als nicht eintretend vorausgesetzt: Conditionalis I (= Konjunktiv Irrealis der Gegenwart): (15) ohne Deinen Beistand würde ich jetzt nicht mehr leben (= lebte ich nicht mehr)“ (Blatz 1895, Bd.2, 529). Die zunehmende Verbreitung der Konstruktion würde + Infinitiv in der deutschen Sprache erklärt Blatz aus schon oben erwähnten Gründen: i) Zusammenfall (formal bzw. lautlich) von indikativischen und konjunktivischen Formen und ii) Vermeiden gekünstelter Konjunktivformen unregelmäßiger Verben (z.B. tränke, böte, flöhe). „So gewinnt, insbesondere zumzweck der Differenzierung, die Umschreibung mit ich würde – immer mehr an Verbreitung und lässt sich sogar aus den Bedingungssätzen nicht mehr ausmerzen“ (Blatz 1895, Bd.1, 569).
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
Soweit der gegenwärtige Stand der Forschung hinsichtlich der diachronen Entwicklung von würde + Infinitiv, wie es sich aus den Grammatiken auf historischer Grundlage ergibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Konstruktion diesen Auffassungen (wenn auch in ungleichem Maße) zufolge drei Bedeutungen hinzukommen, die sich bereits seit der frühneuhochdeutschen Zeit etabliert haben: i) eine temporale, d.h. Ausdruck eines zukünftiges Geschehens in der Vergangenheitsperspektive (DWB, Paul 1920, Wilmanns 1906), ii) eine modale, d.h. bedeutungsgleicher Ersatz uneindeutiger und zunehmend aller Konjunktiv IIFormen, also analytisch gebildeter Modus Konjunktiv II (DWB, Behaghel 1924, Paul 1920, Wilmanns 1906) und iii) eine konditionale, indem sie als eine „Bedingungsform“ oder Konditionalis fungiert, was allerdings meist unter den Aspekt ihrer konjunktivischen, also modalen, Bedeutungen subsumiert werden kann (DWB, Blatz 1895). Die temporale Bedeutung entspringt dem Auxiliar werden, das als futurbildendes Element angesehen wird, und die modale Komponente ist auf die Konjunktivflexion dieses Auxiliars zurückzuführen. Diese Bedeutungen sind häufig beide präsent (vgl. Wilmanns 1906, 198). Es zeichnet sich also trotz scheinbarer anfänglicher Uneinheitlichkeit ein einigermaßen klares Bild in der Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv, das von Grammatiken gegeben wird. Ob diese Bestimmungen allerdings der tatsächlichen sprachlichen Entwicklung entsprechen, wird in Kap.8. anhand des für die Arbeit zusammengestellten historischen Datenmaterials untersucht.5
3.2. Einige Studien zur Diachronie von würde + Infinitiv Es gibt meines Wissens keine umfassenden Studien, die sich ausschließlich auf die Behandlung der Konstruktion würde + Infinitiv konzentrieren. Die historische Entwicklung dieser Fügung wird meist in den diachronen Studien zum deutschen Tempus- und Modussystem, insbesondere bei der Darstellung periphrastischen Bildungen, behandelt, was allerdings oft nur am Rande geschieht. Im Folgenden werden kurz einige Studien dargestellt, die sich detailliert mit dieser Konstruktion beschäftigen, um das Bild, das aus den Grammatiken (s. das vorige Kapitel) gewonnen wurde, zu vervollständigen und ggf. zu relativieren. In der Arbeit „Zum Konjunktiv im Deutschen um 1800“ von Engström-Perrsson (1979) wird das Vorkommen und der semantische Wert der Fügung würde + Infinitiv betrachtet, wenn auch die Konstruktion
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Zur Zusammensetzung des untersuchten Korpus s. Kap.3.3.
Einige Studien zur Diachronie von würde + Infinitiv
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nicht das eigentliche Thema der Arbeit ist. Dementsprechend konnten nicht alle würde-Verwendungsweisen dargestellt werden, da das Datenmaterial von vornherein nach dem Prinzip der Zugehörigkeit zum Modus Konjunktiv zusammengestellt wurde. Dennoch lassen sich aus dieser Studie einige für die vorliegende Untersuchung relevante Aussagen zusammenfassen: i) das würde-Gefüge tritt der zufolge (mit einigen wenigen Ausnahmen) nur im Folgesatz auf; wenn würde-Formen im Gliedsatz auftauchen, dann dienen sie offenbar dazu, den Zukunftsbezug stärker hervorzuheben; ii) der semantische Eigenwert der Konstruktion wird wie folgt formuliert – sie stelle die Annahme als eintretend dar; iii) durch die würde-Umschreibung wird nicht selten gleichzeitig „die subjektive Stellungnahme des Sprechers“ nachdrücklich hervorgehoben. An dieser Stelle sei festgehalten, dass die Konstruktion würde + Infinitiv um 1800, wenn sie eindeutig (von Engström-Persson 1979) als Ersatzform für den Konjunktiv II aufgefasst wird, vorwiegend dazu gebraucht wird, die angenommene eintretende Folge (in einer Konditionalkonstruktion) auszudrücken, wobei in ihrer Bedeutung der Bezug auf den aktuellen Sprecher/ Schreiber deutlich spürbar zu sein scheint. Die frühneuhochdeutsche Periode der deutschen Sprachgeschichte (und speziell das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts) wird oft als Höhepunkt sämtlicher Grammatikalisierungsprozesse, darunter im Verbalsystem, angesehen (vgl. Oubouzar 1974, Lehmann 1985, Kotin 2003 u.a.). Als Gründe dafür gelten unter anderem (s. für ausführliche Beschreibung Kotin 2003, 201 ff.): i) die intensive Wechselwirkung von spezifischen Zügen verschiedener Mundarten und territorialer Varianten, die in jener Zeit bei der Bildung einer Ausgleichssprache zu beobachten ist; ii) eine enorm große Anzahl von schriftlichen Quellen unterschiedlicher Gattungen und Genres. Eben diese Zeit betrachtet Kotin (2003) in seiner Arbeit zu deutschen werden-Fügungen als einen wichtigen Moment in der Grammatikalisierung von werden-Periphrasen (im Folgenden beschränke ich mich hauptsächlich auf die Zusammenfassung seiner Feststellungen zu der Periphrase würde + Infinitiv). Während die eigentlichen Grammatikalisierungsprozesse in dieser Phase schon als abgeschlossen gelten und werden in Periphrasen mit Infinitiv und Partizip II als vollständig auxiliarisiertes Verb angesehen werden kann, geschieht hier die so genannte Paradigmatisierung grammatikalisierter Formen, d.h. die Einbeziehung in das durch ein Paradigma erfasste Formensystem nach dem Analogieprinzip.6
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Kotin (2003, 203 f., in Anlehnung an Smirnickij 1959 und Rastorgujeva 1989) differenziert zwischen Begriffen „Grammatikalisierung“ und „Paradigmatisierung“. Er macht diese begriffliche Trennung von der Beteiligung eines (syntaktischen) Archetyps an den jeweiligen Prozessen abhängig: während Grammatikalisierung immer an die Anpassung neuer gram-
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
Die Konstruktion würde + Infinitiv, die seit dem Spätmittelhochdeutschen bekannt ist, ersetzt im Laufe der frühneuhochdeutschen Periode zunehmend die Fügungen mit dem Modalverb wellen/ wollen (Kotin 2003, 175 ff., 202 f.). Im Spätmittelhochdeutschen verhielt sich die Form würde „wie alle anderen Konjunktiv Präteritum-Formen, d.h. sie deckte zusammen mit den Präsens- und Futurformen des Indikativs die temporale Perspektive der Gegenwart und der Zukunft ab. Das modale Zeichen des Konjunktivs kodierte dabei wie im Gegenwartsdeutschen in den meisten Fällen Nicht- bzw. Kontrafaktizität, Optionalität u. dgl.“ (S. 176). Diese Funktionen teilte sie mit wellen, allerdings nur wenn die anthropozentrische Komponente (Wunsch) mit der konjunktivischen (Option) zusammenfielen. Kotin sieht die Konstruktion mit wellen und Infinitiv als Archetyp für die Paradigmatisierung der würde-Fügung an. Eine vollständige Grammatikalisierung der Konstruktion wellen + Infinitiv in dem modalen Kategorialbereich konnte nicht stattfinden, da die Optativität, Nichtfaktizität und Kontrafaktizität nie nur auf anthropozentrische Verben beschränkt werden könne. Statt bei wellen die anthropozentrische Bedeutungskomponente abzubauen (wie es z.B. das Englische getan hat), wählte das Deutsche offenbar ein anderes, „passenderes“ Verb aus, das „eine (reale oder irreale) Annahme des Sprechers ausdrücken kann, diese aber anders als wellen nicht an die Bedeutung eines subjektiven Wunsches bzw. einer subjektiven Annahme des ‚wellen-Subjekts’ binden muss“ (Kotin 2003, 176). Zu den funktional-semantischen Gründen, die dazu führten, dass würde + Infinitiv gegenüber wellen + Infinitiv die Oberhand gewann, fügt Kotin ferner formal-morphologische Faktoren hinzu, die die Verwendung von wellen als Auxiliar im modal-konjunktivischen Bereich einschränkten: das ist die formale und lautliche Undifferenziertheit zwischen indikativischen und konjunktivischen Formen des letzteren Verbs. Die dadurch entstehende Ambiguität der grammatischen Funktion „darf aber gerade hier nicht geduldet werden, u.a. weil nicht nur die modale Funktion, sondern auch die Zuordnung der Verbalhandlung zur jeweiligen temporalen Perspektive dadurch entscheidend beeinträchtigt werden“ (Kotin 2003, 176 f.). Alle genannten Faktoren haben nun nach Auffassung von Kotin in entscheidender Weise die Ablösung von wollen durch die Form des Konjunktivs Präteritum des Verbs werden in optionaler, kontraoptionaler, nichtfaktischer bzw. kontrafaktischer Funktion bewirkt.
_____________ matischen Formen an einen für sie spezifischen Archetyp gebunden ist, erfolgt Paradigmatisierung ohne Anpassen an einen in der betreffenden Domäne herausgebildeten Archetyp. Die Paradigmatisierung geschieht daher spontan und „schlagartig“ dank der Wirkung des Analogieprinzips. Kotin hebt hervor, dass einer Paradigmatisierung immer der Prozess der Grammatikalisierung eines der paradigmatisierten Entität ähnlichen syntaktischen Archetyps vorausgeht.
Einige Studien zur Diachronie von würde + Infinitiv
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Neben dieser rein modal-konjunktivischen Bedeutung von würde + Infinitiv weist Kotin auch auf deutlich temporal zu interpretierende Lesarten dieser Konstruktion hin, z.B.: (16) und swer ir îlen het gesehen, / der müeste des fürwâr jehen, / daz nie von kuniges kinde / wart gesehen alsô swinde / uber velt gegangen, / dâ si wurd enphangen / von Arrogûn diu kunigin. (Ottokar von Steiermark, nach DWB 14, 1, 2, 255) ‚und wer ihre Eile gesehen hätte, der hätte zugeben müssen, dass nie gesehen wurde, wie vom Kinde eines Königs so schnell übers Feld gegangen wurde dorthin, wo sie die Königin von Arrogun empfangen würde’ Hier sieht Kotin (2003, 180) das „klassische Futur präteriti“ vorliegen. Diese temporale Lesart wie auch die schon beschriebene modale (= Konjunktiv II) lassen sich nach Kotin durch die für die Konstruktion würde + Infinitiv angenommene kategoriale Invariante prognostisch erklären und von ihr ableiten. „Diese funktionale Einordnung der Umschreibung würde + Infinitiv I hebt nun offensichtlich den scheinbaren Unterschied zwischen rein prospektiver Epistemik bei der Zeitabfolge ‚Aktzeit nach Sprechzeit’ und ‚relativ-prospektiver’ Epistemik bei der Zeitabfolge‚ {Referenzzeit nach Aktzeit} vor Sprechzeit’ auf“ (S. 181). „Die Prognostik vereinigt futurische, optionale, nichtfaktische, kontrafaktische u.a. Lesarten und bringt sie auf einen gemeinsamen Nenner, und die temporale Perspektive sorgt für die jeweils spezifische Deutung der prognostischen Kategorialfunktion“ (S. 188-189). Der Frage nach der synchronen Bestimmung einer grundlegenden Bedeutung für die Konstruktion würde + Infinitiv wird in Kap.6. dieser Arbeit ausführlich nachgegangen, daher wird sich Kap.8. hauptsächlich mit der Betrachtung diachroner Entwicklung dieser Periphrase und damit verbundenen Faktoren beschäftigen. Wie aus Kotins Ausführungen folgt, konnte sich die Fügung würde + Infinitiv in der frühneuhochdeutschen Zeit gegenüber der Periphrase wellen + Infinitiv behaupten, weil die Letztere die ihre Verbreitung hemmende anthropozentrische Bedeutungskomponente nicht überwinden konnte. Dazu kam noch das Verschwinden der indikativischen Fügung wurde + Infinitiv, welches Kotin dadurch zu erklären versucht, dass die Präteritalform des Indikativs von werden zwangsläufig die prognostische Funktion neutralisieren würde, die sonst in der Eigensemantik von werden verwurzelt sei. Die Wiederherstellung dieser Funktion sei in diesem Fall nur über eine zusätzliche Markierung möglich. „Um eine futurische Lesart in der Vergangenheitsperspektive zu kreieren, muss eine Form herangezogen werden, die im Prinzip auch in der Per-
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
spektive der Zukunft – relativ zum Redemoment – verwendet werden darf“ (S. 183). Und dafür genüge im Deutschen die Konstruktion würde + Infinitiv. Die Schlüsse, die Kotin aus seiner diachronen Analyse der Periphrase würde + Infinitiv zieht, lassen deutlich erkennen, dass diese Konstruktion tatsächlich ihren Platz in der deutschen Verbalparadigma behaupten konnte und Umschreibungen mit Modalverben, besonders mit wellen, verdrängen konnte. Ob es aber durch die schon im ersten Teil der Arbeit in Frage gestellte prognostische Komponente der Fügung erfolgte und ob sich die beiden (modale und temporale) Lesarten der Konstruktion dadurch erklären lassen, ist m.E. nicht überzeugend genug dargestellt; und dies nicht zuletzt aus dem Grund, dass der Autor zwar die indikativischen und konjunktivischen Formen der werden-Fügungen im Zusammenhang miteinander behandelt, jedoch die Verbindungen von wellen und Infinitiv als Archetyp für die Paradigmatisierung von würde + Infinitiv sieht. Außerdem bedient sich der Forscher lediglich einer geringen Anzahl der Belege, anhand deren er seine Betrachtungen anstellt. Als eine weitere Studie, die zwar keine diachrone Analyse der Konstruktion würde + Infinitiv i.e.S. bietet, dennoch hier als solche herangezogen werden kann, ist die Arbeit von Schröder (1959) zu nennen7. Als erstes sei erwähnt, dass Schröder die häufige Verwendung von würde + Infinitiv keinesfalls als eine ‚Krankheit’ oder als übermäßigen Gebrauch bloß einer ‚Ersatzform’ sieht, sondern als eine aus grammatisch-stilistischen Gründen gerechtfertigte Erscheinung. „Das Nebeneinander von er käme und er würde kommen im gegenwärtigen Deutsch ist kein ‚Stück Unvollkommenheit’ der Sprache, kein Beispiel für ‚schlechte Koordinierung und Differenzierung der vorhandenen Mittel’ [Glinz, „Die innere Form des Deutschen“]. Wenn es das einmal gewesen sein sollte zur Zeit der Entstehung der umschriebenen Form (auch das ist von vornherein keineswegs wahrscheinlich), so hat die Sprache sich dieses Überflusses längst zu unterscheidendem Gebrauch bemächtigt. Das würde + Inf.Gefüge hat sein eigenes gutes Recht im deutschen Verbalsystem, da es,
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Diese Arbeit ist für die vorliegende Studie insofern relevant, da sie zum Hinterfragen einer These durchgeführt wurde, die eine Zeitlang die deutsche Grammatikschreibung bezüglich würde + Infinitiv dominiert hatte: die Einordnung der Konstruktion als Konditionalis (‚Bedingungsform’) nach dem französischen Vorbild. Das Ziel der Arbeit war zu überprüfen, ob diese Gleichung aufgeht. Als Datengrundlage für diese Untersuchung galt Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1934), nicht zuletzt weil ihre Übersetzung ins Französische (von Maurice Betz, 1953) ein willkommenes Vergleichsobjekt anbot. Die Ergebnisse der von Schröder durchgeführten Analyse werden hier im Rahmen diachroner Betrachtung aus dem Grund vorgestellt, weil sie m.E. eine Entwicklung aufspüren helfen, die die Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer verhältnismäßig kurzer Geschichte durchlaufen hat.
Einige Studien zur Diachronie von würde + Infinitiv
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wie unser Befund ergeben hat, durchaus eigenständige Bedeutungsweisen vertritt“ (Schröder 1959, 83). Schröder formuliert vier Bedeutungsaspekte von würde + Infinitiv, mit denen alle Vorkommensmöglichkeiten der Konstruktion gedeckt seien (im von ihm untersuchten Text). Nach Schröder (1959, 83) bezeichnet die Fügung: „i) eine quasi-gegenwärtige, intensive innere Vorstellung8 (mit dem französischen imparfait entfernt vergleichbar) und ii) eine der jeweiligen Imagination innewohnende und als nahezu gewiß antizipierte Zukunftserwartung. Beide Wesenszüge rechtfertigen iii) die von der Schulgrammatik sanktionierte Funktion der würde-Umschreibung in der hypothetischen Periode (die allerdings noch stilistischer Differenzierung bedarf) und machen sie iv) in besonderem Maße geeignet, in Fällen mit betont futurischer Perspektive sogar unentbehrlich, für die erlebte Rede (neben dem fiktionalen Präteritum)“. Die ersten zwei Bedeutungsaspekte, die er als Haupt- bzw. Grundbedeutungen betrachtet, spielen allerdings in sehr vielen Verwendungen der Konstruktion ineinander und wirken gar zusammen. „Die Verbindung von beidem, der Zukunftshaltigkeit mit der Kraft unmittelbarer Vergegenwärtigung eines als vergangen Vorgestellten begründet eine dem deutschen Tempussystem sonst fehlende Ausdrucksmöglichkeit“ (S. 81). „Aber so viel wird doch aus der Übersicht deutlich, dass die Intensität der inneren Vorstellung das entscheidende Moment bei der würde-Umschreibung in literarischem Gebrauch darstellt“, heißt es im Fazit. Dieser Auffassung kommt diejenige von Brinkmann (1971, 377 f.) nahe: „die Grundhaltung könnte also eine Erwartung sein, die den Sprecher erfüllt oder von ihm beim Partner vorausgesetzt wird. Wenn sich würde mit Infinitiv I verbindet, ist das ins Auge gefasste Geschehen noch nicht vollzogen. Was erwartet wird, kann in der Imagination vorweggenommen werden.“ Der Sprecher stellt also das mithilfe der Konstruktion würde + Infinitiv dargestellte Geschehen nicht als irreal, nichtfaktisch, fiktiv dar,
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Die „intensive innere Vorstellung“ als distinktives semantisches Merkmal der Konstruktion würde + Infinitiv wird bei Schröder (1959) mit Begriffen wie „Vergegenwärigung“, „Aktualität“, „intensiver Aktualitätsgehalt“ in Verbindung gebracht, was meist an den Sprechenden (im literarischen Text an die dargestellte Figur) gebunden ist. Anhand eines Beispieles, in dem würde + Infinitiv durch den Konjunktiv II ersetzt wird, versucht Schröder zu zeigen, wie sich damit der Sinn der Aussage verändert: „Die aktualisierende Vorwegnahme des bloß Vorgestellten, die Innensicht des, wiewohl fiktiven, Geschehens ginge weithin verloren, während die Konditionalität und Irrealität der Aussage zunimmt und die Distanzhaltung des Sprechenden bzw. Schreibenden sich verstärkt: ein Beruf, den man auf sich nähme – unter welcher Bedingung? Aber man würde es doch gerade bedingungslos tun, wie selbstverständlich. Und das Leben würde deutlich, eindeutig und nicht mißzuverstehen sein, ganz gewiß, wenigstens einer zeitweiligen Einbildung nach. Die Kindheit würde überstanden sein, ein für allemal und ohne die Einschränkungen, die das wäre unausgesprochen enthält“ (S. 82).
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
wie der synthetische Konjunktiv II tut, sondern als „vorweggenommen“, „aktualisiert“, „intensiv vorgestellt“ oder „erwartet“. Die Komponente „Erwartung“ wird auch von Lerch (1942) in seiner vergleichenden Untersuchung des Futurums im Deutschen und Französischen akzentuiert. Die deutsche Konstruktion werden + Infinitiv nennt er „Futurum des zu Erwartenden“ und beschreibt sie folgenderweise: „mit einem solchen Futurum [wird] etwas gegeben, was allgemeine Erfahrungstatsache ist, was man, sobald man die Untersuchung anstellt, wird beobachten können“ (Lerch 1942, 183). Die Beobachtungen der oben genannten Forscher lassen sich auch an die Überlegungen von Kotin (2003) anschließen: als grundlegende Bedeutung aller werden-Periphrasen nennt er ihre prognostische Funktion, und eine sprecherspezifische Prognose kann mitunter mit solchen Begriffen wie „Erwartung“, „Vorwegnahme“, „intensive Vorstellung“ u.ä. umschrieben werden. Derartige Beschreibungen der Konstruktion würde + Infinitiv, obwohl sie sich um einen einheitlichen Begriff für die Bestimmung des semantischen und grammatischen Status dieser bemühen, berücksichtigen m.E. immer beide Aspekte ihrer funktionalen Leistung: zum einen wird der Einfluss des Eigensemantik des Auxiliars werden sichtbar (sei es aktional, temporal oder als „Erwartung“ interpretiert); zum anderen wird die konjunktivische Flexion dieses Auxiliars als wichtige Komponente angesehen. Solchen Urteilungen nach ist die Konstruktion nicht eindeutig als Modus oder Tempus einzuordnen, weil beide Komponenten immer präsent zu sein scheinen. Insofern sind all diese Betrachtungen nicht weit davon entfernt, alle möglichen Bedeutungsvarianten bzw. Lesarten der Fügung aufzuzählen, ohne dennoch eine Invariante bzw. Grundbedeutung für diese vorzuschlagen, die in allen Verwendungen nachvollzogen werden könnte. Die Frage zu klären, ob dies daran liegt, dass es für den heutigen sowie früheren Status der Konstruktion unmöglich ist und welche Gründe oder Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden können, ist der Hauptanliegen der in dieser Arbeit vorgenommenen Analyse.
3.3. Das diachrone Korpus Die hier angedeutete diachrone Untersuchung bedarf einer fundierten empirischen Datenbasis. Von den Ergebnissen früherer Forschungen und von in historischen Grammatiken präsentierten Fakten ausgehend, scheint es für die hier vorgenommene Analyse angemessen zu sein, in der frühneuhochdeutschen Periode anzusetzen, weil die Konstruktion würde + Infinitiv in jener Zeit einen deutlich frequenteren Gebrauch im Unter-
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Das diachrone Korpus
schied zu den früheren Epochen erweist und sich in bestimmten Kontexten zu behaupten beginnt, die eine Erklärung für das Verschwinden der präteritalen indikativischen Fügung *ward + Infinitiv liefern können. Bei Bedarf wird auch Belegmaterial aus den älteren Entwicklungsphasen des Deutschen herangezogen, wenn es für die Darstellung der Entwicklungsbzw. Grammatikalisierungsprozesse von würde + Infinitiv als hilfreich angesehen wird. Dabei werde ich auf Belege zurückgreifen, die in ausreichender Anzahl in existierender Literatur zum betreffenden Thema (vor allem in DWB) vorhanden sind. Die sekundär aus anderen Arbeiten übernommenen Belege werden immer als solche gekennzeichnet. Die Datenbasis für die vorliegende Untersuchung bilden Belege aus der aus 40 Texten bestehenden Sammlung („Auswahlkorpus“) des Bonner Frühneuhochdeutsch Korpus, die in maschinenlesbarer Form verfügbar sind und von folgender Webseite bezogen werden können: http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/fnhd.9 Die 40 Texte entstammen 10 verschiedenen Sprachlandschaften, jede Sprachlandschaft ist im Korpus durch vier Texte aus vier Zeitschnitten repräsentiert. Die Texte sind nicht immer vollständig in das Korpus aufgenommen, sondern jeweils zu einem Ausschnitt von ca. 30 Normalseiten mit etwa 400 Wörtern. Dieser Umfang reicht aus, um die morphologische Repräsentativität der Texte zu gewährleisten. Im Folgenden werden Quellentexte (in alphabetischer Reihenfolge) aufgelistet, die in der Arbeit analysiert wurden. Die Abkürzungen sind von mir zwecks vereinfachter Zitierweise eingeführt und daher nur für diese Studie spezifisch. Die Ziffern in Klammern entsprechen den dreistelligen Nummern aus dem Bonner Frühneuhochdeutsch Korpus. Die Zugehörigkeit einzelner Texte zur bestimmten Sprachlandschaft und dem Zeitschnitt wird jedenfalls erläutert: [BA] [BS] [DGSC] [DR] [DS] [GLA] [HM] [KD] [LG] [LS] [MM]
= = = = = = = = = = =
Buch Altväter (121) BirkenSpiegel (137) DeoGratiasStClara (117) Durandus Rationale (111) DietrichSummaria (135) GoezLeichAbdankung (257) Herberstein Moskau (115) Kottanerin Denkwrd (113) LavaterGespenster (215) LudolfSchaubühne (247) MerswinMannen (231)
schwäbisch, um 1400 ostfränkisch, 1668 mittelbairisch, 1680 mittelbairisch, 1384 ostfränkisch, 1578 thüringisch, 1664 mittelbairisch, 1557 mittelbairisch, 1445-1452 osthochalemannisch, 1578 hessisch, 1699 elsässisch, zw. 1352-1370
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URL: Das Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus, http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/fnhd.
IKP
–
Universität
Bonn,
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
[NE] [PM] [RA] [RB] [SM] [WJ] [WN]
= = = = = = =
NeidhartEunuchus (123) PillenreuthMystik (133) RaleghAmerika (245) RauwolfBeschreibg (125) SchorerMemmingen (127) WeiseJugendlust (147) WickramNachbarn (235)
schwäbisch, 1486 ostfränkisch, 1463 hessisch, 1599 schwäbisch, 1582 schwäbisch, 1660 obersächsisch, 1684 elsässisch, 1556
Im Belegkorpus sind nicht alle 40 Texte repräsentiert. Dies erklärt sich dadurch, dass von mir nur die Texte aufgenommen wurden, die eine für die Untersuchung ausreichende Anzahl von Belegen mit der Konstruktion würde + Infinitiv (oder auch ward + Infinitiv) liefern konnten. Weitere Textquellen wurden neben den Texten aus dem Bonner Frühneuhochdeutsch Korpus erfasst. Das sind Der Ackermann von Johannes von Tepl, Dyokletanius von Hans von Bühel, Appolonius von Tyrus von Heinrich Steinhöwel und Die verwüstete vnd verödete Schäferey. Diese Texte stammen aus der digitalen Textsammlung Bibloitheca Augustana.10 Es muss betont werden, dass mit der Auszählung der frühneuhochdeutschen Daten keine statistisch relevanten Aussagen intendiert sind. Die Erfassung aller würde-Vorkommen in den Konstruktionen mit Infinitiv oder Partizip Präsens und die oben angesprochene Miterfassung von weiteren werden-Vorkommen in gleichen Konstruktionen hat im Wesentlichen folgende Gründe: Erstens dient sie der Gewinnung authentischer Beispiele, der Erfassung der tatsächlich vorhandenen Gebrauchsweisen der betreffenden Konstruktionen und vor allem der möglichen Übergänge zwischen den ermittelten Phasen der Grammatikalisierung (s. Kap.8.). Zweitens ist bei der Interpretation der würde-Fügungen der Kontext (s. o.) von entscheidender Bedeutung, und zwar häufig nicht nur der Satz, in dem sich die in Frage kommende Form befindet, sondern der Abschnitt bzw. der Text in seiner kommunikativen Funktion und Situierung. Bei den Beispielsätzen kann aus nahe liegenden Gründen immer nur der engere sprachliche Kontext wiedergegeben werden. Es sei jedoch betont, dass die semantische und funktionale Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv (und auch weiteren werden-Fügungen) immer unter Berücksichtigung des Textzusammenhangs stattfand. Drittens dienen die erfassten Datenbelege der Überprüfung der erarbeiteten Hypothesen zur Grammatikalisierung und heutigem Status der Konstruktion würde + Infinitiv. Die Gesamtzahl der Belege aus dem zusammengestellten Korpus für das Frühneuhochdeutsche beläuft sich auf 434; davon sind 164 würdeBelege, einige von denen allerdings keine eindeutige Modusidentifizierung
_____________ 10 Die Texte sind frei verfügbar und können von der folgenden Internetseite bezogen werden: http://www.fh-augsburg.de/~harsch/augustana.html
Methodisches Vorgehen bei der diachronen Untersuchung
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der Verbform aufgrund der Ambivalenz zwischen indikativischen und konjunktivischen Formen jener Zeit erlaubten. Am häufigsten sind im Korpus die Belege mit indikativischem werden + Infinitiv vertreten (235 Belege). Es muss erwähnt werden, dass nicht alle Vorkommen der Konstruktion werden + Infinitiv erfasst werden konnten, weil diese Konstruktion nicht den unmittelbaren Gegenstand der Untersuchung darstellt. Bei der Auswertung der werden-Belege wurde hauptsächlich nach dem Prinzip vorgegangen, diejenigen Strukturen zu erfassen, die syntaktische und semantische Parallelitäten zu den Verwendungskontexten von würde + Infinitiv aufweisen. Es ließ sich im Allgemeinen die Tendenz zur häufigeren Verwendung der Periphrase würde + Infinitiv mit der fortschreitenden Zeit von den Anfängen der frühneuhochdeutschen Epoche bis zur neuhochdeutschen Periode feststellen.
3.4. Methodisches Vorgehen bei der diachronen Untersuchung Die in Kap.8. vorgestellte diachrone Analyse hat zum Ziel, eine Rekonstruktion des Grammatikalisierungsprozesses der Periphrase würde + Infinitiv seit der frühneuhochdeutschen Periode vorzunehmen. Zu jener Zeit waren die Verbindungen von würde mit Infinitiv und teilweise noch mit Partizip Präsens schon feststehende Verbalperiphrasen, in denen das Verb werden als ein formbildendes Auxiliar fungierte. Das waren keine freien syntaktischen Konstruktionen mehr, die sich in zwei selbständige Komponenten separieren lassen. Dennoch kann die funktionale Leistung dieser Konstruktionen kompositionell (s. Kap.1.2.2.) erklärt werden, weil die eigene aktionale (ingressive, mutative) Bedeutung des Verbs werden in den Fügungen noch ziemlich stark präsent ist, was im Laufe der Untersuchung gezeigt werden wird. Wie diese ursprüngliche lexikalische aktionale Basisbedeutung mit der Zeit reinterpretiert wurde und welche textuelle sowie metatextuelle Faktoren diese Interpretation ermöglichten, bedingten, vorantrieben oder blockierten, wird zu klären sein. Im Vorfeld der diachronen Beschreibung der Konstruktion würde + Infinitiv in Kap.8. seien einige Anmerkungen zur Untersuchungsmethode angebracht. Während der Arbeit mit ausgezählten Korpusdaten konnte ich in vielen Fällen nicht darauf verzichten, Überlegungen über Parallelitäten und Diskrepanzen in Verwendung anderer morphologischen Formen der den Untersuchungsgegenstand bildenden Konstruktion, d.h. des präsentischen werden + Infinitiv und des präteritalen ward/wurden + Infinitiv, anzustellen. Deswegen erschien es mir als angemessen, den Blickwinkel nicht nur auf
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
die Vorkommnisse der Konstruktion würde + Infinitiv zu beschränken, sondern diesen auch in manchen Fällen auf die genannten Formen und ihre Verwendungskontexte zu erweitern. Somit kann m.E. der Grammatikalisierungsprozess, den die Fügung würde + Infinitiv durchgemacht hat, im Zusammenhang mit anderen werden-Konstruktionen besser rekonstruiert und nachvollzogen werden, zumal sich einige Prozesse auf das ganze grammatische Paradigma der Konstruktion ausgewirkt haben. Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass für die semantische Interpretation einzelner Belege erhebliches Kontextwissen erforderlich ist. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, nur einzelne, isolierte Sätze (‚vom einem bis zum nächsten Punkt’), welche würde + Infinitiv enthalten, zu dokumentieren und zu untersuchen. So werden in einigen Fällen für die angemessene Interpretation der zu analysierenden Belege größere Textabschnitte herangezogen, welche relevante bzw. hilfreiche Informationen liefern, um die jeweilige Lesart der Fügung zumindest näherungsweise zu erfassen. Im Übrigen werde ich mich an das zu Anfang der Arbeit beschriebene Konzept (Kap.1.2.1.) halten; d.h. die anhand empirischer Analyse ermittelten Daten, Schlussfolgerungen werden zusammengefasst und zum Zweck theoretischer Modellierung abstrahiert, sodass die Möglichkeit geschaffen wird, die relationale Struktur der Fügung zu rekonstruieren. Auf diesem Weg kann die Grammatikalisierung von würde + Infinitiv diachron verfolgt und ein abstraktes Modell konzipiert werden, das einerseits anschaulich ist, andererseits aber auch eine gewisse Universalität beanspruchen kann, insofern dieses Ablaufmodell mutatis mutandis als Grundmuster für die Grammatikalisierung anderer Elemente in der deutschen Sprache oder vergleichbaren Konstruktionen in anderen Sprachen nutzbar gemacht werden kann. Für die diachrone Modellierung des Grammatikalisierungsprozesses werde ich mich im Weiteren auf die in der Grammatikalisierungsforschung existierenden Beschreibungsmodelle stützen, die eine fundierte theoretische Basis dafür bieten. Das sind zum einen das dreistufige Modell der relevanten Kontexte von Diewald (2002) und zum anderen das vierstufige Extensionsmodell von Heine (2002, Heine/ Miyashita 2004). Beide Modelle heben die entscheidende Rolle des Kontextes, in dem das grammatikalisierende Element gebraucht wird, hervor, was sie für die vorliegende Analyse besonders geeignet macht. Im Folgenden seien diese beiden Konzepte kurz erläutert: • das Modell der relevanten Kontexttypen in der Grammatikalisierung wurde von Diewald (2002) anhand der historischen Entwicklung deutscher Modalverben erarbeitet. Dieses Modell unterscheidet zwischen drei Stufen in einem Grammatikalisierungspro-
Methodisches Vorgehen bei der diachronen Untersuchung
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zess, die mit einem bestimmten Kontexttyp in Verbindung gebracht werden können. Das sind untypische Kontexte, kritische Kontexte und isolierende Kontexte: In the first stage, the preconditions for grammaticalization develop. This stage is characterised by an unspecific expansion of the distribution of the lexical unit in question to contexts in which it had not been used before. These contexts are called untypical contexts here. In them, the new meaning, which is going to be grammaticalized in the further development, may arise as a conversational implicature. The second stage marks the actual triggering of the grammaticalization process. It is linked to the rise of a particular type of context, the critical context, which is characterised by multiple structural and semantic ambiguities and thus invites several alternative interpretations, among them the new grammatical meaning. Stage three shows the completion or consolidation of the grammaticalization process. In this phase, the new grammatical meaning is isolated as a separate meaning from the older, more lexical meaning. This separation of the two meanings is due to the development of isolating contexts for both readings, i.e. specific linguistic contexts that favor one reading to the exclusion of the other. (Diewald 2002, 103)
•
das Extensionsmodell von Heine (2002) sieht vier Stufen in einem Grammatikalisierungsprozess vor (Abb. 3-1):
Stufe I Ausgangsstufe II Brückenstufe III Wendestufe IV Konventionalisierung
Kontext Unbeschränkt Ein bestimmter Kontext ruft eine neue Bedeutung hervor Es gibt einen weiteren Kontext, in dem die Ausgangsbedeutung keinen Sinn macht Die Zielbedeutung ist nicht mehr an einen bestimmten Kontext gebunden, sie kann in neuen Kontexten vorkommen
Bedeutung Ausgangsbedeutung Zielbedeutung hervorgehoben Ausgangsbedeutung unterdrückt Zielbedeutung
Abbildung 3-1. Das Extensionsmodell (Heine/Miyashita 2004, 14)
Als Extension wird in diesem Modell ein Prozess bezeichnet, durch den die betreffende Konstruktion und ihre Konstituenten Kontexterweiterung und kontext-induzierte Reinterpretation erfahren. Die betreffende Konstruktion und ihre Konstituenten gewinnen an neuen Eigenschaften, die spezifisch für ihren neuen Gebrauch sind. Die Modelle von Diewald (2002) und Heine (2002) unterscheiden sich insofern, dass sie verschiedene Aspekte der Grammatikalisierung in den Vordergrund stellen und beschreiben: während das Kontextmodell von Diewald (2002) strukturelle und morphologische Eigenschaften der
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Die Diachronie von würde + Infinitiv
grammatikalisierenden Elemente und ihrer Verwendungskontexte akzentuiert, fokussiert das Modell von Heine (2002) auf semantische Veränderungen in bestimmten Kontexten. Diese Differenzierungen führen dazu, dass diese beiden Modelle, die prinzipiell kompatibel sind, nicht völlig analog behandelt werden können. Die Entwicklungsstufen und Kontexttypen im jeweiligen Modell können daher nicht ohne weiteres miteinander gleichgestellt werden: For example, Heine’s „bridging context“, which he describes as „a specific context giving rise to an inference in favor of a new meaning“ so that the „target meaning [is] foregrounded”, would have to be subsumed partly under the untypical context and partly under the critical context. It cannot be fully identified with the latter one because the critical context is defined by semantic and structural ambiguity. Furthermore, the critical context does not persist in later stages, while the context described by Heine form an “implicational scale”, which means that “if a given language is found to have a stage IV situation [the last stage in the grammaticalization process], then it can be expected to also distinguish all preceding stages.” The “switch context” of Heine’s model, which is “incompatible with the source meaning”, resembles the isolating contexts of the model suggested here. However, it should be noted that there are two isolating contexts (one for the lexical and one for the grammatical reading), which are in semantic and structural opposition, not only one context that excludes the lexical reading by semantic constrains. Furthermore, both isolating contexts are new developments that have become possible because of changes external to the grammaticalizing items. Thus, though principally compatible, both models focus on different aspects of grammaticalization process. (Diewald 2002, 117)
Bei der diachronen Untersuchung der Entwicklung von würde + Infinitiv werden allerdings beide Modelle angewendet. Der Grund dafür ist vor allem die Tatsache, dass es im Falle der werden-Konstruktionen manchmal schwer zu entscheiden ist, ob bestimmte strukturelle Besonderheiten im Kontext gegeben sind. Außerdem betrachte ich die Entwicklung von würde + Infinitiv als einen komplexen Prozess, der nicht in der Herausbildung einer grammatischen Form endet (oder enden wird), sondern im Output (als target-meaning) zwei Lesarten bzw. Varianten hat („analytischer Konjunktiv II“ und „epistemisch-evidentielle“ Variante). Dies lässt vermuten, dass i) der Grammatikalisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist; ii) die Verwendungskontexte von würde + Infinitiv, die zu unterschiedlichen Interpretationen geführt haben können, nicht exakt auseinander gehalten werden können und dass iii) die Faktoren, die die Entwicklung von würde + Infinitiv beeinflusst haben, sehr mannigfaltig sind und manchmal auch außerhalb der Verwendungskontexte zu suchen sind (z.B. die Umstrukturierung und Umdeutung des Konjunktivparadigmas im Laufe der Zeit; lautlicher und formeller Zusammenfall einiger indikativischen und konjunktivischen Formen etc.).
4. Evidentialität Die semantisch-funktionale Domäne Evidentialität und ihre sprachliche Realisierung sind erst in jüngerer Zeit zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung geworden. Den Anlass dazu gaben zahlreiche Untersuchungen einzelner Sprachen, die ein komplexes grammatisches Inventar zum Ausdruck evidentieller Bedeutungen aufweisen (siehe z.B. Sammelbände Chafe/ Nichols 1986, Johanson/Utas 2000, Aikhenvald/ Dixon 2003). Diese führten ferner zu typologischen Studien zu Evidentialität, die als Ergebnis präsentieren konnten, dass die Kategorie Evidentialität kein einzelsprachliches Phänomen ist, sondern sprachübergreifend nachweisbar ist. Während Evidentialität allerdings in einigen Sprachen eine ausgebaute grammatische Kategorie darstellt (z.B. Makah (Jacobsen 1986), Quechua (Weber 1986), Tibetisch (DeLancey 1986), Akha (Thurgood 1986), Tariana (Aikhenvald 1986)), die unter anderem obligatorische Verwendung evidentieller Markierungen erfordert, kann sie in anderen Sprachen nur auf lexikalischer Ebene (d.h. nicht oder nicht vollständig grammatikalisiert) zum Ausdruck gebracht werden (z.B. in indogermanischen Sprachen). Eine ausführliche Beschreibung der Domäne Evidentialität und der gegenwärtigen Diskussion hinsichtlich der Bestimmung ihres kategorialen Status, sowohl sprachspezifisch als auch aus typologischer Perspektive, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In diesem Abschnitt werde ich zunächst ein Modell zur Beschreibung der Evidentialität als einer deiktischen grammatischen Kategorie in allgemeinen Zügen vorstellen1. Des Weiteren folgt eine kurze Darstellung von Evidentialitätsmarkern, die in der heutigen deutschen Sprache als solche eingeordnet werden (zu denen m.E. auch die Konstruktionen werden und würde + Infinitiv gehören). Angemerkt sei, dass die Bezeichnung „Evidentialitätsmarker“ normalerweise nur auf grammatische Elemente angewendet wird, deren Kern-
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Es sei dennoch auf einige der zahlreichen Arbeiten zum Thema Evidentialität verwiesen, die für diese Arbeit, wenn auch nicht immer direkt, von Belang sind (allerdings ohne Anspruch auf die Vollständigkeit der angeführten Liste, da diesem Thema in letzter Zeit zusehends Aufmerksamkeit geschenkt wird): Chafe/ Nichols 1986; de Haan 1998, 1999, 2005; Journal of Pragmatics 33(3), 2001; Faller 2002; Givón 1982; Ifantidou 2001; Nuyts 2001; Papafragou 2000; Speas 2004; Willett 1988; Diewald 2005; Aikhenvald/ Dixon 2003; Abraham 1998 u.v.a.).
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Evidentialität
funktion darin besteht, den dargestellten Sachverhalt (die Proposition) innerhalb der deiktischen Dimension Evidentialität zu verorten (wie die Dimension Evidentialität in dieser Arbeit aufgefasst wird, wird weiter unten erörtert). Lexikalische Einheiten oder syntaktische Konstruktionen mit vergleichbarer Bedeutung fallen folglich nicht unter diesen Begriff. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich allerdings mit der deutschen Sprache, welche bekanntlich keine „reinen“ Evidentialitätsmarker besitzt, sondern einige sprachlichen Elemente und Strukturen aufweist, die sich „auf dem Wege“ der Grammatikalisierung zu evidentiellen grammatischen Zeichen befinden. Diese werden im Folgenden der Einheitlichkeit halber als Evidentialitätsmarker bezeichnet. Die Ausdrucksmittel evidentieller Bedeutung anderer Sprachen, die Evidentialität als eine grammatische Kategorie realisieren, werden dann in Opposition dazu „reine Evidentialitätsmarker“ genannt.
4.1. Semantischer Kerngehalt der Kategorie Evidentialität Als distinktiver semantischer Kern aller Evidentialitätsmarker gilt, dass sie die Quelle kennzeichnen, aus der die Information stammt, die in der Proposition dargestellt ist. In diesem Punkt sind sich die meisten Forschungsberichte einig: Evidentials may be generally defined as markers that indicate something about the source of the information in the proposition. (Bybee 1985, 184) Evidentials express the kinds of evidence a person has for making factual claims. (Anderson 1986, 273) … how the speaker obtained the information on which s/he bases an assertion. (Willett 1988, 55) Evidentiality refers to the source of evidence the speaker has for his statement. (de Haan 2001, 203) The term ‘evidentiality’ literally evokes the notion of evidence: the sources from which a speaker comes to know something that they want to express in language. (Mushin 2001, 18) Evidentiality proper is understood as stating the existence of a source of evidence for some information; this includes stating that there is some evidence, and also specifying what type of evidence there is. (Aikhenvald 2003, 1)
Die Kennzeichnung der Informationsquelle ist also der distinktive Bestandteil der Bedeutung einer sprachlichen Einheit, die als Evidentialitätsmarker fungiert. „Das definierende Merkmal der Evidentialitätsmarker ist [...], dass sie explizit zum Ausdruck bringen, dass der Sprecher Beweise – Evidenzen – für seine Sachverhaltsdarstellung hat“ (Diewald 2004, 236).
Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension
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Das Vorhandensein bestimmter Evidenzen (Informationen), die der Sprecher bei der Darstellung eines Sachverhalts heranzieht, wird durch die Verwendung von Evidentialitätsmarkern explizit gemacht. Die Nennung oder der Verweis auf eine Informationsquelle ist somit der eigentliche „evidentielle“ Beitrag, der von solchen Elementen geleistet wird, und diese Information ist als zusätzliche zum propositionalen Gehalt der Aussage zu betrachten: „evidentials are not themselves the main predication of the clause, but are rather a specification added to a factual claim about something else“ (Anderson 1986, 274).
4.2. Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension Ich betrachte die Kategorie Evidentialität im Folgenden als eine deiktisch determinierte Dimension. Im Wesentlichen den Ausführungen von Bühler ([1934]1999), Schmid (1983), Rauh (1984) und Diewald (1991) folgend, versuche ich zu zeigen, dass Evidentialität sich als eine deiktisch determinierte Domäne beschreiben lässt. Deiktische Ausdrücke werden im Allgemeinen als solche definiert, die egozentrisch-lokalistisch determiniert sind. Egozentrisch meint den Bezug zu einem egozentrischen Orientierungspunkt, welcher der obligatorische Teil jeder deiktischen Bedeutung ist (die Origo): Für die indexikalische Bedeutung [deiktischer Ausdrücke] ist entscheidend, dass, bedingt durch die Abhängigkeit von der Situation des Kodierers, der Referent eines deiktischen Ausdrucks nur dann identifiziert werden kann, wenn das Orientierungszentrum identifiziert ist. [...] Da das Inbezugsetzen von Gegenständen (im allgemeinen Sinn) zum Orientierungszentrum, dem Ich des Kodierers, durch deiktische Ausdrücke erfolgt, ist dieser Ich-Bezug Teil ihrer symbolischen Bedeutung. Das heißt, unabhängig von dem Kontext, in dem sie verwendet werden, designieren zum Beispiel temporaldeiktische Ausdrücke wie gestern oder morgen immer den Bezug zu einem egozentrischen temporalen Orientierungspunkt, lokaldeiktische Ausdrücke wie hier oder da den Bezug zu einem egozentrischen lokalen Orientierungspunkt und personaldeiktische Ausdrücke wie du oder er den Bezug zu einem egozentrischen personalen Orientierungspunkt. Da der Bezug zu einem egozentrischen Orientierungspunkt für alle deiktischen Ausdrücke typisch ist, gehört diese Eigenschaft zur deiktischen Determination. (Rauh 1984, 28f.) Die Origo als der Ausgangspunkt des deiktischen Prozesses ist in der Sprecherrolle verankert. Daraus, dass bei der Wahrnehmung das wahrnehmende Subjekt Zentrum und Ausgangspunkt ist, folgt, dass dieses Subjekt, sobald es die Sprecherrolle übernimmt, seine Perspektive in die Sprache überträgt. Das sprechende Ego ist der Sitz der Origo, von der ausgehend die „Welt“ sprachlich geordnet und dargestellt wird. Der unabänderlich gegebene Egozentrismus des Men-
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Evidentialität
schen ist also die Ursache dafür, dass die Origofestlegung an die Sprecherrolle gekoppelt ist. (Diewald 1991, 28) [Hervorhebungen im Original] Die kanonische Äußerungssituation ist egozentrisch in dem Sinne, dass der Sprecher, weil er Sprecher ist, die Rolle des Ego mit sich selbst besetzt und alles aus dieser Perspektive sieht. Er befindet sich am Nullpunkt der Zeit-RaumKoordinaten des, wie wir es nennen wollen, deiktisches Kontextes. (Lyons [1977]1983, 250) [Hervorhebung E.S.]
Lokalistisch beschreibt den Aspekt deiktischer Ausdrücke, der sich „auf die Art des Inbezugsetzens von Gegenständen (im allgemeinen Sinn) relativ zum Orientierungszentrum bezieht, der die Oppositionen deiktischer Ausdrücke innerhalb einer Dimension [z.B. lokal, temporal, personal] untereinander relativ zum jeweiligen Orientierungspunkt determiniert“ (Rauh 1984, 29). Die Konzeption der egozentrisch-lokalistischen Determination basiert darauf, dass um einen zentralen Orientierungspunkt2 herum Bereiche nach bestimmten Kriterien differenziert werden. Rauh (1984, 32) stellt drei allgemeine, egozentrisch-lokalistische Kriterien für die Differenzierung von Bereichen innerhalb der lokalistischen Dimension fest: a) ‚Kodierungsort’, b) ‚in Verbindung mit dem Kodierungsort’, c) ‚nicht in Verbindung mit dem Kodierungsort’. Zusätzlich können auch sprachspezifisch weitere, weniger allgemeine Kriterien für die Differenzierung von den genannten Bereichen identifiziert werden. Sprachübergreifend werden aber diese drei allgemeinen Kriterien als relevant gesetzt. Dies lässt sich grafisch folgendermaßen darstellen:
_____________ 2
Der Orientierungspunkt/das Orientierungszentrum ist hier mit dem Bühlerschen Begriff der Origo gleichzusetzen. Bühler ([1934]1999, 102f.) bezeichnet die Origo als „Koordinatenausgangspunkt“ für das „Koordinatensystem der ‚subjektiven Orientierung’, in welcher alle Verkehrspartner befangen sind und befangen bleiben“.
Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension
personal
c
c b
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temporal
b b
a
c lokal
Oz (l0, t0, P0...) Schema 4-1. Drei Bereiche innerhalb der deiktischen Dimension (Rauh 1984, 35)
Die Grafik zeigt, dass um das Orientierungszentrum, das sich aus den einzelnen Orientierungspunkten konstituiert, zentrifugal in jeder Dimension in gleicher Weise drei Bereiche differenziert werden, von denen der erste (a) identisch ist mit dem jeweiligen Orientierungspunkt, der zweite (b) mit dem Orientierungspunkt in direkter Verbindung steht und der dritte (c) keine Verbindung zum Orientierungspunkt hat. Ebenso wie diese Bereiche dargestellt werden, werden auch deiktische Ausdrücke, die zur Bezeichnung dieser Bereiche verwendet werden, deiktisch, d.h. egozentrischlokalistisch, determiniert. In der Bestimmung des Orientierungszentrums oder der Origo schließe ich mich allerdings den Ausführungen von Diewald (1991) an, die die Origo selbst als einen abstrakten Begriff formuliert, „von dem aus die Dimensionen zwar aufgebaut werden (jede Dimension hat ihren Nullpunkt in der Origo), der aber nicht mit den Denotaten von Zeigwörtern, den Deixisobjekten, identifiziert werden darf. Die von Bühler genannten ‚Grundzeigwörter’ [hier, jetzt, ich] denotieren wie alle ‚nahdeiktischen’ Ausdrücke ein Deixisobjekt, das den Bereich, in dem sich die Origo befindet, mit einschließt. Die Origo selbst kann und muss nicht denotiert werden: sie ist mit der Sprecherrolle gegeben. Selbst mit ‚ich’ bezeichnet der Sprecher nicht die Origo, sondern ein Deixisobjekt der personalen Dimension, und zwar das nahdeiktische, origoinklusive, d.h. sich selbst“ (Diewald 1991, 31). Somit meint der ‚Kodierungsort’ oder der mit (a) definierte Bereich in Schema 4-1 die Origo selbst als einen abstrakten
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Evidentialität
Nullpunkt. Schon die grafische Darstellung in Schema 4-1 zeigt, dass es kein Bereich, sondern ein Punkt ist, zu dem alle deiktischen Werte in Relation gesetzt werden. ‚Der Kodierungsort’ (a) steht dementsprechend nicht für ein Deixisobjekt oder für einen deiktischen Wert, der dem bezeichneten Deixisobjekt in jeweiliger Dimension zugewiesen wird, sondern ist lediglich der Bezugspunkt, die Origo. Die von Rauh (1984) vorgeschlagene Dreiteilung der deiktischen ‚Entfernungsstufen’ in (a), (b) und (c)-Bereiche wird hier also nicht übernommen. Stattdessen wird das zweiteilige Modell bevorzugt, das auf der grundlegenden binären Unterscheidung „origoinklusiv“ vs. „origoexklusiv“ besteht (d.h. Bereiche (a+b) vs. (c) in Schema 4-1).3 An dieser Stelle möchte ich auf weitere Kriterien deiktischer Determination eingehen, die für die folgende Analyse zusätzliches Erklärungspotenzial bieten, wenn es um sprachspezifische Ausprägungen und Differenzierungen innerhalb der evidentiellen deiktischen Dimension geht. Schmid (1983) schlägt für die Beschreibung des Grundsystems der deiktischen Dimensionen vier Merkmale vor: α) Thema (beschreibbar auch als „Kodierungsort“, Origo); β) direkte Relation zu (α) (= „in Verbindung mit dem Kodierungsort“); γ) Gültigkeitsbereich von (αβ) (lässt sich paraphrasieren als „Grenze zwischen Bereichen [‚Kodierungsort’ + ‚in Verbindung mit dem Kodierungsort’] und ‚nicht in Verbindung mit dem Kodierungsort’); δ) Determination in (γ).
Diese Merkmale, positiv und negativ spezifiziert und zu Merkmalkombinationen zusammengefasst, führen zu der Formation von sechs Kategorien, die das allgemeine Potential deiktischer Kategorien konstituieren. Diese Merkmalkombinationen wurden in Anlehnung an Schmids Merkmalshierarchie (1983) von Rauh (1984, 37) aufgestellt (ich bilde diese Zuordnung gleich mit den von Rauh gegebenen Paraphrasen und Beispielen für die personale deiktische Dimension ab, teils von mir ergänzt): D1 = [+α, -β, -γ, -δ] - „der Kodierungsort“ D2 = [-α, +β, -γ, -δ] - „in Verbindung mit dem Kodierungsort“ D3 = [-α, -β, +γ, +δ] - „näher bestimmt innerhalb des Bereichs (a+b)“ D4 = [-α, -β, +γ, -δ] - „nicht näher bestimmt innerhalb des Bereichs (a+b)“ D5 = [-α, -β, -γ, +δ] - „näher bestimmt innerhalb des Bereichs (c)“ D6 = [-α, -β, -γ, -δ] - „nicht näher bestimmt innerhalb des Bereichs (c)“
Diese Merkmalskombinationen beschreiben Kriterien, die nicht allgemeinsprachlich und auch nicht für alle erfassbaren deiktischen Dimensionen
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Ausführlicher zu der Rechtfertigung eines zweistufigen Modells gegenüber der Dreiteilung sieh Diewald (1991).
Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension
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relevant sind.4 „Sie sind jedoch notwendig, wenn es um eine vollständige Beschreibung der symbolischen (lexikalischen) Bedeutung deiktischer Ausdrücke geht“ (Rauh 1984, 40). Sie sind ferner für die hier angedeutete Beschreibung von Evidentialitätsmarkern von Nutzen, weil sie mögliche sprachspezifische Subklassifizierungen der allgemeinen, sprachübergreifend relevanten Bereiche zu erklären vermögen. Es ist daher keine Ausnahmesituation, sondern eher der Normalfall, wenn einige Sprachen mehr oder weniger detaillierte Differenzierungen innerhalb der evidentiellen deiktischen Dimension aufweisen als andere. Das Merkmal (δ), welches sich nicht einfach beschreiben lässt5, da es von Kategorie zu Kategorie anders bestimmt werden kann und deswegen nur abstrakt als „Determination in (γ)“ von Schmid definiert wird, ist dennoch wichtig für die hier vorgenommene Untersuchung. Die Annahme dieses Merkmals erweist sich als hilfreich, wenn es um die Differenzierung und Hierarchisierung von evidentiellen Bedeutungen und damit auch von Evidentialitätsmarkern geht (vor allem für die Einordnung von inferentials und reportives). In einem grundlegenden Punkt scheidet sich meine Auffassung der Differenzierungen innerhalb einer deiktischen Dimension von den Ausführungen von Rauh (1984) und Schmid (1983). Das für jede deiktische Kategorie variierende „noch-zu-definierende“ Merkmal (δ) kann m.E. nur
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Als ein einleuchtendes Beispiel für mögliche unterschiedliche sprachspezifische Realisierung der Differenzierungen innerhalb einer deiktischen Dimension möchte ich hier ein Beispiel aus Rauh (1984, 44f.) bringen. Das Deutsche sowie das Englische differenzieren eindeutig zwischen deiktischen Kategorien D1 und D2 innerhalb der personaldeiktischen Dimension (ich/I vs. du/you), nicht aber innerhalb der lokaldeiktischen Dimension (hier/here). Hier/here kann sowohl als „Kodierungsort“ als auch als „in Verbindung mit dem Kodierungsort“ heißen (vgl. (a) vs. (b)): (a) Where are you? – Here! Wo bist du? – Hier! (b) What are you doing here? Was machst du denn hier? Die Sprache Kikuyu aber differenziert genau diese beiden Funktionen auch lexikalisch, und zwar durch haha (D1) und gu̘ku̘ (D2). Rauh (1984, 39f.) merkt an, dass das Kriterium (δ) für Ausgrenzung spezifischer Bereiche innerhalb bereits differenzierter besonders gut geeignet ist, weil es die Funktion einer Kategorie übernehmen kann, die nach unterschiedlichen Kriterien analysiert werden kann. „Ist zum Beispiel das Kriterium der Position des Adressaten relevant, so kann [+δ] subkategorisiert werden durch [lp2] (l = Lokalität, p2 = D2 innerhalb der personalen Dimension = Adressat). Da die Position des Adressaten innerhalb von (c), zum Beispiel bei Telefongesprächen oder schriftlicher Kommunikation, lokalisiert sein kann, kann [+δ [lp2]] theoretisch sowohl in Kombination mit [+γ] als auch mit [-γ] auftauchen.“ Aus diesen Gründen bietet sich dieses zusätzliche Merkmal auch für die Beschreibung der Kategorie Evidentialität an, die nur sehr schwierig eine lineare Hierarchisierung nach nur einem Kriterium erlaubt.
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Evidentialität
für die „entfernten“ deiktischen Werte, d.h. für die Werte, die im origoexklusiven Bereich (c) des Schemas 4-1 liegen, eingeführt werden. In dieser Hinsicht stütze ich meine Überlegungen auf die Markiertheitstheorie von Jakobson ([1939]1974). Die Markiertheitstheorie enthält keine direkten Ausführungen diesbezüglich, und dennoch kann man daraus schlussfolgern, dass weitere Unterscheidungen innerhalb der „übergeordneten“ Oppositionen nur für markierte bzw. merkmalhafte Glieder dieser getroffen werden können. Sobald die binäre Opposition markiert vs. unmarkiert besteht, werden Möglichkeiten eröffnet, eine weitere binäre Opposition aufbauen zu können. Das unmarkierte Glied der ersten, „übergeordneten“ Opposition kann in die weitere Unterscheidung nicht mehr aufgenommen werden, da es schon das Nicht-Vorhandensein eines Merkmals ausdrückt, welches ab jetzt als Grundlage für weitere Differenzierungen vorausgesetzt wird. D.h., sobald die grundlegende Opposition für z.B. Kategorie NUMERUS aufgebaut wird, die darin besteht, Singular und Plural zu unterscheiden, können weitere Differenzierungen für Plural und nicht für Singular getroffen werden. Diese Möglichkeit nutzen einige Sprachen, die beispielsweise zwischen einem Dual und einem Plural unterscheiden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Spezifizierungen innerhalb des Bereichs (a+b) in Schema 4-1 durch dasselbe Merkmal (δ), das auch für die Weiterdifferenzierungen innerhalb des Bereichs (c) einer deiktischen Dimension bemüht wird, nicht treffend. Die nochmalige Einführung eines Merkmals, das den gleichen Wert besitzt wie das für die primäre Unterscheidung verantwortliche Merkmal (γ) würde nur für Verwirrungen sorgen. Das zusätzliche Merkmal (δ) ist also nur dann sinnvoll anzuwenden, wenn es für weitere Spezifizierungen innerhalb des „markierten“ Bereiches (c) nützlich gemacht werden kann. Für die weiter unten folgende Beschreibung der evidentiellen deiktischen Dimension (und auch für jede andere deiktische Dimension) hat diese Feststellung zur Folge, dass die Einführung zusätzlicher Bezugspunkte (oder unterscheidender Merkmale) nur für die origoexklusiven bzw. origofernen Werte erfolgen wird. Diese als zusätzlich für die origoexklusiven Werte angenommene mögliche Differenzierung gehört m.E. noch zu der unmittelbaren Bestimmung kategorialer deiktischer Werte. Diese Differenzierung kann unter anderem durch die Einführung des Aspekts „Modi des Zeigens“ beschrieben werden. Dagegen können andere periphere oder stilistisch- oder registerbedingte Interpretationen einiger deiktischen Zeichen nicht mehr unmittelbar aus ihrer deiktischen Natur erklärt werden, sondern sie sind eher lexikalisch, stilistisch etc. begründet.
Das Modell zur Beschreibung einer deiktisch determinierten Dimension
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Kurz gefasst, das in diesem Abschnitt erarbeitete Modell zur Beschreibung eines deiktischen Dimension sieht vor, dass für jede Dimension: 1. ein abstrakter Nullpunkt oder ein Orientierungszentrum – die Origo – angesetzt wird. Dieser Bezugspunkt ist an den aktuellen Sprecher gekoppelt („egozentrisch“) und bildet die Maßeinheit für die Zuordnung aller deiktischen Werte bzw. Deixisobjekte innerhalb der gegebenen Dimension. 2. zwei obligatorische Bereiche differenziert werden, die sich in lokalistischen Begriffen beschreiben lassen, insofern sie nach der Entfernung der Deixisobjekte bezüglich der Origo „gemessen“ werden: „origonah“/ “origoinklusiv“ vs. „origofern“/ “origoexklusiv“. Hierbei kann der origoinklusive Bereich (und somit diejenigen deiktischen Werte, die in diesen Bereich gehören) einer deiktisch determinierten Dimension als der „unmarkierte“ bzw. „merkmallose“ Bereich bezeichnet werden, während der origoexklusive Bereich die Bezeichnung „markiert“ bzw. „merkmalhaft“ bekommt. 3. weitere, oft sprachspezifische Differenzierungen innerhalb einer deiktischen Dimension werden im markierten bzw. origoexklusiven Bereich vorgenommen, indem ein zusätzliches Kriterium oder Merkmal eingeführt wird, das für Subklassifizierungen der schon getroffenen Unterscheidung sorgt. Im Folgenden gilt also zu untersuchen, ob sich die Kategorie Evidentialität nach den oben genannten egozentrisch-lokalistischen Kriterien beschreiben lässt. Bevor ich dennoch zu der eigentlichen Beschreibung der Evidentialität als einer deiktischen Kategorie übergehe, möchte ich noch kurz auf die Bühlersche Unterscheidung der „Modi des Zeigens“ eingehen (für eine ausführliche Behandlung vgl. Bühler ([1934]1999). Bühler ([1934]1999) behandelt die Modi des Zeigens als verschiedene Ausprägungen oder Subtypen des deiktischen Prozesses. Es bestehen drei Möglichkeiten, die grundlegende deiktische Relation, die von der Origo ausgeht, in verschiedener Hinsicht zu versetzen, was sowohl das Orientierungszentrum als auch die dazu über Deiktika in Relation gesetzten Gegenstände (Entitäten) betrifft. Diese Möglichkeiten werden „Modi des Zeigens“ genannt. Die Relation zwischen aktueller Origo und denotierter Entität bezeichnet Bühler ([1934] 1999, 80) „demonstratio ad oculos et ad aures“, sie ist die Basis, der „ursprünglichste Modus des Zeigens“ (Bühler [1934] 1999, 309), von dem die übrigen Zeigmodi abgeleitet sind. Für diesen Fall gilt, dass hier „sowohl der Kodierer als auch die Gegenstände, die qua
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Evidentialität
Deiktika zum Orientierungszentrum Sprecher in Relation gesetzt werden, zur kanonischen Sprechsituation gehören, also anwesend sind“ (Rauh 1984, 68). Der zweite Zeigmodus ist die „Deixis am Phantasma“ (Bühler [1934]1999, 80, 123 ff.) oder auch „Versetzungsdeixis“ (Sehnholz 1985, 224) genannt. In diesem Fall sind nicht die aktuelle Origo und das aktuelle Zeigfeld die Grundlage der Relation, sondern eine zweite Origo und ein imaginiertes, fiktives oder erinnertes Zeigfeld. Der Kodierer gibt sein reales, aktuelles Orientierungszentrum auf und etabliert ein anderes Orientierungszentrum in einem Vorstellungsraum, einem Raum der Erinnerung oder der „konstruktiven Phantasie“ (Bühler [1934]1999, 123), auf das die Gegenstände dieses Raumes in Relation gesetzt werden. Wichtige Anwendungsbereiche der Versetzungsdeixis sind z.B. die verschiedenen Formen der indirekten Rede (vgl. Rauh 1978) und das so genannte historische Präsens (Rauh 1984, 71 f.; Diewald 1999, 171). Der dritte Zeigmodus ist der „Gebrauch der Zeigwörter als Anaphora“ (Bühler [1934]1999, 121 f., 385 ff.). Dieser besteht „in einer vollständigen Verlagerung der gerichteten Relation aus der Sprechsituation in die Linearität der Sprachproduktion“ (Diewald 1999, 171). Je nach Verweisrichtung wird zwischen anaphorischer und kataphorischer Verweisung unterschieden, daher kann dieser Modus des Zeigens allgemein „phorisch“ genannt werden (vgl. Diewald 1999, 171 f.). Diese drei Modi des Zeigens kommen auch bei grammatischen Zeichen zur Realisierung (Diewald 1999, 172; Leiss 1992, 152, 172). Verschiedene Modi des Zeigens können sich in einer grammatischen Kategorie vermischen und überlagern (vgl. die Darstellung der Moduskategorie im Deutschen in Diewald 1999). Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass dies bei der Kategorie Evidentialität auch der Fall ist.
4.3. Evidentialität als deiktisch determinierte Dimension Evidentialität wurde bereits von Jakobson (1974, 41) als eine deiktische Kategorie oder „Verschieber“ beschrieben: „EVIDENZ schlagen wir vor als Beschreibung für die Verbkategorie, die drei Aspekte in Betracht zieht – ein berichtetes Geschehen, einen Sprechakt und einen berichteten Sprechakt, nämlich die angebliche Informationsquelle des berichteten Geschehens. Der Sprecher berichtet ein Geschehen aufgrund der Erzählung von jemand anderem (zitierend, d.h. Hörensagenevidenz), eines Traumes (Offenbarungsevidenz), einer Vermutung (vermutende Evidenz) oder seiner eigenen früheren Erfahrung (Erfahrung aufgrund der Erinnerung).“ Das Wichtige an dieser Definition ist, dass Jakobson den Bezugspunkt als
Evidentialität als deiktisch determinierte Dimension
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„Informationsquelle“ bezeichnet, die als Grund für das Berichten eines Geschehens gilt. Der Frage, wie der Bezug auf die Informationsquelle weiter differenziert und klassifiziert werden kann (zusätzlich zu den von Jakobson angeführten Beispielen), wird weiter unten nachgegangen. Viele der gegenwärtigen Ansätze zur typologischen Beschreibung der Evidentialität tendieren dazu, diese als eine deiktische Kategorie zu sehen (Joseph 2003, Mushin 2001, Maslova 2003, de Haan 2001, 2005): These various concerns [...] bring to mind the Jacobsonian notion of “shifters”. […] Since shifters typically involve deixis, evidentiality in part at least may well be thought of therefore as connected to matters of deixis, in that in systems that overtly mark evidentiality, utterances typically include indicators pointing directly to particular sources or away from potential sources, as the speaker takes a particular point of view in describing an action. (Joseph 2003, 308) We are now ready to consider evidentials as a deictic phenomenon. […] The only way in which Wintu verbs locate events with respect to speakers similar to English tense deixis is with the evidential suffixes. […] English uses tense deixis to place a statement with respect to the time its truth depends on; Wintu employs evidential deixis to place an event in the context of the other events which are entailed by it. (Schlichter 1986, 57 f.) Evidentiality can also be characterised as a deictic category, one that functions to index information to some point of origin (Bühler’s ‘origo’). […] Evidential markers are deictic because they index information to the conceptualiser who makes an epistemological judgement. In context, the choice of evidential categories (e.g. witness or report) serves to select the deictic origin – the one from which all temporal, spatial and identifying information can be calculated. (Mushin 2001, 33) A recent proposal is to analyze evidentiality not as modal, but as deictic category. [There are] the connections between spatial deictic elements such as demonstratives, temporal deictic elements, such as tense, and evidential elements. In all cases, the morphemes in question denote the distance between the speaker and: an object (spatial), time (temporal) and the entire proposition (evidential). (de Haan 2005, 51)
Ich werde im Folgenden versuchen, die Evidentialität anhand der typologischen Arbeiten, die mir vorliegen, und teilweise auch anhand einiger sprachspezifischer Untersuchungen mithilfe des in Kap.4.2. erarbeiteten Modells zu beschreiben. 4.3.1. Die grundlegende Opposition [DIREKT] vs. [INDIREKT] Die Bezeichnung “Evidentialität”, die sowohl auf die grammatische Kategorie als auch auf die mit dieser Kategorie enkodierte kognitivsemantische Domäne angewendet wird, deutet daraufhin, dass es hier pri-
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Evidentialität
mär um die Kodierung einer Informationsquelle geht, die als Evidenz für die geäußerte Proposition gilt bzw. Evidenzen dafür liefert. Jede Äußerung, die diesbezüglich markiert ist, d.h. durch die Verwendung eines Evidentialitätsmarkers gekennzeichnet ist, enthält den Verweis auf (vorerst nur vage formuliert) „irgendeine“ Informationsquelle (Evidenz). Und eben diese Informationsquelle oder zumindest das Vorhandensein einer Informationsquelle ist es, was ein Evidentialitätsmarker kodiert (siehe dazu Faller 2002). Mögliche Implikaturen, die sich aus der Interpretation einzelner Evidentialitätsmarker ergeben, gehören demnach nicht zur Kernbedeutung dieser Zeichen.6 Evidentialitätsmarker (und hier meine ich in erster Linie „reine“ Evidentialitätsmarker) sind deiktische Zeichen im Sinne einer grammatischen Kategorie (Kap.4.3.2.1.). Sie können mit allem Recht als solche beschrieben werden, wenn man die allgemeine Natur der Deiktika in Betracht zieht.7 Bekanntlich enthält ein Deiktikon in seiner Bedeutung zwei Bestandteile: einen zeigenden und einen nennenden. Die erste Komponente beinhaltet das Zeigen auf den Ausgangspunkt, die Origo („reflexiver Bezug“ nach Diewald 1991) und das Hinweisen auf den Zielpunkt, das zudenotierende Deixisobjekt („demonstrativer Bezug“). Die zweite, nennende Komponente verortet das Deixisobjekt in einer bestimmten deiktischen Dimension (lokal, personal, temporal usw.) und bestimmt zugleich die Entfernung zwischen dem Deixisobjekt und der Origo innerhalb dieser Dimension (in den erwähnten Stufen origoinklusiv und origoexklusiv). Und für die („reinen“) Evidentialitätsmarker sind diese beiden Komponenten gegeben. Als Deixisobjekt für die evidentielle Dimension wird die Proposition angenommen, da Evidentialität analog zu solchen grammatischen Kategorien wie Tempus und Modus als Satzkategorie fungiert, die den propositi-
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Vgl. z.B. Hardmann (1986, 114 f.) zu Evidentialitätsmarkern in Jaqi: „Truth value is not directly involved – i.e., no one data-source is seen to be more ‘true’ than any other. However, accuracy on the part of the speaker is a crucial element in the public reputation of individuals; misuse of data-source is somehow somewhat less than human, or is insulting to the listener. Truth and certainty are byproducts of data-source marking, rather than primary ingredients, although source and certainty may be interwoven.” Oder auch Anderson (1986, 274) zu allgemeiner typologischen Bestimmung von Evidentialitätsmarkern: “Evidentials have the indication of evidence as their primary meaning, not only as a pragmatic inference.” Da ich hier keine umfassende Beschreibung der Evidentialität als einer deiktischen Kategorie vorstellen will (vor allem aus Zeit- und Platzgründen, da eine solche Untersuchung die Ausmaße eines ganzen Buches annehmen würde), möchte ich an dieser Stelle auf einige Studien zur Deixis hinweisen, die für die hier vorgestellten Ansichten eine konstitutive Rolle gespielt haben: Brugmann 1904, Jacobson 1974, Bühler [1934]1982, Lyons [1977]1983, Rauh 1984, Langacker 1985, Sennholz 1985, Diewald 1991, 1999.
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onalen Skopus hat, d.h. den ganzen dargestellten Sachverhalt mit einer evidentiell deiktischen Einordnung versieht. Als erstes für die weitere Beschreibung gilt es, das Orientierungszentrum oder den Nullpunkt, d.h. die Origo, den abstrakten Bezugspunkt innerhalb der evidentiellen deiktischen Dimension zu definieren. Die Origo ist der Ausgangspunkt der gerichteten Relation des Zeigens (und hier offenbart sich die zeigende Komponente), in Beziehung zu welchem das Deixisobjekt in der betreffenden deiktischen Dimension verortet wird. Um es noch einmal klar zu stellen: „Die Origo selbst kann und muss nicht denotiert werden: sie ist mit der Sprecherrolle gegeben“ (Diewald 1991, 31) [Hervorhebungen E.S.]. Somit gilt es nunmehr, die Origo für die evidentielle Dimension so zu bestimmen, dass die Sprecherrolle im Hinblick auf die Information/ Evidenzen spezifiziert wird. Dies geschieht in Analogie zum z.B. Tempus, wo die Origo als temporale Spezifikation der Sprecherrolle auftritt, d.h. als temporaler Bezugspunkt (jetzt des aktuellen Sprechers), mit dem die Ausgangsposition des aktuellen Sprechers gegeben ist. Der Bezugspunkt, die Maßeinheit für die Zuweisung eines evidentiellen Wertes ist m.E. die Beziehung der Identität zwischen der Informationsquelle/den Evidenzen und der dargestellten Situation, die zugleich mit der Position des aktuellen Sprechers zusammenfällt. Es ist allerdings schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine vergleichbare Formulierung wie jetzt oder hier für die evidentielle Dimension zu finden. Außerdem sind sowohl jetzt als auch hier nicht die definierenden Konstituenten der Origo, sondern selbst Deixisobjekte, die im origonahen Bereich zu verorten sind (vgl. Kap.4.2.). Vor diesem Hintergrund können diejenigen Deixisobjekte oder (da es sich im Falle der Evidentialität um eine grammatische Kategorie handelt) diejenigen deiktischen Werte zumindest annäherungsweise bei der Bestimmung der Origo helfen, die als die nächsten deiktischen Werte im origoinklusiven Bereich gelten. Ohne in eine philosophische Diskussion zu verfallen, kann man davon ausgehen, dass das sprechende Ego visuelle (wie in Ich sehe Anna die Straße entlang gehen) oder performative (wie in Ich packe den Koffer für die bevorstehende Reise) Informationen typischerweise als direkte Evidenzen für den dargestellten Sachverhalt auffasst, sodass der entsprechende evidentielle Wert („direkt“) als der origoinklusive und der nahe Wert in der evidentiellen deiktischen Dimension erscheint. Der origoinklusive Bereich beinhaltet dementsprechend alle deiktischen Werte der betreffenden Dimension, die in unmittelbarer Relation zu dem höchstmöglichen deiktischen Wert stehen, der innerhalb dieser Dimension ausgedrückt werden kann. Ich übernehme dafür die nahe liegende und semantisch „einfachste“ Bezeichnung [DIREKT], die in den meisten Abhandlungen zu Evidentialität dominiert. Mit [DIREKT] bezeichne
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Evidentialität
ich die Beziehung, die Relation (in lokalistischen Begriffen auch Distanz, Entfernung), die zwischen dem dargestellten Sachverhalt (der Proposition) und den enkodierten Informationen (Evidenzen) besteht. Um eine direkte Relation zwischen der Proposition und den Evidenzen handelt es sich dann, wenn sich der dargestellte Sachverhalt und die Evidenzen für diesen Sachverhalt in einem und demselben kontextuellen (situativen) Rahmen, innerhalb einer (meist aktuellen) Sprechsituation befinden. Die Proposition erhält in diesem Fall von der Origo aus einen nahen (origoinklusiven) deiktischen Wert, der ebenfalls als DIREKT formuliert werden kann. Somit gehören im Defaultfall in den origoinklusiven Bereich jene Informationen, die dem aktuellen Sprecher in der aktuellen Gesprächssituation „nahe“, aktuell“ und nicht selten auch „stark“8 erscheinen, d.h. unmittelbar zu der Sprechsituation gehören und in dieser beobachtet bzw. auf anderen Wegen perzepiert werden können. Der Begriff DIREKT umfasst distinktive Eigenschaften von durch einen Evidentialitätsmarker bezeichnenden Informationen in sich9, die schon in vielen linguistischen Studien als Merkmale für die Differenzierung innerhalb der Kategorie Evidentialität vorgeschlagen wurden: eben die Direktheit der Information (direkt vs. indirekt; Willett 1998), die Art der Perzeption der Information durch den Sprecher (visuell vs. andere Perzeptionskanäle), die Mittelbarkeit der Information (direct vs. mediated; vgl. Plungian 2001) und die Zuverlässigkeit der Information für den aktuellen Sprecher (reliability, personal involvment; vgl. Faller 2002, de Haan 1998), wobei die Letztere eng mit weiteren Faktoren zusammenhängt. Die Identität der Informationen mit der dargestellten Situation als höchste Stufe der Direktheit (analog zu der Moduskategorie, die zu ihrem Bezugspunkt den höchsten Grad an Faktizität hat; vgl. dazu Diewald 1999, 175f.), die durch einen Evidentialitätsmarker ausgedrückt werden kann, gilt daher als Kodierungsort oder Orientierungszentrum (= Origo) für die „Verortung“ aller evidentiellen Bedeutungen. Die Evidentialitätsmarker, die dem Verweis auf persönlich und visuell wahrnehmbare Information dienen, kodieren daher den nächsten, origoinklusiven und unmarkierten deiktischen Wert innerhalb der evidentiellen deiktischen Dimension. Zahlreiche Beispiele aus verschiedenen Sprachen bestätigen die These, dass z.B. visuelle Evidenzen als die stärkste Information angesehen werden und daher oft jeder expliziten Markierung
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Vgl. z.B. das Kriterium „strength of evidence“, das Faller (2002, 72) für die Skalierung evidentieller Bedeutungen vorschlägt. Mit DIREKT werden hier nicht nur die Informationen, Evidenzen bezeichnet, sondern DIREKT benennt auch die Evidentialitätsmarker selbst und somit den deiktischen evidentiellen Wert, den diese Evidentialitätsmarker tragen.
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entbehren: „In most types of evidentiality systems, the visual (or direct, or eyewitness) evidential may acquire a zero-realization, i.e. be formally unmarked, as in Yukaghir in Pawnee. In Tariana, the visual evidential is the least formally marked. In many systems, a zero-marked verb is understood as referring to visually acquired or directly witnessed information – this is the case in Qiang, in Western Apache and in Koreguaje. […] This suggests visual perception and/or direct (firsthand) witness as ‘default’ in many cases – though this is far from universal” (Aikhenvald 2003, 7) [Hervorhebungen E.S.]; “Specifically VISUAL evidential morphemes are actually quite rare. Perhaps this is because the most common evidence is visual and thus need not to be specifically noted” (Anderson 1986, 305); “In general, we must allow for zero-marking to represent an evidential value, because many languages only have overt evidentials for indirect evidence types, and in those cases, zero is usually interpreted as DIRECT” (Faller 2002, 49f.) [Hervorhebungen E.S.]. Analog zu anderen deiktischen Dimensionen wie z.B. die modale oder temporale Dimensionen im Sinne der verbalen Kategorien Modus und Tempus (am Beispiel der deutschen Sprache), stellen diejenigen Evidentialitätsmarker, die die origonahen bzw. origoinklusiven Werte kodieren, eine Entsprechung zum unmarkierten Tempus Präsens oder zum unmarkierten Modus Indikativ. Diese sind unmarkierte Glieder einer aufgebauten kategorialen Opposition im Sinne der Markiertheitstheorie von Jakobson ([1939]1971, 1974), auch wenn sie auf den ersten Blick den Eindruck vermitteln mögen, keine distinktiven Werte innerhalb der Kategorie auszudrücken. Ihre Zugehörigkeit zu der Opposition wird erst durch die Gegenüberstellung zu den markierten bzw. merkmalhaften Gliedern der Opposition deutlich sichtbar. Und markiert bzw. merkmalhaft sind im Falle der Kategorie Evidentialität die INDIREKTEN Evidentialitätsmarker, die obligatorisch einer expliziten sprachlichen Markierung benötigen und in der Opposition zu den DIREKTEN Evidentials stehen. Mit dem distinktiven Merkmal INDIREKT10 werden dementsprechend diejenigen Informationen oder Evidenzen versehen, die die Beziehung bzw. Relation („Entfernung“) zwischen der Origo und der dargestellten Situation (Proposition) als distant, entfernt charakterisieren. Der deiktische Wert, der der Proposition von der Origo aus zugewiesen wird, ist somit [INDIREKT] = origofern und origoexklusiv. Die Bedeutung der indirekten Evidentialitätsmarker kann dann folgendermaßen umschrieben werden: „die Informationsquelle, die Evidenzen für den dargestellten
_____________ 10 Im Folgenden wird die Bezeichnung INDIREKT mitunter auf die Evidentialitätsmarker
angewendet, die dem Ausdruck der indirekten Evidenzen dienen; der Begriff wird auch für die Bezeichnung der evidentiellen deiktischen Werte verwendet, die in den origoexklusiven Bereich evidentieller Dimension gehören.
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Evidentialität
Sachverhalt und der dargestellte Sachverhalt selbst befinden sich nicht in einem und demselben kontextuellen bzw. situativen Rahmen“. Mit anderen Worten: „der dargestellte Sachverhalt wird mit Bezug auf Evidenzen zum Ausdruck gebracht, die nicht in derselben (aktuellen) Sprechsituation sind, sondern anderen, entfernten Situationen entnommen sind“ (vgl. auch Plungian 2001, 352: „The speaker has not perceived P directly, being separated from P in space or time“ [Hervorhebung E.S.]). Damit ist also die grundlegende Opposition zwischen „origonah“ (und unmarkiert) und „origofern“ (und markiert) beschrieben, die sich im Aufbau jeder deiktischen Kategorie widerspiegelt (vgl. Kap.4.2.). Die binäre Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Evidenzen/ Informationen als zwischen origonahen, origoinklusiven und origofernen, origoexklusiven deiktischen Werten ist für die meisten Untersuchungen zu Evidentialität offenbar keine Streitfrage. Man kann mittlerweile von der allgemeinen Akzeptanz dieser Unterscheidung sprechen: Direct evidentials are used when the speaker has witnessed the action (visually, aurally, or potentially, with the other senses) while indirect evidentials are used when the speaker has not witnessed the action personally but has either deduced the action or has heard about it from others. (de Haan 2001, 203)
Die meisten Hierarchisierungsversuche von Evidentialitätsmarkern oder Evidentialitätstypen basieren auf dieser grundlegenden Opposition (hier seien nur zwei Beispiele angeführt, die dem allgemein etablierten Konzept von Evidentialität entsprechen): Types of Source of Information Direct
Indirect
Attested
Reported
Inference
Visual Auditory Other Sensory
Secondhand Thirdhand Folklore
Results Reasoning
Schema 4-2. Willetts (1998) Klassifikation der Typen der Informationsquelle
Direct evidence Visual Sensoric
Indirect evidence Non-Visual
Inference
Reasoning
Endophoric
Synchronic
Retrospective
Schema 4-3. Plungians (2001) Klassifikation der evidentiellen Werte
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Ohne auf Differenzen zwischen diesen Klassifikationen einzugehen, sei hier darauf verwiesen, dass sie hinsichtlich der in Frage kommenden Trennung von direkten und indirekten Evidenzen übereinstimmen. Das Merkmal DIREKT tragen also diejenigen Informationen (Evidenzen), die vom aktuellen Sprecher in der aktuellen Situation (und somit von der Origo aus) „direkt“, d.h. mittels seiner Sinnesorgane (visuell, auditiv u.a.) oder persönlicher Beteiligung am Geschehen wahrgenommen werden können. Dabei besteht nicht nur eine direkte Verbindung zwischen dem Sprecher und den Evidenzen, sondern auch eine direkte Relation zwischen den Evidenzen und dem dargestellten Sachverhalt. Sentences with direct evidentials convey that the proposition is to be evaluated with respect to sensory data such as seeing or hearing. (Speas 2004, 11) When a speaker uses a visual evidential … he or she is saying that the action was witnessed personally because it occurred in the same deictic sphere as the location of the speaker. (Garrett 2001, 56)
Deiktisch determiniert, bekommt das Attribut DIREKT die Bezeichnung „origonah“ bzw. „origoinklusiv“ und gehört daher in den Bereich (a+b) in Schema 4-1. In Opposition dazu gehören INDIREKTE Informationen/ Evidenzen in den Bereich (c) in Schema 4-1 und vermitteln „origoferne“ bzw. „origoexklusive“ deiktische Werte. Die Zweiteilung in (a+b):„in Verbindung mit dem Kodierungsort“ und (c): „nicht in Verbindung mit dem Kodierungsort“ (die Opposition „origonah“ bzw. „origoinklusiv“ vs. „origofern“, „origoexklusiv“), die für eine deiktische Kategorie als allgemeines Aufbauprinzip gilt, spiegelt sich somit im Aufbau der Kategorie Evidentialität wider: (i) The speaker has observed P [P = described situation, or proposition] directly (which yields a ‘Visual’ value: ≈ ‘P in my sight’). (ii) The speaker has perceived P directly, but not visually. Here, a distinction between two important cases can be drawn: when the observer’s eyes are not used and when they are not needed. In the first case, the perception of P is actually non-visual, but could in principle be visual. […] This leaves us with a ‘Sensoric’ value, encompassing all remaining human senses and corresponding to a ‘default’ perception. Interestingly, the finer distinctions within the sensoric domain (e.g., those between hearing and smelling) are rarely (if ever) grammaticalized. Thus, what is frequently called ‘Auditive’ is in fact the same undifferentiated ‘Sensoric’ value, which takes over whenever sight is ‘switched off’, and which is by no means restricted to hearing. The second case refers to those situations where visual (as well as any sensoric) perception is not possible at all, i.e., when unobservable things are described, such as one’s own intentions, desires, or other inner states (both mental and physical). This yields an ‘Endophoric’ value […] (iii) The speaker has not perceived P directly, being separated from P in space or time. However, s/he has had access to other kinds of information about P. The most frequent classifications provide three possibilities: either the speaker has (directly) observed another situation which s/he interprets as pointing towards P
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Evidentialität
(captured by an ‘Inferentive’ or more commonly ‘Inferential’ value), or s/he simply knows something which suggests that P is probable (a ‘Presumptive’ value), or else s/he got the information from other persons (a ‘Quotative’ value). In the latter case, some additional distinctions may or may not be applied, such as reported speech (presupposing a known author) vs. generalized, second-hand information (presupposing an unknown or non-definite ‘anonymous’ author) vs. tradition or common knowledge (where no personal author is invoked).(Plungian 2001, 351f.)[Hervorhebungen E.S.]
Dass die visuellen Informationen (hier [i]) häufig innerhalb der direkten Evidenzen einen besonderen Stellenwert haben und daher auch in der sprachlicher Realisierung einen besonderen Ausdruck finden, liegt m.E. nicht in der Beschaffenheit der evidentiellen Kategorie als einer deiktischen Dimension. Der Grund dafür ist vielmehr innerhalb des semantischen Paradigmas perzeptiver Ausdrücke zu suchen, d.h. innerhalb einer anderen Kategorie, die sozusagen Bestandteil der evidentiellen Bedeutungen ausmacht, jedoch nicht in deiktischen Begriffen beschrieben werden kann. Direkte sowie indirekte Evidenzen/oder auch Evidentialitätsmarker können weiter spezifiziert und differenziert werden.11 Diese Weiterdifferenzierung werde ich hier allerdings versuchen einzugliedern in das gesamte Konzept einer deiktisch determinierten Kategorie, was die Einheitlichkeit der Beschreibung gewährleisten soll. Um diese Subklassifizierungen von Evidentialitätsmarkern wird es in den nächsten Abschnitten gehen.
_____________ 11 So werden z.B. in der Typologie von Willett (1998, 57 ff.) vier verschiedene Typen von der
dem Sprecher vorliegenden Evidenz unterschieden: i) personal experience; ii) direct (sensory) evidence; iii) indirect evidence; iv) reported evidence (hearsay). Faller (2002, 70) konstruiert zwei getrennte Klassifikationen von Evidenztypen: i) The personal Evidence Cline: PERFORMATIVE > VISUAL > AUDITORY > OTHER SENSORY > INFERENCE FROM RESULTS > REASONING > ASSUMPTION; ii) The Mediated Evidence Cline: DIRECT > SECONDHAND > THIRDHAND > HEARSAY/FOLKLORE. Es werden außerdem sprachspezifische Klassifikationen von Evidenztypen vorgenommen, die auf einzelsprachlichen Daten basieren und kein allgemeines Konzept zur Beschreibung der Kategorie Evidentialität liefern können.
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4.3.2. [SUBJEKTIV] als Merkmal für die Subklassifizierung von indirekten Evidentialitätsmarkern 4.3.2.1. Starke und schwache Deiktika An dieser Stelle ist eine kurze Erklärung weiterer relevanten Begriffe angebracht, die für die folgende Beschreibung unentbehrlich erscheint: das sind Begriffe starke und schwache Deiktika.12 Als starke Deiktika werden solche deiktische Ausdrücke definiert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie neben der nennenden Komponente den demonstrativen Bezug in ihrem Profil13 enthalten (vgl. Diewald 1991, 51). Das sind prototypische Deiktika, d.h. Ausdrücke wie ich, du, hier, dort, jetzt, gestern etc. „Sie enthalten in ihrem Semem die notwendigen Anweisungen, von wo aus der Gegenstand zu finden ist, wo er zu finden ist und – in sehr allgemeinen Form – seine Beschaffenheit“ (Diewald 1991, 54). Schwache Deiktika oder epistemische Prädikationen (epistemic predications, Langacker 1985, 116) bilden eine geschlossene Gruppe grammatischer Morpheme, die nur in Verbindung mit Nennwörtern auftreten. Sie verbinden sich mit Nennwörtern und versehen sie somit mit einer Verankerung im Kontext. „Die daraus entstehende Verbindung (Phrase) denotiert jedoch kein Kontextelement, sondern ein über die charakterisierenden Seme des beteiligten Nennwortes bestimmtes Denotat“ (Diewald 1991, 61). Die epistemischen Prädikationen oder schwache deiktische Zeichen sind also freie oder gebundene grammatische Morpheme, die selbst nichts denotieren und im Gegensatz zu den starken Deiktika nicht „erfragbar“ sind. Diese Unterscheidung zwischen starken und schwachen Deiktika legt nahe, dass solche verbale Kategorien wie Tempus und Modus, die in ihrer Natur deiktisch sind, nach der oben wiedergegebenen Definition zu den schwachen Deiktika gehören. Dies lässt sich am Beispiel der temporalen deiktischen Dimension verdeutlichen: hier gelten die Temporaladverbien
_____________ 12 Ich stütze mich im Wesentlichen in dieser Unterscheidung auf die Studie zu Deixis und
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Textsorten von Diewald (1991) und verweise deswegen für eine ausführliche Darstellung auf diese Arbeit. Hier ist lediglich eine kurze Erläuterung dieser Begriffe gegeben, den Schwerpunkt der Untersuchung bildet dennoch die Beschreibung der evidentiellen Kategorie mit Bezug auf traditionelle grammatische Kategorien. Der Terminus „Profil“ geht auf Langacker (1985, 110 f.) zurück, der die Entstehung der Bedeutung eines Lexems durch die Verbindung eines Profils („profile“) mit einer Basis („base“) sieht: „The base (or scope of predication) consists of those facets of pertinent domains that are directly relevant to the expression’s characterization, hence necessarily accessed when the expression is used. The profile for an expression is a substructure within the base: it is that substructure which the expression designates, making it maximally prominent within the base”. [Hervorhebung im Original]
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Evidentialität
als starke und die Verbtempora als schwache Deiktika. Letztere werden hier kurz erläutert, um im Folgenden Parallelen zu der Kategorie Evidentialität aufzuzeigen. Die Tempora (des Deutschen) können mittels getroffener Opposition „origoinklusiv“ vs. „origoexklusiv“ beschrieben werden: das Präsens steht für die Stufe „origoinklusiv“, alle übrigen Tempora tragen „origoexklusive“ deiktische Werte, wobei sie zusätzlich die Unterscheidung Vergangenheit/ Zukunft realisieren. Was uns an dieser Stelle vor allem interessiert, sind die so genannten „relativen“ oder „sekundären“ Tempora. Im Gegensatz zu den „primären“ bzw. „absoluten“ Tempora Präsens, Präteritum, Futur I und Perfekt (vgl. Lyons [1977]1983, 296, Harweg 1974, 509) erfordern die „sekundären“ bzw. „relativen“ Tempora (Plusquamperfekt, Futur II) zusätzlich zur Sprechzeit (Origo) die Annahme eines weiteren Bezugspunktes.14 Durch die sekundären Tempora wird also die Serialisierung von zwei Zeitbereichen auf dem Zeitkontinuum ausgedrückt, indem die durch derartige Tempora prädizierte Handlung in temporaler Hinsicht als relativ zu einem zweiten, vom Sprechzeitpunkt verschiedenen Punkt dargestellt wird. Sekundäre Tempora sind nicht direkt deiktisch, da sie nicht unmittelbar auf die Origo bezogen sind. [...] Die relativen Tempora sind also „mittelbar deiktisch“. Sie enthalten mit ihrem Bezug zur Sprechzeit das Element der (mittelbar) deiktischen „Lokalisierung“ und mit ihrem Bezug zur Betrachtzeit das Element der nicht-deiktischen „Serialisierung“, d.h. einer Reihenfolgebeziehung. (Diewald 1991, 190)
Bei den relativen Tempora ist es also der Fall, dass sie immer einen zusätzlichen Bezugspunkt (hier: Betrachtzeit) implizieren, der als von Sprechzeit und Aktzeit verschieden zu denken ist. Sie drücken also immer die Serialisierung zweier Zeitbereiche aus, unabhängig davon, ob die Betrachtzeit explizit genannt ist oder nicht. Auf das in vorangegangenen Kapiteln behandelte Modell zum Aufbau deiktischer Dimensionen können diese Ausführungen dann übertragen werden: primäre bzw. absolute Tempora (des Deutschen) realisieren die grundlegende Opposition zwischen origoinklusiven und origoexklusiven deiktischen Werten und weisen somit entweder positive oder negative Realisierung des Merkmals [γ] auf. Sekundäre bzw. relative Tempora enthalten zusätzliche Informationen, die in der Einführung eines weiteren Bezugspunktes bestehen. Das heißt, dass die schon durch das Vorhandensein des Merkmals [γ] „markierten“ Glieder der binären Opposition weiter
_____________ 14 Reichenbach (1947, 288) nennt diesen Bezugspunkt „point of reference“, Helbig/ Buscha
(2001, 128) plädieren den meist gebrauchten Begriff „Betrachtzeit“, d.h. „die Zeit der Betrachtung (der Perspektive) des verbalen Aktes durch den Sprecher, die freilich nicht so objektiv wie (1) [die Aktzeit] und (2) [die Sprechzeit] messbar ist, aber zur Erklärung einiger Tempusformen erforderlich ist“.
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differenziert werden, indem ein zusätzliches Merkmal [δ] für weitere binäre Unterscheidung eingeführt wird. Dieses Merkmal, im Falle der Kategorie Tempus als Betrachtzeit definiert, erzeugt eine zusätzliche Opposition innerhalb des origoexklusiven Bereichs. Explizite positive Realisierung dieses Merkmals lässt sich also bei den relativen Tempora betrachten, die in dieser Opposition als markierte bzw. merkmalhafte Zeichen fungieren. Innerhalb des Bereiches, der durch de positive Ausprägung des Merkmals [γ] gekennzeichnet ist (d.h. bei den origoexklusiven temporalen Werten), kommt es dann zu der durch das Merkmal [δ] determinierten Unterscheidung (Serialisierung). 4.3.2.2. Serialisierung innerhalb der Kategorie Evidentialität Die oben gewonnenen Erkenntnisse werden nun auf die deiktische Dimension Evidentialität angewendet. Wenn es zu der obligatorischen grammatischen Markierung der Evidentialität kommt, was in vielen Sprachen der Fall ist (vgl. Kap.4.1.), handelt es sich um die grammatische Kategorie Evidentialität in Analogie zu Tempus und Modus. (Reine) Evidentialitätsmarker können also als schwache Deiktika parallel zu den genannten Kategorien behandelt werden. Die „origonahen“ bzw. „origoinklusiven“ evidentiellen Werte wurden in Kap.4.3.1. als Kennzeichnung direkter Evidenzen definiert. Direkte Evidenzen ihrerseits sind diejenigen Informationen, die in der gleichen Sprechsituation wie der dargestellte Sachverhalt selbst zu situieren sind, d.h. im hier und jetzt des aktuellen Sprechers (ggf. inklusive anderer Beteiligten, die sich in der gleichen Sprechsituation befinden). Viele Sprachen liefern Beispiele dafür, dass innerhalb der direkten Evidenz keine weiteren Markierungen und Differenzierungen getroffen werden. Vgl. z.B. Quechua: „The Direct enclitic -mi can be used to indicate that the speaker bases his or her statement on direct evidence“ (Faller 2002, 22) oder -w in Makah (Jacobsen 1986, 9 f.): „wiki-caxa-w - ‘It’s bad weather’ (seen or experienced directly)”. Wenn Subklassifizierungen innerhalb der direkten Evidentialität getroffen werden, dann betreffen sie meist entweder die Art der sensorischen Perzeption (auditiv, akustisch, taktil etc.) oder die Art der Beteiligung des Sprechers am Geschehen (performativ, d.h. aktive Beteiligung, vs. sensorische Wahrnehmung). Diese Spezifizierungen sind m.E. nicht deiktischer Natur und können deswegen nicht in Begriffen deiktischer Determination beschrieben werden. Vielmehr sind sie kognitiv bzw. semantisch (lexikalisch) motiviert. Weitere Differenzierungen innerhalb des „origoexklusiven“ Bereichs oder der indirekten Evidentialität können dagegen als deiktisch determi-
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Evidentialität
niert aufgefasst werden, und zwar erfolgen sie durch die positive oder negative Spezifizierung des Merkmals [δ]. Dieses Merkmal erlaubt, wie anhand der temporalen Kategorie veranschaulicht wurde, die Einführung eines zusätzlichen Bezugspunktes (Betrachtzeit), um die „origoexklusiven“ Werte weiterzudifferenzieren. Das zusätzliche Merkmal [δ] bezeichne ich (teils in Anlehnung an die Ausführungen von Plungian (2001) und Willett (1988)) [SUBJEKTIV].15 Damit meine ich allerdings nicht eine subjektive Einschätzung bzw. Einstellung des Sprechers gegenüber dem dargestellten Sachverhalt. „Subjektivität“, so wie dieser Terminus hier gebraucht wird, bezeichnet einen zusätzlichen Bezugspunkt (neben der Origo). Er referiert nämlich auf den aktuellen Sprecher als eine die Informationen wahrnehmende und verarbeitende (Zwischen-)Instanz, die von der Origo explizit verschieden ist. Dies geschieht in Analogie zu den relativen Tempora, bei denen der Bezugspunkt „Betrachtzeit“ eingeführt wird, der auch als Zwischeninstanz zwischen der Origo und dem dargestellten Sachverhalt gedacht wird. Der Name „Betrachtzeit“ legt die Vermutung nahe, dass diesem Begriff auch eine gewisse „Subjektivität“ inhärent ist: die Rolle des Betrachters übernimmt normalerweise der aktuelle Sprecher, und seine Position wird somit bei den relativen Tempora hervorgehoben und von der Origo verschieden gedacht. Für die evidentielle Dimension ist das zusätzliche Merkmal auch an die Rolle des aktuellen Sprechers gekoppelt und kann als „personifizierte, verinnerlichte, subjektive Evidenzen/ Informationsquelle“ definiert werden. Die Evidentialitätsmarker, die dem Verweis auf indirekte Evidenzen dienen, gehören in den „origofernen“ bzw. „origoexklusiven“ Bereich (c) in Schema 4-1 und zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine höhere Distanz zu der Origo kodieren. Unter diesem Begriff werden unterschiedliche Evidenzen/ Evidenztypen zusammengefasst, wie z.B. noneyewitness, inferred, reported, mediated, reflected, secondhand, assumed evidence. Es zeichnet sich allerdings die allgemeine Tendenz auf, sie innerhalb dieser Gruppe in zwei Klassen zu unterteilen: i) diejenigen Evidentialitätsmarker, die geschluss-
_____________ 15 Vgl. auch Nuyts (2001a, 34 ff.), der den Begriff „subjektiv“ als inhärent für die evidentielle
Domäne bezeichnet: „The dimension of subjectivity is thus not inherent in the epistemic domain, but belongs in the evidential domain.[…] In order to avoid confusion with the traditional conception of the dimension of subjectivity, then, I will henceforth use the terms ‘subjective’ vs. ‘intersubjective’ evidentiality (rather than subjective vs. objective modality) to name the categories in this domain.” Sanders und Spooren (1996, 256 f.) unterscheiden auch zwischen Bedeutungen innerhalb der evidentiellen Dimension aufgrund des Merkmals Subjektivität und führen dafür die Merkmalsopposition subjective vs. nonsubjective: „[T]he nonsubjective modifiers typically represent observational evidence. [...] In contrast with nonsubjective modifiers, subjective modifiers do not necessarily imply only one type of evidence, as they can also combine with observational evidence.”
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folgerte Saverhaltsdarstellung kennzeichnen (Inferentials/ Reasoning/ Assumed); ii) diejenigen Evidentialitätsmarker, die lediglich auf eine Informationsquelle referieren, die außerhalb der aktuellen Kommunikationssituation liegt (Hearsay/ Reportive/ Quotative/ Traditional knowledge). Die ersten (ich werde sie im Folgenden Inferentials nennen) geben an, dass i) dem Sprecher nicht weiter spezifizierte Informationen vorliegen (z.B. Resultate einer inferierten Handlung; sensorische Informationen = direkte Evidenzen, die nicht unmittelbar auf ein Geschehen verweisen; nicht weiter spezifizierte indirekte Evidenzen u.a.), die ii) als Prämissen für die geäußerte Schlussfolgerung gelten. Der dargestellte Sachverhalt ist also Ergebnis eines Schlussfolgerungsprozesses, welches vom Sprecher als faktisch (mit Anderson (1986, 274) gesprochen: as „a factual claim“) behauptet wird. Die zweiten (im Folgenden: Reportives) verweisen auf indirekte Informationen, die als Evidenzen für den dargestellten Sachverhalt gelten. Die genaue Bestimmung und Beschreibung der Reportives als Evidentialitätsmarker und ihre Abgrenzung von den sog. „Quotativen“, ferner ihre Einordnung in evidentielle oder modale Systeme wird allerdings in der heutigen linguistischen Forschung noch diskutiert.16 Ich beschränke mich hier nur auf die Aussage, dass es eine solche Evidenzart (Reportive) gibt. Die Beantwortung der Frage, ob Quotative als Evidentialitätsmarker angese-
_____________ 16 Der evidentielle Status von quotativen Markern wird häufig abgestritten, da ihre Bedeutung
nicht primär im Denotieren einer Informationsquelle zu suchen ist, die für den dargestellten Sachverhalt von Belang ist. Vgl. z.B. Anderson (1986, 289): „We need thus to distinguish at least four kinds of reportives: (a) hearsay, (b) general reputation, (c) myth and history (these three being evidentials), and (d) ‘quotative’ (marginally an evidential)”; Diewald (2004) plädiert auch für getrennte Behandlung von Quotativen als modalen (oder Faktizitäts-)Zeichen und Reportiven als Evidentials: “in der Tat scheinen ‘evidentials’, ‘reportives’ und ‘quotatives’ in vielen Sprachen nur schlecht voneinander unterscheidbar zu sein. Dies mag damit zu tun haben, dass akustische Wahrnehmung einerseits im Bereich des reinen Hörens von akustischen Reizen stattfindet [...], andererseits dem Aufnehmen von sprachlichen Mitteilungen dient, also dem Aufnehmen von Information, die bereits durch andere Sprachteilnehmer sprachlich enkodiert und somit keine direkte Wahrnehmung der außersprachlichen Welt, sondern eine Darstellung dieser ist. Während im ersten Fall ein echter Evidentialitätsmarker zu konstatieren ist (direkte akustische Evidenz), liegt im zweiten Fall der Schwerpunkt eher auf dem Inhalt des Mitgeteilten und der Tatsache, dass der Sprecher diese Information durch andere Sprecher in sprachlicher Form erfahren hat (indirekt evidentials, hearsay evidentials, reportives o.ä.). Unter Umständen wird in diesem Fall die Information, dass es sich um ein Zitat handelt, das gehört wurde, irrelevant; fikussiert wird stattdessen die Tatsache, dass das Wissen des Sprechers indirekt durch kommunikative Akte erworben wurde [...] Echte Quotative betonen dagegen den Zitatcharakter der mitgeteilten Information. Sie bringen zum Ausdruck, dass der Sprecher die Faktizitätsbewertung eines anderen wiedergibt – sie also zitiert –, ohne selbst eine solche vorzunehmen. Sie bringen nicht zum Ausdruck, dass der Sprecher selbst eine Bewertung der Faktizität des Sachverhalts aufgrund der Aussagen eines anderen Sprechers vornimmt“.
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Evidentialität
hen werden sollen, lasse ich offen, da es für die Zwecke dieser Arbeit nicht entscheidend ist. Die binäre Unterscheidung „inferentiell“ vs. „reportiv“ kann hinsichtlich der positiven oder negativen Spezifikation des Merkmals [δ] vorgenommen werden. Die Einführung dieses Merkmals meint die Einführung eines zusätzlichen Bezugspunktes, d.h. explizite Erwähnung des aktuellen Sprechers als einer Zwischeninstanz, die an der Verarbeitung der Evidenzen beteiligt ist. Demzufolge entsprechen die Inferentials der Schmidschen Kategorie, die die Merkmalskombination D5 = [-α, -β, -γ, +δ] manifestiert. Dabei bedeutet die positive Spezifikation des Merkmals [δ], dass die Informationsquelle sozusagen „durch den aktuellen Sprecher selbst“ zu suchen ist. Es ist hier irrelevant, Evidenzen welcher Art (sei es direkte, indirekte, gelernte, gehörte oder allgemein bekannte Informationen) der Sprecher als Prämissen für seinen Schlussfolgerungsprozess bezieht. Wichtig ist, dass sie von ihm wahrgenommen und verarbeitet werden. Und diese semantische Interpretation hebt Inferentials von den übrigen indirekten Evidentialitätsmarkern als markierte bzw. merkmalhafte Zeichen ab. Während alle anderen indirekten Evidentialitätsmarker einen entfernten deiktischen Wert enkodieren und als unmarkierte bzw. merkmallose Zeichen in dieser binären Opposition fungieren, tragen Inferentials ein zusätzliches Merkmal [SUBJEKTIV], welches die Annahme des aktuellen Sprechers, seiner Rolle als Zwischeninstanz zwischen Origo und dem dargestellten Sachverhalt bedeutet.17 Die Reportives oder alle anderen indirekten Evidentialitätsmarker dagegen entsprechen der Merkmalskombination D6 = [-α, -β, -γ, -δ], da sie im Falle der negativen Realisierung des Merkmals [SUBJEKTIV] explizit auf eine andere, vom aktuellen Sprecher verschiedene, NON-SUBJEKTIVE (INTERSUBJEKTIVE) Informationsquelle verweisen, sei es secondhand-, thirdhand-Information, general hearsay oder folktales/folklore. Diese beiden Evidenztypen können in einzelnen Sprachen durch gleiche grammatische Formen ausgedrückt werden. Dies entspricht dem allgemeinen Prinzip vom asymmetrischen Aufbau einer grammatischen Kategorie. So besitzt z.B. die türkische Sprache (Johanson 2003, 273ff.) den Marker -mIş, welcher das Vorhandensein indirekter Evidenzen denotiert, die sowohl „reportive“ als auch „inferentielle“ Interpretation erlauben. „... the indirect experience suffix can convey both inference and hearsay“
_____________ 17 Vgl. dazu vor allem die Ausführungen von Nuyts (2001b, 399): „The dimension of subjec-
tivity should not be defined in the traditional terms of the quality of the evidence for an (epistemically qualified) state of affairs, but rather in terms of the question whether the evidence (and the conclusion drawn from it) is only available to the speaker or is rather more widely known (including to the hearer)”.
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(Faller 2002, 41). Dagegen weisen andere Sprachen unterschiedliche sprachliche Realisierungen der festgestellten Differenzierung innerhalb der indirekten Evidenztypen auf, vgl. z.B. Quechua (Faller 2002): „-si is used when the speaker obtained information from others, which includes secondhand and thirdhand information, general hearsay/ rumor and folktales“ (S. 22), wohingegen „-chá is used for information that the speaker ‚acquired’ by reasoning. This includes mere speculations, assumptions, hypotheses, as well as inferences, that is, deduction, abduction, and induction” (S. 21); Ähnliches gilt auch für Tariana (Aikhenvald 2003), Eastern Pomo (McLendon 2003), Wintu (Schlichter 1986), Aymara (Hardman 1986).18 Eine distinktive Eigenschaft, welche die unter dem Begriff INDIREKT zusammengefassten Evidentialitätsmarkern gemeinsam haben und welche sie von den DIREKTEN unterscheidet, ist, dass sie ihrer Bedeutung nach komplexer sind. Die Aussagen, die solche Evidentialitätsmarker enthalten, lassen sich in zwei Bestandteile oder Situationen zerlegen: einerseits wird auf eine Informationsquelle verwiesen, die nicht zu der aktuellen Äußerungssituation gehört, andererseits wird ein Sachverhalt dargestellt, der auf dieser Information basiert (er wird aufgrund der vorhandenen Information inferiert oder referiert): Thus, the Inferential form (two major classes of contexts which require the Inferential marking are inference from visible traces of the situation and reported information, or hearsay [Hervorhebung im Original]) always invokes two situations, the situation being described (S) and the situation that serves as the source of information (E for ‘evidence’). E may, but need not, be explicitly mentioned, but it must be distinct from S. The eyewitness (Direct) term signifies that S is described on the basis of direct observation of S, i.e. S and E are not distinguished. (Maslova 2003, 222 f. für Yukaghir-Sprache)
M.E. hat es wiederum mit der deiktischen Natur evidentieller Zeichen zu tun, und zwar kommen hier die Bühlerschen Modi des Zeigens ins Spiel. Wenn es bei den direkten Evidentialitätsmarkern von dem Basismodus des Zeigens, der „demonstratio ad oculos“ die Rede sein kann, da direkte Evidenzen im gleichen kontextuellen Raum „beobachtbar“ sind; so handelt es sich bei den indirekten Evidentialitätsmarkern um abgeleitete Modi
_____________ 18 Eine natürliche Schlussfolgerung aus dem Gesagten wäre daher die Annahme, dass es
keine Sprachen gibt, die das Vorhandensein von inferentiellen Evidentialitätsmarkern aufweisen, dagegen keine unmarkierten indirekten Evidentialitätsmarker (wie Reportives oder second-hand-evidentials oder auch Hörensagen-Evidentialitätsmarker) haben. Da mir keine ausreichenden Informationen zu einzelnen Sprachen vorliegen, stelle ich diese Konklusion lediglich als Hypothese hin.
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Evidentialität
des Zeigens, nämlich um die „Versetzungsdeixis“ und den phorischen Verweis.19 Die „reinen“ oder prototypischen Reportives (seconhand, thirdhand) z.B. bemühen die „Versetzungsdeixis“, sie verweisen von der aktuellen Origo weg auf eine andere Informationsquelle, die ab jetzt als versetzte Origo gilt. Mit einer Aussage, die ein reportives evidentielles Zeichen enthält, wird also gesagt: „Der dargestellte Sachverhalt ist evident aufgrund der Informationen, die der aktuelle Sprecher aus einer Informationsquelle bezieht, die mit ihm nicht identisch ist, sondern aus einem imaginierten, fiktiven oder erinnerten Zeigfeld stammt.“ Die eigentliche Origo kann nicht mehr als Bezugspunkt für die Verleihung eines evidentiellen Wertes dem dargestellten Sachverhalt gelten, da der aktuelle Sprecher nicht unmittelbar über die Informationen verfügt, sondern nur vermittelt (mediated). Deswegen wird dieser Bezugspunkt bzw. die Origo in einem anderen Raum/ Zeigfeld „postuliert“. Der evidentielle Status/ Wert der Proposition kann also nicht von dem Standpunkt des aktuellen Sprechers und der aktuellen Origo ermittelt werden, sondern aus der Perspektive der versetzten Origo. Der Sprecher bringt somit zum Ausdruck, dass der dargestellte Sachverhalt evident ist, weil jemand anderer als Quelle der Evidenz gilt. Inferentials bedienen sich im Unterschied zu den Reportives des phorischen Zeigens. Sie verweisen auf im Vortext/ Nachtext erwähnte oder implizierte (allgemein ausgedrückt) Prämissen, die als Bezugspunkt oder Ausgangspunkt der deiktischen Relation gelten. Die als Prämissen geltenden Evidenzen (die unterschiedlicher Natur sein können) müssen nicht obligatorisch explizit genannt werden oder aus dem vorangegangenen Text erschließbar sein.20 Sie sind zwar mit dem aktuellen Sprecher identifizierbar, dennoch können sie nicht als zur aktuellen Origo gehörig bezeichnet werden, weil sie nicht direkt, sondern nur mittelbar (mittels einer Schlussfolgerungsprozesses des aktuellen Sprechers) mit der aktuellen Situation verbunden sind. So können z.B. auch manchmal von einem anderen rezipierte Informationen (indirekte Evidenzen) als Prämissen für einen Schlussfolgerungsprozess gelten, sowie irgendwelche wahrnehmbare Anzeichen für das Eintreten oder Stattfinden eines Geschehens (direkte Evidenzen) oder auch allgemeines Wissen über bestimmte Weltzustände.
_____________ 19 Besonders nützlich kann m.E. das Konzept der Bühlerschen Modi des Zeigens gemacht werden für die Beschreibung von den sog. mirativen Evidentialitätsmarkern.
20 Diewald (1991, 119 f.) erörtert, dass die Textphora den Bezug auf „etwas ohne weiteres Bekanntes“ herstellen. „’Ohne weiteres Bekanntes’ kann verstanden werden als in irgendeiner Form bereits vorerwähntes bzw. Impliziertes und damit vom Kontext Unabhängiges“. Für die Interpretation der inferentiellen evidentiellen Markierungen heißt es, dass sie den Bezug auf irgendeine vorerwähnte oder implizierte Information herstellen, die als Prämisse (Antezedens) aufgefasst wird, die aber situationsunabhähgig und daher beliebig sein kann.
Evidentialität und Faktizität
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Mit dem Verwenden eines inferentiellen evidentiellen Markers verweist der Sprecher auf eine Informationsquelle, die sich zwar in seiner „subjektiven“ Welt befindet, dennoch nicht in der aktuellen Situation zu verorten ist.
4.4. Evidentialität und Faktizität Bevor die deutschen Evidentialitätskonstruktionen beschrieben werden, ist eine kurze Einführung des Begriffs Faktizität angebracht. Auch wenn die linguistische Forschung in jüngerer Zeit die strikte Trennung der Domänen Evidentialität und Modalität (zumindest auf der theoretischen Ebene) anstrebt, ist die Interaktion zwischen evidentiellen und modalen Bedeutungen ein wichtiger Aspekt, der bei der einzelsprachlichen Beschreibung der Kategorie Evidentialität nicht ohne Berücksichtigung bleiben darf. 4.4.1. Faktizität und Modus In der Regel wird es in der linguistischen Literatur zwischen Modalität und Modus unterschieden: die Modalität wird betrachtet als semantische Kategorie bzw. Domäne, welche zahlreiche Bedeutungsnuancen wie Potentialität, Hypothetizität, Möglichkeit, Notwendigkeit, Obligation u. v. a. umfasst21; und der Modus als formale grammatische Kategorie, die durch das Konjugationsparadigma der Verben repräsentiert ist und modale Bedeutungen zum Ausdruck bringt (vgl. Halliday 1970, Calbert 1975, Vater 1975, Wichter 1978, Bausch 1979, Palmer 1986, Lyons [1977]1983, Bybee/ Dahl 1989, Bybee/ Fleischmann 1995, Diewald 1999, Fritz 2000a, b u.a.). Damit wird Modalität als ein umfassender und inhaltsreicher Begriff aufgefasst, unter welchen unter anderem derjenige des Modus fällt. Modalität ist dementsprechend als eine semantische Domäne zu verstehen, die sich inhaltlich in verschiedene Modalitätsarten (auch Modalitäten genannt)
_____________ 21 Vgl. Bybee/ Fleischmann (1995, 2): „... mood refers to a formally grammaticalized category
of the verb which has a modal function. Moods are expressed inflectionally, generally in distinct sets of verbal paradigms, e.g. indicative, optative, imperative, conditional, etc., which vary from one language to another in respect to number as well as to the semantic distinctions they mark. Modality, on the other hand, is the semantic domain pertaining to elements of meaning that languages express. It covers a broad range of semantic nuances – jussive, desiderative, intentive, hypothetical, potential, obligative, dubitative, hortatory, exclamative, etc. – whose common denominator is the addition of a supplement or overlay of meaning to the most neutral semantic value of the proposition of an utterance, namely factual and declarative.”
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Evidentialität
auffächert. Sprachlich realisiert wird diese semantische Domäne auf verschiedene Art und Weise: durch grammatische Kategorien (verbale Modi), auf lexikalischer Ebene (z.B. Modalverben, Modalwörter, Modaladverbien), syntaktisch oder auch intonatorisch. Modalität besitzt also ein weites und reichhaltiges Spektrum an Bedeutungen, das auf unterschiedlichen Wegen und in verschiedenen Formen ihren Ausdruck in der Sprache findet. Dies lässt darauf schließen, dass die Mannigfaltigkeit modaler Bedeutungen Unterteilungen innerhalb des semantischen „modalen Feldes“ zulässt und geradezu erfordert, und dass nicht jede Art der Modalität einer anderen so nahe steht, dass das Attribut „modal“, wenn er auf verschiedene sprachliche Phänomene angewendet wird, immer eindeutig zu verstehen ist. Ich werde im Folgenden den „Oberbegriff“ Modalität im Sinne einer semantischer Domäne verwenden22, die vielfältige lexikalische, syntaktische, morphologische etc. Realisierungen in der Sprache erfährt. Der Begriff des Modus hingegen, unter dem im Deutschen die Verbmodi Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II23 und die deiktisch gebrauchten Modalverben zusammengefasst werden können, ist als eine grammatische Kategorie zu verstehen, welche modaldeiktische Werte zum Ausdruck bringt24. Jakobson (1974, 40) beschreibt Modus als „Verschieber“: „Die Kategorie des MODUS charakterisiert die Beziehung zwischen dem berichteten Geschehen und den daran Beteiligten in bezug auf die Beteiligten am Sprechakt“. Der dargestellte Sachverhalt wird also mit einem Wert (einem modaldeiktischen Wert) versehen, welcher nur in Bezug auf den „am Sprechakt Beteiligten“, was wir als Origo bezeichnen können, entschlüsselt werden kann. Rauh (1984, 52 f.) beschreibt die modale Dimension als eine weitere deiktische Dimension, zusätzlich zu den drei klassischen (temporal, lokal, personal): „Auf der sprachlichen Ebene ist die Identifikation der modalen Dimension als einer deiktisch determinierten dadurch gerechtfertigt, dass hier für das Indogermanische, wie für die klassischen deiktischen Dimensionen, ein spezifisches deiktisches Inven-
_____________ 22 Vgl. dazu Dietrich (1992, 24): „Es besagt [...], dass Modalität im Kern keine pragmatische
23 24
oder kommunikative Erscheinung ist, sondern eben eine Bedeutungskategorie, woraus folgt, dass in pragmatischen und kommunikativen Analysen von Modalem die semantische Bestimmung der jeweiligen modalen Einheiten zum Ausgangspunkt genommen werden kann.“ Der Imperativ wird mittlerweile nicht zum System der übrigen Modi gehörig betrachtet. Näheres dazu vgl. Donhauser (1987). Ich verzichte hier auf weitere Ausführungen, die überzeugende Beweise für die deiktische Natur der Kategorie Modus liefern sollen, weil diese Frage schon von Diewald (1999, 167 ff.) einleuchtend beschrieben wurde. Vgl. auch Jacobson ([1939]1971, 130 f.,), Rauh (1984, 27 f.), Diewald 1991 (31, 36 ff.), Lyons ([1977]1983, 250).
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tar, realisiert durch modale Verbformen, vorliegt, das eindeutig den Kategorien des deiktischen Grundsystems zugeordnet werden kann.“ Die von der Moduskategorie zum Ausdruck gebrachten modaldeiktischen Werte können innerhalb einer semantisch-kognitiven Domäne, die Faktizität genannt wird, beschrieben werden. An dieser Stelle soll nur kurz25 der Begriff „Faktizität“ erläutert werden, welcher für die vorliegende Untersuchung von besonderer Relevanz erscheint. Faktizität ist die durch die Moduskategorie enkodierte kognitiv-semantische Subdomäne der Modalität und betrifft das „tatsächliche Der-Fall-sein“ (vgl. Zifonun u.a. 1997, 1744; Fritz 2000a, 85 f.) der Proposition: [Modalität] ist letztlich als die Existenzweise der im Satz ausgedrückten Proposition in der Welt zu definieren: diese kann ein Ereignis in der Welt als faktisch bezeichnen, oder seine Faktizität ist fraglich; dann ist die Modalität des Satzes offen. (Dietrich 1992, 77) [Hervorhebungen im Original] [Faktizität] ... bezieht sich nicht auf „objektive Wahrheitswerte“ wie in logisch orientierten Semantikmodellen, sondern ausschließlich auf die beobachterbasierte (d.h. im typischen Fall sprecherbasierte) Einschätzung des dargestellten Sachverhalts bezüglich seines Grades der Realität, Aktualität, Wirklichkeit, also auf die deiktische Bewertung des Tatsacheseins der Proposition. (Diewald 1999, 174)
Die Faktizitätsbewertung eines Sachverhalts durch den Sprecher ist immer eine „deiktische Bewertung des Tatsacheseins der Proposition“: Mit der Bewertung eines Sachverhalts als faktisch sagt der Sprecher ‚wahr von mir aus gesehen’ und nicht ‚absolut – nach Maßstäben der Logik oder vorliegenden allgemeinen Evidenzen – wahr’. Mit der Beurteilung eines Sachverhalts als in irgendeiner Weise nichtfaktisch dagegen sagt der Sprecher ‚von mir aus gesehen nicht als wahr einschätzbar’ und nicht ‚absolut – nach Maßstäben der Logik oder vorliegenden allgemeinen Evidenzen – nicht wahr’. (Diewald 1999, 174 f.)
Dementsprechend kann jede modaldeiktisch markierte Aussage nur in Bezug auf den aktuellen Sprecher dekodiert und verstanden werden. Dennoch ist nicht der Sprecher selbst als sprechende Person der eigentliche Bezugspunkt (oder in der Terminologie von Rauh 1984: „der Kodierungsort“), der für die modaldeiktische Dimension die Rolle des Nullpunktes auf der deiktischen Skala übernimmt. Da die modaldeiktischen Werte dahingehend beschrieben wurden, dass sie den dargestellten Sachverhalt hinsichtlich seines Faktizitätsgrades, also im Rahmen der kognitiv-semantischen Domäne Faktizität, verorten, soll der Bezugspunkt einen neutralen faktizitäts-bezogenen Wert darstellen. Der Bezugspunkt oder Maßeinheit für die Bewertung der Faktizität des dargestellten Sachverhalts ist
_____________ 25 Eine ausführliche Beschreibung des Begriffs Faktizität, so wie er hier auch verstanden wird, gibt Diewald (1999, 174 ff.). Da die hier vertretene Position mit der von Diewald im Wesentlichen übereinstimmt, wird hier auf eine eingehende Betrachtung dieses Begriffs verzichtet.
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Evidentialität
...der Grad der Faktizität, den der Sprecher sich selbst zugesteht (analog zum Jetzt des Sprecherzeitpunktes etc.). Ohne Bewusstseinsfragen diskutieren zu müssen, kann man davon ausgehen, dass das sprechende Ego typischerweise den eigenen aktuellen Seinszustand als real, wirklich, faktisch betrachtet, so dass dieser Wert in der modaldeiktischen Dimension als der nahe, origoinklusive und unmarkierte Wert erscheint. (Diewald 1999, 175; vgl. auch Diewald 1991, 238 ff.) Als außersprachliche Voraussetzung für die deiktische Determination dieser [modalen] Dimension kann gelten, dass der Kodierer innerhalb dieser Dimension seine Realität mit anderen Modi in Beziehung setzt. (Rauh 1984, 52) Allen Modi des Verbums gemeinsam ist der Bezug auf die Situation. [...] Dabei entscheidet nicht die Wirklichkeit, sondern die Auffassung des Sprechenden. (Brinkmann 1971, 361)
Als faktisch wird somit derjenige Sachverhalt bewertet, der vom Sprecher den gleichen Grad an Faktizität zugewiesen bekommt wie sein (des Sprechers) aktueller Seinszustand (der Nullpunkt bzw. der Bezugspunkt der Bewertung); ein Sachverhalt, der nicht in dieser Wiese bewertet wird, gilt nicht als faktisch, d.h. er bekommt einen vom neutralen (vom Nullpunkt) verschiedenen Faktizitätswert zugewiesen. Die grammatische Kategorie des Modus als eine deiktische Kategorie, die verschiedene Faktizitätswerte des dargestellten Sachverhalts zum Ausdruck bringt, ist der Markiertheitstheorie von Jakobson ([1939]1974) zufolge asymmetrisch aufgebaut. Der Indikativ als das unmarkierte Glied („Normalmodus“ (Heidolph/ Flämig/ Motsch 1981, 522); „Modus der Faktizität und der direkten Behauptung“ (Lyons ([1977]1983, 414); „Realität des Kodierers“ (Rauh 1984, 52); „Modus der Setzung bzw. Modus des Gegebenen“ (Brinkmann 1971, 368 f.)) in der Modus-Opposition bringt den modaldeiktisch unmarkierten Wert zum Ausdruck. Dieser unmarkierte Wert wird im Weiteren in Anlehnung an Diewald (1999) mit der Bezeichnung [- nichtfaktisch] versehen26, der markierte kann hingegen von diesem „neutralen“ Wert verschiedene (gradierbare) Werte annehmen und wird dementsprechend als [+/- nichtfaktisch] (z.B. für deiktisch gebrauchte Modalverben) notiert. Die relationale Struktur der Moduskategorie kann daher folgendermaßen dargestellt werden (Diewald 1999, 170): Origo A
→ →
modaldeiktischer Wert IZ
→ →
Proposition Z
Der Ausgangspunkt der gerichteten Relation ist die Origo, die den Bezugspunkt der modaldeiktischen Dimension repräsentiert. Der Zielpunkt
_____________ 26 Für weitere ausführlichere Beschreibung der kategorialen Modus-Bestimmung siehe Diewald (1999, 176 ff.).
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Evidentialität und Faktizität
ist die gesamte Proposition, da Modus eine Satzkategorie27 ist, die den gesamten Sachverhalt hinsichtlich seiner Faktizität bewertet. Der Relator ist die Zuweisung des spezifischen modaldeiktischen Wertes, des Faktizitätsgrades der Proposition von der Origo. Der Indikativ als unmarkiertes Glied der Modusopposition bringt einen „nahen“ modaldeiktischen Wert zum Ausdruck und kennzeichnet somit die Proposition als [- nichtfaktisch]. Alle anderen Mitglieder der Moduskategorie (der Konjunktiv I, der Konjunktiv II und die deiktisch gebrauchten Modalverben) bringen andere, markierte Faktizitätswerte zum Ausdruck. Da die Beschreibung der Moduskategorien nicht den eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit ausmacht, halte ich diese kurze Zusammenfassung der Ansichten, welche in dieser Arbeit vertreten werden, für ausreichend, um zum eigentlichen Punkt übergehen zu können. Da für meine Untersuchung vor allem die Kategorie des Konjunktivs II von Belang ist, wird die eingehende Beschreibung dieses Modus in Kap.6. vorgenommen. 4.4.2. Inferentielle Evidentialität In Analogie zu der Moduskategorie erscheint es jetzt auch möglich, die relationale Struktur der Kategorie Evidentialität zu konstruieren. Origo Origo
→ evidentieller deiktischer Wert → [+/- INDIREKT]
→ →
Proposition Proposition
Direkte Evidentialitätsmarker bringen einen origonahen evidentiellen deiktischen Wert zum Ausdruck und können daher in Analogie zum Modus Indikativ (unmarkiertes Glied der Moduskategorie) mit dem Wert [INDIREKT] versehen werden. Mit einem anderen als diesem Merkmal ausgezeichnete Glieder der Kategorie Evidentialität bringen entfernte deiktische Werte zum Ausdruck, die als [+INDIREKT] bezeichnet werden. Dieser Wert ist nicht skalierbar, weitere Differenzierungen können nur durch die Einführung eines zusätzlichen Merkmals oder eines zusätzlichen Bezugspunktes vorgenommen werden. Dieses Merkmal wurde oben schon als [SUBJEKTIV] definiert, insofern es die persönliche Beteiligung des aktuellen Sprechers an der Wahrnehmung und Verarbeitung der Information meint. [-SUBJEKTIV] heißt also, dass der Sprecher nicht
_____________ 27 Die Zuweisung eines Faktizitätswertes bezieht sich auf den gesamten Sachverhalt (Halliday
1970, 349; Vater 1975, 104; Raynaud 1977, 21; Valentin 1984, 186; Öhlschläger 1989, 208 f.; Diewald 1999, 176). Somit ist der Modus die „äußerste“ grammatische Kategorie des Satzes.
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Evidentialität
als Zwischeninstanz, als zusätzlicher Bezugspunkt in der Bedeutung indirekter Evidentialitätsmarker ausdifferenziert werden kann. Weitere Implikationen, die sich daraus ergeben, sind zum einen, dass die Informationsquelle, die Evidenzen auch anderen Kommunikationspartizipanten zugänglich sein können (folklore, tradiertes Wissen usw.), und zum anderen, dass nicht der aktuelle Sprecher selbst, sondern ein anderer Sprecher, der auch genannt oder nur impliziert sein kann, diese Rolle übernimmt (secondhand, hearsay). Es handelt sich hierbei also um indirekte Evidentialitätszeichen im Allgemeinen, die hinsichtlich der Ausprägung eines Merkmals (hier: [SUBJEKTIV]) als „Nullzeichen“ fungieren, die entweder das Nicht-Vorhandensein eines Merkmals manifestieren oder keine Aussage über das Vorhandensein dieses Merkmals machen (vgl. Jakobson [1939] 1974). Inferentials zeichnen sich durch die explizite Markierung des Attributes [SUBJEKTIV] aus, da sie immer den aktuellen Sprecher mit einbeziehen, der an der Verarbeitung (beliebiger) Informationen in Sinne der Vollbringung eines Schlussfolgerungsprozesses beteiligt ist: Origo→[+INDIREKT][+SUBJEKTIV=aktueller Sprecher]→Proposition
Die erste Markierung [+INDIREKT] bezeichnet, dass die Informationsquelle, die Evidenzen außerhalb der aktuellen Sprechsituation zu suchen sind als der dargestellte Sachverhalt selbst (Proposition). Dies mag verwunderlich klingen, wenn man daran denkt, dass manchmal visuelle oder andere direkt perzepierte Informationen den Ausgangspunkt eines Schlussfolgerungsprozesses bilden, d.h. im gleichen Äußerungskontext zu situieren sind. Dies ist aber m.E. doch nicht der Fall, da der dargestellte Sachverhalt, der aus vorliegenden Evidenzen geschlussfolgert und auf deren Grundlage formuliert wird, nicht mit diesen Informationen zusammenfällt, wie es im Falle der Verwendung von direkten Evidentialitätsmarkern geschieht und daher in einem anderen kontextuellen Rahmen zu verorten ist. Wenn der Sprecher beispielsweise feststellt, dass der Mantel seines Freundes nicht mehr in der Garderobe ist (direkte visuelle Evidenz) und daraus folgert, dass dieser gegangen ist, und sagt Peter muss/wird gegangen sein, dann ist eine (zeitliche sowie räumliche) Distanz zwischen den Evidenzen („der Mantel ist nicht da“) und dem dargestellten Sachverhalt („Peter ist gegangen“) vorhanden. Wenn dagegen der Sprecher sieht, dass sein Freund gerade geht (direkte visuelle Evidenz) und sagt Ich sehe Peter die Party verlassen/Peter geht, wie ich sehe, dann ist diese Distanz nicht mehr vorhanden („ich sehe Peter gehen“ = „Peter geht“). Die zweite Markierung [+SUBJEKTIV], die die erste spezifiziert, d.h. die Unterscheidung innerhalb der ersten, übergeordneten Markierung
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[+INDIREKT] trifft, bezeichnet den aktuellen Sprecher als Träger der Information, als Zwischeninstanz, über welche die Information (Evidenzen) selbst oder zumindest ihr Vorhandensein zum Ausdruck gebracht wird. Das Merkmal [+SUBJEKTIV] spezifiziert indirekte Evidenzen in Bezug auf den aktuellen Sprecher. 4.4.3. Inferentielle Evidentialität und epistemische Modalität Seitdem Evidentialität zum Gegenstand intensiver linguistischer Forschung geworden ist, wird oft diskutiert, ob es sich bei der Evidentialität um eine eigenständige Kategorie handelt oder ob Evidentialität als Unterart der Modalität verstanden werden soll. Palmer (1986) ordnet Evidentialität innerhalb der Oberkategorie ‚epistemic modality’ ein, die er folgendermaßen definiert: [epistemic]... should apply not simply to modal systems that basically involve the notions of possibility and necessity, but to any modal system that indicates the degree of commitment by the speaker to what he says. (Palmer 1986, 51)
Und innerhalb der Kategorie epistemic modals unterscheidet Palmer zwischen evidentials und judgements: „if a (grammatical) form expresses ‚speaker commitment’ then it is an epistemic modal; if it explicitly mentions source of information then it is an evidential, otherwise it is a judgement” (Palmer 1986, 51). Die Grundlage für diese Annahme Palmers bilden Evidenzen aus den germanischen Sprachen, in denen epistemisch modale sowie evidentielle Bedeutungen oft durch dieselben sprachlichen Elemente (Morpheme, modale Auxiliare u. a.) zum Ausdruck gebracht werden. Diese modalen Elemente verbindet nach Palmer ihre Fähigkeit, die Sprechereinstellung hinsichtlich der Wahrheit der Proposition vermitteln zu können: „ ... the indication by the speaker of his (lack of) commitment to the truth of the proposition being expressed“ (Palmer 1986, 51). Wie Willett (1988, 51, 66) ausführt, ist es nicht nur in den germanischen, sondern auch in den meisten Sprachen so, dass sich die Bereiche Modalität (oder Faktizität) und Evidentialität vermischen. While an evidential supplement can always be seen in an epistemic marker, the opposite does not always hold: not all evidential markers are modal in that they do not all necessarily imply an epistemic judgment. More generally, one can say that the reliability of information usually depends on how it was obtained: visual information is thought to be most reliable, whereas mediated information is the least reliable. This cultural stereotype may be grammaticalized (as is the case in Balkan systems): the less direct the information, the less reliable it is likely to be. These types of systems may be called ‘modalized evidential systems’. By and large, a system like Bulgarian seems to prefer the opposition of personalized vs.
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Evidentialität
non-personalized information rather than that of directly observable vs. nonobservable evidence. (Plungian 2001, 354)
Dabei wird (vgl. z.B. Palmer 1986, Gunkel 2000, Traugott 1989) die Evidentialität häufig als eine Unterteilung des Feldes der Faktizitätsbewertung behandelt. Es hat sich mittlerweile als sinnvoll und notwendig herausgestellt, beide Bereiche zumindest auf der abstrakten Beschreibungsebene strikt zu trennen. Für diese Trennung beider Konzepte plädiert z.B. de Haan (1999, 2001): Epistemic modality is concerned with the areas of possibility and necessity, which are referred to as weak and strong epistemic modality, respectively. […] Possibility and necessity refer to the commitment of the speaker to the truth of what he/she is saying. When the speaker uses a weak epistemic modal, his/her level of commitment to the truth is obviously lower than he/she uses a strong epistemic modal. Evidentiality refers to the source of evidence the speaker has for his statement. (de Haan 2001, 203)
Speas (2004) sieht den Unterschied zwischen evidentials und modals darin, dass „what evidentials express is not an epistemic judgement per se, but rather a characterization of what evidence the speaker uses to make an epistemic judgement“ (Speas 2004, 8). Evidentialitätsmarker sind also diejenigen grammatischen Elemente, die in erster Linie auf eine Informationsquelle verweisen, aus welcher Evidenzen als Beweise für die jeweilige Aussage bezogen werden. Und auch wenn diese grammatischen Elemente oft eine Faktizitätsbewertung der Proposition durch den Sprecher im Sinne epistemischer Modalität auszudrücken vermögen, kann dies nicht als hinreichende Bedingung für die Zuordnung der Evidentialitätsmarker in den Bereich der (epistemischen) Modalität angesehen werden. Es bleibt dennoch anzuerkennen, dass beide Kategorien sehr eng miteinander verbunden sind. Die Forschung der letzten Jahre plädiert (im Gegensatz zu z.B. Palmer 1986) für die Lösung, dass die Kategorien Evidentialität und Modalität nicht in Über- oder Unterordnungsbeziehung zueinander stehen, sondern eher Überschneidungsbereiche aufweisen (overlap versus inclusion), wobei beide Bedeutungen (modal und evidentiell) nur sehr schwer voneinander zu trennen sind (van der Auwera/ Plungian 1998, Faller 2002, Nuyts 2001a, b, Mushin 2001). Und diesen Überschneidungsbereich bilden die inferentielle Evidentialität in der evidentiellen Domäne und epistemische Notwendigkeit28 in der Domäne Modalität:
_____________ 28 Die Aussage, dass der Überschneidungsbereich nur den Bereich der epistemischen Notwendigkeit in der Modalitätsdomäne miteinbezieht, wird z.B. von Faller (2002, 93) anhand Untersuchungen des evidentiellen Systems in der Sprache Cuzco Quechua relativiert,
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Evidentialität und Faktizität
Necessity ... Deontic necessity
Epistemic necessity = Inferential evidentiality Evidentiality
Quotative evidentiality
...
Schema 4-4. Überschneidungsbereich zwischen Evidentialität und Modalität (Inferential evidentiality = epistemic necessity) (van der Auwera/ Plungian 1998, 86)
[...] the inferential reading amounts to epistemic modality and more particularly epistemic necessity: for both categories we are dealing with the certainty of a judgment relative to other judgments. From this point of view it also causes no surprise that inferential evidentials often receive an English translation with epistemic must. Inferential evidentiality is thus regarded as an overlap category between modality and evidentiality. (van der Auwera/Plungian 1998, 85 f.) [Hervorhebung E.S.]
Nachdem oben für die Einführung eines zusätzlichen Merkmals [SUBJEKTIV] bzw. zusätzlichen Bezugspunktes [aktueller Sprecher] innerhalb der Kategorie indirekter Evidentialitätsmarker plädiert wurde, wird dieses Überschneidungsphänomen in hier angenommenen Termini zu erklären sein. SUBJEKTIV markierte Evidentialitätsmarker nehmen immer Bezug auf den aktuellen Sprecher, d.h. sie indizieren das Vorhandensein indirekter Evidenzen durch den Verweis auf den aktuellen Sprecher als einen zusätzlichen Bezugspunkt innerhalb der deiktischen Dimension der Evidentialität. Diese Markierung, dieser Verweis auf den Sprecher kann in vielen Fällen zu den hörerspezifischen Implikaturen führen, die dahingehend interpretiert werden, dass der Sprecher gegenüber dem Ausgesagten nicht völlig sicher ist, d.h. der Proposition nicht (oder zumindest nicht sicher) den modalen Wert [-nichtfaktisch] zuweisen kann (da der Evidentialitätsmarker ja „subjektiv“, sprecherspezifisch markiert ist). Dementsprechend ergeben sich modale Bedeutungen der (Un-)Sicherheit des Sprechers als Implikaturen aus der genuinen evidentiellen inferentiellen
_____________ dennoch nicht abgestritten: „In summary, I agree with van der Auwera and Plungian (1998) that INFERENCE is in the overlap of modality and evidentiality, both on the conceptual level and the language-individual level. For Cuzco Quechua, this means that only the Conjectural -chá, a possibility modal, is in the overlap. The overlap does therefore not contain an epistemic necessity modal – though -chá can be used to convey epistemic modality, it clearly only encodes possibility.” Für die Sprachen wie Englisch und Deutsch ist es allerdings der Fall, dass der Überschneidungsbereich vor allem die epistemische Notwendigkeit auf der Seite der Modalität beinhaltet (eng. must und dt. müssen). Da die vorliegende Arbeit sich mit der deutschen Sprache beschäftigt, können einzelsprachliche Abweichungen von dem von van der Auwera/ Plungian (1998) vorgeschlagenen Modell ignoriert werden, sofern die Grundannahmen übereinzelsprachlich und vor allem für die germanischen Sprachen als universelle semantic map ihre Geltung bestätigt haben.
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Evidentialität
Bedeutung. Sie gehören m.E. nicht zu der Kernsemantik der inferentiellen Evidentialitätsmarker, gesellen sich aber allmählich als Implikaturen zu der Gesamtbedeutung dieser Zeichen und werden als untrennbare Bedeutungskomponente dieser aufgefasst. Epistemisch modale Zeichen beinhalten obligatorische Markierung des aktuellen Sprechers29 in ihrer Kernsemantik, der aktuelle Sprecher ist immer ein Bestandteil der Origo und in dieser Hinsicht sind sie immer [SUBJEKTIV] positiv markiert. Den Ausführungen von Diewald (1999, 211) folgend: „das deiktische Zeichen verweist nur auf den Sprecher als Ausgangspunkt der Bewertung, es verweist nicht auf zusätzliche Ausgangspunkte bzw. Gründe“, lässt sich formulieren, dass es sich bei den modalen epistemischen Ausdrücken um eine andere, „umgekehrte“ Implikatur handelt. Aus der relativ hohen Sicherheit des Sprechers gegenüber dem Ausgesagten (oder relativ hohem Faktizitätsgrad, der der Proposition von der Origo aus zugewiesen wird), die z.B. das deiktisch gebrauchte deutsche Modalverb müssen zum Ausdruck bringt, ergeben sich hörerspezifische Implikaturen. Diese bestehen darin, dass der Sprecher für die Behauptung, für die Zuweisung eines so hohen Faktizitätsgrades „Gründe“ (= Evidenzen) hat, und ferner, dass der Sprecher die Proposition aus diesen „Gründen“ schlussfolgert. Diese im evidentiellen Sinne gedeutete Implikaturen, sobald sie entstehen und dazu noch häufig durch die textuelle Nennung bestimmter Gründe oder Umstände in den kontextuellen Rahmen explizit gebracht werden, können allmählich von den Sprachbenutzern als inhärente Bedeutungskomponente des Zeichens empfunden werden.30 Diese Phase, in der evidentielle und modale Bedeutungen soweit miteinander verschmolzen sind, dass sie untrennbar voneinander empfun-
_____________ 29 Vgl. in dieser Hinsicht die Begriffsbestimmung von epistemic necessity in van der Auwera/
30
Plungian (1998, 96): „The point is, however, that our notion of epistemic modality makes an obligatory reference to the judgment of the speaker, and this is absent in [John is supposed to be in Calcutta – participant-external necessity; E.S.].” Die Autoren definieren die epistemische Modalität (und damit die epistemische Notwendigkeit) als eine Kategorie, die immer und obligatorisch einen Verweis auf den aktuellen Sprecher enthält. Eine solche Abgrenzung der epistemischen Modalität, die immer sprecherbezogen ist, stellt diese Kategorie dem traditionellen Begriff der „subjektiv epistemischen“ Modalität gleich und liegt ferner im Einklang mit der Konzeption von Diewald (1999), in der diese Kategorie als eine deiktische beschrieben wird: „die Nicht-Hintergehbarkeit der deiktischen Origo [ist] eine zentrale Eigenschaft deiktischer Zeichen“ (S. 210). Vgl. Palmer (1986, 35) zum epistemisch gebrauchten englischen Modalverb must: „It is clear that it is the notion of deduction or inference from known facts that is the essential feature of MUST, not just the confidence of the speaker, which is expressed by the adverbs certainly, definitely etc.” Ich möchte hier keine Behauptungen über das englische Modussystem und im besonderen über die Entwicklung des konkreten Verbs must aufstellen, würde dennoch vermuten, dass die heutige inferentielle (evidentielle) Bedeutung von must auf der Konventionalisierung der konversationellen Implikatur basiert und dass die inferentielle Komponente nicht immer in der Kernsemantik des Verbs must inhärent vorhanden war.
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den werden, ist im Deutschen noch nicht erreicht, zumindest unterliegt evidentielle Interpretation z.B. des Verbs müssen bestimmten Restriktionen (vgl. Diewald 1999, 265 ff.). Festzuhalten, dass die Modalverben im deiktischen Gebrauch auf „Umstände“ oder „Gründe“ hinweisen, die den Sprecher zu Schlussfolgerungen „zwingen“ [...] [Öhlschläger 1989, 232; E.S.] oder zu sagen, dass sie den Einfluss „mentaler Verpflichtungen oder Kräfte“ („mental obligations or forces“) darstellen [...] [Sweetser 1990; E.S.] verkennt m.E. die spezifische Funktion der Modalverben in diesem Gebrauch. Die Modalverben haben den Status von Deiktika, durch den per definitionem der Sprecher als Quelle des Bewertungsprozesses, d.h. als Zentrum der Kategorisierung und Perspektivierung des Dargestellten, erscheint. (Diewald 1999, 211) Betrachtet man dagegen den deiktischen Gebrauch als Ausdruck eines von den Umständen ausgehenden Zwanges auf den Sprecher, der daraufhin zu einer Faktizitätsbewertung veranlasst wird (Öhlschläger 1989, Sweetser 1990 u.a.), dann ist der Sprecher ja als das Ziel (nicht als der Ausgangspunkt) der ihn zwingenden Umstände konzipiert. In dieser Formulierung existieren dann quasi zwei Ausgangspunkte: einerseits die Umstände, die den Sprecher zwingen, andererseits der Sprecher, der die Faktizitätsbewertung vornimmt. Dies würde eine völlig andere relationale Struktur voraussetzen, und zwar eine, in der die Faktizitätsbewertung des Sprechers eingebettet ist in eine übergeordnete Relation, die den Einfluss der Umstände auf den Sprecher darstellt. Eine solche Struktur ließe sich nicht aus der Semantik der Modalverben ableiten, noch ließen sich damit die verschiedenen Gebrauchsweisen der Modalverben einheitlich darstellen und aufeinander beziehen. [...] Die deiktische Verwendung ist von der objektiv epistemischen durch die Spezifizierung der modalen Quelle als Origo geschieden, d.h. dass der deiktische Gebrauch, anders als häufig angenommen, keinen Bezug zu Umständen, Beweisen, Indizien usw. herstellt (obwohl solche natürlich vorhanden sein können). (Diewald 1999, 214) [Hervorhebung im Original]
Ich glaube, dass es aus dem oben Dargestellten klar geworden ist, dass obwohl Modalität und Evidentialität einen Überschneidungsbereich aufweisen, dies dennoch nicht ihre völlige Äquivalenz in diesen (evidentiell inferentiell und modal epistemisch) Bedeutungen meint. Zumindest für die linguistische Beschreibung bleibt es von Belang, die genuine Bedeutung eines in Frage kommenden sprachlichen Zeichens zu identifizieren und sie von der „sekundären“ oder durch konversationelle Implikatur dazu gewonnenen Bedeutungskomponente zu scheiden. Evidentiell inferentiell sind dementsprechend diejenigen Zeichen, die in erster Linie auf Evidenzen, Informationen hinweisen, die einen Schlussfolgerungsprozess des Sprechers (das Merkmal [SUBJEKTIV]) auslösen, dessen Ergebnis (Konsequenz) in der Aussage formuliert wird. Dadurch wird nicht selten die konversationelle Implikatur ausgelöst, dass der Faktizitätsgrad des Dargestellten sich von dem unmarkierten [- nichtfaktisch] unterscheidet, weil es sich ja um einen Schlussfolgerungsprozess des aktuellen Sprechers han-
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Evidentialität
delt, welcher von seinen eigenen persönlichen Annahmen beeinträchtigt werden kann und daher keine allgemeine Geltungskraft beanspruchen kann. Epistemisch modal sind dann diejenigen Zeichen, die primär die Sprechereinstellung (das Merkmal [SUBJEKTIV]), die Bewertung des Dargestellten hinsichtlich der Faktizität durch den Sprecher (als Origo) kodieren. Dadurch können oft konversationelle Implikaturen entstehen (vor allem im Bereich der epistemischen Notwendigkeit), dass der bestimmte (hohe) Faktizitätsgrad, der der Proposition von dem Sprecher zugewiesen wird, durch bestimmte Faktoren, Gründe, Umstände – Evidenzen – beeinflusst wird. Diese sind nicht sprecherspezifisch, sondern existieren unabhängig von ihm in der Welt und wirken sich auf ihn („zwingen“ ihn) aus, sodass er infolge eines Schlussfolgerungsprozesses, von solchen Evidenzen bedingt, zu einer bestimmten epistemischen Einstellung gelangt. Es bleibt an dieser Stelle dennoch festzuhalten, dass diese Bedeutungen in Wirklichkeit sehr eng miteinander verwoben sind, sodass eine explizite Scheidung beider Komponenten (evidentiell und modal epistemisch) in vielen Fällen fast unmöglich erfolgen kann. Wenn meine Hypothese stimmt, dann scheinen die kognitiv-semantischen Domänen Modalität und Evidentialität miteinander zu konkurrieren, wenn es um die Ausprägung des Merkmals [SUBJEKTIV] geht. Möglicherweise kommt es in einzelnen Sprachen darauf an, ob eine von den beiden Kategorien stärker repräsentiert (grammatikalisiert, obligatorisch) ist und somit erheblichen Einfluss auf die andere, „neuere“ ausübt, wobei eine schnellere Integrierbarkeit schon vorhandener Bedeutungen als Implikaturen erfolgt (z.B. Deutsch und Englisch mit stark repräsentierten modalen Bedeutungen, unter die die potentiellen evidentiellen Zeichen integriert werden und neben der evidentiellen Bedeutung ihre modalen Konnotationen erfahren).31 Dies bedarf allerdings weiterer Untersuchungen und kann hier lediglich als eine Hypothese formuliert werden.
_____________ 31 Vgl. z.B. Diewald (2000, 334) zu scheinen im Deutschen: „Der Ausgangspunkt [der Analyse
von scheinen, E.S.] ist die Beobachtung, dass der Bereich der deiktischen Faktizitätsbewertung im Deutschen stark ausgebaut worden ist bzw. noch weiter ausgebaut wird. Dabei entfaltet der bereits weit fortgeschrittene Grammatikalisierungsprozess der Modalverben offenbar eine Sogwirkung, die auch ein Verb wie scheinen erfasst, das diachron keinerlei Ähnlichkeit mit Modalverben aufweist, aber im heutigen Deutsch im Begriff ist, sich in dieses Paradigma zu integrieren.“
Evidentialitätsmarker im Deutschen
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4.5. Evidentialitätsmarker im Deutschen Das Deutsche besitzt im Unterschied zu vielen anderen Sprachen, die eine ausgebaute grammatische Kategorie Evidentialität (z.B. Türksprachen, Balkansprachen, Makah [Jacobsen 1986], Quechua [Weber 1986], Tibetan [Delancey 1986], Akha [Thurgood 1986]) haben, keine reinen Evidentialitätsmarker. Deutsche Evidentialitätsmarker bringen neben ihrer evidentiellen Bedeutung immer auch einen markierten Wert der Faktizitätsbewertung zum Ausdruck, d.h. sie signalisieren neben dem Verweis auf eine evidentielle Quelle auch einen vom Sprecher aus betrachtet unsicheren Faktizitätsstatus der Proposition. Im Folgenden werde ich aus Platzgründen nicht der Frage nachgehen, warum deutsche Evidentialitätsmarker auch zusätzlich einen modalen Wert zum Ausdruck bringen und somit als Faktizitätsmarker eingeordnet werden können. Dazu möchte ich nur auf die Studie zu scheinen von Diewald (2001) verweisen, die die Entwicklung von scheinen zu einem evidentiellen Faktizitätsmarker als einen zu der diachronen Entwicklung des Modalverbsystems analogen Prozess im Deutschen beschreibt. „[D]ie beschriebene Entwicklung von scheinen [steht] unter dem Einfluss der Grammatikalisierung der Modalverben, dass also das prägnante und mitgliedreiche Paradigma der Modalverben mit seinen neu erworbenen grammatischen Funktionen das Vorbild für die analogische Entwicklung der Infinitiv-Konstruktion bei scheinen abgibt“ (Diewald 2001, 107). Außerdem kann noch erwähnt werden, dass im Falle von scheinen die lexikalische Bedeutung des Verbs eine besondere Rolle gespielt haben kann bei der Interpretation dieses als Faktizitätsmarker. So bemerkt Askedal (1998, 62), „dass die subjektive Modalität bei den Modalverben eine nicht lexikalisch festgelegte Interpretationsmöglichkeit, bei scheinen mit Infinitiv aber ein inhärentes lexikalisches Bedeutungsmerkmal ist“. Ähnliches wird möglicherweise auch für die anderen Mitglieder des evidentiellen Paradigmas des Deutschen festzustellen sein, d.h. für die Infinitivkonstruktionen mit drohen und versprechen. Wichtig ist hier festzuhalten, dass deutsche Evidentialitätsmarker, wenn sie als solche eingeordnet werden, keine grammatische Kategorie der Evidentialität bilden, da sie weder obligatorisch sind noch ein ausgebautes grammatisches Inventar zum Ausdruck verschiedener evidentieller Bedeutungen konstituieren, das dem dargestellten Modell deiktischer Dimensionen entspricht. Deutsche Evidentialitätsmarker fungieren als solche vor allem dadurch, dass sie dank ihrer lexikalischen Bedeutung evidentielle Werte zum Ausdruck bringen. Sie befinden sich zwar in einem Grammatikalisierungsprozess, der in der Entwicklung einer grammatischen Kategorie Evidentialität mit obligatorischen Markierungen enden
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könnte, der Prozess ist allerdings noch im Laufe, sodass keine definitive Aussagen hinsichtlich dessen Verlaufs und Ergebnisse gemacht werden können (und sollen). Als Evidentialitätsmarker werden im Deutschen in der neueren Forschung die Infinitivkonstruktionen mit den Verben scheinen, drohen, versprechen eingeordnet (vgl. Diewald 2000, 2004; Gunkel 2000, Askedal 1997b, Heine/ Miyashita 2004). Im Folgenden werden diese Konstruktionen in Kürze dargestellt. 4.5.1. Scheinen + zu + Infinitiv Scheinen kann als Evidentialitätsmarker mit direkter visueller Komponente klassifiziert werden (aus der ursprünglichen Bedeutung des lexikalischen Spenderlexems). Sprachliche Daten zeigen allerdings, dass die visuelle Komponente bei scheinen nicht in jedem Fall relevant ist (Belege (1)-(4) aus Diewald 2004, 246): (1) Ähnliches scheint auch die Aktion-Fünfundsechzig auf ihr Panier geschrieben zu haben. (2)
Das scheint man in der Landesgeschichte aufgespürt zu haben.
(3)
Aber das scheint mir nur ein Spiel mit Worten zu sein.
(4)
Diese Mitteilung ist noch kein Beweis. Sie scheint aber plausible Hinweise darauf zu liefern, warum Offizielle so eifrig zu vernebeln suchen, was die Explosionen wirklich ausgelöst hat.
„Diese Sätze bringen zum Ausdruck, dass der Sprecher aufgrund beliebiger Evidenzen – z.B. direkter Art wie visuelle und akustische Wahrnehmung, aber auch indirekter Art wie Hörensagen oder Schlussfolgerungen – die Vermutung hat, dass die jeweilige Aussage zutrifft“ (Diewald 2004, 246). Der Sprecher verfügt also über nicht weiter spezifizierte Informationen – Evidenzen -, auf deren Grundlage er eine Faktizitätsbewertung vornehmen könnte. Somit lässt sich zusammenfassen, dass das Verb scheinen, das zunächst auf das Vorhandensein visueller Informationen verweist, sich zu einem unspezifischen indirekten Evidentialitätsmarker entwickelt.
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4.5.2. Drohen + zu + Infinitiv Drohen fungiert im heutigen Deutsch nicht nur als Handlungsverb mit der Bedeutung der „für den anderen unangenehmen Absicht“ wie in (5), sondern auch als ein Modalitätsverb (Askedal 1997) oder Halbmodalverb (Eisenberg 2004), welches epistemische Modalität (oder deiktische Faktizitätsbewertung) ausdrückt. Dabei wird gleichzeitig auf das Vorhandensein von Evidenzen verwiesen, die für eine solche Vermutung vom Sprecher herangezogen werden. (5) Karl droht, seinen Chef zu verklagen. (aus Heine/Miyashita 2004, 10) (6)
In Ungarn drohen die Dämme zu brechen. (aus Diewald 2004, 248)
(7)
Wo wir den Eindruck haben, dass [...] ein negativer Tatbestand eingetreten ist, der sich zu verhärten droht. (aus Diewald 2004, 248)
(8)
Ich möchte sogar umgekehrt sagen, [...], dass also eine Überlegenheit der Jungen gegenüber den Alten hier schon droht, in Erscheinung zu treten. (aus Diewald 2004, 248)
(9)
Ein Transfer nach England oder zum ebenfalls stark interessierten deutschen Rekordmeister Bayern München droht jedoch an den Ablöseförderungen der Frankfurter Eintracht von mindestens zehn Millionen Mark zu scheitern. (aus Diewald 2004, 248)
In der in (6) – (9) vorliegender Lesart wird drohen als Evidentialitätsmarker mit ingressiver und negativ wertender Komponente bezeichnet. Die erste Komponente – ingressive Semantik – besagt, dass drohen nur auf die Sachverhalte angewendet wird, deren Realisierung noch aussteht. Die zweite Komponente bedeutet, dass der Sachverhalt als „unerwünscht nach Ansicht des Sprechers“ dargestellt wird. Hier liegt der Unterschied zu den Verwendungsmöglichkeiten des Verbs scheinen. Die Bedeutung von drohen in dieser Funktion kann folgendermaßen paraphrasiert werden: „etwas Unangenehmes könnte bald passieren“ (Heine/ Miyashita 2004, 10). 4.5.3. Versprechen + zu + Infinitiv Versprechen kann in der deutschen Gegenwartssprache auch als ein Evidentialitätsmarker interpretiert werden, der zusätzlich eine Faktizitätsbewer-
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Evidentialität
tung zum Ausdruck bringt. Aus der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung des Verbs versprechen ergibt sich, dass hier die Informationsquelle nicht visueller, sondern zunächst eher auditiver bzw. sprachlich-kommunikativer Natur vorliegt. Das Verb entwickelt sich jedoch in Richtung eines Evidentialitätsmarkers mit unspezifischer Informationsquelle (Belege (10) – (13) aus Diewald 2004, 250-251). (10) Ausgerechnet als mein Traum versprach, pikant zu werden, erwachte ich. (11)
Jetzt aber, wo diese gerade-noch regierende Staatspartei zu werden verspricht, was sie ursprünglich einmal sein wollte, nämlich eine linke Partei, imponiert sie freilich jenen nicht mehr, die sich nicht mit der linken Gesinnung, sondern mit der Macht als solcher identifiziert haben.
(12)
Bauträger und Investoren bleiben beim Gewohnten – einmal, weil es rentabler zu sein verspricht, vor allem aber auch, weil sie auf Bauherren und Käufer schauen.
(13)
Nach diesem Faschingsauftakt verspricht die ‚fünfte Jahreszeit’ närrisch gut zu werden.
Versprechen zeichnet sich auch wie drohen dadurch aus, dass es eine ingressive Komponente enthält, wobei es auf die noch bevorstehende Sachverhalte angewendet wird. Die emotional wertende Komponente lässt sich aber im Gegensatz zu drohen als „erwünscht nach Ansicht des Sprechers“ paraphrasieren. Auf diese semantische Leistung verweist z.B. Askedal (1997b, 19): „in der kommunikativen Praxis [besteht] ein Anlass, durch drohen auf Unerwünschtes, nicht plan- oder ordnungsgemäß Ablaufendes [...] durch versprechen auf Erwünschtes, plan- oder ordnungsgemäß Verlaufendes explizit aufmerksam zu machen.“ Die Konstruktionen mit Verben scheinen, drohen, versprechen + zu + Infinitiv können im Allgemeinen dahingehend beschrieben werden, dass sie schon ziemlich stark als indirekte evidentielle Faktizitätsmarker (oder als faktizitätsbewertende Evidentialitätsmarker)32 grammatikalisiert sind, den-
_____________ 32 Da diese Konstruktionen erst in jüngerer Zeit Objekt linguistischer Diskussion geworden sind, steht eine eindeutige Bestimmung ihres Status innerhalb des deutschen Verbalsystems noch aus. Ich würde allerdings vermuten, dass die Infinitivkonstruktionen mit scheinen, drohen und versprechen eine Gruppe bilden, die nach semantischen Parametern primär als Evidentialitätsmarker eingeordnet werden kann. Indizien für eine solche Einordnung bilden Beobachtungen aus einigen Sprachen (z.B. Bulgarisch, Türkisch), in welcher evidentielle Werte immer „modalisiert“ erscheinen. Die evidentiellen Marker in solchen ‚modalized evidential systems’ (Plungian 2001, 354) tragen immer einen modalen Wert mit, werden aber
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noch noch nicht als Mitglieder einer bestimmten grammatischen Kategorie eingeordnet werden können, weil der Grammatikalisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. 4.5.4. Werden + Infinitiv Ich werde in diesem Abschnitt zu zeigen versuchen, dass die Konstruktion werden + Infinitiv sich der Gruppe der in Kap.4.5. beschriebenen (in den Grammatikalisierungsprozess involvierten) Evidentialitätsmarker anschließt. Werden + Infinitiv fungiert in der heutigen deutschen Sprache als indirekter Evidentialitätsmarker mit inferentieller Bedeutungskomponente. Die Idee von einer gemeinsamen Basisbedeutung der werden-Periphrasen, die außerhalb einer rein temporalen oder einer rein modalen Einordnung zu suchen ist, ist in der linguistischen Forschung nicht neu. Brinkmann (1971, 333) sieht die Offenbarung der Rolle des aktuellen Sprechers als distinktive semantische Eigenschaft dieser Konstruktion: „Überall kommt es nicht auf den zeitlichen Aspekt an, sondern auf die Einstellung des Sprechers“. Der Sprecher äußert mit werden + Infinitiv eine Annahme, „die sich auf Erfahrung stützt“, und weiter: „Die Verantwortung übernimmt jeweils der Sprecher. Insofern könnte die Verbindung [...] auch als Information gelten, für die der Sprecher verantwortlich ist“ (Brinkmann 1971, 398f.). Dieling (1982, 328 f.) weist darauf hin, dass werden „einen spezifischen Typ von Hypothese“ versprachlicht. So „drückt der Sprecher aus, dass er nicht allein gute Gründe für die Annahme von p hat, sondern auch subjektiv daran glaubt, dass p“. Die Basisbedeutung von werden + Infinitiv wird von Diewald (2005, 30 f.) folgendermaßen beschrieben: „Der Sprecher verweist auf Indizien für eine Entwicklung, deren Ergebnis der im Satz dargestellte Sachverhalt ist. Dieser Endzustand ist noch nicht erreicht; die Indizien gelten dem Beginn der Veränderung. Eine tentative Paraphrase für diese evidentielle Grundbedeutung von werden & Infinitiv ist: Der Sprecher hat direkte Anzeichen dafür, dass eine Veränderung vor sich geht, die zu p führt.“ [Hervorhebung E.S.] In einem Punkt kann ich allerdings die Posi-
_____________ deswegen nicht in das modale System betreffender Sprachen eingeordnet. Wierzbicka (1996) unterscheidet auch (wenn auch nicht explizit) zwischen zwei Typen von evidentiellen Systemen: die ersten bekommen von ihr die Paraphrase durch die semantischen Primitiva „I KNOW THIS“, die anderen werden mit der Paraphrase „I THINK THIS“ beschrieben. Somit bilden die ersten die Klasse der so genannten ‚pure evidentials’ und die zweiten erhalten das Attribut ‚modalized evidentials’. Meine Vermutung ist, dass das Deutsche nach dem Prinzip der ‚modalized evidential systems’ seine evidentiellen Bedeutungen realisiert: immer begleitet von modalen Bedeutungskomponenten.
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tion von Diewald (2005) nicht teilen. Sie bemerkt, dass es im Falle der Konstruktion werden + Infinitiv „nicht um Schlussfolgerungen des Sprechers, sondern um direkte [Hervorhebung E.S.] Evidenzen [handelt], die sich am fraglichen Sachverhalt bzw. an einer seiner Komponenten selbst zeigen, die allerdings bezüglich des dominanten Perzeptionskanals nicht wieter spezifiziert sind“. M.E. ist es in erster Linie die Schlussfolgerung des Sprechers, die mit der Konstruktion werden + Infinitiv kodiert wird. Werden als indirekter Evidentialitätszeichen verweist also nicht auf direkte Evidenzen, d.h. Informationen, Umstände, Indizien, die sich im gleichen situativen bzw. kontextuellen Rahmen wie der dargestellte Sachverhalt selbst zu verorten sind, sondern auf indirekte (nicht weiter spezifizierte) Evidenzen, die vom aktuellen Sprecher in Verbindung mit dem dargestellten Sachverhalt gebracht werden. Die Evidenzen werden somit vom Sprecher (und nicht nur) als Prämissen für seinen Schlussfolgerungsprozess aufgefasst und verarbeitet, der dargestellte Sachverhalt (die Proposition) wird mit werden als Folge, Konsequenz dieses Prozesses formuliert. Das besondere Merkmal der Konstruktionen mit werden und Infinitiv ist m.E. ihre inferentielle Bedeutungskomponente. Werden kodiert aufgrund seiner ursprünglichen aktionalen Semantik eine AusgangspunktZiel-Relation, die im Laufe der Grammatikalisierung als eine Grund-Folge-Relation gedeutet wird. Die Informationsquelle, die Evidenzen, die dem Sprecher vorliegen, bilden den Ausgangspunkt oder den Grund für eine logische Operation des Schließens, die den Sprecher letztendlich zu einer Folgerung führt, die mit werden-Konstruktionen ausgedrückt wird. Die Evidenzen, die Informationen, die dem Sprecher vorliegen, werden nicht weiter spezifiziert und nicht explizit genannt. Mit der Konstruktion werden + Infinitiv wird zumindest auf ihr Vorhandensein als Ausgangspunkt des Schlussfolgerns verwiesen. Die Entwicklung der Situation zu einem Zielzustand hin, der in der Aussage mit werden dargestellt wird, findet somit in der mentalen Welt des Sprechers in der Form eines Schlussfolgerungsprozesses statt. Das Verb werden selbst (als Auxiliar) enkodiert also die mentale Tätigkeit des aktuellen Sprechers, und zwar den Prozess des Schlussfolgerns, wobei die Anzeichen, Indizien, Evidenzen (die ihrerseits im Text genannt werden können oder konstruierbar sind) als Prämissen für diesen Prozess gelten. Der mit werden + Infinitiv formulierte Sachverhalt kann hingegen als Konsequenz, Ergebnis dieses Schlussfolgerungsprozesses, allgemein als Folge (Folgerung) definiert werden. In dieser Hinsicht sei auf die Ausführungen von Mortelmans (2005) verwiesen: „Mit werden als Futurauxiliar kodiert der Sprecher seine mentale Leistung, die in einer Vorhersage auf der Grundlage eines Realitätsmodells besteht. Es ist der Prozess, der durch das Verb bezeichnet wird, und nicht ein objektiv sichtbarer Zu-
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standwechsel. Für seine Vorhersage stützt sich der Sprecher auf sein Wissen bezüglich der (Struktur der) Realität. Dieses Wissen um die Realität funktioniert gleichsam als (eher diffuse) modale Quelle: Nur auf der Grundlage eines Realitätsmodells ist der Mensch in der Lage, Aussagen über die Zukunft zu machen“ [Hervorhebungen E.S.]. Die hier angenommene Bedeutung von werden + Infinitiv ist auch mit der Ansicht von Marschall (1987) verträglich: er fasst die Bedeutung von werden + Infinitiv als „noch nicht verifiziert, aber bestätigbar“ auf (S. 130). „Noch nicht verifiziert“ impliziert dabei das Nicht-Wissen des Sprechers, d.h. dass der Wahrheitswert der Aussage dem Sprecher zum Zeitpunkt der Äußerung nicht zugänglich ist. Die Aussagen sind „lediglich als Ergebnisse von Schlüssen möglich“. „Aber bestätigbar“ bringt zum Ausdruck, dass „der Sprecher für seine Aussage Gründe hat – die ihm jedoch nicht hinreichend sind, um seine Äußerung gänzlich ohne Verweis auf seine Subjektivität als Quelle der Äußerung zu vollziehen“. Die von mir hervorgehobenen Ausdrücke im Zitat von Marschall (1987) markieren die wichtigsten Bestandteile der Bedeutung von werden + Infinitiv als eines inferentiellen Evidentialitätszeichens: Gründe sind die Evidenzen, die vom Sprecher als Prämissen für seinen Schlussfolgerungsprozess gelten, Schlüsse meinen den Schlussfolgerungsprozess selbst als mentale Tätigkeit des Sprechers, die zu den Ergebnissen (Folgerungen) in Form von Aussagen mit werden führt; Subjektivität referiert auf den aktuellen Sprecher als „Quelle der Äußerung“ oder, wie in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, als Zwischeninstanz, als zusätzlicher Bezugspunkt, Merkmal [SUBJEKTIV], das allen inferentiellen Evidentialitätsmarkern neben dem Merkmal [INDIREKT] zukommt. Somit ist der Platz der Konstruktion werden + Infinitiv innerhalb der deiktischen Dimension Evidentialität definiert: sie bringt den entfernten, „origoexklusiven“ deiktischen Wert [+INDIREKT] zum Ausdruck mit dem zusätzlichen Verweis auf den aktuellen Sprecher [+SUBJEKTIV]. Diese Definition ist allerdings als eine tentative Bestimmung des Status von werden + Infinitiv im heutigen Deutsch zu verstehen, i) weil sie noch nicht vollständig in dieser Funktion grammatikalisiert ist und ii) weil die Kategorie der Evidentialität selbst in der deutschen Sprache noch relativ schwach repräsentiert ist, weshalb sie sich auch noch nicht als eine grammatische Kategorie formulieren lässt.
4.6. Zusammenfassung Die kognitiv-semantische Domäne Evidentialität wurde in diesem Abschnitt als eine deiktisch determinierte Dimension beschrieben. In Anleh-
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Evidentialität
nung an das Basismodell von Bühler ([1934]1999) und darauf aufbauende theoretische Beschreibungsmodelle (Schmid 1983, Rauh 1984, Diewald 1991, 1999) wurde ein eigenes Modell zur Beschreibung der evidentiellen Dimension erarbeitet. Als distinktiver semantischer Kern aller Evidentialitätsmarker gilt, dass sie auf eine Informationsquelle verweisen, aus der der Sprecher Evidenzen – Beweise – für seine Sachverhaltsdarstellung bezieht (Anderson 1986, Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994 u.a.). Hinzu kommt, dass häufig mittels evidentieller Ausdrücke nicht nur auf das Vorhandensein einer Informationsquelle verwiesen wird, sondern auch die Art der vorliegenden Evidenz spezifiziert wird (visuell, akustisch, Hörensagen etc.). Ich habe versucht, diese übereinzelsprachlich variierende Spezifizierungen in ein allgemeines Beschreibungsmodell zu integrieren, indem allgemeine distinktive Merkmale angenommen wurden, aufgrund deren Oppositionen entstehen, die hinsichtlich der Realisierung dieser Merkmale als merkmalhaft vs. merkmallos unterschieden werden können. Als Origo (deiktisches Zentrum, Orientierung- bzw. Bezugspunkt) innerhalb der evidentiellen Dimension, welche als die Maßeinheit für die Zuweisung eines evidentiellen Wertes gilt, wurde die Beziehung der Identität zwischen der Informationsquelle/den Evidenzen und der dargestellten Situation/ dem dargestellten Sachverhalt definiert. Der Sprecher ist per definitionem in der Origo enthalten (nach den allgemeinen Prinzipien des Aufbaus einer deiktischen Kategorie). Die Basisunterscheidung bzw. die Basisopposition innerhalb der evidentiellen Dimension erfolgt aufgrund der unterschiedlichen (positiv oder negativ) Realisierung des Merkmals [INDIREKT] (vgl. Kap.4.3.1.). Der Einheitlichkeit halber wurde diese Bezeichnung gewählt, sodass [-INDIREKT] dasselbe meint wie [DIREKT]. Diese grundlegende Unterscheidung sorgt dafür, das zwei Bereiche innerhalb der evidentiellen Dimension strikt voneinander getrennt werden können: der „origoinklusive“/ „origonahe“ und der „origoexklusive“/ „origoferne“ Bereiche. Der origoinklusive Bereich umfasst alle deiktischen Werte der betreffenden Dimension, die in unmittelbarer (direkter) Relation zu dem höchstmöglichen deiktischen Wert stehen. Mit [DIREKT] bzw. [-INDIREKT] wird die Beziehung, die Relation bezeichnet (in lokalistischen Begriffen auch Distanz, Entfernung), die zwischen dem dargestellten Sachverhalt (der Proposition) und den Evidenzen besteht und durch die Verwendung von diesen direkten Evidentialitätsmarkern explizit zum Ausdruck gebracht wird. Wenn eine direkte Relation zwischen der Proposition und den Evidenzen festgestellt werden kann, d.h. wenn sich der dargestellte Sachverhalt und die Evidenzen, die als Beweise für diesen Sachverhalt gelten, in einem und demselben kontextuellen (situativen) Rahmen,
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innerhalb einer (meist aktuellen) Sprechsituation befinden, dann erhält die Proposition von der Origo aus einen nahen (origoinklusiven) deiktischen Wert. Als unmarkiertes Glied der Opposition [-INDIREKT] vs. [+INDIREKT] können diese jeglicher sprachlicher Realisierung in Form von expliziten grammatischen Zeichen entbehren, wie es auch empirische Daten aus einigen Sprachen mit obligatorischer evidentiellen Markierungen bezeugen. Mit dem distinktiven Merkmal [+INDIREKT] werden diejenigen Informationen oder Evidenzen versehen, die die Beziehung bzw. Relation („Entfernung“) zwischen der Origo und der dargestellten Situation (Proposition) als distant, entfernt charakterisieren. Der deiktische Wert, der der Proposition von der Origo aus zugewiesen wird, befindet sich im origofernen bzw. origoexklusiven Bereich. Die Bedeutung der indirekten Evidentialitätsmarker kann folgendermaßen beschrieben werden: die Informationsquelle, die Evidenzen für den dargestellten Sachverhalt und der dargestellte Sachverhalt selbst befinden sich nicht in einem und demselben kontextuellen bzw. situativen Rahmen. Hierzu gehören Evidentialitätsmarker, die auf solche Informationsquellen wie Hörensagen, allgemeines Wissen, Tradition und Inferenz verweisen. Diese werden in allen Sprachen mit ausgebauter grammatischer Kategorie Evidentialität obligatorisch explizit markiert. Innerhalb der indirekten Evidentialitätsmarkierungen lässt sich eine weitere Opposition aufbauen (vgl. Kap.4.3.2.): sie betrifft unterschiedliche Realisierungen (positiv oder negativ) des Merkmals [SUBJEKTIV]. Dieses Merkmal bedeutet hier die Einführung eines zusätzlichen Bezugspunktes in Analogie zu anderen deiktischen Kategorien wie z.B. das Tempus im Deutschen, wo Plusquamperfekt und Futur II auch nur durch die Einführung eines zusätzlichen temporalen Bezugspunktes „Betrachtzeit“ vollständig beschrieben werden können. „Subjektiv“ meint hier eine (aktive) Beteiligung des aktuellen Sprechers (speaker’s involvement) an der Verarbeitung von Evidenzen. Der Sprecher ist als „Quelle der Äußerung“, als Zwischeninstanz an der Wahrnehmung und Verarbeitung der vorliegenden Informationen beteiligt und bringt diese mit dem dargestellten Sachverhalt in Verbindung zueinander. Die unterschiedliche Ausprägung des Merkmals [SUBJEKTIV] ergibt die Unterscheidung zwischen den inferentiellen Evidentialitätsmarkern mit dem Wert [+SUBJEKTIV] und den in dieser Hinsicht unmarkierten indirekten Evidentialitätsmarkern (z.B. Hörensagen, wobei der aktuelle Sprecher bekannte Informationen wiedergibt, ohne selbst an der Verarbeitung der Information aktiv beteiligt zu sein). Die positive Ausprägung des Merkmals [SUBJEKTIV] kann oft konversationelle Implikaturen bewirken. Der Verweis auf den aktuellen Sprecher und seine mentale Tätigkeit kann infolgedessen auch als Zeichen für
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eine von ihm vollzogene Faktizitätsbewertung der Proposition gedeutet werden. Es wird somit mit inferentiellen Evidentialitätsmarkern nicht nur die Proposition als Resultat des Schlussfolgerns, sondern zusätzlich dazu eine epistemische Sprechereinstellung gegenüber dem Dargestellten zum Ausdruck gebracht, Letztere allerdings nicht als genuine evidentielle Bedeutung, sondern als konversationelle Implikatur, die der „rein evidentieller“ Bedeutung allmählich anhaften kann. Auf diesem Weg entstehen Korrelationen zwischen Faktizität (epistemische Modalität) und Evidentialität (vgl. Kap.4.4.3.), wobei die Bereiche der epistemischen Notwendigkeit und der inferentiellen Evidentialität (vgl. van der Auwera/ Plungian 1998) sehr schwer voneinander zu trennen sind. Die Konstruktion werden + Infinitiv im Deutschen ist m.E. ihrer Grundbedeutung nach ein inferentieller Evidentialitätsmarker, insofern als sie i) immer den Verweis auf den aktuellen Sprecher leistet (vgl. Fritz 2000b) – im hier erarbeiteten Modell das Merkmal [+SUBJEKTIV], wobei damit der mentale Schlussfolgerungsprozess (die Inferenz) gemeint wird (vgl. Mortelmans 2005), und ii) über diesen Verweis auf den Sprecher und seine mentale Tätigkeit (nicht weiter spezifizierte) Gründe, Informationen, Evidenzen, d.h. den Ausgangspunkt für diesen Prozess der logischen Folgerung vermuten lässt (vgl. Marschall 1978, Dieling 1982). Dieser Ausgangspunkt oder die Informationsquelle können sprecherspezifisch sein, d.h. seiner persönlichen Wissenswelt entstammen, oder auch sprecherunabhängig existieren. Die inferentielle evidentielle Bedeutung wird hier als kleinster gemeinsamer Nenner aller Lesarten von werden + Infinitiv betrachtet.33 Die Konstruktion würde + Infinitiv, die den Hauptuntersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit darstellt, ist semantisch viel komplexer als ihre indikativische Entsprechung werden + Infinitiv. In den folgenden Abschnitten werde ich versuchen zu zeigen, dass würde + Infinitiv im heutigen Deutsch sich kompositionell erklären lässt: einerseits aus der inferentieller evidentieller Bedeutung von werden + Infinitiv und andererseits aus der konjunktivischen Flexion der Konstruktion. Unterschiedliche Lesarten der Konstruktion ergeben sich aus dem Zusammenwirken von semantischen Eigenschaften, die der Konstruktion würde + Infinitiv aufgrund ihres kompositionellen Charakters innewohnen, mit kontextuellen und situativen Faktoren, welche ihrerseits in ungleicher Weise auf die Ausprägung dieser inhärenten semantischen Eigenschaften auswirken.
_____________ 33 Für die Ableitung verschiedener Verwendungen von werden + Infinitiv von dieser Grundoder Basisbedeutung, die hier angenommen wird, siehe Diewald (2005).
5. Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv In diesem Kapitel steht die besondere Leistung des Auxiliars werden innerhalb der Konstruktion würde + Infinitiv im Mittelpunkt der Untersuchung. In Kap.1.2. wurde angenommen, dass die Funktionsleistung der gesamten Fügung sich kompositionell erklären lässt. Im Folgenden wird ausführlich der Frage nachgegangen, welche Bedeutungskomponenten die Konstruktion würde + Infinitiv ihrem formbildenden Auxiliar verdankt, die ihrerseits aus der eigenen werden-Semantik begründet werden können. Dieser Abschnitt stellt eine Untersuchung aus synchroner Perspektive dar. Folgende Fragen werden aufgeworfen: wie stark/ schwach lässt sich die eigene aktionale Semantik des Verbs werden in der heutigen Konstruktion würde + Infinitiv noch spüren? Welche Lesarten könnte diese Wirkung verursacht haben und in welchen Kontexten kommt diese Wirkung am stärksten zur Geltung?
5.1. Werden + Infinitiv: modal oder temporal? Das Verb werden, das sowohl als Auxiliar als auch als Vollverb (verglichen mit sein und haben) und als Kopulaverb in der heutigen deutschen Sprache fungiert, ist als formbildendes Element analytischer Konstruktionen in drei Teilen des Verbalparadigmas vertreten: Tempus, Modus und Genus verbi. Werden als Auxiliar zur Passivbildung ist für die vorliegende Untersuchung nicht von besonderem Interesse, da das Auxiliar werden in den Passiv-Konstruktionen sich mit dem Partizip II verbindet, was andere Auswirkungen auf die Lesarten der gesamten Konstruktion hat. Dagegen weisen die Konstruktionen werden + Infinitiv (traditionell ‚Futur I’ genannt) und würde + Infinitiv starke Affinitäten in der synchronen wie in der diachronen Perspektive auf. Daher halte ich es für angebracht, vorerst näher auf die Bedeutung und die Stelle der Konstruktion werden + Infinitiv im heutigen deutschen Verbalparadigma einzugehen. Die Frage nach dem Status der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv im verbalen System der deutschen Gegenwartssprache ist noch immer offen. Im Mittelpunkt der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung steht das Problem, ob die werden-Fügung primär bzw. ausschließ-
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
lich eine temporale, d.h. futurische, Bedeutung oder eine modale Bedeutung hat. An der Einordnung der Konstruktion werden + Infinitiv in das Tempussystem des Deutschen hält die Mehrzahl der Modelle im Grunde bis heute fest (Fabricius-Hansen 1986, 146; Thieroff 1992, 137; Matzel/ Ulvestad 1982, 327; Gelhaus 1975, 123). Die Vertreter dieser Konzeption führen als Beweise dafür, dass die Konstruktion immer noch als ein Tempus in das Verbalparadigma der deutschen Sprache einzuschließen ist, folgende Punkte an: • Diachronie: die historische Entwicklung der analytischen werdenForm (Einführung zur Kennzeichnung des eindeutigen Zukunftsbezuges); • Semantik: der Zukunftsbezug von den meisten mit werden + Infinitiv formulieren Aussagen; die Fähigkeit der Konstruktion, den Zukunftsbezug ohne weitere kontextuelle Mittel zu erzeugen; • Obligatorik: obligatorisches Auftreten der Konstruktion in bestimmten Fällen; • Ersetzbarkeit: nicht immer leichte Austauschbarkeit mit dem Präsens (keine 1:1-Entsprechung, Synonymität); • Paradigmatik: werden ist mit den übrigen Modalverben nicht gleichzusetzen (werden bildet keinen Futur-Infinitiv, trägt in isolierter Verwendung keine modale Bedeutung); • Gegenargument gegen die modale Interpretation: werden kann nicht auf den Wert „mittlere Wahrscheinlichkeit der Proposition“ (wie es bspw. Vater 1975 macht) reduziert werden, denn es ist mit allen möglichen Modaladverbien verknüpfbar (vgl. Marillier 1997, 95). Die so genannten „Modalisten“ gehen davon aus, dass im Deutschen das Präsens genutzt wird, um auf Ereignisse und Sachverhalte zu referieren, die nach dem Sprechzeitpunkt liegen. Die Form werden + Infinitiv diene vielmehr dem Ausdruck der Modalität. Und werden sei demnach kein Hilfsverb, sondern ein Modalverb. Vater (1975) baut auf Untersuchungen Saltveits (1960) auf und vertritt die These, dass werden immer eine „Modusfunktion“ habe oder, anders ausgedrückt, ein Modalverb sei, auch dann, wenn es sich auf die Zukunft bezieht (vgl. Vater 1975, 74). Werden verhalte sich nicht anders als andere Modalverben wie sollen, wollen, müssen, können, mögen, brauchen und dürfen. Daraus lasse sich schlussfolgern, dass werden + Infinitiv Präsens ebenso wenig ein besonderes Tempus bilde wie die Verbindung eines der genannten Modalverben mit dem Infinitiv (vgl. Vater 1975, 94). Werden verhält sich in der Sprache tatsächlich oft wie ein typisches Modalverb, indem es:
Werden + Infinitiv: modal oder temporal?
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sich mit einem Infinitiv ohne „zu“ verbindet; einen Wahrscheinlichkeitsgrad in Bezug auf das im Hauptverb ausgedrückte Ereignis bezeichnet (vgl. Vater 1997, 60). Auch hinsichtlich anderer syntaktischer Eigenschaften könne man von einer Ähnlichkeit von werden (mit Infinitiv) und Modalverben sprechen (so tritt es z.B. nicht in imperativischer Form auf). Auch auf der Bedeutungsseite stellt Vater (1975) viele Ähnlichkeiten zwischen werden und den Modalverben fest. So rekonstruiert er für werden nicht nur „epistemische“, sondern auch „nicht-epistemische“ Bedeutungen (er nennt sie jeweils „inferentiell“ und „nicht-inferentiell“) (Vater 1975, 121). Die Tatsache, dass mithilfe der Konstruktion werden + Infinitiv mit Gegenwarts-/ Vergangenheitsbezug epistemische Einstellungen des Sprechers ausgedrückt werden können, ist unbestritten. Der modale semantische Wert der werden-Fügung wird in solchen Fällen als Ausdruck der Vermutung, der Unsicherheit bzw. der Ungewissheit des aktuellen Sprechers gegenüber dem Dargestellten aufgefasst. Die Konstruktion werden + Infinitiv mit Zukunftsbezug kann dagegen zwischen den Polen ‚Vermutung’ und ‚(sichere) Voraussage’ sämtliche Gewissheitsgrade ausdrücken. Diese Bedeutungen werden meistens durch den kontextuellen und situativen Rahmen oder durch die zusätzlichen im Text präsenten Angaben (z.B. Modalpartikeln, Modaladverbien) spezifiziert. Itayama (1993, 233) formuliert den grundlegenden Unterschied zwischen dem einfachen Präsens und der werden-Fügung folgendermaßen: dieser liege in der Modalität, also darin, „wie der Sprecher die Faktizität des Sachverhaltes einschätzt“. Mit anderen Worten: Die Realisierung der bezeichneten Proposition wird durch den Einsatz von werden als möglich hingestellt, gilt also weder als bestätigt noch als irreal (ebd.). Die „Modalisten“ weisen bei ihren Untersuchungen auch darauf hin, dass die Konstruktion werden + Infinitiv mit eindeutig zukünftigem Bezug in der deutschen Sprache nicht obligatorisch ist. Der fakultative Gebrauch ist eines der charakteristischen Merkmale dieser Form, die nicht als Tempus Futur in das deutsche Tempussystem eingeschlossen werden dürfe. Einige Theorien zu werden + Infinitiv, so erstmals ausführlich Saltveit (1960), ziehen die Aspektualität/Aktionsart von werden bzw. der damit verknüpften Infinitivverben zur Systematisierung verschiedener Bedeutungsvarianten der Konstruktion heran. Saltveit (1960, 1962) stellte als erster eine Theorie auf, in der er die Regeln für Realisierung der „Zeitfunktion“ bzw. „Modusfunktion“ auf der Grundlage der Aktionsarten der mit werden verbundenen Infinitive formulierte. So ergebe sich bei der Kombination von werden mit durativen bzw. imperfektiven Verben Gegenwartsbezug und modale Interpretation. Dagegen lösen perfektive und • •
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
kontinuative Verben den nicht-modalen Zukunftsbezug aus (vgl. Saltveit 1960, 59). Leiss (1992) formuliert ein aspektuell gestütztes Modell der temporalen bzw. modalen Funktion von werden + Infinitiv, das der Theorie Saltveits diametral entgegengesetzt ist. Der grundlegende Gedanke basiert auf den in den slawischen Sprachen beobachteten Verhältnissen. Konkret zieht Leiss die Umschreibung des Futurs durch das russische budu + Infinitiv heran. Diese Konstruktion wird nur von imperfektiven Verben gebildet, die nicht – wie die Perfektiva – von allein präsentischen Zukunftsbezug herstellen können. Die Abhängigkeit der Konstruktionsbedeutung von der Aspektualität der Infinitivverben führt Leiss dazu, werden + Infinitiv als „ein Tempus im Werden“ (Leiss 1992, 191) zu bezeichnen: Der Grammatikalisierungsprozess habe bis heute noch nicht zu einer einheitlichen grammatischen Bedeutung geführt (Leiss 1992, 203). Aspekt und Aktionsart des Verbs an der Infinitivstelle haben also einen starken Einfluss auf die temporalen Bedeutungen von Verbformen. Werden perfektive Verben als Infinitivkomplemente mit werden verwendet, so komme es aufgrund der Redundanz zu einer Unverträglichkeitsreaktion. Diese kann eine Äußerung als grammatisch inakzeptabel erscheinen lassen oder eine neue Lesart bewirken. Das Letztere treffe bei werden + Infinitiv mit perfektiven Verben zu. Es entstehe die modale Lesart von werden + Infinitiv (vgl. Leiss 1992, 196). Es gibt mittlerweile neuere Ansätze zur Erklärung des Status und der Bedeutung von werden + Infinitiv, die grundsätzlich anders vorgehen als die bisher beschriebenen. Sie versuchen diese Konstruktion jenseits von Kategorien Tempus, Modus und Aspekt zu beschreiben. So definiert Fritz (2000b) die grundlegende Kernsemantik dieser Konstruktion als expliziter „Sprecherbezug“. Das temporale Vorausweisen und die modale Hypothese werden auf die Sprechsituation zurückgeführt, in der der Sprecher Äußerungen über Sachverhalte macht, deren Wahrheitswerte den Kommunizierenden unbekannt sind, da der Sachverhalt in der Zukunft angesiedelt ist bzw. ein gegenwärtiger oder vergangener Sachverhalt unsicher ist. Diese Wahrheitswertneutralität kann dazu führen, dass der Sprecher das zusätzliche Zeichen werden + Infinitiv in seine Äußerungen aufnimmt. Werden + Infinitiv wird innerhalb dieses Ansatzes als ein Zeichen beschrieben, das seine Bedeutung aus dem Verweis auf den Sprecher erhalte, also in der „Sprachlichkeit als solcher“ seine Begründung finde. Ein Zeichen, das wie werden + Infinitiv seine wesentliche Verwendung in der Signalisierung von Zukünftigkeit findet und daneben eine Reihe von Bedeutungen realisiert, die den Sprecher, den Angesprochenen und die Situation betreffen, vertrete den Status des expliziten Sagenszeichens. Die Konstruktion werden + Infinitiv habe verschiedene Lesarten, in denen der „Sprecherbezug“ vom
Werden + Infinitiv: modal oder temporal?
113
Hörer als „Sicherheit“ bzw. als „Unsicherheit“ gedeutet wird („sprechersichere“ „zukunftsbezogene“ vs. epistemische Deutung). Ob der Sprecherbezug als „Sicherheit“ oder „Unsicherheit“ gedeutet wird, sei eine pragmatische Frage, die vor dem Hintergrund der Kommunikationssituation zu beantworten sei (Fritz 2000b, 157). In den letzten Jahren haben sich die Akzente der Forschung auf die Untersuchung kontextueller und situativer Faktoren verlagert, durch die alternative Lesarten der Konstruktion werden + Infinitiv jeweils begünstigt oder blockiert werden, und auf die Ermittlung der grundlegenden Eigenbedeutung dieser Konstruktion. Davon zeugt die genannte Arbeit von Fritz (2000b), in der der Autor die Kernbedeutung (‚Sagenszeichen’) der Konstruktion auskristallisiert und ihre unterschiedlichen Verwirklichungen (Lesarten) von den jeweiligen Kontexten und Kommunikationssituationen einschließlich der Rolle von Kommunikationspartizipanten abhängig macht. Es wird zunehmend darauf hingewiesen, dass sowohl die temporale als auch die modale Interpretation der Konstruktion werden + Infinitiv in konkreten sprachlichen Realisationen nur mithilfe des Kontextes bzw. mittels geeigneter konversationeller Implikaturen eindeutig ermittelt werden können. Im einfachen, vom Kontext isolierten Satz hingegen, der in sich keine temporalen oder modalen Angaben trägt, ist werden + Infinitiv ambig zwischen der temporalen und modalen Lesart. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Studie von Diewald (2005). Der Konstruktion werden + Infinitiv wird hier eine Grundbedeutung zugeschrieben, die als „kleinster gemeinsamer Nenner für alle Verwendungen von werden & Infinitiv betrachtet“ wird (Diewald 2005, 31). Als distinktives Merkmal der Konstruktion werden + Infinitiv wird zum ersten Mal explizit die evidentielle Bedeutungskomponente angesetzt. Das Vorhandensein evidentieller Bedeutungskomponente im semantischen Gehalt der Konstruktion werden + Infinitiv stellen auch Fritz (2000, 150 ff.) und Marillier (1997) fest. So heißt es bei Marillier (1997, 105): „die Konstruktion ‚wird + INF’ besagt, dass der Sprecher den Satz nur auf Grund von Indizien als richtig bzw. wahrscheinlich schätzt, dass aber die Überprüfung der Richtigkeit noch aussteht“.1 Es gibt ferner einige Ansätze, die unterschiedliche werdenVerwedungen abgesehen von den Kategorien Tempus und Modus zu beschreiben versuchen. Darunter sind z. B. Lipsky (2002) und Amrhein
_____________ 1
Zur begrifflichen Klärung der Kategorie Evidentialität und zur Bestimmung des Platzes der Konstruktion werden + Infinitiv innerhalb dieser deiktisch determinierten Dimension vgl. Kap.4.
114
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
(1996) zu nennen. Sie unterscheiden sich im Allgemeinen recht deutlich darin, was sie als gemeinsame Grundbedeutung von werden annehmen. Lipsky (2002) verweist auf die primär pragmatische Funktion der Konstruktion werden + Infinitiv (weder temporal noch modal). Sie geht von der lexikalischen Bedeutung der Kopula werden in Sätzen wie Ich werde krank, Sie wird Lehrerin aus und betrachtet die Bedeutung des Verbs in solchen Konstruktionen als „Zustands- oder Situationsveränderung“, wobei „das folgende Adjektiv oder Nomen [...] das Resultat der Veränderung ausdrückt, das zum Sprechzeitpunkt noch nicht eingetreten ist“ (Lipsky 2002, 105). Auf die Infinitiv-Konstruktionen angewendet, lässt sich diese festgestellte Grundbedeutung folgendermaßen auffassen: „Ist werden mit einer Infinitivform kombiniert, dann existiert das mithilfe des Infinitivs dargestellte Geschehen erst als Resultat des Sprechakts. Oder anders ausgedrückt. Der Sprecher will den mithilfe des Infinitivs dargestellten Sachverhalt von seiner Sprechergegenwart aus ‚wahr werden’ lassen“ (ebd.). Die Erweiterung der lexikalischen Bedeutung auf die Ebene der Sprechakte, also auf die Äußerungsbedeutung oder Illokution, scheint aber der Autorin nicht konsequent gelungen zu sein, und sie beschreibt des Weiteren nur verschiedene Sprechakttypen, in denen die Konstruktion werden + Infinitiv auftreten kann Festgehalten an dieser Stelle sei, dass die meisten neueren Vorschläge davon ausgehen, dass verschiedene Lesarten der Konstruktion werden + Infinitiv aus einer gemeinsamen Grundbedeutung ableitbar sind, die nicht nur der Infinitiv-Konstruktionen zugrunde gelegt werden kann, sondern auch allen anderen Verwendungen des Verbs werden und der Konstruktionen, als deren Bestandteil es auftritt. Diese Erkenntnis wird auch in dieser Untersuchung übernommen und auf die Konstruktion würde + Infinitiv angewendet.
5.2. Die relationale Bedeutungsschablone von werden Wo ist die Grundbedeutung aller werden-Verwendungen zu suchen? M.E. liegt sie in der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung des Verbs werden. Die aspektuelle (aktionale) inchoative Bedeutung gehört zu der Kernsemantik von werden und lässt sich heute noch deutlich in den meisten Verwendungen spüren, ob stark oder nur schwach ausgeprägt. Das Verb werden geht etymologisch über lat. vertere ‚kehren, wenden, drehen’ auf ie. *uert- ‚drehen, wenden’ und ie. *uer- ‚drehen, biegen’ zurück (Pfeifer 1993, 1557) und ist seiner Herkunft nach ein Verb der Bewegung. Seit Beginn der Überlieferung ist werden in der allgemeinen Bedeutung ‚geschehen, entstehen’ üblich (DWB, Bd. 30, 224).
Die relationale Bedeutungsschablone von werden
115
Die aktionale Semantik von werden wird in der germanistischen Forschung auf unterschiedliche Weise interpretiert. Aufgrund seiner Grenzbezogenheit wird es zu den deutschen Perfektiva gezählt. Im Deutschen der Gegenwart lassen sich jedoch oft Verwendungen finden, die nicht unbedingt eine punktuelle Perfektivität aufweisen, sondern den Verlauf einer Zustandsänderung betonen (Fritz 2000b, 37). Leiss (1992, 215 f.) hebt in ihrem Modell die Additivität der Bedeutung von (1) Sie wird Lehrerin hervor, die auf eine verlaufsbezogene Komponente des von ihr ansonsten als „inchoativ“ und „grenzbezogen“ eingeschätzten werden hinweisen. „Im Grunde verhält sich werden wie ein Iterativum, das aus nonadditiven Verbsituationen, die aneinander gereiht werden, besteht. Die Reihung bewirkt die Addivität des Iterativums“ (Leiss 1992, 216). Amrhein (1996) beschreibt werden als ein „mediales Veränderungsverb“ bzw. als ein „Fientiv“. Er zählt es zu einer recht kleinen Gruppe von Verben, die die beiden Merkmale einer gesenkten Agentivität und einer hohen Perfektivität/ Telizität auf sich vereinigen. Es sind seiner Meinung nach prototypische Mutativa, die die Eigenschaft haben, ihr Perfekt mit sein zu bilden. Am nächsten verwandt sei werden in seiner Semantik den anderen inchoativen Verben, wie z. B. sterben, ebenso aber bleiben. Mit den Bewegungsverben teile werden das Merkmal hoher Direktionalität, sei aber weniger punktuell als diese. Der Autor bezeichnet das Auxiliar werden als inchoativ-perfektiv. „Was die Punktualität des Futurs-werden betrifft, so könnte vermutet werden, dass werden diesbezüglich merkmalsneutral ist, da es sowohl mit perfektiven als auch imperfektiven Verben semantisch kompatibel ist“ (Amrhein 1996, 121). Leiss betrachtet werden als „chamäleonartiges Auxiliar“, da es in unterschiedlichen Funktionen jeweils additive bzw. nonadditive Merkmale realisiere und auf diese Weise „sich an seine aspektuelle Umgebung anpasst“ (Leiss 1992, 254). Marillier (1997) definiert werden als ein duratives perfektives Verb und beschreibt seine Bedeutung als „Wendung“, „Übergang von einem Zustand zu einem anderen“. Kotin (1995) behandelt werden als ein „mutatives“ Verb. Er geht dabei von dem differentiellen Merkmal aus, das als „Übergang in einen Zustand“ (werden-Fügungen) vs. „Verbleiben in einem Zustand“ (sein-Fügungen) formuliert wird (Kotin 1995, 14). Er nennt diese Opposition mutativ vs. statal. In der später erschienenen Arbeit untersucht Kotin (2003) die aktionale (aspektuelle) Beschaffenheit des Verbs werden in seinen unterschiedlichen Verwendungen aus der diachronen Perspektive, wobei die ursprünglich mutative Bedeutung anhand historisch überlieferter Daten
116
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
erweitert und interpretiert wird. Der Grundgedanke bleibt aber, dass werden den Eintritt eines Zustandes indiziert. „Die Bedeutung des Zustandswechsels ist stets aktional markiert und kann als mutativ eingeordnet werden, wobei das Verb werden den Endpunkt einer Phase bezeichnet“ (Kotin 2003, 31). Mutativ wird somit als „Eintritt eines Zustandes als Ergebnis einer Handlung“ definiert (S. 65).2 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle aspektuell/ aktional ausgerichtete Vorschläge zur Beschreibung von werden sein genuines (Kern-)Merkmal „Eintritt in einen neuen Zustand“, „Übergang in einen neuen Zustand“, „Zustandwechsel“, „Zustandsänderung“ hervorheben. Ich werde im Folgenden in Anlehnung an Kotin (1995, 2003) für die Benennung der aktionalen Beschaffenheit des Verbs werden die Bezeichnung „mutativ“ verwenden. Dieser Begriff beschreibt m.E. am besten die aspektuelle Semantik dieses Verbs, insofern damit nicht nur der Aspekt der Veränderung, des Wechsels, sondern auch zusätzliche inhärente semantische Eigenschaften von werden umfasst werden: der Ausgangszustand, der „verändert“, „verlassen“ wird, und der neue Zustand, der sich von dem ursprünglichen, „alten“, unterscheidet. Als semantisches Basisschema, das dem Verb werden zugrunde gelegt werden kann, wird hier eine relationale Struktur nach der folgenden Schablone konstruiert: Ausgangspunkt A
→ →
[Relator] R
→ →
Ziel Z
Das semantische Hauptmerkmal „Zustandswechsel“ lässt sich relativ leicht in das als Schablone angenommene relationale Schema einbauen3.
_____________ 2
3
Die Aussagen „als Ergebnis einer Handlung“ oder „als Ergebnis einer vorangegangenen Handlung“ (Kotin 2003, 65) sind allerdings nicht ganz eindeutig, insofern sie den Anschein erweckt, dass eine Handlung zu dem Resultat, welches mit dem mutativen werden formuliert wird, führt. Ich würde vorsichtig vermuten, dass Kotin (2003) damit vor allem betonen will, dass werden nicht nur den Eintritt in einen neun Zustand, sondern auch notwendigerweise den Abschluss eines vorangegangenen Zustandes markiert. Dabei ist nur die Formulierung „Handlung“ nicht besonders geglückt und wäre vielleicht durch eine allgemeinere wie z.B. „Vorgang“ oder „Zustand“ zu ersetzen. Vgl. dazu Kotin (2003, 31): „Die Bedeutung des Zustandsänderung ist stets aktional markiert und kann als mutativ eingeordnet werden, wobei das Verb ‚werden’ den Endpunkt einer Phase bezeichnet“ [Hervorhebung E.S.]. Beim Anwenden des Schemas wurde nur die Bedeutung vom Vollverb werden als ‚entstehen’ und nicht als ‚geschehen’ berücksichtigt. Der Grund dafür liegt darin, dass die ingressive (mutative) Bedeutung offenbar die historisch frühere Bedeutung darstellt, die in Gebrauch kam, obwohl das Verb werden vermutlich beide Interpretationen zuließ. Die habituelle oder „langsame“ (mutativ-atelische) aktionale Bedeutungskomponente kam erst später dank der Zurückstellung der „schnellen“, mutativ-telischen Komponente in bestimm-
117
Die relationale Bedeutungsschablone von werden
A A
→ →
R → werden [wird] → Änderung, Wechsel
Z Z
Dieses abstrakte Schema zeigt, das das Verb werden in seiner Semantik auf den Moment des Wechsels, des Umschlagens, der Veränderung fokussiert, darüber hinaus aber auch die äußeren Pole (Ausgangspunkt und Ziel) umfasst, nämlich Zustände/ Handlungen/ Vorgänge oder auch Merkmale, die aufeinander folgen. Werden als Relator stellt einen gegenwärtigen Ausgangszustand einem noch zu vollendeten Endzustand gegenüber. Nicht der Verlauf des Geschehens ist betont, der Fokus ruht vielmehr auf dem Umschlag zum Endzustand hin, der allerdings in weiter Ferne liegen kann (vgl. Amrhein 1996, 88). Werden ermöglicht es dank seiner mutativen Semantik, eine Brücke, eine Relation zwischen zwei aufeinander folgenden Ereignissen/ Zuständen herzustellen, und zwar eine Folge-Relation. Diese im werden verankerte Bedeutung hebt z.B. Heringer (1983, 115) in seiner Arbeit zu zukunfzsbezogenen Präsensverwendungen hervor. Er betrachtet die Implikation eines Satzes Er wird X im Unterschied zu anderen Verben wie folgt: (2) Er ist X. ≠ Er wird X. sein. Er wird X.
>>>
Er ist nicht X. Er wird X. sein. Er bleibt X. >>> Er ist X. Er wird X. sein. Bemerkenswert ist, dass werden keine feste Bindung an das (grammatische) Subjekt aufweist, sondern eher auf bestimmte Eigenschaften/ Merkmale, die dem Subjekt zugeschrieben werden können, Bezug nimmt. Das Subjekt kann nur dann in das relationale Schema eingebaut werden, wenn es bestimmte Eigenschaften besitzt, die als eine ursprüngliche Eigenschaft (Zustand) und eine neue, von der ursprünglicher verschiedene Eigenschaft (oder Zustand) spezifiziert werden können. Wichtig ist, dass der ursprüngliche Zustand (Eigenschaft) nicht immer genannt werden muss, während der neue Zustand (Eigenschaft) stets explizit zum Aus-
_____________ ten Konstruktionen auf und wurde weiterentwickelt. Kotin (2003) untersucht diese diachrone Entwicklung ausführlich am Beispiel der Verbindungen von werden mit Partizip II in der althochdeutschen Periode (108ff.) und erstellt ein Grundschema der kategorialen Genesis von werden: aktional ambig (‚sich wenden’, ‚sich drehen’) > atomar-mutativ, nichtadditiv („schnelles“ werden) > habituell (mit Neutralisierung der Opposition „schnell“ vs. “langsam“) > nichtatomar-mutativ, additiv („langsames“ werden) > nichtmutativ (Kotin 2003, 110).
118
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
druck gebracht wird. Der Ausgangspunkt ist aber in der semantischen Spezifikation der Relation des Pfades (des Relators werden) stets als vorhanden vorausgesetzt, selbst wenn dieser sprachlich realisierte Ausgangspunkt keine weiterführende lexikalische Angaben über den ursprünglichen Zustand/ Eigenschaft enthält. Es wird vorausgesetzt, dass der Ausgangszustand/ die Ausgangseigenschaft von der neuen/ neu eintretenden Eigenschaft unterschieden ist, mit ihr nicht zusammenfällt. Angemerkt sei hier noch, dass für das grammatische Subjekt eines Satzes mit werden das Merkmal [+belebt] nicht von besonderer Relevanz ist. Verschiedene Eigenschaften können sowohl belebten als auch unbelebten Subjekten zugeschrieben werden. Im Folgenden werde ich die Positionen Ausgangspunkt und Ziel im relationalen Schema des Verbs werden „Zustände“ nennen, weil sich die Eigenschaften/ Merkmale, die dem Subjekt zugeschrieben werden können, sich als Zustände verbalen Charakters, in denen sich das Subjekt befindet, umschreiben lassen (z.B. ‚Arzt’ = ‚Arzt sein’, ‚dunkel’ = ‚dunkel sein’). Um das anhand einiger konkreter Beispiele zu verdeutlichen: (3) werden als Vollverb Es wird Abend. Es → wird → Abend A → [Relator] → Z Syntaktisch gesehen ist in diesem Satz ‚Abend’ das Subjekt, in dem relationalen Basisschema ist das das Ziel. Die Position des Ausgangspunktes nimmt der „bedeutungsleere“ Platzhalter es, dem aber, obwohl er „leer“ zu sein scheint, bestimmte kontextbezogene semantische Merkmale zugeschrieben werden können, die durch die relationale Position des Verbs werden determiniert sind. Es wird zu einem Element, das das NichtVorhandensein des Zustandes ‚Abend sein’ manifestiert, obwohl es eigentlich keine Entität ist, der irgendwelche Eigenschaften zueigen gemacht werden können.4
_____________ 4
Das Vollverb werden wird hinsichtlich seiner Valenz als einstellig betrachtet (Helbig/Schenkel 1980, 259f.). Das „leere“ es ist also nur als bloßer Platzhalter im Satz zu verstehen. Das „Wörterbuch zur Valenz und Distribution“ (Helbig/Schenkel 1980) gibt allerdings in den Anmerkungen an, dass dieses es bei der Variante 2 (wie sie das einstellige werden bezeichnen) nicht durch ein Substantiv substituierbar ist, dass es aber auch bei der Verberststellung von Sn (Substantiv im Nominativ) oder Adj (Adjektiv) erhalten bleibt. Die Tatsache, dass obwohl die obligatorische Ergänzung, Substantiv oder Adjektiv, vorhanden ist, es trotzdem nicht immer möglich ist, das „leere“ es wegzulassen, legt die Vermutung nahe, dass diese Position (Ausgangspunkt) in der semantischen Schema vom Verb werden doch festgelegt ist, wenn auch nicht obligatorisch, sondern potentiell besetzbar. Die obligatorische Ergänzung (Sn oder Adj) ist als abstrakte semantische Position im relationaler Schema das Ziel, das wie schon oben erwähnt meist explizit zum Ausdruck gebracht wird. Das Subjekt, dem der Zustand ‚Abend sein’ zugewiesen wird, ist aber in diesem Satz nicht
119
Die relationale Bedeutungsschablone von werden
Anders ist es bei der Kopula werden (Beispiele aus Helbig/ Schenkel 1980, 259 f.): (4) Mein Freund wird Arzt. (5)
Das Eis wird Wasser.
(6)
Er wird krank.
Hier ist das grammatische Subjekt des Satzes zugleich das Element, dem bestimmte Zustände/ Eigenschaften zugeschrieben werden können: A
→[Relator]
→
Z
(4’)
Mein Freund mein Freund [- Arzt sein]
→wird → wird
→ →
Arzt mein Freund [+Arzt sein]
(5’)
das Eis [-flüssig sein]
→ wird
→ das Eis [+flüssig sein]=Wasser
(6’)
er [-krank sein] →wird
→
er [+krank sein]
Werden als Relator oder Pfad stellt eine Verbindung zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ziel her und setzt zugleich diese zwei Elemente in seinem semantischen relationalen Schema voraus. Wenn es ein Ziel gibt, das explizit zum Ausdruck gebracht wird (krank sein, Arzt sein), dann gibt es auch einen Ausgangspunkt, der diese explizit ausgedrückte Eigenschaft nicht besitzt, oder anders gesagt, das Nicht-Vorhandensein dieser Eigenschaft manifestiert. Diese potentielle Besetzbarkeit der Position des Ausgangspunktes, die in der relationalen semantischen Schablone des Lexems werden stets als präsent gedacht wird, wird durch die gestrichelte Linie dargestellt. Die explizite grafische Trennung zwischen zwei Bereichen wird vollzogen, um deutlich zu machen, dass das Verb werden auf die Bezeichnung des Veränderungsprozesses (R) und dessen Resultats (Z) fokussiert. Und das ist der semantische Gehalt, der immer eine textuelle Explikation erfährt. Der Ausgangspunkt gehört zwar als fester Bestandteil der Bedeutung von werden in das relationale Schema. Dennoch entbehrt dieser häufig einer expliziten Ausführung im Text und ist, mit anderen Worten, potentiell besetzbar und daher eher erschließbar durch die Gegenüberstellung mit dem Zielpunkt (s.o.).
_____________ das syntaktische Subjekt ‚Abend’, sondern eine abstrakte Entität, die Umwelt, die sich aus einem ursprünglichen Zustand ‚Nicht-Abend sein’ (Tag, Nachmittag) in den neuen, genannten Zustand wechselt.
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A (=[-Z])
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
R werden
Z (=[+Z])
Relationale Struktur des Lexems werden
Das vorgeschlagene relationale Basisschema lässt sich auch auf die auxiliare Verwendungen des Verbs werden anwenden. Die konkreten Bedeutungsinterpretationen gleichen nicht mehr im vollen Maße den Verwendungen des Vollverbs oder der Kopula werden, weil sie natürlich durch die Abschwächung der eigenen Semantik des auxiliarisierten Verbs und durch die eigene Bedeutung des Infinitivkomplements bewirkt werden. Aber das Basisschema, das „Bildschema“ (Sweetser 1988, 390 ff.) bleibt erhalten. So bezeichnet ein Passivsatz (7) Das Haus wird gebaut. Das Haus [-gebaut] → wird → das Haus [+gebaut] vereinfacht und schematisiert dargestellt eine Veränderung, eine Entwicklung vom Ausgangspunkt (das Haus, das noch nicht fertig gebaut ist) zum Zielpunkt hin (das Haus, das fertig gebaut ist), die mithilfe von werden sprachlich realisiert wird. Die Bedeutung, die ein passivischer Satz vermittelt, ist natürlich viel komplexer als hier dargestellt. Auf die ausführliche Beschreibung des werden-Passivs wird hier verzichtet, weil dies nicht zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit gehört. Wichtig an dieser Stelle ist, dass die semantischen Relationen des für werden konstruierten Basisschema auch in seinen Verwendungen als passivbildendes Auxiliar sichtbar bleiben. Die Veränderung, die Entwicklung vom Ausgangszustand [-gebaut] zum Zielzustand [+gebaut] verläuft nicht schnell, werden bezeichnet somit nicht den Moment des Umschlagens, des Wechsels, sondern eher den Prozess, ist also ein „langsames“ werden. Diese „langsame“ Interpretation der aktionalen Semantik von werden ist offensichtlich für seine Grammatikalisierung als Passivauxiliar bemüht worden, um den Prozess der Entstehung eines neuen Zustandes, einer neuen Eigenschaft, und nicht diesen neuen Zustand, diese neue Eigenschaft selbst als Ergebnis eines solchen Prozesses in den Vordergrund zu rücken.
Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv
121
5.3. Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv Nachdem in Kap.5.2. die mutative aktionale Semantik des Verbs werden behandelt wurde und die relationale Schablone für diese erarbeitet wurde, wird im folgenden Kapitel zu klären sein, ob diese Schablone auch auf die Infinitivkonstruktionen mit werden angewendet werden kann. In Kap.5.1. wurde erläutert, dass für die Konstruktion werden + Infinitiv die grundlegende evidentielle Bedeutung angesetzt werden kann. Das relationale Basisschema fällt bei solchen werden-Verwendungen nicht gleich ins Auge. Dies deutet darauf hin, dass die Konstruktion werden + Infinitiv offenbar Wandlungsprozesse durchlaufen hat, wobei die ursprüngliche „primitive“ Bedeutung „Eintreten in einen neuen Zustand“ durch einige semantische sowie pragmatische Komponenten erweitert und überlagert wurde. Die Position des Ausgangspunktes, die, wie oben festgestellt wurde, dazu dient, das Nicht-Vorhandensein des im Ziel-Element ausgedrückten Zustandes zu manifestieren, wird im Falle der Infinitiv-Konstruktionen expandiert. Im Falle der Konstruktion werden + Infinitiv umfasst die Position des Ausgangspunktes nicht mehr nur die Entitäten, die im Satz beschrieben werden (im Defaultfall das Satzsubjekt), sondern bezieht sich auf die metatextuelle Ebene der betreffenden Äußerung. Diese außersprachlichen Faktoren sind Informationen, Anzeichen, Evidenzen, über die der Sprecher verfügt und auf deren Grundlage er seine Aussagen macht. Das ist die Informationsquelle, die als Ausgangspunkt in einer Aussage mit werden + Infinitiv interpretiert wird. In dieser Hinsicht ist die relationale Struktur der Konstruktion werden + Infinitiv mit der grundlegenden relationalen Struktur der objektiv epistemischen Modalität vergleichbar. Die Informationen (unspezifische Umstände, Evidenzen = modale Quelle), die die Möglichkeit oder die Notwendigkeit eines Sachverhalts „erzwingen“ oder „ermöglichen“, gelten als Ausgangspunkt einer gerichteten modalen Relation.
122
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
Modale Quelle (= unspezifische Umstände, Evidenzen)
(Modalverb
→
(Proposition))
Relationale Struktur des objektiv epistemischen Gebrauchs deutscher Modalverben (Diewald 1997, 80)
„Als Modalquelle in diesem Gebrauch erscheint ein beliebiger Umstand, der die Existenz oder das Zutreffen der Proposition bedingt“ (Diewald 1997, 79). Bei der objektiv epistemischen Modalität geht es also in erster Linie darum, dass eine Verbindung zwischen der modalen Quelle und dem dargestellten Sachverhalt (Proposition) hergestellt wird und diese Verbindung vom aktuellen Sprecher zum Ausdruck gebracht wird. Diese Verbindung ist allerdings nicht sprecherspezifisch, sprecherabhängig, d.h. sie ist nicht in seiner „Subjektivität“ verankert, sondern existiert unabhängig von ihm in der realen Welt. Der Sprecher lässt den von ihm dargestellten Sachverhalt (Proposition) „als eine objektive Tatsache“ (Lyons [1977]1983, 397) gelten. „Mit dem Äußern einer objektiv modalisierten Äußerung legt sich der Sprecher darauf fest, dass die dem Adressaten gegebene Information den Tatsachen entspricht“ (Lyons [1977]1983, 398). Die außersprachlichen Fakten oder Umstände (modale Quelle) werden vom Sprecher als Faktoren betrachtet, die das Zutreffen oder Nichtzutreffen der Proposition bedingen, und gelten daher als Evidenzen (Diewald 1997, 82; vgl. auch zu Implikaturen Kap.4.4.3.). Der semantische Unterschied zwischen der objektiv epistemischen Modalität und der deiktischen Modalität sollte durch die oben ausgeführten Überlegungen klar geworden sein. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch weitere Distinktionen zwischen den beiden Modalitätsarten erklären, die sich auf der Ausdrucksebene niederschlagen und die für die weitere Beschreibung von werden + Infinitiv relevant erscheinen. Die objektiv epistemisch gebrauchten Modalverben bilden zusammen mit der Proposition, die sie modifizieren, „eine übergeordnete Sachverhaltsdarstellung“ (Diewald 1999, 79). So haben sie einerseits einen weiten Skopus, insofern sie die gesamte Proposition dank ihrer modalen lexikalischen Bedeutung
Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv
123
modifizieren, andererseits sagen sie etwas zusätzliches zu dem propositionalen Gehalt der Aussage aus; und zwar versprachlichen sie eine bestimmte „modale Relation“, die zwischen dem dargestellten Sachverhalt und der modalen Quelle (den als Evidenz geltenden Umständen) besteht. In dieser Hinsicht können sie als sekundäre Prädikationen aufgefasst werden. Die „übergeordnete Sachverhaltsdarstellung“ kann somit inhaltlich in zwei Bestandteile untergliedert werden: zum einen in den propositionalen Gehalt selbst, zum anderen in die modale Bedeutung der Notwendigkeit oder der Möglichkeit des Bestehens oder des Zutreffens dieser Proposition, die durch die Verwendung eines bestimmten Modalverbs zu dem propositionalen Gehalt hinzukommt. Anders ist es bei der deiktischen (häufig auch „subjektiv epistemisch“ genannt) Modalität. Ein deiktisch gebrauchtes Modalverb ist nicht mehr Bestandteil der Sachverhaltsdarstellung, sondern ein grammatisches Zeichen, das die deiktische Beziehung zwischen der Origo und der Proposition herstellt und diese Beziehung „benennt“, d.h. sie auf der Skala der deiktischen Faktizitätswerte positioniert (vgl. Diewald 1999, 78). Das Modalverb bringt hier keine lexikalische Bedeutung der Notwendigkeit oder der Möglichkeit mehr zum Ausdruck, sondern einen bestimmten Grad auf der Skala der Faktizitätswerte (z.B. ‚vielleicht’ oder ‚sicher’). Es handelt sich somit nicht um zwei Prädikationen, die innerhalb einer „übergeordneten Sachverhaltsdarstellung“ differenziert werden können, sondern nur um eine Prädikation. Deiktisch gebrauchte Modalverben sind grammatische Zeichen, die die Proposition innerhalb ihrer funktionalen Domäne (hier: Faktizität) charakterisieren und der Proposition also einen bestimmten deiktischen Wert zuweisen. Die Proposition selbst wird daher nicht behauptet, sondern nur die deiktische sprecherbezogene Faktizitätsbewertung dieser. Kurz gefasst, der zwischen beiden Gebrauchsweisen relevante Unterschied ist der „zwischen der unqualifizierten Behauptung der Möglichkeit einer Proposition und der qualifizierten Behauptung ihrer Faktizität“ (Lyons [1977]1983, 354). Daraus ergeben sich distinktive Eigenschaften auf der Ausdrucksebene, die beide Lesarten der Modalverben voneinander scheiden: wie Lyons ([1977]1983, 398 f.) zeigt, können nur objektiv epistemische Aussagen erfragt, negiert, eingebettet und in Konditionalsätzen als Voraussetzung verwendet werden. Dabei wird die Möglichkeit/ Notwendigkeit der Proposition (des dargestellten Sachverhalts) in Frage gestellt, akzeptiert, abgelehnt oder vorausgesetzt. Dies betrifft beide Bestandteile der „übergeordneten Sachverhaltsdarstellung“: einerseits die modale Komponente, die durch die lexikalische Bedeutung des Modalverbs zustande kommt, und andererseits die Proposition selbst, die als „objektive Tatsache“ formuliert
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
wird. Außerdem kann objektiv epistemische Modalität in subjektiv epistemische (deiktische) Modalität eingebettet werden. Deiktische Modalität erfasst somit die gesamte Proposition inklusive aller sonstigen Modalisierungen, wie es für eine grammatische Kategorie im Bereich der Verbmodi zu erwarten ist. All dies spricht nun dafür, die deiktische Modalität als eine grammatische Kategorie (zum Ausdruck verschiedener deiktisch determinierter Faktizitätswerte) anzusehen, objektiv epistemische Modalität dagegen nur als eine mögliche Lesart ursprünglicher lexikalischer Bedeutung von Modalverben (mit weitem Skopus). Die vorangegangenen Überlegungen können nun auf die Konstruktion werden + Infinitiv übertragen werden. In Kap.4 wurde festgestellt, dass die deutsche Sprache in ihrem heutigen Zustand keine reinen Evidentialitätsmarker im Sinne einer ausgebauten grammatischen Kategorie besitzt. Alle Evidentialitätsmarker, die heute als solche klassifiziert werden können (die Infinitivkonstruktionen mit scheinen, drohen, versprechen und werden), fungieren als sekundäre Prädikationen, die zusätzlich zu dem propositionalen Gehalt der Aussage Informationen über deren evidentiellen Status liefern. Dies kann ferner dahingehend interpretiert werden, dass die Kategorie Evidentialität als eine „Kategorie im Werden“ bezeichnet werden kann, insofern sie sich in einem Entwicklungsstadium befindet, in dem bestimmte lexikalische Mittel (wie z.B. parenthetische Einschübe wie ich sehe, wie ich höre) zum Ausdruck evidentieller Bedeutungen durch weitere, stärker grammatikalisierte Einheiten „ergänzt“ werden.5 Die Konstruktion werden + Infinitiv kann m.E. daher als eine Konstruktion „im Werden“ behandelt werden. Sie konnte noch keinen genuinen deiktischen Status eines grammatischen Markers innerhalb der evidentiellen Kategorie erlangen. Jedoch sind alle Anzeichen dafür vorhanden, diese Konstruktion als sekundäre Prädikation, die etwas über die Informationsquelle (Evidenzen) aussagt, aufzufassen. Weder der aktuelle Sprecher noch die von ihm unabhängig existierende Informationsquelle können eindeutig und ausschließlich als Bestandteile der Origo für die Zuweisung
_____________ 5
Man könnte ferner vermuten, dass die Kategorie Evidentialität im Deutschen (und auch in anderen germanischen Sprachen) in ihrer Entwicklung einen besonderen Weg aufschlägt, insofern deutsche Evidentialitätsmarker immer auch einen markierten Wert der Faktizitätsbewertung zum Ausdruck bringen und in sehr engen Wechselbeziehungen zu der Moduskategorie (Faktizität) stehen. Da allerdings die letzte in der deutschen Sprache schon ziemlich stark grammatikalisiert ist, übt sie die sog. „Sogwirkung“ (Diewald 2004) auf die relativ „jungen“ evidentiellen Konstruktionen (Elemente) aus, indem sie diese sozusagen „einsaugt“. Dies führt dazu, dass die Evidentialitätsmarker „im Werden“ sich nicht zu den „reinen“ Evidentialitätskonstruktionen (-morphemen) entwickeln können, sondern in die Moduskategorie eingegliedert werden als modale Zeichen, die einen zusätzlichen evidentiellen Wert zum Ausdruck bringen.
Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv
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eines bestimmten evidentiellen Wertes ([+/- INDIREKT], [+/- SUBJEKTIV]) definiert werden, da sie durch die Verwendung von werden + Infinitiv zwar vorausgesetzt bzw. impliziert werden, dies jedoch nicht in dem Maße geschieht, wie es bei einer grammatischen Kategorie zu erwarten wäre. Eine grammatische Kategorie wird in ihrem deiktischen Status dadurch determiniert, dass sie ihren Deixisobjekten, den denotierten Entitäten (hier: den Propositionen) von der Origo ausgehend (als einem abstrakten, nicht eliminierbaren Koordinatennullpunkt) einen bestimmten deiktischen Wert zuweist. Somit ist die Origo einerseits ein unabdingbarer Bestandteil einer deiktischen Kategorie, andererseits bleibt dieser Bezugspunkt durch die Verwendung eines deiktischen Zeichens immer impliziert, d.h. es werden keine weiteren (kontextuellen) Mittel benötigt, um die Origo festzulegen. Die Relation zwischen der Origo und der denotierten Entität (Proposition) wird reduziert auf den deiktischen Wert, der sich aus dieser Relation ergibt. So sagt z.B. das Präteritum nicht, dass der dargestellte Sachverhalt in einer zeitlichen Beziehung der Vergangenheit zur Origo steht, die sich in der Gegenwart befindet, sondern nur, dass die Proposition bezüglich der Origo (die durch das Verwenden des Präteritums impliziert und vorausgesetzt wird) den Wert „origofern“ und somit „vergangen“ trägt.6 Die Konstruktion werden + Infinitiv sowie die objektiv epistemisch gebrauchten Modalverben erweisen sich also als sprachliche Elemente, die zwar immer auf einen bestimmten Ausgangspunkt Bezug nehmen (Informationsquelle oder modale Quelle), diesen jedoch nicht als Origo setzen, von der ausgehend der Proposition ein bestimmter deiktischer Wert zugeschrieben wird. Sie denotieren die Beziehung, die Relation zwischen diesem Bezugspunkt und der Proposition: epistemisch gebrauchte Modalverben stellen die Beziehung zwischen der modalen Quelle und dem dargestellten Sachverhalt als möglich bzw. notwendig dar; werden + Infinitiv kodiert die Relation zwischen der Informationsquelle und der Proposition als eine Prämisse-Konklusions-Relation (oder abstrakter ausgedrückt: als eine Grund-Folge-Relation). Aus diesem Grund sind die beiden Elemente nicht deiktisch, sofern sie eine Beziehung denotieren und nicht bloß den
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Vgl. dazu Langacker (1985, 1990, 2002), der „grounding predications“ oder „grounding elements“ dahingehend beschreibt, dass sie immer den „ground“ als „reference point“ implizieren, ohne ihn irgendwie explizit zu erwähnen: „[...] the ground remains implicit and serves as a reference point“ (2002, 10); „A pivotal feature of the account is that a grounding element profiles only the grounded entity, not the grounding relationship” (2002, 13); “A grounding element does not specifically mention the ground, despite invoking it as a reference point” (ebd.). Siehe ferner die Arbeiten von Mortelmans (2001, 2004, demn.), die eingehend den Status von deutschen Modalverben und von der Konstruktion werden + Infinitiv als „grounding predications“ aus der Perspektive der kognitiven Grammatik untersucht.
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
Wert, der der Proposition in Bezug auf einen Koordinatennullpunkt zugeschrieben wird. Um das wichtigste zusammenzufassen: Es lassen sich für die Konstruktion werden + Infinitiv folgende distinktive Eigenschaften formulieren, die ihren Status einer inferentiellen7 Evidentialitätskonstruktion „im Werden“ rechtfertigen: 1. werden bildet (wie die objektiv epistemisch gebrauchten Modalverben) zusammen mit der Proposition eine übergeordnete Sachverhaltsdarstellung, die sich aus zwei inhaltlichen Bestandteilen zusammensetzt; somit fungiert die Konstruktion werden + Infinitiv als eine sekundäre Prädikation, die etwas zu dem propositionalen Kerngehalt der Aussage hinzufügt; 2. als eine sekundäre Prädikation übernimmt die Konstruktion werden + Infinitiv nicht die Funktionen einer grammatischen Kategorie (wie z.B. Tempus oder Modus), indem sie der Proposition einen deiktischen Wert zuweist, sondern erweitert die Aussage um weitere semantische Komponenten: die Proposition wird als Folge/ Endpunkt eines Schlussfolgerungsprozesses des Sprechers dargestellt; dieser Schlussfolgerungsprozess seinerseits basiert auf nicht weiter spezifizierten Evidenzen (Informationen) – Prämissen; 3. das Vorhandensein von Prämissen, die als Ausgangspunkt für Folgerungen des Sprechers fungieren, ergibt sich aus der relationalen Schablone des Verbs werden, welche die Position des Ausgangspunktes stets mit einschließt, selbst wenn diese in konkreten sprachlichen Realisierungen nicht obligatorisch zu besetzen ist.
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Der Begriff „inferentiell“ wurde häufig zur Beschreibung der epistemischen Modalität verwendet (vgl. Calbert 1975, Vater 1975, Öhlschläger 1989). Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass „inferentiell“ in dieser Arbeit nicht dieser Tradition folgend verwendet wird, um mögliche „Begriffsuneindeutigkeit“ zu vermeiden. Der Begriff „inferentiell“ zur Beschreibung der Art der Modalität basiert auf der Erkenntnis, dass zwischen der modalen Quelle (oder: den Umständen, Evidenzen) und dem Wahrheitswert (dem Faktizitätsgrad) der Proposition die Relation der logischen Folge oder der logischen Verträglichkeit festgestellt werden kann. Dabei wird mit dem Begriff „inferentiell“ häufig der gesamte Bereich der epistemischen Modalität umschrieben (Calbert 1975, Vater 1975). Ich verwende den Begriff „inferentiell“ folgendermaßen: mit „inferentiell“ wird in dieser Arbeit hauptsächlich eine Unterart der Evidentialität gemeint, wobei der Schlussfolgerungsprozess (die Inferenz, reasoning) des Sprechers einen unentbehrlichen Teil der Bedeutung eines sprachliches Elements ausmacht. „Inferentiell“ also, wenn es hier gebraucht wird, referiert in erster Linie auf die mentale Aktivität des Sprechers, die darin besteht, auf der Basis der vorliegenden Evidenzen (Informationen), die von ihm als Prämissen aufgefasst werden, einen Schlussfolgerungsprozess zu vollziehen, welcher seinerseits zu Konklusionen führt, die im Satz mithilfe inferentieller Evidentialitätsmarker als solche gekennzeichnet werden.
Die relationale Bedeutungsschablone von werden + Infinitiv
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Bei der werden-Konstruktion geht es also nicht um Modalität im Sinne der Notwendigkeit oder der Möglichkeit des Zutreffens der Proposition, sondern um die mentale Leistung des Sprechers. Was im Falle der objektiv epistemischen Modalität als „modale Quelle“ angesetzt wird, ist hier die „Informationsquelle“, die sich ähnlich wie die modale Quelle aus außersprachlichen Fakten, Umständen – Evidenzen – zusammensetzt. Sie existiert unabhängig vom Sprecher, wird aber vom Sprecher als Urheber der Äußerung in den sprachlichen Kontext hereingebracht.8 Diese Informationsquelle bildet somit den Ausgangspunkt der gerichteten Relation, die zum Ziel führt, welches die Proposition selbst ist (und nicht die Notwendigkeit oder Möglichkeit ihrer Existenz oder ihres Zutreffens, wie es bei der epistemischen Modalität der Fall ist). Der Pfad oder Relator werden kodiert den (mentalen) Weg von der sprachlich formulierbaren Informationsquelle (Prämissen) zur sprachlich ausgedrückten Proposition (Folgerung). A Informationsquelle ↔ A’ Sprecher (Information=Prämisse(n))
R werden (Entwicklung = Schlussfolgerungsprozess) Sachverhaltsdarstellung Z Proposition (Folgerung = Ergebnis des Schlussfolgerungsprozesses) Schema 5-1. Relationale Struktur der Konstruktion werden + Infinitiv
Das Schema zeigt, dass werden zusammen mit der Proposition eine komplexe Sachverhaltsdarstellung bildet. Im Unterschied zu werden als Vollverb
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Aus dem Grund, dass die Informationsquelle eigentlich unabhängig vom Sprecher in der Faktenwelt existiert, aber eben vom Sprecher im sprachlichen Kontext zum Vorschein gebracht wird, kommt Fritz (2000b) zu der Überzeugung, dass werden + Infinitiv den Sprecher selbst, sein Vorhandensein, seine Beteiligung an der Aussage kodiert. M.E. umfasst diese Beschreibung von werden + Infinitiv nicht vollständig die Bedeutung dieser Paraphrase, insofern ein wesentlicher Bestandteil der Bedeutung, und zwar die Informationsquelle, die als Ausgangspunkt dieser „Sprecherbeteiligung“ gilt, nicht miterfasst wird. Der Sprecher bringt mit der Verwendung von werden + Infinitiv zum Ausdruck, dass es irgendwo in der „Außenwelt“ eine Informationsquelle existiert und dass er seine Äußerung darauf stützt, und nicht, dass die Äußerung nur seine subjektive Überzeugung/ Vermutung/ Annahme etc. ist.
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
oder Kopula ist der Zielpunkt der Relation, die mit dem Verb kodiert ist, nicht eine neue Eigenschaft oder ein neuer Zustand, welche syntaktisch als Subjekt, Objekt oder Attribut fungieren, sondern die gesamte Proposition, in die werden integriert ist. Dies ist als Ergebnis des Grammatikalisierungsprozesses zu werten, infolgedessen werden nicht mehr seine lexikalische Bedeutung realisiert, sondern zunehmend grammatische Funktion erfüllt (vgl. dazu die Grammatikalisierungsparameter von Lehmann 1985, die auf die Konstruktion werden + Infinitiv angewendet werden können). Die in der Basisstruktur angenommene Beziehung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielpunkt bleibt auch in dieser auxiliaren Verwendung des Verbs werden erhalten. Der Ausgangspunkt, der schon bei den Verwendungen von werden als Vollverb und als Kopula implizit das Nicht-Vorhandensein einer Eigenschaft manifestierte, was aus der gesamten Struktur nachvollzogen werden konnte, kommt hier ebenfalls zum Ausdruck. Wenn der Proposition (als Ziel betrachtet) der Wert [+ der Fall sein] zugewiesen wird, dann wird somit der potentielle Ausgangspunkt mitgedacht, der das Nicht-Vorhandensein dieses Merkmals aufweist. (8) Er wird jetzt im Büro sitzen. Für diesen konkreten Satz kann folgende Paraphrase (abgeleitet von der relationalen Bedeutungsschablone von werden) formuliert werden: Ausgehend von nicht weiter spezifizierten Informationen (Evidenzen) schließt (folgert) der Sprecher, dass p [er sitzt im Büro]
Um noch einmal den Unterschied zu der objektiv epistemischen Modalität hervorzuheben: 1. die Konstruktion werden + Infinitiv bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher einen Sachverhalt auf der Basis der ihm vorliegenden Informationen, Evidenzen folgert, erschließt, und das Ergebnis seiner mentalen Aktivität ist die Proposition selbst. Es wird also die Proposition selbst behauptet (und zusätzliche Information durch die Verwendung von werden + Infinitiv gegeben, s.o.). In einer Aussage mit einem objektiv epistemisch gebrauchten Modalverb dagegen wird die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit des Bestehens der Proposition und nicht die Proposition selbst behauptet. 2. dass sich diese Möglichkeit oder Notwendigkeit aus den gleichen Umständen, Informationen wie bei werden + Infinitiv ergeben kann, ist nicht zu bestreiten. Werden + Infinitiv kodiert einen Schlussfolgerungsprozess, der zu einem explizit formulierten Ergebnis führt. Diese Interpretation lässt sich ziemlich unkompli-
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ziert auf die für das Lexem werden angenommene Basisbedeutung zurückführen. Die Folgerelation, die zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielpunkt besteht und durch das ursprünglich mutative werden manifestiert wird, wird als Folgebeziehung zwischen Prämissen und Schlussfolgerungen in einem mentalen Prozess reinterpretiert. Das abstrakte image-schema (Sweetser 1988) bleibt somit in stärker grammatikalisierten Varianten des Verbs konstant. Die Annahme eines expliziten Sprecherverweises (vgl. Fritz 2000b, „speaker involvement“ bei Mortelmans 2004, demn.) reduziert erheblich die Gesamtbedeutung der Konstruktion und lässt die grundlegende Folgekomponente („mutativ“ mit obligatorischer resultativer Komponente, vgl. Kotin 2003) verschwinden, was das Erklärungspotential derartigen Beschreibungen deutlich mindert.9 Mit anderen Worten: mit der Aussage Er wird jetzt im Büro sitzen verweist der Sprecher zunächst auf sich selbst (vgl. Fritz 2000b und von ihm angenommene Komponente „Sprecherverweis“) als Quelle der Äußerung und darüber hinaus auf eine Informationsquelle, auf Evidenzen, die den Ausgangspunkt, die Basis für seine Aussage bilden. Werden als Relator verweist also darauf, dass der Sprecher über Indizien, Informationen, Evidenzen für eine Entwicklung verfügt, deren Ergebnis der im Satz dargestellte Sachverhalt (Proposition) ist. Dieser Endzustand ist noch nicht erreicht, die als Evidenzen interpretierte Ankündigungen eines sich bereits im Vollzug befindlichen Vorgangs gelten dem Beginn der Veränderung. Wenn man nur den dargestellten Sachverhalt in das Schema integriert und sprecher- und situationsspezifische Komponenten zunächst außer Acht lässt, ergibt sich eine vereinfachte relationale Schablone. Die Ähnlichkeit zu den Verwendungen von werden als Vollverb oder Kopula wird dadurch deutlich hervorgehoben: p [- der Fall sein]
→
wird
→
p [+ der Fall sein]
Die als Ausgangspunkt angesetzte Proposition ist identisch mit der ZielProposition, unterschieden werden nur die Werte (Zustände), die dieser
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Im Gegensatz zu werden + Infinitiv können die deutschen Modalverben nicht die hier hervorgehobene semantische Folgekomponente aufweisen, sie fokussieren vielmehr auf das Vorhandensein einer modalen Quelle, die Einfluss auf die zu denotierende (zu modifizierende) Entität ausübt. Verschiedene Spezifizierung dieser modalen Quelle (Sprecher als Origo beim deiktischen Gebrauch; unabhängig vom Sprecher existierende Umstände, Indizien beim objektiv epistemischen Gebrauch) kann daher für unterschiedliche Lesarten von Modalverben verantwortlich gemacht werden, während bei werden + Infinitiv unterschiedliche Spezifizierung der Folgekomponente relevant ist.
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
Proposition zugeschrieben werden, weil der Relator werden, wie oben festgestellt wurde, nicht nur den Ausgangspunkt und das Ziel verbindet, sondern sie in seinem relationalen Basisschema voraussetzt. Dabei muss die als Ausgangspunkt angesetzte Proposition in der faktischen Welt nicht unbedingt nicht gelten oder das Merkmal [- der Fall sein] tragen. Es reicht, wenn sie von den Kommunikationsteilnehmern als ungewiss, und deswegen nicht sicher als [+ der Fall sein] betrachtet wird. Dieses Schema, das von den außersprachlichen Faktoren (Einbeziehung einer Informationsquelle) absieht, wird m. E. bei rein temporalen, futurischen Verwendungen der Konstruktion werden + Infinitiv realisiert. Diewald (2005, 30) schreibt: „die Futurlesart entsteht dann, [...] wenn die ‚Anzeichen’ abgelöst vom Sachverhalt selbst im Sinne von Sprecherwissen interpretiert werden“. Sicheres Wissen (anstelle von Evidenzen) muss vom Sprecher nicht markiert werden: wenn jemand irgendetwas sicher weiß, dann spricht er das einfach als Behauptung aus, ohne dabei betonen zu wollen, dass er das nun sicher weiß. Das ist der unmarkierte Fall des Äußerns einer Proposition. Erst wenn der Sprecher markieren will, dass er die Aussage nicht aufgrund sicheren Wissens macht, greift er zu unterschiedlichen Sprachmitteln, um seine Unsicherheit bzw. Sicherheit zu markieren. In seiner Untersuchung zu werden kommt Dieling (1982, 320) zu dem Ergebnis, dass werden ein Hypothesenfunktor neben den Modalverben ist, der aber im Unterschied zu den Modalverben nicht einen bestimmten Wahrscheinlichkeits- bzw. Überzeugtheitsgrad ausdrückt, sondern „einen nicht weiter zu begründenden Glauben“ thematisiert. Mithilfe der Konstruktion werden + Infinitiv werde eine Annahme formuliert, für die der Sprecher nicht nur gute Gründe hat, „sondern auch subjektiv fest glaubt, dass p“ (Dieling 1982, 319). Dieser „subjektive“ Glaube des Sprechers an die Wahrheit der Proposition kann m.E. nur dann als „subjektiv“ verstanden werden, wenn der Sprecher unabhängig von den äußeren Informationen, Evidenzen, seine Annahme ausdrückt und selbst als Quelle (oder Ausgangspunkt) der Bewertung auftritt. Dies ist aber bei werden nicht der Fall, wie es oben in Analogie zu der objektiv epistemischen Modalität gezeigt wurde. Der Sprecher ist hier nur als Urheber der Äußerung aufzufassen, der aufgrund der von ihm unabhängig existierenden Informationen eine Vermutung aufstellt, und werden bezeichnet nicht einen bestimmten Grad an Überzeugtheit oder Sicherheit bzw. Ungewissheit, wie es Modalverben auszudrücken vermögen. Das von Dieling (1982) hervorgehobene Merkmal GLAUBEN bezieht sich m.E. nicht auf die subjektiven Einstellungen des Sprechers, sondern eher auf äußere Gründe (Umstände, Evidenzen), die den Sprecher dazu veranlassen, zu glauben, dass die Proposition die einzige mögliche Weiterentwicklung der zu der aktuellen
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
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Sprechzeit bestehenden Situation beschreibt. Und während die Modalverben der Proposition einen unsicheren Wahrheitswert verleihen und somit andere Möglichkeiten (andere Entwicklungen der Situation) offen lassen, bezeichnet werden dagegen eine von äußeren Umständen gestützte Annahme, die unabhängig von ihrem Wahrscheinlichkeitsstatus vom Sprecher als einzige Möglichkeit betrachtet wird. GLAUBEN bezieht sich vielmehr auf die epistemische Welt des Sprechers und deutet daraufhin, dass der dargestellte Sachverhalt nicht der faktischen Welt der Tatsachen zugeschrieben werden kann, sondern ihrer epistemischen Erweiterung. Deswegen lässt sich werden hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Proposition verschieden graduieren: (9) Udo wird jetzt möglicherweise/ wahrscheinlich/ ganz gewiß in Leipzig arbeiten. (aus Dieling 1982, 330) Diese Beobachtung spricht vor allem dagegen, der Konstruktion werden + Infinitiv einen bestimmten oder überhaupt einen modalen Wert im Sinne von Notwendigkeit oder Möglichkeit des Zutreffens oder des Bestehens der dargestellten Sachverhalten einzuordnen, wie es z.B. Vater (1975) macht. Und wenn werden + Infinitiv schon in diesen der objektiv epistemischen Modalität ähnlichen Verwendungen keine gradierbare modale Bedeutung aufweist, dann kann diese auch nicht weiterinterpretiert werden in Bezug auf die Skala verschiedener Faktizitätswerte (d.h. im Sinne einer deiktischen Kategorie der Faktizitätsbewertung) als nur „unbestimmt [+/- nichtfaktisch]“. Dies widerspricht allerdings nicht der hier vertretenen These, dass werden + Infinitiv eine inferentielle evidentielle Bedeutungskomponente besitzt, insofern alle deutschen Evidentialitätsmarker etwas über den Faktizitätsgrad des dargestellten Sachverhalts aussagen.
5.4. Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die relationale Struktur der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv konstruiert wurde (Schema 51), wird in diesem Kapitel näher der Frage nachgegangen, wie diese Bedeutungsstruktur in der Konstruktion würde + Infinitiv realisiert wird. Dabei wird ein besonderer Wert darauf gelegt, besondere Verwendungskontexte in Betracht zu ziehen, in welchen die evidentielle Komponente (oder die werden-Komponente) dominant gesetzt wird. Nun wird das Auxiliar werden in der Form würde, also in seiner Konjunktiv II-Form verwendet. Dass die Konstruktion unterschiedliche Lesarten ermöglicht, wenn sie in unterschiedlichen Kontexten und Situationen
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gebraucht wird, ist evident. Im Hauptsatz einer typischen „irrealen“ Konditionalkonstruktion gleicht sie der Bedeutung des synthetischen Konjunktivs II, indem sie auf ein vorgestelltes, „irreales“ Geschehen/ Ereignis referiert, das möglicherweise der Fall wäre, wenn die im wenn-Satz ausgedrückte Bedingung erfüllt wäre. Wenn sie dagegen in den Kontexten verwendet wird, die vergangene Ereignisse darstellen, oder in der erlebten Rede, dann bezeichnet sie ein zukünftiges Geschehen aus der Perspektive der Vergangenheit, von einem vergangenen Zeitpunkt aus (future in the past). Die letztgenannten Verwendungskontexte der Konstruktion würde + Infinitiv werden in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht. 5.4.1. Würde + Infinitiv als Marker einer Grund-Folge-Relation Einige Verwendungskontexte, die im untersuchten Korpus registriert werden konnten, exemplifizieren sehr deutlich die Bedeutung einer Folgerelation, die zwischen einem (für diese Verwendungen noch zu bestimmenden) Ausgangspunkt und der Proposition besteht. Folgende Beispiele enthalten keine einleitenden kognitiven Ausdrücke (vgl. Kap.5.4.2.), mittels deren Bezug auf den aktuellen Sprecher und seine Einstellungen explizit genommen werden könnte. Die dem Satz mit würde + Infinitiv unmittelbar vorangehenden Textabschnitte geben einen unabhängig vom Sprecher in der aktuellen faktischen Welt bestehenden Grund – hier als Zeichen oder Signal – an. Und dieses Zeichen, als Grund für die nachgestellte Annahme/ Behauptung mit würde + Infinitiv interpretiert, bildet den Ausgangspunkt – die Informationsquelle – für das Äußern einer Aussage. (10) Es gab kein Zeichen darin, daß Brent Javitt seine Meinung ändern würde. (Pegg, 37) (11)
Deine Augen haben mir lange gezeigt, daß du meine Liebe erwidern würdest. (Stephan, 22)
(12)
Er wartete auf das ferne Pochen von Hufen, das den Mann ankündigen würde, dem die Falle der Banditen galt. (Pegg, 6)
Der Satz (10) fängt mit dem unpersönlichen, nicht-sprechergebundenen es gab kein Zeichen darin an. Dieses nicht weiter spezifiziertes „Zeichen“ (oder besser gesagt, das Fehlen eines Zeichens) wird vom aktuellen Sprecher wahrgenommen und dahingehend interpretiert, dass p [Brent Javitt seine Meinung ändert]. In (11) geht es darum, dass ein visuell wahrnehm-
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
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bares Signal (in Augen des Gegenübers) vom Sprecher interpretiert wird als Grund für die Feststellung [du erwiderst meine Liebe]. In (12) ist das ferne Pochen von Hufen das Signal für die Ankunft einer bestimmten Person aufgefasst. In diesen Fällen kann man von einer direkten kausalen Beziehung zwischen einem Grund (Ausgangspunkt) und einer Folge (Ziel) sprechen. Diese Eigenschaft der Konstruktion würde + Infinitiv wird in Kap.8 im Zusammenhang mit diachroner Entwicklung dieser Fügung eingehend beschrieben. An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass würde + Infinitiv in betreffenden Kontexten als ein sprachliches Element betrachtet werden kann, das eine Folgerelation zwischen zwei Situationen manifestiert, die auf einem kausalen Verhältnis aufbaut. Diese Folgerelation existiert allerdings nicht „objektiv“ in der realen Welt, sondern wird vom aktuellen Sprecher wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht (vgl. das Merkmal [SUBJEKTIV] in Kap.4). In (11) wird der aktuelle Sprecher explizit in den Skopus der Aussage durch das Personalpronomen mir aufgenommen. Da solche Belege nur vereinzelt im untersuchten Datenmaterial vorkommen und sich am besten unter dem diachronen Aspekt erklären lassen, und weil die Sprecherperspektive aus solchen Aussagen nicht wegzudenken ist, gehe ich gleich zu der Behandlung verwandter Kontexten über, die die zahlenmäßig stärkste Gruppe im Korpus bilden und weitere Aufschlüsse für die Interpretation solcher Verwendungen liefern. 5.4.2. Würde + Infinitiv als Präteritum von werden + Infinitiv Ich werde in diesem Kapitel vorrangig die Verwendungen der Konstruktion würde + Infinitiv in der temporalen Perspektive der Vergangenheit betrachten (ausgeschlossen bleibt vorerst die erlebte Rede). Es wird in der Literatur oft darauf hingewiesen, dass würde + Infinitiv in solchen Fällen die Funktion eines Tempus „Futur in der Vergangenheit“ erfüllt (z. B. FuturPräteritumI bei Thieroff 1992). Die Fügung kodiere dabei „ein in Bezug auf die Aktzeit zeitlich nachgestelltes Ereignis“ (Kotin 2003, 228). Auffallend ist die Tatsache, dass sowohl in den vorliegenden Studien als auch in meinem Korpus diejenigen Belege am häufigsten vertreten sind, die das Auftreten der Konstruktion würde + Infinitiv im inhaltlichen Zusammenhang mit solchen Verben oder Wortverbindungen wie vermuten, denken, glauben, annehmen, überlegen, zweifeln u. ä. aufweisen, z. B.: (13) Schon 1807 wusste Napoleon, dass er 1812 Russland überfallen würde. (aus Kotin 2003, 228)
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
(14)
Die Sekten-Anhänger glaubten, dass die Jahrtausend-Wende den Weltuntergang mit sich bringen würde. (aus Kotin 2003, 229)
(15)
Wer konnte damals vermuten, dass sich die Wirtschaftslage in Europa so drastisch verschlechtern würde? (aus Kotin 2003, 229)
(16) (17) (18)
Man spürte es in den Gliedern, dass das Wetter umschlagen
würde. (aus Thieroff 1992, 151)
Er war in Sorgen, dasz er Hungers sterben würde. (aus Thieroff 1992, 151) Ich dachte auch an die Gossen, in denen ich einmal liegen
würde. (aus Thieroff 1992, 151)
(19)
Julia wusste noch nicht, dass sie bald mehr verdienen würde als ihre Eltern. (aus Fritz 2000b, 190)
(20)
Jerry Lewis ahnte schon 1962, dass die Entwicklung des Kinos auf Arnold Schwarzenegger hinauslaufen würde. (aus Fritz 2000b, 190)
(21)
Und niemals konnte man wissen, wer wen am Ende noch einmal brauchen würde. (aus Fritz 2000b, 190)
(22)
Ich hatte nicht geglaubt, daß er mir so direkt würde helfen wollen. (Böll,187)
(23)
Zu Hause erwarteten sie, daß ich einen heroischen Lebenslauf beginnen würde: in eine Fabrik gehen oder auf den Bau, um meine Geliebte zu ernähren, und sie waren alle enttäuscht, als ich das nicht tat. (Böll, 189)
(24)
Er dachte wohl, ich würde von seiner Geliebten anfangen, der er in Godesberg eine Villa gebaut hat. (Böll, 199)
(25)
Mein Vater war so erschüttert, daß ich Angst hatte, er würde es für geschmacklos halten, jetzt wieder von Geld anzufangen. (Böll, 202)
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
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(26)
Ich hatte erwartet, daß sie sofort Ja sagen würde, mir war unheimlich bei dem Gedanken, daß sie wirklich kommen könnte. (Böll, 239)
(27)
Die glaubten, daß sie die Politik auseinandersprengen könnten. Daß sie Politiker finden würden, die sich für die Aufhebung des Budgets einsetzen würden. (Spiegel, 42)
(28) (29)
Martin Walser wußte am Vortag der Wahl noch nicht, wen er
wählen würde. (Spiegel, 42)
Er hatte es schon gewußt, daß sie ihm wieder eine Szene machen
würde. (Stephan, 7)
All diese Verwendungskontexte weisen ähnliche Eigenschaften auf: 1. der die Konstruktion würde + Infinitiv enthaltende Satz tritt nicht als ein selbständiger Satz auf, sondern steht fast immer in Unterordnungsbeziehung zum einleitenden Satz (s. ii) unten); 2. der einleitende Satz enthält ein Verb oder eine Phrase, die ihrer Semantik nach ein Verbum Sentiendi ist oder eine Form, die vergleichbare kognitive Bedeutung (im konkreten Kontext) trägt; 3. für die gesamte Konstruktion ist meist der Wechsel der Personenperspektive zu beobachten: der Hauptsatz bezeichnet, dass der Sprecher (Subjekt 1) bestimmte Vorstellungen oder Gefühle in Bezug auf Handlungen, Vorstellungen u. ä. einer anderen Person hat, der Nebensatz führt diese Bezugsperson (Subjekt 2) ein und erläutert die Vorstellungen des Sprechers über diese Person; 4. der Hauptsatz wird meist im Indikativ (Präteritum oder Plusquamperfekt) gebraucht. Einleitende kognitive Ausdrücke (Verba Sentiendi u. ä.) markieren, dass der dargestellte Sachverhalt, der mit würde + Infinitiv formuliert ist, einen starken Bezug auf den jeweiligen Träger der Aussage aufweist. Dank ihrer lexikalischen Bedeutung spezifizieren diese Ausdrücke die konkrete Sprechereinstellung: ob der Sprecher den dargestellten Sachverhalt weiß, vermutet, erwartet, fürchtet, glaubt etc. Sie setzen den Sprecher explizit als Quelle der Äußerung und somit als Referenzpunkt, als Bezugspunkt der gesamten Aussage. Einleitende Ausdrücke können dahingehend gedeutet werden, dass der Sprecher eine Faktizitätsbewertung vornimmt und die Proposition aus seiner Sicht als wahr oder nicht wahr einschätzt. Das sind aber sprachliche Einheiten, die dank ihrer lexikalischen Bedeutung die Aussage modifizieren und daher nicht als grammatikalisierte Faktizitätsmarker angesehen werden können. Vergleichbar mit der objektiv epistemischen Modalität ist
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
der Sprecher nicht als Quelle (Origo) dieser Bewertung zu sehen. Er bedient sich nur der unabhängig von ihm existierenden Informationen, Evidenzen (modale Quelle im Falle der epistemischen Modalität), die er als Urheber der Äußerung verarbeitet und freilich auch in seinem Bewusstsein weiterentwickelt. Der Sprecher ist nur als Träger einer Aussage zu betrachten, der durch kognitive Verben oder Verbalphrasen auf die textuelle Ebene „hereingebracht“ wird. Die Informationen, Evidenzen, die der Sprecher als Anzeichen für eine eintretende Veränderung oder Entwicklung interpretiert, die zu p führt, werden nicht weiter spezifiziert. Diese vom Sprecher als „Sagenden“ wahrgenommene und verarbeitete Information, Evidenzen, liegen bezüglich der oben angeführten Beispiele wie der aus seiner Sicht möglich eintretender Zustand (der Fall, dass p) in der Vergangenheit, deswegen wird auch das Auxiliar werden in seiner präteritalen Form gebraucht.10 In der Literatur wurde schon mehrmals darauf hingewiesen, dass wenn solche Kontexte umformuliert werden, indem sie in Präsens gesetzt werden, die Konstruktion würde + Infinitiv durch die Konstruktion werden + Infinitiv substituiert wird: (16’) Man spürt [...], dass das Wetter umschlagen wird. (14’)
Die Sekten-Anhänger glauben, dass die Jahrtausend-Wende den Weltuntergang mit sich bringen wird.
(23’)
Zu Hause erwarten sie, daß ich einen heroischen Lebenslauf beginnen werde: in eine Fabrik gehen oder auf den Bau, um meine Geliebte zu ernähren...
Diese Substitutionsmöglichkeit führte Thieroff (1992) zu der Annahme, dass würde + Infinitiv „eindeutig ein FuturPräteritum I im Indikativ“ sei. M.E. ist es ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Konstruktion würde
_____________ 10 Auch wenn der Konjunktiv II im heutigen Deutsch dahingehend beschrieben wird, dass er
keinen temporalen, sondern nur einen modalen Wert enkodiert, ist diese Bemerkung für die Konstruktion würde + Infinitiv von Bedeutung. Formal betrachtet, wird der Konjunktiv II vom präteritalen Stamm des Verbs gebildet. Und wenn diese temporale Markierung im heutigen Tempus-Modus-System des Deutschen keine temporale Bedeutung mehr trägt, so stellt hier die Konstruktion würde + Infinitiv einen besonderen Fall dar. Da die indikativische präteritale Fügung *wurde + Infinitiv aus der Sprache verschwunden ist, wird oft die Modusambivalenz der Konstruktion würde + Infinitiv behauptet (vgl. Thieroff 1992, Amrhein 1996, Fabricius-Hansen 1998, Klotz 1974, Fritz 2000b). Dementsprechend fungiert sie einerseits als präteritale Entsprechung zu werden + Infinitiv, andererseits als ihre Konjunktiv II-Form (oder auch beides gleichzeitig). An dieser Stelle versuche ich zu zeigen, dass würde + Infinitiv in betreffenden Kontexten in erster Linie als präteritale (im temporalen Sinne) Entsprechung der indikativischen Fügung auftritt, wobei ihre modale (konjunktivische) Komponente nicht als primäre Bedeutung angesehen werden kann.
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
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+ Infinitiv in Vergangenheitskontexten dasselbe leistet, was werden + Infinitiv in Gegenwarts- oder Zukunftskontexten zu leisten vermag. Das ist (wie im Kap.5.3. formuliert) ihre evidentielle Bedeutung, die in betreffenden Kontexten stark mit der epistemischen Bedeutung im Sinne der unterschiedlichen Sprechereinstellung hinsichtlich des Wahrheitswertes der Proposition verbunden ist. Wie oben schon erwähnt, werden unterschiedliche epistemische oder emotionale Sprechereinstellungen von kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen wie glauben, erwarten, Angst haben, vermuten usw. dank ihrer lexikalischen Bedeutung zum Ausdruck gebracht, wodurch der explizite Bezug auf den aktuellen Sprecher erzeugt wird. Der mithilfe der Konstruktion würde + Infinitiv umschriebene Sachverhalt wird vom Sprecher als möglich eintretend, als erwartet dargestellt, und die Vergangenheitsperspektive mag vielleicht darüber täuschen, wenn dieser Sachverhalt tatsächlich eingetreten ist, wie z. B. im Satz: (13) Schon 1807 wusste Napoleon, dass er 1812 Russland überfallen würde. (aus Kotin 2003, 228) Wenn man allerdings den Satz (13) mit dem Satz (30) vergleicht, ergeben sich Unterschiede in der Interpretation, die auf die nachträgliche Deutung der im Satz enthaltenen Information durch den Leser /Hörer zurückzuführen sind und sich nicht aus der inhärenten Leistung der Konstruktion würde + Infinitiv ergeben: (30) Flavio hatte gewusst, dass diese Stunde einmal kommen würde. (Larsen, 57) Mit Verben (bzw. Verbalphrasen) wie wissen, glauben, denken u.ä. wird darauf verwiesen, dass es sich nicht um ein gegebenes Faktum in der Vergangenheit handelt, sondern um eine mögliche Erweiterung, Entwicklung der Situation, wie z. B. Napoleon sie sich 1807 vorstellte. Dass das Ereignis 1812 tatsächlich eingetreten ist, ist ein historisch gegebenes Faktum, was heutige Rezipienten einer solchen Aussage dazu (ver)führen mag, sie als indikativisch, „faktisch“ zu betrachten. Als Folge tritt die Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv als Tempus im Indikativ (future in the past) als hörerspezifische Implikatur ein. Die in Frage kommenden Sätze mit würde + Infinitiv enthalten aber als solche, ohne hörer- bzw. rezipientenspezifisches „Dazudenken“ einer tatsächlich stattgefundenen Entwicklung der Situation, keine Angaben über wirkliche oder faktische Veränderungen, die nach dem Aussprechen eintreten können. Sie bringen nur zum Ausdruck, dass eine solche Entwicklung möglicherweise eintreten kann, weil der Sprecher aufgrund bestimmter Informationen, Evidenzen das Eintreten eines Ereignisses für möglich hält. Vgl. folgendes Beispiel:
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(31)
Ich dachte, Hanna würde im Wagen warten. Aber Hanna stieg aus, dann zu Fuß auf der heißen Teerstraße, Hanna folgte mir, ich suchte die Pinie, dann hinunter durch Ginster irgendwo, ich begriff nicht, warum Hanna nicht im Wagen warten wollte. (Frisch, 191)
Der Satz ich dachte, Hanna würde im Wagen warten gibt dem Leser keine Informationen hinsichtlich der tatsächlichen (faktischen) Entwicklung der Situation, er bringt nur zum Ausdruck, dass der Sprecher (Autor) denkt, davon überzeugt ist oder aber auch sich wünscht, dass p [Hanna bleibt im Auto]. Das ist aus seiner Perspektive eine mögliche Entwicklung der Situation, so wie er sie sieht. Und der Grund dafür, diese Vorstellung zu haben, sind für ihn Informationen über die Person, sein Wissen über konkrete Situation und auch allgemeine Vorstellungen vom menschlichen Verhalten, also Information, die als Ausgangspunkt von ihm angestellten Vermutung betrachtet werden kann. Dass die Situation aber anders als vorgestellt ausgehen kann, liegt außerhalb seiner aktuellen Vorstellung und stellt deswegen nicht automatisch die Proposition [Hanna wartet im Wagen] als ‚nicht wahr’ oder ‚falsch’ hin, genauso wie die tatsächliche historische Entwicklung die Proposition [Napoleon überfällt Russland] nicht automatisch für ‚wahr’ erklärt. Der Paraphrase würde + Infinitiv kann also auch das für die Fügung werden + Infinitiv konstruierte relationale Basisschema zugrunde gelegt werden. Der Ausgangspunkt ist dem bei der indikativischen werdenKonstruktion angesetzten Ausgangspunkt gleich: er umfasst auf der außersprachlichen Ebene Informationen, Indizien, Evidenzen, bildet somit die Informationsquelle, auf deren Basis der Sprecher zu der Aussage kommt, und auf der Ebene eines konkreten Textes/ einer konkreter Aussage impliziert der Ausgangspunkt das Nicht-Vorhandensein eines Merkmals (Eigenschaft bzw. Zustandes), das im Ziel (Proposition) explizit zum Ausdruck gebracht wird. Fritz (2000b, 3 f.; 157 ff.; 201; 209) definiert den kleinsten gemeinsamen Nenner aller werden- und würde-Fügungen (mit Infinitivkomplement) als ‚Sprecherbezug’ bzw. ‚Sprecherverweis’: durch das Verwenden solcher Konstruktionen als „Sagenszeichen“ weist der Sprecher ausdrücklich auf sich. Kotin (2003, 172ff.) stimmt dieser Annahme insofern zu, als dass die prognostische Funktion, die seiner Meinung nach allen Verwendungen von werden(würde)-Konstruktionen zugeschrieben werden kann, generell an den „Sender“ fest gebunden ist und daher eine kategoriale Festlegung der Aussage an den „Sender“ als legitim zu betrachten sei. M.E. liegt die Leistung der werden-Periphrasen darin, den Sprecher als „Sagenden“, „Sender“, „Urheber“ oder „Träger“ der Äußerung in den Skopus der Aussage auf-
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zunehmen, aber nicht in der Hinsicht, dass seine subjektive Einstellungen explizit zum Ausdruck gebracht würden. Der aktuelle Sprecher wird als eine Zwischeninstanz in die Aussage aufgenommen, die die unabhängig vom ihm existierenden Informationen – Evidenzen – wahrnimmt, verarbeitet und auf deren Grund seine Vermutungen ausspricht, die folglich nicht ohne seine subjektiven Einstellungen bezüglich des Wahr-Seins der Proposition auf der Ausdrucksebene erscheinen (vgl. zum Merkmal [SUBJEKTIV] Kap.4.). Somit geht der Verweis, der mittels werden-Konstruktionen geleistet wird, weiter als nur bis zum Sprecher – er erstreckt sich bis zu einer in der faktischen Welt vorhandenen Informationsquelle, die durch den Sprecher als Zwischeninstanz in die Äußerung hereingebracht wird. In den Kontexten, in denen die Konstruktion würde + Infinitiv im inhaltlichen Zusammenhang mit und in syntaktischer Abhängigkeit von epistemischen bzw. emotionalen Ausdrücken (kognitiven Verben und Verbalphrasen) auftritt, kann man m.E. von den sog. „harmonischen“ Kombinationen sprechen. Lyons ([1977]1983) betrachtet als „modal harmonische“ Kombinationen das gemeinsame Auftreten modaler Ausdrücke (z.B. ein Modalverb mit einem modalen Adverb), die beide jeweils denselben Faktizitätsgard bezeichnen. Dabei können sich das Adverb und das Modalverb in einer modal harmonischen Kombination gegenseitig verstärken. So kann man bei einer Äußerung wie (32) Er kann möglicherweise vergessen haben, die sich kaum von (33) Er kann vergessen haben oder von (34)
Er hat möglicherweise vergessen
unterscheidet, feststellen, dass „eine Art von Gleichklang durch den Satz läuft, der zu einer zweifachen Realisierung einer einzigen Modalität führt“ (Lyons [1977]1983, 406). Der eine Ausdruck unterstützt sozusagen den anderen und beide zusammen erzeugen eine eindeutige Interpretation des ganzen Satzes. Beim gemeinsamen Auftreten kognitiver Ausdrücke wie denken, wissen, glauben u.ä. und der Konstruktion würde + Infinitiv lässt sich auch eine Art „Gleichklang“ beobachten. Diese Elemente unterstützen einander, sodass eine eindeutige epistemisch-evidentielle Bedeutung der ganzen syntaktischen Konstruktion entsteht. Zum einen wird durch die Verwendung von einleitenden epistemischen bzw. emotionalen Ausdrücken klar, dass die Aussage nicht auf die reale faktische Welt, sondern auf die epistemische
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
Welt des Sprechers referiert und deswegen keine indikativisch interpretierbare Wahrheit zum Ausdruck bringt. Zum anderen macht die Konstruktion würde + Infinitiv dank der in der werden verankerten inferentiellen evidentiellen Folgekomponente deutlich, dass es sich um keine ausschließlich sprecherbasierte Faktizitätsbewertung der Proposition handelt (die durch die lexikalische Bedeutung solcher Verben wie wissen, glauben usw. den Ausdruck findet), sondern um eine Sprechereinstellung, die auf unabhängig von ihm existierenden Evidenzen, Informationen basiert. Diese Informationsquelle bildet den Ausgangspunkt für seine Äußerung als Resultat seiner mentalen Aktivität (nämlich des Schlussfolgerungsprozesses, der Inferenz) und mitunter für eine bestimmte, durch die kognitiven Ausdrücke spezifizierte, epistemische/ emotionale Einstellung. Die Existenz von solchen harmonischen Kombinationen, die eindeutige epistemisch-evidentielle Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv favorisieren, lässt vermuten, dass diese Fügung auch außerhalb solcher Kontexte ihre evidentielle Semantik behält. Dies bedeutet ferner, dass die evidentielle Lesart durch die beschriebenen Kontexte nicht erzeugt, sondern nur hervorgehoben wird. Und es finden sich tatsächlich Beispiele im untersuchten Korpus, die diese Vermutung bestätigen: (25) Mein Vater war so erschüttert, daß ich Angst hatte, er würde es für geschmacklos halten, jetzt wieder von Geld anzufangen. (Böll, 202) (35)
Ich hoffte nur, mein Vater würde in diesem Zustand - fröstelnd vor Erschütterung - nicht nach Hause gehen, sondern zu seiner Geliebten. (Böll, 212)
Die Aussagen mein Vater würde es für geschmacklos halten und mein Vater würde nach Hause gehen können auch isoliert von den einleitenden Ausdrücken Angst haben und hoffen als Äußerungen mit evidentieller Bedeutungskomponente gedeutet werden. Verstärkt wird diese Interpretation dadurch, dass der Kontext direkte Hinweise auf die Evidenzen enthält, die als Ausgangspunkt (Informationsquelle) für die konkrete Folgerung des Sprechers fungieren: in (25) ist es der beobachtbare Zustand mein Vater war so erschüttert, in (35) ist es wiederum der Umstand fröstelnd vor Erschütterung.11 Der Sprecher, der über ein bestimmtes, über die Feststellung der
_____________ 11 An dieser Stelle kann wiederum die objektiv epistemische Modalität (nämlich objektiv
epistemische Notwendigkeit, ausgedrückt durch das deutsche Modalverb müssen) aus Vergleichsgründen herangezogen werden. Wie Diewald (1999, 273 f.) treffend feststellt, „ist es vielfach die explizite Nennung einer Umständequelle, die die objektiv epistemische Lesart dominant setzt, so dass dieses Kontextmerkmal, das bisher in der Literatur nicht genannt wurde, als der entscheidende Faktor für die objektiv epistemische Lesart gelten kann“. Beim objektiv epistemischen müssen sind die explizit genannten Umstände als modale Quel-
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aktuellen Auffassung der betrachteten Person hinausgehendes Wissen über seinen Vater verfügt und die konkrete Situation aufgrund seines Wissens einschätzt, spricht eine auf diesen Informationen basierte Befürchtung/ Hoffnung aus. Die Konstruktion würde + Infinitiv gilt als ein Zeichen, welches die Folgerelation zwischen den erwähnten Umständen und der geäußerten (Entwicklung der) Situation zum Ausdruck bringt. Die Ausdrücke ich hatte Angst, ich hoffte dienen hier der nochmaligen Betonung dessen, dass der dargestellte Sachverhalt nicht der realen Welt der Fakten zuzuschreiben ist, sondern der möglichen Erweiterung bzw. Entwicklung der vorhandenen Situation, wie sie dem aktuellen Sprecher am wahrscheinlichsten vorkommt („harmonischer Kontext“, s.o.).12 In (36) bringt der Sprecher explizit eine Begründung für seine Einstellung zum Ausdruck. Die Feststellung des Sprechers (du würdest den heutigen Vormittag dazu benötigen, um deinen Katzenjammer zu pflegen), die er zusätzlich durch das Erwähnen begründender Umstände ergänzt, gilt zweifellos als Ergebnis einer mentalen Tätigkeit, die diese erwähnten Umstände zum Ausgangspunkt (Prämissen) hat. (36) "Eigentlich habe ich gedacht, du würdest den heutigen Vormittag dazu benötigen, um deinen Katzenjammer zu pflegen, den du dir während der gestrigen Soiree zweifellos eingehandelt hast?" (Larsen, 48)
_____________
12
le, als Ausgangspunkt der modalen Relation zu interpretieren. Diese AusgangspunktPosition ist allerdings bei der deiktischen Lesart desselben Verbs von der Origo (= aktueller Sprecher) besetzt: „Die deiktische Verwendung ist von der objektiv epistemischen durch die Spezifizierung der modalen Quelle als Origo geschieden, d.h. dass der deiktische Gebrauch, anders als häufig angenommen, keinen Bezug zu Umständen, Beweisen, Indizien usw. herstellt“ (Diewald 1999, 214) [Hervorhebungen E.S.]. Im Falle der Konstruktion werden (würde) + Infinitiv ist dieser Bezug auf Umstände, Beweise, Indizien – Informationsquelle – immer vorhanden, seien sie explizit genannt oder durch die Verwendung der werden-Konstruktionen impliziert. Wenn die textuelle Nennung der Informationsquelle ausbleibt, wird der Sprecher nicht automatisch zu der Quelle, zum Ausgangspunkt der Äußerung (wie es bei der deiktischen Lesart von müssen geschieht), sondern lediglich von ihm verkörperte Informationen, die einen Schlussfolgerungsprozess auslösen. Die Konstruktion würde + Infinitiv weist also keinen Bedeutungsunterschied zwischen den Kontexten, in welchen die Umstände (Evidenzen) explizit genannt werden oder implizit bleiben. Vielmehr verdeutlicht (verstärkt, unterstützt) die explizite Erwähnung dieser Umstände, Informationen die evidentielle Bedeutung der Konstruktion, statt sie zu ändern. Solche Belege wie (25) und (36) können um so überzeugender als Äußerungen mit evidentieller Bedeutung interpretiert werden, wenn diachrone Entwicklung der Periphrase würde + Infinitiv in Betracht gezogen wird. In Kap.8 werden derartige Verwendungskontexte als kritische Kontexte klassifiziert, die sich aus den untypischen Kontexten entwickelt haben, in welchen die werden-Konstruktionen eine Folgerelation ohne begleitenden Verweis auf den Sprecher realisierten.
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Wie ausgeführt, vermögen die als Einleitung dienenden kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen die jeweilige Sprechereinstellung zum propostitionalen Gehalt der Aussage dank ihrer lexikalischen Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Sie sagen primär etwas über den unterschiedlichen Faktizitätsgrad der Proposition, und nicht die Konstruktion würde + Infinitiv. Die syntagmatische Verbindung der Konstruktion würde + Infinitiv mit solchen Verben bzw. Verbalphrasen, die unterschiedliche gradierbare Stufen von Sprechersicherheit ausdrücken (von wissen bis zweifeln), bestätigt die Annahme, dass eine bestimmte Faktizitätsbewertung nicht mittels der Konstruktion würde + Infinitiv formuliert wird, sondern eben von übergeordneten Ausdrücken wie wissen, glauben usw. bezeichnet wird. Dies lässt folglich die epistemische Bedeutung, die durch Verba sentiendi u. ä. vermittelt wird, von der evidentiellen Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv (zumindest auf der Beschreibungsebene) trennen. Im Falle der hier behandelten Kontexte kann man ferner von einem spezifischen Kontexttyp bzw. einer typischen Verwendungsweise der Konstruktion würde + Infinitiv sprechen. Dieser spezifische Kontexttyp setzt die evidentielle Lesart der Konstruktion dominant, wobei die andere (konjunktivische bzw. modaldeiktische) gleichzeitig blockiert wird. Die einleitenden Ausdrücke mit ihrer (lexikalischer) epistemischen bzw. emotionalen Bedeutung „befreien“ sozusagen die Aussage von der Annahme einer nichterfüllten Bedingung13, indem sie den Inhalt der Proposition der epistemischen Erweiterung der faktischen Welt zuordnen und somit die Aussage der festen Bindung an eine sprachlich formulierbare nichterfüllte Bedingung entziehen. Sie blockieren somit die rein konjunktivische Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv.14 Die eigentli-
_____________ 13 Die Annahme bestimmter nichterfüllter Bedingungen gehört zum funktionalen Kerngehalt des deutschen Konjunktivs II (s. dazu Kap.6).
14 Hier könnte eine allgemeine analogische Beobachtung zu der Moduskategorie des Deut-
schen formuliert werden, insofern man bei der systematischen Rekonstruktion der Modusoppositionen an die Markiertheistheorie von Jakobson zurückdenkt und das in Kap.4 erarbeitete Modell zur Beschreibung einer deiktischen Dimension heranzieht. Die erste binäre Unterscheidung ist diejenige zwischen dem Indikativ und. dem Konjunktiv. Die zweite Unterscheidung erfolgt innerhalb der markierten Kategorie „Konjunktiv“ und wird in der deutschen Sprache als „Konjunktiv I“ vs. „Konjunktiv II“ realisiert. Dabei lässt sich der Konjunktiv II als unmarkiertes Zeichen oder als „Nullzeichen“ auffassen. Während der Konjunktiv I explizit einen zusätzlichen Bezugspunkt „zitierte Origo“ in seiner Bedeutung trägt und dies als positive Realisierung eines unterscheidenden Merkmals manifestiert, lässt sich der Konjunktiv II als „Nullzeichen“ ansehen, das hinsichtlich der Realisierung dieses Merkmals zweideutig ist. Normalerweise tritt dann die konventionalisierte Bedeutung des Konjunktivs II auf, die durch die negative Ausprägung des Merkmals „zitierte Origo“ gekennzeichnet ist, also das Nicht-Vorhandensein dieses Merkmals kodiert. Die Weiterdeutung des Konjunktivs II besteht dann darin, einen unterscheidenden Aspekt für diese Form zu finden, was in der allgemeinen Annahme irgendwelcher nichterfüllter Bedingungen mündet. Der Umstand, dass der Konjunktiv II als Ersatzform für den Konjunktiv I
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che Leistung des Auxiliars werden als eines evidentiellen Zeichens wird hervorgehoben. Die Einführung oder Annahme einer Bedingung ist in solchen Kontexten allerdings möglich, doch sie wird als ein weiterer Grund für die ausgesprochene Annahme von Seiten des Sprechers umgedeutet. Sie gilt nicht allein als Ausgangspunkt für eine vom Sprecher vorgenommene Faktizitätsbewertung der Proposition, was die dem synthetischen Konjunktiv II synonymische Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv erzeugen würde, sondern gesellt sich zu den Gründen, äußeren Umständen, Evidenzen, die den Sprecher zu seiner Vermutung verleiten (vgl. Kap.7.). Außerdem bringt die explizite oder implizit mitgedachte, also mögliche Einführung einer Bedingung nicht notwendig eine nichtfaktische Interpretation der Proposition i.S.v. Konjunktiv II, sie erzeugt einen deutlichen Bezug auf eine konkrete Situation, die auftreten wird oder kann. (37) Ich glaube, so etwas würde den Zuschauern auf den Keks gehen. (Spiegel 36) (38)
Lebed: Den Oberkommandierenden mit Fahne und Siegel kann man abziehen. Technik, Munition und der überwiegende Teil der Mannschaften bleiben hier. Sie können nicht sicher sein, daß ihre Verwandten nicht einem Gemetzel zum Opfer fallen würden. (Spiegel 42)
Die oben angeführten Belege lassen sich freilich als Aussagen im Konjunktiv II interpretieren, in denen die Möglichkeit ergriffen wird, bestimmte nichterfüllte Bedingungen zu konstruieren, die die Nichtfaktizität der dargestellten Situationen bedingen. In (37) verweist so etwas auf mögliche Ereignisse/ Handlungen, die als zum Zeitpunkt der Äußerung als unerfüllte Bedingungen aufgefasst werden können; der Satz (38) kann durch einen wenn-Satz erweitert werden, etwa durch wenn es zu einer Auseinandersetzung käme. Allerdings wird mit der Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv eine weitere Interpretationsmöglichkeit eröffnet: diese konstru-
_____________ verwendet werden kann, lässt aber auch seine andere Deutung als eines „Nullzeichens“ erkennen, die darin besteht, hinsichtlich des betreffenden Merkmals lediglich „unmarkiert“ zu sein (‚weder A noch Nicht-A’). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen könnte man den Schluss ziehen, dass in den würde-Kontexten mit kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen die konjunktivische Markierung des Auxiliars durch die Konjunktiv II-Flexion in der zweiten Weise gedeutet wird, und zwar nicht als Verweis auf eine bestimmte nichterfüllte Bedingung, sondern als explizite Markierung der entfernten deiktischen Werte innerhalb der Opposition „Indkativ“ vs. „Konjunktiv“, also als „Nicht-Indikativ“. Die einleitenden kognitiven Ausdrücke spezifizieren diese (Be-)Deutung durch die explizite Einführung eines Referenzpunktes (Gedankenwelt vs. reale Welt). Somit wird die konjunktivische Markierung sozusagen „verbraucht“. Was bleibt, ist die evidentielle werden-Komponente, die in solchen Kontexten in den Vordergrund tritt.
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ierbare Bedingungen stellen den Faktizitätswert der würde-Äußerungen nicht automatisch als nichtfaktisch dar, sie beziehen die Aussage nur auf eine konkrete, als möglich eintretend definierte Situation und gehören daher zu den weiteren Evidenzen oder Gründen, werden also als Teil der Informationsquelle (des Ausgangspunktes) interpretiert. M.E. liegt darin der distinktive Unterschied zwischen dem synthetischen Konjunktiv II und der Konstruktion würde + Infinitiv. Auf diese Bedeutungsaspekte der Fügung wird im Kap.7. ausführlicher eingegangen. 5.4.3. Würde + Infinitiv in der erlebten Rede Die erlebte Rede stellt einen besonderen Verwendungsbereich der Konstruktion würde + Infinitiv dar. Der folgende Abschnitt stellt sich zur Aufgabe, in sehr kurzer Form15 Affinitäten zwischen den im vorangegangenen Kapitel behandelten Kontexten und der erlebten Rede aufzuzeigen. Auf der Basis dieser Parallelitäten kann eine einheitlichere Beschreibung der funktionalen Leistung von würde + Infinitiv erzielt werden, als bisher in der Literatur vorliegt. Die erlebte Rede oder das erlebte Denken (Zifonun u.a. 1997, 1775f.) zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur Wiedergabe der Gedanken aus der Perspektive der Personen dienen, über die erzählt wird. Dabei steht das, was einer Person, „dem Reflektierenden“, durch den Kopf geht, im Vordergrund. In der erlebten Rede werden die Ereignisse, die zum Zeitpunkt, der das Jetzt der referierten Person darstellt, normalerweise im Präteritum (oder Plusquamperfekt) formuliert und die Konstruktion würde + Infinitiv liefert einen Zukunftsbezug relativ zu diesem Jetzt der referierten Person. Bei einer Umformung in die direkte Rede wird das Präteritum mit Präsens (Plusquamperfekt entsprechend mit einem Vergangenheitstempus) wiedergegeben, würde + Infinitiv steht dann in solchen Texten in der gleichen Opposition zum einfachen Präteritum Indikativ wie die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv zum Präsens in ‚normalen’ Texten (Fabricius-Hansen 1998, 145f.).
_____________ 15 Eine eingehende Beschreibung des Phänomens „erlebte Rede“ und der Funktionen ande-
rer Verbformen (Präteritum, Plusquamperfekt) unter der Berücksichtigung besonderer Eigenschaften der erlebten Rede soll hier leider ausbleiben, da eine solche Untersuchung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. An dieser Stelle möchte ich nur auf einige Studien verweisen, die sich mit der erlebten Rede und im Besonderen mit der Rolle der Konstruktion würde + Infinitiv innerhalb dieser auseinandersetzten: von Roncador (1988), Klotz (1974), Herdin (1903), Thieroff (1992), Fabricius-Hansen (1998, 2000, 2002) u.a.
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Tonio Kröger stahl sich fort, ging heimlich auf den Korridor hinaus und stellte sich dort, die Hände auf dem Rücken, vor ein Fenster mit herabgelassener Jalousie [...] Er blickte aber in sich hinein, wo so viel Gram und Sehnsucht war. Warum, warum war er hier? Warum saß er nicht in seiner Stube am Fenster und las in Storms „Immensee“ und blickte hie und da in den abendlichen Garten hinaus, wo der alte Walnussbaum schwerfällig knarrte? [...] Und er horchte hinter sich und wartete in unvernünftiger Spannung, dass sie kommen möge. [...] Hatte auch sie ihn verlacht, gleich allen anderen? Ja, das hatte sie getan, so gern er es ihret- und seinetwegen geleugnet hätte. Und doch hatte er nur aus Versunkenheit in ihre Nähe ‚moulinet des dames’ mitgetanzt. Und was verschlug das? Man würde vielleicht einmal aufhören zu lachen! [...] Es kam der Tag, wo er berühmt war; wo alles gedruckt wurde, was er schrieb, und dann würde man sehen, ob es nicht Eindruck auf Inge Holm machen würde... Es würde keinen Eindruck machen, nein, das war es ja. Auf Magdalena Vermehren, die immer hinfiel, ja, auf die. Aber niemals auf Inge Holm, niemals auf die blauäugige, listige Inge. Und war es also nicht vergebens? [...] (Thomas Mann, Tonio Kröger)
(40)
Nun kreuzte Doktor Mantelsack im Stehen die Beine und blätterte in seinem Notizbuch. Hanno Buddenbrook saß vornübergebeugt und rang unter dem Tisch die Hände. Das B, der Buchstabe B war an der Reihe! Gleich würde sein Name ertönen, und er würde aufstehen und nicht eine Zeile wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute, schreckliche Katastrophe, so guter Laune der Ordinarius auch sein mochte... Die Sekunden dehnten sich martervoll. „Buddenbrook“ ... jetzt sagte er „Buddenbrook“ ... „Edgar“ sagte Doktor Mantelsack, [...] (Thomas Mann, Buddenbrooks, T.111, Kap.2)
(41)
Marie fragte mich vom Bett aus: "Woran denkst du?". Und ich sagte: "An nichts". Ich sah den Jungen noch über den Bahnhofsvorplatz gehen, langsam, dann im Bahnhof verschwinden, und hatte Angst um ihn; er würde für diese weihevolle Viertelstunde fünf Minuten bitterlich büßen müssen: eine zeternde Mutter, ein bekümmerter Vater, kein Geld im Haus für neue Bücher und Hefte. "Woran denkst du", fragte Marie noch einmal. Ich wollte schon wieder "An nichts" sagen, dann fiel mir der Junge ein, und ich erzählte ihr, woran ich dachte: wie der Junge nach
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
Haus kam, in irgendein Dorf in der Nähe, und wie er wahrscheinlich lügen würde, weil niemand ihm glauben konnte, was er tatsächlich getan hatte. Er würde sagen, er wäre ausgerutscht, die Mappe wäre ihm in eine Pfütze gefallen, oder er habe sie für ein paar Minuten aus der Hand gestellt, genau unter den Abfluß einer Dachrinne, und plötzlich wäre ein Wasserguß gekommen, mitten in die Mappe hinein. (Böll, 145) Die Affinitäten zwischen der erlebten Rede und den in Kap.5.4.1. behandelten Kontexten wurden schon oft von einigen Autoren betont: Ein Ausblick auf die (mögliche, angenommene, als sicher erachtete) Zukunft ist immer nur einem sprechenden oder denkenden Ich möglich. Deshalb kommt die würde-Umschreibung immer nur in Figurenrede [erlebte Rede, innerer Monolog; E.S.] vor; personale oder Ich-Erzählsituation sind geradezu prädestiniert für diese Periphrase. Und deshalb sind häufig genug verba dicendi oder epistemische Verben bzw. verbale Syntagmen die verba regentia von Nebensätzen, in denen der verbale Kern in der Form würde + Infinitiv steht. (Wolf 1995, 199) Solche Konstruktionen [von Verben wie denken, glauben, erwarten, hoffen, befürchten eingeleitete abhängige Sätze; E.S.] entsprechen der typischen indirekten Rede i.e.S., insofern als eine illokutionäre und temporal-epistemische Figurenperspektive im abhängigen Satz eingeschaltet wird und dies durch den Konjunktiv deutlich gemacht wird. Dennoch liegt keine prototypische indirekte Rede vor; denn es handelt sich nicht um die Wiedergabe des Inhalts wahrnehmbarer Sprachhandlungen, sondern um nicht direkt zugängliche Gedanken. Mit anderen Worten: Wir haben es mit einem syntaktisch abhängigen Pendant des „erlebten Denkens“, d.h. mit „indirekter Gedankenwiedergabe“ i.e.S. zu tun, die sich zur syntaktisch selbständigen Gedankenwiedergabe (der sog. erlebten Rede) so verhält wie prototypische indirekte Rede i.e.S. zur syntaktisch selbständigen indirekten Rede (d.h. zur berichteten Rede). (Fabricius-Hansen 2002, 20)
Daraus ergibt sich, dass sich die Konstruktion würde + Infinitiv sowohl in der erlebten Rede als auch in den syntaktischen Konstruktionen in Abhängigkeit von epistemischen bzw. emotionalen Verben/Verbalphrasen am besten mit Bezug auf die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv erklären lässt: Die würd(e)-Konstruktion stellt nicht nur formal die Konjunktiv II-Entsprechung des futurischen oder rein epistemischen wird/werd(e) + Infinitiv dar, sie lässt sich im normalen Gebrauch funktional auch so erklären, d.h. als Konjunktiv Präteritum der Fügung werd(en) + Infinitiv. (Fabricius-Hansen 2000, 93) Dies zeigt wiederum, dass würde + Infinitiv im Vergangenheitskontext dieselbe Funktion hat wie das FuturI im Gegenwartskontext. (Thieroff 1992, 148) Die würde-Periphrase formuliert einen vermuteten Sachverhalt in der Gegenwart der Sprechsituation; mit anderen Worten: würde + Infinitiv drückt auf der Ebene des tunc das aus, was auf der Ebene des nunc Aufgabe des Futurs I ist. (Wolf 1995, 199)
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Da allerdings die Konstruktion werden + Infinitiv von den Autoren unterschiedlich klassifiziert wird, kommen sie im Endergebnis zu entsprechend unterschiedlichen Interpretationen von würde + Infinitiv. Es geht also vielmehr um das Problem der Einordnung der Konstruktion werden + Infinitiv, als um die Bestimmung des Status von würde + Infinitiv. Die erlebte Rede dient also der Wiedergabe von Gedanken, Reflexionen, Empfindungen einer Person, die als Träger dieser Informationen und Einstellungen gilt. Eine explizite Markierung des Perspektivenwechsels durch einleitende Ausdrücke oder Einschübe wie etwa durch kognitive Verben bzw. Verbalphrasen, wie in den in Kap.5.4.1. beschriebenen Kontexten, fehlt häufig im (Erzähl-)Text. Und während aus der Perspektive der referierten Person feststehende, faktische Ereignisse normalerweise im Präteritum formuliert werden, bezeichnet die Konstruktion würde + Infinitiv mögliche, vielleicht auch von dieser Perspektive aus notwendige Entwicklungen (daher in der relativen Zukunft liegend, da aus der Sicht der referierten Person noch nicht eingetreten) einer (im Präteritum) gegebenen Situation. Die Parallelität zu der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv ist offensichtlich. M.E. liegt der wichtigste Aspekt dennoch nicht in der temporalen Interpretation dieser Konstruktionen. Die mit würde + Infinitiv dargestellten Ereignisse oder Handlungen liegen logischerweise nach dem Zeitpunkt, der als das Jetzt der referierten Person angesetzt wird, da sie notwendigerweise auch zeitlich gesehen spätere Entwicklungen bezüglich der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Situation sind. Und doch ist der temporale Wert der Konstruktion nicht die primäre Funktionsleistung von würde + Infinitiv auch in solchen Kontexten. Der Person, deren Gedanken wiedergegeben werden, werden auch die weiterführenden Gedanken zugeschrieben, die hier mithilfe der würde-Fügung formuliert werden. Diese weiterführenden, ausblickenden Gedanken sind Produkt der mentalen Tätigkeit der referierten Person, genauso wie die tatsächliche Abfolge der Ereignisse, die im Präteritum (Plusquamperfekt) formuliert wird, zur Gedankenwelt der referierten Person gehört. Würde + Infinitiv wird dann eingesetzt, wenn es um Reflexionen (im engeren Sinne) der referierten Person geht, die auf dem in „unmarkiertem“ Tempus Wiedergegebenen basieren bzw. diesem entspringen. Diese im Präteritum beschriebenen Umstände können ferner als Begründungen der „ausblickenden“ Vorstellungen bzw. Erwartungen interpretiert werden. In (39) sind das Informationen über Inge Holm (im Vergleich zu Magdalena Vermehren), in (40) – die Aufeinanderfolge der Buchstaben im Alphabet und in (41) – „weil niemand ihm glauben konnte“. Würde fungiert hier als grammatischer Marker, der eine „zusätzliche“ (im Gegensatz zu den in dieser Hinsicht unmarkier-
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
ten Formen Präteritum und Plusquamperfekt) gedankliche Aktivität der referierten Person kennzeichnet. Wie in Kap.5.4.1. erläutert: „rein“ temporal zu interpretieren sind die Aussagen mit würde + Infinitiv für diejenige Person (für denjenigen Sprecher), die die Gedanken des anderen (des zitierten, des referierten) Sprechers wiedergibt, da sie möglicherweise durch die tatsächliche Entwicklung der Geschehnisse bestätigt wurden. Worauf es hier wirklich ankommt, ist nicht die temporale Abfolge der dargestellten Ereignisse, sondern vielmehr die „erwartbare“ Entwicklung der Situation, wie sie vom referierten Sprecher anhand der ihm vorliegenden Informationen „konstruiert“ wird. Fritz (2000b, 191 f.) beschreibt die Situation folgendermaßen: Dem Sprecher2, der den Blick zitiert, ist die relative Zukunft bereits vergangen, wenn er nicht als auktorialer Sprecher ohnehin über das Wissen verfügt, das dem Sprecher1 in der vergangenen Situation noch fehlt. Aus der Ausgangsperspektive von Sprecher1 ist der Wahrheitswert des Sachverhalts damit noch ungeklärt, aus der Perspektive des berichtenden Sprechers2 aber eindeutig. Ein ausschließlich ‚sprechersicheres’ Futur präteriti kann angesichts dieser Verhältnisse nur dadurch erreicht werden, dass man die beiden Perspektiven vermengt. Für den Sprecher1 in dem ursprünglichen (gedachten) Satz besteht genau die Ausgangslage, in der er auf seine Gegenwart bezogen werden mit Infinitiv verwenden würde. [...] Die Form indikativisch in das Tempussystem einzuordnen, hieße den Blickwinkel unnötig verengen, da auch die Bildungen von werden mit Infinitiv in einer berichteten Vergangenheit an sich weder notwendig ‚zukunftsbezogen’ noch notwendig ‚sprechersicher’ sind.
Wenn man also in Betracht zieht, dass mit würde + Infinitiv in der erlebten Rede in erster Linie die „weiterführenden“ Gedanken der referierten Person wiedergegeben werden, die diese Person in der gegebenen, für sie aktuellen Situation entwickelt, dann kommt hier auch die inferentielle Bedeutung der Fügung klar zum Vorschein, die für die indikativische Fügung werden + Infinitiv angenommen wurde. Mithilfe der würde-Fügung wird primär die mentale Aktivität des (referierten) Sprechers enkodiert, insofern er die vorliegende Situation (als informationshaltige Quelle für seine Reflexionen über ihre mögliche Entwicklung) „weiterdenkt“ und sie so zu einem für ihn logisch erwartbaren End- oder Zielpunkt hin führt. Dieser End- oder Zielpunkt ist der mit würde + Infinitiv formulierter Sachverhalt. 5.4.4. Würde + Infinitiv als Konjunktiv II von werden + Infinitiv Im folgenden Kapitel werden weitere Verwendungskontexte der Konstruktion würde + Infinitiv behandelt, die sich von den oben beschriebenen
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
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hauptsächlich dadurch scheiden, dass sie zum einen selbständige, d.h. keine syntaktisch abhängigen Aussagen darstellen, und zum anderen nicht auf die temporale Perspektive der Vergangenheit beschränkt sind. Wie die Sichtung des vorliegenden Datenmaterials ergeben hat, kommt die Konstruktion würde + Infinitiv auch in solchen Kontexten vor, die keine erlebte Rede darstellen und ferner keinen inhaltlichen oder syntaktischen Zusammenhang mit den kognitiven (oder epistemischen) Ausdrücken aufweisen. Die inferentielle evidentielle Bedeutung der Fügung (oder die werden-Bedeutungskomponente) tritt hier allerdings deutlich in den Vordergrund, wobei sie nicht mehr durch bestimmte epistemische/ emotionale Bedeutungsnuancen (durch die einleitenden kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen) „überschattet“ wird. In diesen Fällen kann man ferner nicht von einer rein temporalen Variante der Konstruktion würde + Infinitiv sprechen, weil es sich häufig um Aussagen über bestimmte Personen oder Sachverhalte handelt, die atemporal einzuordnen sind, vgl.: (42) Bei Karl Emonds habe ich nie den Eindruck von Opfer, Leid, Schicksal, Größe der Armut. Er verdient ganz gut, und alles, was sich von Schicksal und Größe zeigte, war eine ständige Gereiztheit, weil er sich ausrechnen konnte, daß er nie eine für ihn angemessene Wohnung würde bezahlen können. (Böll, 259) (43)
Ein anderer käme vielleicht darüber hinweg, aber du würdest dein Leben lang daran tragen. (Larsen, 53)
Die Gründe – Evidenzen –, die der aktuelle Sprecher für seine Sachverhaltsdarstellung hat, können aus dem vorliegenden Kontext meist leicht rekonstruiert werden. So kann der Satz (43) folgendermaßen interpretiert werden: „Aus dem Grund, dass ich dich (gut) kenne und unter Berücksichtigung der vorliegenden Situation folgere ich, dass p [du trägst dein Leben lang daran]“. Der Unterschied zwischen dem synthetischen Konjunktiv II und der Konstruktion würde + Infinitiv ist recht deutlich (näher dazu in Kap.6): „Ich kenne einen anderen nicht und deswegen kann ich über einen anderen nicht urteilen. Dich kenne ich aber, also habe ich Gründe (Evidenzen) zu sagen, dass p [du dein Leben lang daran trägst]. Oder: Ich habe keine Informationen über irgendjemand anderen, deswegen kann ich etwas über einen anderen nicht behaupten, das kann wahr oder falsch sein. Aber da ich dich kenne, Informationen über dich habe, habe ich somit die Beweise, um etwas über dich behaupten zu können.“ Neben dem persönlichen emotionalen Engagement des Sprechers, das für diese Aussage natürlich festgestellt werden kann, lässt sich vor allem die vom Sprecher vollzogene Operation des Schlussfolgerns voraussetzen, die er
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
auf der Basis der ihm vorliegenden Informationen (über die dargestellte Person) vornimmt. Ein weiterer Beleg soll eine derartige Interpretation der Aussagen mit würde noch einmal verdeutlichen: (44) "Es ist sieben vorbei", sagte ich, "und der Spaß kostet Sie schätzungsweise zwei Mark fünfzig". "Ja", sagte er, "vielleicht drei Mark, aber im Augenblick würde kein Agent so viel an Sie legen. Also: in einem Vierteljahr und mit mindestens sechs tadellosen Nummern. Quetschen Sie aus Ihrem Alten soviel raus, wie Sie können. Tschüs".(Böll, 138) Der Sprecher verfügt über Evidenzen (Informationen über die bestehende Situation auf dem Markt, Informationen über die Person, mit der er spricht), die er dahingehend verarbeitet, dass p [im Augenblick kein Agent an Sie so viel legt]. Die Bedeutungsparaphrase für diesen Satz wäre: „Ich habe Gründe, zu bestreiten, dass ein anderer Agent so viel an Sie legt“. Unten werden weitere Beispiele angeführt, die auf eine ähnliche Art und Weise interpretiert werden können. Derartige Belege sind im untersuchten Korpus sehr frequent: (45) Genneholm würde sagen: noch viel zu naturalistisch - und er hat recht. (Böll, 184) (46)
In seinen Augen las ich es: er konnte sein Geld nicht einem Clown geben, der mit Geld nur eins tun würde: es ausgeben, genau das Gegenteil von dem, was man mit Geld tun mußte. (Böll, 209)
(47)
Der Advocatus coeli würde mit sanftem Lächeln darauf hinweisen, daß Virchows Schöpfung, der pathologischanatomische Mensch, erst in dem Augenblick ins Blickfeld der Wissenschaft tritt, in welchem das Seziermesser sein Dasein eröffnet. (Bamm, 99)
(48)
Der alte Heide aus Kos würde wahrscheinlich noch im Hades darüber lächeln, daß sein Name auf eine so würdevolle Weise durch zwei Jahrtausende hindurch Sätze begleitet hat, die so im tiefsten Grunde christlich sind. (Bamm, 124)
(49)
Sabeth würde es natürlich anders taufen, aber ich weiß nicht wie. (Frisch, 242)
(50)
Sabeth würde sagen: wie Smaragd! (Frisch, 243)
Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion
(51)
151
Von "Casanova" (1976) lernte ich, wie schmerzlich es ist, ohne Liebe zu leben. Casanova ist eine Puppe. Ein richtiger Mann würde sich über die Gefühle der Frauen nicht so skrupellos hinwegsetzen. (Spiegel 36)
Es gilt hier noch einmal zu erwähnen, dass alle in diesem Kapitel angeführten Beispiele keinen (zukünftigen) temporalen Wert zum Ausdruck bringen. Sie bezeichnen eine (nicht auf eine bestimmte Zeit gebundene) Annahme, eine Vermutung des Sprechers, für die er Gründe hat. M.E. bilden solche Kontexte einen charakteristischen Verwendungsbereich der Konstruktion würde + Infinitiv. Ich fasse sie hier als einen typischen Verwendungskontext der würde-Fügung auf und versehe sie mit einer kurzen Formel: X würde Vinf. (sagen, hinweisen, lächeln, taufen usw.). X steht für eine Entität, die meist eine dem Sprecher (und nicht nur dem Sprecher) bekannte Person darstellt. Das Wissen über die betreffende Person, die Informationen über sie, bilden den Ausgangspunkt, auf deren Grundlage der Sprecher seine Aussagen mit würde macht. Im semantischen relationalen Schema nimmt X (bzw. das sprecherspezifische Wissen über X) somit die Stelle des Ausgangspunktes ein. Würde fungiert als Pfad oder Relator, der eine Folgebeziehung zwischen dem Ausgangspunkt (als Informationsquelle aufgefasst) und dem Zielpunkt (der Proposition) kodiert. Das relationale Schema ist im Grunde das gleiche wie bei der Fügung werden + Infinitiv. Die evidentielle werden-Bedeutungskomponente ist in solchen Verwendungen von würde + Infinitiv dominant. Die Konjunktivflexion der Konstruktion eröffnet außerdem noch eine andere zusätzliche Interpretation solcher Aussagen, die sich traditionellerweise in Form eines Konditionaleinschubes paraphrasieren lässt, nämlich ‚wenn X da wäre, wenn X an Deiner/ Ihrer Stelle wäre’ u.ä. Somit wird also eine nichterfüllte Bedingung konstruiert (vgl. Kasper 1987a, b; Diewald 1999), die die Nichtfaktizität der Aussage bedingt. Wenn man allerdings die betreffenden Kontexte in dieser Weise umzuformulieren versucht, ergeben sich Strukturen, die die Bedeutung der Ausgangsaussagen mit würde nicht in entsprechendem Maße wiedergeben16: (45’) Wenn Genneholm hier wäre, würde er sagen... Der durch die explizite Einführung einer nichterfüllten Bedingung erweiterte Satz ändert m.E. nichts an der evidentiellen Bedeutung der ursprünglichen Aussage ohne diesen Einschub. Die gesamte Struktur ist ohne Zweifel als ein Satz zu interpretieren, der die Bedeutung der „Irreali-
_____________ 16 Diese „neuen“ Aussagen bilden einen neuen Kontext, der von dem ursprünglichen grund-
sätzlich verschieden ist. Dies ist ausführlich dargestellt am Beispiel deutscher Konditionalkonstruktionen in Kap.7.
152
Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
tät“ trägt. Allerdings können durch diese Struktur zwei unterschiedliche Interpretationsvarianten des Satzes ausgelöst werden, die sich im Sprachgebrauch normalerweise überlappen, da die beiden meist möglich sind: 1. irreal (durch den konditionalen Einschub als dominant gesetzt): Ausgangspunkt ist die Bedingung ‚Genneholm ist hier’, die als nichterfüllt vorausgesetzt wird und daher die Nichtfaktizität der Aussage ‚Genneholm sagt’ herbeiführt; 2. evidentiell (aus der inhärenten werden-Komponente ableitbar): Ausgangspunkt ist nicht die nichterfüllte Bedingung, sondern die Informationen, die mit der beschriebenen Person (Genneholm) assoziiert werden. Dabei wird die irreale Bedeutung nebensächlich, denn: „Ob Genneholm hier ist oder nicht, ist irrelevant, relevant ist, dass ich weiß, dass er in dieser Situation genau das und nichts anderes sagen würde. Und diese Kenntnis stütze ich auf mein Wissen über ihn“. Besonders deutlich ist es in (46). Mit der Aussage ein Clown würde mit Geld nur eins tun wird m.E. kein Zusammenhang zu einer möglichen nichterfüllten Bedingung (?wenn man einem Clown das Geld gäbe) hergestellt und daher auch nicht die Nichtfaktizität dieser Aussage behauptet, sondern es wird nur assertiert, was ein Clown (in Augen des Sprechers) mit Geld tut. Und es ist irrelevant, ob er das Geld im Moment hat oder nicht, es wird somit eine allgemeine Aussage über das Verhalten einer bestimmten Person (einer bestimmten Personengruppe) gemacht. Ich möchte daher behaupten, dass es sich im Falle der betreffenden Verwendungen von würde + Infinitiv in erster Linie um die durch die Konjunktivflexion modifizierte Bedeutung von werden + Infinitiv handelt, und zwar darum, dass die inferentielle evidentielle Bedeutung durch die Konjunktivflexion „abgeschwächt“ wird. Sowohl der Konjunktiv II als auch die Konstruktion werden + Infinitiv weisen eine relationale Semantik auf. Werden sie in einer Form (würde + Infinitiv) verbunden, ergeben sich Überlagerungen, die zu Bedeutungsverschiebungen führen. Dieses Phänomen lässt sich mit Bezug auf die Grundbedeutung des Konjunktivs II erklären: Der „abschwächende“ Konjunktiv II bringt „phorisch verankerte bedingte Faktizität“ zum Ausdruck. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Konjunktiv IIVerwendungen ist also der, dass der Faktizitätswert der Proposition abhängig ist von der (phorisch indizierten) Bedingung und je nach Kontext zwischen „phorisch verankerter bedingter Nichtfaktizität“ (der Grundbedeutung) und „phorisch verankerter bedingter Faktizität“ (der „abschwächenden“ Bedeutung) liegt. (Diewald 1999, 198)
Die in Frage kommenden Verwendungskontexte von würde + Infinitiv setzen, wie oben ausgeführt, einen Ausgangspunkt voraus, der von dem Aus-
Zusammenfassung
153
gangspunkt der grundlegenden konjunktivischen Bedeutung verschieden ist. Dieser Ausgangspunkt, der sich aus den Informationen über die beschriebene Person (abstrakter: Entität) zusammensetzt, ist in solchen Kontexten entscheidend, relevant, und nicht die sprachlich konstruierbare nichterfüllte Bedingung, da sie, wie gezeigt, die Aussage (bei der expliziten Einführung) nicht automatisch als „nichtfaktisch“ erscheinen lässt. Somit wird die Komponente „phorisch verankerte bedingte Nichtfaktizität“ schwächer ausgeprägt und zugunsten der Komponente „phorisch verankerte bedingte Faktizität“ reinterpretiert. Dementsprechend liegt hier die „abschwächende“ Bedeutung des Konjunktivs II vor, und demzufolge ist die Bedeutung der Konstruktion werden + Infinitiv in der Form würde + Infinitiv als „abgeschwächt“, „unverbindlich“, „vorsichtig formuliert“ (vgl. Flämig 1962, 25) zu verstehen. Unter die Verwendungskategorie X würde Vinf. fallen auch solche Kontexte, die nicht auf eine bestimmte Person, sondern auf einen bestimmten Ort referieren, der sowohl dem Sprechenden als auch seinen Rezipienten bekannt sein kann und daher als informationshaltender Ausgangspunkt interpretiert wird: (52) Aus der Deggendorfer Zeitung: "In China würde die Haftstrafe nicht gelten. Es müßte also befürchtet werden, daß er unter anderem Namen wieder nach Deutschland einreisen könnte. Chinesen schauen sich ja recht ähnlich." (Spiegel 42) (53)
Den Beamten aus dem Westen irritiert vor allem, wie die Bürger hier im Osten reagieren. "In Essen würde sich das niemand gefallen lassen", sagt Wiese, "hier gibt es kaum Beschwerden. Die sind es nicht anders gewöhnt." (Spiegel 36)
5.5. Zusammenfassung Das Ziel dieses Abschnittes war, die funktonale Leistung der Konstruktion würde + Infinitiv in bestimmten Kontexten aus ihrer „werdenKomponente“ heraus zu erklären. Dafür musste zuerst der Status der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv geklärt werden. Diese wurde als eine Konstruktion mit evidentieller Kernbedeutung beschrieben (vgl. Kap.5.3). Weiterhin wurden Kontexte bzw. Kontexttypen von würde + Infinitiv behandelt, die die evidentielle Lesart der Konstruktion aufweisen, und zwar die Konstruktion würde + Infinitiv als eine Entsprechung der inferentiellen evidentiellen Konstruktion werden + Infinitiv erscheinen las-
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Würde + Infinitiv und werden + Infinitiv
sen. Vier Arten von Verwendungskontexten wurden beschrieben, die allerdings zu zwei Gruppen zusammengefasst werden können: Die erste Gruppe bilden Vergangenheitskontexte, die sich dadurch auszeichnen, dass die mit würde formulierten Aussagen in syntaktischer Abhängigkeit von kognitiven Verben und Verbalphrasen wie denken, glauben, wissen, erwarten, befürchten, Angst haben etc. stehen. Zu diesen Kontexten gesellt sich auch die erlebte Rede. Es wurde festgestellt, dass die Einordnung der Konstruktion würde + Infinitiv in solchen Verwendungskontexten als indikativisches Tempus „Futur Präteritum“ zum Ausdruck der relativen Zukunft in der Vergangenheitsperspektive nicht der tatsächlichen funktionalen Leistung dieser Form entspricht. Diese These stützt sich im Wesentlichen darauf, dass die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv in ihrer Grundbedeutung nicht als Tempus Futur klassifiziert wird, sondern als inferentielle evidentielle Konstruktion verstanden wird. In dieser Bedeutung kodiert werden + Infinitiv die mentale Aktivität des aktuellen Sprechers, die darin besteht, Schlussfolgerungen aufgrund vorliegender Evidenzen (Informationsquelle = Prämissen) zu vollziehen. Die Konklusionen, die Ergebnisse eines solchen Schlussfolgerungsprozesses werden mit werden + Infinitiv zum Ausdruck gebracht. Von dieser Annahme ausgehend, kann die Fügung würde + Infinitiv als modusneutrale präteritale Entsprechung von werden + Infinitiv eingeordnet werden (anstelle von der in der heutigen deutschen Sprache fehlenden Form *wurde + Infinitiv). Würde + Infinitiv bezeichnet in solchen Kontexten eine vom Sprecher geschlussfolgerte (inferierte) Entwicklung der gegebenen Situation im Hinblick auf die Informationen, die ihm in der aktuellen Situation vorliegen. Die temporale Interpretation der Fügung ergibt sich daraus, dass solche „weitergedachten“, „reflektierten“ Ereignisse normalerweise in der zum Sprechzeitpunkt relativen Zukunft liegen, was aber nicht unbedingt der Fall sein muss. Während einleitende kognitive Ausdrücke wie denken, glauben, wissen, erwarten usw. eindeutig den Sprecherbezug herstellen, indem sie dank ihrer lexikalischen Bedeutung eine spezifische epistemische bzw. emotionale Sprechereinstellung zum Ausdruck bringen, markiert die Konstruktion würde + Infinitiv eine Aussage als Folge, Konklusion, Ergebnis der mentalen (Schlussfolgerungs-)Aktivität des Sprechers. Damit leistet sie ferner den Verweis auf eine Informationsquelle (oder kodiert das Vorhandensein einer Informationsquelle), die als Ausgangspunkt (Prämisse) für diesen gedanklichen Prozess des Sprechers gilt. Diese als Ausgangspunkt geltenden Informationen können explizit im Text genannt werden oder implizit
Zusammenfassung
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bleiben, der evidentielle Wert der Konstruktion würde + Infinitiv wird davon nicht betroffen.17 Die Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv, die durch die erste Gruppe von Kontexten favorisiert wird, kann also als modusneutrale präteritale Variante der evidentiellen Konstruktion werden + Infinitiv bezeichnet werden. Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass bei der Transposition solcher Kontexte aus der Vergangenheits- in die Gegenwartsperspektive würde + Infinitiv durch die Fügung werden + Infinitiv ersetzt wird. Die zweite Gruppe bilden diejenigen Kontexte, die nicht auf eine bestimmte temporale Perspektive festgelegt werden können. Diese Kontexttypen können mit der abstrakten Formel X würde Vinf. / (In X würde Vinf.) beschrieben werden. X steht für eine Entität (z.B. Person, Ort), welche dem Sprecher bekannt ist oder über welche er zumindest über einige Informationen verfügt, die als Ausgangspunkt (Informationsquelle) für seine Vermutungen, Annahmen über diese Entität gelten. Auf der Grundlage der Informationen (Evidenzen) über eine bestimmte Person oder einen bestimmten Ort kommt der Sprecher zu einem Schluss, der, unabhängig von der Tatsache, ob die Situation der Bestätigung oder Verwerfung seiner Aussage eintritt oder nicht, eine Sachverhaltsdarstellung ist, die auf die betreffende Person/ auf den betreffenden Ort zustimmt. Es handelt sich bei diesen würde-Verwendungen um die durch die Konjunktivform „abgeschwächte“ evidentielle Bedeutung der Konstruktion werden + Infinitiv. Die Aussagen mit würde + Infinitiv stehen den Aussagen mit werden + Infinitiv als „vorsichtige“ Formulierungen derselben Inhalte gegenüber. Durch die Überlappung von zwei relationalen Strukturen (einerseits von werden + Infinitiv und andererseits vom Konjunktiv II) kommt es zur Reinterpretation der Grundbedeutung des Konjunktivs II, wobei die Bedeutung der Nichtfaktizität der Proposition als die Bedeutung der „abgeschwächten“ Faktizität der Proposition umgedeutet wird.
_____________ 17 Das heißt ferner, dass der evidentielle Wert der Konstruktion würde + Infinitiv durch das Weglassen der expliziten Nennung der Informationen (Evidenzen) nicht eliminiert wird. Vgl. dazu die objektiv epistemisch gebrauchte deutsche Modalverben (v.a. müssen), die ihre evidentiellen Komponente verlieren, sobald die explizite Nennung bestimmter Informationen, Gründe, Evidenzen ausbleibt. (vgl. Kap.4.4.3.)
6. Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II In den folgenden Kapiteln wird zunächst versucht, die Bedeutung des Verbmodus Konjunktiv im Vergleich zum Indikativ im Allgemeinen zu beschreiben. Dabei werden mehrere Auffassungen in Betracht gezogen mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten in auf den ersten Blick unterschiedlichen Theorien zum Modus Konjunktiv aufzuspüren. Der Begriff des verbalen Modus1 wurde in Kap.4 von dem konzeptionell weiter gefassten Begriff Modalität abgegrenzt. Modus ist dementsprechend als eine grammatische Kategorie zu verstehen, die modaldeiktische Werte zum Ausdruck bringt. Des Weiteren werden Funktionsbereiche des Konjunktivs I und des Konjunktivs II getrennt behandelt. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Funktionsleistungen beider Konjunktive in der deutschen Gegenwartssprache klar voneinander abgegrenzt werden können. Dies bedeutet aber nicht, dass die beiden Formen als zwei eigenständige modale Kategorien im verbalen Paradigma des Deutschen eingestuft werden können, d.h. dass die einheitliche Bezeichnung „Konjunktiv“ nicht gerechtfertigt wäre. Dies wird durch die Beschreibung der konjunktivischen Grundbedeutungen sichtbar, die sich für heutige Verwendungen dieser Formen feststellen lassen. Folgende Überlegungen sind gewissermaßen nur Zusammenfassung und Vergleiche einiger neuerer Forschungen im Bereich der verbalen Modi und insbesondere zum Konjunktiv und stellen daher keinen eigenen Beitrag zur Statusbestimmung des Konjunktivs dar. Sie sollen lediglich den konzeptuellen Rahmen aufzeichnen, innerhalb dessen die Einordnung der heutigen Konstruktion würde + Infinitiv erfolgen wird.
6.1. Indikativ vs. Konjunktiv Die grammatische Kategorie des verbalen Modus wird als eine deiktische2 Kategorie verstanden (vgl. Jakobson [1957] 1971, 135f.; Donhauser 1987,
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Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf die deutsche Sprache. Die Klassifizierung verbaler Kategorien Tempus und Modus als deiktische Kategorien müsste mittlerweile kein Diskussionsgegenstand mehr sein – die These wird hier als bestätigt angenommen (vgl. Diewald 1991, 1997; Leiss 1992, 1994; Rauh 1984).
Indikativ vs. Konjunktiv
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76; Rauh 1984, 52f.; Leiss 1994, 155f.; Diewald 1999, 167ff., 245). In einer deiktischen Kategorie wird bekanntlich das ursprünglich räumliche Konzept der Distanz (Lokalisation) oft auf dem Weg der Metaphorisierung genutzt (Broschart 1993, 30ff.; Leiss 1994, 155f.; Sokol 1999, 71ff.). Im Fall der Tempuskategorie bedeutet dies die temporaldeiktische Lokalisierung der gesamten Sachverhaltdarstellung. Von der Origo ausgehend wird dem Sachverhalt ein temporaldeiktischer Wert zugewiesen. So bezeichnet das Präsens als merkmalloses Glied der Tempus-Opposition die unmittelbare „Nähe“ des Sachverhalts zur Origo; das Präteritum dagegen (oder auch jede andere Tempusform außer Präsens) weist als markierte Form dem dargestellten Sachverhalt einen temporaldeiktischen Wert „entfernt vom Sprecher“ zu (vgl. die in Kap.4.2. behandelte grundlegende Opposition „origonah“/ „origoinklusiv“ vs. „origofern“/ „origoexklusiv“). Die Kategorie des verbalen Modus bringt vergleichsweise ähnliche deiktische Werte – Nähe und Distanz – zum Ausdruck auf der Ebene der modalen Einordnung des dargestellten Sachverhaltes bezüglich der Origo. Durch die Moduskategorie wird die semantische Domäne Faktizität (vgl. Kap.4.4.1.) enkodiert (Diewald 1999, 174 f., vgl. auch Dietrich 1992, 77). Der Begriff ‚Faktizität’ hat m.E. vieles gemeinsam mit anderen Bezeichnungen, die zur Beschreibung der verbalen Modi in der Literatur genutzt wurden. So heißt die von Graf (1977, 148) aufgebaute modale Opposition „diese Welt“ vs. “andere Welt“. Der Indikativ wird als merkmallose Form oder als „Nullzeichen“ (vgl. Jakobson [1939]1974) definiert. Seine Funktion besteht darin, etwas als „wirklich“ zu bezeichnen, „indem er nicht als ‚nicht-wirklich’ darstellt“ (Graf 1977, 135). Demgegenüber ist der Konjunktiv die merkmalhafte Form, die die Äußerung als „gültig in einer anderen Welt“ kennzeichnet (S. 140 f.). Der Konjunktiv habe also die Funktion, die Proposition einer „anderen Welt“ als der Welt der Origo zuzuweisen, sei es die Welt eines anderen Sprechers (indirekte Rede, Konjunktiv I) oder eine „irreale“, „gewünschte“, „vorgestellte“ Welt (Irrealis, Potentialis; Konjunktiv II). Es scheint daher möglich zu sein, die Bezeichnungen „diese“ und „andere“ Welt als „faktische“ und „nicht-faktische“ Welt zu paraphrasieren, wenn dies auch mit gewissen Vereinfachungen verbunden sein mag. Beide Begriffe bringen vergleichbare Werte, und zwar deiktische Nähe („von mir aus unmittelbar wahrnehmbar und zu meiner Faktenwelt gehörig“) und Distanz („von mir ausgehend nicht unmittelbar wahrnehmbar und daher einer anderen, nicht-faktischen Welt – der Welt eines anderen oder einer angenommenen Welt – zugewiesen“) bezüglich der aktuellen Origo zum Ausdruck. Das Konzept der Distanz wird auch bei der Beschreibung des Modus Konjunktiv in „Grundzügen einer deutschen Grammatik“ (Heidolph/ Flämig/ Motsch 1981, 522 ff.) angewendet. Die Funktion der beiden
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
deutschen Konjunktive bestehe laut dieser Auffassung in der Einschränkung der allgemeinen Geltung einer Äußerung. Der Inhalt der Aussage ist als „nicht voraussetzungslos, nur unter bestimmten Bedingungen geltend“ zu verstehen (ebd.). Dies wird auch als Ausdruck der Distanzierung des Sprechers von uneingeschränkter Geltung (mit dem Indikativ ausgedrückten) der Aussage interpretiert, wodurch dem Hörer bestimmte Orientierungen über das kommunikative Verhalten des Partners ermöglicht werden. Der Indikativ wird als neutraler Modus mit dem semantischen Wert „allgemein gültig“, „nicht eingeschränkt“ verstanden. Dies meint allerdings nicht die Allgemeingültigkeit einer Aussage im Sinne ihrer logischen Wahrheit, sondern die kommunikative Geltung des in der Aussage dargestellten Sachverhalts. So werde die Aussage für den Sprecher nur dann in ihrer kommunikativen Geltung uneingeschränkt und der Sachverhalt als „wirklich“ dargestellt, wenn der Sprecher den Sachverhalt seiner aktuellen, „wirklichen“ Faktenwelt zuschreibt, d.h. als faktisch einschätzt. Durch die Verwendung von konjunktivischen Formen werde die uneingeschränkte Geltung einer Äußerung aufgehoben: entweder „auf die Bezugsebene eines ursprünglichen Redeakts“ (Konjunktiv I) oder „auf eine fiktive, nur in der Vorstellung gegebene Bezugsebene“ (Konjunktiv II) (Heidolph/ Flämig/ Motsch 1981, 525). Eine andere Terminologie und teilweise andere Begründungen zieht Radtke (1998) in ihrer Beschreibung des Konjunktivs heran. Sie formuliert den grundlegenden Gegensatz zwischen dem Indikativ und dem Konjunktiv als ‚behauptet’ (behauptet faktisch) vs. ‚nicht behauptet’ (behauptet epistemisch). Eine Aussage werde dementsprechend dann in den Indikativ gesetzt, wenn der Sprecher gewisse Gründe dafür hat, dies oder jenes zu behaupten. Eine Aussage werde dann vom Sprecher mit faktisch behauptender Kraft geäußert (Radtke 1998, 239). Mann könnte es auch anders ausdrücken: Wenn der Sprecher den Sachverhalt als wahr einschätzt (oder wie oben ausgeführt – faktisch), so kann er aufgrund seiner Einschätzungen etwas behaupten, also seine Äußerungen in den Indikativ setzen. Mit der Verwendung des Konjunktivs markiert der Sprecher, dass der dargestellte Sachverhalt von ihm nicht als faktische Behauptung formuliert werden kann. Der Sprecher distanziert sich dadurch von der faktischen Behauptung seiner Aussage, weil er den Sachverhalt offensichtlich nicht als wahr (oder faktisch „von ihm aus gesehen“) einschätzen kann. Die Relevanz der Rolle des aktuellen Sprechers ist eine der Hauptannahmen innerhalb dieser Konzeption. Der Sprecher allein ist dafür zuständig, ob er etwas „faktisch“ oder „epistemisch“ behauptet, und kann daher als fester Bestandteil der Origo gedeutet werden. Der Aspekt der deiktischen Distanz ist also in der Konzeption von Radtke präsent.
Indikativ vs. Konjunktiv
159
Die Bezeichnungen „mittelbar“ und „unmittelbar“ sind in der Beschreibung des Modus Konjunktiv ebenfalls oft vertreten: so kommen sie in der Definition des Konjunktivs von Zifonun u.a. (1997) vor. Das Geschehnis/ der Sachverhalt, das/ der vom aktuellen Sprecher unmittelbar wahrgenommen wird und daher als wahr empfunden wird, also seiner aktuellen „Faktenwelt“ angehört, befindet sich in der deiktischen „Nähe“ der Origo. Deiktisch „nah“ und dementsprechend modal nicht-markiert (unmarkiert) ist der verbale Modus Indikativ. Der Konjunktiv bringt die modaldeiktische Distanz zum Ausdruck, der dargestellte Sachverhalt wird nur „mittelbar“ wahrgenommen. Daher wird der Konjunktiv in dieser Auffassung „Modus der Mittelbarkeit“ genannt. Diese Bezeichnung lässt sich allerdings auf das allgemeine Konzept der (modal- )deiktischen Distanz zu der Origo, die durch den Konjunktiv hergestellt wird, zurückführen. Zifonun u.a. (1997, 1785) legen für den Modus Konjunktiv in verschiedenen Gebrauchsweisen folgende allgemeine Funktionsbestimmung dar: „Der Konjunktiv zeigt eine Brechung oder Aufhebung der Unmittelbarkeit der interpretativen Bezugnahme auf die beiden primären Koordinaten ‚aktualer Sprecher’ oder ‚aktuale Welt’ an“. Unter den „beiden primären“ Koordinaten wird hier der Bezug der Propositionen auf die Sprecher-Origo einerseits und auf die Welt-Origo andererseits gemeint. Und dieser Bezug wird durch die Verwendung des Konjunktivs nur mittelbar hergestellt. Die Propositionsausdrücke können deswegen damit vereinbart werden, was für den aktualen Sprecher und seine aktuale Welt nicht gilt.3 Es sei an dieser Stelle noch einmal auf die Auffassung des Konjunktivs als einer deiktischen Kategorie hingewiesen. Die oben behandelten Beschreibungen des Modus Konjunktiv verwenden nicht mehr Ausdrücke wie „Wirklichkeit“, „Möglichkeit“, „Nicht-Wirklichkeit“ bzw. „Wirklichkeitsmodus“ vs. „Möglichkeitsmodus“4 usw., die als Bezeichnungen und
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4
Die beiden Konjunktive sind primär jeweils einem der beiden Aspekte zugeordnet: Der Konjunktiv der Präsensgruppe (oder der Konjunktiv I) zeigt Brechung in bezug auf die Sprecher-Origo an (Indirektheitskontexte), der Konjunktiv der Präteritumgruppe (der Konjunktiv II) Brechung in bezug auf die Welt-Origo (Modalitätskontexte) (Zifonun u.a. 1997, 1785.). Beide Konjunktivgruppen reichen jedoch in die Domäne des anderen hinein. Solche Bezeichnungen lassen sich immer noch in vielen gebräuchlichen Termini wie „Irrealis“, „Realis“, „Potentialis“, „Optativ“ u. a. finden, die traditionellerweise in unserem Verständnis von verbalen Modi (Indikativ und Konjunktiv) verankert sind. Sie werden aber allmählich durch die Auffassung der Kategorie Modus als einer deiktischen Kategorie zugunsten anderer Bezeichnungen (Faktizität vs. Nicht-Faktizität, Welt-Origo/Perspektive, „andere Welt“ u.ä.) zurückgedrängt. Das Merkmal „faktisch“/“zu der Faktenwelt gehörig“ oder sein Gegensatz werden dementsprechend in einer verbalen Aussage durch die Modussetzung realisiert. Ob diese faktische Welt, die in einer Aussage, einer Erzählung oder
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
Beschreibungen für die Gegenüberstellung von Indikativ und Konjunktiv üblich waren.5 Die Funktion des Konjunktivs als einer verbalen Kategorie, die modaldeiktische Werte zum Ausdruck bringt und die Aussage innerhalb der semantischen Domäne Faktizität „verortet“, lässt jedoch diese „alten“ Bezeichnungen in der „neuen“ Auffassung als semantische sowie pragmatische Weiterinterpretationen oder Lesearten dieser Funktion des Konjunktivs beschreiben: „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ beziehen sich nicht unmittelbar auf die Aussage, sondern auf die Proposition im Rahmen des jeweiligen Origo-Bezugs.
6.2. Der Konjunktiv I Die zentrale Funktion des Konjunktivs I ist die Kennzeichnung der indirekten Rede (vgl. Flämig 1962, 50, 58f., 165 f.; Jäger 1971, 26 ff., 127 f.; Kaufmann 1976, 25; Diewald 1999, 182 u.a.). Der Konjunktiv I wird als Normalmodus der indirekten Rede (Redewiedergabe) verstanden, der diese als ein explizites flexivisches Signal markiert. „Folgende Grundregel ist anzusetzen: Wenn der Sprecher/ Schreiber sich für den Konjunktiv in der indirekten Rede entscheidet, dann wählt er normalerweise den Konjunktiv I“ (DUDEN 1998, 165). Der Konjunktiv I dient primär der Kennzeichnung mittelbarer Redewiedergabe und drückt grundsätzlich keine urteilende Stellungnahme des Sprechers aus. Er vermag Distanz zwischen dem aktuellen Sprecher und dem Besprochenen herzustellen, indem er das Besprochene einem anderen Sprecher, einer anderen, von der aktuellen verschiedenen Sprechsituation zuweist. Damit ist der Konjunktiv I ein quotativer Marker oder ein Quotativ (vgl. Palmer 1986, 71 ff., Weinrich 2003, 240 ff.). Die Funktionsleistung des Konjunktivs I als einer deiktischen Kategorie kann folgendermaßen beschrieben werden: Der aktuelle Sprecher distanziert sich von dem Inhalt seiner Aussage, indem er auf einen anderen Sprecher (den „zitierten“ Sprecher) verweist. Ein anderer Bezugspunkt, eine andere Origo wird eingeführt – die Origo des Zitats, d.h. es liegt eine Origoverschiebung bzw. Versetzungsdeixis vor (vgl. Diewald 1999, 182).
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einem Bericht geschildert (angenommen) wird, „wirklich“ oder „real“ ist, gehört zu der Interpretation des vorliegenden Kontextes. Graf (1977) weist in seiner Arbeit „Der Konjunktiv in gesprochener Sprache“ mit Recht daraufhin, dass solche Bezeichnungen für verbale Modi zurückgewiesen werden müssten. Auch im Modus Indikativ stehende Aussagen können „fiktiv“ (in der Dichtung) oder „hypothetisch“ (im Konditionalgefüge) sein, es gibt auch indikativische Sätze, die (durch Zukunftsbezug oder Modaladverbien wie vielleicht usw.) nur „Möglichkeit“ und also nicht „Wirklichkeit“ aussagen (Graf 1977, 134 ff.).
Der Konjunktiv I
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Dem dargestellten Sachverhalt, hier der Proposition der zitierten Äußerung, wird vom aktuellen Sprecher kein bestimmter Faktizitätswert in Bezug auf seine „wirkliche“ Welt zugewiesen. Der Sprecher markiert durch die Verwendung des Konjunktivs I lediglich, dass die Proposition tatsächlich vom zitierten Sprecher geäußert wurde. Im Defaultfall wird vorausgesetzt, dass der zitierte Sprecher seine Aussage behauptet hat. Origo → [-nichtfakt.] → (zitierte Origo → [-nichtfakt.] → Proposition) Relationale Struktur des Konjunktivs I (Diewald 1999, 183)
Die Gesamtbedeutung des Konjunktivs I setzt sich aus zwei gerichteten Relationen zusammen: aus einem expliziten Verweis auf die zweite Origo und einer Faktizitätsbewertung der Proposition durch den zitierten Sprecher. Beide Relationen, einzeln betrachtet, weisen der Proposition eigentlich keinen „entfernten“ oder „nichtfaktischen“ modalen Wert zu, da sie einen und denselben deiktischen Wert [- nichtfaktisch] tragen. Und dennoch ist der Konjunktiv I eine verbale Moduskategorie, die innerhalb der modaldeiktisch determinierten Dimension in den Bereich „origoexklusiv“ bzw. „origofern“ gehört. Der aktuelle Sprecher weist mit der Einführung eines zweiten Bezugspunktes, der zitierten Origo, von sich und somit von seiner eigenen „faktischen“ Welt weg, er distanziert sich davon. Mit anderen Worten, der Sprecher entzieht sich einer expliziten Faktizitätsbewertung der Proposition, indem er diese einem anderen Sprecher „überlässt“, sie nur „zitiert“. Er trägt also keine Verantwortung für die Richtigkeit oder Falschheit seiner eigenen Aussage in seiner eigenen faktischen Welt, dadurch dass er die Proposition als nicht zu seiner eigenen Faktenwelt zugehörig markiert. Dass in der indirekten Rede häufig auch der Konjunktiv II vorkommt, wird oft als eine zusätzliche modale Markierung interpretiert, nämlich dass der Sprecher einen stärkeren Zweifel gegenüber dem Wiedergegebenen zum Ausdruck bringe. Jäger (1971) kommt in seiner Untersuchung zum deutschen Konjunktiv zum Fazit, dass der angeblich stärkere Zweifel des aktuellen Sprechers nicht den zentralen Unterschied zwischen dem Konjunktiv I und dem Konjunktiv II in der indirekten Rede ausmacht. Allein der Konjunktiv I vermag eindeutig und auch ohne zusätzliche Mittel (verba dicendi, einleitender Satz u. a.) die Origoverschiebung der indirekten Rede zu markieren (vgl. Diewald 1999, 183). Der Konjunktiv II dagegen kann bereits in der direkten Rede vorgelegen haben und aus dieser in die
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
indirekte Wiedergabe übernommen worden sein (vgl. Jäger 1971, 130 ff.; Wichter 1978, 183).6 Der Konjunktiv II dient in der indirekten Rede meist der Disambiguierung des Kontextes, dadurch dass er anstelle von uneindeutigen Konjunktiv I-Formen auftritt. Die deutsche Gegenwartssprache besitzt bekanntlich in ihrem verbalen morphologischen System nicht mehr für alle Personen im Singular und Plural Formen, die eindeutig als Konjunktiv I zu identifizieren wären. Soll eine Verbform in der indirekten Rede eindeutig als Konjunktiv-Form verstanden werden, greift man auf den Konjunktiv II zurück. Er wird also innerhalb der indirekten Rede als Ersatz-Form für den Konjunktiv I verwendet.
6.3. Der Konjunktiv II Der Konjunktiv II wird in der DUDEN-Grammatik folgendermaßen definiert: Der Konjunktiv II dient als Zeichen dafür, dass der Sprecher/Schreiber seine Aussage nicht als Aussage über Wirkliches, über tatsächlich Existierendes verstanden wissen will, sondern als eine gedankliche Konstruktion, als eine Aussage über etwas nur Vorgestelltes, nur möglicherweise Existierendes. In diesem Sinne ist der Konjunktiv II ein Modus der Irrealität und Potentialität. (DUDEN 1998, 159; ohne wesentliche Veränderungen auch in der DUDEN-Grammatik 2005, 523)
Da die vorliegende Arbeit von solchen Bezeichnungen wie „wirklich“, „vorgestellt“ u.ä. bei der Bedeutungsbeschreibung verbaler Modi absieht und sie nur als Weiterdeutungen des gesamten Satzes (Kontextes) in Bezug auf die Origo annimmt, ist die oben zitierte Auffassung für die unternommene Untersuchung nicht von Vorteil. Dass der Konjunktiv II die Proposition einer „anderen“ Welt zuschreibt und diese „andere“ Welt als „irreal“, „nicht wirklich“ oder „potential“ gedeutet werden kann, ist unbestritten. Die Zugehörigkeit des propositionalen Gehaltes der Aussage zu einer „nicht-faktischen“ Welt bezüglich der aktuellen Sprecher-Origo kann erst durch den deiktischen Charakter des Konjunktivs II erklärt werden.
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Vgl. auch die in Kap.5.4.2. erwähnte These, dass der Konjunktiv II in der zweiten Opposition (wenn die erste, übergeordnete Unterscheidung als Indikativ vs. Konjunktiv formuliert wird, und die zweite daher innerhalb des durch die erste Unterscheidung markierten Konjunktivs besteht) als „Nullzeichen“ fungiert. So verstanden, lässt sich der Umstand, dass der Konjunktiv II als Ersatzform für den Konjunktiv I auftreten kann, aus dem genuinen Wesen aller unmarkierter bzw. merkmalloser „Nullzeichen“ erklären.
Der Konjunktiv II
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Die Funktion des Konjunktivs II kann zunächst grob umrissen werden. Sie besteht darin, den Inhalt der Aussage dem tatsächlichen Bestand der Dinge, d.h. der faktischen Welt, gegenüberzustellen. Der Konjunktiv II bringt zum Ausdruck, dass der dargestellte Sachverhalt nicht mit dem aktuellen Standpunkt der Origo übereinstimmt, genauer gesagt, er widerspricht ihm. Kasper (1987b, 104 ff.) definiert die Funktion des Konjunktivs II als Verweis auf „nichterfüllte Bedingungen der sinnvollen Behauptbarkeit“ [BSB]. Solche BSBs beschreiben bestimmte Faktenkonstellationen, deren Vorliegen es erst sinnvoll macht, nach dem Wahrheitswert einer Aussage zu fragen. Konjunktivische Sätze machen Aussage darüber, „was der Fall wäre oder was passiert wäre, wenn diese Bedingungen alle erfüllt wären“ (Kasper 1987a, 26). Es wird also beim Konjunktiv II eine weitere Dimension eingeführt, auf die Bezug genommen wird. Dies besteht in der Annahme bestimmter Bedingungen, deren Nicht-Erfüllt-Sein die Aussage in der faktischen Welt „irreal“, „kontrafaktisch“, „vorgestellt“ erscheinen lässt. Diese Dimension ist meist durch den Kontext gegeben oder ergibt sich aus dem weiteren Weltwissen des Sprechers (und des Hörers) in der konkreten Kommunikationssituation. Die textuelle Nennung der nichterfüllten Bedingungen erfolgt meist durch Adverbiale bzw. propositionale Proformen (dies, das, es, die auf eine Proposition Bezug nehmen). Der Konjunktiv II verweist auf diese (nichterfüllten) Bedingungen und verschiebt damit die Origo in diese Dimension. Die Proposition wird vor dem Hintergrund der nichterfüllten Bedingungen hinsichtlich ihrer Faktizität bewertet. Und erst von diesem Standpunkt aus betrachtet erhält die Proposition den deiktischen Wert [+ nichtfaktisch]. Diewald (1999, 186) bezeichnet die Semantik des Konjunktivs II als „phorisch verankerte bedingte Nichtfaktizität“. Der Konjunktiv II enthält einerseits einen phorischen Verweis auf eine sprachlich formulierbare Bedingung als Ausgangspunkt für den Faktizitätsgrad des Sachverhalts, „gleichzeitig aber bringt er zum Ausdruck, dass dieser Zusammenhang zwischen der nichterfüllten Bedingung und dem Faktizitätswert vom Sprecher hergestellt, also von der Sprecherperspektive aus gesetzt wird“ (ebd.). Eine solche Auffassung des Konjunktivs II lässt alle typischen Gebrauchsweisen der konjunktivischen Formen aus der dargelegten Grundbedeutung ableiten (vgl. Diewald 1999, 189 ff.).
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
6.4. Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv Unmittelbar an die Überlegungen der letzten Abschnitte anschließend, möchte ich eine kurze Zwischenbilanz ziehen, indem ich die relationale Schablone der Konstruktion würde + Infinitiv zu rekonstruieren versuche. Die Grundbedeutung des Konjunktivs II wurde in Kap.6. 3. in Anlehnung an Diewald (1999) und Kasper (1987a, b) definiert als Zuweisung eines entfernten modaldeiktischen Wertes, auch als Nichtfaktizität bezeichnet. Dieser Wert ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen dem dargestellten Sachverhalt (Proposition) und bestimmten „nichterfüllten Bedingungen der sinnvollen Behauptbarkeit“. Für die Verwendung einfacher konjunktivischer Sätze ist es typisch, dass dabei eine oder einige der Bedingungen der sinnvollen Behauptbarkeit des indikativischen Satzes nicht erfüllt sind. Sie machen eine Aussage darüber, was der Fall wäre oder was passiert wäre, wenn diese Bedingungen alle erfüllt wären. (Kasper 1987a, 26) [Hervorhebungen E.S.]
Ein konjunktivischer Satz ist nur dann sinnvoll behauptbar, wenn der indikativische Satz es nicht ist, also wenn die BSBs des entsprechenden indikativischen Satzes verletzt sind. Ähnlich spricht auch Flämig (1962, 10, 24) von „unmittelbarer Negation“ eines bedingenden Sachverhalts. Die Grundfunktion des Konjunktivs II kann demnach dahingehend beschrieben werden, dass er das Nichterfülltsein irgendwelcher BSBs des indikativischen Satzes signalisiert. Der propositionale Gehalt eines konjunktivischen Satzes ist dann eine Aussage darüber, was der Fall wäre, wenn diese Bedingungen alle erfüllt wären. Ein indikativischer Satz dagegen beschreibt eine Handlung, die vom Sprecher als faktisch dargestellt wird ohne irgendwelche Zeichen oder Markierungen hinsichtlich ihrer Faktizität in der realen, aus der Sprecherperspektive „nahen“ Faktenwelt. Der Indikativ macht keine Aussage über den höher oder niedriger angesiedelten Faktizitätswert des dargestellten Sachverhalts und repräsentiert somit die unmarkierte Kategorie, die unmarkierte Stufe, im Gegensatz zu allen anderen als Faktizitätsmarker in der Sprache fungierenden Mitteln (Modalverben, nichtindikativische verbale Modi). Dieser unmarkierte Wert wird hier in Anlehnung an Diewald (1999, 177) als [- nichtfaktisch] (= informell „faktisch“) bezeichnet. Die funktionale Leistung des Indikativs als eines „Normalmodus“ (Heidolph/ Flämig/ Motsch 1981, 522) innerhalb der deiktischen Moduskategorie wird im folgenden relationalen Schema dargestellt: Origo
→
[- nichtfaktisch]
→
Proposition
Relationale Struktur des Indikativs (Diewald 1999, 177)
Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv
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Der Ausgangspunkt der gerichteten Relation ist die Origo, der Zielpunkt ist die gesamte Proposition, da Modus eine Satzkategorie ist, die den gesamten Sachverhalt nach seiner Faktizität bewertet. Der Relator ist die Zuweisung des spezifischen modaldeiktischen Wertes. Die Bedeutung des Indikativs kann also paraphrasiert werden als „ein Faktizitätswert, der von der Origo aus als ‚nahe’ bewertet und dem dargestellten Sachverhalt zugewiesen wird“ (Diewald 1999, 177). Der Konjunktiv II dagegen bringt einen markierten modaldeiktischen Wert zum Ausdruck und weist der Proposition einen vom Sprecher (= Origo) aus als [+ nichtfaktisch] definierten Faktizitätswert zu. Die Bedeutung des Konjunktivs II ist aber nicht nur auf diese Faktizitätszuweisung beschränkt, sie macht nur eine Bedeutungskomponente dieser Kategorie aus. Die zweite Bedeutungskomponente wird „phorischer Verweis“ genannt, durch den auf die sprachlich formulierbare nichterfüllte Bedingung und somit auf den Grund für die Nichtfaktizität des dargestellten Sachverhalts verwiesen wird. Der Konjunktiv II enthält also einerseits einen phorischen Verweis auf eine sprachlich formulierbare Bedingung, gleichzeitig aber bringt er zum Ausdruck, dass der Zusammenhang zwischen der nichterfüllten Bedingung und dem Faktizitätswert vom Sprecher hergestellt, also von der Sprecherperspektive (Origo) aus gesetzt wird (vgl. Diewald 1999, 186). Das heißt, es liegen beim Konjunktiv II zwei gerichtete Relationen vor: eine deiktische, sprecherbasierte und eine phorische, textbasierte. Die phorische Relation ist in die deiktische eingebettet. Das Zusammenwirken der Relationen wird folgendermaßen dargestellt: Origo →[- nichtfakt.] → (nichterf. Bed. → [+ nichtfakt.] →
Prop.)
Relationale Struktur des Konjunktivs II (Diewald 1999, 187)
Die übergeordnete (deiktische) Relation wird in diesem Schema mit dem Wert [- nichtfaktisch] versehen. Der Sprecher bringt zum Ausdruck, das es (von ihm aus gesehen) wahr ist, dass der Zusammenhang zwischen der nichterfüllten Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition besteht. Für die vorliegende Untersuchung habe ich die grafische Darstellung des relationalen Schemas des Konjunktivs II ein wenig verändert, damit ihre anschließende Zusammenführung mit der werden-Komponente besser veranschaulicht werden kann. Meine Veränderungen betreffen nur die grafische Darstellung und nicht die relationale Struktur selbst:
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
nichterfüllte Bedingung [- nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
[+ nichtfaktisch] Proposition
Schema 6-1. Relationale Schablone des Konjunktivs II
Wie dargestellt, wird mit dem Konjunktiv II der Zusammenhang zwischen nichterfüllter Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition zum Ausdruck gebracht, dessen Bestehen von der Origo aus als faktisch bewertet wird. Der Sprecher assertiert diesen Zusammenhang und nicht die Proposition selbst: deswegen ist das Feld „Proposition“ durch die graue Linie gezeichnet im Gegensatz zu den schwarzen Linien, die für die eigentliche Behauptung stehen, die mit dem Konjunktiv II vollzogen wird.7 Das Feld „nichterfüllte Bedingung“ ist in den Rahmen aus gestrichelten Linien gefasst (vgl. das Feld „Informationsquelle“ in Schema 5-1), weil diese zwar explizit genannt werden können, jedoch meist implizit bleiben und keiner obligatorischen sprachlichen Realisierung benötigen. Sie sind „sprachlich formulierbar“, „konstruierbar“ (vgl. Kasper 1987a, b; Diewald 1999), auf sie kann mittels weiterer kontextueller Mittel verwiesen werden, sie sind erschließbar, ohne dass sie explizit im Text präsent sein müssen. Die Auffassung der Grundbedeutung des Konjunktivs II von Brinkmann (1971, 373 ff.) sieht zwar von dem Begriff „Faktizitätsbewertung“ ab, ist aber aufschlussreich für die vorliegende Untersuchung. Brinkmann führt den Begriff „Horizont“ ein und bestimmt den Konjunktiv II als eine Kategorie, mit der formuliert wird, was „außerhalb des gegebenen Horizonts“ liegt. Der „gegebene Horizont“ kann allerdings ohne große Schwierigkeiten als „faktische Welt“ oder als Menge aller Propositionen
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Vgl. die Erklärung in Diewald (1999, 187) über die assertorische Kraft des Zusammenhanges zwischen nichterfüllter Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition; wenn ein konjunktivischer Satz negiert oder bestritten wird, dann bezieht sich diese Negation auf diesen vom Sprecher assertierten Zusammenhang. Die Negation ist folgendermaßen zu interpretieren: „Nein, es ist nicht wahr, dass es ein Bedingung gibt, die den Faktizitätsgrad der Proposition beeinflusst“.
Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv
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mit dem Wert [- nichtfaktisch] umschrieben werden. Insofern kommt die Auffassung vom Indikativ und Konjunktiv bei Brinkmann der hier angenommenen sehr nahe. Der Indikativ bezeichnet laut Brinkmann (1971, 374) das, was sich im Einklang mit dem Gegebenen befinde, der Konjunktiv II dagegen das, was im Widerspruch zu dem Gegebenen stehe. Der Sprecher breche mit dem Konjunktiv II aus dem gegebenen Horizont aus: das Gegebene werde mit einer anderen Vorstellung konfrontiert und insofern werde der Horizont eröffnet. Am Beispiel folgender Konditionalsätze zeigt Brinkmann (1971, 377 f.) den Unterschied zwischen dem Indikativ und dem Konjunktiv II: (1) Wenn ich Zeit habe, besuche ich dich. (2)
Wenn ich Zeit hätte, besuchte ich dich. oder:(würde ich dich
besuchen).
Als Ergebnis vergleichender Betrachtung dieser Sätze stellt Brinkmann fest, dass es sich hierbei um Unterschiede handelt, die nicht von der tatsächlichen Wirklichkeit aus einzusehen sind, sondern von der Auffassung des Sprechenden aus (wessen Position im relationalen Schema 6-1 als Origo gesetzt ist). „Wenn der Indikativ gewählt wird, wird die Annahme in den gegebenen Horizont versetzt, als im Horizont der Situation geltend deklariert (oder in der hier angenommenen Interpretation als [- nichtfaktisch] dargestellt): Ich habe Zeit – ich besuche dich. Das ist beim Konjunktiv II anders: hier wird ausdrücklich festgestellt, dass die Annahme im Widerspruch zu dem gegebenen Horizont (oder zu den sprachlich formulierbaren nichterfüllten Bedingungen) steht, dass sie also etwas ausspricht, was nur bei einem Ausbruch aus dem Gegebenen erreichbar wäre. Die Aussage wird gerade deswegen gemacht, weil sie nicht erreichbar ist“ (Brinkmann 1971, 377). Wie verhält sich aber die Konstruktion würde + Infinitiv in dieser Hinsicht? Brinkmann (1971) bringt die besondere Leistung von würde + Infinitiv in Zusammenhang mit der kategorialen Interpretation der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv zusammen, welche er allerdings als Tempus Futurum einordnet: Die Verbindung von würde mit Infinitiv I spricht als Konjunktiv II zum Futurum etwas aus, was (wie immer bei Konjunktiv II) außerhalb des gegebenen Horizontes liegt, und zwar in Richtung auf eine Erwartung. Die Grundhaltung könnte also eine Erwartung sein, die den Sprecher erfüllt oder von ihm beim Partner vorausgesetzt wird. Wenn sich würde mit Infinitiv I verbindet, ist das ins Auge gefasste Geschehen noch nicht vollzogen. Was erwartet wird, kann in der Imagination vorweggenommen werden. (Brinkmann 1971, 377-378)
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass die Konstruktion würde + Infinitiv ihre eigene Leistung gegenüber dem synthetischen Konjunktiv II aufweist, die darin besteht, den dargestellten Sachverhalt zwar in einer anderen, nichtfaktischen Welt anzusiedeln (was die eigentliche Leistung des Konjunktivs II ausmacht), darüber hinaus aber die Grenze zu der faktischen Welt transparent zu machen (eigene Leistung der würdeKonstruktion). Das Wahr-Sein der Proposition wird der Aussage mittels Konjunktivflexion abgesprochen oder in Frage gestellt. Würde macht aber diese Aussage mit der aktuellen faktischen Welt verträglich, und zwar in ihrer (epistemischen oder zeitlichen) Erweiterung bzw. Fortsetzung. Auf diese Leistung der würde-Konstruktion (und daneben auch der Konstruktion werden + Infinitiv) macht auch Fabricius-Hansen (2000, 88) aufmerksam. Die Konstruktion würde + Infinitiv habe mit ihrer indikativischen Entsprechung gemeinsam, dass sie das beschriebene Geschehen in einer aus der Sicht des aktuellen Sprechers nicht wirklichen Welt ansiedelt, diese Welt „jedoch mit der bis zum relevanten Jetzt heranreichenden Wirklichkeit verträglich sein muss“ (Fabricius-Hansen 2000, 90).8 Der synthetische Konjunktiv II referiert also auf eine alternative Welt, in der bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind, weil sie im Widerspruch zu der faktischen Welt stehen und mit ihr nicht verträglich sind. Die Konstruktion würde + Infinitiv birgt in seiner Semantik neben dem Bezug auf diese Bedingungen eine weitere Komponente in sich. Der Verweis auf nichterfüllte Bedingungen kann somit der Konjunktivflexion zugeschrieben werden, die andere, würde + Infinitiv vom synthetischen Konjunktiv scheidende Bedeutungskomponente kommt vom Auxiliar werden (in der Form würde). Diese Besonderheit der Konstruktion ist m.E. in der ursprünglichen mutativen aktionalen Semantik des Verbs werden begründet. Der semantische Aspekt des Wechsels, der Veränderung von einem ursprünglichen Zustand in einen neuen übt spürbaren Einfluss auf die Interpretation der würde-Paraphrase aus. Von der aktionalen Bestimmung der Bedeutung von werden als mutativ ausgehend kann die Opposition (Welt-)Zustand vs. Entwicklung konstruiert werden. Der synthetische Konjunktiv II repräsentiert einen Welt-
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Diese und einige andere Auffassungen zu werden + Infinitiv (vgl. z.B. Mortelmans 2001) basieren auf dem sog. dynamic evolutionary model von Langacker (1991, 277), welches er für die Beschreibung von englischen Modalverben erarbeitet hat. Das Erklärungspotential eines solchen Modells ist ohne Zweifel sehr hoch. In dieser Arbeit wird dieses Modell nicht angewendet, da es hier hauptsächlich darum geht, kognitiv-semantische Basisstrukturen (Schemata) zu entwerfen, die die Distribution unterschiedlicher Formen in diesem oder ähnlichen Modell erst im zweiten Schritt erklären würden. Interpretationen und Bedeutungsvarianten, die aus grundlegenden semantischen Schablonen abgeleitet werden können, können dann in ein solchen Modell Eingang finden.
Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv
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zustand, der mit der faktischen Welt unverträglich ist, weil bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind Die Konstruktion würde + Infinitiv bezeichnet eine Entwicklung von diesem alternativen Weltzustand aus in einen neuen Zustand, der seinerseits mit der faktischen Welt verträglich ist. Diese Verträglichkeitsbeziehung mit der faktischen Welt entsteht aus der Interpretation der werden-Komponente. Die Konstruktion werden + Infinitiv, wie in Kap.5.3. beschrieben, dient dem Ausdruck sprecherspezifischer Aussagen hinsichtlich der Entwicklung der vorliegenden Situation. Diese Aussagen stellen Folgerungen dar, die auf gegebenen Fakten, Evidenzen, Umständen basieren und sind (epistemische) Erweiterungen der faktischen Welt und somit mit der faktischen Welt zumindest verträglich, weil „bestätigbar“. Vgl. folgende Sätze: (3) Peter nähme die Wohnung, (wenn er genügend Geld hätte). (4)
Peter würde die Wohnung nehmen, (wenn er genügend Geld hätte).
Der Satz (3) beschreibt einen Weltzustand, auf den die Proposition (oder der indikativische Satz Peter nimmt die Wohnung) nicht zutrifft. Die Aussage ist damit mit dem Wert [+ nichtfaktisch] markiert, weil bestimmte Bedingungen, z.B. dass er genügend Geld für die Wohnung besitzt, für die aktuelle Situation (faktische Welt) nicht gelten bzw. als nicht erfüllt vorausgesetzt sind. Der Satz (4) beinhaltet dagegen mehr Informationen: Der indikativische Satz Peter nimmt die Wohnung ist für diese Aussage genauso falsch wie für (3). Damit wird aber zugleich ein Weltzustand konstruiert, von dem die Entwicklung ausgeht, die mit der Konstruktion würde + Infinitiv versprachlicht wird. Die Bedingung wenn er genügend Geld hätte wird in diesem Fall als Auslöser, als Ausgangspunkt für das Eintreten der Veränderung interpretiert. Das Resultat dieser Veränderung/ Entwicklung ist die Aussage Peter nimmt die Wohnung. Diese Situation wird als mögliche Erweiterung der faktischen Welt antizipiert, die mit der aktuellen Situation verträglich ist. Die unterschiedliche Interpretation der Rolle sprachlich formulierbarer nichterfüllter Bedingungen beim Konjunktiv II und der Konstruktion würde + Infinitiv ist ein wichtiger Punkt bei der Bedeutungsbeschreibung beider Formen. Beim Konjunktiv II werden diese Bedingungen als Ausgangspunkt für die Zuweisung eines negativen Faktizitätsgrades dem dargestellten Sachverhalt, d.h. für die sprecherbasierte Faktizitätsbewertung der Proposition, interpretiert. Weil diese Bedingungen nicht erfüllt sind, erhält der dargestellte Sachverhalt und somit die Proposition den modalen Wert [+ nichtfaktisch]. Im Fall der Konstruktion würde + Infinitiv kommt diesen Bedingungen eine zusätzliche Rolle zu: der Sprecher sieht zwar,
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
dass diese Bedingungen zum Zeitpunkt der aktuellen Sprechsituation nicht erfüllt sind, interpretiert sie aber nicht nur als Ausgangspunkt für die Zuweisung der Proposition eines negativen Faktizitätswertes. Er sieht sie zusätzlich als Ausgangspunkt für eine mögliche Entwicklung, die diese Bedingungen in der faktischen Welt hervorrufen können. Diese vom Sprecher gefolgerte (inferierte) Entwicklung, die mit würde + Infinitiv formuliert wird, wird vom Sprecher aus in der (zeitlichen oder epistemischen) Erweiterung der faktischen Welt angesiedelt. Sie wird vom Sprecher als mit der faktischen Welt verträglich verstanden, weil er die Entwicklung zwar über die hypothetische Annahme einer Bedingung, aber gemäß der Beschaffenheit der realen (faktischen) Welt rekonstruiert. Diese unterschiedlichen Interpretationen der Position des Ausgangspunktes können grafisch dargestellt werden, indem die relationale Struktur von werden + Infinitiv in die relationale Bedeutungsschablone des Konjunktivs II integriert wird: A Informationsquelle ↔ A’ Sprecher (Information=Prämisse(n))
R werden (Entwicklung = Schlussfolgerungsprozess) Sachverhaltsdarstellung Z Proposition (Folgerung = Ergebnis des Schlussfolgerungsprozesses) Schema 6-2 (5-1). Relationale Schablone von werden + Infinitiv (vgl. Kap.5.3.)
Die Zusammenführung beider relationalen Strukturen ergibt das folgende Schema, das als relationale Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv fungiert:
Die relationale Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv
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Informationsquelle
nichterf. Bedingung [- nichtfaktisch] [+ nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
Proposition [inferentiell evidentiell] Schema 6-3. Relationale Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv
Das relationale Schema wird deutlich umfangreicher, dadurch dass die werden-Komponente in die relationale Struktur des Konjunktivs II integriert wird. Es wird vor allem dadurch verkompliziert, dass ein weiterer Ausgangspunkt, die Informationsquelle (Evidenzen), eingeführt wird, welcher in jeder Verwendung von werden + Infinitiv vorausgesetzt, impliziert wird. Dieser Ausgangspunkt ist „näher“ an den aktuellen Sprecher anzusiedeln, da es sich um Informationen handelt, die vom Sprecher als Prämissen interpretiert werden und daher nicht in Analogie zu den nichterfüllten Bedingungen beim Konjunktiv II als ein zusätzlicher Bezugspunkt im Schema abstrahiert werden können. Dies ist darauf zurückzuführen, dass werden + Infinitiv im Gegensatz zum Konjunktiv II kein vollständig grammatikalisierter Marker einer grammatischen Kategorie ist und daher noch einige Merkmale in sich trägt, die in der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung des Auxiliars werden begründet sind. Die Bedeutung der Konjunktivflexion bleibt im relationalen Schema einerseits unverändert: der dargestellte Sachverhalt wird aufgrund des Bestehens bestimmter nichterfüllter Bedingungen vom Sprecher aus als [+ nichtfaktisch] repräsentiert. Andererseits kommt der gesamten Bedeutung der Konstruktion eine Bewegungs- oder Entwicklungskomponente hinzu, die durch das Verb werden in die relationale Struktur hereingebracht wird. Diese Bedeutungskomponente ist als eine von der Informationsquelle (die vom Sprecher als Prämisse interpretiert wird) ausgehende Relation dargestellt (gepunkteter Pfeil), die ich hier als [inferentiell evidentiell] bezeichnet habe. In der relationalen Schablone der Konstruktion würde +
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
Infinitiv treffen also zwei unterschiedliche (kategoriale) Relationen aufeinander: einerseits die konjunktivische Relation, die die Nichtfaktizität der Proposition aufgrund der nichterfüllten Bedingung präsentiert; und andererseits die inferentielle evidentielle Relation, die die Proposition als Folgerung aus den dem Sprecher vorliegenden Informationen (Prämissen) kennzeichnet. Die Rolle des aktuellen Sprechers ist für beide Relationen relevant: in der ersten wird von dem Sprecher der Zusammenhang zwischen der nichterfüllten Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition zum Ausdruck gebracht; in der zweiten bringt der Sprecher den (geschlussfolgerten) Zusammenhang zwischen den Evidenzen, Umständen und der Proposition zum Ausdruck. Die Felder „nichterfüllte Bedingung“ und „Informationsquelle“ sind im Schema grau markiert, weil es im konkreten Verwendungskontext sehr oft der Fall ist, dass diese Positionen durch einen und denselben Inhalt besetzt werden. So ist dies in (3) und (4) der Umstand bzw. die Bedingung Peter hat genügend Geld, der/ die entweder als nichterfüllte Bedingung für die Nichtfaktizität der Proposition Peter nimmt die Wohnung in (3) und (4) oder als Evidenz (Prämisse) für die Folgerung des Sprechers Peter nimmt die Wohnung in (4) interpretiert werden kann. Der Satz (4) mit würde stellt somit eine ambige Struktur dar, die unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, die meist nur durch das zusätzliche kontextuelle und situative Wissen disambiguiert werden können. Die grau markierten Positionen und ihre Interpretationen bedingen den Umstand, dass die beiden Relationen (die KII-Relation und die werden-Relation) in Konkurrenz miteinander treten, was ferner unterschiedliche Interpretationsalternativen bietet. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass diese zwei Relationen, die in der Basisstruktur der Konstruktion würde + Infinitiv inhärent vorhanden sind und kompositionell zusammengefügt wurden, anders realisiert werden, wenn die Konstruktion in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. Diese alternative Realisierung beider immanenten Bedeutungskomponenten führt zu verschiedenen Lesarten von würde + Infinitiv in spezifischen kontextuellen Umgebungen. Das Wichtige dabei ist, dass unterschiedliche Lesarten der Fügung aus diesem relationalen Basisschema abgeleitet und dadurch erklärt werden und nicht erst in bestimmten Verwendungskontexten und -situationen „generiert“ werden.
6.5. Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart Nachdem die Bedeutung des Modus Konjunktiv im Allgemeinen beschrieben und die Funktionsbereiche seiner Formen – des Konjunktivs I und des Konjunktivs II – abgegrenzt worden sind, kann vor diesem Hin-
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
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tergrund der Frage nachgegangen werden, welchen Status im verbalen Modusparadigma die Konstruktion würde + Infinitiv einnimmt.9 Eine Anmerkung sei an dieser Stelle vorausgeschickt: Dass würde + Infinitiv auch in der indirekten Rede auftaucht, ist darauf zurückzuführen, dass auch der Konjunktiv II in die indirekte Rede Eingang findet, sei es aus Deutlichkeitsgründen als Ersatz für uneindeutige Konjunktiv IFormen oder weil die ursprüngliche Aussage schon im Konjunktiv II formuliert wurde. 6.5.1. Typische Verwendungskontexte des Konjunktivs II Im folgenden Abschnitt werden spezifische Verwendungsweisen des Konjunktivs II behandelt, nämlich sein Vorkommen in bestimmten Nebensatztypen. Solche Gebrauchsweisen dieses Modus sind semantisch erklärbar und motiviert und können auf das relationale Schema des Konjunktivs II (Kap.6.4.) zurückgeführt werden, dennoch fungieren sie in der heutigen deutschen Sprache vielmehr als konventionalisierte Verwendungen des Konjunktivs II. Im Anschluss an einen kurzen zusammenfassenden Überblick solcher typischer syntaktischer Verwendungskontexte des Konjunktivs II wird im Folgenden das Vorkommen der Konstruktion würde + Infinitiv in diesen Kontexten analysiert. Die gängigen Grammatiken behandeln unterschiedliche Verwendungen des Konjunktivs II in der Regel nach Satztypen geordnet. Dieses Ordnungsprinzip wird im Folgenden übernommen. Am häufigsten kommen verbale Konjunktiv II-Formen in Konditionalsätzen (Konditionalgefügen) vor. Konditionalsätze sind Nebensätze, die eine Bedingung oder allgemeiner eine Voraussetzung für die Existenz oder für die Gültigkeit des im Hauptsatz Genannten einführen. Bezogen auf das konditionale Verhältnis kann man von einem Verhältnis des möglichen Grundes sprechen. (DUDEN 1998, 800)
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Fabricius-Hansen (1998, 150 f.) schlägt vor, für die gegenwärtige deutsche Sprache drei „unterschiedlich differenzierte, für jeweils verschiedene modale Funktionen reservierte Tempussysteme“ anzusetzen, in denen die Konstruktion würde + Infinitiv einen jeweils verschiedenen (oder keinen) Platz einnimmt. Dabei unterscheidet sie zwischen zwei Arten modaler Markierungen: zum einen die „Referatsmodalität“ und zum anderen die „irreale Modalität“. Diese Konzeption wird hier kritisiert, da sie Differenzierungen voraussetzt, die nicht wirklich durch die sprachliche Realisierung der in Frage kommenden (temporalen und modalen) Funktionen motiviert sind. Vor dem Hintergrund der deiktischen Natur verbaler Moduskategorie (des Deutschen) wird in dieser Arbeit für eine andere Lösung plädiert, die nicht von einigen Paradigmen innerhalb des Tempus-Modus-Systems ausgeht, sondern ein Paradigma ansetzt, das allerdings dank unterschiedlicher Spezifizierungen deiktisch determinierter Relationen zu unterschiedlichen Bedeutungen führen kann.
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
Der Konjunktiv II wird in sog. „hypothetischen“ und „irrealen“ Konditionalsätzen gebraucht (Helbig/ Buscha 2001, 181 f.). Der „hypothetische“ Konditionalsatz bezieht sich auf die Gegenwart oder die Zukunft und wird mit dem Konjunktiv Präteritum gebildet, der „irreale“ bezieht sich auf die Vergangenheit (Konjunktiv Plusquamperfekt): (5) Wenn Sie Lust hätten, könnten wir nach dem Mittagessen einen Spaziergang machen. (hypothetisch) (6)
Wenn ich Zeit gehabt hätte, hätte ich meine Schwester besucht. (irreal) (aus Helbig/ Buscha 2001, 181 f.)
Die Grundform der Konditionalsätze sieht nach Jäger (1971, 190) wie folgt aus10: Bedingung Folge Konjunktionalsatz mit Hauptsatz mit Finitum Finitum im Konjunktiv II im Konjunktiv II (Endstellung) (Zweitstellung) Die Konjunktion ist wenn, falls oder: ohne Konjunktion
Die Verwendung des Konjunktivs II in Konditionalsätzen sei nicht immer obligatorisch. In manchen Fällen können indikativische Formen entweder im Hauptsatz oder im Gliedsatz auftauchen. Jäger (1971) erwähnt, dass der irreale Konditionalsatz nicht notwendig sowohl in Haupt- und Gliedsatz den Konjunktiv II zu haben braucht. Bedingung und Folge können auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden. Für die vorliegende Arbeit sind diejenigen Beispiele von Interesse, in denen eindeutige Konjunktiv II-Formen vorliegen, und das ist bekanntlich der Defaultfall bei den sog. „irrealen“ (und „hypothetischen“) Konditionalsätzen. Deswegen beschränke ich mich im Weiteren auf „rein“ konjunktivische Konditionalsätze. 6.5.1.1. Konzessivsätze Der (konjunktivische) Konzessivsatz stellt eine Art des Konditionalsatzes dar: die Bedingung des Konditionalsatzes wird zu einer nicht hinreichenden Bedingung im Konzessivsatz, was durch die sprachlich ausgedrückte oder implizierte Negation im Hauptsatz zum Ausdruck kommt. Der Kon-
_____________ 10 Eingehende Untersuchung von Konditionalkonstruktionen mit Berücksichtigung ihrer verschiedenen Arten (Typen) wird in Kap.7. vorgenommen.
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
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zessivsatz wird üblich mit auch wenn/wenn auch, selbst wenn oder und wenn eingeleitet: (7) Auch wenn man mir 100 Mark anböte, verkaufte ich das Buch nicht. (aus DUDEN 1998, 162) (8)
Auch wenn sie wollte, könnte sie ihm nicht helfen. (aus DUDEN 1998, 162)
6.5.1.2. Konsekutivsätze Der Konjunktiv II findet sich ebenfalls in Konsekutivsätzen. Diese werden vor allem mit Konjunktionen als dass bzw. dass eingeleitet, der Hauptsatz enthält oft als Korrelat so, zu oder allzu: (9) Nicht nur von der Kassiererin ... schämten wir uns zu sehr, als dass wir gewagt hätten, die Reihe vor der Kasse zu verlängern. (Blech 39, nach Jäger 1971, 404) (10)
Das Wasser ist zu kalt, als dass man darin baden könnte. (aus Helbig/ Buscha 2001, 183)
Im Konsekutivsatz kommt gelegentlich auch der Indikativ vor. Dies ist möglich, weil die irreale Bedeutung bereits durch die Konjunktion (und das Korrelat) signalisiert wird (vgl. Buscha/ Zoch 1984, 48; Helbig/ Buscha 2001, 183). Der Konsekutivsatz wird durch die Konjunktion ohne dass eingeleitet, wenn eine erwartete Folge nicht eingetreten ist oder nicht eintritt: (11) Er arbeitet schon jahrelang an diesem Buch, ohne dass er damit fertig würde. (aus DUDEN 1998, 164) (12)
Er hilft jedem bereitwillig, ohne dass man ihn besonders darum bitten müsste. (aus Helbug/ Buscha 2001, 184)
6.5.1.3. Komparativsätze Der Konjunktiv II steht typischerweise in Komparativsätzen (auch irreale Vergleichsätze genannt), die durch die Konjunktionen als, als ob, als wenn oder wie wenn eingeleitet werden: (13) Er legte sich ins Bett, wie wenn er schwach wäre. (aus DUDEN 1998, 163)
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
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Er tut so, als ob/wenn er mich nicht sähe/sehen würde. (aus Helbig/ Buscha 2001, 180)
Auch in solchen Sätzen kann der Indikativ vorkommen, weil die einleitende Konjunktion meist ein eindeutiges Signal für eine als nicht wirklich empfundene Gleichheit zu geben vermag (vgl. Buscha/ Zoch 1984, 43 f.). In ungefähr einem Drittel der Komparativsätze trete der Konjunktiv I auf – 30,9% (Jäger 1971, 225 f.). Jäger behandelt diesen Fall eingehender und stellt fest, dass der Gebrauch von Konjunktiv I-Formen nicht aus Gründen der morphologischen Eindeutigkeit (wie es im Falle der indirekten Rede geschieht) erklärt werden kann. Die Bedeutungsunterschiede wie „real“, „potential“ und „irreal“ spielen in der Hinsicht der Moduswahl auch keine Rolle (Jäger 1971, 229 ff.). Die Setzung der beiden konjunktivischen Formen kann auch nicht von der Tempuswahl in der Aussage abhängig gemacht werden. „Für den Sprachgebrauch scheint es mir im Augenblick noch wenig wichtig zu sein, welchen Modus man setzt“ (Jäger 1974, 234). Das Eindringen des Konjunktivs I in diese Sätze sei eine derart junge Erscheinung, dass die klassischen Werke noch nicht (oder sehr selten) davon betroffen sind. Graf (1977) übernimmt die Meinung von Jäger (1971) und fügt hinzu: „dass der Konjunktiv I in irrealen Vergleichsätzen möglich ist, ist bereits durch die Möglichkeit des Indikativs erklärt; dass er hier tatsächlich (und offensichtlich zunehmend) gebraucht wird, lässt sich möglicherweise durch die Parallelität zur indirekten Rede erklären“ (Graf 1977, 255; vgl. auch Flämig 1962, 98 ff.). Die gängigen Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache erläutern diese Frage nicht, es wird lediglich erwähnt, dass der Konjunktiv I in Vergleichsätzen verwendet werden kann – „ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied“ (DUDEN 1998, 163). 6.5.1.4. Relativsätze In Relativsätzen steht manchmal der Konjunktiv II, was häufig mit einer Negation im Hauptsatz verbunden ist (vgl. Zifonun u.a. 1997, 1751 f., die solche Sätze als kontrafaktische Relativsätze bezeichnet): (15) Es war niemand da, der mich aus dem Spiegel zurückgeholt hätte. (aus Zifonun u.a. 1997, 1751) Diese Verwendung kann unmittelbar aus der Grundbedeutung des Konjunktivs II erklärt werden. So DUDEN (1998, 164): „Wenn manchmal im Relativsatz der Konjunktiv II als Modus der Irrealität oder Poten-
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
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tialität begegnet, dann liegt ihm ein selbständiger irrealer Aussagesatz zugrunde“.11 (16) (Ich kenne ein gutes Mittel.) Dieses Mittel wäre in der Apotheke zu bekommen. > Ich kenne ein gutes Mittel, das in der Apotheke zu bekommen wäre.
6.5.2. Würde + Infinitiv in typischen konjunktivischen Kontexten Die Annahme, würde + Infinitiv sei eine dem Konjunktiv II synonymische Form oder der analytische Konjunktiv II, soll nun anhand empirischer Beobachtungen überprüft werden. Das häufige Vorkommen der Konstruktion würde + Infinitiv in den oben aufgelisteten typischen konjunktivischen Kontexten (d.h. in bestimmten Nebensatzarten) lässt darauf schließen, dass der Bedeutungsausgleich beider Formen schon sehr weit fortgeschritten ist. Die Konditionalkonstruktionen (mit würde + Infinitiv im Folgesatz) werden vorerst aus der Betrachtung ausgelassen, weil sie einer eingehenden Untersuchung in Kap.7 unterzogen werden. Die durch das Auftreten des Konjunktivs II ausgezeichneten syntaktischen Strukturen (Nebensatzkonstruktionen) weisen unverkennbare Parallelen und Affinitäten im Gebrauch von synthetischen und analytischen konjunktivischen Formen (Konjunktiv II vs. würde + Infinitiv) auf. Die Austauschbarkeit beider Formen ohne Bedeutungsverlust bzw. –veränderung, und darüber hinaus der Gebrauch der analytischen Form würde + Infinitiv aus Deutlichkeitsgründen liefern überzeugende Beweise für die funktionale Einordnung der Konstruktion würde + Infinitiv als analytischer Konjunktiv II. 6.5.2.1. Konzessivsätze Das untersuchte Datenmaterial enthält Konzessivsätze mit würde + Infinitiv in ausreichender Anzahl. Hier treten analytische Konjunktivformen mit würde (nicht nur) in ihrer Ersatzfunktion für die synthetischen auf. Unten sind einige Beispiele aus dem ausgewerteten Korpus wiedergegeben:
_____________ 11 Jäger (1971) führt solche Sätze auf die Konditionalsätze zurück und nennt sie „verkürzte Konditionalgefüge in Relativsätzen“ (Jäger 1971, 202f.).
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
(17)
Die würde ich trotzdem loswerden, auch wenn dann hinterher einer kommt, mir die abgerutschte Quote zeigt und ein bißchen mehr Frohsinn fordert. (Spiegel 42)
(17’)
Die würde ich trotzdem los, auch wenn dann hinterher einer kommt, mir die abgerutschte Quote zeigt und ein bißchen mehr Frohsinn fordert.
(18)
Erst als du fortgeritten warst, kam ich zum Nachdenken. Und da wußte ich, daß ich dir folgen würde, auch wenn du für immer nur El Mescalero sein würdest. (Pegg, 54)
(18’)
Ich folgte dir, auch wenn du für immer nur El Mescalero wärest.
Die Substitution der würde-Form durch den synthetischen Konjunktiv II wird in (18’) allerdings dadurch erschwert, dass die Aussage mit einem epistemischen (kognitiven) Ausdruck und da wusste ich eingeleitet wird. Wie in Kap.5.4.2. dargelegt, stellen solche Kontexte eine Art harmonischer Kombinationen dar, die die (epistemisch-)evidentielle Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv favorisieren. Würde + Infinitiv hat in (18) daher eine ambige Lesart: einerseits kann sie bedingt durch den einleitenden Verb wissen in der evidentiellen Bedeutung interpretiert werden; andererseits triggert der (Konzessiv-)Satz auch wenn du für immer nur El Mescalero sein würdest ihre konjunktivische Lesart, da er eine Bedingung einführt, die den Ausgangspunkt für die Zuweisung eines nichtfaktischen Wertes dem dargestellten Sachverhalt vom Sprecher aus formuliert. Daher ist der konstruierte Satz im Konjunktiv II nicht völlig äquivalent mit dem ursprünglichen Satz mit würde. Wenn man aber die Einleitung mit wissen außer Acht lässt, kann die Substitution ohne erhebliche Bedeutungsverluste oder -veränderungen erfolgen. Solche Fälle, in denen die Konstruktion würde + Infinitiv ambige Interpretationen zulässt, liefern Beweise dafür, dass diese Form polysem ist und offenbar nicht nur auf ihre konjunktivische Lesart beschränkt werden kann. Der Grund dafür liegt m.E. in der komplexen Bedeutungsstruktur der Konstruktion würde + Infinitiv (vgl. Kap.6.4.), die auch die eigene Leistung des Auxiliars werden (würde) berücksichtigt. Die werden-Komponente in der relationalen Struktur der Periphrase würde + Infinitiv führt ferner zu unterschiedlichen Bedeutungsvariationen dieser semantischen relationalen Basisschema in vielen Verwendungskontexten (vgl. Kap.6.6.).
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
179
6.5.2.2. Konsekutivsätze In einem Konsekutivsatz erfüllt die Konstruktion würde + Infinitiv offenbar dieselbe Funktion, die auch der synthetische Konjunktiv II zu leisten vermag: (19) Ich könnte jetzt vor deinen Augen von hier bis zur Tür humpeln, daß du vor Schmerz und Mitleid aufschreien und sofort einen Arzt anrufen würdest, den besten Chirurgen der Welt, Fretzer. (Böll, 184) (19’)
Ich könnte jetzt vor deinen Augen von hier bis zur Tür humpeln, daß du vor Schmerz und Mitleid aufschriest und sofort einen Arzt anriefest, den besten Chirurgen der Welt, Fretzer.
Die Substitution der würde-Form durch den synthetischen Konjunktiv II ist in diesem Fall durchaus möglich. Im folgenden Satz wird die bedeutungsäquivalente Substitution dadurch verhindert, dass die Konjunktiv II-Form des Verbs bedeuten mit ihrer indikativischen Form zusammenfällt. Dennoch ist der Ersatz denkbar, weil der Kontext die konjunktivische Interpretation geradezu anbietet. (20) Sie sagte, ich hätte so sehr unter dem Einfluß ihres Vaters gestanden, daß ich, ohne mir einer Lüge oder Verfälschung der Wahrheit bewußt zu sein, behaupten würde, der Hund habe seine "Schweinerei" an das CDU-Plakat gemacht, auch wenn es das SPD-Plakat gewesen wäre. (Böll, 237) (20’)
Sie sagte, ich hätte so sehr unter dem Einfluß ihres Vaters gestanden, daß ich, ohne mir einer Lüge oder Verfälschung der Wahrheit bewußt zu sein, behauptete, der Hund habe seine "Schweinerei" an das CDU-Plakat gemacht, auch wenn es das SPD-Plakat gewesen wäre.
Die Formen aufschriest und anriefest in (19) sind zwar nicht zuletzt aus dem Kontext als eindeutige Konjunktiv II-Formen zu interpretieren, jedoch wirken sie schwerfälliger und ungebräuchlicher als analytische würdeFormen. Außerdem ermöglicht die analytische Struktur der würdeKonstruktion die Verwendung mehrerer Infinitivkomplemente, die durch das einmalige Nennen des Auxiliars würde hinsichtlich ihrer grammatischen Form modifiziert werden (oder ihren grammatischen Status erhalten). Die Trennung von lexikalischem und grammatischem Gehalt der Form durch die analytische Bildung trägt nicht zuletzt dazu bei, dass analytische Formen in der Sprache häufig als „expressivere“ Formen auftreten gegenüber
180
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
ihren synthetischen Entsprechungen, die beide Bedeutungen (lexikalische und grammatische) in einem Zeichen vereinen. Die Konstruktion würde + Infinitiv ist dementsprechend nicht nur eine „eindeutigere“ Form gegenüber dem synthetischen Konjunktiv II, sie enthält auch einen zusätzlichen expressiven Wert. Stärker grammatikalisierte Formen sind bekanntlich normierte, automatisierte, „schnelle“ Mittel der Verständigung. Weniger grammatikalisierte Formen sind dagegen Ausdruck freierer Kreativität, eigenen Gestaltungswillens (vgl. Diewald 1997, 108 f.; Lehmann 1985, 315, Givón 1989). Die Konstruktion würde + Infinitiv ist eine jüngere Form im Vergleich zum synthetischen Konjunktiv II und ist schwächer grammatikalisiert. Dass würde als Auxiliar zur analytischen Konjunktiv IIBildung in vielen Verwendungen auch zusätzliche Bedeutungsnuancen zu bewirken vermag, die auf seine ursprünglich mutative Semantik zurückgeführt werden können, zeugt wiederum davon, dass die würde-Periphrase eine neuere sprachliche Erscheinung ist, die ihren Prozess der Grammatikalisierung noch nicht abgeschlossen hat. Das gleichzeitige Bestehen mehrerer Formen, die Aufgaben innerhalb einer funktionalen Domäne teilen, dabei allerdings verschiedene Grammatikalisierungsgrade aufweisen, wird in der Grammatikalisierungsforschung „Schichtung“ (layering) genannt (Hopper 1991, 22 f.; auch Hopper 1990, 160 f., Hopper/ Traugott 1993, 124 f.). Within a broad functional domain, new layers are continually emerging; in the process the older layers are not necessarily discarded, but may remain to coexist with and interact with new layers. Layering is the synchronic result of successive grammaticalization of forms which contribute to the same domain. (Hopper/ Traugott 1993, 124)
Die verschiedenen Schichten einer funktionalen Domäne können nach Hopper (1991, 23) leichte Bedeutungsnuancierungen aufweisen oder stilistische, soziolinguistische, regionale o.ä. Unterschiede ausdrücken. Sie können aber auch nur einen Übergang von einer Technik zur anderen darstellen, wobei sich dieser Übergangszustand über einen langen Zeitraum erstrecken kann. Das Nebeneinander vom synthetischen Konjunktiv II und der Konstruktion würde + Infinitiv in gleichen Funktionen ist ein Beispiel für layering. 6.5.2.3. Komparativsätze In einem Vergleichssatz (oder Komparativsatz) lässt sich ebenfalls die funktionale Äquivalenz synthetischer und analytischer konjunktivischer Formen beobachten. Die Substitution der würde-Form durch den einfachen Konjunktiv II ist in jedem der Beispielsätze ohne spürbare Bedeu-
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
181
tungsunterschiede denkbar. Dies lässt darauf schließen, dass die beiden Formen nebeneinander verwendet werden, dabei gewinnt die „eindeutigere“ Form allmählich die Oberhand, während die Verwendung der alten Form immer noch den Standardfall darstellt.12 (21) Alf, mein Held, erzählt doch recht munter von seinen erotischen Abenteuern in den siebziger Jahren. Sonderbarerweise scheint es im Rückblick so zu sein, als würden wir die eigenen sexuellen Eroberungen als unsere Hauptleistung ansehen. (Spiegel 36) (21’)
Sonderbarerweise scheint es im Rückblick so zu sein, als sähen wir die eigenen sexuellen Eroberungen als unsere Hauptleistung an.
(22)
"Das war, als hätte man einen Teddybär dabei", erzählt die Managerin, "oder als würde man mit einem Menschen sprechen." (Spiegel 36)
(22’)
"Das war, als hätte man einen Teddybär dabei", erzählt die Managerin, "oder als spräche man mit einem Menschen."
(23)
Der Ruf wiederholte sich: "Craighton kommt!" Es war genauso, als würde man ihm sein eigenes Todesurteil vorlesen. (Pegg, 48)
(23’)
Der Ruf wiederholte sich: "Craighton kommt!" Es war genauso, als läse man ihm sein eigenes Todesurteil vor.
(24)
Es dröhnte und krachte, als würden die schwarzen Flanken der Mogollon-Berge ringsum einstürzen. (Pegg, 18)
(24’)
Es dröhnte und krachte, als stürzten die schwarzen Flanken der Mogollon-Berge ringsum ein.
6.5.2.4. Relativsätze Relativsätze, die eine Negation beinhalten, bilden einen weiteren syntaktisch bedingten Verwendungsbereich des Konjunktivs II (vgl. Zifonun u.a.
_____________ 12 In der vorliegenden Arbeit wurden keine Belege mit Konjunktiv II-Formen ausgewertet,
aber es lässt sich anhand vieler anderen Arbeiten und alltäglicher Beobachtungen vermuten, dass der Konjunktiv II starker Verben immer noch die gebräuchlichere grammatische Form in solchen Kontexten ist.
182
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
1997, 1751 f., die solche Sätze als kontrafaktische Relativsätze bezeichnen): (25) Die Dorfschönheiten zeigen Nabel und belächeln die Scherze der gröberen Glatzen. Weit und breit kein Hirn, das einen Hinterpommern aus Stettin zum verwandten Kulturkreis zählen würde. (Spiegel 42) (25’)
Weit und breit kein Hirn, das einen Hinterpommern aus Stettin zum verwandten Kulturkreis zählte.
(26)
Die Kapitäne der fünf CSA-Sicherheitsboote, ohne deren Hilfe die Schwimmer das andere Ufer nie finden würden, lassen sich vom Radar leiten. (Spiegel 36)
(26’)
Die Kapitäne der fünf CSA-Sicherheitsboote, ohne deren Hilfe die Schwimmer das andere Ufer nie fänden, lassen sich vom Radar leiten.
Und hier kann die Grundbedeutung des Modus Konjunktiv II als einer deiktischen Kategorie, die die Faktizitätsbewertung der Proposition von der Origo aus zum Ausdruck bringt, nachvollzogen werden. Es wird im Text (also phorisch) auf eine Bedingung verwiesen, z.B. ohne deren Hilfe, die in der aktuellen faktischen Welt nicht erfüllt ist und daher die Proposition als [+nichtfaktisch] erscheinen lässt. Würde + Infinitiv tritt im ersten Satz als Ersatz für die uneindeutige Form zählte, und vermittelt einen (modal-)deiktischen Wert, der dem Wert des Konjunktivs II gleich ist. 6.5.2.5. Würde + Infinitiv im Nebensatz einer konditionalen Periode Dass die Konstruktion würde + Infinitiv nicht nur im Folgesatz einer Konditionalkonstruktion auftritt, sondern auch der Formulierung einer Bedingung dient, ist eine relevante Beobachtung, die es erlaubt, von der fortschreitenden Grammatikalisierung der Konstruktion in Richtung einer analytischen Konjunktiv II-Form zu sprechen: (27) Wir könnten bestimmt glaubwürdiger für eine Senkung des Zwangsumtausches eintreten, wenn nicht die Bundesregierung den Reisenden aus Polen eine Art "Sicherheitsgarantie" von 50 DM täglich auferlegen würde. (Spiegel 42) (27’)
Wir könnten bestimmt glaubwürdiger für eine Senkung des Zwangsumtausches eintreten, wenn nicht die Bundesregierung den
Würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
183
Reisenden aus Polen eine Art "Sicherheitsgarantie" von 50 DM täglich auferlegte. (28)
Wir haben gerade mit den Zahnärzten schon viel Erfahrung. Wenn wir jetzt den Zahnärzten nachgeben würden, dann hieße das: Wir lüften das Budget. (Spiegel 42)
(28’)
Wenn wir jetzt den Zahnärzten nachgäben, dann hieße das: Wir lüften das Budget.
Zusammenfassend für diesen Abschnitt lässt sich formulieren, dass das Vorkommen der Konstruktion würde + Infinitiv in bestimmten Verwendungskontexten den gleichen Regeln folgt, die für synthetische Konjunktiv II-Formen gelten. Das sind vor allem stark konventionalisierte Verwendungsweisen, wobei der Gebrauch von konjunktivischen verbalen Formen nicht nur semantisch motiviert ist, sondern vielmehr nach syntaktischen Regeln (als Subjunktiv) erfolgt. Die relativ leichte Austauschbarkeit beider Formen ohne „erkennbaren“ Bedeutungsunterschied und darüber hinaus der verstärkte Gebrauch analytischer Formen aus Deutlichkeitsgründen liefern aussagekräftige Indizien für diese Entwicklung. Würde + Infinitiv tritt also in den behandelten Kontexten in einer Lesart auf, die sich als analytischer Konjunktiv II bestimmen lässt. Die Obligatorik dieser Konstruktion in spezifischen sprachlichen Strukturen (Nebensatzkonstruktionen), die festgestellt werden konnte13, zeugt von einem sehr hohen Grammatikalisierungsgrad der Konstruktion würde + Infinitiv in dieser Lesart. Würde ist in solchen Fällen also als grammatikalisiertes Auxiliar zur Bildung des analytischen Konjunktivs II zu klassifizieren, das seine lexikalische Bedeutung vollkommen aufgegeben hat und der expliziten Markierung grammatischer Modusfunktion dient (oder zumindest auf dem besten Weg dahin ist).
_____________ 13 Einige Einschränkungen bei der Bestimmung gewisser Obligatorik mussten jedoch ge-
macht werden. Diese Einschränkungen ergeben sich allerdings meist aus weiteren kontextuell oder situativ präsenten Elementen oder Faktoren, die die werden-Komponente (oder die werden-Relation) spürbar unterstützen (z.B. epistemische einleitende Ausdrücke oder durch weitere kontextuelle Angaben hervorgehobene Sprecherperspektive). Die etablierten syntaktischen Strukturen bestimmter Nebensatzarten scheinen dennoch eine ausreichende Bedingung für die Verwendung der (synthetischen oder analytischen) konjunktivischen Form zu sein.
184
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
6.6. Würde + Infinitiv vs. Konjunktiv II Der Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv ist bekanntlich nicht auf die oben behandelten typisch konjunktivischen Kontexte beschränkt. Andere Verwendungsweisen lassen sich feststellen, in welchen die konjunktivische Interpretation der Fügung ihrem tatsächlichen Bedeutungsinhalt nicht in vollem Maße zu entsprechen scheint. Ich werde anhand einiger Beispiele aus dem untersuchten Material zu zeigen versuchen, dass die in Kap.6. 4. konstruierte relationale Bedeutungsschablone kein absolut abstraktes Modell ist, sondern in vielen Fällen tatsächlich realisiert wird: (29) Ich nahm mir vor, nach Rom zu fahren und auch den Papst um eine Audienz zu bitten. Ein wenig von einem weisen, alten Clown hatte auch er, und schließlich war die Figur des Harlekin in Bergamo entstanden; ich würde mir das von Genneholm, der alles wußte, bestätigen lassen. Ich würde dem Papst erklären, daß meine Ehe mit Marie eigentlich an der standesamtlichen Trauung gescheitert war, und ihn bitten, in mir eine Art Gegentyp zu Heinrich dem Achten zu sehen: der war polygam und gläubig gewesen, ich war monogam und ungläubig. Ich würde ihm erzählen, wie eingebildet und gemein "führende" deutsche Katholiken seien, und er solle sich nicht täuschen lassen. Ein paar Nummern würde ich vorführen, hübsche leichte Sachen wie Schulgang und Heimkehr von der Schule, nicht aber meine Nummer Kardinal; das würde ihn kränken, weil er ja selbst einmal Kardinal gewesen war - und er war der letzte, dem ich weh tun wollte. (Böll, 218) (30)
Immer wieder erliege ich meiner Phantasie: ich stellte mir meine Audienz beim Papst so genau vor, sah mich da knien und als Ungläubiger um seinen Segen bitten, die Schweizer Gardisten an der Tür und irgendeinen wohlwollend, nur leicht angeekelt lächelnden Monsignore dabei - daß ich fast glaubte, ich wäre schon beim Papst gewesen. Ich würde versucht sein, Leo zu erzählen, ich wäre beim Papst gewesen und hätte eine Audienz gehabt. (Böll, 218)
Es handelt sich bei den angeführten Beispielen nicht um die prototypische erlebte Rede oder „erlebtes Denken“. Die Erzählung wird in erster Person geführt. Es werden hierbei nicht Gedanken einer anderen (dritten) Person (Figur) wiedergegeben, sondern eigene Gedanken des Autors vorgestellt, der zugleich als Protagonist auftritt.
Würde + Infinitiv vs. Konjunktiv II
185
Für den ganzen Textabschnitt (29) + (30) kann eine nichterfüllte Bedingung angenommen und wie folgt formuliert werden – wenn ich in Rom wäre bzw. wenn ich nach Rom fahren würde. Diese Bedingung ist im „Hier und Jetzt“ des aktuellen Sprechers nicht erfüllt. Deswegen erhalten die mit würde dargestellten Ereignisse den modalen deiktischen Wert [+ nichtfaktisch]. Die vorgestellte Situation gehört nicht zu der Faktenwelt des Sprechers, weil eben diese Bedingung(en) nicht erfüllt ist (sind). Durch die Verwendung von würde + Infinitiv und nicht der synthetischen Konjunktiv II-Formen kommt m.E. dem Dargestellten ein weiterer Bedeutungsaspekt hinzu. Die leicht rekonstruierbare nichterfüllte Bedingung ist nicht nur als Ausgangspunkt für die vom aktuellen Sprecher vorgenommene Faktizitätsbewertung zu denken. Sie ist außerdem der Ausgangspunkt, aus dem diese Gedanken des Sprechers überhaupt entspringen. Die Bedingung tritt hier auch als Grund dafür auf, weitere mögliche Veränderungen der Situation konstruieren zu können. Mit Brinkmann (1971, 378) gesprochen, „was so ausgesprochen wird, kann als Ersatz für das Gegebene verstanden werden“. Schröder (1959, 76) erwähnt auch zum Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv, dass das dargestellte Geschehen „ein von innen gesehenes, auf ein unbestimmt erwartetes Ziel hin verlaufendes Geschehen“ sei. Das dargestellte Geschehen ist (noch) nicht wirklich, nicht real, das spielt sich nur im Kopf des Sprechenden ab. Der Sprecher selbst empfindet und beschreibt dieses Geschehen nicht als „nur vorgestellt“, „irreal“, sondern stellt es als eine erwartbare Entwicklung der Situation von seinem Standpunkt aus dar (zur Komponente „Erwartung“ im werden + Infinitiv vgl. Lerch 1942, Brinkmann 1971, Kotin 2003 u.a.). Die Bedingung in Rom sein wird als Ausgangspunkt für „gedachte“ eintretende Entwicklungen interpretiert. Würde bezeichnet in diesem Fall eine Projektion der Gedankenwelt des Sprechers auf die reale Welt, besser gesagt, auf die mögliche Entwicklung der faktischen Welt. Der synthetische Konjunktiv II dagegen würde auf eine andere, mit der faktischen Welt nicht verträgliche Weltdimension referieren, welche für den aktuellen Sprecher zu dem aktuellen Sprechzeitpunkt auch keine Aussicht auf Verwirklichung hätte (vgl. FabriciusHansen 2000, Mortelmans 2004 und zum dynamic evolutionary model Langacker 1991). Mit würde aber wird dieser Anspruch (mögliches Zustandekommen oder Zutreffen auf die reale Welt) zum Ausdruck gebracht. Vgl. ferner: (31) Wenn er jetzt nachgab, würde sie ihm immer wieder auf der Nase herumtanzen. (Stephan, 8)
186
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
Mit wenn er jetzt nachgab wird eine Bedingung formuliert (beachte die indikativische Form nachgab!), die zwar zum Sprechzeitpunkt als nicht erfüllt vorausgesetzt wird, deren Erfüllung aber vom Sprecher als möglich hingestellt wird. Der Sprecher stellt sich das durch diese durchaus erfüllbare Bedingung entstehende Geschehen als evident vor, wenn auch als [+ nichtfaktisch], da sowohl die Bedingung als auch ihre Folge (noch) nicht der Faktenwelt zugeschrieben werden können. Die Situation sie tanzt ihm immer wieder auf der Nase ist frü den Sprecher die einzige vorstellbare Entwicklung gegebener Umstände (weil er seine Aussage höchstwahrscheinlich auf eigene Erfahrung stützt). (32) Geben wir den Autoren und Filmemachern doch auch Geld dafür, daß sie nichts machen oder sich bloß etwas ausdenken, was nie realisiert zu werden braucht, das würde viele daran hindern, immer wieder gremiengerechte Stoffe anzubieten. (Spiegel 42) Die Bedingung, die in (32) explizit formuliert wird, kann ähnlich wie in (29) – (31) als Ausgangspunkt (Prämisse) für eine Folgerung des Sprechers interpretiert werden, die mit würde + Infinitiv zum Ausdruck gebracht wird. Diese Bedingung führt dazu, dass nicht nur die negative Faktizitätsberwertung des dargestellten Sachverhaltes durch den Sprecher erfolgt, sondern auch der propositionale Gehalt selbst als evidente Entwicklung aus der gegebenen Bedingung hervorgehoben wird. Die mit würde modifizierte Proposition wird vom Sprecher also doppelt bewertet: zum einen erhält sie den Wert [+ nichtfaktisch] aufgrund des Nichterfülltseins bestimmter Bedingungen (die Konjunktiv II-Komponente); zum anderen ist sie aus der Sprecherperspektive die evidente Entwicklung der gegebenen Bedingung (die werden-Komponente). Eine vergleichbare Situation lässt sich bspw. in der russischen Sprache beobachten. Das Russische besitzt bekanntlich eine ausgebaute Kategorie des verbalen Aspekts und verfügt somit über Möglichkeiten, die Zustandsänderung bzw. den Zustandswechsel in der Vergangenheitsperspektive (hier ist nur der Fall des Modus Konjunktiv bzw. Optativ betrachtet) mit perfektiven Verben auszudrücken. Wenn dagegen ein Verb, das eine habituelle Aktionalität aufweist, in einer hypothetischen Aussage auftritt, wird der dargestellte Sachverhalt als „(Welt-)Zustand“ gedeutet. Um die Aussage so zu modifizieren, dass der semantische Aspekt „Veränderung“/ „Entwicklung“ in den Vordergrund gerückt wird, und zwar jene Entwicklung, die von der explizit erwähnten oder implizit mitgedachten nichterfüllten Bedingung aus ihren Anfang nimmt, greift man gewöhnlich zu der Infinitivkonstruktion mit dem Verb стать – ‚werden’. (33) (Если бы у меня было много денег), (Wenn byOPT bei 1SG.AKK sein3SG.PRÄT viel GeldGEN.PL),
187
Würde + Infinitiv vs. Konjunktiv II
ходил бы каждый день в театр. я 1SG geh-1SG.PRÄT byOPT jeden Tag in TheaterAKK (Wenn ich viel Geld hätte), ginge ich jeden Tag ins Theater. (34)
(Если бы
у
меня
было
много денег),
(Wenn byOPT bei 1SG:ÄKK sein3SG.PRÄT viel GeldGEN.PL),
я
стал
бы каждый день ходить в театр.
1SG werd-1SG:PRÄT byOPT jeden Tag geh-INF. in TheaterAKK.
(Wenn ich viel Geld hätte), würde ich jeden Tag ins Theater gehen. Die Konstruktion стать + by + Infinitiv hat ingressiven Charakter und betont den Aspekt der Veränderung, des Wechsels, der durch die angenommene Bedingung entstehen könnte. Die Aussage (33) mit der synthetischen Optativ-Form ходил бы bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher den dargestellten Sachverhalt als [+ nichtfaktisch] einstuft, d.h. aussagt, „was der Fall wäre wenn die Bedingung erfüllt wäre“. Mit anderen Worten, was einer der vielen möglichen Fälle wäre, wenn die Bedingung erfüllt wäre. Der Satz (34) enthält dagegen eine gewisse Bindung des Sprechers an die Aussage in dem Sinne, dass die dargestellte Situation auf jeden Fall eintreten würde, sollte die Bedingung sich erfüllen (vgl. die Bezeichnungen speaker involvement bei Mortelmans 2004, demn. und intensive innere Vorstellung bei Schröder 1959). Der Sprecher nimmt also die Bedingung nicht nur als Grund für das Nicht-Zutreffen der Proposition in der faktischen Welt an, sondern zugleich als Einladung dazu, sich Gedanken darüber zu machen, was nun wirklich der Fall wäre oder was die Erfüllung dieser Bedingung zur Folge haben würde. Vor diesem Hintergrund wird dem dargestellten Sachverhalt ein „näherer“ Faktizitätswert im modaldeiktischen Sinne zugewiesen. Der Sprecher äußert somit nicht nur eine Vermutung, was der Fall wäre, er schätzt den Sachverhalt auch höher in seiner Faktizität ein, stellt ihn als wahr von ihm aus in Beziehung zu der möglichen Entwicklung der Situation unter Berücksichtigung der erwähnten oder implizierten Bedingungen dar (vgl. Kap.5. 4. zur „abschwächenden“ Funktion der Konjunktivflexion).14
_____________ 14 Während die in Kap.5.4. behandelte Kontexte die Annahme zweier unterschiedlichen
Ausgangspunkte zulassen, dadurch dass eine „andere“ BSB (z.B. wenn er/ sie da wäre) formuliert werden kann, sind in hiesigen Kontexten die nichterfüllte Bedingung und die „Informationsquelle“ durch einen und denselben Inhalt (Umstand, Situation) besetzt.
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Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konstruktion würde + Infinitiv in vielen Kontexten ihre entfaltete relationale Struktur realisiert und sich daher in ihrer Bedeutung nicht nur als eine analytische Konjunktiv IIForm beschreiben lässt (reduzierte relationale Struktur, vgl. Schema 7-4 in Kap.7.7.1.). Die Korrelationen zwischen der konjunktivischen Flexion und der eigenen Leistung des Auxiliars werden, die für die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv als Ausdruck inferentieller Evidentialität definiert wurde, ergeben eine komplexe Bedeutungsstruktur von würde + Infinitiv, die in Kap.6.4. dargestellt wurde. Wenn die als Bedingung angenommenen Umstände, Fakten zugleich als Ausgangspunkt für den Schlussfolgerungsprozess des Sprechers fungieren (d.h. wenn „Informationsquelle“ und „nichterfüllte Bedingung“ mit einem und denselben Inhalt besetzt sind), werden sie in doppelter Weise interpretiert, was mit der Anwendung der konstruierten Bedeutungsschablone folgendermaßen erläutert werden kann: 1. einerseits gelten diese Umstände als der Ausgangspunkt „nichterfüllte Bedingung“ für die deiktische Bewertung der Faktizität der Proposition, was der Aktivierung bzw. Realisierung der konjunktivischen Relation im Schema entspricht; 2. andererseits gelten sie als der Ausgangspunkt „Informationsquelle“ und treiben die mentale Aktivität des Sprechers an, die darin besteht, die Entwicklung der gegebenen Situation unter Berücksichtigung dieser Umstände zu inferieren. Dies führt zur Aktivierung bzw. Realisierung der werden-Relation im Schema, die den Wert [inferentiell evidentiell] trägt. Dies führt häufig zur Entstehung von ambigen Strukturen, wobei die verschiedenen Relationen, die in der relationalen Bedeutungsschablone der Konstruktion (Schema 6-3) vorhanden sind, in Konkurrenz miteinander treten, da beide zugleich aktiviert sind und keine von beiden dominant gesetzt werden kann. Fritz (2000b, 197) macht auf diese Ambivalenz der Fügung würde + Infinitiv in vielen Kontexten aufmerksam: „Wie bereits angedeutet, kann die Einordnung isolierter Textbelege problematisch sein, da nicht selten erhebliches Kontextwissen erforderlich ist, insbesondere um die ‚vergangenen’ Typen, die beide würde mit Infinitiv aufweisen, voneinander zu unterscheiden“. Er bringt das Beispiel: (35) Wir wussten alle, dass das Frühjahr turbulent werden würde. und zeigt, dass hier ganz unterschiedliche Deutungen von würde + Infinitiv möglich sind, die nur durch die Aufnahme von weiteren Informationen über den Sachverhalt voneinander zu scheiden sind. Die Extrempunkte der Deutung werden von Fritz (2000, 197 f.) folgendermaßen beschrieben,
Zusammenfassung
189
wobei er erwähnt, dass „von denen an sich keine im isolierten Satz gegenüber der anderen Vorsprung hat“: (35’) Wir wussten: Alle verschleppten Entscheidungen laufen zusammen. Das Frühjahr wird turbulent werden. > Wir wussten, dass das Frühjahr turbulent wurde. (35’’)
Wir wussten: Wenn alle verschleppten Entscheidungen zusammenliefen, würde das Frühjahr turbulent werden. > Wir wussten, dass das Frühjahr turbulent würde.
Das von Fritz (2000b) aufgegriffene Beispiel kann auch in Bezug auf die hier konstruierte relationale Struktur von würde + Infinitiv erklärt werden. In (35’) wird die evidentielle Komponente der Fügung dadurch dominant gesetzt, dass die vorliegende Evidenz alle verschleppten Entscheidungen laufen zusammen explizit als Ausgangspunkt für die vom Sprecher vollzogene Weiterentwicklung der Situation gesetzt wird, wodurch der Ausgangspunkt „nichterfüllte Bedingung“ samt der konjunktivischen Bedeutungskomponente sozusagen „ausgeschaltet“ wird, weil diese Bedingung explizit als „Informationsquelle“ verstanden wird (beachte die indikativische laufen-Form). In (35’’) dagegen wird derselbe Umstand explizit als eine nichterfüllte Bedingung formuliert: wenn alle verschleppten Entscheidungen zusammenliefen. Somit wird die konjunktivische Lesart favorisiert, da der Ausgangspunkt „nichterfüllte Bedingung“ dominant gesetzt wird und nicht als „Informationsquelle“ aufgefasst werden kann. Die evidentielle werden-Komponente wird also unterbewertet, wodurch die konjunktivische Lesart der Fügung entsteht. Die Paraphrasen (35’) und (35’’) mit jeweils indikativischer und konjunktivischer werden-Form verdeutlichen diese Interpretationsalternativen. In vielen Fällen kann der weitere kontextuelle bzw. situative Rahmen Aufschlüsse über die Dominanz einer oder der anderen Bedeutungskomponente geben, oft bleibt aber die Disambiguierung solcher Strukturen fraglich. Dies ist m.E. das unverkennbare Wesen der Konstruktion würde + Infinitiv in der heutigen deutschen Sprache, und dies ist ferner ein Indiz dafür, dass diese Konstruktion in einen immer noch andauernden Prozess der Grammatikalisierung involviert ist.
6.7. Zusammenfassung In diesem Abschnitt wurden zwei unterschiedliche und dennoch auf eine grundlegende relationale Struktur zurückführbare Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv behandelt: In der ersten, stärker grammatikali-
190
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv II
sierten Lesart lässt sich würde + Infinitiv als analytische Konjunktiv II-Form einordnen (vgl. Kap.6.5.). Die zweite Lesart weist zusätzlich zu der konjunktivischen eine evidentielle Bedeutungskomponente auf (vgl. Kap.6.6.). In der zweiten Lesart lässt sich die Fügung als Konjunktiv II-Form der Periphrase werden + Infinitiv bestimmen. Die zweite Lesart der Fügung erklärt sich durch die Realisierung der entfalteten relationalen Struktur von würde + Infinitiv. Dies führt häufig zur Entstehung ambiger Interpretationen der Konstruktion, wenn der Kontext keine unterstützenden Angaben zur Deutung enthält. Die Realisierung der entfalteten relationalen Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv kommt allerdings in der deutschen Gegenwartssprache nur schwach zur Geltung. Neben der Rolle des jeweiligen Verwendungskontextes sind verschiedene sprachliche sowie außersprachliche Faktoren in dieser Hinsicht zu nennen. Das ist zum einen das Zusammenfallen von meisten indikativischen und konjunktivischen Formen regelmäßiger Verben, was die Konstruktion würde + Infinitiv zur analytischen konjunktivischen Bildung macht und sie deswegen häufig als eindeutige „Ersatzform“ erscheinen lässt. Bei unregelmäßigen Verben kommt die Konstruktion würde + Infinitiv als Ersatzform für veraltete und ungebräuchliche (nicht wohlklingende) Konjunktivformen. „Besonders häufig werden Konjunktiv Präteritum und Futur durch würde-Formen ersetzt, vor allem, wenn sie mit den indikativischen Formen zusammenfallen und die durch die Konjunktivformen ausgedrückten Funktionen auch nicht durch andere Sprachmittel gekennzeichnet sind“ (Helbig/ Buscha 2001, 172). Zum anderen wird auch die Neigung der deutschen Sprache (und der deutschen Sprecher) zu analytischen Bildungen und somit zur verbalen Satzklammer verantwortlich gemacht. Diese Tendenz lässt sich unter anderem auch anhand des so genannten „Präteritumschwunds“ veranschaulichen. Mit der verbreitenden Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv als Ersatz für synthetische Konjunktiv II-Formen verblasst allmählich ihre ursprünglich noch im werden verankerte mutative Bedeutung. Würde als Auxiliar für die analytische Konjunktivbildung weist also einen hohen Grammatikalisierungsgrad auf. Heute kann man von einer besonderen Leistung der Konstruktion gegenüber dem synthetischen Konjunktiv II sprechen, wenn würde mit Infinitivformen unregelmäßiger Verben auftritt, die eindeutige und gebräuchliche Konjunktivformen besitzen. Und sogar in solchen Fällen greifen die Sprecher nicht selten zu der „eindeutigeren“ würde-Form. Die Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer Ersatzfunktion für den heutigen Konjunktiv II deckt aber nicht das gesamte Spektrum an Bedeutungsvariationen ab, das diese Konstruktion zu vermitteln vermag. Die
Zusammenfassung
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evidentielle Bedeutung, die in bestimmten Kontexten deutlich in den Vordergrund tritt (vgl. Kap.5), zeigt auffallende Abweichungen von dem rein (modal-)deiktischen Gebrauch der würde-Fügung. Das Vorhandensein hochambiger Strukturen (Kap.6.6.), die sich als Defaultverwendungen der heutigen Konstruktion würde + Infinitiv klassifizieren lassen, bestätigen die These, dass diese Lesart der Fügung in den andauernden Grammatikalisierungsprozess involviert ist.
7. Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen Im folgenden Abschnitt werden unterschiedliche Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv im Hinblick auf ihre mit Abstand häufigsten Verwendungskontexte – Konditionalkonstruktionen – behandelt. Des Weiteren werden die relevanten Kontextfaktoren dargestellt und ihre Auswirkung auf die konkrete Realisierung der relationalen Grundstruktur der Periphrase würde + Infinitiv untersucht. Die Datenbasis für die Untersuchung bilden Konditionalkonstruktionen und mit ihnen verwandte Kontexttypen. Die hier vertretene These lautet, dass die Differenzierung nach Arten der Verknüpfung, die für Konditionalkonstruktionen in typologischer Sicht festgestellt wurde, auch auf weitere Verwendungskontexte der hier in Betracht kommenden Periphrase angewendet werden kann, um deren verschiedene Lesarten besser beschreiben zu können.
7.1. Konditionalkonstruktionen als typischer Verwendungskontext von würde + Infinitiv Konditionalkonstruktionen bzw. deren Hauptsätze wurden schon früh als typische Verwendungsdomäne der Konstruktion würde + Infinitiv erkannt. In den älteren Grammatiken wird würde + Infinitiv dahingehend beschrieben, dass es seinen Hauptverwendungsbereich in den Hauptsätzen einer hypothetischen Periode finde (vgl. Paul 1920; Behaghel 1924, II; Blatz 1896 u.a.). Nhd. steht im Hauptsatz der hypothetischen Periode im Allgemeinen nicht der einfache Konjunktiv Präteriti, sondern würde mit Infinitiv. (Dal 1966, 149) Die Umschreibung der Konjunktivform durch die so genannte Bedingungsform (den Konditional) ich würde kommen (wenn ich Zeit hätte) statt ich käme ist im Hauptsatze ganz am Platze, hier sogar oft erwünscht. Sie bürgert sich aber in der gesprochenen Sprache auch im Nebensatze immer mehr ein, weil die einfachen Konjunktivformen vieler starker Zeitwörter kaum mehr gebräuchlich sind... Die Umschreibung mit würde im Hauptsatz ist zuweilen geradezu notwendig, z.B. in Sätzen wie Ich würde ihm in diesem Falle folgendes sagen statt: Ich sagte ihm folgendes. (Die würde-Krankheit 1958, 78)
Konditionalkonstruktionen als typischer Verwendungskontext von würde + Infinitiv 193
Die Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv im Hauptsatz eines Konditionalgefüges und darüber hinaus in Aussagen, die gewisse Affinitäten zu den ersteren aufweisen, entspricht offenbar dem heutigen sowie dem damaligen Entwicklungsstand des Deutschen und erscheint „geradezu notwendig“ (s. Zitate oben). Die fortschreitende Verbreitung der Konstruktion in anderen Kontexten, vor allem in Bedingungsnebensätzen, galt zwar eine Zeitlang als „unerwünscht“ und wurde sogar bekämpft: Überflüssig ist würde in Bedingungsnebensätzen: „Wenn ich in der Zeitung lesen würde, dass Du den Preis gewonnen hättest, so würde ich es nicht glauben.“ Das erste würde ist unnötig; es muss heißen „Wenn ich läse“! Und sogar im Folgesatz (Hauptsatz) kann man es hier vermeiden und stattdessen sagen: „so glaubte ich es nicht“. Immer, wenn für eine umständlichere eine kürzere, kräftigere Form verfügbar ist, sollten wir sie vorziehen! (Die würde-Krankheit 1958, 84)
Derartige Normierungsversuche blieben offensichtlich erfolglos, wie der heutige Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv zeigt. Die angeführten Fakten sind für die vorliegende Untersuchung insofern von besonderem Interesse, als dass sie den ursprünglichen und etablierten Verwendungsbereich der Konstruktion würde + Infinitiv klar definieren. Zum anderen zeichnen sie eine Tendenz zur Ausbreitung dieser Konstruktion in anderen Verwendungskontexten auf, die in Hauptsätzen konditionaler Gefügen ihren Anfang nahm. Die deutsche Gegenwartssprache zeichnet sich ebenfalls durch den frequenten, geradezu typischen Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv in konjunktivischen (häufig auch „irreal“ und „potential“ genannten) Konditionalsätzen aus. Die meisten gängigen Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache sind sich in diesem Aspekt einig (hier seien nur einige wenige Zitate angeführt): DUDEN-Grammatik (1998, 168): „in den konjunktivischen Konditionalsätzen wird die würde-Form (übernommen aus der direkten in die indirekte Rede) in den meisten Fällen dem Konjunktiv II vorgezogen“. (1) Eine schon größere Minderheit von Priestern erklärt stets, wenn irgendwo in der Welt eine Umfrage nach dem Zölibat gehalten wird: Sie würden sofort heiraten (statt: heirateten), wenn sie im Amt bleiben könnten. IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997, 1745): „würde-Formen werden in Unter- und/oder Obersatz verwendet, mit und ohne Zukunftsbezug.“ (2) Diese Aussage wäre überzeugender, würden im Erinnerungsvermögen des Zeugen Schulz nicht arge Lücken klaffen.
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
(3)
Ich weiß zwar nicht, wo Hans sich gerade aufhält. Aber wenn er im Raum wäre, würde er sich bestimmt melden.
Das untersuchte Datenmaterial liefert zahlreiche Beispiele für den Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv in Konditionalsätzen, z.B.: (4) Es ist vielleicht noch zu früh, darüber zu reden, aber ich würde mich freuen, wenn aus euch beiden ein Paar würde. (Stephan, 31) (5)
Wenn er jetzt nachgab, würde sie ihm immer wieder auf der Nase herumtanzen. (Stephan, 8)
(6)
Welche Verzweiflung würde den frommen Johannes Kepler überkommen, sähe er, wohin die Anwendung des geometrischen Kalküls auf die Natur geführt hat. (Bamm, 204)
(7)
Gäbe es irgendwo in einem Spiralnebel einen unserer Erde völlig gleichen Himmelskörper, und es fehlte auf diesem Stern nur ein einziges der Schwermetallsalze, würde dieser Stern für ein organisches Leben wie auf unserer Erde schon nicht mehr in Betracht kommen. (Bamm, 182)
(8)
Jeder Mensch besitzt nebeneinander verschiedene Vorstellungen von den Dingen, die einander zum Teil widersprechen würden, wenn sie Ansprüche daran machten, rein der Dinge wahres Wesen zu zeigen. (Bamm, 174)
Die Bedingung (das Antezedens) wird in einem Konditionalsatz bekanntlich nicht unbedingt in der Form eines Nebensatzes formuliert. Viele konjunktivische Konditionalsätze (vgl. Jäger 1971, 180 f.) erscheinen ohne in Gliedsätzen ausgeführte Bedingungen. Die Letzteren können auf vielerlei Weise, z. B. lexikalisch (z.B. an deiner/Ihrer Stelle), zum Ausdruck gebracht werden oder werden impliziert und aus der Situation, aus dem Kontext mitverstanden. Sie können in solchen Fällen meist in Form eines Nebensatzes paraphrasiert werden, z. B. ‚an deiner Stelle’ > ‚wenn ich an deiner Stelle wäre’ u.ä.: (9) "Nein, Herr Freese", mischte sich Bernhard Körber ein, "sie darf es auch nicht erfahren, das würde ihren Tod nur beschleunigen". (Stephan, 13) ‚das’ > wenn sie das erfahren würde (10)
Vielleicht konnten sie es schaffen. Aber dann würde Larrys Weg besiegelt sein wie sein eigener damals, nachdem Brod Slater tot
Was ist eine Konditionalkonstruktion?
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vor ihm auf den Saloonbrettern gelegen hatte. (Pegg, 51) ‚(aber) dann’ > wenn sie es schaffen könnten (11)
Eine einfache Mehrheit würde ihm genügen, Quebec von Kanada loszulösen. (Spiegel 36) ‚eine einfache Mehrheit’ > wenn er einfache Mehrheit erzielen würde, würde es ihm genügen, ...
Da (konjunktivische) Konditionalkonstruktionen also einen gewichtigen Anteil im gesamten Verwendungsspektrum der Konstruktion würde + Infinitiv ausmachen und somit die ursprünglichen Gebrauchstraditionen sozusagen „am Leben erhalten“, ist es m.E. von Nutzen, eine synchrone Betrachtung solcher Konstruktionen und anderer vergleichbarer Verwendungskontexte der Konstruktion würde + Infinitiv vorzunehmen. Ein besonderes Augenmerk liegt in den folgenden Abschnitten auf der konkreten Realisierung der in Kap.6.4. konstruierten relationalen Bedeutungsschablone von würde + Infinitiv (Schema 6-3). Wie in Kap.6. angenommen, wird die relationale Struktur der Konstruktion meist auf die Realisierung einer der beiden Bedeutungskomponenten „reduziert“. Dies führt zur Entstehung verschiedener Lesarten der Fügung. Da bestimmten kontextuellen und situativen Faktoren eine besonders wichtige Rolle bei diesen Deutungsprozessen zukommt, werde ich im Weiteren versuchen, die relevanten Aspekte für den Fall der deutschen Konditionalkonstruktionen zu ermitteln.
7.2. Was ist eine Konditionalkonstruktion? Ohne ausführlich auf die zahlreichen gegenwärtigen Forschungen zu verschiedenartigen Interpretationen von Konditionalkonstruktionen einzugehen und vorerst ohne die Unterschiede mehrerer Arten von Konditionalsätzen zu berücksichtigen, versuche ich hier kurz, die solchen Satztypen zugrunde liegende relationale Struktur zu skizzieren. Ein Konditionalsatz oder eine Konditionalkonstruktion besteht bekanntlich aus zwei Teilen, die in einer (logischen) Beziehung zueinander stehen. Das sind die Protasis (Antezedens) und die Apodosis (Konsequenz). Der erste Teil formuliert die Bedingung oder das Bedingende, der zweite bezeichnet die Folge oder das Bedingte. In logic, conditionals (material implications) are defined as a relation between two propositions, the protasis (p) and the apodosis (q), such that either p and q are both true, or p is false and q is true, or p is false and q is false; excluded is the possibility of p being true while q is false. (Comrie 1986, 78)
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
In einer Konditionalkonstruktion bedingt ein Sachverhalt p einen Sachverhalt q, „wenn die Existenz von p Voraussetzung für die Existenz von q ist, ohne dass p den Sachverhalt q notwendig hervorbringt oder anders begründet“ (Heidolph/ Flämig/ Motsch 1981, 795). Es wird auch oft (vgl. z. B. Sweetser 1990, 115 f.) darauf hingewiesen, dass Konditionalsätze in der Alltagsverwendung häufig die Lesart if and only if (iff) haben, d.h. die Protasis gilt nicht nur als hinreichende, sondern auch als notwendige Bedingung für die Apodosis. Als distinktives Merkmal von Konditionalkonstruktionen im Sprachgebrauch gilt, dass ein inhaltlicher Zusammenhang (meist eine UrsacheFolge/ cause-effect-Relation) zwischen zwei Situationen vorliegt (vgl. Comrie 1986, 80f.) bzw. dieser Zusammenhang von den Rezipienten konstruiert wird (vgl. Günther 1999, 6). Festgehalten an dieser Stelle sei, dass die logische (oder grundlegende abstrakte) Struktur einer Konditionalkonstruktion folgendermaßen beschrieben werden kann: wenn p, dann q; oder hier vereinfacht p → q, wobei p als die Voraussetzung oder die Bedingung für das Zutreffen oder Eintreten von q ist. Die Bestimmung zweier Bestandteile einer Konditionalkonstruktion (p und q) umfasst aber noch nicht deren gesamte Bedeutung. Was in einer Konditionalkonstruktion relevant ist, ist die Beziehung bzw. die Relation zwischen Protasis und Apodosis, die das eigentlich „konditionale“ an einer Konditionalkonstruktion ausmacht. Dementsprechend ist die relationale Bedeutung, die konditionale Beziehung zwischen p und q, die in einer Konditionalkonstruktion vermittelt wird, ein wichtiger Aspekt in der Bedeutungsbeschreibung solcher Konstruktionen. Es wird oft darauf hingewiesen, dass in prototypischen Konditionalkonstruktionen (if p, q; wenn p, [dann] q) nicht die Propositionen (p und q) selbst, sondern die Relation, in der diese Propositionen zueinander stehen, assertiert wird: That is, a sentence such as If it gets colder, we’ll turn the heating on, … does not in any way commit the speaker to the belief that it will get colder or that the heating will be turned on. It does, however, communicate the belief that the change in temperature will result in turning the heating on. In other words, what is asserted is the causal connection between p and q, not the clauses themselves. (Dancygier 1998, 14)
Es werden also nicht die Protasis und die Apodosis einer Konditionalkonstruktion behauptet, sondern ihr Zusammenhang. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass ein (konditionales) Verhältnis zwischen Bedingung und Folge besteht. Das Bestehen dieses Zusammenhanges, dieser Relation kann hinterfragt, abgestritten, bezweifelt, bestätigt usw. werden. Wenn also der Satz (12) Wenn das Wetter gut ist, gehen wir in den Park
Arten der konditionalen Verknüpfung
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mit Sätzen wie (13) Nein, das stimmt nicht oder (14)
Das bezweifle ich aber
bestritten bzw. in Zweifel gezogen wird, bezieht sich diese Ablehnung nicht auf das Bestehen oder das Wahr-Sein von Protasis und Apodosis selbst. Bestritten bzw. bezweifelt wird die assertierte Beziehung zwischen Protasis und Apodosis. Die Negation kann also entweder als ‚Nein, das gute Wetter ist kein Grund dafür, dass wir in den Park gehen’ oder als ‚Nein, selbst wenn das Wetter gut ist, gehen wir nicht in den Park’ interpretiert werden, wobei das Bestehen einer Beziehung zwischen p und q hinterfragt und negiert wird, also die konditionale Relation selbst (the connection between p and q). Für eine Konditionalkonstruktion gilt also nicht nur, dass sie nach dem zweigliedrigen Schema wenn p, dann q; oder vereinfacht p → q aufgebaut wird, wobei p die Voraussetzung oder Bedingung für das Zutreffen oder Eintreten von q ist. Es gilt vor allem, dass es die Relation zwischen p und q ist („→“), die das entscheidende Element einer Konditionalkonstruktion ist, das die Verknüpfung zwischen den Elementen p und q zu einem konditionalen Verhältnis macht. Im nächsten Abschnitt wird die Betrachtung eben dieses relationalen Elementes (oder Relators) einer Konditionalkonstruktion im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.
7.3. Arten der konditionalen Verknüpfung Bei der Beschreibung von Konditionalkonstruktionen ist es von Relevanz, nach der Art der Verknüpfung zwischen Protasis und Apodosis zu fragen. Sweetser (1990) hat sich mit diesem Phänomen intensiv beschäftigt und zum ersten Mal in der Forschung zwischen inhaltlicher Verknüpfung (content conditionals), epistemischer Verknüpfung (epistemic conditionals) und illokutiver Verknüpfung (speech-act conditionals) differenziert. Inzwischen sind weitere Klassifizierungsversuche unternommen worden, die im Wesentlichen nur Weiterdifferenzierungen der schon von Sweetser (1990) getroffenen Grundunterscheidungen darstellen (vgl. z.B. Pittner 2000, Bryant/ Mok 2003, Günther 1999). Für die anschließende Betrachtung der Leistung von würde + Infinitiv in deutschen Konditionalkonstruktionen werde ich mich auf die Basisunterscheidungen von Sweetser (1990) stützen.
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
7.3.1. Inhaltliche Verknüpfung Die inhaltliche Verknüpfung stellt den Standardfall einer konditionalen Beziehung dar. In diesem Fall wird eine Verbindung zwischen außersprachlichen Situationen hergestellt, d.h. die Menge der durch den Nebensatz (Protasis) ausgedrückten Situationen hat Einfluss auf die durch den Hauptsatz (Apodosis) ausgedrückte Situation (vgl. König 1994, 93 für konzessive Konditionalsätze). Die Sätze sind somit semantisch kausal verbunden: die Protasis wird inhaltlich als Grund für die Apodosis als Folge angesehen. [...] in natural language, where conditionals require a stronger link between protasis and apodosis. In most instanses this link is causal, i.e. the content of the protasis must be interpretable as a cause of the content of the apodosis. […] The causal relation is from the protasis as cause to the apodosis as effect. (Comrie 1986, 80 f.)
So ist zum Beispiel im Satz (15) If Mary doesn’t go, John won’t either das „Nicht-Gehen“ von Mary der Grund für dasselbe Verhalten von John (vgl. Sweetser 1996, 326 f.). Um ein Beispiel aus dem Deutschen zu bringen: (16) Wenn morgen die Sonne scheint, reisen wir ab. (17)
Wenn das Wetter schön wäre, würden wir spazieren gehen.
Das morgige Abreisen in (16) wird davon abhängig gemacht, ob die Sonne scheint, und diese Relation wird durch den Satz zum Ausdruck gebracht. In (17) bestimmt die Wetterlage, ob ein Spaziergang gemacht wird oder nicht, das schlechte Wetter (Protasis) ist der tatsächliche Grund für das Nicht-Spazierengehen (Apodosis). Konditionalkonstruktionen unterscheiden sich dennoch von Kausalkonstruktionen insofern, als in Kausalkonstruktionen beide Propositionen assertiert werden, was für Konditionalkonstruktionen nicht zutrifft, vgl.: (18) Da (weil) heute die Sonne scheint, reisen wir ab. Dieser Satz bringt nicht nur die kausale Relation zwischen zwei Propositionen (die Sonne scheint [Grund] > wir reisen ab [Folge]) zum Ausdruck. Die beiden Propositionen werden auch (unabhängig voneinander) behauptet, sie werden beide vom Sprecher als wahr oder faktisch eingeschätzt. Dagegen sagt der Satz (19) Wenn (heute) die Sonne scheint, reisen wir ab.
Arten der konditionalen Verknüpfung
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nichts über den Wahrheitswert oder über das Tatsache-Sein des propositionalen Gehalts der Protasis sowie der Apodosis aus, es wird lediglich die konditionale Relation zwischen zwei Sachverhalten assertiert. 7.3.2. Epistemische Verknüpfung Im Fall der epistemischen Verknüpfung in einer Konditionalkonstruktion (epistemic conditionals) werden Elemente des Wissens, d.h. Prämissen und Schlüsse, miteinander in Beziehung gesetzt: die Protasis ist die Prämisse und die Apodosis die Schlussfolgerung. Dies bedeutet ferner, dass das mit der Situation (im Bedingungssatz) verbundene Wissen von Belang für den im Hauptsatz ausgedrückten Schluss ist. Es handelt sich im Unterschied zum Standardfall (inhaltliche Verknüpfung) „nicht um den Einfluss von Situationen auf andere Situationen, sondern um die Relevanz von Wissen und Tatsachen auf bestimmte Urteile und Folgerungen“ (König 1994, 93) [Hervorhebung E.S.]. Für Konditionalkonstruktionen mit epistemischer Verknüpfung gilt, dass sie keine Aussage über die temporale Aufeinanderfolge von zwei beschriebenen Situationen/ Sachverhalten machen, was hingegen bei der inhaltlichen Verknüpfung meist der Fall ist. Es besteht keinerlei zeitliche Folgebeziehung zwischen Antezedens und Konsequenz: P and q follows a reasoning pattern, which often manifests as a reverse-causal relationship. Since reasoning can go forward or backward in time, there is no tense restriction on either clause. (Bryant/ Mok 2003, 1)
Ein wichtiges Merkmal der epistemischen konditionalen Verknüpfung ist, dass die Protasis und die Apodosis miteinander ausgetauscht werden können, ohne dass die Bedeutung der gesamten Konstruktion sich dabei wesentlich ändert: (20) Wenn Paul um 8 Uhr abgereist ist, kommt er um 11 Uhr an. (20’)
Wenn Paul um 11 Uhr ankommt, (dann) ist er um 8 Uhr abgereist.
Die Austauschbarkeit von Protasis und Apodosis ist möglich, weil es sich nicht um eine konditionale Folgebeziehung zwischen zwei Situationen/ Sachverhalten handelt, sondern um eine konditionale Beziehung, die auf epistemischer Basis hergestellt wird. Hierbei werden bestimmte real (oder auch potential, irreal) bestehende Tatsachen und Kenntnisse über diese Tatsachen als Prämissen mit bestimmten Schlüssen in eine Folgebeziehung gesetzt.
200
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
Die epistemische konditionale Verknüpfung bezieht sich also nicht unmittelbar auf den Inhalt von Protasis und Apodosis, sondern deutet vielmehr auf einen Schlussfolgerungsprozess von Seiten des Sprechers hin, infolgedessen zwei Propositionen miteinander verbunden werden. In diesem Fall wird oft von einer inferentiellen Relation (inferential relation) gesprochen (vgl. Dancygier 1993, 1998), sofern q aus p geschlussfolgert wird („q is inferred from p“).1 „The relation holds between third order entities (assumptions), not between states of affairs, and can also be referred to as a third order relation“ (Dancygier 1998, 87). Mit anderen Worten, das Wissen über p tritt als eine hinreichende Bedingung für den Schluss auf q auf. Dancygier (1998) stellt am Beispiel englischer epistemischer Konditionalkonstruktionen fest, dass diese bestimmte Affinitäten zu anderen Konstruktionen aufweisen, die zu ihrer Paraphrasierung dienlich gemacht werden können: The epistemic status of assumptions expressed in the main clauses of epistemic constructions may be revealed in the fact that they are often closely equivalent to rephrasings with the epistemic modal must, as in If Mary is late, she must have gone to the dentist, If Ann is wearing a wedding ring, she and Bob must have finally got married, If they left at nine, they must have arrived home by now. The epistemic character of the link between the if-clause and the main clause is also revealed in the possibility of replacing simple then with the phrase then it means that, as in If Mary is late, (then) it means she went to the dentist, If Ann is wearing a wedding ring (then) it means she and Bob finally got married, and If they left at nine, (then) it means they have arrived home by now. (Dancygier 1998, 88)
An dieser Stelle sei dies ohne Weiteres festgehalten, im Folgenden werden diese Paraphrasierungsmöglichkeiten anhand der deutschen Konstruktion würde + Infinitiv näher erläutert und beschrieben (s. Kap.7.6.2.). 7.3.3. Illokutive (pragmatische) Verknüpfung Die dritte Art der konditionalen Verknüpfung – die illokutive Verknüpfung (speech-act conditionals) –, zeichnet sich dadurch aus, dass hier die in der Protasis formulierten Bedingungen Einfluss auf den Vollzug des mit der Apodosis realisierten illokutiven Aktes haben. Sweetser (1990, 121) schlägt folgende Paraphrase für solche Konstruktionen vor: „If (protasis), then let us consider that I perform this speech act (i.e. the one represented as the apodosis)”.
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Um ein Beispiel zu bringen: “If they arrived at 11.00, they had left at 9.00 can be glossed as ‘I infer q from p’, while if they leave at 9.00, they’ll arrive at 11.00 is interpreted as ‘P will cause q’”.(Dancygier 1998, 92)
Die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion
(21)
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If you need any help, my name is Ann.
Die Protasis ist die (relevante) Bedingung für die Ausführung des mit der Apodosis vollzogenen Sprechaktes. Protasis und Apodosis werden nicht auf inhaltlicher Ebene miteinander in Beziehung gesetzt. Der Inhalt der Protasis ist völlig unabhängig vom Inhalt der Apodosis. Die Verknüpfung der beiden Teile einer illokutiven Konditionalkonstruktion erfolgt also nicht auf der inhaltlichen (referentiellen) Ebene. Der Sprecher vollzieht (mit dem Aussprechen der Apodosis) einen Sprechakt und macht ihn zugleich von einer Bedingung abhängig, die er mit der Protasis formuliert. Pittner (1999, 2000) nennt solche sprechaktbezogene Strukturen pragmatische Konditionalsätze und definiert sie dadurch, dass sich der konditionale Nebensatz nicht auf die Proposition, sondern auf die Äußerung selbst bezieht, vgl.: (22) Wenn du mich brauchst, ich bin den ganzen Tag zu Hause. Die sprechaktbezogenen Konditionalsätze haben stets eine subsidiäre, unterstützende Funktion. Sie helfen auf verschiedene Weisen, das Gelingen der Sprechhandlung sicherzustellen. Syntaktisch spiegelt sich das in ihrer meist eher lockerer Anbindung an den ‚Matrixsatz’ und der Unmöglichkeit, sie durch ein kataphorisches Korrelat dann zu integrieren und damit zu fokussieren (Pittner 2000, 8).
Anhand der oben beschriebenen Unterteilung von Konditionalkonstruktionen nach der Art der Verknüpfung zwischen Protasis und Apodosis werden im Weiteren deutsche Konditionalkonstruktionen und darüber hinaus mit ihnen verwandte Strukturen mit würde + Infinitiv untersucht. Das Hauptanliegen dabei ist, die Rolle von würde + Infinitiv in auf unterschiedliche Weise verknüpften Konditionalkonstruktionen zu analysieren. Neben Konditionalsätzen werden auch mit ihnen vergleichbare Strukturen näherer Betrachtung unterzogen. Indikativische Konditionalsätze bleiben in dieser Untersuchung unbeachtet. Ein besonderer Wert wird auf die konkrete Realisierung des in Kap.6.4. erarbeiteten relationalen Bedeutungsschema (Schema 6-3) der Konstruktion würde + Infinitiv unter Berücksichtigung relevanter kontextueller Faktoren gelegt.
7.4. Die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion Auf der Grundlage einschlägiger Arbeiten (Comrie 1986, Sweetser 1990, König 1994, Dancygier 1993, 1998 u.a.) lässt sich die relationale Struktur einer (konjunktivischen sowie indikativischen) Konditionalkonstruktion
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
mittels der für diese Arbeit gewählten Konzeption des relationalen semantischen Basisschemas folgendermaßen darstellen2: A → Protasis, p →
R → Z konditionale Verknüpfung → Apodosis, q (impliziert auch die Art der Verknüpfung)
Relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion
Diese relationale Struktur ist ein abstraktes Schema, das eine gerichtete Relation grafisch darstellt, die in jeder Konditionalkonstruktion zum Ausdruck gebracht wird. Die gerichtete konditionale Relation (= Relator R) geht von dem Ausgangspunkt (Protasis, Antezedens) aus und „führt“ (sei es inhaltlich, epistemisch oder illokutiv) zum Zielpunkt (Apodosis, Konsequenz) hin. Die jeweilige Interpretation dieser konditionalen Relation als inhaltlich, epistemisch oder illokutiv gehört nicht in das Basiskonzept, in das abstrakte relationale Basisschema einer Konditionalkonstruktion, sondern stellt weitere auf dieser Basisstruktur aufbauende Interpretationen der konditionalen Relation in konkreten Kontexten dar. Im Falle der inhaltlichen Verknüpfung sind die Positionen „Ausgangspunkt“ und „Ziel“ mit Situationen bzw. Sachverhalten (= Propositionen) besetzt. Bei der epistemischen Verknüpfung werden diese Situationen oder Tatsachen um ein dazugehörendes Wissen über diese Situationen expandiert (= Prämissen und Schlüsse). Im Falle der illokutiven Verknüp-
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Es wird hier die Tradition der sogenannten Konstruktionsgrammatik (construction grammar) verfolgt, einer linguistischen Richtung, die den Begriff der „Konstruktionsbedeutung“ eingeführt hat und dementsprechend für jede Konstruktion eine Bedeutung annimmt und diese Bedeutung analysiert. „What is perhaps unique about construction grammar is (1) that it aims at describing the grammar of a language directly in terms of a collection of grammatical constructions each of which represents a pairing of a syntactic pattern with a meaning structure, and (2) that it gives serious attention to the structure of complex grammatical patterns instead of limiting its attention to the most simple and universal structures.” (Fillmore 1987, 3f.) Die in der Sprache etablierten Konstruktionen (in unserem Fall Konditionalkonstruktionen) werden insofern als sprachliche Einheiten erfasst und nicht als komplexe syntaktischen Strukturen, deren Bedeutung sich aus der voneinander unabhängigen Bedeutungen/Funktionen ihrer Teile zusammensetzt und deswegen sich in diese einzelne Bedeutungskomponenten zerlegen lässt. Der Konstruktion als einer Einheit wird dementsprechend eine Bedeutung (Funktion) zugeschrieben, die sich „Konstruktionsbedeutung“ nennt. Von der Annahme ausgehend, dass für eine Konstruktion eine Bedeutung (mit möglichen weiteren Interpretationen) identifiziert werden kann, erweist es sich folglich als möglich, für eine Konstruktion ein ihr zugrunde liegendes relationales semantisches Basisschema zu rekonstruieren, das vergleichbar mit dem Schema einer lexikalischen Einheit (z.B. eines Verbs) ist.
Die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion
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fung werden in der Protasis Gründe oder Voraussetzungen genannt, die für den in der Apodosis ausgeführten Sprechakt relevant sind. Die Position des Relators ist im relationalen Schema einer Konditionalkonstruktion mit der (inhaltlichen, epistemischen, illokutiven) Relation zwischen p und q besetzt. Diese kann im Text auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden (z.B. als konjunktionale Verknüpfung wenn...dann, if...then, syntaktische Unterordnung Hauptsatz vs. Nebensatz oder bestimmte Tempuswahl (z.B. engl. If present tense, then future tense)). Die Annahme einer gerichteten Relation zwischen zwei Elementen einer Konditionalkonstruktion, ist hier erforderlich, da ohne sie die konditionale Beziehung zwischen zwei Elementen sonst ihren Sinn verlöre: eine bloße Gegenüberstellung oder Aufeinanderfolge von zwei Propositionen würde noch nicht bedeuten, dass sie in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. Der Relator, wenn auch ganz abstrakt als eine logisch konstruierte Beziehung (in diesem Fall eine konditionale Beziehung) zwischen zwei Propositionen verstanden, gehört notwendigerweise zum vollständigen semantischen Schema einer Konditionalkonstruktion. Und noch mehr: diese Beziehung, diese Relation, ist dasjenige Element der Konstruktion, das immer assertiert wird (s. o.). Der Relator oder, anders gesagt, die konditionale Relation zwischen Protasis und Apodosis, die weniger auf der Textebene (grafisch, syntaktisch u.ä.), als vielmehr pragmatisch konstituiert wird und lediglich durch das Verarbeiten (Formulieren und Verstehen) des sprachlichen Ausdrucks durch die Kommunikationspartizipanten als inhaltlich, epistemisch oder illokutiv gedeutet werden kann, hat dementsprechend (ähnlich wie das evidentielle werden als Relator, vgl. Kap.5.3.) zwei Funktionen: i) der Relator zeigt an, dass zwei Propositionen in einer konditionalen Beziehung zueinander stehen (was auf der Textebene meist durch die Nebensatzkonstruktion mit der einleitenden konditionalen Konjunktion wenn manifestiert wird). Dabei ist die Protasis, so unterschiedlich sie auch interpretiert und durch zusätzliche, im Text nicht genannte Komponenten (Faktoren), expandiert werden kann, der Ausgangspunkt. Die Apodosis ist der Zielpunkt, und dieser ist für die gesamte Konstruktion inhaltlich gewichtiger als der Ausgangspunkt (vgl. die ähnliche Situation in der relationalen Struktur von werden in Kap.5.2.): Protasis (wenn p)→Relator (p führt zu)→Apodosis q [+der Fall sein]
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
Vorausgesetzt wird, dass die Situation, die in der Protasis beschrieben wird, für die aktuelle Situation/ die faktische Welt nicht gilt, sondern als Bedingung für die Apodosis mit der Eigenschaft [+ der Fall sein] fungiert. Somit kann dem Zielpunkt oder der Apodosis einer Konditionalkonstruktion ein positiver Wert (Geltung) zugeschrieben werden, der allerdings von der Annahme einer Bedingung (Protasis) abhängig ist. Dieser Wert unterscheidet den Ausgangspunkt vom Zielpunkt im relationalen Schema: obwohl die Propositionen keine assertorische Kraft besitzen, hat die Apodosis einen höheren Geltungsanspruch in demjenigen Raum (vgl. dazu die Erkenntnisse der ‚mental space’-Theorie: Fauconnier 1985, 1994; Sweetser/ Fauconnier 1996; Dancygier 1993, 1998), der durch die Protasis gebildet wird, und hat somit einen gewichtigeren inhaltlichen (oder auch Informations-) Status als die Protasis 3; ii) ferner meint die konditionale Relation (zumindest potentiell), dass für die Interpretation der gesamten Konstruktion nicht nur die in der Protasis genannten Umstände (als Gründe oder Prämissen aufgefasst) von Belang sind, sondern auch damit zusammenhängende außersprachliche Komponenten: das sind z.B. zusätzliche Informationen, allgemeines oder situationsbezogenes Wissen, ggf. sprecherspezifische Faktoren. Sie sind in der Position ‚Ausgangspunkt’ implizit vorhanden. Dies kann (wie wir später sehen werden, gilt das insbesondere für die Periphrase würde + Infinitiv) dazu führen, dass die Bedingung (Antezedens) einer Konditionalkonstruktion im Sprachgebrauch nicht explizit ausgeführt werden muss. Vollständig ausgeführte Konditionalgefüge mit einer im Nebensatz ausgeführten Bedingung sind seltener als Konditionalkonstruktionen, in welchen die textuelle Nennung der Bedin-
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Laut ‚mental space’-Theorie dient die Protasis der Bildung eines mentalen Raums (spacebuilder), der sich von der aktuellen, „realen“ Situation unterscheidet. Und die Apodosis formuliert einen weiteren Zustand in diesem mentalen Raum, der seinen Ausgang von der Protasis nimmt. “Conditions, often preceding the conclusion in conditional statement, set up or locate the space in which the conclusion is to be placed, regardless of whether the entire conditional statement is a content-level conditional (predictive or generic), epistemic conditional, or speech-act conditional.” (Bryant/ Mok 2003, 3). “The if-clause sets up a situation and marks it as remote, or distant from the ego-point… The apodosis is clearly the function-advancing element. If, for example, we think of the protasis as stating the initial state of some (hypothetical) situation, then the apodosis is the circumstance (event, process, state) which takes the initial state on to a further point or conclusion.” (Werth 1997, 262)
Die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion
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gung durch Adverbiale bzw. propositionale Proformen (das, dies, es) erfolgt (vgl. Jäger 1971). Das lineare Schema, das die textuelle Aufeinanderfolge zweier Propositionen wiedergibt, sieht folgendermaßen (unter Berücksichtigung außersprachlichen Faktoren) aus: Antezedens (= Protasis: explizit genannt oder impliziert)
R konditionale Relation
→ Z Konsequenz (= Apodosis)
Schema 7-1. Relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion
Zusammenfassend lässt sich formulieren: Die als Ausgangspunkt fungierende Proposition (Protasis) ist der Startpunkt der durch die gesamte Konstruktion vermittelte Relation. Das Ziel, die Apodosis, ist die mit der Protasis verknüpfte und von dieser abhängende (oder von dieser abgeleitete) Folge. Die Einheit dieser drei Elemente (A, R, Z) ergibt eine Konditionalkonstruktion. Die relationale Struktur (Schema 7-1) weist eine unverkennbare Ähnlichkeit zu der relationalen Schablone der Konstruktion werden + Infinitiv (Schema 5-1 in Kap.5.3.) auf. Die naheliegende Vermutung ist, dass Konditionalkonstruktionen und verwandte Strukturen als mögliche Verwendungskontexte für diese Fügung geradezu prädestiniert sind. Diese Annahme wird im Weiteren in Bezug auf die Konstruktion würde + Infinitiv anhand des vorliegenden Datenmaterials überprüft. Wenn man sich allerdings die relationale Struktur des Konjunktivs II (vgl. Kap.6.4.) anschaut, fällt auf, dass sie dem relationalen Schema einer Konditionalkonstruktion auch sehr ähnlich sieht. Der Ausgangspunkt der eingebetteten gerichteten Relation in der relationalen Struktur des Konjunktivs II ist eine Bedingung (!), deren Nichterfüllt-Sein als Grund für die Zuweisung des nichtfaktischen modaldeiktischen Wertes dem dargestellten Sachverhalt aufgefasst wird:
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
nichterfüllte Bedingung [- nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
[+ nichtfaktisch] Proposition
Schema 6-1. Relationale Struktur des Konjunktivs II
Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Interpretationsmöglichkeit (hier: konditionales Verhältnis innerhalb der Konditionalkonstruktionen), angewendet auf eine grammatische Kategorie, die Basis für die Bestimmung der zugrunde liegenden kategorialen Bedeutung liefert, selbst wenn das Bedeutungsspektrum dieser grammatischen Kategorie weitaus mehr differenziertere Varianten und kontextspezifische Interpretationen mit einschließt. Beim Konjunktiv II geht es aber um eine deiktisch determinierte grammatische Moduskategorie, die die Annahme einer übergeordneten Relation erfordert. Das ist eine gerichtete Relation, die von der Origo ihren Ausgang nimmt und zum Ausdruck bringt, dass der Zusammenhang zwischen der nichterfüllten Bedingung und dem Faktizitätswert der Proposition vom Sprecher hergestellt, also von der Sprecherperspektive aus gesetzt wird. Die übergeordnete Relation, die den Wert [- nichtfaktisch] trägt, betrifft das aus der Sprecherperspektive reale Bestehen der Relation zwischen der nichterfüllten Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition (vgl. Diewald 1999, 187). Der Sprecher assertiert, ähnlich wie im Falle einer typischen Konditionalkonstruktion, diesen Zusammenhang, und wenn eine Aussage im Konjunktiv II hinterfragt, abgestritten, bestätigt usw. wird, dann bezieht sich das nicht auf die Faktizitätsbewertung der Proposition, sondern auf die Behauptung des Sprechers, dass eine faktische Beziehung zwischen einer Quelle und dem Faktizitätswert der Proposition besteht. Wenn also der Satz (23) Sie wäre in ihrem Zimmer mit dem Satz
Kurze Zwischenbilanz
(24)
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Nein, das stimmt nicht!
bestritten wird, dann bezieht sich diese Ablehnung auf die Behauptung des Sprechers, dass eine faktische Beziehung zwischen einer Quelle (nämlich der nichterfüllten Bedingung) und dem Faktizitätswert der Proposition besteht. Die Negation bedeutet also: ‚Nein, es ist nicht wahr, dass es eine Bedingung gibt, die den Faktizitätsgrad der Proposition beeinflusst’ (Diewald 1999, 187; vgl. auch Kasper 1987a, b). Die relationale Struktur des Konjunktivs II basiert also auf einem konditionalen Zusammenhang zwischen nichterfüllter Bedingung und dem dargestellten Sachverhalt, der vom Sprecher erkannt und assertiert wird und zugleich vom Sprecher als ein Grund dafür angesehen wird, der gesamten Proposition einen nichtfaktischen Wert zuzuweisen. Das Vorhandensein einer nichterfüllten Bedingung, die im Text genannt wird oder implizit „mitgedacht“ wird, wird vom Sprecher als Origo durch die Verwendung des Konjunktivs II kodiert.
7.5. Kurze Zwischenbilanz Um eine möglichst umfassende Beschreibung der semantisch-funktionalen Leistung der Periphrase zu erzielen, werden alle Konditionalkonstruktionen mit würde + Infinitiv aus dem analysierten Korpus in Betracht gezogen, gleich ob sie eine explizit ausgeführte Bedingung enthalten oder nur auf das Vorhandensein einer Bedingung in irgendeiner Art und Weise verweisen. Im Mittepunkt der Untersuchung steht die Frage, inwiefern unterschiedliche Arten der konditionalen Verknüpfung (vgl. Kap.7.3.) und damit zusammenhängende relevante kontextuelle Besonderheiten auf verschiedene Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv Einfluss ausüben. Die im Laufe der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse werden ferner angewendet, um die jeweiligen Interpretationen (Lesarten) von würde + Infinitiv durch die relationale Bedeutungsschablone der Fügung würde + Infinitiv (Schema 6-3) zu erklären und daraus abzuleiten. Vorab sei noch eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte gegeben. Für die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion (Kap.7.4.) wurde angenommen, dass im Standardfall die Positionen „Ausgangspunkt“ und „Ziel“ mit Propositionen besetzt sind, die als Antezedens und Konsequenz für eine konditionale Relation fungieren und dementsprechend als Grund (Bedingung) und Folge interpretiert werden. Die Propositionen selbst werden mit der Konstruktion meist nicht assertiert, sondern lediglich ihr konditionaler Zusammenhang. Zu beachten ist aller-
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
dings, dass der informative Wert4 der Apodosis höher einzustufen ist als derjenige der Protasis. Dies kann in konkreten sprachlichen Realisierungen z.B. zur Folge haben, dass die Protasis nicht immer in Form eines vollständigen Satzes ausgeführt wird und entweder in „verkürzter Fassung“ auftritt (Adverbiale, propositionale Proformen etc.) oder gar nicht explizit genannt wird. Die Bedingung (Protasis) wird somit nicht immer obligatorisch ausgeführt, sondern kann rekonstruiert werden. Dagegen wird die Apodosis als derjenige Bestandteil einer Konditionalkonstruktion, der eine neue, relevante Information vermittelt, immer explizit ausgeführt. Wie oben festgestellt (Kap.7.4.), zeigt die relationale Struktur einer Konditionalkonstruktion auffällige Affinitäten zu der relationalen Basisstruktur der Konstruktion werden + Infinitiv (vg. Kap.5.3.). Die Positionen „Ausgangspunkt“ und „Ziel“ werden in den auxiliaren Verwendungen von werden zwar nicht mit Propositionen besetzt wie im Falle einer Konditionalkonstruktion, sie stehen aber in einem ähnlichen Verhältnis zueinander: der Ausgangspunkt kodiert den Anfang einer Entwicklung bzw. Veränderung, deren Folge als Ziel wiedergegeben wird, d.h. sie bilden Anfangs- und Endpunkt einer (materiell sowie logisch interpretierbaren) Folgebeziehung. Und diese Folgerelation ist dasjenige Element in der Struktur der evidentiellen Verwendungen von werden, welches als eine sekundäre Prädikation aufgefasst wird, also als eine Assertion: es wird mit werden das Bestehen einer Folgerelation zwischen Ausgangspunkt und Ziel behauptet, das vom Sprecher entweder wirklich wahrgenommen oder epistemisch rekonstruiert wird. Die potentiell besetzbare Position des Ausgangspunktes ist ebenfalls weniger auf den expliziten sprachlichen Ausdruck angewiesen, während das Ziel als Träger neuen Informationsgehalts stets expliziter Nennung bedarf. Es wurde ferner festgestellt, dass die konditionale Relation bzw. der konditionale Zusammenhang zwischen Protasis und Apodosis bei der semantischen Beschreibung des verbalen Modus Konjunktiv II nützlich gemacht wird. Der Zusammenhang zwischen nichterfüllter Bedingung und der Nichtfaktizität der Proposition ist ein konditionales Verhältnis.5 Diese konditionale Relation wird beim Konjunktiv II als ein sehr abstrak-
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Es wäre natürlich interessant, die Konditionalkonstruktionen und ihre unterschiedlichen sprachlichen Realisierungen aus der Perspektive der Informationsstruktur zu untersuchen (vgl. z.B. Reis 1993, Lambrecht 1994 u.a.). Da die vorliegende Arbeit aber theoretisch und methodologisch anders ausgerichtet ist, müssen diese Fragestellungen außerhalb der unternommenen Analyse bleiben. Der dem Konjunktiv II zugrunde liegende konditionale Zusammenhang zwischen nichterfüllter Bedingung und dem Faktizitätswert der Proposition (Kasper 1987a, b; Diewald 1999) kann die verbreitete Meinung verursacht haben, dass jeder Deklarativsatz im Konjunktiv II eine Art „gekappter“ Konditionalkonstruktion darstellt (vgl. Jäger 1971, Flämig 1962 u.a.).
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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tes Merkmal interpretiert. Die Loslösung der Position „Ausgangspunkt“ vom expliziten sprachlichen Ausdruck, die damit einhergehende Ausweitung dieser Position auf die außersprachliche Kommunikationsebene, sowie die Interpretation des Bestehens eines konditional fundierten Zusammenhanges als Grund für die Zuweisung eines bestimmten Faktizitätsgrades an die gesamte Proposition durch den Sprecher, erreichen beim Konjunktiv II als einem grammatischen Zeichen die höchste Stufe der Abstraktion. Die im Text verankerte Relation ist beim Konjunktiv II nicht obligatorisch an einen bestimmten sprachlichen Ausdruck gebunden. Was bleibt, ist der vom Sprecher als Origo assertierte konditionale Zusammenhang zwischen nicht weiter spezifizierten, konstruierbaren, sprachlich formulierbaren nichterfüllten Bedingungen und dem negativen Faktizitätswert des dargestellten Sachverhalts. Für die Paraphrase würde + Infinitiv sind diese Beobachtungen insofern von Belang, als sie die beiden oben angesprochenen Elemente in sich vereint: die Konstruktion werden + Infinitiv und die Konjunktivflexion. Auffallend ist auch, dass die Periphrase würde + Infinitiv in (konjunktivischen) Konditionalkonstruktionen besonders häufig auftritt, und dieses Auftreten aus den Ähnlichkeiten zwischen den relationalen Strukturen von i) werden + Infinitiv, ii) Konjunktiv II und iii) der Konditionalkonstruktion selbst zu resultieren scheint. Das Ziel der anschließenden Untersuchung ist daher, anhand der Konditionalkonstruktionen mit würde + Infinitiv im untersuchten Korpus genauer zu schauen, inwiefern die Art der konditionalen Verknüpfung Auswirkungen auf die jeweilige Interpretation (Lesart) der Periphrase würde + Infinitiv ausübt.
7.6. Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen Die in Kap.6.4. erarbeitete relationale Grundstruktur der Konstruktion würde + Infinitiv, die allen Verwendungen dieser Fügung zugrunde gelegt werden kann, basiert auf der Annahme, dass die Gesamtbedeutung der Fügung sich kompositionell aus zwei Bedeutungskomponenten zusammensetzt. Die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv, deren relationale Struktur mit der relationalen Bedeutungsschablone des Konjunktivs II zusammengeführt wurde, bringt keinen modaldeiktischen Wert zum Ausdruck. Sie stellt eine sekundäre Prädikation dar, die zusätzliche Informationen zum propositionalen Gehalt der Aussage hinzufügt und zusammen mit der Proposition selbst eine gesamte Sachverhaltsdarstellung bildet. Das Auxiliar werden denotiert in diesem Fall keinen deiktischen Wert. Bei
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
werden + Infinitiv geht es also darum, dass eine Verbindung zwischen außersprachlichen Fakten (die als Evidenzen gelten) und dem dargestellten Sachverhalt (Proposition) hergestellt wird, und vom Sprecher „als eine objektive Tatsache“ (Lyons [1977] 1983, 397) betrachtet wird. Werden verweist darauf, dass der Sprecher über Indizien, Informationen, Evidenzen für den im Satz dargestellten Sachverhalt verfügt. Eine (deiktische) Bewertung der Proposition hinsichtlich ihres Faktizitätsgrades wird vom Sprecher nicht unternommen (vgl. Kap.5.3.). Der Relator werden denotiert hier einen nichtdeiktischen Wert, der als ‚führt zu’ umschrieben werden kann, welcher als Merkmal ‚inferentiell’ [inferentiell evidentiell] im Vergleich zum in dieser Hinsicht unmarkierten Indikativ angesetzt wird.6 Das um die relationale Struktur von werden + Infinitiv erweiterte Schema des Konjunktivs II7 ergibt die relationale Bedeutungsschablone der
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Die inferentielle Bedeutung der Konstruktion werden + Infinitiv wird schon von Vater (1975) erwähnt, in Anlehnung an Calbert’s (1975) Terminologie hinsichtlich der Beschreibung verschiedener Modalitäten bei Modalverben. Der Terminus ‚inferentieller Gebrauch’ wird hier aber nur in Bezug auf Modalität verwendet – ‚inferentielle Modalität’ als einheitliche Bezeichnung für die Termini ‚subjektive Modalität’, ‚Ungewissheit’, ‚Wahrscheinlichkeit’, ‚Vermutung’ oder ‚Annahme’(Vater 1975, 141). Die ‚objektive Modalität’ wird in diesem Ansatz mit dem Etikett ‚nicht-inferentiell’ versehen. Innerhalb dieses ‚modal’ angelegten Rahmens wird die Konstruktion werden + Infinitiv als eine primär modale Fügung angesehen, die sowohl inferentiellen als auch nicht-inferentiellen Gebrauch aufweisen kann. ‚Inferentiell’ wird bei Vater (1975) m.E. zu weit aufgefasst: er meint mit ‚inferieren’ eine subjektive Einstellung des Sprechers gegenüber dem dargestellten Sachverhalt, nämlich, wenn „jemand etwas ‚inferiert’ = glaubt, für richtig hält“ (Vater 1975, 108). Der Begriff ‚inferentiell’ wird in dieser Arbeit anders verstanden (vgl. Kap.4). Damit wird der Prozess des Inferierens selbst, d.h. ein logischer Schlussfolgerungsprozess, der von bestimmten Prämissen (Ausgangspunkt: Evidenzen bei werden + Infinitiv, modale Quelle bei objektiv gebrauchten Modalverben) ausgeht und zu bestimmten Schlussfolgerungen oder Konsequenzen führt, die in der Sprache (im Text) in Form einer gesamten Proposition (werden bzw. objektiv gebrauchter Modalverb + Infinitivkomplement) realisiert werden. Dieser Prozess kann sowohl vom Sprecher selbst als auch von jeder anderen logisch denkenden Person verfolgt werden. Die sprecherspezifische Einstellung kann als Ergebnis eines solchen Schlussfolgerungsprozesses auftreten, gehört aber nicht mehr in den Bereich der Inferenz, so wie dieser Begriff in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Vgl. dazu auch Ausführungen von Öhlschläger (1989, 237f.) zur inferentiellen Bedeutung von müssen. Dass die Zusammensetzung beider Bedeutungskomponenten in einem Schema auf diese Weise geschah, d.h. dass die relationale Struktur des Konjunktivs II erweitert wurde durch die Einführung darin derjenigen von werden + Infinitiv und nicht umgekehrt, hat einen Grund: der Konjunktiv II ist ein Mitglied der grammatischen Moduskategorie und damit ein Satzoperator, also modifiziert er die ganze Aussage, die ggf. auch evidentielle Marker enthalten könnte, da diejenigen noch keinen deiktischen Status in der deutschen Sprache haben. Insofern war es wichtig, die übergeordnete Relation, die unmittelbar von der Origo hergestellt wird, „unberührt“ zu lassen. Das Konkurrenzverhältnis zwischen „nichterfüllten Bedingungen“ und „Informationsquelle“ konnte auf diese Weise dargestellt werden, da
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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Konstruktion würde + Infinitiv und sieht folgendermaßen aus (vgl. Kap.6.4.): Informationsquelle
nichterf. Bedingung [- nichtfaktisch] [+ nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
Proposition [inferentiell evidentiell] Schema 6-3. Relationale Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv
Es liegen also bei würde + Infinitiv drei gerichtete Relationen vor: i) eine deiktische, sprecherbasierte: Sie enkodiert eine vom Sprecher als Origo ausgehende Faktizitätsbewertung des gesamten Zusammenhangs zwischen der nichterfüllten Bedingung und dem Faktizitätswert der Proposition. Das ist die übergeordnete Relation; ii) eine phorische, textbasierte: Sie betrifft die Beziehung zwischen nichterfüllter Bedingung, die entweder im Text explizit genannt wird oder sprachlich formuliert werden kann (implizit), und der Sachverhaltsdarstellung. Sie ist in die deiktische Relation eingebettet; iii) eine nichtdeiktische, evidentielle (inferentielle): Sie denotiert die Beziehung zwischen außersprachlichen Fakten, Evidenzen (Informationsquelle) und der Proposition. Diese drei Relationen lassen sich allerdings in zwei grundlegende Bedeutungskomponenten unterteilen: die ersten zwei Relationen sind in der konjunktivischen Flexion der Konstruktion verankert und werden daher als „Konjunktiv II-Komponente“ oder „Konjunktiv II-Relation“ bezeichnet, die dritte verdankt sich der besonderen Leistung des Auxiliars werden und wird die „werden-Komponente“ oder die „werden-Relation“ genannt (vgl. Kap.6.4.).
_____________ diese Elemente sowohl für werden + Infinitiv als auch für den Konjuhnktiv II auf der „gleichen Ebene“ in ihrer Semantik angesiedelt zu sein scheinen.
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
Alle drei Relationen werden in konkreten Verwendungssituationen von würde + Infinitiv nicht immer realisiert8. Die Auswirkungen kontextueller und situativer Faktoren auf unterschiedliche Interpretationen oder Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv werden in den folgenden Abschnitten anhand der Konditionalkonstruktionen des Gegenwartsdeutschen eingehend betrachtet. 7.6.1. Würde + Infinitiv und inhaltliche konditionale Verknüpfung Die unten angeführten Belege können als Konditionalkonstruktionen mit inhaltlicher Verknüpfung aufgefasst werden. Es handelt sich um vollständig ausgeführte Konditionalsätze, wobei die Bedingung (Antezedens) im Nebensatz und die Folge (Konsequenz) im Hauptsatz zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Jäger 1971). Die in der Protasis geschilderte Situation ist insofern relevant, als sie das Eintreten oder das Bestehen des in der Apodosis dargestellten Sachverhalts beeinflusst. In unten angeführten Sätzen kann die Protasis als ‚nichterfüllte Bedingung’ verstanden werden, da sie selbst meist im Konjunktiv II formuliert ist. Diese Bedingung ist der Grund dafür, dem im Hauptsatz dargestellten Sachverhalt (im Sinne des Konjunktivs II als Faktizitätsmarker) einen entfernten modalen Faktizitätswert [+ nichtfaktisch] zuzuweisen. Es wird also dargestellt, was der Fall wäre, wenn die Bedingungen alle erfüllt wären. (25) Wenn der Arzt mit seiner ganzen Autorität dem Schwerkranken sagte, daß er sterben müsse, würde sein Lebenswille erlahmen. (Bamm, 54) (26)
Ich habe, wie Sommerwild es einmal ausdrückte, "ein waches und wahres Verhältnis zur körperlichen Schönheit", und habe gern hübsche Frauen um mich, wie meine Nachbarin, Frau Grebsel,
_____________ 8
Die Tatsache, dass nicht immer alle drei gerichteten Relationen, welche in der relationalen Basisstruktur von würde + Infinitiv präsent sind, im sprachlichen Gebrauch realisiert werden, könnte zu Schwierigkeiten, diese Konstruktion im verbalen Paradigma der deutschen Sprache eindeutig einzuordnen, geführt haben. So plädieren die einen (darunter die meisten Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache) für die völlige Synonymität der Konstruktion (= analytischer Konjunktiv) mit dem synthetischen Konjunktiv II, ohne nichtdeiktische Verwendungen dieser angemessen erklären zu können; andere dagegen betonen den nichtdeiktischen Gebrauch der Konstruktion und ordnen sie dem Modus Indikativ zu (Thieroff 1992, Fourquet 1969). Die Ursachen für solch unterschiedliche Klassifikationsversuche liegen in der Beschaffenheit der Fügung würde + Infinitiv selbst, nämlich in der Möglichkeit, eine von den im Schema notierten gerichteten Relationen zugunsten der anderen abzuschwächen, wenn nicht verschwinden zu lassen, was meist mit den kontextuellen Faktoren zusammenhängt.
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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aber ich spüre kein "fleischliches Verlangen" nach diesen Frauen, und die meisten Frauen sind darüber gekränkt, obwohl sie, wenn ich es spürte und zu stillen verlangte, sicher nach der Polizei rufen würden. (Böll, 222) (27)
Zeichnete man in etwa dem gleichen Größenverhältnis wie das Bild des elektromagnetischen Gesamtspektrums eine Linie der Temperatur vom absoluten Nullpunkt bis zu den höchsten im Kosmos vorkommenden Temperaturen von vielen Millionen Graden, so würde die auf dieser Linie eingetragene Strecke, innerhalb derer organisches Lebens überhaupt möglich ist, nur ein erst in vielfacher Vergrößerung überhaupt sichtbar werdender Strich sein. (Bamm, 181)
(28)
Ich werde nicht zugeben, daß die Schmerzen wieder kommen, stärker als je. Das sagt man so: wenn ich wüßte, daß ich Magenkrebs habe, dann würde ich mir eine Kugel in den Kopf schießen! (Frisch, 247)
Bei eingehender Betrachtung der Verbformen im Hauptsatz ergibt sich, dass würde + Infinitiv nur in (25) und (26) eine „echte“ Umschreibung uneindeutiger Konjunktiv II-Formen (erlahmte und riefen) darstellt und daher aus Deutlichkeitsgründen anstelle des synthetischen Konjunktivs II eingesetzt würde. Weitere Verben (sein, schießen) verfügen über eindeutige Konjunktiv II-Formen. Ein Großteil von Konditionalsätzen (vgl. Jäger 1971, 108 f.) erscheint ohne eine im Nebensatz ausgeführte Bedingung. Diese kann im Text wie in den folgenden Beispielen in Form selbständiger Sätze formuliert werden. Im eigentlichen Konditionalsatz wird sie durch Adverbien (dann, dabei) bzw. Proformen (es, das, dies, er) wieder aufgenommen: (29) Wenn ich hundert Töchter hätte, alle von einer Viper gebissen, dann ja! Dann würde ich nur drei bis zehn Töchter verlieren. (Frisch, 168) (30)
Soll der Arzt dem Patienten die Zusammenhänge auseinandersetzen? Er würde ihn nur an all den Zweifeln teilhaben lassen, welche die Wissenschaft selbst unerbittlich gegenüber ihren eigenen verwickelten Vorstellungen hat. (Bamm, 45)
(31)
Es wäre sicher nicht langweilig, die "Diagnostik des Nächsten" einmal zusammenzustellen. Man würde dabei erfahren, was von der Weisheit der alten Ärzte im Volk sich erhalten hat. Man
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
würde weiter dabei erfahren, was das Volk vom Wissen der modernen Medizin tatsächlich übernommen hat. (Bamm, 78)
(32)
Franzosen und Italiener wollen nur mitmachen, wenn Fokker oder Dasa sich an der verlustreichen Produktion ihrer TurbopropFlugzeuge beteiligen. Das allerdings würde die Verluste der Dasa (1993 knapp 700 Millionen Mark) nur noch höher treiben und damit Schrempps Image als weitsichtiger Stratege trüben. Der designierte Daimler-Chef hat vorgesorgt: Der bisherige DaimlerSprecher Matthias Kleinert soll als PR-Fachmann in den Stuttgarter Vorstand aufrücken. (Spiegel 36)
Die in (29) – (32) durch die würde-Form „umschriebenen“ Verben (verlieren, lassen, erfahren, treiben) verfügen selbst über eindeutige Konjunktiv IIFormen. Dennoch wird die Konstruktion würde + Infinitiv gewählt. Man kann allerdings bei allen oben angeführten Sätzen von rein konjunktivischen Aussagen sprechen, welche eine sprecherbasierte Faktizitätsbewertung zum Ausdruck bringen, also eine Proposition im Hinblick auf das Nichterfüllt-Sein bestimmter Bedingungen mit dem Wert [+ nichtfaktisch] auszeichnen. Die nicht im Nebensatz ausgeführte Bedingung kann auch durch lexikalische Ausdrücke eingeführt werden, die sich in Form eines Nebensatzes paraphrasieren lassen: (33) Jim machte sich keine Illusionen: ein einziger Fehler - eine Sekunde nur, in der es keine tödliche Bedrohung für sie gab -, und schon würden sie wie eine Meute reißender Wölfe über ihn herfallen. (Pegg, 24) (33’)
Wenn er einen einzigen Fehler beginge, würden sie wie eine Meute reißender Wölfe über ihn herfallen.
(34)
Die Einführung von Tests, das Unschädlichmachen von Erregern im Blut, die Aussonderung kontaminierter Spenden - was würde das alles kosten. (Spiegel 36)
(34’)
Würde man die Tests einführen, die Erreger im Blut unschädlich machen, kontaminierte Spenden aussondern, was würde das alles kosten.
(35)
"Eine vorzeitige Landung der Mannschaft", ahnte die Iswestija, "würde das gesamte Programm der russischen bemannten Raumfahrt annullieren." (Spiegel 36)
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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(35’)
Wenn die Mannschaft vorzeitig landete (landen würde), würde das das gesamte Programm der russischen bemannten Raumfahrt annullieren.
(36)
Ein sinkender Ölpreis würde ein solches Geschäft profitabel machen, was aber, wenn der Ölpreis steigt? (Spiegel 44)
(36’)
Sollte der Ölpreis sinken, wäre ein solches Geschäft profitabel.
Die Substitution der Konstruktion würde + Infinitiv durch eine synthetische Konjunktiv II-Form ist nicht in allen Belegen möglich, da dies zu uneindeutigen Interpretationen aufgrund des Zusammenfalls indikativischer und konjunktivischer Formen führen könnte. König (1994, 94) stellt in seiner Arbeit zu den konzessiven Konditionalsätzen mit Recht fest, dass „viele Eigenschaften, von denen oft fälschlich behauptet wurde, dass sie auf alle Konditionalsätze, oder alle Fälle eines bestimmten semantischen Adverbialsatzes zuträfen, nun den Tatsachen eher entsprechend auf einen bestimmten Adverbialsatztyp und einen Typ der Verknüpfung eingeschränkt werden können“. So gelten für bestimmte Typen konditionaler Verknüpfung bestimmte Restriktionen, die bei anderen Arten von Verknüpfung nicht relevant sind oder gar nicht zu bestehen scheinen. Kaufmann (1975, 21f.) erwähnt bspw. in seiner Arbeit zu konjunktivischen Bedingungsgefügen im Deutschen, dass die Konjunktion wenn sich nicht in allen Konditionalsätzen durch nur wenn oder erst wenn ersetzen lässt. M.E. ist solche Substitution nur für inhaltliche Konditionalkonstruktionen möglich, da vor allem durch erst wenn hervorgehoben wird, dass zwei Ereignisse/ Situationen miteinander in Verbindung gebracht werden, von denen das/ die erste die Ursache für das/ die zweite ist, vgl.: (25’) Wenn (erst wenn, nur wenn) der Arzt mit seiner ganzen Autorität dem Schwerkranken sagte, daß er sterben müsse, würde sein Lebenswille erlahmen. (29’)
Wenn (nur wenn, erst wenn) ich hundert Töchter hätte, alle von einer Viper gebissen, dann ja! Dann würde ich nur drei bis zehn Töchter verlieren.
(36’’)
(Nur, ?erst) (E)ein sinkender Ölpreis würde ein solches Geschäft profitabel machen, was aber, wenn der Ölpreis steigt?
Die konjunktivischen Konditionalkonstruktionen mit inhaltlicher Verknüpfung haben folgende Eigenschaften:
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
i)
sie basieren auf einem kausalen Schluss, d.h. auf einer faktisch bestehenden kausalen Relation zwischen Antezedens und Konsequenz 9; ii) sie implizieren auch eine zeitliche Aufeinanderfolge von zwei benachbarten Situationen, die in einer Konditionalkonstruktion als Bedingung und Folge auftreten.10 So kann der Satz (36) Ein sinkender Ölpreis würde ein solches Geschäft profitabel machen. unter Berücksichtigung dieser Kriterien wie folgt beschrieben werden: i) mit diesem Satz wird behauptet, dass eine kausale Beziehung zwischen den Propositionen [der Ölpreis sinkt] und [ein solches Geschäft ist profitabel] besteht, nämlich dass der sinkende Ölpreis Grund (cause) für die Profitabilität eines Geschäftes (effect) ist; ii) der Satz bringt ferner zum Ausdruck, dass die als Antezedens formulierte Situation zeitlich der als Konsequenz dargestellten Situation vorangeht, dabei ist der Zeitbezug der gesamten Aussage in der Zukunft zu verorten: sowohl die erste als auch die zweite Situation sind noch nicht eingetreten. Relevant ist hier aber die zeitliche Aufeinanderfolge der dargestellten Situationen, die aus dem kausalen Verhältnis der Propositionen zueinander abgeleitet werden kann. Die letzte Beobachtung ist für die vorliegende Untersuchung insofern von Belang, als dass die zeitliche Abfolge: „das Eintreten der im Antezedens
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„...the presence or absence of causality depends primarily on the type of conditional construction involved. Predictive conditionals, which mark a content connection between their clauses, will be most likely to receive causal or enablement interpretations, while nonpredictive constructions … are open to different types of relations between the Protasis and the apodosis”. (Dancygier 1998, 84) “In most instances (mit Ausnahme von epistemischen und illokutiven Konditionalkonstruktionen) this link [a stronger link between protasis and apodosis] is causal, i.e. the content of the protasis must be interpretable as a cause of the content of the apodosis”. (Comrie 1986, 80) „So gelten z.B. die für viele Sprachen beschriebenen Restriktionen bezüglich der consecutio temporum nur für den Fall der inhaltlichen Verknüpfung, wogegen für den Fall der epistemischen Verknüpfung keinerlei syntaktische Restriktionen dieser Art zu bestehen scheinen.“ (König 1994, 94) „In Konditionalkonstruktionen wird somit ein Ereignis als ‚kontingent’ in Bezug auf ein anderes Ereignis behandelt“ (Günther 1999, 6). Die Sequentialität der beiden Sachverhalte, d.h. das Ereignis der Protasis geht in der Regel dem der Apodosis voraus, führt ferner in vielen Konditionalkonstruktionen verschiedener Sprachen zur consecutio temporum. Siehe hierzu auch Couper-Kuhlen (1998), Dancygier (1993).
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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(Protasis) dargestellten Situation geschieht vor (oder grundsätzlich nicht nach) dem Eintreten der im Konsequenz (Apodosis) dargestellten Situation“, keinen Einfluss auf die Tempusauswahl ausübt (Konjunktiv II vs. zukunftsweisend interpretierbare inchoative würde-Periphrase)11. Diese Opposition wird dadurch aufgehoben, dass bei der inhaltlichen Verknüpfung die temporale Deutung der zugrunde liegenden kausalen Relation allen sprachlichen Verwirklichungen solcher konditionaler Konstruktionen innewohnt und keine weitere explizite Markierung erfordert. Daraus folgt, dass die Periphrase würde + Infinitiv in solchen Kontexten dasselbe leistet, was der synthetische Konjunktiv II zu leisten vermag. Würde ist also das formbildende Auxiliar des analytischen Konjunktivs II, wobei es seine eigene Leistung (die ursprüngliche lexikalische Bedeutung) infolge der Grammatikalisierung zugunsten kategorialer Merkmale einbüßt. Der folgende Beispielsatz zeigt, dass die Fügung würde + Infinitiv in inhaltlich verknüpften Konditionalkonstruktionen dem synthetischen Konjunktiv auch dann synonym ist, wenn sie Konjunktivformen solcher Verben „umschreibt“, die selbst über eindeutige konjunktivische Formen verfügen: (37) Gäbe es irgendwo in einem Spiralnebel einen unserer Erde völlig gleichen Himmelskörper, und es fehlte auf diesem Stern nur ein einziges der Schwermetallsalze, würde dieser Stern für ein organisches Leben wie auf unserer Erde schon nicht mehr in Betracht kommen. (Bamm, 182) Die Substitution der Periphrase würde + Infinitiv durch die synthetische Form käme verändert nicht erheblich die Bedeutung der gesamten Struktur: (37’) Gäbe es irgendwo in einem Spiralnebel einen unserer Erde völlig gleichen Himmelskörper, und es fehlte auf diesem Stern nur ein einziges der Schwermetallsalze, käme dieser Stern für ein
_____________ 11 So versucht z.B. Klotz (1974) mittels Gegenüberstellung von zwei Ausdrücken wenn ich
hätte= im Besitze wäre und wenn ich haben würde = in den Besitz gelangte, von denen der erste durativ und der zweite inchoativ interpretiert wird, zu demonstrieren, dass „würde Inchoativität signalisiert“ (S. 163); ferner versucht er daraus abzuleiten, dass „die Charakterisierung von würde den Ausdruck der Zukunft enthalten [muss]“ (S.153). Ich habe schon oben gezeigt, dass die aktionale mutative Semantik des Verbs werden nicht unbedingt temporale Reinterpretation erfährt, sondern in der Bezeichnung einer Folgerelation besteht, die mitunter als eine temporale gedeutet werden kann, sodass die Interpretation der Konstruktion werden + Infinitiv als Tempus Futur und somit auch der Konstruktion würde + Infinitiv zum Ausdruck der Zukunft in der Vergangenheit nur mögliche Lesarten dieser Fügungen, jedoch nicht ihre Hauptbedeutungsvarianten darstellen.
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
organisches Leben wie auf unserer Erde schon nicht mehr in Betracht. Für die Realisierung der gerichteten Relationen, die in der relationalen Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv notiert wurden (Schema 6-3), bedeutet dies folgendes: die außersprachlichen Fakten oder Evidenzen (der Ausgangspunkt „Informationsquelle“) treten hinter die genannten oder mitgedachten nichterfüllten Bedingungen zurück. Die Realisierung der inferentiell evidentiellen werden-Relation bleibt aus. Die Position des für die Realisierung dieser Bedeutungskomponente „verantwortlichen“ Ausgangspunktes wird nicht besetzt, was dazu führt, dass auch die Relation selbst dabei nicht aktiviert wird. Dies geschieht aus dem Grund, dass bei der inhaltlichen Verknüpfung nur die in der Protasis dargestellten Situationen von Belang sind und keine anderen außersprachlichen Faktoren (Wissen, Informationen), die damit zusammenhängen. Mit anderen Worten: da die außersprachlichen Fakten bei der inhaltlichen konditionalen Verknüpfung im Gegensatz zu den geschilderten Situationen selbst von geringerer Relevanz sind, werden sie als zu der Situation dazugehörend interpretiert oder sind mit dieser identisch. Der Ausgangspunkt der werdenRelation verschwindet nicht völlig, er wird im Sinne der nichterfüllten Bedingung (re)interpretiert, sodass letzthin nur noch ein Ausgangspunkt in der relationalen Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv bestehen bleibt. Das tatsächlich realisierte reduzierte Schema sieht wie folgt aus: Informationsquelle
IInnffoorrm maattiioonnssqquueelllee
nichterf. Bedingung [- nichtfaktisch] [+ nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
Proposition Schema 7-2. Würde + Infinitiv als analytischer Konjunktiv II: „reduzierte“ relationale Struktur
Der Wert [inferentiell evidentiell], welcher der Proposition von den Evidenzen (Informationsquelle) ausgehend zugeschrieben würde, wird somit auch eliminiert. Als Ergebnis hat man die Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv, bei der die eine Relation, für die werden selbst „verantwortlich“
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ist, nicht realisiert wird. Diese relationale Struktur ist mit derjenigen des Konjunktivs II fast identisch (vgl. Kap.6.4.). Die Konstruktion würde + Infinitiv entspricht in ihrer funktionalen Leistung dem synthetischen Konjunktiv II, sie tritt also in ihrer modaldeiktischen Lesart auf, als analytische Konjunktiv II-Form. Relevante Faktoren, die die konjunktivische Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv in den behandelten Kontexten als dominant setzen, sind zusammengefasst: 1. Das ist zum einen die Art der vorliegenden konditionalen Verknüpfung. Die inhaltliche Verknüpfung macht nur die in der Apodosis dargestellte Situation selbst relevant, nicht aber die mit ihr zusammenhängende außersprachliche Fakten. Diese Art der Verknüpfung sorgt ferner dafür, dass eine zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen impliziert wird, was die eigene Leistung von werden noch mehr abschwächt. 2. Zum anderen sind das kontextuelle Faktoren, wie z.B. durch Nebensätze explizit ausgeführte Bedingungen oder im Text enthaltene Verweise auf bestimmte nichterfüllte Bedingungen (propositionale Proformen, Adverbiale etc.). 3. Solche Konstruktionen bergen zudem syntaktische Besonderheiten in sich: sie zeichnen sich meistens dadurch aus, dass die Protasis auch im Text der Apodosis vorangestellt wird (die Position des Vorfeldes besetzt), wobei die lineare Textabfolge der Wiedergabe temporaler und logischer Beziehungen dient. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf eine besondere Eigenschaft der Konstruktion würde + Infinitiv hinweisen, die nun auch ein wichtiger Grund nicht nur für die unproblematische Substitution der synthetischen Konjunktiv II-Formen in den behandelten Kontexten zu sein scheint, sondern darüber hinaus die tendenzielle Neigung zur Verwendung von würde + Infinitiv erklären könnte. Die Fügung würde + Infinitiv fokussiert dank der zusätzlichen Leistung von werden auf das Bestehen einer GrundFolge-Relation, die als konditionale Beziehung zwischen nichterfüllter Bedingung und dem Faktizitätswert der Proposition beim Konjunktiv II schon weitgehend verblasst ist. Aus der Perspektive der Relevanz eben dieser Bedeutung ist die Konstruktion würde + Infinitiv nicht redundant, wenn sie in spezifischen Kontexten – hier in den Konditionalkonstruktionen und weiteren damit zusammenhängenden Konstruktionen mit inhaltlicher Verknüpfung – gebraucht wird. Dank der inferentiellen werdenKomponente wird nun das explizit hervorgehoben, was der synthetische Konjunktiv als merkmalloses Glied („Nullzeichen“) in der Opposition würde + Infinitiv [+ inferentiell] vs. Konjunktiv II [- inferentiell] nicht manifestieren kann. Die lexikalisch begründete werden-Komponente aus
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der relationalen Basisbedeutungsstruktur der Konstruktion würde + Infinitiv wird in Konditionalgefügen mit inhaltlicher Verknüpfung zur Hervorhebung der konditionalen Relation sozusagen „verbraucht“, wodurch die konjunktivische Lesart der Fügung dominant gesetzt wird. 7.6.2. Würde + Infinitiv und epistemische (inferentielle) konditionale Verknüpfung Die sprachlichen Strukturen, die in diesem Abschnitt in Betracht gezogen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass nicht nur die Bedingung selbst, die genannt wird, von Belang für den im Hauptsatz formulierten Sachverhalt (die Situation) ist, sondern auch damit verbundene außersprachliche Faktoren, die abstrakt als ‚Wissen’ bezeichnet werden können. Im Weiteren wird es allerdings nicht nur um typische Konditionalkonstruktionen gehen, sondern auch um syntaktische Strukturen, die hauptsächlich mit Bezug auf diese Art der konditionalen Verknüpfung erklärt werden können. Dies geschieht aus folgenden Gründen: i) konjunktivische Konditionalsätze mit epistemischer Verknüpfung sind äußerst selten, wenn kaum noch vorzufinden; ii) würde + Infinitiv tritt in Kontexten auf, die keine eigentlichen Konditionalsätze darstellen, aber in Analogie zu diesen interpretiert werden können, iii) diese „anderen“ Kontexte weisen meist die epistemische Art der konditionalen Verknüpfung vor. Für Konditionalkonstruktionen mit epistemischer Verknüpfung gilt, dass sie keine Aussage über die zeitliche Aufeinanderfolge von zwei beschriebenen Situationen/ Sachverhalten machen, was bei der inhaltlichen Verknüpfung hingegen meist der Fall ist (vgl. Kap.7.6.1.). Es besteht keinerlei zeitliche Folgebeziehung zwischen Antezedens und Konsequenz: „P and q follows a reasoning pattern, which often manifests as a reversecausal relationship. Since reasoning can go forward or backward in time, there is no tense restriction on either clause” (Bryant/ Mok 2003, 1). Ein wichtiger Punkt sei noch einmal erwähnt: die epistemische Verknüpfung ist untypisch für hypothetische (irreale) Kontexte. Hypothetische Aussagen tendieren größtenteils dazu, als inhaltlich verknüpfte Konstruktionen interpretiert zu werden: For example, using hypothetical forms in If Mary is late, she went to the dentist and If Ann wearing a wedding ring, she and Bob finally got married results in sentences which are difficult to contextualize and, if acceptable, certainly lose their epistemic interpretations, such as #If Mary were late, she would have gone to the dentist and #If Ann were wearing a wedding ring, she and Bob would have finally got married. The sentences are interpretable, but then being late or wearing a ring is seen as preceding and causing going to the dentist or getting married […] The use of predictive hypothetical
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forms invites an interpretation wherein the order of p and q iconically represents the causal and temporal sequence of events. (Dancygier 1998, 88)
Folgende Beispiele aus dem untersuchten Korpus sind hypothetische Aussagen mit epistemischer Verknüpfung. Die Propositionen, die (nicht zuletzt dank dem Lexem bedeuten) als Prämissen und Schlüsse aufgefasst werden, stehen in einer konditionalen (Folge-)Beziehung zueinander, was die Paraphrasierung durch einen Konditionalsatz zeigt. (38) Craighton, Hoogan und Tucker zu unterschätzen, das würde Selbstmord bedeuten! (Pegg, 9) (39)
Nur ein einziger von euren Wagen auf meinem Gebiet würde das Todesurteil für diese Frau bedeuten! (Pegg, 34)
Allerdings ergibt sich bei der Transformation dieser Sätze in (indikativische) Konditionalkonstruktionen, dass die Verknüpfung eher inhaltlicher Natur ist, wie es normalerweise bei hypothetischen Aussagen zu erwarten wäre (s.o.): (38’) Wenn wir Craighton, Hoogan und Tucker unterschätzen, treiben wir uns in den Selbstmord. (39’)
Wenn ein einziger von euren Wagen auf meinem Gebiet erscheint, werde ich diese Frau töten (oder: töte ich diese Frau)!
Die in (38’) und (39’) dargestellten Ereignisse stehen in einer kausalen Beziehung zueinander und folgen auch zeitlich aufeinander. Der Austausch von Protasis und Apodosis ist nicht möglich, und dies spricht wiederum gegen die epistemische Interpretation dieser Konstruktionen. Um allerdings die epistemische Interpretation der gesamten Konstruktion beizubehalten, sodass die erste Situation (Protasis) als Prämisse und die zweite (Apodosis) als daraus gezogener Schluss interpretiert werden, wäre z.B. folgende Transformation denkbar: (38’’) Wenn wir Craighton, Hoogan und Tucker unterschätzen, würde das bedeuten, dass wir uns in den Selbstmord treiben. Obwohl die kausale Interpretation immer noch möglich ist, besteht keine zeitliche Folgebeziehung zwischen Antezedens und Konsequenz, was nun für die epistemische Art der Verknüpfung spricht. Der Einschub würde bedeuten dient hier der expliziten Hervorhebung der epistemischen Natur der gesamten Sachverhaltsdarstellung, sie macht die epistemische Interpretation der betreffenden Aussage deutlich und eindeutig. Man denke hier auch an die Passage aus Dancygier (1998, 88) zurück, die in Kap.7.3.2. zitiert wurde: epistemische Konditionalkonstruktionen (am Beispiel des Englischen) zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass
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sie durch Paraphrasierungen mit Einschüben ‚it means that’ (vgl. dt. es würde bedeuten) „getestet“ werden können. Konstruktionen mit würde bedeuten/ besagen/ heißen etc. sind nicht bloß konstruierte Sätze, sie finden sich relativ oft im untersuchten Korpus, vgl.: (40) "Sollte tatsächlich endlich Regen kommen?". "Das würde nichts anderes bedeuten, Tante Eugenia", meinte Prinz Flavio lächelnd, "als daß du auch Regen zaubern kannst" (Larsen, 62) (41)
Die Sternphysiker sind der Meinung, daß es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß es im Kosmos noch eine zweite Erde gibt. Haben sie recht, so würde das besagen, daß die große Zahl am Anfang der Welt, die Zahl der möglichen Variationen von Himmelskörpern, die Erde nur einmal enthalten hat. Das wieder würde bedeuten, daß die Natur, um die Erde mit dem Menschen entstehen zu lassen, sich des sparsamsten möglichen Mittels bediente - eines einzigen Weltalls nämlich. (Bamm, 184)
(42)
Wenn man das jetzt ändern würde, würde das ja bedeuten, daß hier bestimmte Versprechungen eigentlich nicht eingehalten sind. (Spiegel 36)
In den angeführten Beispielen sind die Einschübe es würde bedeuten, es würde besagen als diejenigen Elemente zu verstehen, die zwei Teile (Antezedens und Konsequenz) einer Konditionalkonstruktion i.w.S. verbinden, wobei sowohl Antezedens als auch Konsequenz im Indikativ formuliert werden. Die Periphrase würde + Infinitiv dient hier der Manifestierung einer auf der epistemischen Basis aufgebauten konditionalen Relation. Das gesamte Syntagma mit dem Einschub würde bedeuten stellt eine Struktur dar, die im Vergleich zu einem traditionellen (p > q) Konditionalsatz nicht eine zweigliedrige, sondern eine klare dreigliedrige syntaktische Struktur aufweist, in der folgende Bestandteile explizit getrennt sind: 1. die Bedingung als Ausgangspunkt (die nichterfüllte Bedingung oder ein anderer Ausdruck, der eine Option, Bedingung einführt), oder eine Proform, die auf eine sprachlich formulierbare Bedingung hinweist (phorisch); 2. die Phrase würde bedeuten, würde heißen; 3. die Folge, oder die Proposition, die entweder in Form eines Nebensatzes (Relativsatz) angehängt wird oder durch das Infinitivkomplement mit seinen Ergänzungen ausgedrückt wird. Diese klare dreigliedrige Struktur lässt hier sehr deutlich die epistemische Art der konditionalen Verknüpfung erkennen, indem die epistemische Dimension explizit eingeführt wird.
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Das Weglassen der Einschübe es würde bedeuten/ heißen/ besagen etc. aus den betreffenden Sätzen ergibt Konditionalkonstruktionen, die folgendermaßen aussehen, vgl.: (40’) Wenn der Regen tatsächlich kommt, dann kannst du Regen zaubern. (41’)
Wenn die Sternphysiker recht haben, dann hat die große Zahl der Himmelskörpern am Anfang der Welt die Erde nur einmal enthalten.
Sie können nun als Konditionalkonstruktionen mit epistemischer Verknüpfung interpretiert werden, bei denen auch den Austausch von Protasis und Apodosis möglich ist: (40’’) Wenn du Regen zaubern kannst, dann kommt tatsächlich der Regen. (41’’)
Wenn die große Zahl der Himmelskörper am Anfang der Welt nur eine Erde enthalten hat, dann haben die Sternphysiker recht.
M.E. handelt es sich um eine besondere Verwendungsweise oder Lesart von würde + Infinitiv, die mit Bezug auf die epistemische (inferentielle) Art der Verknüpfung (anhand von Konditionalkonstruktionen) erklärt werden kann, die aber in ihrer Realisierung nicht mehr an die syntaktische Struktur eines typischen Konditionalsatzes gebunden ist. Wie die oben angeführten Belege zeigen, können diese Konstruktionen in Konditionalsätze transformiert werden; sie treten aber nicht in dieser Form im Text auf. Zwei Situationen, oder besser gesagt, zwei Propositionen werden mittels Ausdrücke wie es würde bedeuten/ heißen/ besagen etc. miteinander in Verbindung gebracht. Im Unterschied zu typischen Konditionalkonstruktionen wird hier mindestens die zweite Proposition (Konsequenz) assertiert12, und nicht lediglich die konditionale Relation zwischen zwei Propositionen. Und dies ist mit den charakteristischen Merkmalen von würde + Infinitiv als einer evidentiellen Konstruktion vereinbar (vgl. Kap.5.4.). Würde + Infinitiv denotiert hier einerseits das Vorhandensein einer Relation zwischen zwei aufeinander folgenden Aussagen und die Art dieser Relation, nämlich eine logisch (inferentiell) aufgebaute Grund-Folge-Beziehung. Zugleich ver-
_____________ 12 Schon König (1994) erwähnt, dass epistemische Konditionalkonstruktionen als semifactuals
bezeichnet werden können, sofern sie im Gegensatz zu den Konstruktionen mit anderen Verknüpfungsarten einen faktischen Hauptsatz haben. Der Hauptsatz (Konsequenz) wird also im Falle der epistemischen Verknüpfung behauptet, assertiert, und nicht nur die bestehende konditionale Relation zwischen Antezedens und Konsequenz.
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weist würde + Infinitiv darauf, dass nicht nur die in der Protasis formulierte Proposition, sondern auch mit ihr verbundene außersprachliche Fakten, Umstände, Informationen für diese Schlussfolgerung von Relevanz sind. So ist in (40) nicht nur der propositionale Gehalt [der Regen kommt] selbst für die Schlussfolgerung [du kannst Regen zaubern] von Belang, sondern auch damit zusammenhängende situationsspezifische Faktoren, z.B. das Wissen über Zauberfähigkeiten der Person, die aktuelle Wetterlage usw. Diese Verwendungsweise oder Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv lässt sich durch die „lexikalisch“ begründete inferentiell evidentielle Bedeutungskomponente des Auxiliars werden erklären. Hier sei eine tentative Paraphrase für diesen Gebrauch formuliert: Aus den angeführten Gründen und damit verbundenen Fakten, die als Prämissen aufgefasst werden, lässt sich der Schluss ziehen, dass p.
Auf diese Weise interpretierbare Verwendungen, die in ihren konkreten Realisierungen wie beschrieben nicht nur auf Konditionalsätze beschränkt sind, weisen bestimmte Affinitäten zu konjunktivischen Konditionalkonstruktionen auf: i) Letztere geben an, was der Fall wäre, wenn die Bedingung erfüllt wäre; ii) Erstere weisen darauf hin, dass eine Vermutung/ Behauptung des Sprechers, dass p (NS), aus den gegebenen Bedingungen/ Umständen /Gründen folgt oder auf dem Wege logischer Operationen erschlossen werden kann. Weitere Verwendungskontexte können unmittelbar im Anschluss an die ermittelte Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv behandelt werden13: (43) Genneholm würde sagen: noch viel zu naturalistisch - und er hat recht. (Böll, 184) (44)
"Er ist ein Fachmann", sagte mein Vater, "der beste, den ich kenne". - "Sogar der beste, den es hier gibt", sagte ich, "aber nur ein Fachmann, er versteht was von Theater, Tragödie, Commedia
_____________ 13 Einige der hier behandelten Verwendungskontexte wurden schon in Kap.5.4.4. betrachtet, wobei sie als spezifische Kontexte für den Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv eingeordnet wurden. Es wurde angenommen, dass es sich im Falle solcher charakteristischen Verwendungen von würde + Infinitiv in erster Linie um die Realisierung der inferentiellen werden-Komponente der Fügung handelt, wobei diese evidentielle Bedeutung durch die Konjunktivflexion „abgeschwächt“ wird, d.h. die Aussage „vorsichtiger“, „höflicher“ erscheinen lässt. Dabei wird nicht die „bedingte Nichtfaktizität“ der Proposition zum Ausdruck gebracht, sondern die „bedingte Faktizität“ derselben. Die hier vorgenommene Untersuchung kommt zu den gleichen Ergebnissen, nur aus der anderen Betrachtungsperspektive. Die für diese Verwendungen rekonstruierte „reduzierte“ relationale Struktur von würde + Infinitiv stimmt mit den Überlegungen in Kap.5.4.4. überein.
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dell'arte, Komödie, Pantomime. Aber schau dir einmal an, wie seine eigenen komödiantischen Versuche ausfallen, wenn er plötzlich mit violetten Hemden und schwarzen Seidenschleifen auftaucht. Da würde jeder Dilettant sich schämen". (Böll, 185) (45)
Der Advocatus coeli würde mit sanftem Lächeln darauf hinweisen, daß Virchows Schöpfung, der pathologischanatomische Mensch, erst in dem Augenblick ins Blickfeld der Wissenschaft tritt, in welchem das Seziermesser sein Dasein eröffnet. (Bamm, 99)
(46)
Der alte Heide aus Kos würde wahrscheinlich noch im Hades darüber lächeln, daß sein Name auf eine so würdevolle Weise durch zwei Jahrtausende hindurch Sätze begleitet hat, die so im tiefsten Grunde christlich sind. (Bamm, 124)
(47)
Kein Physiker würde je die Hand dafür ins Feuer legen, daß es nun wirklich so sei. (Bamm, 216)
(48)
Sabeth würde es natürlich anders taufen, aber ich weiß nicht wie. (Frisch, 242)
(49)
Sabeth würde sagen: wie Smaragd! (Frisch, 243)
(50)
Unser Flugzeugschatten: wie eine Fledermaus! So würde Sabeth sagen, ich finde nichts und verliere einen Punkt, ich habe anderes im Kopf: eine Spur im Firn, Menschenspur, sie sieht aus wie eine Nieten-Naht, Sabeth würde finden: wie eine Halskette, bläulich, in großer Schleife um eine weiße Firn-Büste gehängt. (Frisch, 243)
(51)
Wir fliegen vorbei; man sieht das Gipfelkreuz, weiß, es leuchtet, aber sehr einsam, ein Licht, das man als Bergsteiger niemals trifft, weil man vorher absteigen muß, Licht, das man mit dem Tod bezahlen müßte, aber sehr schön, ein Augenblick, dann Wolken, Luftlöcher, die Alpensüdseite bewölkt, wie zu erwarten war, die Wolken: wie Watte, wie Gips, wie Blumenkohl, wie Schaum mit Seifenblasenfarben, ich weiß nicht, was Sabeth alles finden würde... (Frisch, 244)
(52)
Wir würden heute sagen, er versuchte, das Wesen der Energie realontologisch auszudeuten. (Bamm, 260)
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Die angeführten Belege sind keine Konditionalsätze i.e.S. Würde + Infinitiv tritt in Hauptsätzen auf und scheint auf den ersten Blick in seiner Bedeutung dem Konjunktiv II zu entsprechen: die Sätze lassen sich unkompliziert als irreale Konditionalsätze „vervollständigen“ (vgl. Jäger 1971, 180 ff.), nach dem Muster wenn er/ sie da wäre, z.B.: (43’) Wenn Genneholm da wäre, würde er sagen... Diese Lösung ist aber nur dann plausibel und überzeugend, wenn die Konstruktion würde + Infinitiv nun eindeutig als analytischer Konjunktiv II verstanden wird und wenn die nichterfüllten Bedingungen ganz klar aus dem Kontext hervorgehen.14 Mit der allgemeinen Phrase wenn er/ sie da wäre wird eine Bedingung der sinnvollen Behauptbarkeit konstruiert, die offenbar nicht erfüllt ist, und von diesem Standpunkt aus erhält der Satz mit würde + Infinitiv einen negativen Faktizitätswert zugewiesen. Aber tragen denn all diese Sätze tatsächlich einen nichtfaktischen Wert bezüglich der Sprecherperspektive oder der Origo? Werden diese Sätze (oder Propositionen) nicht assertiert, sondern bloß die Beziehung zwischen konstruierbaren nichterfüllten Bedingungen und dem Faktizitätswert der Proposition, wie es beim Konjunktiv II zu beobachten ist? M.E. sollte die Konstruktion würde + Infinitiv in solchen Kontexten nicht in ihrer modaldeiktischen Lesart (= Konjunktiv II, vgl. Kap.7.6.1.), sondern in ihrer (epistemisch-)evidentiellen Lesart aufgefasst werden. Hierbei wird die mit würde + Infinitiv formulierte Sachverhaltsdarstellung mit einem durch die Konjunktivflexion „abgeschwächten“ evidentiellen Wert versehen. Diese Situation ist dann analog zu der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv zu interpretieren: das evidentielle werden bildet mit der eigentlichen Proposition eine gesamte Sachverhaltsdarstellung (vergleichbar mit der objektiv epistemischen Modalität (vgl. Kap.5.3., auch Lyons [1977]1983, Coates 1983, Diewald 1999)), es handelt sich um eine „objektive“ Behauptung von bestehenden Zusammenhängen. Der Sprecher sagt mit einer Äußerung vom Typ ‚X würde Vinf.’, dass er in Bezug auf bestimmte ihm (und ggf. nicht nur ihm) zugängliche Informationen (Evidenzen) behauptet, dass die betreffende Person ‚X’ genau die beschriebenen Handlungen vollzogen wird. Diese Behauptung kann akzeptiert, hinterfragt, abgestritten oder bezweifelt werden.
_____________ 14 Solche „vereinfachte“ Auffassung von Deklarativsätzen im Konjunktiv II wurde auch
schon z.B. von Kasper 1987a, b kritisiert. „für explizite Konditionalsätze gilt, dass ihr Antezedens nicht weggelassen werden kann, selbst wenn der Kontext die relevante Antezedensinformation hinsichtlich der Kontrafaktivität des Antezedens schon enthält [...] Dies bedeutet, dass das Antezedens des kontrafaktischen Konditionalsatzes im Allgemeinen nicht fortlaßbar ist, und der Sprecher sich nicht einfach implizit auf die Bedingung beziehen kann“(1987b, 103 f.).
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(48)
Sabeth würde es (natürlich) anders taufen, aber ich weiß nicht wie.
(53)
Ist es so? (Würde sie es anders taufen?)
(54)
Nein, ich glaube es nicht, (dass sie es anders taufen würde).
(55)
Nein, das stimmt nicht, (dass sie es anders taufen würde).
(56)
Ja, du hast Recht, (sie würde es anders taufen).
Wenn derselbe Satz in einen irrealen Kontext „versetzt“ wird, ergibt sich anhand folgender Tests, dass die Konstruktion würde + Infinitiv eine andere Bedeutung erhält. Bei der Einbettung der epistemischen Aussagen in einen irrealen (kontrafaktischen) Konditionalsatz (mit bestehender inhaltlicher konditionaler Verknüpfung) als Bedingung oder als Folge wird die konjunktivische (modaldeikitsche) Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv dominant gesetzt (vgl. Kap.7.6.1.): (57) Wenn das Kind im Juli geboren wäre, würde Sabeth es anders taufen. (58)
Wenn Sabeth das Kind anders taufen würde, würden sich ihre Eltern freuen.
Diese Beispiele zeigen, dass in irrealen (hypothetischen) Kontexten die evidentiell-epistemische Interpretation von würde + Infinitiv unmöglich ist: sie geht verloren, während die modaldeiktische Lesart favorisiert wird. Diese Beobachtung ist vereinbar mit der allgemeinen typologischen Feststellung, dass die Verwendung von Evidentialitätsmarkern in irrealen Kontexten untypisch ist: „Evidentials are normally used in assertions (realis clauses), not in irrealis clauses, nor in presuppositions“ (Anderson 1986, 277). Die (epistemisch-)evidentielle Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv in Konstruktionen vom Typ ‚X würde Vinf.’ kann weiteren Tests unterzogen werden. Bei der Einbettung solcher Aussagen in weitere nichtfaktische Kontexte, d.h. Wunschsätze, Aufforderungssätze etc., ergibt sich ein relevanter Bedeutungsunterschied: (59) Ich würde mich wundern, wenn Sabeth ihr Kind anders taufen würde. (60)
Ich wünschte mir, dass Sabeth es anders taufen würde.
(61)
Wenn Sabeth es bloß anders taufen würde!
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Dieser Bedeutungsunterschied ist derselbe, der die evidentielle Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv vor der modaldeiktischen auszeichnet. In den letzten Sätzen kann würde + Infinitiv nur seine Synonymität mit dem Konjunktiv II beweisen, aber von der evidentiellen Bedeutung dieser Periphrase in den Kontexten ‚X würde Vinf.’ scheint nichts mehr übrig zu bleiben. Der Bedeutungsunterschied zwischen der evidentiellen und der modalen Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv kann ferner anhand folgender Proben ermittelt werden. Diese gehen auf die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver epistemischer Modalität (vgl. Lyons [1977] 1983, Dietrich 1992, Peilicke 1987, Diewald 1999), zurück. Die subjektiv epistemisch gebrauchten Modalverben kodieren eine sprecherbasierte Bewertung der Faktizität des dargestellten Sachverhalts und nicht einen unabhängig vom Sprecher existierenden Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren bzw. Evidenzen und der Möglichkeit/ Notwendigkeit der Existenz oder des Zutreffens der Proposition. Und in dieser Verwendung zeichnen sie sich unter anderem dadurch aus, dass es nicht möglich ist, ein deiktisches (d.h. ein subjektiv epistemisches) Modalverb in ein objektiv epistemisches einzubetten. Das inferentiell evidentielle werden (würde), das eine mit objektiv epistemischen Modalverben vergleichbare Bedeutung zum Ausdruck bringt, kann in die subjektiv epistemische Modalität (hier durch die Modalwörter ausgedrückt, die immer eine deiktische Lesart haben) eingebettet werden: (62) Sabeth würde es natürlich/ sicher /vielleicht/ bestimmt/ wahrscheinlich/ gewiß etc. anders taufen. Die Einbettung einer solchen Aussage in Konditionalsätze ist nicht möglich, da die Modalrelation (deiktische Faktizitätsbewertung, durch natürlich/ sicher/ vielleicht etc. ausgedrückt) nicht zum propositionalen Gehalt des Satzes gehört: (63) *Wenn Sabeth es [das Kind] natürlich/ sicher/ vielleicht/ bestimmt/ wahrscheinlich/ gewiß etc. anders taufen würde, würde ich mich wundern. Das Weglassen von Modalwörtern ergibt einen plausiblen Satz, der die Konstruktion würde + Infinitiv allerdings nicht in ihrer evidentiellen, sondern in ihrer modaldeiktischen Lesart erscheinen lässt: (64) Wenn Sabeth es [das Kind] anders taufen würde, würde ich mich wundern. Die inferentiell evidentielle Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv in oben erwähnten Kontexten kann also mit Bezug auf die epistemi-
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schen Konditionalkonstruktionen dahingehend beschrieben werden, dass das Satzsubjekt in Analogie zur Protasis einer epistemischer Konditionalkonstruktion als Prämisse verstanden wird, die nicht nur das genannte Subjekt selbst, sondern auch mit ihm assoziiertes, verbundenes Wissen mit einbezieht (etwa:‚so wie ich [der Sprecher] und eventuell auch die anderen [vor allem wenn es um eine berühmte Person handelt] diese Person kenne, und wie ich die Situation sehe’). Die auf dieser Prämisse basierte Schlussfolgerung ist die mit würde formulierte Aussage (die gesamte Proposition).15 Dementsprechend kann z.B. der Satz (46) Der alte Heide aus Kos würde wahrscheinlich noch im Hades darüber lächeln, daß sein Name auf eine so würdevolle Weise durch zwei Jahrtausende hindurch Sätze begleitet hat, die so im tiefsten Grunde christlich sind. (Bamm, 124) wie folgt interpretiert werden: das Subjekt der alte Heide aus Kos nennt nicht nur die Person, sondern impliziert auch ihre persönlichen Eigenschaften, ihr Weltbild, ihre Ansichten usw., die dem Sprecher Anlass dazu geben, die Proposition der alte Heide aus Kos (würde) darüber lächeln zu behaupten. Die Paraphrase für diesen Satz könnte wie folgt formuliert werden: ‚So wie ich und die anderen sich den alten Heiden aus Kos vorstellen, wie wir ihn kennen, können wir schließen, dass er in dieser Situation genau so und nicht anders handelt (handeln wird)’. Weitere im Text wiedergegebene Informationen dienen der Erläuterung der Situation, auf die die Behauptung (Vermutung) zutreffen soll. Die relationale Grundstruktur der Konstruktion würde + Infinitiv (Schema 6-3) wird bei dieser Lesart insofern verändert, dass nur eine der eingebetteten Relationen in den Vordergrund tritt (die werden-Komponente). Dies geschieht ähnlich wie bei der modaldeiktischen Interpretation von würde + Infinitiv (Kap.7.6.1.) dadurch, dass bestimmte Elemente der
_____________ 15 Als eine weitere Indiz dafür, dass das Satzsubjekt (der alte Heide aus Kos, Sabeth, der Advocatus
Coeli usw.) nicht bloß als grammatisches Subjekt verstanden wird, sondern viel mehr in seinem semantischen Gehalt zusätzliche Informationen erlaubt und geradezu erfordert, die durch seine Nennung impliziert werden, kann auch sein phonetisches Gewicht im Satz angeführt werden. Kasper (1987b, 103) bemerkt zum Beispielsatz Peter würde de Wohnung nehmen: „Ich nehme hier an, dass Peter besonders betont ist...“ Diese besondere Betonung des Satzsubjektes (bzw. des Elements im Satz, über welches Behauptungen, Vermutungen etc. mit würde + Infinitiv gemacht werden und welches um weitere implizite Informationen expandiert werden kann) betont den semantischen Status dieses Elements und verweist zugleich darauf, dass die Informationen, die als mögliche nichterfüllte Bedingungen bzw. als Evidenzen für diejenige Aussage interpretiert werden können (wobei meist das letztere der Fall ist), nicht aus dem Kontext oder der konkreten Situation erschließbar oder konstituierbar sind, sondern eher allgemein dem betreffenden Subjekt zugeschrieben werden können.
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relationalen Struktur zusammenfallen und dadurch diese Struktur „reduziert“ wird. nichterf.. Bedingung
nichterf. Bedingung Informationsquelle
[- nichtfaktisch]
Sprecher = Origo
Proposition [inferentiell evidentiell] Schema 7-3. Würde + Infinitiv in evidentieller Lesart : „reduzierte“ relationale Struktur
Wie oben beschrieben, werden die nichterfüllten Bedingungen, selbst wenn sie sprachlich formuliert werden können, bei der evidentiellen Lesart von würde + Infinitiv anders interpretiert: sie schließen sich den Evidenzen an, die im Antezedens impliziert sind (was durch die epistemische Art der Verknüpfung bewirkt wird)16. Diese nichterfüllten Bedingungen „verschmelzen“ sozusagen mit Evidenzen und gelten als weiterer Bestandteil des Ausgangspunktes „Informationsquelle“. Mit dem Zusammenfall von „nichterfüllten Bedingungen“ und „Informationsquelle“ erfolgt eine Umstrukturierung des zugrunde liegenden Basisschemas, wobei der negative Faktizitätswert, der der gesamten Proposition aus der Perspektive der nichterfüllten Bedingungen von der Origo aus zugewiesen würde, abgeschwächt oder eliminiert wird. Es bleiben also nur zwei Werte: einerseits die „abgeschwächte“ Faktizität, die durch die Konjunktivflexion („phorische verankerte bedingte Faktizität“, Diewald 1999) entsteht, und andererseits die dominant gesetzte evidentielle Komponente, die werden-Relation. Würde + Infinitiv sagt also hier nichts darüber aus, was „der Fall wäre, wenn die Bedingungen alle erfüllt wären“, sondern tritt in ihrer evidentiellen Lesart auf und bezeichnet, dass der Sprecher seine Aussage auf
_____________ 16 Diese Interpretation von Antezedens sind z.B. in den Ausführungen von Werth (1997,
246) anzutreffen: „The epistemic domain replaces the prototypical deployment of ‚condition’ + ‚consequence’ with one reflecting a process of reasoning: we might call it ‚evidence’ + ‚conclusion’.“ Vgl. dazu auch Dancygier (1998, 92).
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Informationen stützt (aus Evidenzen folgert), die nicht weiter spezifiziert werden (müssen). Diese relationale Struktur sieht derjenigen von werden + Infinitiv (vgl. Kap.5.3.) sehr ähnlich, mit dem Unterschied, dass die Position des Ausgangspunktes nicht nur von der „Informationsquelle“ besetzt ist, sondern auch die „nichterfüllten Bedingungen“ mit einschließt (daher das Attribut „abgeschwächt“). Die inferentielle Bedeutungskomponente ist bei der Beschreibung epistemischer Konditionalkonstruktionen und mitunter weiterer Verwendungskontexten der Fügung würde + Infinitiv entscheidend. Konditionalkonstruktionen mit epistemischer Verknüpfung werden nicht selten auch mit der Bezeichnung „inferentiell“ versehen, die zutreffend erscheint, wenn man an die logische Operation des Schlussfolgerns denkt (process of reasoning, inference). Somit fügt sich die Konstruktion würde + Infinitiv dank ihrer inferentiellen werden-Komponente harmonisch in solche Kontexte (die in der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung des Auxiliars werden verankert ist). An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass man hierbei auch von metaphorischer Übertragung der Bedeutung (oder „Subjektivierung“) sprechen könnte: von einer „konkreten“ (kausalen) Folgebeziehung zwischen Situationen p und q, wobei p q zur Folge hat (inhaltliche konditionale Verknüpfung), zu einer „allgemeineren“ Folgebeziehung zwischen p als Prämisse und q als Schlussfolgerung. Würde fungiert hierbei als explizites Zeichen für die vom Sprecher vollzogene Folgerung.17 Wenn der Sprecher explizit in die Aussage aufgenommen wird (wie es z.B. durch einleitende kognitive Ausdrücke wie denken, glauben usw. geschieht), kann die explizite Nennung von Umständen/ Bedingungen/ Gründen (d.h. die Position „Ausgangspunkt“ im relationalen Schema) ohne Komplikationen weggelassen werden, da sie sowieso dem Sprecher und seiner Gedankenwelt inhärent sind und leicht auf sein Wissen oder seine eigenen, sprecherspezifischen Informationen zurückgeführt werden können (vgl. Kap.5.4.2.). Und so entsteht die evidentielle Lesart von würde + Infinitiv, welche auch mit Bezug auf die epistemische Art der konditionalen Verknüpfung erklärt werden kann.
_____________ 17 Die räumlich (lokalistisch) beschreibbare Relation der Folge ist in beiden Fällen deutlich zu spüren: p führt zu q – wenn p, dann q (Konditionalsatz); p führt zu q, Gründe/Umstände führen (den Sprecher) zur Annahme, dass q (untersuchte Kontexte).
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
7.6.3. Würde + Infinitiv und illokutive konditionale Verknüpfung Die konditionale Beziehung innerhalb illokutiver Konstruktionen kann nicht in solchen Begriffen der kausalen oder inhaltlichen Folge-Relation zwischen zwei dargestellten Sachverhalten aufgefasst werden. Der Sprecher vollzieht einen illokutiven Akt und stellt er diesen Vollzug in Abhängigkeit vom Erfüllt-Sein bestimmter Bedingungen, die in der Protasis formuliert werden. Diese Bedingungen sind allerdings keine Gründe oder Voraussetzungen für den Vollzug des betreffenden kommunikativen Aktes. Werth (1997, 246) betrachtet speech act conditionals als elliptische Konstruktionen aus inhaltlichen Konditionalsätzen: „The Speech-act domain can best be read as an elliptical form of content conditional. Thus: (65) If you get hungry, there’s food on the table, which is a Speech-act conditional because it constitutes an offer or a suggestion, has to be understood as follows: (65’) If you get hungry, you will need to know the following information: there’s food on the table.” In einigen Studien werden pragmatische Konditionalsätze als Mittel aufgefasst, die illokutive Kraft einer Äußerung zu modifizieren. Dabei wird ihre Funktion generell in einer Abschwächung (mitigation) gesehen (Fraser 1980, Holmes 1984). Diese Strukturen werden also dann vom Sprecher genutzt, wenn er sine Äußerungen abschwächen will, da er sie auf diese Weise für den Hörer akzeptabler machen kann (vgl. Pittner 2000, 2). Brown/Levinson (1978) sehen in solchen Konditionalsätzen wie wenn ich richtig informiert bin, wenn Sie erlauben, wenn ich fragen darf etc. eine Art „hedges“, die als Höflichkeitsstrategie eingesetzt werden. Mit anderen Worten, illokutive (pragmatische) Konditionalkonstruktionen dienen dem Ausdruck sozialer Distanz: „They do not in fact suspend the performance of the speech act intended in the apodosis, but function to give the hearer some opinion in reacting to the speech act performed, to make the utterance more polite or appropriate“ (Dancygier 1998, 90; vgl. auch Sweetser 1990, Comrie 1986). An dieser Stelle möchte ich wiederum auf konzeptionelle Affinitäten zwischen (illokutiven) Konditionalkonstruktionen und dem Konjunktiv II hinweisen. Ähnliche kommunikative Funktionen (Abschwächung, mitigation) werden beim sog. „höflichen“, „vorsichtigen“ Konjunktiv II festgestellt (vgl. Kasper 1987, 107 f.; Flämig 1965, 3; Diewald 1999, 189 f.). Dabei handelt es sich nicht um vollständig ausgeführte Konditionalsätze, sondern um unabhängige Sätze im Konjunktiv II wie z.B.:
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
(66)
Ich hätte da eine Frage.
(67)
Ich würde vorschlagen, ...
233
Die „höfliche“ bzw. „abschwächende“ Bedeutung des Konjunktivs II basiert darauf, dass eine nicht weiter spezifizierte, beliebige Bedingung, die als Proposition formuliert werden kann, vorgeblich nicht erfüllt ist (vgl. Diewald 1999). Der Sprecher unterwirft also seine Aussage einer (vorgeblich) nicht erfüllten Bedingung, so wie in illokutiven Konditionalkonstruktionen der Vollzug eines illokutiven Sprechaktes von einer in der Protasis formulierten Bedingung abhängig gemacht wird. Die beiden Phänomene haben gemeinsam, dass die Aussage (Apodosis) gemacht wird, gleich ob bestimmte Bedingungen, seien sie explizit erwähnt (illokutive Konditionalkonstruktionen) oder implizit „mitgedacht“ und konstruierbar („höflicher“ Konjunktiv II), erfüllt sind oder nicht.18 Darauf, dass der funktional-semantischen Beschreibung des Konjunktivs II und derjenigen von Konditionalkonstruktionen dasselbe Verständnis einer konditionalen Beziehung zugrunde gelegt werden kann, wurde schon aufmerksam gemacht (Kap.7.5.). Die Betrachtung anderer konditionalen Verknüpfungsarten (Kap.7.6.1. und Kap.7.6.2.) zeigte, dass die Art der konditionalen Relation für die Erklärung weiterer grammatischer Phänomene (Konstruktionen, Kategorien) herangezogen werden kann. Dadurch dass hier konzeptionelle Affinitäten zwischen illokutiven Konditionalkonstruktionen und dem „höflichen“ Konjunktiv II aufgedeckt wurden, ist eine Grundlage für die folgende Beschreibung der Fügung würde + Infinitiv geschaffen. Das Vorkommen von würde + Infinitiv in vollständig ausgeführten illokutiven Konditionalsätzen ist im untersuchten Datenmaterial selten. Es gibt dagegen viele eigenständige Aussagen, die Affinitäten zu illokutiven Konditionalkonstruktionen aufweisen. Das sind zum einen Konstruktionen, in denen auf eine bestehende Bedingung mittels lexikalischer Ausdrücke verwiesen wird, wie z.B.: (68) "Wat rätste mir?" Lankes knipste die Zigarette aus und verwahrte die Kippe. "Als Freund würde ich sagen: nimm den Schwanz..." (Grass, 453)
_____________ 18 Kaufmann (1975, 22 f.) verweist auf diese Besonderheit bestimmter Konditionalsätze im
Deutschen: „Ich würde liebend gern auf vieles verzichten, wenn ich dir damit helfen könnte. Die hier geäußerten Begehren bzw. Absichten sind wohl ebenfalls nicht als Folge vermutlich nie eintretender Ereignisse zu betrachten, sondern sie bestehen für den Sprechenden bereits im Sprechzeitpunkt ganz ‚real’. […] Der Sprecher [...] könnte diesen Wunsch ebenso gut losgelöst von einer Bedingung äußern“.
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
In diesem Satz wird ein illokutiver Akt des Sagens (ich würde sagen) vollzogen, der einer Bedingung unterworfen wird (als Freund), die sich folgendermaßen paraphrasieren lässt: wenn ich dein Freund wäre, oder auch, was der illokutiven Interpretation am nächsten kommt, wenn ich mit dir als Freund sprechen kann. Ob die Bedingung ‚Freund sein’ erfüllt ist oder nicht, geht aus dem Kontext nicht eindeutig hervor, aber die Konjunktivform lässt vermuten, dass der Sprecher mindestens vorgeblich diese Bedingung als nicht erfüllt hinstellt, um die Aussage (Empfehlung, Aufforderung) in ihrer illokutiven Kraft abzuschwächen, distanzierter zu gestalten und sie damit höflicher wirken zu lassen. Die Beobachtung, dass vollständig ausgeführte illokutive Konditionalkonstruktionen mit würde + Infinitiv äußerst selten gebraucht werden, ist nicht überraschend. Wie oben beschrieben, gehört der Ausdruck sozialer Distanz (Höflichkeit, Zurückhaltung, Vorsicht) zum Bedeutungsspektrum des Konjunktivs II und kann unproblematisch mit Bezug auf seine relationale Grundstruktur erklärt werden. Wenn es der Konjunktiv II alleine schon vermag, auf eine nicht weiter spezifizierte, beliebige implizite Bedingung zu verweisen, die (vorgeblich) nicht erfüllt ist, wird eine explizite Nennung dieser Bedingung überflüssig. Was aber oft nicht überflüssig zu sein scheint, ist die Erwähnung des jeweiligen zu vollziehenden illokutiven Sprechaktes (empfehlen, sprechen, sagen, raten usw.): (69) "Lieber bleibe ich hier und warte darauf, daß Craighton mir seine Träume erzählt!" "Was ich Ihnen nicht empfehlen würde!" meinte die Frau kühl und schob den Revolver wieder unter den Staubmantel zurück. (Pegg, 27) (70)
Herr Roth, Herr Gonzales macht eine Wirtschaftspolitik, die ich Ihnen empfehlen würde. Die Steuerpolitik des österreichischen Bundeskanzlers Vranitzky würde ich Frau Matthäus-Maier empfehlen. (BP)
(71)
Ich würde davon abraten, daß wir uns auf Prognosen einlassen, wie viele 1990 kommen werden. (BP)
(72)
Ich würde der Regierung auch dazu raten, bestehende deutschdeutsche Institutionen und Vereinbarungen daraufhin zu überprüfen, ob sie neu entwicklungsfähig sind. (BP)
(73)
Es wäre ausgerechnet jetzt in einer Ära politischer Aufbruchstimmung zwischen Ost und West verfehlt und, ich würde auch sagen: anachronistisch, diese Grundlagen der Zusammenarbeit zu kappen. (BP)
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
(74)
235
Nein, das würde ich glatt abstreiten; denn genau das Gegenteil ist der Fall. (BP)
Häufig wird in solchen Aussagen mit würde das Modaladverb gern gebraucht, was mittlerweile zur Floskel geworden ist („ich würde gern“): (75) Aber nun, meine verehrten Damen und Herren, würde ich doch gern wenigstens ein paar Sätze dazu sagen, daß Innenpolitik doch wohl vor allen Dingen das Ziel und die Aufgabe hat, das friedliche Zusammenleben der Menschen in diesem Staat und in der Gemeinschaft auch der Staatsangehörigen zu organisieren und sicherzustellen, daß wir also dem inneren Frieden verpflichtet sind. (BP) (76)
Aber ich würde gern, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, etwas anregen. (BP)
(77)
Ich würde ganz gerne kurz zu den energiewirtschaftlichen Kernfragen zurückkommen. (BP)
Wie die unten angeführten Beispiele zeigen, kann würde + Infinitiv auch verwendet werden, um einen illokutiven Akt zu signalisieren, ohne dass eine explizite Nennung dieses Sprechaktes durch das entsprechende Vollverb erfolgt: (78) Gern würde ich solche exzellenten Porträts (über den Osten) häufiger lesen. (Spiegel 36) > Wunsch (79)
Ich rief bei der Vorzimmerdame an und sagte, ich wolle den Senator sprechen. Daraufhin wurde mir gesagt: Der Staatssekretär ist im Urlaub, muß das denn sein? Und dann sagte ich: Ich würde aber gern den Senator sprechen und nicht warten, bis der Staatssekretär aus dem Urlaub ist. (Spiegel 36) > Intention
(80)
Geben Sie Chirac keine Chance, obwohl er die gaullistische Partei in ihrer Mehrheit hinter sich hat? Auf welchen Favoriten für den Elysee würden Sie setzen? (Spiegel 36) > Frage
(81)
Frau Dr. Däubler-Gmelin (SPD): es mag zwar etwas länger dauern; aber würden Sie bitte auf meine Frage antworten, Herr Rühe? (BP) > Aufforderung
(82)
Mich würde interessieren, ob die Regierung selber Quantifizierungsüberlegungen angestellt hat, daß dies zu deutlichen
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
Steigerungen der Sozialhilfekosten und damit zu weiteren Belastungen der Kommunen führt. (BP) > (indirekte) Frage (83)
Wo menschliche Begegnung jetzt in breitem Maße möglich wird, wo Politik menschliche Begegnung wird, müssen Zeichen gesetzt werden, Zeichen, mit denen eine Ära der Konfrontation zu einer Ära der Kooperation wird. Deshalb würde ich mir wünschen - ich weiß, daß das angesichts der Schwierigkeiten, unter denen sich Politik auch in Strukturen vollzieht, vielleicht ein sehr großer Wunsch ist -, daß wir bei der Verabschiedung unseres nächsten Haushalts noch Zeichen der Reduzierung unseres Rüstungshaushalts, unseres Militärhaushalts finden. (BP) > Wunsch
Im Allgemeinen ließ sich feststellen, dass Aussagen mit würde + Infinitiv, die den „höflichen“ Verwendungen des Konjunktivs II äquivalent sind, für die gesprochene Sprache (‚Bundestagsprotokolle’ BP im untersuchten Korpus) üblich sind, dagegen nur vereinzelt in den Quellen geschriebener Sprache auftreten. Dies ist nicht verwunderlich: der Ausdruck sozialer Distanz ist nur in Situationen sinnvoll, wenn gegenseitige Kommunikation betrieben wird. Ein Sprecher, der vor sich keinen Hörer (wenn auch einen imaginären) hat, braucht keine distanzierte Haltung zu seinen Aussagen anzunehmen, um seinem Gegenüber höflicher zu erscheinen. Derartige Aussagen mit würde + Infinitiv können häufig als Ausdruck der Intention interpretiert werden, insofern der Sprecher mit würde seine Absicht manifestiert, einen bestimmten Sprechakt auszuführen, zugleich aber den Vollzug dieses Aktes bestimmten nicht weiter spezifizierten, jedoch sprachlich formulierbaren Bedingungen unterwirft. In dieser Interpretation kann würde im Zusammenhang mit dem Modalverb möchte betrachtet werden. Das formal konjunktivische möchte wird heute bekanntlich unabhängig von seinem indikativischen Pendant mögen als ein selbständiges Lexem betrachtet (vgl. Öhlschläger 1989, 181; Lötscher 1991, 338; Diewald 1999, 146 ff., 204). Möchte wird traditionellerweise und aus diachroner Perspektive auch zutreffend in den Grammatiken als Konjunktiv II-Form von mögen erwähnt, synchron gesehen ist es aber ein von mögen unabhängiges Verb. Das volitive möchte kann nicht einfach in die heutige Lexembedeutung von mögen plus die Bedeutung des Konjunktivs II zerlegt werden. Die Funktion des Konjunktivs II, die im Verweis auf nichterfüllte Bedingungen, deren Nichterfüllt-Sein die Nichtfaktizität des Sachverhalts bedingt, wird im Falle von möchte insofern reinterpretiert, als dass sie als Verweis auf einen bedingenden Sprechakt des Partners verstanden wird. Möchte bezeichnet zwar eine Sprecherintention, diese ist
Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
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aber „dem Einflussbereich einer weiteren Quelle unterstellt“ (Diewald 1999, 148, Beispiele (84) und (85) ebd.): (84) In der Welt der Aktien und Börsen begegnet Ihnen regelmäßig ein Wesen, das wir an dieser Stelle gerne einmal gebührend vorstellen möchten: der Dax. (85)
Spiegel: Haben Sie ein konkretes Angebot für Jelzin in der Tasche? Solana: Nein, ich möchte eher eine erläuternde Diskussion führen, um Bedenken auszuräumen.
Diese Belege zeigen, dass die Bedeutung von möchte als „bedingtes Beabsichtigen“ bzw. als „Beabsichtigen in Abhängigkeit vom Partner“ umschrieben werden kann. In (84) kann diese folgendermaßen paraphrasiert werden: „wir wollen Ihnen den Dax vorstellen, was davon abhängt, dass sie uns zuhören bzw. weiterlesen wollen“ (Diewald 1999, 148). Diese spezifische Bedeutung von möchte, d.h. die Bezugnahme bzw. der Verweis auf die Absichten anderer, entsteht aus der Reinterpretation der ursprünglichen Bedeutung des Konjunktivs II. Ähnlich verhält sich auch die Konstruktion würde + Infinitiv in ihren so genannten „höflichen“, distanzierten Verwendungen, die mittlerweile zu Höflichkeitsfloskeln geworden sind (ich würde sagen, behaupten, raten usw.). Der Unterschied zwischen möchte und würde liegt m.E. darin, dass würde als formbildendes Auxiliar für den analytischen Konjunktiv II keine selbständige lexikalische Bedeutung i.S.v. „Beabsichtigen“, „Wollen“, die bei möchte vorhanden ist, trägt. Bei würde + Infinitiv liegt lediglich die reinterpretierte Grundbedeutung des Konjunktivs II vor (Verweis auf nichterfüllte Bedingungen, die die Nicht-Faktizität der Proposition beeinflussen), die als Verschleierung, Abmilderung oder Relativierung der real gegebenen Faktizität (bedingte Faktizität) beschrieben werden kann. Der Sprecher gibt mit der Verwendung von würde + Infinitiv vor, den Sprechakt, den er tatsächlich ausführt, nicht zu vollziehen, um höflich zu bleiben. Die Unterwerfung der Aussage nicht weiter spezifizierten, vorgeblich nichterfüllten Bedingungen erfolgt von Seiten des Sprechers zu dem Zweck, dem Gegenüber seine Aussage höflicher, vorsichtiger, bescheidener erscheinen zu lassen. Damit erfolgt also eine explizite Bezugnahme auf Absichten, Positionen bzw. mögliche Reaktionen des Hörers, des Gesprächpartners. Mit ich würde sagen, raten usw. sagt der Sprecher nichts über seine Absichten aus, was dagegen bei Aussagen wie ich möchte sagen, behaupten usw. der Fall ist, und das unterscheidet möchte von würde in solchen Kontexten. Würde tritt m.E. in solchen Gebrauchsweisen der Fügung würde + Infinitiv als ein vollständig grammatikalisiertes Auxiliar zur Bildung der
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
Konjunktiv II-Formen auf, das seine eigene lexikalische Bedeutung zugunsten der Modusmarkierung vollständig eingebüßt hat. Die Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv kann hier also als analytischer Konjunktiv II bestimmt werden. Dafür spricht auch die fortschreitende Verbreitung und Konventionalisierung dieser Fügung in weiteren („höflichen“) Kontexten. Die Reinterpretation der konjunktivischen Grundbedeutung geht hier noch weiter als nur der Ausdruck der Höflichkeit oder sozialer Distanz, es geht mehr in die Richtung eines „guten“, vornehmen Stils, der für bestimmte Formulierungen gewählt wird (natürlich mit dem Hauptakzent auf die höfliche Wirkung). So wird z.B. mit dem folgenden Satz: (86) Mich würde interessieren, ob die Regierung selber Quantifizierungsüberlegungen angestellt hat, daß dies zu deutlichen Steigerungen der Sozialhilfekosten und damit zu weiteren Belastungen der Kommunen führt. (BP) geäußert, dass der Sprecher sich tatsächlich dafür interessiert, ob die Regierung Quantifizierungsüberlegungen angestellt hat; nur würde diese Aussage in der Form mich interessiert, ob... vielleicht ein wenig zu „direkt“ wirken, deswegen wählt der Sprecher eine stilvollere, vornehmere Formulierung mit würde, die einerseits einen höflichen Effekt hervorruft und andererseits doch die reale Situation (den realen Wunsch) darstellt. Ähnliches gilt auch für die folgenden Belege aus dem untersuchten Korpus: (87) "Mich würde viel eher interessieren, wer sie wirklich ist", entgegnete Graf Bolko nachdenklich. (Larsen, 51) (88)
"Mit dem Adel haben wir sonst nichts am Hut", versichert ihm ein Ehepaar aus Zwickau, "aber Ihnen und Ihrer Gattin würden wir gern eine Krone aufsetzen." (Spiegel 36)
(89)
Süskind ist ein geistreicher Autor. Ich fand "Das Parfum" glänzend. Ich würde gern mehr von ihm lesen. (Spiegel 36)
(90)
Das Krankengeld, von dem ihr 43 Mark mehr bleiben, als die Sozialhilfe beträgt, kommt ihr zwar gelegen wie ein kleines Geschenk. Aber die paar Mark können ihre soziale Trostlosigkeit nicht beschwichtigen. Sie sucht so dringend einen Platz im Leben, sie würde so gern im Krankenhaus oder in der Altenpflege arbeiten. (Spiegel 44)
(91)
Wenn mal eines von 100 eine Emotion liefert, die mich als Reporter gut aussehen läßt, ist es schön. 99 davon sind nicht so. Daran würde ich gern etwas ändern, wie an so vielen
Zusammenfassung
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nichtssagenden Ritualen, die sich beim Fußball im Fernsehen eingebürgert haben. (Spiegel 44) Wie schon erwähnt, tritt die Periphrase würde + Infinitiv sehr häufig zusammen mit dem Modaladverb gern oder lieber auf. Dieser fast formelhafter Gebrauch von würde + Infinitiv hat sich so sehr in der heutigen deutschen Sprache eingebürgert, dass die synthetischen Konjunktiv IIFormen in dieser Bedeutung äußerst selten geworden sind (mit Ausnahme von einigen Verben: haben, sein, Modalverben), d.h. von der Fügung würde + Infinitiv verdrängt worden sind. Man könnte in dieser Hinsicht also von der Konventionalisierung der Periphrase in dieser Funktion sprechen, sodass würde + Infinitiv seine Nische in dem weiten Bedeutungsspektrum des Konjunktivs II allmählich annimmt, zumal die Grundbedeutung des Konjunktivs II bei höflichen, vorsichtigen Verwendungsweisen nicht gleich ins Auge springt.
7.7. Zusammenfassung In diesem Abschnitt der Arbeit wurden verschiedene Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv im Hinblick auf unterschiedliche Arten der konditionalen Verknüpfung beschrieben. Die Konditionalkonstruktionen wurden für diese Fallstudie gewählt, weil sie einen gewichtigen Teil in dem gesamten Verwendungsspektrum der Konstruktion würde + Infinitiv ausmachen. Das Ziel der vorgenommenen Untersuchung war, zu zeigen, dass das Konzept der grundlegenden relationalen Struktur sich dafür eignet, konkrete Realisierungen und Interpretationen der in Frage kommenden Konstruktion einheitlich zu beschreiben. Es wurde festgestellt, dass die Arten der konditionalen Verknüpfung, die darüber hinaus für die Betrachtung weiterer sprachlicher Phänomene (andere Konstruktionen, grammatische Kategorien) dienlich gemacht werden können, zum allgemeinen kognitiven Inventar einer Sprache gehören. Die konzeptionelle Trennung zwischen inhaltlicher, epistemischer (inferentieller) und illokutiver (pragmatischer) Verknüpfung gilt daher nicht nur für Konditionalkonstruktionen, sondern allgemein für Relationen, die zwischen Propositionen, zwischen außersprachlichen Fakten und Propositionen, zwischen außersprachlichen Fakten und dem Faktizitätswert der Propositionen usw. hergestellt werden können. Für die Konstruktion würde + Infinitiv heißt das, wie die Ergebnisse der angestellten Analyse zeigen, dass ihre unterschiedlichen Lesarten mit Bezug auf die Arten der Verknüpfung beschrieben werden können:
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Würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen
1. Die inhaltliche Verknüpfung bewirkt die modaldeiktische Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv und lässt sie synonym zum synthetischen Konjunktiv II erscheinen. Für die relationale Struktur der Periphrase würde + Infinitiv bedeutet das, dass eine der eingebetteten gerichteten Relationen, nämlich die in werden verankerte evidentielle (inferentielle) Bedeutungskomponente, nicht realisiert wird, oder besser gesagt zugunsten der Konjunktiv II-Relation eliminiert wird. Die inferentielle Bedeutungskomponente, die für die Fügung würde + Infinitiv angenommen wurde, geht in diesem Fall jedoch nicht ganz verloren – sie macht im Falle von würde + Infinitiv anstelle des Konjunktivs II oft deutlich, dass eine Folgebeziehung zwischen zwei Situationen besteht, wobei die erste der Grund für das Bestehen, Eintreten etc. der zweiten ist. Dass eine temporale Interpretation der Periphrase würde + Infinitiv in solchen Kontexten möglich ist, liegt nicht in der Semantik der Konstruktion selbst, sondern vielmehr in der Interpretation der inhaltlichen Verknüpfung zwischen Propositionen: die bedingte Situation folgt logischerweise auch zeitlich auf die bedingende, und eine zusätzliche Markierung durch bestimmte Tempusauswahl erübrigt sich. 2. Wenn die Fügung würde + Infinitiv dazu dient, epistemische konditionale Verknüpfung zu repräsentieren, tritt sie in ihrer inferentiell evidentiellen Lesart (oder als flektivische Entsprechung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv) auf. D.h., würde + Infinitiv verweist als Evidentialitätsmarker auf nicht weiter spezifizierte Evidenzen, Informationen, die weit über die im Antezedens formulierten Informationen reichen und zusammen mit dem explizit formulierten Antezedens Prämissen für den im Konsequenz dargestellten Schluss bilden. Die ursprünglich aktional mutative lexikalische Bedeutung des Auxiliars werden, die als Merkmal [inferentiell evidentiell] reinterpretiert wird, dominiert in dieser Lesart, insofern als die Fügung würde + Infinitiv auch einen Schlussfolgerungsprozess (Inferenz) denotiert, welcher vom Sprecher vollzogen wird. In der relationalen Struktur der Periphrase würde + Infinitiv wird somit eine der grundlegenden Relationen, nämlich die durch werden begründete, favorisiert, während die Faktizitätszuweisung bezüglich der nichterfüllten Bedingungen eliminiert wird, da die nichterfüllten Bedingungen als Evidenzen reinterpretiert bzw. zu ihnen gerechnet werden. Von einer temporalen Leistung der Periphrase kann in solchen Kontexten keine Rede sein, weil sie meistens als allgemeine Aussagen, Vermutun-
Zusammenfassung
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gen, angewendet auf bestimmte Situationen (ob vergangene, gegenwärtige oder zukünftige), verstanden werden können. 3. Im Fall der illokutiven Verknüpfung wird die im Antezedens formulierte Bedingung für die Ausführung eines im Konsequenz zum Ausdruck gebrachten Sprechaktes als relevant gesetzt, wenn auch ohne besonderen Einfluss auf den tatsächlichen Vollzug dieses Sprechaktes. Die Konstruktion würde + Infinitiv, wenn sie in Kontexten vorkommt, die nicht nur mit Bezug auf diese Art der Verknüpfung, sondern im allgemeinen durch die „höfliche“, „abschwächende“ Funktion des Konjunktivs II interpretiert werden können, ist als analytische Form zum synthetischen Konjunktiv II einzuordnen. Darüber hinaus scheint sich die Periphrase in dieser Lesart vom gesamten Spektrum konjunktivischer Bedeutungen abzuspalten: in Analogie zu dem Modalverb möchte, welches heute nicht mehr als Konjunktiv II-Form zu mögen, sondern als selbständiges Verb im Indikativ mit seiner spezifischen Bedeutung eingeordnet wird, verselbständigt die Fügung würde + Infinitiv nur eine Bedeutung des Konjunktivs II, nämlich seine „höfliche“, „vorsichtige“ Funktion, die mittlerweile als Floskel (ich würde gerne/ lieber...) fungiert und allmählich als „guter Stil“ Eingang und Verbreitung (d.h. Konventionalisierung) findet und sich in dieser Funktion mehr und mehr in der deutschen Sprache etabliert.
8. Die diachrone Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv In diesem Abschnitt der Arbeit wird die diachrone Entwicklung der Periphrase würde + Infinitiv als ein Grammatikalisierungsprozess vorgestellt. Wie in Kap.3.4. beschrieben, erfolgt die Untersuchung grundsätzlich auf der theoretischen Basis von zwei Beschreibungsmodellen, die die entscheidende Rolle des Kontextes in der Grammatikalisierung hervorheben (Diewald 2002 und Heine 2002). Der kontinuierlich verlaufende Grammatikalisierungsprozess wird im Folgenden in seinen einzelnen Stufen bzw. Phasen dargestellt. Die empirische Grundlage für die Untersuchung bildet ein Korpus mit frühneuhochdeutschen Belegen (vgl. Kap.3.3.), das neben Beispielsätzen mit würde auch Belege mit anderen werden-Konstruktionen in gewissem Maße mit berücksichtigt.
8.1. Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte Es erscheint für die vorgenommene Analyse sinnvoll, vorerst kurz auf die Entwicklung der präteritalen indikativischen Form ward/wurden + Infinitiv (und auch Partizip Präsens) seit dem Spätalthochdeutschen bis zum Frühneuhochdeutschen einzugehen. Ich nehme an, dass die Voraussetzungen für die Grammatikalisierung von würde + Infinitiv schon in der Geschichte älterer werden-Fügungen geschaffen wurden, wie folgende Untersuchung zu zeigen versucht. Die präteritale indikativische Form ward/ wurde + Infinitiv hatte in der frühneuhochdeutschen Periode eine noch deutlich zu erkennende inchoative Bedeutung (vgl. gängige historische Grammatiken des Deutschen, Kap.3.1.) und bezeichnete hauptsächlich den Eintritt in einen durch die infinite Form des Vollverbs denotierten Zustand. Die untersuchten Daten bieten eine große Anzahl von Belegen für eine solche Verwendungsweise der Fügung, von denen einige weiter unten angeführt sind. Derartige Beispiele mit eindeutig aktionaler, und zwar inchoativer bzw. ingressiver (mutativer) Bedeutung begegnen uns seit der späten althochdeutschen Zeit und sind sowohl im Präsens als auch im Präteritum
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
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geläufig. Präteritale Formen mit ward/wurden behalten diese Bedeutung bis in die frühneuhochdeutsche Epoche, während die präsentische Form werden/wird + Infinitiv in vielen Fällen als Tempus Futur reinterpretiert wird (vgl. Wiesinger 2001). Im 16. Jahrhundert stirbt diese rein aktionale Verwendungsweise der werden-Periphrasen aus (vgl. Aron 1914, 12 ff., 46ff.; Ebert u.a. 1993, § S173). (1) Ich enwais nicht, ob es gotes wil was oder ob er suenst torlich vmbgieng, daz die mër gen hof komen, der hiet sich hart gefallen von dem phërt. Vnd do sich sein sach pessern ward, do hueb er sich auf vnd rait da hin ge Krabaiten, vnd die sach muesaten lenger angesten vnd meiner fraun gnad was trawrig, daz der day.g vmb die sach nue wessat, vnd Ich was auch in grossen sorgen, aber es was freilich gots wil. (KD, 14) (2)
Es geschahe zw einer zeit, das der maister wart gen zw einer clausen, do waren funff clausnerin jnnen vnd worden mit im reden vnd worden auch peichten vnd piten, das er in ein predig tet vnd jn auch saget von dem aller nechsten, warsten, clersten clausenleben. (PM, 184-185)
(3)
Vnd da ich nach an meinem gepet was, da deücht mich aber wie ain grosz geprecht vnd ain gerumppel mit Harnasch an der tuer wër, da der recht eingankch was in das frawnZy.mer. Do erschrakcht ich als hart, daz ich vor angsten alle zitern vnd swiczen ward, vnd gedacht, es wër nicht ain gespenst, vnd die weil ich an der kapellentur gestanden wër, die weil wëren Si her#vmbgegangen vnd wessat nicht, was ich tueen solt vnd losat, ob ich die Junkchfraun icht da hort. (KD, 16)
(4)
Vnd wier waren nicht lang zu Rab, Do kamen die Behemischen Herren ettleich gen Rab vnd wollten iren naturlichen herren sehen, vnd ich muest den edelen Kung also plassen auf ainem polster fur sew tragen. Do wuerden sy, Da wuerden sew all frölich vnd laut lachen, Vnd daz das kind dar ab erschrikchat vnd ward vast vnd laut waynen. (KD, 31)
(5)
Do mich der selb arm hungerig in so grossen eren sach und so ringklich mein narung gewinnen, da ward mich der man flechend biten, das ich im vergunte das von mir zelernen. und ich hieß in mir nachvolgen ob ers vermoechte. (NE, 49 Eunuchus)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Die Verbindungen von ward/wurden mit Partizip Präsens waren im Frühneuhochdeutschen noch verbreitet und hatten dieselbe Bedeutung wie diejenigen mit Infinitiv: (6) Also that man Jhnen dieselbe Statt auff/ dann man sichert sie: Da schoß man fast mit FeurPfeilen in die ander Statt/ die feind war/ vnd sie ward brennendt/ daß sie gar verbran. (SM, 10 Chronik) (7)
Vnd in dirre froeiden do wart ein has in mir selber vfstonde, daz ich min fleisch, minen lichamen, also gar sere v.bele hassende wart, das ich an stette der gieng vnd det mine cleider abe vnd nam starke rvoten vnd zerslvog[?] si vffe mime lichamen zuo kleinen stv.cken. (MM, 8)
(8)
Des andern tages dez morgens rehte frvege wart, do koment aber dise zwei menschen zuosammene, vnd wurdent aber mit einander redende. (MM, 21)
In einer Erzählung über Vergangenes und neben den einfachen präteritalen Verbformen verwendet, bezeichnet ward/ wurden + Infinitiv/ Partizip Präsens in den meisten Fällen den Eintritt einer neuen Handlung oder eines neuen Zustandes. Die aufeinander folgenden Geschehnisse werden in ihrer zeitlichen Abfolge geschildert. Auf Konstruktionen mit ward/ wurden folgen nicht selten weitere präteritale Formen, was eine temporal zukunftsweisende Bedeutung der Periphrasen ausschließt. Wiesinger (2001) nennt solche Formen daher ‚präteritaler Inchoativ’: Der Wechsel von einfachem und periphrastischem Präteritum mit ward/wurden + Infinitiv bildet [...] also keine synonyme alternative Ausdrucksmöglichkeit des Präteritums [...], sondern die Periphrase ist Ausdruck der inchoativen Aktionsart und kann somit als präteritaler Inchoativ bezeichnet werden. Gegenüber dem inchoativen Charakter der Periphrase im Präteritum drückt die formale PräsensPeriphrase wird/werden + Infinitiv bei Kurzmann bereits zukünftiges Geschehen aus und fungiert somit als Tempus Futur. (Wiesinger 2001, 182)
Für die Bezeichnung der präteritalen werden-Formen im Mittelhochdeutschen und im Frühneuhochdeutschen als Periphrasen, Umschreibungen für einfache Präteritumformen spricht sich dagegen Aron aus: Diese Form [Präteritum von werden] dient dazu, den Beginn einer Handlung auszudrücken, die der Vergangenheit angehört, es ist dann gewissermaßen ein Inchoativum der Vergangenheit. Da aber das Partizip als Adj. an und für sich Zustand oder Dauer einer Handlung oder eines Vorganges ausdrückt, so ist es anzunehmen, dass noch mehr als der bloße Begriff des Eintritts oder Anfangs einer bereits geschehenen Handlung in dieser Umschreibung liegen kann, es kommt zugleich der Nebenbegriff der Fortdauer dieser angefangenen Handlung
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
245
mit zum Ausdruck, Aorist und Imperfektum in sich vereinigend. (Aron 1914, 17f.)
Er klassifiziert „Eintritt und Fortdauer“ als Regelinterpretation und weist ferner daraufhin, dass „manchmal sowohl der Begriff des Inchoativums wie der Dauer zu schwinden und die Umschreibung bloß die einfache Handlung auszudrücken [scheint]“ (S. 18). Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Aron, dass die präteritale Form von werden in Verbindung mit Infinitiv oder Partizip Präsens „ohne Bedeutungsunterschied vom Simplex gebraucht werden kann“ (S. 48). Ich bin der Ansicht, dass Arons (1914) Aussagen über die Polyfunktionalität der werden-Fügungen mit Partizip Präsens und Infinitiv eher dem damaligen Stand der Sprachentwicklung entsprechen. Gegen die Auffassung von Wiesinger (2001) ist vor allem einzuwenden, dass i) die Untersuchung nur auf Texten von Kurzmann basiert, d.h. eine deutlich geringere Materialsammlung (aus einer Sprachlandschaft) umfasst. ii) Es wäre auch für präteritale Formen von werden mit Partizipien und Infinitiven analog zu den anderen Bildungen mit werden (werden + Infinitiv in der Gegenwartsperspektive > Futur; werden + Partizip Perfekt > Passiv) eher ein Abbau aktionaler Merkmale des werdenden Auxiliars zu erwarten, und zwar zugunsten anderer Merkmale, die eine Kategorisierung der Periphrase innerhalb des verbalen Systems des Deutschen vorantrieben. Dass die Konstruktionen ward/wurden + Infinitiv im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen offenbar eine Tendenz zum Abbau bzw. zur Umdeutung ihrer Inchoativität anzeigten, ist im Lichte des fortschreitenden Grammatikalisierungsprozesses der werden-Fügungen eine erwartbare Entwicklung. Wie diese umgedeutet oder reanalysiert wurden, geht aus den oben erwähnten Untersuchungen nicht eindeutig hervor. Die temporale Umdeutung in der Vergangenheitsperspektive gilt als unmöglich (Wilmanns 1906, Kotin 2003 u.a.); die Beibehaltung der inchoativen Bedeutung und die Herausbildung des Aspekts „Inchoativum“ (Wiesinger 2001) scheinen vor dem Hintergrund synchroner Überlegungen eher unwahrscheinlich; die bloße Umschreibung des Simplex (Aron 1914) kann hier auch nicht als plausible Bedeutungsbeschreibung für ward/ wurde + Infinitiv angenommen werden, da sie das völlige Verschwinden aktionaler Merkmale implizieren würde.1 Mein Vorschlag zur Entwicklung der werden-Formen in der Vergangenheitsperspektive (und nicht nur dort) sieht folgendermaßen aus: Es zeichnet sich zu Anfang des Frühneuhochdeutschen eine Tendenz aus,
_____________ 1
Die Interpretation der Konstruktionen mit werden als ‚bloße Umschreibung des Simplex’ wird allerdings nicht als solche völlig verworfen, da dies eine plausible Erklärungsbasis für die Entwicklung von würde + Infinitiv zum analytischen Konjunktiv II bilden kann. Dazu ausführlicher in Kap.8.8.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
dass die werden-Fügungen nicht nur den Eintritt in einen Zustand zum Ausdruck bringen, sondern auch noch dazu dienen, diesen „neuen“ Zustand als folgend aus den vorhergegangenen Ereignissen zu charakterisieren. Im Althochdeutschen (Beispiele zitiert nach Kotin 2003 mit seinen Bedeutungsparaphrasen) wird mit werden-Fügungen lediglich der Eintritt, das Geraten in einen Zustand bezeichnet. Durch die Verwendung von werden wird der Moment des Wechsels selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, und nicht, wie schon anhand vieler mittelhochdeutscher und noch mehr frühneuhochdeutscher Belege nachvollzogen werden kann, das Kontinuum und der damit verbundene (temporale und kausale) Zusammenhang der Ereignisse hergestellt. Das Geschehnis (bzw. dessen Anfangsphase), das mithilfe der Umschreibungen mit werden dargestellt wird, ist zwar Teil einer Erzählung, aber dennoch nicht als Folge aus dem Vorangegangenen dargestellt, d.h. es kann auch isoliert vom Kontext als Beschreibung eines faktischen Ereignisses interpretiert werden. Besonders deutlich lässt sich diese Bedeutung in (9) beobachten, wo sliumo ‚plötzlich’ eindeutig ein Ereignis einführt, das unerwartet eintritt: (9) Thô sliumo uuard thar mit themo engile menigi himilisches heres got lobontiu inti quedentiu: tiurida si in then hôhostom gote... (Tatian 6,3) – [Da plötzlich ward dort mit dem Engel Menge Himmlischen Heeres Gott lobend und sagend: Ehre sei in den Höchsten Gotte] – ‚Er erschien auf einmal mit dem Engel eine Menge des Himmlischen Heeres, die Gott lobten und riefen: Ehre sei Gott im Himmel...’ (10)
Íh uuárd iu fórn guár chad er . in nâh philologia chélen. (Notker I,727,28-29 (MC,2,21)) – [Ich ward damals früher fürwahr, sagte er, ihnen nach Philologie sagen] – ‚Ich begann schon vorhin, sagte er, ihnen über Philologie zu erzählen’
Die althochdeutschen werden-Formen lassen sich am besten ins heutige Deutsch mit Verben beginnen und anfangen übersetzen. Diese Interpretation der Fügungen mit werden und Partizip Präsens oder Infinitiv entspringt aus dem syntaktischen Charakter dieser Konstruktionen: sie sind noch als nicht grammatikalisierte Einheiten aufzufassen, sondern als Fügungen, die sich aus semantisch selbständigen lexikalischen Elementen (hier das Verb werden in der jeweiligen Flexionsform und der Infinitiv bzw. das Partizip Präsens als nominale Ergänzung) zusammensetzen. Das Verb werden kodiert den Beginn, den Eintritt eines neuen
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
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Ereignisses, eines neuen Zustandes, der mit Infinitiv- bzw. Partizipialergänzungen beschrieben wird. Mit der fortschreitenden Grammatikalisierung dieser Konstruktionen2 (vom zusammengesetzten nominalen Prädikat zur periphrastischen grammatischen Form) werden sie allmählich als eine semantische und syntaktische Einheit empfunden, die ihre eigene Bedeutung aus den einzelnen Bedeutungen ihrer Konstituenten entwickelt. Diese lässt sich allerdings in der Anfangsphase des Grammatikalisierungsprozesses noch aus den einst selbständigen Funktionen einzelner Bestandteile der Konstruktion ableiten. Im Mittelhochdeutschen gibt es Belege, die noch nach dem althochdeutschen „Muster“ zu interpretieren sind: (11) wie wol ich wiste al diese vart, sit ich in merkende wart (Gottfried v. Straszburg, zit. nach DWB) (12)
er wart mit vlîze vrâgen sie, daz sie im rechte seiten, wie ez in dem lande wære gestalt (livländ. reimchronik 319, zit. nach DWB)
Es finden sich aber schon Beispiele für die Verwendung von Konstruktionen mit werden in solchen Kontexten, die die oben beschriebene zusätzliche Bedeutung einer Folgebeziehung deutlich erkennen lassen. Diese Interpretation geschieht nicht ausschließlich im Verb werden selbst, sondern kommt im Zusammenhang mit anderen kontextuellen Faktoren zustande.3 So treten in folgenden Belegen temporale Angaben danne und darnach als Indikatoren auf, welche eine verbindende Funktion im Text übernehmen und außerdem dafür sorgen, dass der mit werden dargestellte
_____________ 2
3
Ich spreche in dieser Arbeit von der „Grammatikalisierung der Konstruktion“, wenn auch das Element, das eigentlich grammatikalisiert wird (wie es traditionell in der Grammatikalisierungsforschung verstanden wird – Element, welches aus einer lexikalischen Einheit zum grammatischen Zeichen wird), in unserem Fall das Vollverb werden ist, das sich zum Auxiliar entwickelt. Trotzdem halte ich das für angemessen, von der Grammatikalisierung der gesamten Konstruktion zu sprechen, statt einige Grammatikalisierungsprozesse, die die werden-Konstruktionen durchlaufen (haben) zu vermuten: wie etwa Vollverb > Auxiliar; Auxiliar zur Futurbildung > Modalverb (modales Auxiliar); werden mit Partizip > (0); werden mit Infinitiv > Tempus Futur usw. Das Auftreten von neuen, im Grammatikalisierungsprozess befindlichen Konstruktionen in bestimmten Kontexten in Zusammenwirkung mit bestimmten sprachlichen Elementen kann hier auch als ein Zeichen für den fortschreitenden Wandelprozess der Periphrase angesehen werden. Einerseits wird die Reinterpretation der Konstruktionen in ihrer neuen Bedeutung durch die kontextuellen Elemente „begünstigt“, andererseits wird der Einsatz der reinterpretierten Konstruktionen in den anderen Kontexten erleichtert, mit Beibehaltung derselben Funktion, die allerdings nicht mehr kontextuell bedingt, sondern der Fügung selbst inhärent wird.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Zustand/ die Handlung als Folge aus dem Vorhergesagten aufgefasst wird: (13) sô er sie danne tragen wirt, sô gêt er kûme eine wochen dar ûffe. (Berth. 1,17,11-13, aus Kotin 2003) – ‚derjenige, der sie [diese Schuhe] tragen wird, geht kaum eine Woche darauf [auf diesen Sohlen]’ (14)
vnd darnach ward sy haim hin faren. (Kurzmann 1999, aus Kotin 2003) – ‚und danach trat sie die Heimfahrt an’
Durch die temporalen Angaben danne, darnach wird zum einen die allgemeine Textkoherenz gewährleistet, zum anderen fungieren sie als anaphorische Verweise. Die werden-Konstruktion bezeichnet nicht bloß den Eintritt in einen Zustand, sondern eher den Übergang von einem alten in einen neuen Zustand.4 Im Mittelhochdeutschen bleibt diese Interpretation der werdenFügungen allerdings „nur“ eine mögliche Interpretation des vorliegenden Kontextes. Die inchoative (oder mutative) aktionale Bedeutung der gesamten Konstruktion ist in jener Zeit die naheliegendste und etablierte Interpretation, die in jeder Verwendung der Konstruktionen beobachtet werden kann. Im Frühneuhochdeutschen sind noch häufiger Kontexte anzutreffen, die die werden-Fügung als Mittel zur Kennzeichnung einer Folgerelation betrachten lassen. Während (11) und (12) noch in Analogie zum Althochdeutschen als rein inchoativ hinsichtlich des im Vollverb beschriebenen Vorgangs verstanden werden können, lassen sich weitere Beispiele als mutativ interpretieren. In (15) wird der mit ward umschriebene Zustand als Folge des Erschreckens dargestellt, der Satz könnte ins heutige Deutsch als Konsekutivsatz übersetzt werden: „Ich erschrak mich so sehr, dass ich vor Angst zitterte und schwitzte“: (15) Vnd da ich nach an meinem gepet was, da deücht mich aber wie ain grosz geprecht vnd ain gerumppel mit Harnasch an der tuer wër, da
_____________ 4
Diese Erkenntnis führt z.B. Kotin (1995, 2003) dazu, die aktionale Beschaffenheit des Verbs werden als ‚mutativ’ zu bezeichnen. Dieser Begriff umfasst im Gegensatz zu ‚inchoativ’ ein breiteres Bedeutungsspektrum und kann daher allgemeiner als ‚Zustandsänderung’ definiert werden. „Die Konstruktion uuerdan + Partizip I [im Althochdeutschen] bezeichnet die Entstehung eines neuen Zustandes bzw. Vorgangs, d.h. einen Wechsel von A → B, wo A die ‚alte’ Handlung bzw. der ‚alte’ Zustand des Satzsubjekts ist, welche/ welcher durch die Konstruktion nicht genannt wird und allein durch den Vortest (seltener durch den Nachtext) oder einfach auf Grund des Weltwissens erschlossen werden kann. Uuirdist suigenti bedeutet, dass die Subjekt-Größe früher, und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt, in dem der atomare Zustandwechsel erfolgt, nicht das semantische Merkmal vom Partizip I besaß“ (Kotin 2003, 102).
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der recht eingankch was in das frawnZy.mer. Do erschrakcht ich als hart, daz ich vor angsten alle zitern vnd swiczen ward, vnd gedacht, es wër nicht ain gespenst, vnd die weil ich an der kapellentur gestanden wër, die weil wëren Si her#vmbgegangen vnd wessat nicht, was ich tueen solt vnd losat, ob ich die Junkchfraun icht da hort. (KD, 16) Die in (16) geschilderte Situation lässt sich auch als eine Abfolge voneinander abhängiger Ereignisse interpretieren. Das anaphorische do/da stellt den Bezug zum Vortext her und verstärkt (oder unterstützt) dabei die Interpretation der wurde-Fügung: ‚als/weil sie den Herrn sahen, wurden sie fröhlich (fingen an, fröhlich und laut zu lachen)’. Die ursprüngliche mutative Bedeutung von werden lässt sich in der heutigen Sprache nur entfernt wiedergeben, da diese bekanntlich keine aspektuellen/ aktionalen Unterschiede in grammatikalisierter Form realisiert. (16) Vnd wier waren nicht lang zu Rab, Do kamen die Behemischen Herren ettleich gen Rab vnd wollten iren naturlichen herren sehen, vnd ich muest den edelen Kung also plassen auf ainem polster fur sew tragen. Do wuerden sy, Da wuerden sew all frölich vnd laut lachen, Vnd daz das kind dar ab erschrikchat vnd ward vast vnd laut waynen. (KD, 31) Im nächsten Beleg folgt die mit ward umschriebene Handlung unmittelbar auf das im Vortext dargestellte Ereignis. Die Relation zwischen zwei aufeinander folgenden Ereignissen ist nicht nur temporal, sondern auch kausal interpretierbar: ‚der Mann bat mich, dass ..., weil/da er mich meine Nahrung gewinnen sah’: (17) Do mich der selb arm hungerig in so grossen eren sach und so ringklich mein narung gewinnen, da ward mich der man flechend biten, das ich im vergunte das von mir zelernen. und ich hieß in mir nachvolgen ob ers vermoechte. (NE, 49 Eunuchus) Die Belege (6) - (8) können auch auf die beschriebene Art und Weise interpretiert werden. In der Materialsammlung von Aron (1914, 81 ff.) findet sich auch eine beträchtliche Anzahl von Belegen mit präteritalen werden-Fügungen, die eine explizit oder implizit vorhandene Folgerelation zwischen dargestellten Ereignissen/ Zuständen vermuten lassen. Die Zahl solcher Belege steigt allmählich mit der Zeit, vgl. z.B.: 14. Jahrhundert
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
(18)
Sie schnitt im aus die hoden sein, Des ward meir Seifrid leiden pein, Wann er verlor ain guot gelid. (Kaufringer Gedichte, XI, 475)
(19)
Und wie der knecht ungetrew Auch sterben muost, das ward ir new. Und ward darumb wainen ser, Das... (Kauringer Gedichte, XIV, 635)
(20)
Prsemizl wolt do hin Nicht riten mit en. Er wart in do sagin: (Chronik von Böhmen, 43, 32)
(21)
... und darnach sachen sie ettwie manig fiur in den wingarten. do
wurden die wachter schrien den purgern in der stat, die stunden uff und wappenten sich. (Chroniken der deutschen Städte III und IV. Augsburg, 63, 11)
15. Jahrhundert (22) Als die keiserin jnnen wart Das des keisers sun vil zart Lag zu schulle in ferren landen Ir hertze das wart es gar dicke anden (Dyocletianus Leben, 434) (23)
Do kam die stoltze frowe zart Vnd fant die ture hert besloszen Sy wart grúwelich daran boszeln. (Dyocletianus Leben, 1750)
(24)
solt sich gen ir freuntlich machen, das der iungling dem vater also veruolgt vnd dadurch eefrawen vergessen ward. (Albr. v. Eyb., 13, 13)
(25)
doch zuzeitten sahe sie ... die hubschen, starcken iungling, ... vnd
ward nun zwefelen in irem gemute vnd mocht nit lenger gestillen die verporgen hitze der natur (Albr. v. Eyb., 62, 30)
(26)
Und als sy desselben raut volgten und der sterbet ... zuo nam, wurden die puren ungedultig und unnder inen selbs dem pfarrer hoch zuoreden (Tünger: Facetiae; 100, 8)
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
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(27)
Und da aber Lionell befannd, das sein maister Phariens nit chumen was, des ward er ser zürnen... (Ulr. Füeterer; 15, 8)
(28)
Do der ritter sach, das Galahutt so ein groß ding durch in gethan hett, ward er an masen ser wainen. (Ulr. Füeterer; 52, 21)
(29) (30)
All ir leute sagten im, wie er mit Ginoffern betrogen wär, und er
ward des gänczlich gelauben. (Ulr. Füeterer; 98, 14)
und stiffte söllich wunder, das die chünigin in durch sein that ward erchennen. (Ulr. Füeterer; 117, 14)
16. Jahrhundert (31) Da sie also ein lange zeit bei einander waren, da worden sy an die fisch wiltbret, fogel vnd andere gute schencken gedencken, (Pauli, 89, 6) (32)
stieß das dem pfaffen inn den arß hinnein, so tieff als er kundt, darvon der pfaff ward springen und in der stuben anfieng zu schreyen (Val. Schumann; 13, 18)
(33)
... der begunde ihm zu wachsen, als die junckfraw vor seinen augen umbgienge. Das ward sie sehr verwundern... (Val. Schumann; 29, 22)
(34)
Da das herr Christoffel hort, gieng im ein stich durch sein hertz, und ward gantz innigklich bedencken, wie er ... Feronica het ... im walde gelassen. (Val. Schumann; 155, 22)
(35)
Alsbald solchs konig Karle erfuor, wardt es ine nit wenig beschweren, angesehen des bapst unschuld (Zimmerische Chronik, 39, 20)
(36)
Von deßwegen der Apiarius, wiewohl er seer erzürnt war, ward lachen... (Rollwagenbüchlein, 16, 2)
(37)
Unnd do er erwacht, hett er in das bett geschissen und lag im dreck; derhalb im die fraw warde übel fluchen, dann sy das bett wider mußt weschen. (Rollwagenbüchlein, 44, 29)
(38)
und so neher er zu ir kam, so mer und fester sy schreyen ward. (Rollwagenbüchlein, 60, 16)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
(39)
Als nun Vlenspiegel die nacht da bleib, da ward er mit der wirtin reden, dz sie zu red kamen, dz... (Eulenspiegel, 46, 7)
(40)
Der maister sagte nein ... vnd warden also miteinander zancken (Eulenspiegel, 77, 12)
Ohne auf jeden einzelnen Beleg eingehen zu wollen, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Kontinuität der Erzählung, die Abwicklung der Geschehnisse in ihrer Aufeinanderfolge durch die Verwendung der werden-Periphrasen klar zum Ausdruck gebracht wird. Dies geschieht im Zusammenwirken mit anderen kontextuellen Elementen: temporalen Konjunktionen da, do, alsbald etc., kausalen Konjunktionen von deßwegen, derhalb oder anderen eine Folgerelation vermittelnden Elementen wie so...so, so...daz, also.5 Es kann hier also festgehalten werden, dass die (indikativischen) Konstruktionen mit werden in der frühneuhochdeutschen Zeit unter anderem dahingehend verstanden werden können, dass sie nicht nur den Eintritt in einen neuen Zustand enkodieren, sondern diesen um eine Folgebeziehung zum Vortext erweitern und somit zwei (meist kontextuell benachbarte) Situationen in einen relationalen Zusammenhang zueinander bringen. Dieser Zusammenhang ist nicht immer temporal, als tatsächliche zeitliche (textuell lineare) Abfolge der Geschehnisse, zu deuten, sondern allgemein als eine Folgerelation aufzufassen, die mitunter kausal, konditional oder konsekutiv interpretiert werden kann. Dabei tritt das mit werden formulierte Ereignis immer als Folge auf. Auf die abstrakte relationale Struktur des Verbs werden, die in Kap.5.2. konstruiert wurde, projiziert, kann man die oben ermittelte Entwicklung folgendermaßen darstellen: Ausgangspunkt A (=[-Z])
→
[Relator]
→
R werden
Ziel Z (=[+Z])
Relationale Bedeutungsschablone des Verbs werden:
_____________ 5
Die erwähnten Konjunktionen haben in der frühneuhochdeutschen Zeit oft noch andere Bedeutungen, die mit den heutigen nicht gleichzusetzen sind. Eine ausführliche Untersuchung zu Interpretationen kausaler, temporaler, konditionaler u.a. Konjunktionen im Frühneuhochdeutschen und zur Entwicklung, Verwischung und Veränderung ihrer Funktionen stellt z.B. die Studie von Huldi (1957) dar.
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
A (das Subjekt; ursprünglicher Zustand)
R werden „Änderung“, „Wechsel“
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Z (Infinitivkomplement; neuer Zustand)
(als Zeichen, das den Eintritt, die Anfangsphase des neuen Zustandes Z markiert) Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
Der Ausgangspunkt der gerichteten Relation im semantischen Basisschema des Verbs werden (innerhalb der Konstruktionen mit Infinitiv bzw. Partizip Präsens) ist in den ältesten Verwendungen von werden-Fügungen noch das grammatische Subjekt des Satzes, das in einen neuen Zustand gerät. Kotin (2003, 29) dazu: „Die Subjektbezogenheit des bezeichneten Vorgangs ist im Germanischen ein obligatorisches Merkmal der ‚werden’Semantik“. Die Bindung der gesamten Fügung an das Satzsubjekt war in der althochdeutschen und teilweise auch mittelhochdeutschen Zeit noch sehr stark. Die Periphrase werden + Partizip I tritt also praktisch ausschließlich in subjekthaltigen aktiven Sätzen auf und ist statusmäßig – wie im Althochdeutschen – ein zusammengesetztes nominal-verbales Prädikat. Werden ist dabei ein kopulatives bzw. kopulaähnliches Verb und das partizipiale Komplement – Verbalprädikativ mit einer deutlichen Bindung an das Satzsubjekt. Derartige Konstruktionen kommen in die Nähe der Gerundialfügungen, unabhängig davon, ob das Infinitum dabei formal mit dem Satzsubjekt kongruiert. (Kotin 2003, 154)
Die in der mittelhochdeutschen Periode ansetzende und bis in die frühneuhochdeutsche Zeit andauernde Entwicklung der werden-Konstruktionen ist also, dass die Bindung an das Satzsubjekt immer noch vorhanden ist, der Fokus aber allmählich in den verbalen Bereich verlagert wird. Was in den Mittelpunkt der Konstruktionsbedeutung gerückt wird, ist die Präzisierung des durch das Infinitum denotierten Vorganges. Dieser Vorgang kann nicht mehr durch seine Subjektbezogenheit bzw. -abhängigkeit charakterisiert werden: der Ausgangspunkt einer Entwicklung ist nicht im Subjekt zu suchen, sondern wird durch den vorherigen Zustand/ Vorgang gegeben, in dem sich dieses Subjekt befand. Wichtig ist, dass es sich auch nicht immer um einen Zustand des grammatischen Satzsubjektes handelt. So beziehen sich in (6) und (7) der Anfangszustand bzw. der die Verände-
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
rung bedingende/ herbeiführende Zustand nicht auf die Subjekt-Größe. Dies legt nahe, dass der Ausgangspunkte im relationalen Basisschema nicht ausschließlich das Satzsubjekt ist. Der Gehalt der Ausgangsposition des sich in einem Grammatikalisierungsprozess involvierten werden ändert sich und mit ihm auch die Interpretation der gesamten Konstruktion. Die Position des Ausgangspunktes erweitert sich, dadurch dass sie sozusagen gespalten wird: zum einen beinhaltet sie bestimmte Faktoren (A), die die durch werden ausgedrückte Veränderung, Entwicklung bedingen; zum anderen enthält sie immer noch nach dem alten Muster das Satzsubjekt (A’), das diese Veränderung oder Entwicklung „durchlebt“. Das explizite Auseinanderziehen beider Komponenten, was anhand von Verwendungen der werden-Konstruktionen in behandelten Kontexten vollzogen werden konnte, die in vielen Fällen allerdings zusammenfallen können (wenn der ursprüngliche Zustand eine Eigenschaft oder ein Zustand des Subjektes selbst ist), bildet den entscheidenden Aspekt bei der Reinterpretation und weiteren Grammatikalisierung der werden-Periphrasen. Dies zeugt vom einsetzenden Prozess der Reanalyse, wobei ein ‚zusammengesetztes nominal-verbales Prädikat’ zu einer ‚Umschreibung des Vollverbs’ umgedeutet wird. [Vortext]
[Proposition]
A (ursprünglicher Zustand)
A’ (Satzsubjekt)
R werden „Änderung“, „Wechsel“
Z (das Infinitivkomplement; neuer
(als Zeichen, das den Endpunkt des ursprünglichen Zustandes A und das Eintreten des neuen Zustandes Z markiert) Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
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Wie aus Kap.5. hervorgeht, besteht die Grammatikalisierung des Lexems werden (Vollverb oder Kopulaverb) zum evidentiellen Auxiliar in Infinitivkonstruktionen hauptsächlich darin, dass die Position des Ausgangspunktes im relationalen Schema erweitert, expandiert wird: Der Ausgangspunkt der mit werden kodierten gerichteten Relation setzt sich in heutigen Verwendungen von werden + Infinitiv aus außersprachlichen Umständen, Fakten (Evidenzen) zusammen, die vom Sprecher als weiterer Bestandteil des Ausgangspunktes verarbeitet werden, sodass eine Aussage mit werden als Folge (Konklusion) eines Schlussfolgerungsprozesses formuliert wird. Anhand des Schemas kann man den ersten Schritt in diese Richtung verfolgen: die Position des Ausgangspunktes schließt nicht nur das grammatische Subjekt des Satzes ein (samt seiner Eigenschaften oder Zustände), sondern „erstreckt sich“ auf Umstände außerhalb (eines Satzes) und schließt den vorangegangenen Text mit den darin beschriebenen Weltzuständen oder Situationen mit ein. Werden dient nicht nur der Kennzeichnung des Eintrittes in einen neuen Zustand, es gewinnt allmählich an einer textverknüpfenden Funktion. Die Kernbedeutung ‚Veränderung, Wechsel, Eintritt’ bleibt im Verb werden dominant, wird aber zusätzlich um weitere, zum Teil kontextbedingte und daher als konversationelle Implikatur6 interpretierbare Faktoren erweitert. Diese begünstigen eine Weiterdeutung in Richtung einer allgemeinen Bedeutung als Folgerelation, die sowohl temporale als auch kausale, konditionale, konsekutive, konzessive u.ä. Färbungen erfährt. Diese Änderung im relationalen Basisschema des Verbs werden, genauer gesagt, die Erweiterung des inhaltlichen „Geltungsbereiches“ der Position des Ausgangspunktes darin im Laufe der Grammatikalisierung, konnte dank der ursprünglichen mutativen Aktionalität von werden ziemlich unkompliziert erfolgen. ‚Mutativ’ (im Unterschied zu ‚inchoativ’ oder ‚ingressiv’, und das ist einer der Gründe, warum Kotin (1995, 2003) für werden diese Bezeichnung einführt) meint nicht nur den Eintritt in einen neuen Zustand, sondern auch den Endpunkt einer Phase bzw. eines anderen (früheren) Zustandes. Also ist der Ausgangspunkt, verstanden als ein verbaler Zustand, schon immer in der aktionalen Semantik des Verbs werden präsent oder zumindest potentiell besetzbar (vgl. Kap.5. 2.). Und wenn dieser alte, frühere Zustand im Text explizit genannt wird und kontextuell oder logisch mit dem durch werden umschriebenen Vorgang in direkter Verbindung steht, reicht nur ein kleiner Schritt, um den Subjektszustand, der ursprünglich die Rolle des Ausgangspunktes ausmachte, um
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Wenn man sie vom heutigen Standpunkt so bezeichnen darf, da es sich eigentlich um geschriebene Texte handelt.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
mögliche weitere, „äußere“ Komponenten zu expandieren, zumal diese direkte Auswirkungen auf das Subjekt auszuüben scheinen. Die Interpretation der ursprünglichen aktionalen Bedeutung der werden-Periphrasen als Bezeichnung einer Folgerelation ist, wie oben erwähnt, noch stark an den gegebenen Kontext gebunden und entsteht in Zusammenwirkung mit weiteren kontextuellen Mitteln. Diese Bedeutung entwickelt sich in diesen Kontexten, die hier als untypische Kontexte (untypical contexts) klassifiziert werden. Diesen Kontexttypus beschreibt Diewald (2002) als diejenige Stufe in der Entwicklung grammatischer Elemente, die dem eigentlichen Prozess der Grammatikalisierung vorausgeht. In dieser Phase werden Voraussetzungen für die darauf folgende (mögliche, aber nicht notwendige) Grammatikalisierung geschaffen. Die neue Bedeutung, die im weiteren Verlauf der Grammatikalisierung favorisiert und behauptet wird, entsteht in solchen Kontexten aufgrund konversationeller Implikaturen. Und dies ist in den beobachteten Verwendungen von ward + Infinitiv gerade der Fall: die Interpretation der aktionalen Bedeutung als Bezeichnung einer Folgerelation geschieht im Wesentlichen dank der konversationellen Implikatur. Diese „neue“ Interpretation kann jederzeit zurückgenommen oder abgestritten werden, indem explizit gezeigt wird, dass die dargestellten benachbarten Situationen in keinerlei Beziehung zueinander stehen. Die Interpretation der werden-Konstruktionen als Bezeichnung einer Folgerelation wird in erster Linie durch den kontextuellen Rahmen selbst determiniert: der Kontext „bestimmt“, legt nahe, dass eine weitere, zusätzliche Lesart zu der „traditionellen“ mutativen Lesart erschlossen werden kann. Allerdings konnte ich in dem untersuchten Material deutliche nichtkontextuelle Faktoren, nämlich Veränderungen in den Konstruktionen mit werden selbst, und zwar in ihren Konstituenten, d.h. in den Infinitivkomplementen feststellen. Dies betrifft die aspektuelle/ aktionale Beschaffenheit des als Infinitiv an werden angeschlossenen Verbs.7 Die Mehrzahl der Verben, die in der mittelhochdeutschen und auch in der frühneuhochdeutschen Periode mit werden „umschrieben“ wurden, können als imperfektiv (nicht-additiv) bezeichnet werden. Das sind Verben, die eine Handlung/ einen Vorgang bezeichnen, ohne eine bestimmte Phase (Anfang oder Ende) zu spezifizieren. Im untersuchten Material treten
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Allerdings benötigt diese Bemerkung weiterer Untersuchungen. Ohne ausführlich auf die semantische und morphologische Besonderheiten deutscher Verben hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum bestimmten Aspekt oder Aktionsart einzugehen, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass obwohl die Aspektualität/Aktionsart der Verben in der heutigen deutschen Sprache keine besondere Rolle spielt, war dies offenbar in den früheren Stadien der Sprache nicht der Fall (vgl. dazu Studien zum heutigen Deutsch von Saltveit (1960, 1962) und Leiss (1992)).
Werden-Periphrasen: Aufkommen und Verbreitung untypischer Kontexte
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Verben wie weinen, lachen, gehen, leben, fechten, predigen, reden, sprechen, schauen, zweifeln, zürnen, minnen, denken u.ä. am häufigsten in Konstruktionen mit werden auf. Verben, die an sich die Anfangsphase einer Handlung/ eines Vorgangs bezeichnen, werden entweder gar nicht oder äußerst selten mit werden umschrieben. Das Aufkommen der werden-Konstruktionen mit solchen Infinitivkomplementen wie erkennen, anschreien, vergessen, aufstehen erst im Frühneuhochdeutschen lässt vermuten, dass die werden-Konstruktionen eine andere als nur inchoative Bedeutung haben, sonst wäre dies als Beispiel einer Doppelmarkierung und Redundanz anzusehen (vgl. z.B. zum Aspekt/ der Aktionsart der als Infinitiv an werden angeschlossenen Verben Leiss 1992). Dies unterstützt meine These von der Reinterpretation dieser Fügungen als Bezeichnung einer Folgerelation. Vgl. die folgenden Belege: (41) ...und schlug so, das die plech von Meliagans in die höech sprungen. (Ulr. Füeterer 125, 15. Jahrhundert; nach Aron 1914) (32)
stieß das dem pfaffen inn den arß hinein, so tieff als er kundt, darvon der pfaff ward springen und in der stuben anfieng zu schreyen... (Val. Schumann 13.18, 16. Jahrhundert; nach Aron 1914)
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Er sluog es das ez nider viel An den backen slug er ez hart Zuo stund do man sehent wart... (Dyocletanius 92)
Obwohl springen eigentlich kein prototypisches perfektives Verb ist, ist der Vorgang, der mit ihm zum Ausdruck gebracht wird, im Vergleich zu Verben wie weinen, lachen, denken, fechten etc. punktuell, d.h. springen bezeichnet keinen monotonen dauerhaften Vorgang, der in einzelne Phasen gegliedert werden kann. Es erscheint daher nicht besonders sinnvoll, im ward springen in (32) den bloßen Eintritt in den Zustand des Springens zu sehen. Die Belege (41) und (32) schildern Situationen oder Ereignisabfolgen, in welchen die erste Situation die zweite hervorruft bzw. die zweite zur Folge hat. Dabei ist im ersten Fall das Verb springen in seiner präteritalen Form gebraucht, im zweiten dagegen wird es mit ward springen umschrieben (die Fügung anfieng zu schreyen ist in dieser Hinsicht auch interessant). In (42) ist dies an der Opposition zwischen nieder viel und sehent wart deutlich zu sehen, hierbei wird mit beiden Ausdrücken die Folge des Schlagens dargestellt. Wenn meine These von der Reinterpretation der Bedeutung von werden-Fügungen stimmt, dann liefern die Belege mit der scheinbar „überflüssigen“ doppelten Markierung wie in (32) eine weitere
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Evidenz dafür. Konstruktionen mit ward/ wurde, die ursprünglich den Eintritt in einen neuen Zustand markierten und eindeutig inchoativ waren, haben sich in dieser Funktion zur Umschreibung der nicht-additiven Verben etabliert. Ihre Verbreitung in weiteren (untypischen) Kontexten führte allmählich zur Reinterpretation oder eher zur Erweiterung dieser inchoativen/ mutativen Bedeutung als textuell verankerter Folgebeziehung zwischen benachbarten Situationen. Die alte inchoative Bedeutung wurde dadurch einigermaßen zugunsten der neuen Interpretation abgeschwächt. Per Analogie fanden auch punktuelle (additive, perfektive) Verben Eingang in die werden-Konstruktionen, und zwar in dieser neuen reinterpretierten Bedeutung, zur Betonung einer Folgebeziehung zwischen zwei textuell benachbarten Ereignissen. Andere kontextuellen Elemente spielen in diesem Reinterpretationsprozess auch eine Rolle, so z.B. darvon in (32), darnach in (43), durch sein tat in (46). Hier einige Beispiele dazu: (43) Darnach wurdent sy vff sitzen Das junger vnd die meister sin (Dyocletanius 15) (44)
Zehant ließ er ir wermen die gůten öl und die legen mit woll über das hercz und senfftigklichen streichen / so lang piß dz verstocket plůt von werme des öles wider entwachet. Do wurden die geÿst des lebens wider außgeen von dem herczen und dem haubt durch die adern / und das marck in dem ganczen leib. Do ward sÿ die augen auftůn ... (Appollonius)
(45)
der kaufman sagt das dar zu. er het gehort von den raubern umb die er sie erkaufft hette, sie were aus Sonio geraubet worden Mein muter da sie die enpfieng, ward sie mit flys alle ding anfachen zeleren und ertziehen als ob sie ir tochter wer. (NE 27, Eunuchus)
(46)
und stiffte söllich wunder, das die chünigin in durch sein that ward erchennen. (Ulr. Füeterer; 117, 14)
Die behandelten Verwendungen können als Brückenstufe oder bridging contexts nach dem vierstufigen Extensionsmodell von Heine aufgefasst werden (vg. Heine 2002, Heine/ Miyashita 2004). Es wird in diesem Ansatz auch darauf verwiesen, dass solche bridging contexts lediglich Voraussetzungen, nicht aber hinreichende Faktoren für den weiteren Grammatikalisierungsprozess schaffen: „Bridging contexts may, but need not, give rise to conventional grammatical meanings“ (Heine 2002, 85). Bedeutungen, welche in solchen Kontexten meist aufgrund konversationeller Implikaturen entstehen, sind immer noch stark durch die Verwendung in denselben Kontexten determiniert: „While the target meaning is the one
Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen
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most likely to be inferred, it is still cancellable, that is, an interpretation in terms of the source meaning cannot be ruled out“ (Heine 2002, 84). Wichtig an dieser Stelle ist, dass die in diesem Abschnitt registrierten und behandelten Gebrauchsweisen von ward + Infinitiv in Kontexten, die die Interpretation dieser Konstruktion als Bezeichnung einer Folgerelation triggern, als Evidenz für den einsetzenden Wandlungsprozess angesehen werden können. Dieser Prozess mündet im weiteren Verlauf in der Etablierung der inferentiellen evidentiellen Bedeutung der Periphrase würde + Infinitiv, wie die folgenden Untersuchungen zeigen werden.
8.2. Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen In die spätmittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Periode fällt die Entwicklung der präsentischen Konstruktion werden + Infinitiv als Futurgrammem. In jener Zeit behauptete sich die Konstruktion in dieser Funktion gegen die konkurrierenden Formen mit den Modalverben wollen und sollen (überzeugende Beschreibungen dieser Entwicklung sind in Diewald/Habermann demn. und Harm 2001 gegeben). Die Fügung werden + Infinitiv vermag seitdem ein zukünftiges Geschehen, das mit Gewissheit eintreten wird, zu bezeichnen, also ein Geschehen, an dessen in der Zukunft liegenden Eintreten aus der Sicht des Autors/ des Sprechers kein Zweifel besteht. Werden + Infinitiv bezieht sich in diesem Fall auf den Ereigniszeitpunkt, der nach dem Sprechzeitpunkt anzusiedeln ist, vgl.: (47) Dan szo der teuffel, der doch ein boszer, lugenhafftiger geist ist, helt glauben allen den, die mit yhm sich vorbinden, wievil mehr, ja allein der aller gutigiste, warhafftigiste got wirt glauben halten, szo yemandt ym trauet! (M.Luther, Von den guten Werken 1520, WA 6, S. 225, aus Diewald/Habermann demn.) (48)
geht! heist mir sein weib herausz gehn! (der erst knecht spricht:) sie ist gleich in der küchen stehn und richtet zu auffs aller-best. mein herr wirdt haben heint vil gest. (H.Sachs 6, 144; aus DWB)
(49)
Des herren rede seint cheusch und seint als daz silber in dem fewre bewearet; als auch mer geschriben ist: Himel und erde werdent zergan, di gotesworte pleibent ewichleichen. (DR, 4)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
(50)
Virt. Allein so bald der Trompeter auf Koeniglichem Befehl wird ein Zeichen geben/ so werden die Lichter ausleschen/ und Meleander wird mit seiner Prinzeßin/ als eine Beute der bisherigen Victorie/ in Sardinien folgen muessen. (WJ, 145)
Kotin (2003, 169 ff.) beschreibt diese Entwicklung als Übergang von der „älteren Aktionalität bzw. Aspektualität“ zur „jüngeren Temporalität“. Er betont, dass die futurische Bedeutung einer paradigmatisierten grammatischen Form immer die Option bieten soll, „einen Vorgang, eine Handlung, ein Ereignis oder einen Zustand in einer kontinuierlichen Abwicklung bis in die Zukunft hinein zu beschreiben [Hervorhebung im Original], etwa Ich las, ich lese jetzt und ich werde auch morgen lesen; Wirst du noch lange hier sitzen? u.dgl. Gerade in dieser Funktion erfüllt das Futur seine eigentliche dichotomische Aufgabe und gerade hier unterscheidet es sich als Tempus vom Aspekt und erst recht von den Aktionsarten“. Diese Eigenschaft des Futurs erwähnt auch Thieroff (1992, 138), wenn er feststellt: „Über Beginn und Abschluss der Situation macht das Futur I keine Aussage.“ Diese Entwicklung von der Aspektualität/ Aktionalität zur Temporalität und somit zum grammatikalisierten Tempus Futur musste notwendigerweise mit dem Verlust bestimmter lexikalischer (und somit aktionaler/ aspektueller) Merkmale einhergehen: diese wurden zugunsten temporaler, d.h. zukunftsweisender Eigenschaften aufgegeben bzw. umgedeutet, was nicht zuletzt im Sinne einer „kontinuierlichen Abwicklung bis in die Zukunft hinein“ verstanden wird. „Erst mit der Rückstellung mutativer Funktion konnte werden zu einem ‚echten’ Indikator des Vorausweisens werden“ (Kotin 2003, 173). Kotin selbst bringt leider nur ein einziges Beispiel mit werden + Infinitiv in dieser neuen temporaler Funktion aus dem Mittelhochdeutschen (aus dem Frühneuhochdeutschen werden in seiner Arbeit keine Belege vorgestellt, nicht zuletzt aus dem Grund, dass der Autor die futurische Funktion der Periphrase als eine Entwicklungsstufe zur prognostischen Funktion, die diese Fügung in der heutigen deutschen Sprache erfüllt, sieht): (51) sie werdent halt got schelten unde die hôchgelobten küniginne Mariam. (Berth. 1,15,5-6; aus Kotin 2003, 172) In dem allmählichen Abbau lexikalischer Merkmale des Verbs werden liegt nach Kotin die wichtigste Voraussetzung für seine Auxiliarisierung als Futurgrammem. Das Verb werden konnte m.E. tatsächlich erst mit dem (partiellen bzw. vollständigen) Verlust seiner aktionalen Bedeutungskomponenten auxiliarisiert werden. Sein Vorkommen in bestimmten Kontexten, die die futuri-
Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen
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sche Interpretation der gesamten Konstruktion fördern und geradezu zu der einzig möglichen machen, liefert ein überzeugendes Indiz dafür. Diese „rein futurischen“ Kontexte sind aber meinen Beobachtungen nach im Wesentlichen auf Prophezeiungen, Weißsagungen wie in (52), (53) oder auf Ankündigungen des Autors über den weiteren Verlauf des Textgeschehens wie in (54), (55) beschränkt: (52) Von dem ersten oppher geschriben stet: Ain oppher gocz ist ain truebter geist, ain rewiges und ain getruebecz hercz wiert got nicht versmehen. Von dem andern geschriben ist: Dann wierst du nemmen das oppher der gerechtichait. (DR, 12) (53)
Drey Maenner haben den Abraham die Freuden--volle Zeitung gebracht/ daß er werde einen Sohn bekommen/ den Jsaac / so da verdolmetscht wird/ Risus, ein Gelaechter. (DGSC, 26)
(54)
Jst wol vor eine ungemeine ja unerhoerte Glueckseeligkeit zuachten/ daß die Gemahlin Rudolphi, unter Toechtern/ die sie ihm gebohren/ vor dißmal die drey aeltsten mit 3 Churfuersten/ und nach der zeit/ wie wir hoeren werden/ die uebrigen dreye mit 3 Koenigen/ vermaehlet gesehen. (BS, 83a)
(55)
Wie uebel aber solches gelungen/ und was fuer ein schlechter Außgang darauff erfolget/ wird zu seiner Zeit zu vernehmen seyn. Von Marocco und andern Africanischen Koenigreichen/ werden wir kuenfftig zu handeln haben. (LS, 4950D)
Es handelt sich hier um zukünftige Ereignisse, Handlungen, Zustände, die in der Zeit nach dem Sprechzeitpunkt eintreten, und wichtiger noch, andauern (oder stattfinden, falls es keine andauernde Vorgänge sind, abhängig von der Semantik des Vollverbs). Der Eintritt eines Zustandes ist nicht mehr die einzige Bedeutung der Periphrase mit werden. Die Verlagerung der Perspektive in die Zeit nach der Sprechsituation wird hier mithilfe der werden-Fügungen in den Vordergrund gerückt. Die aktionalen Merkmale des Verbs werden werden also zugunsten der temporalen Funktion der gesamten Fügung allmählich abgebaut. Hinzu kommen auch noch weitere begünstigende Faktoren, wie z.B. Sprachkontakt (Leiss 1985), Textspezifik (Diewald/ Habermann demn.) u.a., deren Zusammenwirkung die Grammatikalisierung der Konstruktion werden + Infinitiv zum Tempus Futur vorantrieben. Wenn diese Konzeption zur Erklärung der temporalen Funktion von werden + Infinitiv aus der Umdeutung bzw. dem Abbau seiner aktionalen Merkmale richtig ist, dann sollte auch die von Kotin vorgeschlagene Lösung zum Verschwinden der indikativischen Konstruktion ward/ wurden +
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Infinitiv stimmen. Der zufolge hemmte die noch existierende Fügung ward + Infinitiv die temporale Lesart der Konstruktion werden + Infinitiv, da sie in Zweifelsfällen die aktionale (mutative) Interpretation der Letzteren beeinflusste. Da das Präteritum Indikativ einen eindeutigen Vergangenheitsbezug (im Unterschied zum Konjunktiv) aufweist, habe diese Form keinen Zugang zur temporalen Perspektive der Zukunft, was die temporale Umdeutung der Konstruktion ward + Infinitiv blockierte. „Nicht zufällig geht die Grammatikalisierung der werden + Infinitiv-Periphrase im temporalen Bereich chronologisch mit dem Verschwinden der ward + Infinitiv-Konstruktion aus dem Verbalsystem einher“ (Kotin 2003, 173). Ich betrachte diesen Vorschlag (der schon bei Wilmanns 1906 gemacht wurde) in dieser Arbeit als eine plausible Hypothese, möchte mich auf sie jedoch nicht festlegen, bis weitere Korpusdaten analysiert und die Ergebnisse weiterer Analysen vorgestellt sind. Im Folgenden werden einige Beispiele angeführt, die neben einer möglichen temporalen Interpretation der Konstruktion werden + Infinitiv noch eine deutlich zu erkennende Bedeutungskomponente aufweisen, nämlich die Bedeutung ‚Folgerelation’, die ich oben schon skizziert habe. Diese Belege sind zahlenmäßig viel stärker im untersuchten Korpus vertreten als „rein temporal“ zu interpretierende Lesarten, die auf Verwendungen in Prophezeiungen und Autorenverweisen beschränkt waren (s. o.). Die meisten Beispiele mit zukunftsbezogenem werden + Infinitiv weisen eine weitere Bedeutungsnuance auf. Das ist die schon erwähnte Folgerelation, die zwischen zwei im Text aufeinander folgenden Ereignissen/ Handlungen/ Zuständen besteht und durch die Verwendung von werden + Infinitiv und ggf. durch weitere kontextuelle Faktoren vermittelt wird. Ich beginne mit Beispielsätzen aus der Arbeit von Walther (1980), die von ihm eindeutig als futurisch eingeordnet wurden – (56), (57). Weiter unten folgen Belege aus dem untersuchten Korpus. (56) Denn wenn solch stück der Königin Auskompt zu den weiberen hin, So werden sie verachten gar All ir menner gantz offenbar. Sie werden sagen offentlich: Ahasveros in seinem Reich Lies fordern die Königin Vasthi, Aber zu im kam sie auch nie. So werden all Fürstin zugleich Auch thun im gantzen Königreich. Verachtens viel wird sich heben Der Fürsten Persen und Meden Von iren frawn in solchem zorn
Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen
263
Der Königin stück, so sie es hörn. (Voith 167, aus Walther 1980, 74) (57)
(58)
..., wer aber einen gesunden Verstand und so viel Gehirn im Kopf als ein Martin Gans hat, und ohn affecten judicieren will, der wird leichtlich sehen, dass es eine Schrift sey gleich einer Tragediæ, ... (Schupp I, 67, aus Walther 1980, 79) Wer nun Tugend/ gute Sitten vnd Kuensten liebhat/ wird
wissen was er thun solle. (SM, 23 Bericht)
(59)
Gott erhalte euch noch ferner darbey/ vnd gebe euch die Gnad/ daß jhr Gott gebet was Gottes ist/ vnd der Obrigkeit was der Obrigkeit ist/ so werdet jhr wol stehen vnd wol bleiben. (SM, 23)
(60)
Das Teutsche Vatterland/ setzet nun alle seine Hoffnung auf die erwehlung eines neue- Keysers: mit einer einigen Handlung/ werde- wir viel tausend Wuensche entweder erfuellen oder zu#nichtmachen. (BS, 77b)
Walther (1980, 73 f.) sieht in solchen Verwendungen der Konstruktion werden + Infinitiv primär ihre Funktion als Tempus Futur, bemerkt allerdings, dass in vielen Fällen der Sprecher „auf das Geschehen in Erwartung voraus[blickt]. Der Eintritt des Geschehens wird auf Grund bestimmter Erfahrungen und Kenntnisse erwartet“.8 Und an anderer Stelle zu kontextuellen Besonderheiten solcher Verwendungen heißt es: „Wie schon gezeigt, tritt ein Hauptsatz mit Futurform oft in Verbindung mit einem temporalen/ konditionalen9 Nebensatz auf. Nicht selten kommen auch Relativsätze vor, welche dann meist einleitend auftreten. Z.T. tritt auch häufig identische Struktur [relativer Nebensatz + Hauptsatz] mit jenen Satzgefügen auf, die das gnomische Futur enthalten“ (S. 78). Wie aus den oben angeführten Beispielen ersichtlich wird, vor allem in (57) und (58), wo die Fügung werden + Infinitiv eher eine atemporale Aussage formuliert als ein zukünftiges Geschehnis beschreibt, ist die Konstruktion werden + Infinitiv nicht bloß als ein zukunftsweisendes Zeichen zu verstehen, sondern als ein Zeichen, das eine Folge aus dem Gegebenen
_____________ 8
9
Als „Futurum des zu Erwartenden“ (gegenübergestellt dem „ausblickendem Futurum“) bezeichnet derartige Verwendungen der Konstruktion werden + Infinitiv auch Lerch (1942, 183, in Anlehnung an Wackernagel 1920): „mit einem solchen Futurum werde etwas gegeben, was allgemeine Erfahrungstatsache ist, was man, sobald man die Untersuchung anstellt, wird beobachten können.“ Ausführlicher zu konditionalen Konstruktionen mit würde + Infinitiv im Gegenwartsdeutschen s. Kap.7.
264
Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
bzw. Genannten denotiert. Das mit werden formulierte Geschehen/ Sein ist stets an die im Vortext genannten Ereignisse/ Zustände gekoppelt. Die Bedeutung einer Folge(relation) als reinterpretierte mutative Aktionalität des Lexems werden ist in der frühneuhochdeutschen Periode noch ziemlich undifferenziert: diese Folgerelation kann als eine temporale, kausale, konsekutive, konditionale u. ä. in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext interpretiert werden, vgl. z.B.: Kausal (61) Denn wer den Herrn Christum nit will erkennen/ noch annemen/ als ein helffer wider den Teufel/ der wird kein huelff wider den Teufel vnd die suend sonst koennen finden. (DS, 21 recto) Konditional (62) Awer di mess der gelaubigen, die getauft sind, ist vom offerent uncz nach dem communi. Und di selbig mess ist gehaissen vom lazzen, wenn wann die mess volpracht ist, so wiert ain ygleicher gelaubiger haimlazzen. (DR, 24) Temporal (63)
(64)
Aber/ so sie die vorige Geschichten lesen/ werden sie finden/ daß kaum eine Noth/ ein Vnfall vnd Vnglueck geschehe/ dergleichen nicht auch vor diesem gewesen seye. (SM, 3 Vorrede) Das verstuenden die herren nicht vnd waren fro, daz sich ier gnad gewilligt het, den von Polan zenemen. Da das dy. weis vnd die edel KungInn verstuend, do ward Si gedenkchen vnd trachten nach der Heiligen kron, wie Si die in ir gewalt moecht bringen von den vngrischen herren. (KD, 12)
Das auxiliarisierte Verb werden in den Konstruktionen, die diese Lesart aufweisen, erhält die Interpretation, die im vorangehenden Abschnitt im relationalen Basisschema dargestellt wurde. Während die aktionalen (mutativ, inchoativ) Lesarten der Konstruktion mit der Zeit abnehmen, lässt sich eine zunehmende Verbreitung dieser (vorerst noch vage als Folgerelation definierten) Lesart beobachten. Festgehalten kann an dieser Stelle werden: 1. in der frühneuhochdeutschen Zeit findet sich die Entwicklung der Periphrase werden + Infinitiv als Tempus Futur mit rein temporaler Bedeutung, d.h. dass mit dieser Form nicht nur der Eintritt einer Handlung/ eines Zustandes (bedingt durch die ursprüngliche Aktionalität des Verbs werden), sondern auch das kontinuierliche Andauern einer/s schon begonnenen Handlung/ Zustandes (Aktionalität > Temporalität) bezeichnet werden
Zum Status der werden-Periphrasen im Frühneuhochdeutschen
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konnte. Auffallend ist, dass von mir keine präteritalen Fügungen ward/ wurde + Infinitiv in dieser Lesart nachgewiesen werden konnten. Dies verträgt sich mit der These von Kotin (2003), dass die Bindung der Letzteren an die Vergangenheitsperspektive den Prozess der Umdeutung der aktionalen in die temporalen Merkmale blockierte und daher ihr Verschwinden aus der Sprache verursachte. Diese eindeutig temporale Verwendungsweise der Konstruktion werden + Infinitiv zeigt m.E. tendenziell schon die einsetzende Entwicklung der Fügung zu einem Futurgrammem an. Fraglich bleibt dennoch, ob diese Lesart von werden + Infinitiv sich so sehr bis in die moderne Zeit hinein durchsetzen konnte, um tatsächlich irgendwann den Tempus-Status zu beanspruchen, oder lediglich eine mögliche Lesart neben anderen möglichen geblieben ist. Daraus folgt eine weitere Frage, ob alle heutigen Verwendungen der werden-Konstruktionen (außer Futur) sich von deren Funktion als Tempus Futur ableiten oder sich parallel zu der temporalen Funktion aus der aktionalen Beschaffenheit des Verbs werden erklären lassen. 2. die Reinterpretation der aktionalen Merkmale des auxiliarisierten Verbs werden verlief allerdings nicht nur in die Richtung (reiner) Temporalität, sondern viel häufiger, was die untersuchten Daten zeigen, in Richtung der Bezeichnung einer Folgerelation. Konstruktionen werden + Infinitiv und ward/ wurde + Infinitiv brachten zum Ausdruck, dass das mit dem Vollverb enkodierte Ereignis als Folge eines im Vortext genannten (meist unmittelbar vorausgehenden) Geschehnisses auftritt, sei es als Folge eines temporalen, kausalen, konditionalen usw. Verhältnisses. Solche Verwendungen der werden-Fügungen weisen einen doppelten kontextuellen Bezug auf: einerseits zum ursprünglichen Zustand des Subjektes und ferner zu einem im Text vorhergenannten Zustand der Welt, der oft als bedingender Faktor für das Eintreten des mit werden formulierten Zustandes auftritt; andererseits zum neu eintretenden Zustand, der mit dem infiniten Vollverb ausgedrückt wird und als Folge des ursprünglichen Zustandes aufgefasst wird. Dabei lässt sich der ursprüngliche Zustand in dem relationalen Basisschema als Ausgangspunkt einordnen, der im Unterschied zum Vollverb oder Kopulaverb werden allmählich zusätzlich zum nominalen (Subjekteigenschaften) Inhalt um eine verbale (Zustand des Subjektes oder der Welt) Komponente expandiert wird, was für den Grammatikalisierungsprozess einer zusammengesetzten Konstruktion mit vollwertigen lexikalischen Elementen zu einer verbalen Konstruktion als Ausdruck einer grammatischen Verb-
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
kategorie auch zu erwarten wäre. Der Endzustand ist der Zielpunkt im relationalen Schema und bleibt unverändert in Hinblick auf die früheren Verwendungen von werden-Periphrasen. Werden selbst bezeichnet den Übergang, den Wechsel zwischen diesen zwei Zuständen und wird nunmehr zu einem Zeichen, das eine Verbindung zwischen ihnen zum Ausdruck bringt, und zwar eine Folgerelation. Dass die mit werden dargestellten Ereignisse/ Zustände häufig in der (relativen) Zukunftsperspektive anzusiedeln sind, ist oft auf weitere kontextuelle Angaben zurückzuführen. Dies darf bei der Einordnung der Belege mit werden nicht verirren, zumal das Präsens damals wie heute gut dazu geeignet ist, auf zukünftige Ereignisse zu referieren. Worin die eigentliche Leistung der werden-Fügung besteht, ist eben der Ausdruck einer Folgerelation, was nicht unbedingt eine temporale Interpretation mit einschließt. Die Bedeutung als Folgerelation, die für die werden-Periphrasen des Frühneuhochdeutschen in unterschiedlichen temporalen Perspektiven nachgewiesen werden konnte, basiert auf einer Reinterpretation der ursprünglichen aktionalen/ aspektuellen Bedeutung des Verbs werden. Diese Folgerelation, die im Defaultfall zwischen zwei (aufeinander folgenden) Situationen besteht und auch in dieser Abfolge (vom Sprecher/ Schreiber) beschrieben wird, existiert jetzt vielmehr auf der textuellen Ebene. Durch die Verwendung von werden-Konstruktionen wird diese relationale Verbindung zwischen textuell benachbarten Ereignissen (nicht selten auch unter Zuhilfenahme weiterer kontextueller Mittel) hervorgehoben, expliziert. Werden gilt allmählich nicht nur als Signal einer faktisch bestehenden Verbindung in der dargestellten Situation(sabfolge), sondern tritt auch als textuelles Kohesionszeichen auf, welches an der Textkonstruierung beteiligt ist. Solcherart Entwicklung bezeichnet Traugott (1982, 1989) als charakteristisch für den semantischen Wandel und ordnet sie als eine Zwischenstufe (Tendenz II) im kontinuierlichen unidirektionalen Prozess der Grammatikalisierung („propositional > textual > expressive“) ein10:
_____________ 10 In der später erschienenen Arbeit „Subjectification in grammaticalization“ (1995) relativiert
Traugott ihre Aussage über den strikt unidirektionalen Verlauf der Grammatikalisierungsprozesse entlang der Achse [propositional > textual > expressive], dennoch plädiert sie für die Nützlichkeit eines solchen Konzepts für die Grammatikalisierungsforschung: „Although this has proved a useful hypothasis for testing evidence für change, and has provided overwhelming evidence for increase in expressiveness (which I have redefined as subjectivity), it has also raised a number of questions about the ordering of the changes. [...] Therefore the theoretical basis for the ordering no longer exists. The unidirectionality I am speaking of is the more general one mentioned at the beginning, the tendency to recruit lexical (propositional) material for purposes of creating text and indicating attitudes in discourse situations (Traugott 1995, 47).
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen
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Tendency II: Meanings based in the external or internal described situation > meanings based in the textual and metalinguistic situation. By ‘textual situation’ I mean the situation of text-construction. Examples include the development of lexical and morphological forms into connectives coding cohesion, as in the shift from Þa hwile Þe ‘the time that’ (coding an external described situation) > ‘during’ (coding the textual situation). By ‘metalinguistic situation’ I mean the situation of performing a linguistic act. Examples include the shift from a mental-state to a speech-act verb meaning. (Traugott 1989, 35)
Auf der Basis solcher Überlegungen lassen sich die Konstruktionen mit werden der frühneuhochdeutschen Zeit eindeutig als in einen fortschreitenden Grammatikalisierungsprozess involviert auffassen. Dass diese Konstruktionen allgemeinen bzw. universalen Tendenzen semantischen Wandels folgen, ist ein überzeugender Beweis dafür. Aus dem oben gesagten lässt sich schließen, dass die präteritale Konstruktion ward/ wurde + Infinitiv nur die erste Entwicklung von werden + Infinitiv zum Futurgrammem nicht mitmachen konnte (und deswegen in dieser Bedeutung nicht weiter verwendet werden konnte), durchaus aber die zweite (zum Marker einer Folgebeziehung). Der Frage, warum allerdings die präteritale indikativische Form zugunsten der konjunktivischen in der deutschen Sprache aufgegeben wurde, wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen.
8.3. Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen 8.3.1. Der Konjunktiv in älteren Sprachstufen des Deutschen Der folgende kurze Überblick, der in der althochdeutschen Zeit seinen Anfang nimmt, ist keinesfalls als eine vollständige Darstellung aller Verwendungsmöglichkeiten dieses Modus gedacht. Dieser kurz gefasste historische Abriss soll nur einen Hintergrund darstellen, einen Rahmen, in den die Konstruktion würde + Infinitiv den Eingang fand und in dem sie sich entwickelte. Im Althochdeutschen besteht ein semantischer Gegensatz zwischen dem Indikativ und dem Konjunktiv (Optativ). Historisch und formal entsprechen die germanischen Flexionsformen dem griechischen und altindischen Optativ (Braune 1987, 253). Der Konjunktiv hat im ältesten Deutsch Funktionen, die seiner Bezeichnung als Modus Optativ entsprechen: er
268
Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
wird in den alten Texten11 als Ausdruck einer „wie auch immer nuancierten Aufforderung“ verwendet (Valentin 1997, 188), vgl.: duoemes mannan uns anachiliihhan in unseru chiliihnissu (Is. (65) 178-179)12 (66)
thaz sî îu zi zeichane thaz ir findet kind ... (T. 24, 21-22)
Die voluntative Bedeutung des Konjunktivs Präsens kann als „Fortsetzung des Konjunktivs und des wünschenden Optativs des Indogermanischen“ verstanden werden (Behaghel 1924 II, 219). Diese Form kann „Wunsch, Befehl oder Verheißung je nach Verschiedenheit der grammatischen Person bedeuten“ (Paul 1998, 302). Welche Interpretation in konkreten Fällen vorliegt, hängt meist von dem Kontext ab.13 Schon früh treten Ersatzkonstruktionen für diese Konjunktivformen auf wie müssen konj. + Infinitiv, sollenind. + Infinitiv. Der Konjunktiv dient auch dazu, den Inhalt einer Aussage als „nur gedacht, vorgestellt“ hinzustellen. Diese Verwendung kommt dem Konjunktiv (Optativ) vor allem in den rhetorischen Fragen zu, die die Wirklichkeit des Ausgesagten als „bezweifelt“ darstellen: (67) odho mahti angil so sama so got mannan gifrumman? (Is. 187188) (‚oder vermochte etwa der Engel genauso wie Gott einen Menschen zu erschaffen?’) Bezeichnend für jene Zeit ist, dass der Optativ in beiden Tempora (Präsens und Präteritum) vorkommt und temporale Relationen ausdrückt, die für den heutigen Gebrauch nicht mehr typisch sind. Der Konjunktiv Präteritum steht im Althochdeutschen für die Zeitstufe „vergangen“ und der Konjunktiv Präsens drückt ein gegenwärtiges Geschehen aus, samt der möglichen futurischen Weiterinterpretation. In abhängigen Sätzen (Nebensätzen) werden beide Modi, Indikativ wie Konjunktiv, gebraucht, jedoch in unterschiedlicher Verteilung und Häufigkeit:
_____________ 11 Hier werden die von Valentin (1997) untersuchten Texte gemeint – Isidor in der Ausgabe
12 13
von H. Eggers (Tübingen, Niemeyer, 1964) und Tatian in der Ausgabe von E. Sievers (Paderborn, Schöningh, 1892; Nachdruck, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1961) – als typische Repräsentanten der ältesten deutschen Sprachstufe. Die Angaben beziehen sich auf die Stellen in Tatian- und Isidor-Texten, sekundär übernommen aus Valentin (1997). Nur ein Wunsch kann laut Behaghel (1924, 225f.) vorliegen, wenn keine handlungsfähige Größe da ist, die diese Anregung verwirklichen könnte. Richtet sich dagegen die Anregung an eine handlungsfähige Größe, dann erscheint sie als Gebot oder Verbot. Bezieht sie sich auf einen bestimmten Einzelfall, erscheint sie als Aufforderung.
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen
269
i)
In Finalsätzen steht „ziemlich regelmäßig“ der Konjunktiv (Valentin 1997, 190); ii) Konsekutivsätze stehen gewöhnlich im Indikativ, der Konjunktiv wird dann verwendet, wenn der Hauptsatz eine Negation enthält; iii) In den Konzessivsätzen wird ausschließlich der Konjunktiv verwendet14; iv) Relativsätze weisen Verwendungen beider Formen auf. Es gilt im allgemeinen die Regel: wenn die Nennung des beschriebenen Objektes in einem negierten oder interrogativen Satz erfolgt, steht der Relativsatz im Konjunktiv. Wenn der Inhalt der Aussage „irgendwie gesichert ist“, wird der Indikativ gewählt. So folgt die Modussetzung nicht formalen (Satztyp), sondern semantischen Kriterien (Valentin 1997, 193); Im Konditionalgefüge hängt die Moduswahl davon ab, ob der Inhalt als eine Hypothese hingestellt wird oder dem Bereich des Möglichen, Offenen (Potentialis) angehört. Wenn es sich um sog. „irreale“ Konditionalsätze handelt, wird grundsätzlich der Konjunktiv gebraucht, und zwar immer im Präteritum, ohne Rücksicht auf die temporale Situation. Der Konjunktiv Präsens als Potentialis in unabhängigen Aussagesätzen ist schon sehr früh außer Gebrauch gekommen (vgl. Behaghel 1924 II, 232; Wilmans 1906, 226f; Paul 1920, 158). Dagegen hat der Konjunktiv Präteritum an Bedeutung gewonnen. Er verlor seine temporale Beziehung auf die Vergangenheit und konnte somit die Irrealität auch für die Gegenwart bezeichnen. Diese Entwicklung hat sich offenbar schon im Althochdeutschen vollzogen. Die Konstruktion würde + Infinitiv ist dem Ahd. noch ganz fremd. Im Mittelhochdeutschen lassen sich zwei Bedeutungstypen des Konjunktivs unterscheiden (Paul 1998, 301 f.): der voluntative Konjunktiv und der potentiale Konjunktiv. „Der Konjunktiv Praesentis und der Konjunktiv Praeteriti sind nicht Bezeichnungen für genau die gleiche Art der Modalität“ (ebd.). Der voluntative Charakter selbständiger Sätze mit dem Konjunktiv Präsens ist ein anderer als der von Wunschsätzen mit dem Konjunktiv Präteritum. Ebenso besteht in abhängigen Sätzen ein Unterschied zwischen dem potentialen Charakter des Konjunktivs Präsens und demjenigen des Konjunktivs Präteritum. Der Konjunktiv Präsens hat eine voluntative Bedeutung (in selbständigen wie abhängigen Sätzen, und dort vor allem in daz-Sätzen zur Be-
_____________ 14 Das Vorkommen der konjunktivischen Formen in Konzessivsätzen erklärt Valentin (1997)
dadurch, dass der Inhalt des Satzes nicht angezweifelt, wie es typisch für den Gebrauch von Optativ wäre, sondern „unterbewertet“ wird. Der Inhalt ist „nicht von Interesse“, was durch Konjunktiv-Setzung ausgedrückt wird (Valentin 1997, 192).
270
Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
zeichnung des Wunsches). In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Verwendung des Konjunktivs Präsens nicht wesentlich vor derjenigen der althochdeutschen Zeit. Die Interpretation als Wunsch, Aufforderung oder Befehl kann meist von der grammatischen Person des Satzes abhängig gemacht werden. Der Konjunktiv Präsens in der potentialen Bedeutung kommt im Mittelhochdeutschen nicht mehr vor. Der Konjunktiv Präteriti bringt im selbständigen Wunschsatz zum Ausdruck, dass der Wunsch entweder nach Ansicht des Sprechers in den Bereich der Irrealität gehört oder mit keinerlei Meinungsäußerung über die Möglichkeit seiner Verwirklichung verbunden ist, wodurch er einen irrealen Akzent erhält (Paul 1998, 302). In selbständigen Aussage- und Fragesätzen tritt der Konjunktiv Präteritum als Potentialis auf: (68) minne diu hât einen site: daz si den vermîden wolde! daz gezæme ir baz (Wa 57, 25, aus Paul 1998, 303) In abhängigen Sätzen kommt der Konjunktiv (allgemein) dann vor, wenn der übergeordnete Satz i) negiert wird, ii) im Imperativ oder im (voluntativen) Konjunktiv formuliert ist (bzw. die voluntative Modalität durch die Modalverbkonstruktion bezeichnet wird), iii) einen indirekten Aussagesatz darstellt, iv) den Konjunktiv enthält (nicht voluntativ) (Paul 1998, 445 f.). Abgesehen von diesen semantisch motivierten Kriterien ist noch kurz auf das Vorkommen der Konjunktiv-Formen in verschiedenen Satztypen einzugehen: i) Im Finalsatz wird regelmäßig der Konjunktiv verwendet; ii) Der Indikativ ist im Mittelhochdeutschen der Normalmodus im Relativsatz. Die Verwendung des Konjunktivs folgt den oben erwähnten allgemeinen Regeln; iii) In indirekten Aussage-, Aufforderungs- und Fragesätzen, die durch die Konjunktion daz, Fragepronomina oder adverbien eingeleitet werden oder ohne besondere Einleitung sind, steht sowohl der Konjunktiv (Präsens oder Präteritum) als auch der Indikativ. Wenn die Sätze nicht durch eine Konjunktion eingeleitet werden, wird vorwiegend der Konjunktiv gebraucht. Der Konjunktiv wird bevorzugt, wenn die Sätze von den Verben des WissensWollens abhängen; bei Verben des Sagens wird der Konjunktiv neben dem Indikativ verwendet, doch zeichnet sich schon die Tendenz ab, die indirekte Rede durch den
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen
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Konjunktiv zu markieren. Der Konjunktiv Präteritum wird meist verwendet, wenn der übergeordnete Satz präterital ist. In solchen Fällen dient er als formales Kennzeichen der indirekten Aussage und bezeichnet keine Einschränkung der objektiven Gültigkeit der Aussage (Paul 1998, 458); iv) Der Konjunktiv (Präsens oder Präteritum) kommt auch in den temporalen Sätzen vor, meist nach ê und ê daz. Der Indikativ verdrängt allmählich den Konjunktiv aus diesen Sätzen, bis auf jene Fälle, in denen der übergeordnete Satz negiert wird; v) Konditionalsätze bringen durch die Wahl des Modus (und des Tempus) unterschiedliche Beziehungen zwischen Bedingung und Verwirklichung zum Ausdruck (Paul 1998, 450). Wenn im Vordersatz (Konditionalsatz) Konjunktiv Präteritum steht, so folgt ihm ein Konjunktiv Präteritum im Nachsatz. Der Bedeutung nach können solche Sätze sowohl „irreal“ als auch „potential“ gedeutet werden, abhängig davon, ob die Verwirklichung durch den Kontext als möglich oder unmöglich dargestellt wird. Im Bereich des Hypothetischen kennt das Mittelhochdeutsch also noch keine Differenzierung; vi) Der Konzessivsatz stellt auch im Mittelhochdeutschen eine Art des Konditionalsatzes dar und wird daher teilweise durch die gleichen formalen Mittel gekennzeichnet: Einleitung durch die Konjunktion ob oder Inversion ohne besondere Einleitung; oft treten Adverbien ouch, halt, doch oder konzessive Partikeln al, alein(e) hinzu (Paul 1998, 454). Auch die Moduswahl stimmt mit der von Konditionalsätzen weitgehend überein. Fürs Frühneuhochdeutsche stellt man gewöhnlich ähnlich wie für das Mittelhochdeutsche zwei Bedeutungen der Konjunktivformen im selbständigen Satz fest (vgl. Ebert u.a. 1993, 419): voluntativ (volitiv) und potential. In voluntativer Funktion erscheinen Konjunktiv Präsens und Konjunktiv Präteritum, für die potentiale Funktion steht nur der Konjunktiv Präteritum zur Verfügung. Weder in selbständigen Sätzen noch in abhängigen Sätzen besteht eine Tempusopposition zwischen dem Konjunktiv Präsens und dem Konjunktiv Präteritum. Stattdessen haben die beiden Formen in bestimmten semantischen Umgebungen bestimmte semantische Funktionen (bis auf einige Typen von Nebensätzen, wo dieser oder jener Konjunktiv traditionell syntaktisch bedingt vorkommt).
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Der Konjunktiv Präsens kommt in der frühneuhochdeutschen Zeit in Hauptsätzen nur in voluntativer Bedeutung vor. Verschiedene Bedeutungsnuancen (Wunsch, Befehl, Aufforderung, Vorschlag, Empfehlung, Gebot und Verbot usw.) stehen wie auch im Mittelhochdeutschen im Zusammenhang mit der grammatischen Form des Satzsubjekts und mit der konkreten Redesituation. Der Konjunktiv Präteritum bildet semantische Opposition zum voluntativen Konjunktiv Präsens, indem er Wünsche im Bereich des Irrealen bezeichnet. In dieser Funktion kommt ihm die Umschreibung mit möchte nahe. (69) O hette ich flügel wie Tauben (Ps. 55,7, aus Ebert u.a. 1993, 421) Der potentiale Konjunktiv Präteritum hat eine Reihe von Verwendungsweisen (vgl. Ebert u.a. 1993, 421): i) „im Hauptsatz einer irrealen hypothetischen Periode; ii) als möglich gedachte Folge einer Bedingung, die nicht ausdrücklich in einem Satz formuliert ist, sondern aus dem Kontext zu entnehmen ist, iii) in rhetorischen Fragen; iv) als vorsichtige, bescheidene Bezeichnung der Wirklichkeit in Sätzen, die eine Vermutung, eine Frage oder eine Bitte ausdrücken.“ Als konkurrierende Formen des potentialen Konjunktivs Präteritum gelten in der frühneuhochdeutschen Zeit präsentische Indikativformen mögen + Infinitiv, Präteritalformen von wollen und sollen mit Infinitiv, sowie die Konstruktion würde + Infinitiv, welche die Modalverbperiphrasen verdrängt. Das Vorkommen der konjunktivischen Verbformen in abhängigen Sätzen wird z. T. durch die logischen Verhältnisse zwischen Inhalten von Haupt- und Nebensatz gesteuert, z. T. durch die Funktion des Konjunktivs als Zeichen der syntaktischen Abhängigkeit. Im Allgemeinen wird dann der Konjunktiv verwendet, wenn der Inhalt des abhängigen Satzes „etwas Gedachtes, Mögliches, Gewünschtes, Beabsichtigtes u. ä. ist: i) in Objektsätzen bei Ausdrücken des Wünschens, Wollens, Befehlens, Bittens, Hoffens u.ä., ii) in Subjektsätzen mit Ausdrücken wie es ziemt sich, es ist not/ nötig/ recht/ möglich/ billig, wenn das Eintreten des Ereignisses als möglich oder gedacht betrachtet wird.“ (Ebert u.a. 1993, 453f.)
Würde + Infinitiv und der Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen
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Der Konjunktiv kommt auch dann vor, wenn aus einem negativen Ausdruck im übergeordneten Satz folgt, dass der Inhalt des abhängigen Satzes nicht wirklich ist. Im Folgenden werden typische Verwendungskontexte (Nebensatztypen) für den Konjunktiv im Frühneuhochdeutschen beschrieben. Auf eine eingehendere Beschreibung wird verzichtet, wenn der Konjunktiv in bestimmten Nebensatztypen nur vereinzelt vorkommt oder den allgemeinen Regeln folgend verwendet wird: i) Konjunktiv Präteritum erscheint in Bedingungsätzen, die semantisch in den Bereich des Irrealen oder des Potentialen, Unsicheren gehören; ii) Exzeptivsätze verweisen auf die Bedingung, durch die die Gültigkeit der übergeordneten Aussage eingeschränkt wird und gehen auf den entsprechenden mittelhochdeutschen Typus mit Negationspartikeln zurück. Meistens folgt der Exzeptivsatz auf einen negativen übergeordneten Satz. Periphrasen wie es sei / wäre denn, daß und es sei / wäre denn sache, daß werden im Laufe der frühneuhochdeutschen Zeit immer häufiger. Für solche Sätze gilt noch die alte Zeitfolgenregel: nach einem präsentischen übergeordneten Satz stehen Konjunktiv Präsens oder Perfekt, nach einem präteritalen übergeordneten Satz Konjunktiv Präteritum oder Plusquamperfekt; iii) Konzessivsätze entwickeln im Frühneuhochdeutschen deutliche Zeichen, die sie von den Konditionalsätzen unterscheiden: ob als Einleitung (gewöhnlich mit gleich, wohl, schon, zwar), Zusammenrückung von Konjunktion und Partikel mit den Formen obwohl, wiewohl, obgleich usw. als Ergebnis. Im allgemeinen gilt bei der Moduswahl die traditionelle Regel: Konjunktiv Präsens bei Präsens im übergeordneten Satz, Konjunktiv Präteritum bei Präteritum im übergeordneten Satz; iv) Der gewöhnliche Modus in Finalsätzen ist der Konjunktiv, meist in der üblichen Zeitfolge (Ebert u.a. 1993, 470); v) Konsekutivsätze können sowohl den Indikativ als auch den Konjunktiv enthalten. Nach negativen übergeordneten Sätzen kommt der Konjunktiv vor, allerdings nur ganz selten; vi) Der Konjunktiv steht gewöhnlich in hypothetischen oder irrealen Vergleichssätzen mit einleitenden Konjunktionen wie, als, sam, ob, gleich, gleichsam, als ob, als wenn, als sam (ob) und sam ob, sam als. In der frühneuhochdeutschen Epoche haben die beiden Konjunktive des Deutschen die temporale Interpretation ihrer formalen Tempuskennzeichnung verloren und stattdessen einen semantischen Unterschied favorisiert:
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der Konjunktiv Präsens mit voluntativer Funktion als Ausdruck des Wunsches (Aufforderung, Befehls, Verbots usw.) und der Konjunktiv Präteritum mit potentieller Funktion als Ausdruck von etwas Vorgestelltem, Gedachtem und Irrealem. Somit konnte der Konjunktiv Präteritum ohne einen festen Zeitbezug in unterschiedlichen temporalen Perspektiven verwendet werden. Seine Verwendungen mit dieser potentiellen Funktion in verschiedenen Satztypen lassen sich noch semantisch erklären, auch wenn die syntaktische Abhängigkeit als ein wichtiger Faktor für die Modussetzung angesehen werden kann. Die Kennzeichnung der indirekten Rede durch die Konjunktivformen ist im Frühneuhochdeutschen im Vergleich zu den früheren Sprachstufen schon weit fortgeschritten. Der Konjunktiv (und hier ist die Tempusopposition noch relevant) erscheint meist als gewöhnliche Form in der indirekten Rede15 (Ebert u.a. 1993, 452). 8.3.2. Der Konjunktiv zur Kennzeichnung der indirekten Rede Der Modus Konjunktiv behauptete sich in der frühneuhochdeutschen Zeit allmählich als Kennzeichnen der indirekten Rede. Die Moduswahl war allerdings noch häufig semantisch bedingt. „Nach Verba dicendi kann entweder Konjunktiv oder Indikativ stehen, wobei der Konjunktiv vor allem bei übergeordneten Verben der 3. Person überwiegt. Der Konjunktiv steht, wo ausdrücklich an der Richtigkeit einer Aussage gezweifelt wird; er ist aber auch möglich, wo nicht der geringste Zweifel an der Richtigkeit der mitgeteilten Information besteht oder es sich (bei einem übergeordneten Verb in der ersten Person) nicht um die Mitteilung einer fremden Aussage handelt“ (Ebert u.a. 1993, 454). Es besteht also im Frühneuhochdeutschen, vor allem in seiner früheren Phase, eine gewisse Zweideutigkeit konjunktivischer Formen in der indirekten Rede: einerseits macht der Konjunktiv eine Aussage über die Wirklichkeit bzw. das tatsächliche Aussprechen (oder Ausgesprochen-Sein) einer Mitteilung, andererseits können konjunktivische Formen verschiedene „Abstufungen von der Aufforderung und der Möglichkeit bis zur Verneinung der Richtigkeit einer Information“ (Guchmann/ Semenjuk 1981, 211) realisieren. Der Konjunktiv wird verwendet, um sowohl die Redewiedergabe formal zu markieren als auch in zahlreichen Belegen, um einen Zweifel an der Richtigkeit der Information auszudrücken und ihren Charakter als ‚nur vermutet’, ‚nur wahrscheinlich’ zu kennzeichnen. „Das Nebeneinander zweier
_____________ 15 Ausführlicher zu der indirekten Rede vgl. Kap.8.3.1.
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semantischer Zentren der Konjunktivvariante in der indirekten Rede stellt eine der Formen der Aufhebung der Modusopposition auf der inhaltlichen Ebene dar. [...] Die geschilderte Situation bildete die Grundlage für weitere Entwicklungen, die noch dadurch gefördert werden, dass in dieser Periode jede feste Zuordnung der Tempusformen des Konjunktivs und des Indikativs zu den inhaltlich bestimmten Spielarten der indirekten Rede fehlte“ (Guchmann/ Semenjuk 1981, 211). Die Tempuswahl erfolgt noch weitgehend nach der alten Zeitfolgeregel, wenn schon mit einigen Ausnahmen: Nur für die indirekte Rede liegt ausreichende Information vor. Bis ins 16. Jh. findet sich bei Gleichzeitigkeit nach einem übergeordnetem Prädikat im Präteritum gemäß der alten Zeitfolgeregel mit nur wenigen Ausnahmen der Konj. Prät. [...] Nach einem einleitenden Prädikat im Präsens ist aber die Übereinstimmung der Tempusformen schon im frühen 16. Jh. nicht mehr verpflichtend: öfters steht auch der Konj. Prät. bei Gleichzeitigkeit neben dem häufigeren Konj. Präs. [...] Bei Gleichzeitigkeit liegt keine konsequente modale Opposition zwischen Konj. Präs. und Konj. Prät. vor: beide Formen stehen sowohl in Fällen, wo die Aussage als zweifelhaft bewertet wird, als auch in Fällen, wo keine besondere Bewertung vorliegt. Im 17. Jh. halten manche Autoren noch ziemlich fest an der Zeitfolgeregel. Bei einigen anderen [...] zeichnen sich dagegen die wesentlichen Merkmale des neuen Usus ab: die Wahl der Konjunktivform hängt nicht mehr vom Tempus des übergeordneten Prädikats ab, sondern vom Zeitverhältnis des im untergeordneten Satz beschriebenen Vorgangs zum Zeitpunkt der Mitteilung... (Ebert u.a. 1993, 455) Im Unterschied zu den Finalkonstruktionen nimmt der Konjunktiv in der indirekten Rede eine sehr feste Position ein. Konkurrierende Indikativformen fehlen hier entweder völlig [...] oder sie bleiben vereinzelt. So bewahrt der Konjunktiv seine dominierende Stellung in der indirekten Rede nicht nur, sondern er baut sie in gewissem Umfang sogar noch aus.[...] Im 17./18. Jahrhundert wird das System der Varianten, in denen die indirekte Rede auftreten kann, geschlossener; zugleich erscheinen aber neue Kombinationen, die den weiteren Abbau des alten Usus belegen: Neben die Variante Indikativ Präsens – Konjunktiv Präteritum stellt sich jetzt die ihr entgegengesetzte Variante Indikativ Präteritum – Konjunktiv Präsens [...] Solche Erscheinungen stehen unter dem Einfluß der wachsenden Einwirkung neuer Normative, die mit einem Umbau der ganzen Bedeutungssttruktur der Konjunktivformen in der indirekten Rede zusammenhängen. Die Merkmale des neuen Usus werden in der folgenden Darstellung der Funktionen der Konjunktivformen in der indirekten Rede recht deutlich: Ausgangspunkt ist die Zeitperspektive des einführenden, übergeordneten Verbs; die Wahl der Konjunktivform hängt vom Zeitverhältnis des von ihr beschriebenen Vorgangs zum Zeitpunkt der Mitteilung ab. Gleichzeitigkeit wird durch den Konjunktiv Präsens oder Perfekt ausgedrückt, Vorzeitigkeit durch den Konjunktiv Perfekt oder Plusquamperfekt, Nachzeitigkeit durch den Konditional, Konjunktiv Präsens (bei bestimmten Verben) oder Konjunktiv Futur. (Guchmann/ Semenjuk 1981, 267f.)
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Die Verwendung des Konjunktivs zur Kennzeichnung der indirekten Rede und damit einhergehende Regelungen hinsichtlich des Tempusgebrauchs dieser Formen sind natürlich noch keine feste Norm. Die neuen Verhältnisse befinden sich noch im Prozess der Herausbildung und Stabilisierung. Die Tendenz zum Abbau der Tempusopposition im Konjunktiv der indirekten Rede ist in diesem Prozess offensichtlich ein entscheidender Faktor, der in der späteren Zeit zur Einordnung des Konjunktivs Präsens als Zeichen der indirekten Rede beiträgt. 8.3.3. Würde + Infinitiv in der indirekten Rede In diesem Kapitel werde ich auf das Vorkommen von werden-Fügungen in der indirekten Rede eingehen. Das Hauptanliegen folgender Untersuchung besteht darin, festzustellen, inwieweit die Konstruktion würde + Infinitiv die präteritale konjunktivische Entsprechung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv in solchen Kontexten des Frühneuhochdeutschen darstellte. Zunächst werden einige Beispiele angeführt, die die Verwendung des Konjunktivs Präsens von werden + Infinitiv bzw. des Konjunktivs Futur in genannten Kontexten illustrieren: (70) Nach solcher predig lobet der Herr Jesus die selige zeit/ da vil ein andere predig gienge/ denn vnter dem Gesetz gepredigt ward. Vnd sagt: Solche genadenpredigt werde fort an mit allem gewalt gehn/ vnd die leut werden sich darumb reissen/ vnd mit gantzem ernst darumb annemen werden. (LG, Blatt 20 recto) (71)
Der wyß Solomon leert/ man soelle die kind/ so sy vnraecht thuend/ mit der ruote- züchtige- vnd straaffen/ vnd jnen also ein schraecken ynstossen/ leert nit daß man sy broegen soelle/ vnd sage/ einer oder eine/ werde sy fraessen oder in sack stossen. (LG Blatt 20 recto)
(72)
Drey Maenner haben den Abraham die Freuden--volle Zeitung gebracht/ daß er werde einen Sohn bekommen/ den Jsaac / so da verdolmetscht wird/ Risus, ein Gelaechter (DGSC, 26)
In diesen Beispielen kann die Funktion der Periphrase werden + Infinitiv eindeutig als eine temporale bestimmt werden: es liegen hier Prophezeiungen oder diesen inhaltlich sehr nahe kommende Kontexte vor (vgl. Kap.8.1.). Da diese Prophezeiungen in einleitende Strukturen mit einem
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Verbum dicendi (sagen o.ä.) eingebettet werden, erscheinen sie in der Konjunktivform, was für den Fall der expliziten Markierung der indirekten Rede auch zu erwarten wäre. Die übergeordneten Ausdrücke stehen im Präsens oder Perfekt, sodass die Wahl der Tempusform im untergeordneten Satz der vorherrschenden Zeitfolgeregel (vgl. Kap.8.3.1) jener Epoche entspricht. Ein wenig überraschend ist, dass ich im untersuchten Datenmaterial keine Belege mit eindeutigen Indikativformen (die Pluralformen werden und werdet sind im Indikativ und Konjunktiv Präsens identisch) von werden + Infinitiv feststellen konnte, die in Abhängigkeit von Verba dicendi stehen. Es scheint daher, dass sich die Verwendung der Konjunktive für die Redewiedergabe in diesem Bereich bzw. bei dieser neuen Form vollständig durchgesetzt hat.16 Wenn man sich ähnliche Kontexte in der Vergangenheitsperspektive ansieht, ergibt sich das Bild, dass die Periphrase würde + Infinitiv die gleiche Funktion erfüllt wie es die präsentischen Konjunktivformen von werden + Infinitiv in der Gegenwartsperspektive tun: sie dient der Kennzeichnung der indirekten Rede und entspricht in ihrer Bedeutung der vorausweisenden Variante der werden-Fügung in präsentischen Kontexten: (73) Denn die Propheten hetten es also geweissaget/ Christus wuerde mit solchen wunderzeichen sich lassen sehen (DS Blatt 20 verso) (74)
Rudolphus erstutzte ob dieser Botschafft/ wolte auch solcher anfangs nicht glauben zustellen/ bis ihn der Burggrav dessen mit hoher betheurung nachmals versicherte/ auch hinzusetzte/ wie daß der von Pappenheim ehist ankommen/ und ihm eben dieses von des Reichs wegen andeuten wuerde. (BS, 80b)
(75)
Der geist sagt/ er vnd sine brueder moechtend jm wol helffen/ wener sich acht tag nach einanderen einest mit ruoten striche biß vffs bluot/ vnd jm acht Maessen jn S. johansCapell liese laesen/ vnnd darhinder mit zerthonen arme- lege. Zeigt jm an/ er wurde den volgenden frytag vor mittnacht widerkommen mit grosser vngstuemigkeit/ aber er soelte sich das nit irren lassen/ dann die
_____________ 16 Andererseits gibt diese Beobachtung zu bedenken, ob eventuell die Konjunktiv I-Formen
der Konstruktion werden + Infinitiv primär der Markierung der indirekten Rede dienten? Und dies in der Hinsicht, dass sie damals schon als deiktische (im Sinne von ‚Versetzungsdeixis’) Zeichen fungierten, die im wesentlichen die Einführung einer weiteren „zitierten“ Instanz, die sich vom aktuellen Sprecher/Schreiber verschieden war, markierten und somit der Origoverschiebung dienten? Dies bleiben an dieser Stelle jedoch bloße Vermutungen, die weiterer tiefergehender Untersuchungen bedürfen.
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tüfel moechtend jm als einem heiligen man- nichts schaden. (LG, Blatt 25 verso) (76)
Darnach einer anderen nacht kam ein anderer jn wysser frauwenkleidung/ zeiget an/ er waer Sant Barbara deren er flyssig gedienet/ vnd wurde jm vnser frauw erschynen/ vnd vff die fragstuck antwort geben/ die jm der Laeßmeister vorhin an einem brieff gebe- hat/ dise falsche Barbara nam den brieff/ sagt sy woelte jn der Jungkfrauwen Maria bringen/ man wurde jn bald wunderbarlich gezeichnet/ widerumb an einer heiligen statt finden. (LG, Blatt 26 recto)
(77)
Berrheo, als er das vernam/ ward er gar erschrocken vnd betruebt/ gebrauchte auch/ vnd wandte allerley vrsachen vnd Eynreden fuer/ mich dardurch abwendig zu machen: vberredete auch meine Junckern vnd Edelleut/ daß sie viel Jammers vnd Elendt wuerden muessen außstehen/ wa- ich fortfuehre. Vnnd erstlich berichtet er mich gewißlich/ daß ich mit meinen Schiffen den Strom nicht wuerde koennen hineynkommen/ dieweil er so sandicht vn- vntieff wer/ denn seine Canoas, die nur 12. Daumen im Wasser giengen/ stiessen doch stets auff den Grundt: Zu dem wuerde das Volck mir nicht zur Redt stehen/ sondern fuer mir fliehen/ vnd wo wir sie verfolgeten/ jhre eygene Statt anzuenden. (RA, 18)
Die würde-Fügungen werden in (73) – (77) von Verben wie sagen, anzeigen, berichten, versichern, weißsagen u.a. eingeleitet. Diese Matrix-Verben stehen selbst im Präteritum bzw. Plusquamperfekt. Die Tempuswahl entspricht der traditionellen Zeitfolgeregel (vgl. Kap.8.3.1). Die gesamten syntaktischen Strukturen können in Analogie zu den präsentischen Verwendungen in (70) – (72) als ihre präteritalen Entsprechungen angesehen werden. In den Beispielen (75) und (76) wird die vorausweisende Bedeutung der Konstruktion würde + Infinitiv noch zusätzlich durch die temporalen Angaben bald und den folgenden Freitag unterstützt. Anhand der angeführten Belege lassen sich folgende Schlüsse ziehen: die Konstruktion werden + Infinitiv, die sich allmählich in ihrer temporal vorausweisenden Lesart als Tempus Futur behauptete, verfügte in dieser Lesart im Frühneuhochdeutschen über ein vollständiges ModusFlexionsparadigma. Man konnte zwei Konjunktive bilden, deren Verwendung mindestens in der indirekten Rede nachgewiesen ist (weitere Kontexte werden in den nächsten Abschnitten untersucht). Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass die indikativische präteritale Fügung ward/ wurden + Infinitiv in den Kontexten der Redewiedergabe keinen Gebrauch fand. Wie oben ausgeführt, konnten ebenfalls keine
Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I
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Belege mit eindeutig indikativischen präsentischen werden-Konstruktionen in betreffenden Kontexten registriert werden. Dies kann als eine weitere Evidenz für das Verschwinden dieser Periphrase aus dem Sprachgebrauch angesehen werden.
8.4. Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I In Kap.5. und Kap.7. wurde festgestellt, dass die Konstruktion würde + Infinitiv in der heutigen deutschen Sprache vorwiegend in zwei Kontexttypen gebraucht wird: zum einen in von kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen abhängigen Sätzen und zum anderen in Konditionalkonstruktionen (und mit ihnen verwandten Kontexttypen). Die Sichtung frühneuhochdeutscher Belege ergab, dass analoge Verteilung von würde-Fügungen auf die genannten Kontexte auch im untersuchten Material zu beobachten ist. Im folgenden Abschnitt werde ich auf die erstgenannten Verwendungskontexte eingehen und untersuchen, welche Bedeutungen würde + Infinitiv darin zu jener Zeit zu transportieren vermochte und inwiefern diese Bedeutungen den heutigen nahe kommen. Ferner wird der Frage nachgegangen, wie sich diese Gebrauchsweise der Konstruktion aus den früheren Verwendungen (vgl. Kap.8.1.) oder untypischen Kontexten der werden-Periphrasen ableiten lässt. Sehr nah an die Verwendungen der werden-Konstruktionen in der indirekten Rede treten diejenigen Kontexte, die zwar den Indirektheitskontexten i.w.S. zugeschrieben werden können, dennoch einige Differenzen zu Ersteren aufweisen. Es handelt sich hierbei um Kontexte, in denen keine reinen Verba dicendi et declarandi, sondern Verba Sentiendi und ähnliche Ausdrücke als einleitende Elemente fungieren. Verba dicendi et declarandi /sagen, sprechen, reden, melden, verkunden, berichten, schwetzen, mainen, erklären, erzalen, antworten, ratschlagen/. Sie alle leiten indirekte Rede, also fremde Äußerungen ein. In der gleichen Funktion werden auch /shreiben/, das schriftliche Rede einleitet, und /fragen/, das die indirekte Rede in Fragesätzen einleitet, gebraucht; ebenso aber auch einige Verben, die die Funktion der gleichen Verbkategorie übernehmen, aber dies nur in bestimmten Kontexten und außerdem in übertragener Bedeutung: /anzeugen, anzeigen, außpreyten, vorgeben, setzen/. Ziemlich häufig werden als Äquivalente von solchen Verben abgeleitete Substantive oder auch phraseologische Einheiten benutzt, so neben /meinen/ auch /meinunge, meinung, mainung/, neben /antworten/ auch /ist antwort/; Phraseologismen sind z.B. /brachten Mähr, thetten Einredung, thet ein Vermanunge, wort lawten, gebt zeugnuss/. Bekanntlich wurde der Begriff der indirekten Rede in den Arbeiten des letzten Jahrzehnts immer unschärfer: Zur so genannten ‚indirekten Modalität’ wird jetzt
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nicht nur die Wiedergabe fremder Äußerungen und fremder Gedanken, Erlebnisse, Gefühle und Kenntnisse gerechnet, sondern auch der Ausdruck von Wünschen und Anregungen. Daher können auch Verben wie /wollen, wünschen, sehen, hören, merken, hoffen, wissen/ usw. indirekte Rede anzeigen. Ohne in eine kritische Analyse einer so erweiterten Auffassung der indirekten Rede einzutreten, wollen wir nur bemerken, dass auch diese Verben tatsächlich den Konjunktiv nach sich ziehen konnten; dabei war der Verbindlichkeitsgrad des Konjunktivgebrauchs nach den genannten Verben aber unterschiedlich. (Guchmann/ Semenjuk 1981, 195f.) [Hervorhebung E.S.] Für die Verba sentiendi galt ursprünglich der Gebrauch, dass in den von ihnen abhängigen daß-Sätzen der Ind. gesetzt wurde, wenn es sich um etwas Gewusstes, Wahrgenommenes, dagegen der Konj., wenn es sich um etwas noch Unsicheres handelte. Dabei blieb der subjektiven Auffassung ein gewisser Spielraum. Im Nhd. hat sich nach dem Prät. der Konj. in dem alten Umfange erhalten. Wir sagen daher z.B. ich dachte, daß er sich anders besinnen würde oder besonnen hätte; ich glaubte, daß er mich mit einm andern verwechselt hätte; ich hoffte, daß er sich belehren ließe. Im Präs. dagegen kann jetzt überall der Ind. stehen und herrscht in der Umgangssprache, während der Konj. auf die kunstmäßige Rede beschränkt ist, in dieser sogar auf Fälle übergreift, in denen auch in der älteren Sprache der Ind. berechtigt gewesen wäre. [...] Nur der Ind. ist am Platze, auch nach Verben, die eine subjektive Auffassung bezeichnen, wenn ausgedrückt werden soll, daß eine Tatsache von dem Subj. des regierenden Satzes nicht anerkannt wird; [...] Auch nach dem Prät. steht indiesem Falle der Ind. (Paul 1920, 295ff.)
Es geht also nicht um die Wiedergabe fremder Rede, sondern um die Wiedergabe von Gefühlen, Gedanken, Überzeugungen und Kenntnissen nicht nur fremder Personen, sondern häufig auch des aktuellen Sprechers selbst. Dies geschieht in unterschiedlichen temporalen Perspektiven. Unabhängig von der temporalen Perspektive scheint der Modusgebrauch in den von kognitiven Ausdrücken abhängigen Sätzen noch keinen strikten Regeln zu folgen (vgl. Kap.8.3.2.). Dies spricht ferner dafür, diese Kontexte nicht völlig mit der indirekten Rede gleichzusetzen (vgl. Zitate oben). Wie von Fabricius-Hansen (2002, 19 ff.) überzeugend dargelegt, können Kontexte mit Verba Sentiendi und vergleichbaren Ausdrücken auch in der heutigen deutschen Sprache nicht ohne weiteres als prototypische indirekte Rede eingeordnet werden. Daher ist der Konjunktivgebrauch in diesen Fällen nicht dadurch determiniert, dass ein bestimmter Prädikattyp als einleitender Ausdruck gilt, sondern eher durch andere Faktoren, die heute noch unzureichend erforscht sind (ebd.). Diese Fragen können hier allerdings nicht weiter verfolgt werden, da im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung nicht der Konjunktivgebrauch im Allgemeinen, sondern der Gebrauch der Konstruktion würde + Infinitiv speziell steht. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sowohl im Frühneuhochdeutschen als auch im heutigen Deutsch die Modus- und Tempuswahl in von Verba
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sentiendi etc. abhängigen Sätzen keinen strikten Regeln folgt und dass solche Kontexte nicht ohne weiteres als eine typische Verwendungsdomäne des Konjunktivs zur Kennzeichnung der indirekten Rede (Referatskonjunktiv, Quotativ) definiert werden können. In DWB wird diese Verwendung der werden-Konstruktion folgendermaßen beschrieben: oft findet sich die umschreibung auch beim ausdruck von befürchtungen, hoffnungen und mutmaszenden überlegungen, die sich auf künftiges richten, wobei der sicherheitsgrad der aussage vielfach durch einen entsprechenden 'vorspann' eingeschränkt ist: seht, werden si (die gerechten) sprechen, dirre man enwolde niht haben got zů helfe (13./1. h. 14. jh.) altdt. pred. 1, 7, 24 Schönbach; ich fürcht, si werd mich laichen, wie vil ich auff si pau OSWALD V. WOLKENSTEIN 91, 15 Schatz; mein ich wol jr werdind sagen das die spysz noturfftiger syg dann das galt ZWINGLI v. freiheit d. speisen 11 ndr.; ich hoff, du wersts nicht schlagen ab H. SACHS 2, 24 lit. ver., zu einer zeit ..., da der geschmack seine höchste feinheit – wo nicht erreicht hat, doch höchstwahrscheinlich bald erreichen wird ... GERSTENBERG schlesw. lit. br. 14 lit.-denkm.; und da unterhalte ich mich dictando in der gegenwart, hoffend es werde künftig in die ferne wirken (28. 6. 1818) GÖTHE IV 29, 220 W.; 'hafer wird es geben', dachte er E. WIECHERT Doskocil (1932) 57; oder durch die form der direkten oder indirekten frage: hoch dienstlich ist es zuwissen, ob eyn früh oder spat jar kommen werde SEBIZ feldbau (1580) 10; ... was werd ich machen dan? SPEE trutznachtigall (1649) 14. (DWB, Bd. 29, Sp. 254)
Im Folgenden werden einige Beispiele für den unterschiedlichen Modusgebrauch von werden-Konstruktionen angeführt, die sich im untersuchten Korpus finden. Werden + Infinitiv im Indikativ: Diese Belege sind insofern von Interesse, als dass sie überhaupt Beweise für die Verwendung der indikativischen Fügung werden + Infinitiv in den betreffenden Kontexten liefern. Wie oben erwähnt, konnte der Gebrauch solcher (eindeutig) indikativischer Formen in der indirekten Rede nicht registriert werden. Diese Beobachtungen unterstützen die These, dass die hier behandelten Kontexte nicht als prototypische indirekte Rede angesehen werden können (s. oben), da sie anscheinend ganz andere Restriktionen hinsichtlich des Modusgebrauchs im untergeordneten Satz aufweisen. (78) Sel. Jch weis/ Poliarchus wird dieses verrostete Messer mit hohem Gelde bezahlen. (WJ, 90)
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(79)
Ars. Ach Argenis , Argenis , ich besorge/ dieser Schiffbruch wird mehr Todes--Faelle nach sich ziehen. (WJ, 112)
(80)
Wir erfare-d ein tag vn- alle tag wie den eer gytigen lüten nichts zuil ist/ wo sy ander lüt/ die sy darfürhaltend/ sy werdend jnen oder den jren schaden thuon/ koennend vnnd moegend mit hinderreden oder in ander waeg verhinderen/ so sparend sy es nit/ es ist jnen nichts zuo vil. (LG, 35 recto)
Werden + Infinitiv im Konjunktiv Präsens (Konjunktiv Futur): (81) Mel. Die Person recommendiret sich selbst; Und ich zweifele nicht/ es werde bald Gelegenheit geben/ die aufrichtige Freundschaft auf die Probe zu setzen. (WJ, 95) (82)
Welches durch etlich die es gsaehen/ in die gantz statt erschollen ist/ daß man allenthalben für war gesagt vnd glaubt hat/ man habe ein todtentantz gesaehen/ vnnd seye übel zuo besorgen/ es werde ein grosse pestilentz daruf volgen. (LG, Blatt 20 verso)
(83)
Hie folgen drey schoene Exempel/ eines hohen vnd trefflichen vertrawen auff den HERRN Jesum . Das erste/ das der Oberste glaubet/ der HERR Jesus werde sein Tochter wider lebendig machen/ wenn er sie nur mit der hand anruere. Das ander vom krancken Weibe/ welches glaubet/ wenn sie nur seinen rock moege anrueren/ so werde sie gesund werden. Das dritte von zweyen blinden/ welche auch glauben/ er werde sie sehend machen. (DS, Blatt 18 verso)
(84)
Jst ein schoen exempel eines trefflichen festen glaubens/ daß das Heidnisch Weiblein das vertrawen vnd die zuuersicht jr nit wil nemen lassen/ der Herr Jesus werde jrer tochter gewißlich helffen/ er stell sich so vnwillig als er jmmermehr woelle. Solch fest vertrawen treibt den Herrn Christum / das er huelffe zusagt/ Vns zum Exempel/ das wir vnser hoffnung inn aller not auch fest auff Christum setzen/ vnd jm vertrawen sollen/ er werde vns von allem jammer gern vnd willig helffen/ vnnd derhalb mit dem gebet jmmerdar anhalten/ ob er gleich ein zeitlang sich stellet/ als woelle er weder hoeren noch helffen. (DS, Blatt 23 verso)
gemischte Formen: (85) Zu welchem Ende wir vns weder Muehe oder Vnkosten haben lassen thauren/ dem Liebhaber der Historien frembder Reysen
Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I
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vnnd Landtschafften/ auch diese Schifffahrten/ welche durch Engellaendische Edelleut geschehen/ mitzutheilen/ vnnd zu publicieren/ der vngezweifelten Hoffnung/ es werde dem guenstigen Leser ein angenemes Werck seyn/ in welchem er nicht allein ergetzligkeit genugsam wuerde finden/ vnnd in seinem Stueblein vber das wilde Atlantische Meer auff jene seiten der Aequinoctialischen Linien wanderen/ sondern auch Vrsach genug haben/ Gottes vnerschoepfflichen Raht vnd Fuersichtigkeit hierinn zu preysen. (RA, 1 Vorwort) An dieser Stelle kann festgehalten werden: im Gegensatz zu der indirekten Rede weisen die behandelten Kontexte das Vorkommen sowohl indikativischer als auch konjunktivischer Formen von werden-Periphrasen auf, die anscheinend keinen etablierten Regeln zur Moduswahl folgen. Die temporale vorausweisende Bedeutung der werden-Periphrasen kann in solchen Kontexten nicht als die einzige und primäre Leistung dieser formuliert werden. Wie es sich im Weiteren zeigen wird, lassen sich solche Verwendungskontexte durch die in Kap.8.1. festgestellte Interpretation der werden-Fügungen als Ausdruck einer Folgerelation erklären und sind insofern in ihrer Bedeutung nicht auf die Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens festzulegen. Auffallend hoch ist die Anzahl der Verwendungen von würde + Infinitiv in diesen Kontexten. Die Belege mit würde + Infinitiv überwiegen zahlenmäßig die Belege mit werden + Infinitiv, sei es im Indikativ oder Konjunktiv (Präsens oder Futur, im folgenden Konjunktiv I genannt). Diese Beispiele werden im folgenden Abschnitt genauer untersucht. 8.4.1. Würde + Infinitiv in kritischen Kontexten I In diesem Kapitel gehört die Fügung würde + Infinitiv in den oben skizzierten Kontexten zum Hauptuntersuchungsobjekt. Wie die synchrone Analyse (Kap.5.5.) ergeben hat, bilden solche Kontexte einen der Hauptverwendungsbereiche dieser Konstruktion im heutigen Deutsch. Würde + Infinitiv tritt in solchen Kontexten in ihrer (epistemisch-)evidentiellen Lesart auf. In diesem Kapitel wird angestrebt, die diachrone Entwicklung der Periphrase würde + Infinitiv unter Berücksichtigung ihres synchronen Status in spezifischen kontextuellen Umgebungen zu rekonstruieren, d.h. ein kontextbezogenes Entwicklungsmodell aufzuzeigen, das stufenweise nachvollzogen werden kann und in anschaulicher Weise den Prozess der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv darstellt. Die theoretische Grundlage für die folgende Untersuchung bilden die in Kap.3.4. genann-
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
ten Grammatikalisierungsmodelle, die die Rolle des Verwendungskontextes des zu grammatikalisierenden Elementes (oder der Konstruktion) in den Vordergrund stellen. In Kap.8.1. und 8.2. wurde festgestellt, dass in der frühneuhochdeutschen Periode zunehmend Kontexte vorkommen, in denen die indikativischen Konstruktionen werden/ ward(wurden) + Infinitiv (oder auch Partizip I) dahingehend interpretiert werden können, dass sie eine Folgerelation bezeichnen. Diese Folgerelation besteht zwischen zwei textuell benachbarten Situationen/ Ereignissen und kann als eine temporale, kausale, konditionale oder konsekutive Beziehung aufgefasst werden (abhängig von der jeweiligen Sprechsituation). Das erste (erstgenannte) Ereignis, das im Sinne einer Folgerelation als ‚früher ereignet’, ‚bedingend’ oder ‚begründend’ verstanden werden kann und als eigenständige Proposition formuliert wird, resultiert im nachfolgenden Ereignis, das mithilfe der werdenKonstruktion formuliert wird, vgl.: (86) Vnd da ich nach an meinem gepet was, da deücht mich aber wie ain grosz geprecht vnd ain gerumppel mit Harnasch an der tuer wër, da der recht eingankch was in das frawnZy.mer. Do erschrakcht ich als hart, daz ich vor angsten alle zitern vnd swiczen ward, vnd gedacht, es wër nicht ain gespenst, vnd die weil ich an der kapellentur gestanden wër, die weil wëren Si her#vmbgegangen vnd wessat nicht, was ich tueen solt vnd losat, ob ich die Junkchfraun icht da hort. (KD, 16) (87)
Do mich der selb arm hungerig in so grossen eren sach und so ringklich mein narung gewinnen, da ward mich der man flechend biten, das ich im vergunte das von mir zelernen. und ich hieß in mir nachvolgen ob ers vermoechte. (NE, 49 Eunuchus)
(88)
Also that man Jhnen dieselbe Statt auff/ dann man sichert sie: Da schoß man fast mit FeurPfeilen in die ander Statt/ die feind war/ vnd sie ward brennendt/ daß sie gar verbran. (SM, 10 Chronik)
Diese Verwendungskontexte habe ich in Kap.8.1. als untypische Kontexte (untypical contexts) klassifiziert (nach dem Modell von Diewald 2002). Ferner weisen sie charakteristische Merkmale auf, die sie als bridging contexts oder Brückenstufe in der Terminologie von Heine (2002, 2004) auffassen lassen. Diese Kontexte werden hier als die erste entscheidende Phase im Grammatikalisierungsprozess von würde + Infinitiv zu einer inferentiellen evidentiellen Konstruktion angesehen, genauer gesagt, als eine
Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I
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Phase, in der Voraussetzungen für die spätere Entwicklung von würde + Infinitiv als einer evidentiellen Konstruktion geschaffen wurden. Die Interpretation der werden-Konstruktionen als Mittel zum Ausdruck einer Folgerelation lebt in den Verwendungen von würde + Infinitiv fort, man kann sogar sagen, dass diese Interpretation sich allmählich als deren einzig mögliche Lesart in jüngeren spezifischen Kontexten behauptet: (89) In dirre pinlichen vebvnge wart ich dicke in mime hóbete also gar zuomole kranch, das ich gedohte ich wurde von den sinnen kvmende. (MM, 17) (90)
Do kam mier der engegen: Ich solt mich wol gehaben, das wër auskomen, vnd heten an der tueer die slos abgefeilt, aber an dem fotrum waren die slos also vest, daz man ier nicht mocht abgefeilen vnd man muest es aufprennen vnd was ein grosser gesmach da von, daz ich aber in sorgen was, man wuerd dem gesmachen nachfragen, Do was got aber huettër vor. (KD, 17)
(91)
vberfielen vns vnuersehens/ schluogen vnnd griffen nach vns/ insonderheit aber nach vnserem guoten freund/ vber welchen dises spil angericht war: etliche andere aber zuckten jhre Sebel vber vns/ das wir anderst nicht gedachten/ es wurde stuck vnd trim-er geben. (RB, 22-23)
(92)
Da sandt meiner fraun gnad gen Ofen vmb ain guldein tuech dem Kung Lassla zu dem gebant, das zu der krönung gehorat, Da was die potschaft zu lang, vnd heten sorg, es wurd sich zu lang vercziehen, Wann die FRAGKungInn] Kroenung muest an ainem Hochczeitleichen tag geschehen. (KD, 24)
Die zwischen zwei dargestellten Ereignissen bestehende Folgerelation lässt sich anhand der oben angeführten Belege nachvollziehen. Ein Anfangszustand wird genannt: so ist es in (89) der Zustand des Krank-Seins (ich ward krank), in (90) das Entstehen des Brandgeruches (was ein grosser gesmach davon), in (91) der plötzliche Angriff des Feindes mit Schwertern (vberfielen vns... zuckten jhre Sebel vber vns). Ein Endzustand, der aus dem Anfangszustand folgt, wird mithilfe der Konstruktion würde + Infinitiv/ Partizip Präsens zum Ausdruck gebracht: in (89) stellt der Zustand des Krank-Seins den Grund für das Verrückt-Werden des Subjekts dar (ich wurde von den sinnen kvmende), in (91) löst der Brandgeruch mögliche Fragen aus (man wuerd dem gesmachen nachfragen), in (91) wird die Angriffssituation mit der Aussage es wurde stuck vnd trim-er geben auf ihren weiteren zeitlichen Verlauf projiziert und somit ‚zu Ende gedacht’. Was diese Kontexte allerdings von den früher behandelten unterscheidet (vgl. Kap.8.1.), ist das
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Vorhandensein der Einschübe das ich gedohte, daz ich aber in sorgen was, das wir anderst nicht gedachten, heten sorg im Text, und zwar positionell zwischen den zwei in einer Folgerelation stehenden Situationen. Diese Ausdrücke verweisen explizit auf die Verarbeitung der gegebenen Informationen (oder der aktuellen Situationen) durch den Sprecher und ferner darauf, dass die Folgerelation zwischen der Ausgangs- und der Endsituation aus der Sprecherperspektive gesehen wird. Die Textposition dieser Einschübe ist m.E. nicht zufällig, sie entspricht auch der „linearen“ Abfolge eines Schlussfolgerungsprozesses: i) Darstellung der Fakten, die als Prämissen für den Schlussfolgerungsprozess angenommen werden > ii) expliziter Verweis auf den Prozess selbst > iii) Formulierung der Konsequenzen, die aus den gegebenen Fakten (Prämissen) gefolgert werden. Das distinktive semantische Merkmal dieser „neuen“ Verwendungskontexte der Konstruktion würde + Infinitiv besteht also darin, dass die Entwicklung der gegebenen Situation vom Sprecher (aus seiner Perspektive) auf der Grundlage ihm vorliegender Informationen „weitergedacht“ wird. Dies sollte m.E. als einer der Gründe dafür angesehen werden, dass die werden-Konstruktion im Konjunktiv und nicht mehr im Indikativ gebraucht wird: immerhin geht es nicht um tatsächliche Ereignisse, sondern um mögliche Entwicklungen der Situationen, wie sie von den Beteiligten (subjektiv) gesehen werden (vgl. semantische Beschreibung des Konjunktivs als „nur gedacht, vorgestellt“, Kap.8.3.1.).17 Wichtig an dieser Stelle ist, dass das Verb werden in solchen Kontexten seine Grundbedeutung einer ‚Veränderung’, die in bestimmten Umständen ihren Anfang (A) nimmt und in bestimmten Ereignissen als deren Folge (Z) endet, beibehält. Was geändert wird, ist lediglich die Perspektive, oder „der Ort“, wo diese Veränderung stattfindet: das ist nicht mehr die textuelle Bühne, auf der sich die Situation abspielt, sondern die mentale Welt des Sprechers. Die Folgerelation wird von der textuellen Ebene auf die subjektive Ebene des Sprechers übertragen, d.h. in die mentale (epistemische) Welt des Sprechers. Diese Veränderung der Bedeutung von würde + Infinitiv kann im Traugottschen Konzept der Subjektivierung als Tendenz III eingeordnet werden: „Tendency III: Meanings tend to become increasingly based in the speaker’s subjective beliefe state/ atitude toward the proposition“ (Traugott 1989, 35).
_____________ 17 Die Tatsache, dass die Konstruktion würde + Infinitiv in einem untergeordneten Satz
auftritt, eingeleitet durch die Verben des Denkens, Fühlens u.ä., kann ohne Zweifel auch dazu beigetragen haben, dass die morphologische Konjunktivform gewählt wird. Dies kann m.E. allerdings nicht als hinreichender bestimmender Grund für die Moduswahl bezeichnet werden, da es in der frühneuhochdeutschen Epoche, wie es schon im Kap.8.4. festgestellt wurde, keine strikten Regeln hinsichtlich der Moduswahl in solchen Kontexten im Gegensatz zur indirekten Rede registriert werden konnten.
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Diese Kontexte sind mit den folgenden Belegen aus dem Gegenwartsdeutschen (vgl. Kap.5.4.) vergleichbar18: (93) Mein Vater war so erschüttert, daß ich Angst hatte, er würde es für geschmacklos halten, jetzt wieder von Geld anzufangen. (Böll, 202) (94)
Ich hoffte nur, mein Vater würde in diesem Zustand - fröstelnd vor Erschütterung - nicht nach Hause gehen, sondern zu seiner Geliebten. (Böll, 212)
Das Aufkommen und die sichtbare Verbreitung dieser „neuen“ Kontexte zeugen von einem in Lauf gesetzten Entwicklungsprozess, dessen Voraussetzungen in untypischen Kontexten geschaffen wurden. Eine neue Bedeutung („Folgerelation“), die in früheren Kontexten als nur eine mögliche Interpretation aufgrund konversationeller Implikaturen auftrat und jederzeit zurückgenommen werden konnte (cancellable), verselbständigt sich allmählich. Die Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer „alten“ mutativen aktionalen Bedeutung, welche den (sichtbaren, beobachtbaren, wirklichen) Übergang, den Eintritt in einen neuen Zustand kodierte, ist in solchen Kontexten ausgeschlossen. Dies geschieht nicht zuletzt dank der Präsenz kognitiver Ausdrücke wie denken, besorgen, befürchten etc., die die Entwicklung der im Text gegebenen Situation durch den Sprecher explizieren. Würde + Infinitiv formuliert einen erwartbaren Endpunkt bzw. Endzustand dieser Entwicklung. Zieht man das Modell der relevanten Kontexttypen von Diewald (2002) heran, so können diese neuen Kontexte kritische Kontexte genannt werden: The second stage is linked to the critical context, in which, because of its multiple structural and semantic ambiguity, the grammaticalization process is triggered. (Diewald 2002, 116) This is a highly ambiguous structure which through morphosyntactic complexity gives several options for interpretation, among them the newly grammaticalizing meaning. In contrast to stage I, where new structural and semantic possibilities were distributed over different contexts independently of each other, at stage II, semantic and structural factors accumulate in one specific critical context. (Diewald 2002, 109)
_____________ 18 Das Hauptanliegen dieses Abschnittes der Arbeit besteht in der modellhaften Rekonstruk-
tion diachroner Entwicklung von würde + Infinitiv in spezifischen Kontexten. Dies hat notwendigerweise zur Folge, dass die synchrone Variation, die in der heutigen Sprache existiert, nur am Rande berücksichtigt werden kann. Der synchrone Status der Konstruktion würde + Infinitiv wurde in Kap.5.-7. eingehend behandelt, deswegen beschränke ich mich hier lediglich auf das bloße Erwähnen gegenwärtiger Kontexte, die mit den Stufen diachroner Entwicklung vergleichbar sind.
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Als Hauptmerkmal kritischer Kontexte von würde + Infinitiv ist die morphologische Form der Konstruktion selbst zu nennen: das ist nicht mehr die indikativische präteritale Fügung ward + Infinitiv, sondern ihre konjunktivische Entsprechung würde + Infinitiv. Ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren lässt sich in diesen Kontexten beobachten: i) die modusmarkierte Form würde + Infinitiv zeigt an, der Tradition des Modus Potentialis folgend, dass das dargestellte Ereignis nur „vorgestellt, gedacht“ ist, da es nicht zu realen, objektiven Fakten der Welt, sondern zu ihrer epistemischen Erweiterung, zur „alternativen“ Realität gehört; ii) kognitive Ausdrücke wie denken, besorgen etc. spielen dabei insofern mit, als dass sie die Sprecherperspektive explizit markieren; iii) eine klare semantische Unterscheidung zwischen den gegebenen Umständen (den im Text beschriebenen tatsächlichen Ereignissen) und daraus folgenden weitergedachten, geschlossenen Entwicklungen wird durch den Einsatz einer markierten grammatischen Form (Indikativ vs. Konjunktiv) vollzogen. Im Extensionsmodell von Heine (2002) ist dieses Entwicklungsstadium von würde + Infinitiv zwischen Brückenstufe und Wendestufe anzusiedeln. Die Voraussetzungen für die Einordnung der betreffenden Kontexte als Wendestufe sind zwar schon ansatzweise gegeben, nämlich die favorisierte neue Bedeutung einer internalisierten (oder sprecherorientierten, sprecherbezogenen) Folgerelation im Sinne eines Schlussfolgerungsprozesses durch die textuelle Präsenz kognitiver (epistemischer, emotionaler) Prädikate. Dennoch kann die Konstruktion würde + Infinitiv nicht mehr in ihrer ursprünglichen mutativen/ inchoativen Bedeutung interpretiert werden. Heine/ Miyashita (2004, 19) bemerken, dass „der Übergang von der Brückenstufe zur Wendestufe fließend ist. Dementsprechend lassen sich Kontexte finden, die den Übergang zur Wendestufe zeigen, indem sie zwar die grammatischen Voraussetzungen der Brückenstufe erfüllen, aber keine Interpretation im Sinne von [Ausgangsbedeutung] mehr zulassen“. An dieser Stelle möchte ich die Bedeutung der Periphrase würde + Infinitiv als zumindest schwach ausgeprägt inferentiell evidentiell definieren (vor allem weil diese Interpretation noch stark von der jeweiligen kontextuellen Umgebung determiniert ist). Das ist die neue Bedeutung der Konstruktion, die sie m.E. bis in die heutigen Tage gehalten und noch mehr, weiterentwickelt und verstärkt hat. Inferentiell meint, dass die Konstruktion den mentalen Schlussfolgerungsprozess (als eine Entwicklung von A nach Z) kodiert, der vom Sprecher vollzogen wird. Der Sprecher formuliert mit würde + Infinitiv seine Schlussfolgerung (Z) hinsichtlich der Veränderung/ Entwicklung der (im Text) gegebenen Situation (A), die ferner als Prognose, Vorhersage oder Hypothese interpretiert wer-
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den kann. Evidentiell meint, dass dieser Schlussfolgerungsprozess auf Informationen basiert bzw. von einer bestimmten Informationsquelle aus seinen Ausgang nimmt, die vom Sprecher als Prämisse(n) verarbeitet werden. Die Information, die als Prämisse für den Schlussfolgerungsprozess interpretiert wird, ist in den oben beschriebenen Kontexten noch explizit gegeben, sodass die Folgerelation zwischen zwei Ereignissen/ Situationen, klar nachvollzogen werden kann. Die voranschreitende Entwicklung und Etablierung der inferentiellen Bedeutung von würde + Infinitiv kann anhand weiterer frühneuhochdeutscher Verwendungskontexte beobachtet werden, die eine graduelle Abschwächung der textuellen Nennung von Ausgangsumständenbis bis hin zu ihrer Reduktion aufzeigen. Übergeordnete kognitive Ausdrücke wie denken, glauben, fürchten etc. leisten in solchen Kontexten ihre eigene Funktion. Als explizite Verweise auf den aktuellen Sprecher bringen sie dank ihrer lexikalischen Bedeutung zum Ausdruck, dass der Sprecher bestimmte epistemische oder emotionale Einstellungen zu dem dargestellten Sachverhalt hat. Das Verb würde seinerseits leistet auch einen Verweis auf den aktuellen Sprecher, aber in einer anderen Art und Weise: es manifestiert, dass der dargestellte Sachverhalt Folge eines Schlussfolgerungsprozesses ist. Dieser würde-Verweis erlaubt eine doppelte Interpretation: zum einen wird darauf verwiesen, dass die jeweiligen epistemischen oder emotionalen Einstellungen des Sprechers auch Folgen seines Schlussfolgerungsprozesses sind; zum anderen wird impliziert, dass dieser Schlussfolgerungsprozess einen Ausgangspunkt hatte. Diese Entwicklung verläuft nicht abrupt, es lassen sich Zwischenstufen im kontinuierlichen Entwicklungsprozess zwischen der expliziten Einführung relevanter Gründe und ihrer sprachlichen Null-Realisierung beobachten, vgl.: (95) Der Consul war hierüber vbel zufriden/ dieweil er sahe/ das solche vberlauff den seinigen beschwerlich sein wurden/ hat derhalben sich dessen hart beschweret/ vnd dem anfenger so lang nachgefraget/ biß er vernommen wer er were. (RB, 23) (96)
er aber/ besorgend/ daß ihn eine langweilige Unterhandlung wuerde zuviel zeit verliehren machen/ entschlosse sich/ diese verrichtung ihm selber aufzutragen/ und also zugleich Part und Schiedsmann zuseyn. (BS, 71c)
(97)
Doch ist es ohne Scharmuetzel nicht abgangen: in derer einem/ Rudolphus, sich einst zutieff unter die Feinde geschwungen/ da er/ von ihnen umringet/ in gefahr seines Lebens stunde/ gleichwol aber sich so dapfer wehrte/ daß sie wol sahen/ wie er sein Leben ihnen
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theuer genug zuverkauffen gesonnen waere/ und sie also/ ungeacht sie ihm sein Pferd erstochen/ sich nicht wol zu ihm nahen dorften/ auser daß sie hofften/ die Muedigkeit wuerde ihn endlich selber zu platz legen. (BS, 66a) In diesen Belegen sind es im Unterschied zu (89) – (92) nicht zwei durch eigenständige Propositionen dargestellte Situationen, die in einer Folgebeziehung zueinander stehen, sondern zwei in einem Satz zusammengeführte Situationen. Die erste Situation (solche vberlauff, eine langweilige Unterhandlung, die Müdigkeit) bewirkt das nachfolgende Eintreten der anderen Situation (beschwerlich sein, zuviel zeit verlieren, zu platz legen), somit handelt es sich um eine materielle (kausale) Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen oder eine „external relation“ (Halliday/ Hasan 1976, 241 f.). Die übergeordneten kognitiven Ausdrücke sahe, besorgend, hofften versetzen diese Relation in die mentale Welt des Sprechers und machen sie somit zu einer „internal relation“ (ebd.), welche vom Sprecher hergestellt und zum Ausdruck gebracht wird. Die Folgebeziehung zwischen beiden Situationen wird auf der subjektiven, ‚sprecherspezifischen’ Ebene konstruiert. Und würde tritt hier als Bindeglied auf, welches eindeutig von der Ursache aus in Richtung Folge zeigt. Dementsprechend behält werden noch zum wesentlichen Teil seine aktionale Bedeutung, wobei es den Eintritt, den Anfang eines neuen Zustandes denotiert, zusätzlich aber auch diesen Eintritt in Abhängigkeit von den vorangegangenen oder vorher im Text erwähnten Ereignissen stellt.19 Was an den Beispielen (96) und (97) noch interessant ist, ist die Undifferenziertheit der Ereignisse eine langweilige Unterhaltung und die Muedigkeit hinsichtlich ihrer temporalen Einordnung. Sie können hier unter anderem als bevorstehende Begebnisse relativ zum Sprechzeitpunkt interpretiert werden, d.h. sowohl Ursache als auch Folge liegen in der Zukunft. Man kann nicht behaupten, dass allein die Konstruktion würde + Infinitiv den Zukunftsbezug herzustellen vermag, weil meistens der Kontext genügend Verweise auf eine vorausweisende temporale Interpretation enthält. 20
_____________ 19 Dabei muss gesagt werden, dass es sich um keinen sichtbaren, beobachtbaren Wechsel
20
handelt, sondern um einen vom Sprecher subjektiv konstruierten Zusammenhang zwischen Situationen. Dies scheidet die kritischen Kontexte von würde + Infinitiv von den untypischen Kontexten der werden-Periphrasen. Diese Sätze könnten auch als „gekappte“ Konditionalkonstruktionen interpretiert werden, wobei eine langweilige Unterhaltung oder die Muedigkeit oder solche vberlauff als Bedingungen für das Eintreten der mit würde formulierten Zustände angesehen werden. Das Ganze befindet sich im Skopus des übergeordneten kognitiven Ausdrucks. Die Korrelation und enge semantisch-pragmatische Verwandschaft dieser beiden Verwendungskontexte (d.h. Konditionalkonstruktionen und von Verba sentiendi u.ä. abhängiger Sätze) wird an anderer Stelle ausführlicher betrachtet. Hier sei nur festgehalten, dass diese Gebrauchsweisen gewisse Parallelitäten aufweisen und für den Gebrauch der werden-Konstruktionen mit Infinitiv
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Während in den oben angeführten Belegen die Ausgangssituation im Satz mit würde in Form einer Nominalphrase wiedergegeben wird, zeichnen sich die folgenden Beispiele durch das Vorhandensein deiktischer Elemente (deshalben, hiedurch, solchergestalt) aus, die auf derartige „bedingende“ Ausgangssituationen anaphorisch verweisen: (98) Koenig Sigismund wolte/ wie vorgedacht/ sein Erb--Koenigreich behaupten/ aber die Pohlen mehrentheils wolten die Mittel ungern darzu hergeben/ besorgende sie wuerden die Kriegs--Last deshalben tragen muessen/ und doch keinen Nutzen fuer sich dadurch erlangen. (LS, 4546C) (99)
Weil sie aber nicht ablassen wolten/ willigte er endlich in ihr Begehren: in betrachtung/ daß er gleichwol den Erwehlten ihm hiedurch verbuendlich machen/ und also nicht allein ihm selber/ sondern auch seinen Nachkommen/ viel Ehre und Nutzen zuwenden wuerde. (BS, 79b)
(100)
Rudolphus , der/ den Unterdruckten huelfflich beyzutretten/ hingegen die frevelhafften zu unterdrucken/ von Natur geneigt ware/ ueberdas wider den von Regensberg ( als der ihn/ wie etliche/ wiewol nicht umstaendlich/ schreiben/ in seiner jugend soll ausgekrieget haben ) einen alten Groll hatte/ liesse sich hierzu leichtlich erbitten/ zumal/ weil er wuste/ daß die Zuericher gute Kriegsleute waren/ deren dienstes er sich solchergestalt wuerde zugebrauchen haben. (BS, 64b)
Das Nebeneinander von Formen waren und wuerde zugebrauchen haben in (100) legt die Vermutung nahe, dass: i) die Aussage mit der indikativischen Form waren eine faktische Aussage darstellt, an der kein Zweifel von Seiten des Sprechers/ der Person, dessen Gedanken (Kenntnisse) wiedergegeben werden, besteht; ii) die Aussage mit konjunktivischer Form wuerde zugebrauchen haben die eigentlichen Gedanken der beschriebenen Person wiedergibt, die einerseits einen niedrigeren Gewissheitsgrad (im Sinne von „nur gedacht, vorgestellt“, aber nicht faktisch; Spekulationen) aufweisen und sich zugleich auf bevorstehende Ereignisse beziehen, die vom Standpunkt der Vergangenheit aus in der Zukunft angesiedelt sind (Spekulationen über zukünftigen Verlauf der Dinge, „prognostisch“ nach Kotin
_____________ (und teiweise noch mit Partizip Präsens) im Frühneuhochdeutschen geradezu typisch sind, unabhängig von der jeweiligen Form des Auxiliars und von der vorliegenden temporalen Perspektive. Hinzu kommt, dass sich eben diese Verwendungen der werden-Periphrasen einer rein temporalen Auffassung dieser als Tempus Futurum entziehen und eine modale Komponente vermuten lassen, welche ihrerseits in einem Fall vom übergeordneten Ausdruck, im anderen aber durch die Einführung einer Bedingung determiniert wird.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
2003). Es ist m.E. auch nicht falsch, die Aussagen auf diese Weise zu verstehen, da die modale Färbung, die den Äußerungen durch die Modusflexionen verliehen wird, nicht zu übersehen ist. Und es ist nicht zu leugnen, dass der Vorgang, der mit würde formuliert wird, relativ zum Sprechzeitpunkt des ganzen Textausschnitts als zukünftig interpretiert werden kann (was allerdings nicht die einzige mögliche Interpretation ist). Wenn man sich allerdings diesen Satz aus einer anderen Perspektive ansieht, d.h. zunächst das einleitende Verb wissen außer Acht lässt, ergibt sich ein anderes Bild: Es wird mit daß die Zuericher gute Kriegsleute waren ein Faktum wiedergegeben, das ohne Zweifel behauptet wird und welches Rudolfus anscheinend bekannt ist. Somit gehört diese Aussage nicht nur der Gedankenwelt der „Bezugsperson“, sondern auch zu den Fakten der realen Welt. Anders ist es dagegen um der Aussage deren dienstes er sich solchergestalt wuerde zugebrauchen haben bestellt. Diese wird der Gedankenwelt von Rudolfus zugeschrieben, wenn auch ihre Gültigkeit für die reale Welt der Erzählung kaum in Frage gestellt werden kann. Ich bezweifle aber, dass würde hier als rein konjunktivischer Marker für den Einsatz der indirekten Rede angesehen werden kann. Würde eine rein temporale Funktion zuzuweisen, wäre m.E. an dieser Stelle auch nicht ganz richtig. Vielmehr erfüllt würde hierbei die Funktion eines verbindenden Elementes: Zwei Ereignisse, die im Text in unmittelbarer Nachbarschaft stehen, werden mithilfe der werden-Fügung in eine (Grund)-Folgebeziehung miteinander gebracht, oder besser gesagt, stehen sie schon in dieser Beziehung, die durch den Einsatz der werden-Form nun explizit gemacht wird. Dass Rudolfus die Dienste der guten Züricher Kriegsleute gebrauchen kann (oder wie es im Text heißt: zu gebrauchen haben wird), basiert darauf, i) dass sie tatsächlich gute Kriegsleute sind, was der Satz daß die Zuericher gute Kriegsleute waren zum Ausdruck bringt, und ii) dass diese Kenntnis, zusammengenommen mit den in der aktuellen Situation herrschenden Umständen, ihm diese Folge oder Lösung nahe legt. Ob der Umstand, dass Rudolfus die Dienste der Kriegsleute schon jetzt als brauchbar erkennt oder sie irgendwann wirklich brauchen wird, also die temporale Interpretation der Aussage mit würde, ist hier m.E. nicht die primäre Funktion von würde, sondern die Interpretation des vorliegenden Kontextes. Das übergeordnete Verb wissen versetzt die gesamte Aussage in die mentale Welt der Bezugsperson, sodass würde in der konjunktivischen Bedeutung („nur vorgestellt, gedacht“) redundant wäre.21
_____________ 21 Wissen gehört neben vielen anderen Verben und Ausdrücken (verstehen, bedauern, überrascht
sein etc.), die im Zusammenhang mit der Konstruktion würde + Infinitiv als übergeordnete Prädikate behandelt werden, zu den sogenannten „faktiven“ Prädikaten, welche die untergeordnete Proposition als wahr präsupponieren. Im Gegensatz zu ihnen sind solche Verben oder Verbalphrasen wie sich einbilden, wähnen etc. „antifaktiv“, insofern sie die Falsch-
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Der kontinuierliche Prozess, der in der Abschwächung der expliziten Nennung des Ausgangspunktes in der mit würde ausgedrückten Folgerelation besteht, mündet im völligen Verschwinden der expliziten Erwähnung dieser Umstände. Der Ausdruck einer Folgerelation, der in früheren Verwendungen mit notwendiger sprachlicher Realisierung dieser Umstände eine mögliche Interpretation war, löst sich allmählich vom Kontext und haftet der Konstruktion würde + Infinitiv selbst an. Auch ohne kontextuelle Präsenz bedingender Umstände vermag würde + Infinitiv auszudrücken, dass die Aussage Folge eines Schlussfolgerungsprozesses ist. Dieser basiert auf Prämissen, die nicht unbedingt im Text genannt werden müssen. Übergeordnete kognitive Verben oder Verbalphrasen, deren textuelle Präsenz zum charakteristischen Merkmal solcher Verwendungsweisen oder kritischer Kontexte gehört, lassen deutlich das Sprecherengagement erkennen, indem sie dank ihrer lexikalischen Bedeutung spezifische epistemische/ emotionale Sprechereinstellungen gegenüber dem Gesagten zum Ausdruck bringen. Sie vermögen jedoch nicht (oder zumindest nicht allein), den Schlussfolgerungsprozess, die Inferenz, diese mentale Tätigkeit des Sprechers zu kodieren. Dies tut aber die Konstruktion würde + Infinitiv, die dank der Reinterpretation der mutativen Aktionsart des Verbs werden diesen Prozess zu kodieren vermag (vgl. auch gegenwärtige Beispiele, die in Kap.5.4. behandelt wurden): (101) WOLODIMER ist mit hilff der Wareger widerkhomen/ seines brueder Stathalter veriagt/ vnd seinem Brueder entsagt/ Dann er wusste/ das sein Brueder den Khrieg wider sich fueren wurde/ Jn mittler zeit schickt Wolodimer zu ROCHWOLOCHDA dem Fuersten zu PLESCO / der auch auß Waregen dahin komen was... (HM, blatt 4 recto) (102)
Da wir nun wider vnsern willen zuo#ruckfuohren/ vnd besorgten/ der Wind wurde noch ein zeitlang wehren/ hat er sich doch
_____________ heit ihres Komplementsatzes präsupponieren, und solche wie denken, vermuten, glauben etc. „non-factive“, welche keine spezifische Aussage über die Falschheit oder Wahrheit der untergeordneten Proposition machen und diese somit offen zwischen den beiden Polen „falsch“ und „wahr“ ansiedeln. Diese Typen sind als übergeordnete Prädikate in den Verwendungskontexten von würde + Infinitiv zu beobachten, sowie im gegenwärtigen Deutsch als auch in seinen früheren Entwicklungsstufen. Für die semantische Interpretation der mit würde + Infinitiv formulierten Aussagen (Propositionen) in Bezug auf ihren Wahrheitswert sind sie insofern von Belang, dass sie dank ihrer lexikalischen Bedeutung diese zu modifizieren und zu relativieren vermögen. Für die Frage, wie nun die jeweilige Sprechereinstellung (im Sinne von wissen, glauben, wähnen) zustandegekommen ist, geben diese Ausdrücke allerdings keinen Aufschluß. Sie beschreiben lediglich spezifische Haltungen des aktuellen Sprechers gegenüber der geäußerten Proposition.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
bald hernacher gegen der Nacht/ vber vnser verhoffen/ dermassen geleget/ das wir jhn kaum spüren mochten. (RB, 12) (103)
vnd begert desselben Tochter ROCHMIDAM zum Eelichen Weib/ die aber wolt den Volodimer / vmb das er nit Eelich geborn was/ nit/ Sonder den Jaropolkhn / des sy verhoffend gewest/ er wurde pald vmb sy werben/ vmb solches abschlahen hat Volodimer den Rochuolochda bekhriegt/ vnd den mit zwayen Suenen erschlagen/ (HM, blatt 4 recto)
(104)
Diesen befahl er/ mit anbrechendem Tag/ gleich als wann es Kauffmannsschiffe waeren/ die nach Basel seglen wolten/ den Fluß hinabzufahren: da er dann wol wuste/ daß die Regensbergischen aus Glantzenberg / die Schiffe anzuhalten und zupluendern/ herausfallen wuerden. (BS, 67b)
Das relationale Basisschema dieses Gebrauchs von würde(werden) + Infinitiv kann also folgendermaßen dargestellt werden: A [Vortext] = „ursprünglicher, bedingender Zustand“ [Sprecher] = „Information“, „Prämisse“, „Evidenz“
[Sachverhaltsdarstellung]
R werden („Veränderung“, „Entwicklung“ als mentaler Prozess des Schlussfolgerns)
Z Proposition („Folgerung“, „Konklusion“ als Ergebnis des Schlussfolgerungsprozesses)
Relationale Struktur der Konstruktion würde + Infinitiv in kritischen Kontexten
Werden-Periphrasen zur Kennzeichnung einer Folgerelation: Kritische Kontexte I
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Den Ausgangspunkt der gerichteten Relation im Schema bilden die bedingenden Umstände, die im Text gegeben sind oder implizit vorausgesetzt werden. Sie sind sprecherspezifisch, sofern der Sprecher sie als Prämissen für seinen Schlussfolgerungsprozess wahrnimmt und verarbeitet (und deswegen auch „subjektiv“, vgl. Kap.4.3.2.). Jedoch sind sie nicht beliebig, sondern können meist anhand der im (Vor-)Text vorhandenen Informationen rekonstruiert werden. Sie lösen den mentalen Prozess des Inferierens aus. Somit wird der Sprecher zu einem Bestandteil des Ausgangspunktes im relationalen Schema von würde + Infinitiv. Dennoch gilt der Sprecher nicht als Origo, d.h. nicht als einzige Autorität, die für das Zutreffen der Proposition verantwortlich gemacht werden kann. Die Aussage ist nicht völlig aus der Perspektive des Sprechers konstruiert, sie basiert auf Fakten, die aus dem Kontext erschlossen werden können. Die Position des Ausgangspunktes ist im Schema in gestrichelten Linien dargestellt, was ihre potentielle textuelle Nennung grafisch veranschaulicht (s.o.). Werden in der Form würde kodiert die mentale Tätigkeit des Sprechers, den Prozess des Schlussfolgerns, der von den Umständen in A ausgelöst wird und zu Z führt. Das Ziel oder der Endpunkt im relationalen Schema ist die Proposition, die als Konsequenz dieses Schlussfolgerungsprozesses formuliert wird. Dass diese Proposition normalerweise auf zukünftige Ereignisse relativ zum Sprechzeitpunkt referiert, ist m.E. nicht der inhärente semantische Bestandteil der Konstruktion würde + Infinitiv, sondern eher die Interpretation im gegebenen kontextuellen Rahmen. 8.4.2. Würde + Infinitiv als evidentielle Konstruktion: zum Grammatikalisierungsstatus dieser Lesart im Frühneuhochdeutschen Es lassen sich ferner im Frühneuhochdeutschen Kontexte beobachten, die eine weitere Verbreitung vom evidentiellen inferentiellen würde + Infinitiv außerhalb der oben definierten kritischen Kontexte anzeigen. Würde + Infinitiv tritt nicht nur in der temporalen Perspektive der Vergangenheit auf, sondern auch in Gegenwarts- und Zukunftskontexten. Es stellt also eine konkurrierende Form zur indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv oder zu ihrer Konjunktivform (Konjunktiv Präsens des Auxiliars werden) dar, z.B.: (105) Jch glaube/ daß vnsere Nachkom-ene vns schelten wurden/ wann sie auß den frembden Schriften erfahren mueßten/ wie es allhier dieser Zeit hergegangen/ vnd wir solches nicht verzeichnet hetten? (SM, 5 Vorrede)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
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Arg. Das weis ich: Poliarchus wuerde meinen Tod nicht lange ueberlebet haben. Sel. Und das weis ich/ daß der Koenig nach ihrem Tode seines Lebens Ende verlangen wuerde. (WJ, 89)
Das scheinbare „Durcheinander“ unterschiedlicher Modus- und Tempusformen von werden zur Wiedergabe von Gedanken, Gefühlen, Befürchtungen, Kenntnissen etc. vermittelt den Eindruck, dass für solche Kontexte in der frühneuhochdeutschen Zeit noch keine festen Regeln existierten. Einerseits weisen diese Kontexte Parallelitäten zu der indirekten Rede auf (vgl. Kap.8.3.3.), andererseits divergieren sie von ihr in vielen Punkten (vgl. Kap.8.4.1.). Das auffallend hohe Vorkommen der Periphrase würde + Infinitiv, das nicht nur auf die temporale Perspektive der Vergangenheit beschränkt ist, neben den weitergeführten Verwendungen anderer Formen der werden-Fügungen lässt eine sowohl für werden + Infinitiv als auch für würde + Infinitiv geltende Entwicklungstendenz vermuten, und zwar eine Entwicklung in Richtung einer Vereinheitlichung oder Verschmelzung ihrer Bedeutungen. Es scheint daher, dass beide Konstruktionen, unabhängig von der syntaktischen Umgebung, in der sie verwendet werden, wenn nicht gleiche, dann doch wenigstens nicht wesentlich unterschiedliche Funktionen zu erfüllen vermögen und sogar einander ersetzen können. So finden sich z.B. in DWB auch Belege für die Verwendung der Präsensformen von werden in der temporalen Perspektive der Vergangenheit gegeben (DWB, Bd.29, Sp.256): (107) nachdem ... der einfuhrzoll ... herabgesetzt worden, machte man sich die gröszte hoffnung, dasz die ungarische weinhandlung nach Ruszland sehr blühend werden werde NICOLAI reise d. Deutschl. (1783) 6, 374 (108)
sie wuszte, er werde doch nicht wiederkommen HEYSE novellensch. 17, 256
M.E. handelt es sich hierbei um eine Lesart, die von ihrer futurischen Lesart grundsätzlich verschieden ist. Während die Konstruktion werden + Infinitiv in ihrer futurischen Lesart an temporaler Bedeutung gewonnen hat und diese favorisiert hat, indem sie ihre aktionale Semantik aufgegeben hat (die von Kotin 2003 als „Aktionalität > Temporalität“ beschriebene Wandlung), ging die Reinterpretation der aktionalen Merkmale der werdenKonstruktionen nicht nur in eine Richtung. Eine weitere Lesart dieser Fügungen, die in Kap.8.4.1. vorgestellt wurde, basierte auf den gleichen aktionalen Merkmalen des Auxiliars werden, deutete sie aber in einer anderer Weise um. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt m.E. in der Erweiterung der grundlegenden Bedeutung von werden von der Kennzeichnung eines „bloßen“ Eintrittes in einen neuen Zustand zur Bezeichnung einer
Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II
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Folgerelation zwischen einem alten und einem neuen Zustand. Diese Folgerelation, die zunächst eine externe bzw. materielle ist, d.h. sich auf Situationen der Außenwelt bzw. dargestellte Sachverhalte bezieht, wird im Laufe dieser Entwicklung internalisiert, d.h. sie wird vom aktuellen Sprecher hergestellt. Der Verweis auf den Sprecher, den Fritz (2000b) als allen heutigen werden-Fügungen innewohnende grundlegende Funktion postuliert, tritt in den erwähnten Verwendungskontexten hervor, da meist auf die Nennung des alten, die Veränderung herbeiführenden Zustandes verzichtet wird. Dieser alte Zustand, d.i. der nun als Ursache, Grund oder Prämisse eines Schlussfolgerungsprozesses fungierende Umstand, wird impliziert, da der Verweis auf den Sprecher als Träger von Gedanken, Befürchtungen, Gefühlen, Kenntnissen o.ä. durch ein Verbum Sentiendi ein hinreichendes Zeichen abgibt, um diesen bedingenden Umstand in der Gedankenwelt des Sprechers zu situieren. Allerdings kann die Verbreitung von würde + Infinitiv in den beschriebenen Kontexten in der temporalen Perspektive der Nicht-Vergangenheit noch nicht als Herausbildung isolierender Kontexte betrachtet werden. Die relativ unveränderte syntaktische Struktur dieser und kritischer Kontexte, und zwar die obligatorische textuelle Präsenz von epistemischen oder emotionalen Ausdrücken, in die die Aussagen mit würde eingebettet sind, lässt noch keine wirklich neuen Kontexte vermuten. Dass würde + Infinitiv auch in der Nicht-Vergangenheitsperspektive verwendet werden konnte, liegt in der konjunktivischen Natur der Fügung: der Konjunktiv Präteritum verlor mit der Zeit seine temporale Referenz und wurde zum reinen Modus Konjunktiv II, dessen semantischer Gehalt in der Kodierung des modaldeiktischen Wertes, der Nichtfaktizität des dargestellten Sachverhaltes, besteht. Erst die Auslösung der Periphrase würde + Infinitiv aus syntaktischen Konstruktionen mit einleitenden epistemischen/ emotionalen Ausdrücken kann die Grenze zwischen kritischen und isolierenden Kontexten markieren (vgl. Kap.5.4.4. und Kap.7.6.2.). Und das ist in der frühneuhochdeutschen Periode noch nicht der Fall.
8.5. Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II In Kap.7. wurde auf das Vorkommen der Periphrase würde + Infinitiv in Konditionalkonstruktionen und ähnlichen Kontexten aus der synchronen Perspektive eingegangen. Als Ergebnis konnten zwei unterschiedliche Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv ermittelt werden: Zum einen fungiert sie in der deutschen Gegenwartssprache als analytische Konjunktiv II-Form (vgl. Kap.7.6.1. und 7.6.3.). Zum anderen tritt die Konstrukti-
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
on würde + Infinitiv in ihrer epistemisch-evidentiellen Lesart auf (vgl. Kap.7.6.2.), die von der modaldeiktischen (d.h. konjunktivischen) wesentlich verschieden ist, jedoch auf dieselbe Basis- oder Kernbedeutung zurückzuführen ist. In Kap.6.4. wurde die relationale Struktur der Fügung würde + Infinitiv konstruiert. Es wurde festgestellt, dass dem Konjunktiv II und der Konstruktion werden + Infinitiv sehr ähnliche Relationen zugrunde liegen. Der Konjunktiv II kann in seiner Grundbedeutung dahingehend beschrieben werden, dass die Proposition von der Origo aus aufgrund nichterfüllter Bedingungen als nichtfaktisch dargestellt wird. Es geht somit darum, dass bestimmte nichterfüllte Bedingungen die Einschätzung der Proposition durch den Sprecher als nichtfaktisch herbeiführen. Dementsprechend zeigt der Konjunktiv II in seiner funktionalen Beschaffenheit bestimmte Affinitäten zu der konditionalen Relation, die bekanntlich eine BedingungFolge-Beziehung (wenn p, dann q) ist. Die Konstruktion werden + Infinitiv, die als Evidentialitätsmarker definiert werden kann, realisiert auch eine Folgerelation, und zwar denotiert sie einen Schlussfolgerungsprozess (Inferenz, reasoning), in welchem Prämissen und Konklusionen den „konditionalen“ Antezedenzien und Konsequenzen gegenübergestellt werden können. Diese grundlegende Parallelität beider Bestandselemente der Fügung würde + Infinitiv führt häufig dazu, dass die damit enkodierten Relationen „zusammenfallen“, indem eine zugunsten der anderen eliminiert wird. Dieser Prozess der Hervorhebung einer der beiden Relationen, wobei die andere in den Hintergrund tritt oder gar verschwindet, bewirkt zwei Interpretationen bzw. Lesarten der Fügung im heutigen Deutsch. Wenn der Kontext oder die entsprechende Gesprächsituation aber nicht genügend Hinweise auf die jeweilige Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv zu geben vermag, kann es zu einer Gleichstellung beider Relationen kommen, so wie sie im Basisschema dargestellt werden (vgl. Kap.6.6.). 8.5.1. Werden-Periphrasen in kritischen Kontexten II Ziel dieses Abschnittes ist es, das Vorkommen der werden-Fügungen in Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen zu untersuchen. Wie aus Kap.8.3.1. hervorgeht, war der Modusgebrauch in den Bedingungssätzen jener Zeit hauptsächlich semantisch determiniert, d.h. der Konjunktiv wurde verwendet, wenn es um etwas Irreales, Potentiales, Unsicheres ging. Im Frühneuhochdeutschen wurde der funktionale Unterschied zwischen dem Konjunktiv I und dem Konjunktiv II, welcher zunächst temporaler Natur war, in Richtung einer semantischen und prag-
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matischen Differenzierung reinterpretiert. Und die Konstruktion würde + Infinitiv fand zunehmend Eingang in den Hauptsatz einer hypothetischen Periode (vgl. Paul 1920; Behaghel, 1924, II; Blatz 1896). Daneben wird z.B. in DWB erwähnt, dass auch indikativische werdenFügungen in Konditionalkonstruktionen gebraucht wurden: doch auch bei der anwendung nach einem konditionalen vordersatz; die erfüllung der vorgenannten bedingung läszt – diese gewiszheit drückt die umschreibung mit werden aus – das vom sprecher erwartete und für den genannten fall angekündigte sicher eintreten: würt dir das (das gesprächbüchlein 'Vadiscus') gefallen, so würstu auch on zweyfel meiner meinung, das ich mich vom hoff gethan, nit entgegen sein U. V. HUTTEN opera 1, 323 B.; nun hört und schweygt! so werd irs sehen H. SACHS 2, 4 lit. ver.; wenn die vhren allzugleich eins schlagen werden, so wird fried vnd einigkeit zwischen allen landen vnd leuten seyn LEHMAN floril. polit. (1662) 1, 186; und schiesz' ich morgen nimmer, weil krank ich oder todt, so wird ein andrer schieszen, dem's waidmannsheil sich bot LENAU s. w. 195 Barthel; lernet, dasz schicksal nicht von götzen kommt, so werdet ihr auch endlich lernen, dasz es keine götzen und götter gibt! H. HESSE Zarathustras wiederkehr (1924) 14; ja so oft eintreten, wie die bedingung, die nicht immer in einem konditionalsatz ausgesprochen sein musz, dazu gegeben ist; die umschreibung mit werden bezieht sich dann nicht auf einen künftigen einzelfall, sondern allgemein auf etwas, das sich jederzeit ereignen kann und unter bestimmten bedingungen stets zu erwarten ist (s. auch BEHAGHEL a. a. o. 2, 263 f.): wan sô ein mensche etwenne sîne sünde bedenket und ernstlîche merket, sô wirt er weinen MEISTER ECKHART in: dt. mystiker 2, 361 Pfeiffer; ein jeder der mich vergicht vor den menschen, den würd ouch ich verjehen vor minem vatter der in den himlen ist, welicher aber minen [!] leugnen würt vor den menschen, desz wird ouch ich leugnen ZWINGLI v. freiheit d. speisen 21 [29,254] ndr.; der wird dieselbe (seele) nicht schmucken vnd zieren, der sein leib nicht in ehren halt, darin die seel wohnet LEHMAN floril. polit. (1662) 1, 278; ein leidendes thier so wohl, als der held Philoktet, wenn es der schmerz anfällt, wird wimmern! wird ächzen! HERDER 5, 5 S.; wen du nicht verlässest, genius, wird dem regengewölk, wird dem schlossensturm entgegen singen GÖTHE I 2, 67 W. (DWB, Bd. 29, Sp. 253-254)
Da Konditionalkonstruktionen sowohl für konjunktivische als auch für indikativische werden-Fügungen als typische Verwendungskontexte genannt werden, halte ich es für sinnvoll, das Vorkommen aller werdenFormen in diesen Kontexten zu untersuchen. Im DWB-Zitat sind schon einige Beispiele für die Verwendung der indikativischen Fügung werden + Infinitiv gegeben, außerdem wird in diesem Zitat auch schon ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der/ das mit werden umschriebene Zustand, Ereignis, Sachverhalt nicht unbedingt in der Zukunft angesiedelt ist, sondern allgemeine Gültigkeit beansprucht, wel-
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che nur an die Erfüllung einer Bedingung gebunden ist: „die umschreibung mit werden bezieht sich dann nicht auf einen künftigen einzelfall, sondern allgemein auf etwas, das sich jederzeit ereignen kann und unter bestimmten bedingungen stets zu erwarten ist“. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass dieser Gebrauch der Konstruktion werden + Infinitiv keinesfalls als „modal“ (vergleichbar mit dem deiktischen Gebrauch der Modalverben im heutigen Deutsch), d.h. eine unsichere Sprechereinstellung bezüglich der Faktizität des dargestellten Sachverhalts enkodierend, bezeichnet werden kann. Diese Bedeutungskomponente der werden-Fügungen, d.h. der Verweis auf oder die Gebundenheit an eine Bedingung, kann als das distinktive Merkmal angesehen werden, das diese Lesart der Konstruktionen von ihrer temporalen, d.h. futurischen, Lesart strikt trennt. In Kap.8.2. habe ich schon darauf hingewiesen, dass rein futurische Verwendungen von werden + Infinitiv sich auf bestimmte Kontexte beschränken, nämlich Prophezeiungen und textinterne Ankündigungen des Autors. Verwendungen von werden + Infinitiv, die jedoch eine Bedingung für das Eintreten einer Handlung, eines Zustandes („Futurum des zu Erwartenden“) als ihre Hauptbedeutung vermuten lassen, sei diese Bedingung als ein in der realen (Außen-)Welt angesiedeltes Faktum oder als eine in der mentalen Welt des Sprechers konstruierte Prämisse aufgefasst, lassen sich wiederum auf die Interpretation der werden-Periphrase als explizites Zeichen einer Folgerelation zurückführen. Der Gebrauch von werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen bietet ein anschauliches Beispiel für die sich verbreitende Realisierung der Basisbedeutung als Folge. Während würde-Verwendungen mit einleitenden kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen (vgl. Kap.8.4.1.) Bedingungen bzw. Gründe immer implizieren, welche als Prämissen im Schlussfolgerungsprozess des Sprechers interpretiert werden und im Text nicht unbedingt genannt werden müssen, bringen Konditionalkonstruktionen eine Bedingung (Antezedenz) in ihrer Apodosis explizit zum Ausdruck. Im Folgenden seien einige Konditionalkonstruktionen angeführt, die unabhängig von der temporalen Interpretation der Fügung werden + Infinitiv ihre Auffassung als eines Zeichens aufzeigen, das eine Folgebeziehung zwischen zwei beschriebenen Ereignissen kennzeichnet und den mit werden formulierten Zustand eindeutig als Folge des Vorhergesagten interpretieren lässt: (109) Denn wenn solch stück der Königin Auskompt zu den weiberen hin, So werden sie verachten gar All ir menner gantz offenbar. Sie werden sagen offentlich:
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Ahasveros in seinem Reich Lies fordern die Königin Vasthi, Aber zu im kam sie auch nie. So werden all Fürstin zugleich Auch thun im gantzen Königreich. Verachtens viel wird sich heben Der Fürsten Persen und Meden Von iren frawn in solchem zorn Der Königin stück, so sie es hörn. (Voith 167, aus Walther 1980, 74) (110)
all weg kestigent. nun widergelt. und sie also laich als wir von in glaicht werden. oder mainst du es sei gleicher das wir dise ding leiden wann das sie von mir übergeschydigt werde? und wie wann sie es innenwerdent. niemant wirt es schelten. sie werden die geschicht alle billich sein schetzen. (NE, 69 Eunuchus)
(111)
Eur. O haetten wir nur den tapfferen Poliarchus auf unserer Seite| Cleob. Wo ich wuenschen darff/ so werde ich endlich sprechen: O solte ich bey dem itzigen Zustande nicht leben. (WJ, 80)
(112)
Corn. Soll ich dem Reiche Sardinien zu Troste leben/ so wird kein Feind gegen mich etwas ausrichten: Soll ich aber in diesem Streite mein Leben lassen/ wo koente ich glueckseliger sterben? (WJ, 131)
(113)
Doch wird der Warheit einige Gewalt nicht geschehen/ wenn wir die Worte dahin deuten/ daß auch bei Beerdigung der Todten/ und absonderlich in und an deren schoen--erhabnen Ruh-Gemaechern manche Weisheit anzumerken sei. (GLA, 186-187)
(114)
Olood. Wehe dem Lande/ dessen Koenig zum Weibe wird. Erist. Dem Lande wird wiederum wohl seyn/ wenn Lycogenes die Krone tragen wird. Olood. Und wir werden lustig seyn/ wenn Lycogenis Beylager vor sich gehen wird. (WJ, 110)
(115)
Mel. Wenn aber die Paesse verschlossen sind/ daß sich die Sicherheit kaum bis an das Thor erstrecket/ so werden wir wenig Soldaten haben/ welche den Muth werden verdoppeln koennen. (WJ, 119)
(116)
Aber gleichwie kein Theil unter diesen das rechte Ziel erlanget/ sondern beide der Sachen entweder zu viel/ oder zu wenig tuhn: also
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wenn wir im Gegentheil die eigendliche und unbetruegliche Beschaffenheit solches theuren Standes bei uns ergruenden/ und wohl dem aeuserm Anschau vorstellig zu machen verlangen/ werden wir solches/ ob schon nicht ganz vollkommen/ iedoch guhter massen tuhn koennen in einem dreifachen Bilder--Felde/ dessen Bedeutung uns iedesmahl die beigefuegte Umschrifft entwerfen wird. (GLA, 269-270) Den Konditionalkonstruktionen i.e.S. kommen weitere Kontexte nahe, die auf ein konditionales Verhältnis zwischen den Bestandteilen der syntaktischen Konstruktion schließen lassen. Das sind vor allem Relativsätze: „Relativsätze mit allein stehendem Relativpronomen können in der Funktion des Bedingungssatzes im konditionalen Satzgefüge erscheinen“ (Ebert u.a. 1993, 450; vgl. auch Behaghel 1924, III, 773 ff.). (117) ..., wer aber einen gesunden Verstand und so viel Gehirn im Kopf als ein Martin Gans hat, und ohn affecten judicieren will, der wird leichtlich sehen, dass es eine Schrift sey gleich einer Tragediæ, ... (Schupp I, 67, aus Walther 1980, 79) (118)
Leuten, die niemals im Unglücke gewesen..., wird das Vergnügen, das wir aus dieser Reise schöpften, als ein scheinheiliges Rätsel vorkommen. Sie werden sich nicht einbilden können, wie solche ernsthafte Betrachtungen zu einem Tage der Freude und der Liebe schicken; allein sie werden mir auch nicht zumuten, daß ich ihnen eine Sache beweisen soll, die auf die Empfindung ankömmt. (Gellert I, 266, aus Walther 1980, 84)
(119)
Wer nun Tugend/ gute Sitten vnd Kuensten liebhat/ wird wissen was er thun solle. (SM, 23 Bericht)
(120)
Wer sein datum dahin nicht setzet/ der wird nicht lang ein rechtschaffner Prediger bleiben. (DS, Blatt 19 recto)
(121)
Wer also gedultig vnd demuetig ist/ der wird an Christo einen ruckentrager haben/ der jm das joch sanfft/ vnd die last leicht wird machen. (DS, Blatt 20 recto)
Mit diesen Beispielsätzen habe ich versucht zu zeigen, dass die temporale Interpretation der Periphrase werden + Infinitiv als Bezeichnung eines zukünftigen Sachverhaltes in vielen Verwendungskontexten, die auf Konditionalkonstruktionen zurückgeführt werden können, nicht die einzige und primäre Interpretation dieser Fügung darstellt. Die temporale Perspektive, auf die die Fügung werden + Infinitiv referiert, lässt sich in den
Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II
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meisten Fällen aus dem vorliegenden Kontext erschließen. Häufig hängt die temporale Interpretation davon ab, wie die im Nebensatz formulierte Bedingung verstanden wird: 1. bezieht sich der Inhalt des Nebensatzes auf die zum Redezeitpunkt gültigen Gegebenheiten, die das Eintreten eines neuen Zustandes oder einer neuen Handlung bedingen (bedingen können) wie in (112), (115), (116) und (120), so wird die Folge als ein in der Zukunft abwickelndes Ereignis verstanden; 2. ist die Bedingung selbst in der Zukunft anzusiedeln, weil sie noch nicht zum Redezeitpunkt besteht wie in (109), (110) und vor allem in (114), so wird die Folge auch als zukünftiges Ereignis interpretiert; 3. ist die Bedingung als ein möglich, aber nicht real zum Redezeitpunkt bestehender Umstand aufgefasst (in den meisten Relativsätzen und in (113)), wird auch die Aussage mit werden als eine generische oder atemporale interpretiert. All diesen hinsichtlich ihrer temporalen Einordnung unterschiedlich interpretierbaren Verwendungen von werden + Infinitiv ist allerdings gemeinsam, dass ein Ereignis mithilfe von werden als Folge22 eines anderen im Vortext genannten Geschehnisses dargestellt wird. Ob diese Folge tatsächlich in der Zukunft eintreten wird oder nur als sprechereigene subjektive Folgerung aus der gegebenen (oder vorgestellten) Bedingung gedacht wird, darüber macht die Konstruktion werden + Infinitiv selbst keine Aussage. Meist enthält der vorliegende Kontext genügend Angaben diesbezüglich. An dieser Stelle möchte ich auf eine Besonderheit solcher „konditionalen“ Verwendungen von werden + Infinitiv hinweisen. In der temporalen Perspektive der Nicht-Vergangenheit werden die Bedingungen sowie die Folgen in keiner Weise formal, d.h. morphologisch oder syntaktisch, gekennzeichnet. Sie werden fast ausnahmslos im Modus Indikativ, im Tempus Präsens formuliert. Für diese Verwendungen bietet die Ansicht von Marschall (1987) eine passende Beschreibung, derzufolge das „Futur die Proposition kennzeichnet, in deren Realisierung es eingesetzt wird, als noch nicht verifiziert, aber bestätigbar“ (Marschall 1987, 130); vgl. auch Fabricius-Hansen (2000, 88): werden + Infinitiv weist „das mit der Satzbasis beschriebene Geschehen dem Bereich dessen zu, was für die Sprecherin zur Sprechzeit mit der Realität verträglich ist, aber keine Realität hat“.
_____________ 22 Vgl. z.B. gegenwärtige Definitionen von einer konditionalen Relation, die sie meist dahin-
gehend beschreiben, dass ein inhaltlicher Zusammenhang (Ursache-Folge, cause-effect) zwischen ihren Bestandteilen vorliegt (Comrie 1986, 80 f.) oder dieser Zusammenhang von den Rezipienten konstruiert wird (Günther 1999, 6). In Konditionalkonstruktionen wird also ein Ereignis als „kontingent“ in Bezug auf ein anderes Ereignis behandelt.
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Mit anderen Worten: Die Realisierung der bezeichneten Proposition wird durch den Einsatz von werden als möglich hingestellt, gilt also weder als bestätigt noch als irreal (vgl. auch Itayama 1993, 233 f.). In DWB wird diese spezielle Bedeutung der Periphrase werden + Infinitiv noch einmal unabhängig von ihrer Verwendung in Konditionalkonstruktionen aufgeführt und mit der Bezeichnung potential versehen: potential. 'auf dem ... motiv der unsicherheit des urteils beruht der gebrauch des futurischen indikativs, wo von etwas gegenwärtigem oder vergangenem die rede ist; z. b. das wird so sein, das wird so gewesen sein. ... die wahl des futurums beruht auf der erwartung des sprechenden, dasz sich seine aussage als richtig erweisen werde' (K. BRUGMANN verschiedenheiten der satzgestaltung nach maszgabe der seelischen grundfunktionen in den idg. sprachen = berichte üb. d. verhandlungen d. sächs. gesellsch. d. wiss. zu Leipzig, phil.-hist. kl. 70, 6 [1918] 74 f.). a) werden in verbindung mit einem einfachen infinitiv; durchweg mit der grundform eines imperfektiven verbs: (Jonas:) ... ey, es ist Spalatinus, der wirdt freilich auch etwas davon wissen ... habt jr nitt ein newe tragedien gesehen? (Agricola:) frage Spalatinum, der wirdts wol wissen VOGELGESANG-COCHLÄUS Joh. Huss 5 ndr.; wilstu fremde fehler zählen, heb an deinen an zu zählen; ist mir recht, dir wird die weile zu den fremden fehlern fehlen LOGAU sinnged. 249 lit. ver.; den winter wird man loben müssen, alsdann erqvickt ein glühnder wein poesie d. Nieders. (1721) 5, 89 Weichmann; hier, dacht' ich, wird die tugend wohnen KRETSCHMANN s. w. (1784) 1, 67; wo wird der jetzt einsam sitzen MALER MÜLLER w. (1811) 1, 61; sie werden sich verwundern, dasz die verlaszne stelle eigentlich keine stelle ist und kaum glauben, wie die guten menschen in diesem departement sich beholfen haben und behelfen (dez. 1809) GÖTHE IV 30, 129 W.; besonders häufig mit sein verbunden: es wird warlich mein bruder sein H. SACHS 1, 59 lit. ver.; sind frauen dan, wie jr sagt, zart, warum beisst jr sie dan so hart, vnd sind euer waidwerk allain? aber dis würd die vrsach sein: diweil jr wüszt, das euer spis sie meh dan ain bauren vertris FISCHART w. 1, 89 Hauffen; ja, ja, das wird es seyn! PFEFFEL poet. vers. (1802) 1, 24; ahd. belege werden selten sein J. GRIMM in: zfda. 7 (1849) 451; die Sannel ... ist rotbäckig wie ein honigapfel und wird auch nicht bitterer sein O. LUDWIG ges. schr. (1891) 2, 312. mundartlich weit verbreitet: dät wert woll so sinn LADEMANN Teltow 279; des wird wohl so sein! FISCHER schwäb. 6, 693; wæ∂r štεitèn dòrtn? wer steht denn dort? des wært∂r Māiür sąį es ist wohl Meyer GEBHARDT Nürnberg 300; da wern se schonn recht hab'n GERH. HAUPTMANN ausgew. dramen 2 (1956) 87; dass wirt ür færtik hæ das wird er (wohl) fertig haben BRUN Obersaxen 171; i würü müüssü ga kšOwü ich werde (nachsehen) gehen müssen HENZEN Freiburg 203. (DWB, Bd. 29, Sp. 256)
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Die Realisierung oder das Eintreten eines mit werden dargestellten Zustandes in der Perspektive der Nicht-Vergangenheit wird in Abhängigkeit einer Bedingung gestellt, deren Eintreten oder Bestehen nicht in ihrer Gültigkeit als „potential“ oder „irreal“, „faktisch“ oder „nur vorgestellt, gedacht“ eingeschränkt ist. Somit fungiert werden + Infinitiv als ein Zeichen, das zwar der Form nach ein Indikativ ist, der Bedeutung nach allerdings dem Konjunktiv II nahe kommt (vgl. Kap.6.3.), insofern immer eine Bedingung impliziert wird, die als Ausgangspunkt (Ursache, Grund, Prämisse) für die als Folge gedachte Aussage mit werden rekonstruiert werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass werden + Infinitiv dadurch bestimmte modale faktizitätsbewertende Färbungen erhält. Das heißt nur, dass die relationale Struktur dieser Periphrase analog zu derjenigen des Konjunktivs II aufgebaut ist. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen kann auch die Frage nach dem Verschwinden der indikativischen präteritalen Fügung ward + Infinitiv aus dem Gebrauch beantwortet werden. Dies geschieht im nächsten Abschnitt, nachdem Konditionalkonstruktionen mit würde + Infinitiv vorgestellt und analysiert werden. 8.5.2. Würde + Infinitiv in kritischen Kontexten II Die Hauptsätze hypothetischer Perioden wurden von vielen Grammatiken schon sehr früh als typischer Verwendungskontext von würde + Infinitiv bzw. als Beginn der Verbreitung der Konstruktion auf weitere Kontexte in Ersatzfunktion für den synthetischen Konjunktiv erkannt (Paul 1920; Behaghel 1924, II; Blatz 1896, Wilmanns 1906). DWB dazu: konditional; als ersatzfügung für die präteritale möglichkeitsform in hypothetischen sätzen gebraucht (z. b. würde helfen statt: hälfe, würde geholfen haben statt: hätte geholfen). a) mit einem einfachen infinitiv (vgl. den entsprechenden gebrauch von wollen teil 14, 2, 1342 ff.). α) im übergeordneten satz: si hi tacuerint, lapides clamabant ob dise swigen, die steine worden schrîen (1343) Matthias v. Beheims evangelienb., Luk. 19, 40 Bechstein; soltent ir mich losen so wurdent mich die bosen schatzen nach irs hertzen gir (hs., 1433 in Konstanz geschr.) klage an eine harte frau, in: liedersaal 1, 15 Laszberg; und wär ich ietz eur leis- er hort es würd euch morgen greuen (1. hälfte d. 15. jhs.) OSWALD V. WOLKENSTEIN 20, 40 Schatz; seit dem 16. jh. oft bezeugt: wen aber die ubirkeyten drauff decht, wie man das junge volck ehlich zusammen brecht, wurde einem yglichen die hoffnung ehlichs stands fast wol helffen tragen und weeren der anfechtungen (1520) LUTHER 6, 467 W.;
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wenn mein weyb noch bey leben wer, sie wurd die ding noch klerer sagen H. SACHS 2, 11 lit. ver.; solstu gottes hertze sehen, wie sich da der kummer häuft, wie es dürstet, jächt und brent nach dem, der sich abgewändt von ihm und auch von den seinen, würdest du vor liebe weinen PAUL GERHARDT bei FISCHER-TÜMPEL ev. kirchenl. 3, 299; [...]auch in hypothetischen aussagen, deren zugrundeliegende bedingung nicht in einem konditionalsatz ausdrücklich genannt ist: denn ihr Jüden würdet ja nimmermehr einen gehenkten ... heiden nach seinem tod für einen herrn anbeten (11. 6. 1537) LUTHER briefw. 8, 90 W.; wir wolten nun hin auf den plan, an markt, da mocht vns basz gelingen, diweil die weiber vnsrer dingen von jrem gschwez nicht würden achten FISCHART w. 1, 39 Hauffen [...] (DWB, Bd.29, Sp.257)
In Kap.8.5.1. wurde das Vorkommen der indikativischen werden-Fügungen in Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen behandelt. Es wurde festgestellt, dass diese dank ihrer relationalen Struktur, die die Basisbedeutung der Periphrase als Kennzeichnung einer Folgerelation vorstellt, für die Wiedergabe eines konditionalen Verhältnisses besonders gut „geeignet“ ist. Werden + Infinitiv tritt somit neben Konditionalkonjunktionen (wenn, ob, wo) und Partikeln (so, do) als ein weiteres sprachliches Zeichen auf, das die konditionale Relation als eine besondere Art Folgerelation, d.h. konditionale, markiert. Dabei wird die mit werden formulierte Aussage immer als Folge einer im Text explizit ausgeführten oder implizit vorausgesetzten Bedingung gedacht. Die temporale Interpretation der Konstruktion werden + Infinitiv ist nahe liegend, aber nicht obligatorisch und kann immer durch den jeweiligen Kontext und durch die Deutung der vorliegenden Bedingungen erschlossen werden (vgl. Kap.8.5.1.). Die Verbreitung von werden + Infinitiv in weiteren Kontexttypen wie z.B. in Relativsätzen, die Affinitäten zu den Konditionalkonstruktionen aufweisen, unterstützt meine Annahme, dass werden + Infinitiv der frühneuhochdeutschen Zeit primär dem Ausdruck einer Folgerelation diente, wobei die temporale Bedeutung nur eine ihrer möglichen kontextuellen Interpretationen darstellte. In der Bezeichnung einer Folgerelation stellt die Konstruktion würde + Infinitiv keine von ihrem indikativischen Pendant abweichende Gebrauchsweise dar. Genauso wie werden + Infinitiv für Konditionalkonstruktionen und ähnlich interpretierbare Kontexte in der Nicht-
Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II
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Vergangenheitsperspektive typisch war, war auch würde + Infinitiv für hypothetische (konjunktivische) Aussagen typisch. Wenn die Bedingung im Konjunktiv formuliert wird, d.h. als nicht-faktisch, nicht in der aktuellen Situation zutreffend und im Gegensatz zu den im Indikativ formulierten Bedingungen als „nur gedacht, vorgestellt“, und unter den gegebenen Umständen sogar als „irreal“ aufgefasst wird, dann tritt die Folge auch im Konjunktiv auf, und zwar in konjunktivischer Form der Konstruktion werden + Infinitiv, was die in Frage kommenden Konstruktionen in die Nähe ihrer indikativischen Entsprechungen rückt. (122) Jch will jetzt nur von dem Wasserbaw sagen: Wann die Hollaender so viel Glueck von der Natur haetten/ solch Wasser vnd solche veste Erden/ wie wir zu haben/ was wurden sie zuwegenbringen? (SM, 21 Bericht) (123)
Wenn ich eine Jungfer waere/ so wuerde ich fragen/ warum neulich in unserm Lande die heßlichste Frau den schoensten Mann bekommen hat. (WJ, 149)
(124)
Wann unser Mund mit so himmlischen Nektar/ als der ihre/ bethauet waehre/ wann unsere Zunge mit so Englischer Vollkommenheit/ als ihre/ durchgoettert stuende/ wann unsern Geist die Goettliche Flamme so nahe/ als den ihren/ beruehrete/ wuerden wir izzo ausspraechen koennen alle die Ehre/ alle die Zierde/ alle die Gesundheit/ alle die Herrligkeit/ alle die Seeligkeit/ die sie auf diesem dritten und lezzten Leebens--Berge angetroffen/ und in voelligen Besitz genommen hat. Wir wuerden mit hindansezzung alles gefuehreten Traurens uns selbst eine unbeschreibliche Lust und Vergnuegung schoepfen aus der uebermaessigen Freude/ die sie aus Besizzung der himmlischen Freuden—Wohnungen empfindet... (GLA, 173-174)
(125)
Wo wir solches theten/ wuerde die sorge vnd kuemmernuß sich fein abschneiden/ vnnd wir wuerden auch bey eim geringen froelich vnnd guter ding sein... (DS, Blatt 23 verso)
(126)
Diesen nun/ fragte der Pfaltzgrav/ ob er / wann Rudolphus Keyser wuerde/ ihn versichern koente/ daß er einen gnaedigen Herrn an ihm haben/ und seiner Toechter eine zur Gemahlin erlangen/ wuerde? (BS, 79b)
(127)
Und wenn mich eine Jungfer tausendmahl vexirte/ so wuerde sie mich nicht einmahl um die Revenge mahnen. (WJ, 148)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
(128)
Wo die nuezzliche Dicht--Kunst/ wie sie vor alten Zeiten pflegte/ also noch diesen Augenblikk den ihrigen Lob und Ruhm erwerben koennte/ wuerde unsers HORSTEN Nahme nur durch Sie allein die Ewigkeit erwerben. (LGA, 285)
(129)
Es bschicht manch mal dz einer der übersinnig ist ( wie merteils der gleerte- die jre augen vßstudierend ) sich übel schaeme- wurde/ wen- er sage- vnd bekenne- soelte / worfür er dises od` yenes hette angesehen/ also betrügt jn sin gesicht. (LG, Blatt 17 recto)
(130)
Es hat auch die Erde/ die Glueckseeligkeit dieser Zeit vermehren/ und das Jahr der Kroenung Rudolphi auch mit ihrem Gut kroenen wollen/ anzudeuten/ daß/ mit diesem neuen Keyser/ des Reichs alt—erstorbene Wolfart wieder neu hervorgruenen/ aufbluehen und reichlich fruchtbringen wuerde: indem naemlich so eine Wolfeile gewesen/ daß man ein vierteil Weitzen um 22 pfennig/ ein vierteil Rocken um 16 pfennig/ ein Hun um 2 pfennig/ eine Mandel Eyer um 1 pf. auch 8 Heeringe um 1 pf. kauffen und geniessen koennen. (BS, 82b)
Konditionalkonstruktionen, die oben als typische Verwendungskontexte der Konstruktion würde + Infinitiv im Frühneuhochdeutschen identifiziert wurden und somit auch als jene Kontexte, die den Anstoß zur Verbreitung von würde + Infinitiv als Umschreibung synthetischer Konjunktiv II-Formen in diesen und ferner auch anderen Kontexten gegeben haben, werden hier als weitere kritische Kontexte (nach dem Modell von Diewald 2002) neben den syntaktischen Strukturen mit Verba Sentiendi u.ä. (vgl. Kap.8.4.1.) behandelt. Die Verbreitung der in untypischen Kontexten (vgl. Kap.8.1. und 8.2.) entwickelten Bedeutung einer textuell verankerten Folgerelation (temporal, kausal, konditional oder konsekutiv) fand also auch in Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen statt. Es handelt sich m.E. hierbei allerdings um zwei distinktive kritische Kontexte von würde + Infinitiv, was die Untersuchung der diachronen Entwicklung und Grammatikalisierung dieser Konstruktion erschwert. Die ursprüngliche mutative Bedeutung der Periphrasen mit werden und dem Infinitiv oder Partizip Präsens wird in diesen kritischen Kontexten umgedeutet, reinterpretiert und allmählich „verblasst“. Komplikationen bei der Untersuchung der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv entstehen allerdings, weil die Bedeutung einer Folgerelation, die sich in kritischen Kontexten behauptet und in den Vordergrund tritt, offenbar zwei unterschiedliche Weiterinterpretationen erfährt, die im Output verschiedene Kategorisierungen erlaubt: einerseits innerhalb der schon im deutschen Sprachsystem etablier-
Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II
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ten grammatischen Kategorie des verbalen Modus (hier insbesondere des Konjunktivs II) und andererseits innerhalb der schwach kategorisierten kognitiv-semantischen Domäne Evidentialität. Dementsprechend handelt es sich bei der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv nicht um einen linearen Grammatikalisierungsprozess, sondern um einen „verzweigten“ Entwicklungsprozess. Konditionalkonstruktionen, genauer gesagt, hypothetische Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen bilden also einen zweiten kritischen Kontext im Grammatikalisierungsprozess von würde + Infinitiv. Diese Entwicklung teilt die Konstruktion würde + Infinitiv mit ihrer indikativischen Entsprechung werden + Infinitiv, was die Untersuchungsergebnisse in Kap.8.5.1 bezeugen. In dieser Hinsicht kann die Entwicklung von würde + Infinitiv noch in den Wandlungsprozess des gesamten flektivischen Paradigmas der werden-Fügungen (mit Infinitiv) integriert werden. Starke semantische und strukturelle Affinitäten zwischen der vage definierten Folgerelation, die mit den werden-Fügungen zum Ausdruck gebracht wird, und der konditionalen Relation haben zweifellos den Eingang der werden-Periphrasen in Konditionalsätze gleichsam herbeigeführt.23 Die Kennzeichnung einer Folge, die mit dem Einsatz von werden/würde besonders hervorgehoben wird, konnte sich in den Konditionalkonstruktionen leicht behaupten. Andererseits bestanden im Frühneuhochdeutschen schon systematisierte (konventionalisierte) Gebrauchsregeln und semantische Restriktionen, die in dem bestehenden verbalen Modussystem der Sprache tradiert wurden. Dies beeinflusste m.E. die Reinterpretation der Konstruktion würde + Infinitiv in solchen kritischen Verwendungskontexten als funktionsgleiche Konstruktion zum synthetischen Konjunktiv II, zumal die
_____________ 23 Es wäre allerdings auch sehr interessant, zu untersuchen, ob die Verwendung der Periphra-
se würde + Infinitiv in den Konditionalkonstruktionen auch mit der Zurückdrängung der rein konditionalen Konjunktion ob durch die temporal-konditionale Konjunktion wenn/wann zusammenhängen könnte. Wenn/wann, als temporale Konjunktion gebraucht, wurde vom Althochdeutschen bis in das Frühneuhochdeutsche zum Ausdruck des allgemein-zeitlichen Verhältnisses (vgl. Ebert u.a. 1993, 456; Behaghel 1924 III, 287) gebraucht, was sowohl als Gleichzeitigkeit als auch als Vorzeitigkeit interpretiert werden konnte. In die Konditionalkonstruktionen übernommen, behielt die Konjunktion diese allgemeintemporale Bedeutung. Möglicherweise kann das Aufkommen der werden-Konstruktionen in den Bedingungssätzen mit der Übertragung von wenn auf die Bezeichnung eines konditionalen Verhältnisses in Zusammenhang gebracht werden. Dies wäre eine plausible Erklärung dafür, dass werden-Fügungen in solchen Fällen verstärkt auftraten, wenn betont werden sollte, dass mit (genauer gesagt: nach) dem Eintreten der Bedingung (Protasis) die Folge (Apodosis) eintreten würde, also wenn eine gewisse temporale Vorzeitigkeit des Bedingungssatzes vermittelt werden sollte. Ich stelle diese Überlegungen an dieser Stelle jedoch als eine Hypothese hin, die in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht weiter verfolgt wurde.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Konjunktiv II-Formen vieler regelmäßiger Verben formal und lautlich mit den indikativischen präteritalen Formen zusammenfielen (vgl. Kap.8.6.). Es sind allerdings zwei gegenläufige Interpretationsrichtungen, die durch die kritischen Kontexte II ausgelöst werden konnten, zu berücksichtigen: 1. Tendenz (i): die werden-Konstruktionen, die in untypischen Kontexten (Kap.8.1. und 8.2.) dank konversationeller Implikaturen als Bezeichnungen einer Folgebeziehung zwischen zwei textuell benachbarten Situationen interpretiert werden konnten, wurden relativ unkompliziert in Konditionalkonstruktionen integriert und konnten in ihnen sehr schnell Verbreitung finden. Konditionalkonstruktionen konnten als kritische Verwendungskontexte ihrerseits selbst die Entwicklung von der kontextuell bedingten Interpretation zur konstruktionseigenen Bedeutung von werden/ würde + Infinitiv vorantreiben. Es handelte sich somit um harmonische Kontexte, in denen zwei Strukturen aufeinander trafen, die einander unterstützten. Die Fügung mit der ansatzweise gegebenen Bedeutung einer Folgerelation nahm in den gewohnten konditionalen Kontexten an dieser neuen Bedeutung zu. 2. Tendenz (ii): da hypothetische Konditionalkonstruktionen schon ein fester Bestandteil des semantischen Modalfeldes (des präteritalen Konjunktivs) waren, d.h. als typische konjunktivische Kontexte im existierenden grammatischen kategorialen Paradigma fest etabliert waren, erhielten die werden-Konstruktionen und vor allem die Konstruktion würde + Infinitiv zusätzliche Konnotationen, die im Ausdruck des Hypothetischen bestanden. Die Annahme einer Bedingung (Antezedens), die eine prototypische konditionale Beziehung voraussetzt, ob faktisch bestehend (indikativisch) oder nur potentiell erfüllbar (konjunktivisch), schränkt die Folge (Konsequenz) notwendigerweise in ihrer Gültigkeit und somit auch in ihrer Faktizität ein. Für die Konstruktion werden + Infinitiv heißt das, dass diese Fügung, obwohl indikativisch ihrer formalen Beschaffenheit nach, nicht die volle indikativische ‚Setzungskraft’ oder den höchsten Geltungsgrad beanspruchen konnte.24 Für
_____________ 24 Die Bindung der funktionalen Leistung der Konstruktion werden + Infinitiv an die Kodie-
rung zukünftiger, ausstehender Ereignisse hieße den semantischen Gehalt dieser Konstruktion unnötig verengen. Die Erklärung „modaler“ Bedeutungen von werden + Infinitiv, die in der Relativierung des Sprechersicherheit hinsichtlich des Ausgesagten bestehen, dadurch, dass das Zukünftige für den Sprecher immer ungewiss bleibt, macht die temporale Bedeutung dieser Periphrase automatisch zu ihrer primären und grundlegenden Bedeutung, von der alle anderen abgeleitet werden könnten. Wie allerdings meine bisherigen Beobachtungen zeigen, war die temporale Bedeutung von Anfang an nicht die einzige und ohne weiteres nächstliegende Interpretation dieser Fügung. Die Annahme einer tempus- sowie mo-
Werden-Periphrasen in Konditionalkonstruktionen: Kritische Kontexte II
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hypothetische oder irreale Konditionalkonstruktionen, deren Bedingungen traditionell im Konjunktiv formuliert wurden, kam nur eine grammatische Form für die sprachliche Realisierung der Folge (Konsequenz) in Frage – der Konjunktiv. Die Zeitfolgenregel kann in diesem Fall keine besondere Rolle für den Einsatz der würde-Formen gespielt haben, da ward/ wurde + Infinitiv nie zum Tempus Futur der Vergangenheit geworden ist. Die aus untypischen Kontexten hervorkommende Bedeutung einer Folgerelation, die sich für den Einsatz in Konditionalkonstruktionen besonders gut eignete und m.E. als wichtigster semantischer Grund für die Verwendung von werden-Konstruktionen in Konditionalsätzen anzusehen ist, wurde in kritischen Kontexten II gewissermaßen von der modalen konjunktivischen („irrealen“, „hypothetischen“) dominiert25 und konnte sich nicht weiter entfalten und etablieren, da sie der Konkurrenz mit fest bestehenden strukturellen Mustern nicht standhalten konnte. Die Bedeutung einer Folgerelation, der die werden-Fügungen ihren Eingang und ihre Verbreitung in Konditionalkonstruktionen des Frühneuhoch-
_____________
25
dusneutralen Basisbedeutung für die werden-Periphrasen, die in verschiedenen kontextuellen und situationellen Umgebungen temporal, modal oder evidentiell gedeutet werden kann, scheint mir angemessene Alternative gegenüber der Bindung dieser Periphrasen an eine unbedingt traditionell kategoriell bestimmte grammatische Funktion zu sein. Vgl. dazu auch Überlegungen von Fritz (2000b), Diewald (2004), Mortelmans (demn.). Hinzu kommt die Tatsache, dass die präteritalen Fügungen ward/ wurde + Infinitiv/ Partizip Präsens (im Unterschied zu den ‚präsentischen’ Fügungen mit werden), wie Aron (1914) in seiner Studie über die progressiven Formen im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen feststellen konnte, häufig keine besondere Divergenzen in Bedeutung und Gebrauch zu den einfachen verbalen Präteritumformen aufwiesen. Dies veranlasste den Autor dazu, die Fügungen ward/ wurde + Infinitiv/ Patrizip Präsens als bloße Umschreibungen des Simplex zu charakterisieren. Ich konnte seine Beobachtungen in Kap.8.2. dadurch relativieren, dass ich in vielen Belegen für die betreffenden Fügungen die Bedeutung der Folgerelation angenommen habe. Allerdings scheinen die Periphrasen in einigen Beispiele tatsächlich den einfachen präteritalen Formen der Verben semantisch identisch zu sein, z.B.(zit. nach Aron 1914): Der ritter auch die nacht mit wunderbarlichen gedancken vertreyben ward... (Schumann, 96,2) ...da sahen sie ein schönes edelmanns sitz oder schloß vor in ligen. Darinn so ward der edelmann das mayenbad halten. (Schumann, 282, 18) Diese Interpretationsmöglichkeit kann vielleicht auch dazu beigetragen haben, dass die Konstruktion würde + Infinitiv in späteren (und oft auch zeitgleichen) Verwendungen in Konditionalkonstruktionen als Umschreibung des präteritalen Konjunktivs aufgefasst wurde. Viel gewichtiger scheint mir aber hierbei neben diesem semantischen Aspekt das formale Faktor, nämlich dass würde + Infinitiv infolge der Verblassung formaler und lautlicher Unterschiede zwischen indikativischen und konjunktivischen Flexionsformen vieler regelmäßigen Verben und somit der formalen kategorialen Opposition dieser Formen an Verbreitung gewann.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
deutschen verdanken (Tendenz (i)), wurde in vielen Fällen also zugleich durch dieselben Kontexte unterdrückt (Tendenz (ii)). An dieser Stelle möchte ich noch einige Anmerkungen zu dem Verschwinden der indikativischen Periphrase ward/ wurde + Infinitiv hinzufügen. Wie oben festgestellt, konnte diese Konstruktion nicht mehr verwendet werden: 1. weil die Herausbildung der periphrastischen inchoativen Konstruktionen als besondere grammatische Kategorie („Inchoativum“ als Aspekt) der deutschen Sprache aufgegeben wurde, 2. aus semantischen Gründen: würde + Infinitiv konnte sich in der neuen Bedeutung (Folgerelation) in „neuen“ Kontexten in Abhängigkeit von Verben des Wissens, Denkens, Fühlens u.ä. in der temporalen Perspektive der Vergangenheit behaupten, weil es dank seiner Konjunktiv-Form nicht auf real stattgefundene Ereignisse referierte, sondern „nur gedachte, vorgestellte“ Folgen, Konsequenzen, Schlussfolgerungen des Sprechers formulierte. Dies kann den Eingang der indikativischen Fügung ward /wurde + Infinitiv in solche Kontexte blockiert haben; 3. aus syntaktischen Gründen: Sätze mit würde + Infinitiv standen immerhin im syntaktischen Verhältnis der Unterordnung zu den einleitenden epistemischen und emotionalen Ausdrücken; und obwohl dieser Grund nicht ausschlaggebend zu sein scheint, weil der Konjunktiv in solchen Kontexten (im Unterschied z.B. zu der indirekten Rede) noch keinen regelhaften Gebrauch erlangte, verdient er hier trotzdem der Erwähnung. Den zweiten typischen Verwendungskontext von werden-Fügungen bildeten Konditionalkonstruktionen. Diese ihrerseits sind nur vereinzelt in der temporalen Perspektive der Vergangenheit vorzufinden (abgesehen von Sprachen, in welchen Vergangenheitsformen zugleich modale Funktionen erfüllen, wie z.B. im Englischen). Auch wenn solche syntaktischen hypotaktischen Konstruktionen in einer Sprache vorkommen, werden sie häufig als Temporalsätze interpretiert, zumal Konjunktionen (wenn, wann, dieweil, ob, da, do) oftmals beide Bedeutungen, d.h. temporale und konditionale, tragen. Die „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ bemerkt zu den indikativischen Bedingungssätzen in der Vergangenheitsperspektive: „Indikativ Prät. im Bedingungssatz wird mit Indik. Prät. im übergeordneten Satz verbunden bei wiederholten Ereignissen der Vergangenheit: und wernoch [wonach] ieglicher gesundet hette, darnoch leit er sich: waz er ein meineidiger boswiht so leit er sich uf eine site..., waz er ein ebrecher so leit er sich uf den buch Closener 107“ (Ebert u.a. 1993, 462). Wenn man aber bedenkt, dass die Periphrase ward/ wurde + Infinitiv ursprünglich inchoativ/ mutativ war und später die Bedeutungskomponente der Folge dazugewann, konnte sie nur
Bemerkungen zum Synkretismus
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bedingt auf wiederholte Ereignisse referieren. Das Eintreten in einen neuen Zustand oder eine neue Handlung, wenn auch von den vorangegangenen Situationen in Abhängigkeit gestellt, wird meistens als ein einmaliges Ereignis verstanden. Daher konnte die indikativische präteritale Konstruktion ward/ wurde + Infinitiv nicht in Bedingungssätze des Frühneuhochdeutschen Eingang finden. Würde + Infinitiv hatte dagegen dank der konjunktivischen Flexion einen Vorteil, nämlich ihren hypothetischen, irrealen, potentialen Charakter, was einem konditionalen Verhältnis schon in dieser Hinsicht sehr nahe kommt.
8.6. Bemerkungen zum Synkretismus im Flexionsparadigma von werden In diesem Kapitel wird näher auf die Flexionsbesonderheiten des Verbs werden im Frühneuhochdeutschen eingegangen. Die gegenläufigen Ausgleichungsprozesse, die das Lexem in der Präsens- und Präteritumflexion beider Modi aufweist, führten nicht selten zu der Entstehung von Synkretismen und zu der daraus folgenden semantischen Undifferenziertheit der Modusformen dieses Verbs. Das geschieht mit den präteritalen Formen von werden, wenn das Verb den Ausgleichsprozess des Numerusablauts nach dem Muster der Ablautklasse IIIb nicht mit den anderen Verben dieser Klasse „mitmacht“ (finden – fand –fanden - gefunden), sondern für diese Ablautreihe untypische Veränderungen erfährt: Mhd. ward – wurden – geworden; Nhd. wurde – wurden – geworden. Der abweichend von den Lexemen der Ablautklasse IIIb schriftsprachliche Ausgleich zugunsten des PluralAblauts wurde vollzog sich über eine lange Zeit. Diese Entwicklung führte nicht zur Alleinherrschaft einer der beiden Formen, sodass ein Nebeneinander von ward und wurde im Präteritum Singular bestand (DWB, Paul 1920, Moser/ Stopp 1988, Ebert u.a. 1993 u.a.). Während die präteritalen Formen mit dem a-Ablaut eindeutig als Indikativ eingestuft werden können, erscheint die nicht umgelautete Form wurd(e) oft entweder als Konjunktiv oder als Indikativ, vgl.: Im Nhd. und auch Mhd. gilt bei den starken Verben eine durch -Ø/ -e geleistete Modusdifferenzierung: 1./ 3. Sg. Ind. Prät. mit -Ø, z.B. sang-Ø und 1./ 3. Sg. Konj. Prät. mit -e, z.B. säng-e; doch kann -e bereits auch im Mhd. „zuweilen“ im Ind. auftreten. [...] Während die bei den st. Verben mögliche Flexion des Ind. mit -e in der Folge wieder aufgegeben wird, bleibt sie in wurde erhalten. [...] Während warde im Verlauf der 2. Hälfte des 16. Jhs. zunehmend schwindet und über das 1. Viertel des 17. Jhs. hinaus nicht mehr belegt erscheint, wird wurde seit dem früheren 17. Jh. zunehmend häufiger. (Ebert u.a. 1993, 244 f.)
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Diese Tatsache erschwert oft das Auseinanderhalten der Modusformen von werden, sodass nicht immer eindeutig entschieden werden kann, ob in den in Frage kommenden Belegen konjunktivische oder indikativische präteritale Form von werden vorliegen. Diese formale Undifferenziertheit der Modusformen von werden könnte auch das allmähliche Verschwinden von indikativischen Fügungen mit ward/ wurde aus der Sprache beeinflusst haben. Dies ist jedoch eine schwierige Frage, die noch untersuchungsbedürftig bleibt. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass die morphologische Ambivalenz der Modusformen nicht nur des Verbs werden, sondern auch anderer Verben (vor allem regelmäßiger Verben und der Modalverben), die Untersuchung ihrer Semantik in vielen relevanten Kontexten kompliziert macht und zu uneindeutigen Ergebnissen führen kann. Daher habe ich Belege mit wurde/ wurden in Kap.8.4.1, in welchen einleitende kognitive Ausdrücke die konjunktivische Lesart der Konstruktionen vermuten lassen, als konjunktivisch eingeordnet. Allerdings könnte es sich bei einigen Belegen auch um indikativische Formen handeln, wenn man die oben beschriebene Undifferenziertheit, die in jener Zeit herrschte, in Betracht zieht. Jedoch ändern diese bei der Untersuchung entstehenden Schwierigkeiten nichts an der Tatsache, dass werden-Konstruktionen in bestimmten relevanten Kontexten verwendet wurden, welche ihrerseits ihre „Moduszugehörigkeit“ beeinflussen konnten. Ähnliches gilt auch für Konditionalkonstruktionen: die Interpretation des vorliegenden Kontextes legt oft nahe, ob die ambige Form semantisch als Konjunktiv oder Indikativ zu verstehen ist. Andererseits könnte diese morphologische Undifferenziertheit der werden-Formen in der Sprachgeschichte dazu beigetragen haben, dass die werden-Fügungen in neuen Kontexten, in die einzugehen und in denen Verbreitung zu finden sie ihre Modusform hinderte, gebraucht werden konnten. An dieser Stelle wird die noch im Frühneuhochdeutschen herrschende morphologische Ambivalenz präteritaler Formen der werden-Fügungen als weiteres wichtiges strukturelles Merkmal der kritischen Kontexte definiert, die den Prozess der Grammatikalisierung der hier untersuchten Konstruktion würde + Infinitiv auszeichneten.26
_____________ 26 Ähnliche Beobachtungen finden sich in der Studie zur Grammatikalisierung von den
deutschen Modalverben von Diewald (2002, 111): „In MHG, the morphological formst hat build up the critical context are themselves grammatically ambiguous“. Und an anderer Stelle (S. 113): „The impulse for grammaticalization at stage II does not directly arise from the grammaticalizing items themselves. As a purely conversational implicature, the deictic meaning had been possible in different untypical contexts since the OHG period, which n´means there was no ‘need’ to express a new meaning, nor was there any ‘need’ to do so with the help of a new grammatical item. Instead, the relevant changes that finally may trigger the rise of a new grammatical item (given that stage I is already reached by the item
Bemerkungen zum Synkretismus
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Diese hinsichtlich ihrer Moduszugehörigkeit höchst ambigen Strukturen eröffnen alternative Interpretationsmöglichkeiten der Kontexte, in welchen sie vorkommen, z.B.: (131) Der Consul war hierüber vbel zufriden/ dieweil er sahe/ das solche vberlauff den seinigen beschwerlich sein wurden/ hat derhalben sich dessen hart beschweret/ vnd dem anfenger so lang nachgefraget/ biß er vernommen wer er were. (RB, 23) Dieser Beleg lässt sich unter Berücksichtigung der Modusambivalenz von wurde auf zwei verschiedenen Weisen interpretieren. Mögliche Paraphrasen dazu wären: (131’) Der Konsul war damit gar nicht zufrieden, weil er sah, dass solche Menschenmengen seinen Leuten beschwerlich wurden (weil er sehen konnte, wie schwer es für seine Leute war). (131’’)
Der Konsul war damit gar nicht zufrieden, weil er sah, dass solche Menschenmengen seinen Leuten beschwerlich sein würden (weil er voraussehen konnte, wie schwer es für seine Leute sein würde)
Die Berücksichtigung anderer werden-Formen im untersuchten Text und der Verwendungskontexte dieser Formen sowie die Beachtung des weiteren kontextuellen Rahmens konnten in diesem konkreten Fall Aufschlüsse hinsichtlich der Interpretation dieses Beleges ergeben und lassen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit vermuten, dass es sich hier eher um die in (131’’) gegebene Lesart handelt. Wenn allerdings isolierte Beispielsätze in Betracht gezogen werden, stellen sie ambige Strukturen dar, die ohne ausreichendes kontextuelles Wissen keine eindeutige Interpretation zulassen. Dies ist typisch für kritische Kontexte: „The interpretation of this construction is difficult, because [...] it is highly ambiguous. Disregarding the further linguistic context, (14) [der kunde se baz gelobet hân] can be translated into PDG in at least […] three ways” (Diewald 2002, 111).
_____________ itself) occur in some other place in the linguistic system. In the case of the grammaticalization of the modals, this other place is the morphological syncretism in modals with dental suffix and the restructuring of the complete tense-aspect system that had begun in the OHG period and led to the rise of periphrastic tense forms like perfect. These two factors, which are external to and independent of the development of the modals, together with the expanded in semantic and structural possibilities that the modals themselves had acquired in stage I, culminate in the critical context and set off the grammaticalization process.” Im Falle der Konstruktion würde + Infinitiv spielt die morphologische Umstrukturierung des deutschen Tempus-Modus-Systems auch eine entscheidende Rolle und bildet externe zu der Konstruktion selbst Faktoren für ihre verlaufende Grammatikalisierung.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Viele im untersuchten Material registrierte Konditionalkonstruktionen bilden ähnliche ambige Strukturen mit uneindeutigen Interpretationsmöglichkeiten, vgl. z.B. (132) Es bschicht manch mal dz einer der übersinnig ist ( wie merteils der gleerte- die jre augen vßstudierend ) sich übel schaeme- wurde/ wen- er sage- vnd bekenne- soelte / worfür er dises od` yenes hette angesehen/ also betrügt jn sin gesicht. (LG, Blatt 17 recto) Die Interpretation dieses Belegs kann aus verschiedenen Gründen anders erfolgen: er kann als ein temporaler Satz in der Vergangenheitsperspektive interpretiert werden, wenn die Konjunktion wenn in ihrer temporalen Bedeutung und soelte als Indikativform27 aufgefasst werden. Die Einbettung in einen präsentischen kontextuellen Rahmen (Es bschicht manch mal, der übersinnig ist) lässt allerdings bei den Formen wurde und soelte den Konjunktiv vermuten und die gesamte Struktur als eine konditionale Konstruktion erscheinen. Eine hundertprozentig korrekte Interpretation zu geben ist in solchen und ähnlichen Fällen allerdings kaum möglich. Wie oben erwähnt, zeichnen sich kritische Kontexte nicht nur durch eine sehr hohe semantische Ambiguität aus, sondern auch durch andere Faktoren. So sind es in diesem Fall Veränderungen im Sprachsystem, die lautliche und formale Entwicklungen jener Zeit betreffen, die die Entstehung von Synkretismen zur Folge haben. Diese Synkretismen vor allem im Bereich der Modusoppositionen führen unausweichlich zu Wandlungen im semantischen Gehalt nicht nur der verändernden Elemente selbst, sondern auch im semantischen Gehalt der betreffenden Kategorien.28 Der Synkretismus der werden-Formen lässt sich im Frühneuhochdeutschen nicht nur im Flexionsparadigma dieses Verbs im Präteritum beobachten. Aufgrund sprachlandschaftlicher Besonderheiten fallen die präsentischen und präteritalen Formen auch manchmal zusammen: Besonders erschwert wurde die Erkennbarkeit des Modus durch die Verbindung der Reduktion des /-e/ mit dem Fehlen des Umlauts im Präteritum von /werden/. Hier wirken zusätzlich noch die gegenläufige Prozesse der Entrundung /wurd/ würd/ wird/ und der Rundung /wird/ wurd/ würd/. Bezeichnens ist in diesem Zusammenhang der wiederholte Gebrauch von /wurd/ im Fortuna-
_____________ 27 Der Text stammt aus dem Jahr 1578 und ist der Sprachlandschaft nach osthochaleman-
28
nisch. Die „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ von Ebert u.a. (1993, 301f.) bemerkt, dass im indikativ Präteritum im Alemannischen parallel zu solt auch sölt gebraucht wurde. Die Endung -e kann auch nicht eindeutig als Zeichen für den Konjunktiv in jener Zeitperiode angenommen werden. Die Fragestellung nach der Umstrukturierung und damit einhergehender Veränderung des semantischen Gehaltes von Tempus- und Modusoppositionen im Sinne von Distanzierung o.ä. wird in dieser Arbeit nicht weiter vertieft. Vgl. dazu z.B. Leiss 1992, Andersson 1989, Amrhein 1996, Kotin 2003.
Bemerkungen zum Synkretismus
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tus: /wann er besorget, wurd der graff jnnen, das er hynweg wolt, er wurd yn lassen vahen/ VbF 14. Hier können /wurd jnnen, wurd vahen/ als Konditional /würde jnnen, würde vahen/ oder als Futur mit der modalen Funktion der Angabe einer Bedingung /wird jnnen, wird vahen/ aufgefasst werden. Derartige Fälle sind im Dialog von Hans Sachs sehr häufig. Vgl. ferner: /Wie meinst dan, wan es dar zuo kummen würt, das allein der gwalt recht wer/ DIK 75, wo /kummen würt/ sowohl als /kommen würde/ (Konditional) wie als /kommen wird/ (Futur) verstanden werden kann. Diese Doppeldeutigkeit, die das Erkennen des Konditionalis erschwert, ist in Quellen mehrerer Landschaften ziemlich weit verbreitet. (Guchmann/ Semenjuk 1981, 137) [Hervorhebungen E.S.]
Diese Doppeldeutigkeit, durch die Prozesse der Rundung und der Entrundung herbeigeführt, bringt nicht nur unterschiedliche Modusformen, sondern auch unterschiedliche Tempusformen des Verbs werden „durcheinander“. Schwache morphologische Unterscheidbarkeit solcher Formen entspringt phonologischen Entwicklungsprozessen, kann aber auch semantische Effekte bzw. Folgen (oder auch Gründe, was sich heute nicht mehr genau feststellen lässt) gehabt haben, die eine strikte Differenzierung zwischen diesen Flexionsformen mindestens teilweise aufgehoben haben. Das Vorhandensein bestimmter (kritischer) Kontexte, in welchen unterschiedliche Interpretationsalternativen gegeben waren (in diesem Fall „Futur“ wird + Infinitiv und „Konditionalis“29 würd(e) + Infinitiv), kann diese unterschiedlichen grammatischen werden-Formen in engere Wechselbeziehungen gerückt haben, sodass ihre formale Undifferenziertheit auf der sprachlichen Oberfläche als Zeichen für tiefer liegende semantische und funktionale Nähe aufgefasst werden könnte. So ist bspw. in (133) und (134) unten die Interpretation der Fügungen mit würt und würdet sowohl als temporal (Zukunft ausdrückend) als auch als konditional (konjunktivisch) möglich. Beide Interpretationen erscheinen plausibel, selbst wenn die kontextuelle Umgebung in Betracht gezogen wird: (133) Und an dem 21. zeigt er die straff an/ denen so den armen gehessig sind/ dann er sagt/ Wer seine ohren verstopfft vor den armen/ der würt auch rueffen/ und nit erhoert werden. (WN, 48) (134)
Und weliche person in diser Comedi reden würdet. der selben person namen wirt mit zwai oder dreien der ersten buochstaben von kürtze wegen deß worttes. der selben rede fürgesetzt. (NE, 13 Kommentar)
_____________ 29 Ich nehme die Bezeichnungen „Futur“ und „Konditionalis“ in die Anführungszeichen, um
die Einordnung der werden-Konstruktionen jener Zeit zu einer bestimmten Kategorie (Tempus oder Modus) zu vermeiden. Die Begriffe wie „Futur“ und „Konditionalis“ sollten jedem aus der traditionellen Grammatikschreibung bekannt sein, und durch die Verwendung dieser Begriffe möchte ich nur eine Form bezeichnen, ohne damit ihre Bedeutung und Funktion im Sinne dieser Bezeichnungen festzulegen.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Anhand dieser Beispiele habe ich versucht, eine weitere Vermutung zu demonstrieren: ‚formale Undifferenziertheit zeugt von inhaltlicher Nähe’. Anscheinend kam es im Frühneuhochdeutschen tatsächlich dazu, dass die Bedeutungen von werden + Infinitiv und würde + Infinitiv vermengt wurden, weil striktes Auseinanderhalten in einigen Fällen gar nicht erwünscht war: eventuell hatten beide Konstruktionen einen gemeinsamen Funktionsbereich, der trotz der unterschiedlichen Moduszugehörigkeit dieser Periphrasen entstand. Dementsprechend war das formal indikativische werden + Infinitiv „ein wenig“ konjunktivisch, weil es dank seiner durch das Verb werden determinierten Semantik die Annahme einer Bedingung in seiner Bedeutung mit einschließt. Und andererseits konnte würde + Infinitiv futurisch „ein wenig“ indikativisch wirken, weil der Konjunktiv Präteritum in seinem Gebrauch im Frühneuhochdeutschen nicht mehr nur auf die temporale Perspektive der Vergangenheit restringiert war. Bezüglich der nachgewiesenen Undifferenziertheit verschiedener temporaler und modaler Flexionsformen von werden möchte ich hier auch noch zwei weitere Punkte erwähnen, die mir wichtig erscheinen: i) es handelt sich in der frühneuhochdeutsche Periode noch eindeutig um eine und dieselbe Konstruktion werden + Infinitiv, die ein vollständiges TempusModus-Flexionsparadigma aufweist. Dementsprechend kann in jener Zeit noch keine Rede von der Fügung würde + Infinitiv als „Konditionalis“ oder Ersatz bzw. Umschreibung des Konjunktivs II sein, sondern nur von der präteritalen konjunktivischen Form von werden + Infinitiv, in der die semantische werden-Komponente (die ich in Kap.8.1. als sprachliche Realisierung einer textuell verankerten Folgerelation definiert habe) noch sehr stark präsent ist; ii) die formal präteritale konjunktivische Form würde + Infinitiv scheint im Frühneuhochdeutschen semantisch sehr nah an der indikativischen Form werden + Infinitiv zu stehen. Da der präteritale Konjunktiv im Allgemeinen seinen temporalen Bezug zugunsten modaler semantischer Merkmale einbüßt und seinen Geltungsbereich auch außerhalb der temporalen Perspektive der Vergangenheit ausweitet, erhält würde + Infinitiv weitere Verwendungsmöglichkeiten in neuen Kontexten, die diese Konstruktion ihrem indikativischen Pendant werden + Infinitiv (über die „konjunktivische“ Konnotationen von werden + Infinitiv habe ich oben schon gesprochen) sehr nahe stellen (dazu kommt auch noch die diesen Prozess begleitende formale Undifferenziertheit dieser Formen in einigen Sprachlandschaften). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden synkretische werden-Formen des Frühneuhochdeutschen als ein weiteres, und zwar strukturelles Merkmal der kritischen Kontexte angesehen, das die entscheidende Phase im weiteren Grammatikalisierungsprozess der Konstruktion würde + Infinitiv auszeichnet.
Zum Grammatikalisierungsstatus von würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
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8.7. Zum Grammatikalisierungsstatus von würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart Die Analyse und die Zuordnung unterschiedlicher Verwendungskontexte von werden-Konstruktionen auf verschiedenen (in den Modellen vorgesehenen) Stufen des Grammatikalisierungsprozesses ist im Falle von würde + Infinitiv m.E. hochgradig kompliziert. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass es einige Prozesse sind, die nicht auf eine lineare Grammatikalisierung des Vollverbs werden zum Auxiliar werden reduziert werden können. Es ist auch sehr schwer, ein Element zu abstrahieren und seine Entwicklung zu verfolgen, da immer sehr viele Komponenten und Faktoren berücksichtigt werden müssen, die meist alle gleichzeitig im Spiel sind. Und dennoch versuche ich in diesem Abschnitt, würde + Infinitiv aus dem gesamten Paradigma der werden-Konstruktionen auszusondern und seinen „eigenen“ Weg weiterzuverfolgen. Demzufolge möchte ich ab jetzt von der Grammatikalisierung der Konstruktion würde + Infinitiv sprechen und nicht mehr von der Entwicklung der werden-Fügungen, da die funktionale Leistung von würde + Infinitiv in den unten behandelten Kontexten nicht mehr in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Bedeutung von werden + Infinitiv gebracht werden kann. Außerdem zeugt das Verschwinden präteritaler indikativischer Fügung ward/ wurde + Infinitiv von der Umstrukturierung und Reinterpretation des formalen (morphologischen und lautlichen) und somit auch des inhaltlichen (funktionalen und semantischen) Systems der Verbindungen von werden und dem Infinitiv „umschriebener“ Verben. Die Richtung, die die Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer „eigenständigen“, d.h. von anderen werden-Fügungen unabhängigen, Entwicklung aufnimmt, ist die Entwicklung dieser Periphrase zum analytischen Konjunktiv II. Diese Entwicklung hat ihren Anfang in in Kap.8.5. beschriebenen Konditionalkonstruktionen, in dessen Hauptsätzen würde + Infinitiv zunächst verwendet wurde, z.B. (135) Wenn ich eine Jungfer waere/ so wuerde ich fragen/ warum neulich in unserm Lande die heßlichste Frau den schoensten Mann bekommen hat. (WJ, 149) (136)
Wo wir solches theten/ wuerde die sorge vnd kuemmernuß sich fein abschneiden/ vnnd wir wuerden auch bey eim geringen froelich vnnd guter ding sein... (DS, Blatt 23 verso)
Behaghel (1924, II, 243 f.) beschreibt diese Verwendung als „natürlich“: „Hier ist ein sehr starker Unterschied zwischen dem hypothetischen
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
Nebensatz und dem Satz, der sich als Hauptsatz einer hypothetischen Periode darstellt. [...] Im Nebensatz der hypothetischen Periode meidet das Nhd. bis in die neueren Zeiten die Umschreibung mit würde und weicht damit der Gleichförmigkeit mit dem würde des Hauptsatzes aus“. Diese Überlegung stimmt mit meiner Annahme überein, dass würde in (hypothetischen) Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen zur Kennzeichnung einer Folge eingesetzt wurde, deren Eintritt durch eine im Nebensatz formulierte Bedingung hervorgerufen wird. Anscheinend leitete diese (semantisch eindeutig konjunktivische, jedoch nur schwach temporale) Verwendung der Konstruktion würde + Infinitiv in Bedingungsgefügen Reinterpretationsprozesse ein, die zum verbreiteten Gebrauch von würde + Infinitiv auch in anderen typischen konjunktivischen Kontexten (vgl. Kap.8.3.1.) führten. Am bezeichnendsten in dieser Hinsicht ist das Aufkommen von würde + Infinitiv im Nebensatz eines Bedingungsgefüges, wo mit würde nicht (wie erwartet) die Folge, sondern die Bedingung formuliert wird: (137) Da ich lebete/ sahe ich Lust/ und hatte Freude an ihnen: und da ich sterben wuerde/ vermeinte ich/ ich wollte nicht sorgen/ denn ich wuerde hinter mir lassen einen Schuzz wieder meine Feinde/ und die den Freunden wieder dienen koennten. (GLA, 222-223) (138)
ob nu hie die alte wettermecherynn sagen würde..., soltu antworten (Luth. III, 391, 19, aus Behaghel 1924 II, 245)
(139)
ob ich mercken und versteen wurd..., daz ich dann andere sine werck, ob ich die wyter tütschen wurd, ouch dester fürderlicher wiste zeschicken (Wyle 159, 5, aus Behaghel 1924 II, 245)
(140)
Vnd wenn er sieben mal des tages an dir sündigen würde, uns sieben mal des tages widerkeme zu dir und spreche (Luth., Luk. 17,4, aus Paul 1920, 271)
Auch wenn in (137) noch die temporal vorausweisende Bedeutung von würde + Infinitiv vermutet werden kann, nicht zuletzt durch die kontextuell gegebene Gegenüberstellung von lebete – sterben würde, so ist in den anderen Belegen nur die rein konjunktivische Interpretation der Konstruktion, d.h. als Ausdruck einer irrealen, vorgestellten Bedingung, eindeutig dominant gesetzt. Weitere Verwendungskontexte folgen, in denen würde + Infinitiv eher dem synthetischen Konjunktiv II synonymisch erscheint:
Zum Grammatikalisierungsstatus von würde + Infinitiv in konjunktivischer Lesart
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(141)
Welche auff Koeniglicher Seiten/ mehrentheils ungluecklich abgelauffen/ weil die Staende Hertzog Carln anhingen/ daß der Koenig gezwungen worden/ einen Vergleich zu Linkoeping einzugehen/ wordurch alles vergangene vergessen seyn/ und die Regierung/ wie es Hertzog Carl und die Staende vorgeschrieben/ ins kuenfftige gefuehret werden solte; mit dem Anhang: Daß die saemptlichen Staende wider den jenigen stehen solten/ welcher diesem Vertrag nicht nachkommen wuerde. (LS, 4546A)
(142)
Solche wehmuehtige Reeden stieß von sich das jammervolle Vater-Herze des alten verlebten Jocobs / als ihm immer eines seiner liebsten Kinder nach dem andern von der Seiten gerissen wurde/ und es nun fast das Aussehen gewann/ ob wuerde der uebrige Rest auch vollends gar draufgehen. (GLA, 221)
In (141) tritt würde + Infinitiv in einem Relativsatz auf, der seiner Bedeutung nach ein „konditionaler Relativsatz“ ist, insofern als damit eine Bedingung formuliert wird. In (142) wird würde + Infinitiv in einem Vergleichssatz verwendet (‚als ob auch der Rest draufgehen würde = draufginge’). Solche Belege sind im von mir untersuchten Korpus noch sehr selten, was von einer erst einsetzenden Entwicklung zeugt. Wenn man allerdings die heutige Situation in Betracht zieht (vgl. Kap.6.5.), so kann man mit hoher Gewissheit behaupten, dass diese Entwicklung „Erfolge“ erzielt hat. Das Aufkommen der Konstruktion würde + Infinitiv in typischen konjunktivischen Kontexten ist m.E. ein wichtiges Merkmal einer Entwicklung, infolge deren die „erwartbare“ Entfaltung und Etablierung der Bedeutung der Folgerelation, die für alle werden-Konstruktionen festgestellt werden konnte, sozusagen angehalten wird. Was stattdessen geschieht, ist die Eingliederung der Periphrase in das bestehende Paradigma des Konjunktivs durch die analogische Ausgleichung der inhaltlichen Eigenschaften „alter“ synthetischer und „neuer“ analytischer Formen. Die eigene (aktionale) Bedeutungskomponente des auxiliarisierten werden wird allmählich zurückgestellt, wobei seine grammatische Funktion als formbildendes Auxiliar zur analytischen Konjunktivbildung favorisiert wird. Die Kontexte, die in diesem Kapitel beschrieben wurden, können als isolierende Kontexte (nach Diewald (2002)) für die rein konjunktivische, oder oben schon als modaldeiktisch definierte Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv bezeichnet werden: „Isolating context are contexts where only one of the competing interpretations is possible, while the other one is excluded, so that both meanings can be perseived as independent of each other“ (Diewald 2002, 114). Vor allem solche syntaktischen Konstruktionen wie Konditionalsätze, Konzessivsätze, Komparativsätze und
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
teilweise auch die indirekte Rede können als typische Verwendungsstätten für diese Lesart identifiziert werden. Dazu kommen diese Entwicklung auszeichnende und begleitende morphologische, strukturelle Faktoren des deutschen Sprachsystems: „Daß die Umschreibung zur Herrschaft kam, hängt natürlich damit zusammen, daß abgesehen von Fällen wie brächte, dächte bei den Massen der schwachen Verba die einfache Form nicht vom Indikativ unterschieden war“ (Behaghel 1924 II, 244). Würde + Infinitiv hat gegenüber vielen synthetischen Konjunktiv II-Formen vor allem regelmäßiger Verben den Vorteil, „eindeutig“ konjunktivisch zu sein. Sie fungiert daher in dieser Lesart als Konjunktiv-Grammem und trägt das unterscheidende kategoriale Merkmal, welches bei den konkurrierenden ambigen synthetischen Formen fehlt. Würde + Infinitiv in dieser Lesart befindet sich bis in die heutige Zeit in der Entwicklungsphase, die von Heine (2002) als Konventionalisierungsstufe bezeichnet wird. Most context-induced inferences remain what they are: they are confined to bridging contexts, they are what has variously been described as „contextual meanings“ or “pragmatic meanings”. But some of them, i.e. those acquiring with contexts, may develop some frequency of use, they no longer need to be supported by context, and they turn into “normal” or “inherent” or “usual” or “semantic” meanings. (Heine 2002, 85; vgl. auch Hopper/ Traugott 1993, 73 f.)
Diese Phase wird dadurch gekennzeichnet, dass „die Zielbedeutung nicht mehr an einen bestimmten Kontext gebunden [ist], sie kann in neuen Kontexten vorkommen“ (Heine/ Miyashita 2004, 14). Und diese neuen Kontexte sind nicht nur alle typischen Verwendungsbereiche des Konjunktivs II, sondern auch die indirekte Rede (Funktionsbereich des Konjunktivs I) und sich verbreitende Verwendungen in ich würde sagen, empfehlen etc. (vgl. Kap.7.6.3.), die nicht mehr direkt auf die ursprüngliche Bedeutung der werden-Periphrasen zurückgeführt werden können, sondern lediglich der konjunktivischen Natur von würde + Infinitiv entspringen. Um kurz zusammenzufassen: würde + Infinitiv in ihrer modaldeiktischen Lesart erreichte schon im Frühneuhochdeutschen einen hohen Grammatikalisierungsgrad, wie ihre Verwendung in isolierenden Kontexten feststellen lässt. Die Konstruktion breitet sich darüber hinaus in dieser Lesart auf weitere Kontexte aus, die es erlauben, von der Konventionalisierung dieser Variante von würde + Infinitiv zu sprechen. Dennoch ist der Grammatikalisierungsprozess der Konstruktion würde + Infinitiv in dieser Lesart noch nicht abgeschlossen, d.h. obwohl diese Fügung als grammatisches Moduszeichen gebraucht werden kann, ist es in vielen Kontexten fraglich, ob dies die einzige Funktion dieser Periphrase ist. Der Endpunkt der aufgezeichneten Entwicklung zum analytischen Konjunktiv II ist noch nicht erreicht, solange ambige Strukturen in der
Zusammenfassung
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Sprache existieren, die mehr als eine Interpretation von würde + Infinitiv zulassen.
8.8. Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der diachronen Analyse zur Entwicklung der Konstruktion würde + Infinitiv seit der frühneuhochdeutschen Epoche, d.h. ungefähr seit dem 14. Jahrhundert, vorgestellt. Bei der Sichtung des gesammelten Materials hat es sich als sinnvoll und hilfreich erwiesen, die Konstruktion würde + Infinitiv samt ihrer Verwendungskontexte nicht isoliert zu behandeln, sondern den Blickwinkel auf andere werden-Periphrasen mit Infinitiv (und darüber hinaus mit Partizip Präsens) zu erwietern. Zum einen konnte dadurch der kontinuierliche Grammatikalisierungsprozess von würde + Infinitiv im gesamten werdenParadigma und seinen Zusammenhängen rekonstruiert werden. Zum anderen konnten durch die Betrachtung indikativischer werden-Formen Aufschlüsse gewonnen werden, die für die Analyse von würde + Infinitiv von Belang erscheinen. Es wurde festgestellt, dass der Grammatikalisierungsprozess der werden-Periphrasen in untypischen Kontexten, deren Herausbildung ins Mittelhochdeutsche fällt, ausgelöst wurde. Es wurden hierbei bestimmte Voraussetzungen für die spätere Entwicklung geschaffen. Dieses Stadium geht dem eigentlichen Grammatikalisierungsprozess voran und ist diejenige Phase, die nicht notwendig zur späteren Grammatikalisierung hätte führen müssen, jedoch höchstwahrscheinlich diesen Entwicklungsprozess ausgelöst hat. Diese Phase ist durch untypische Kontexte charakterisiert, die eine neue Interpretation von werden-Fügungen gegenüber der ursprünglichen inchoativen/ mutativen Aktionalität in beiden temporalen Perspektiven aufweisen. Diese Interpretation habe ich als Markierung einer Folgerelation bezeichnet, die zwischen zwei textuell benachbarten Situationen besteht. Während werden/ ward + Infinitiv bzw. Partizip Präsens hauptsächlich den Eintritt in einen neuen Zustand ausdrücken, d.h. dem Ausdruck der mutativen Aktionalität dienen, wird darüber hinaus die Möglichkeit einer weiteren, durch den Kontext begründeten Interpretation eröffnet, diesen Eintritt in Beziehung zum Vorhergesagten zu stellen. Dies geschieht infolge des Zusammenspiels von kontextuell vorhandenen Elementen der Textverknüpfung (Konjunktionen, temporale Adverbien, anaphorische Elemente) auf dem Wege der konversationellen Implikatur. Diese Folgerelation ist eher allgemeiner Natur, d.h. sie kann als eine temporale, konditionale, kausale oder konsekutive Beziehung interpretiert werden, je nach dem gegebenen kontextuellen Rahmen. Werden tritt als ein
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
sprachliches Zeichen auf, das nicht nur den Eintritt eines neuen Zustandes kodiert, sondern diesen als Folge des vorangegangenen Geschehens kennzeichnet. Somit gewinnt werden innerhalb der Verbindungen mit Infinitiv bzw. Partizip Präsens an textorganisierender Funktion, während seine referentielle Funktion (Ausdruck der mutativen Aktionalität) abgeschwächt wird bzw. „verblasst“. Um die relationale Struktur des Basisbedeutung von werden aufzugreifen, kann diese Interpretationsmöglichkeit im Wesentlichen als Expansion der Position des Ausgangspunktes betrachtet werden, indem nicht nur das (grammatische) Subjekt mit seinen (noch nicht vorhandenen) Eigenschaften, sondern auch der Vortext mit „subjektsexternen“ Informationen miteinbezogen wird. Die im Text präsenten Informationen über den Verlauf der Ereignisse spielen im relationalen Schema von nun an mit, insofern sie eine Entwicklung, Veränderung in der Subjektgröße bewirken, die in der Folge zum im Infinitivkomplement ausgedrückten Zustand bzw. Vorgang führt. Mit der Interpretationsmöglichkeit als Ausdruck einer Folgerelation wurde die wichtigste Voraussetzung für den eigentlichen Grammatikalisierungsprozess von werden-Konstruktionen und vor allem für die hier behandelte Konstruktion würde + Infinitiv geschaffen. Untypische Kontexte erfuhren dadurch ihre Weiterentwicklung zu kritischen Kontexten. In dieser Entwicklungsphase30 zeigt die Konstruktion würde + Infinitiv schon Ansätze ihres eigenen Entwicklungsweges, den sie nur partiell mit anderen werden-Fügungen teilt.
_____________ 30 An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die in dieser Arbeit rekon-
struierten Stufen oder Entwicklungsphasen in dem Grammatikalisierungsprozess von würde + Infinitiv ein hochgradig abstraktes Modell darstellen und daher oft Vereinfachungen tatsächlich stattgefundener Entwicklungen sind. Solche Simplifikationen sind bei jeder Modellbildung unvermeidbar. Dennoch kann ihr theoretischer Wert dadurch nicht gemindert werden, da sie eine Entwicklung in ihren wesentlichen Zügen und Phasen zu rekonstruieren vermögen und dadurch grundsätzliche Tendenzen aufzeigen, die auch auf andere sprachgeschichtlichen Phänomene angewendet werden können. Für die hier vorgestellte Rekonstruktion diachroner Wandlung von würde + Infinitiv heißt es zum einen, dass einige marginale Verwendungen dieser nicht immer dargestellt werden können, meist aus dem Grund, dass sie in der Sprache nicht weiter geführt wurden und daher für die heutige Bestimmung ihres Status nicht relevant erscheinen. Zweitens, gehört die strikte Abgrenzung einziger Entwicklungsphasen, die das Modell vermuten lässt, auch zu jeder Modellierungsmethode. Dies meint jedoch nicht, dass diese Phasen in Wirklichkeit klare und feste zeitliche Grenzen aufweisen. Es handelt sich vielmehr um einen kontinuierlichen Prozess mit transparenten Übergängen von einer Bedeutung zur anderen. Drittens, die in dem Modell aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen können im Sprachgebrauch nebeneinander fortbestehen, was zum Phänomen der „Schichtung“ (layering, Hopper/Traugott 1993) in der Synchronie führt. Daher können diese Stufen nicht als abgeschlossene Phasen gesehen werden.
Zusammenfassung
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Anhand des untersuchten Materials ließen sich zwei Arten von kritischen Kontexten differenzieren. Diese Kontexttypen können jeweils als Anfang der Herausbildung zweier unterschiedlicher Lesarten von würde + Infinitiv definiert werden, die auch für das heutige Deutsch typisch sind: zum einen sind das syntaktische Konstruktionen, in welchen Aussagen mit würde + Infinitiv durch Verben des Wissens, Denkens, Fühlens etc. (mit anderen Worten: durch kognitive Verben bzw. Verbalphrasen) eingeleitet werden (vgl. Kap.5 für das Gegenwartsdeutsch); zum anderen sind das Konditionalkonstruktionen (vgl. Kap.7 für das Gegenwartsdeutsch) und bedeutungsverwandte syntaktische Strukturen (z.B. konditionale Relativsätze). In diesen Kontexten zeigt sich die weitere Reinterpretation der Bedeutung einer Folgerelation, die in untypischen Kontexten nur eine mögliche (kontextbedingte) Interpretation darstellte. Gleichzeitig wurde diese zunächst nur vage als „Folge“ bestimmte semantische Komponente unter dem Einfluss kritischer Kontexte profiliert und somit genauer bestimmt. So erhielt würde + Infinitiv in Abhängigkeit von kognitiven Verben bzw. Verbalphrasen eine deutlich ausgeprägte sprecherbezogene, epistemische Komponente, die ich als „inferentiell“, d.h. die mentale Tätigkeit des Schlussfolgerns enkodierend, bezeichnet habe. Die Bedeutung der Folgerelation besteht somit fort, wird aber auf die epistemische Ebene übertragen. Für die Interpretation der Konstruktion würde + Infinitiv ist somit relevant, dass die Folgerelation nicht als eine materielle (externe, Halliday/ Hasan 1976) Beziehung verstanden wird, sondern als ein vom Sprecher hergestellter (interner) Zusammenhang zwischen den im Vortext gegebenen Umständen, Fakten, Informationen und ihren Entwicklungen, Folgen, die mit würde + Infinitiv formuliert werden. Der Ausgangspunkt in dem relationalen Schema der Konstruktion würde + Infinitiv wird dementsprechend noch weiter expandiert, indem er nicht nur den Vortext, d.h. explizite Informationen einbezieht, sondern durch den expliziten Verweis auf den aktuellen Sprecher (nicht zuletzt über kognitive Ausdrücke wie denken, glauben, wissen, befürchten, erwarten etc. geleistet) auch außertextuelle, metalinguistische Informationen31 mit einschließt. Somit befindet sich würde + Infinitiv in der dritten Tendenz des Traugottschen Subjektivierungsmodells (vgl. Traugott 1989, 35). Es geht ab jetzt um die Organisation der Aussage hinsichtlich der Sprechsituation und in besonderem Maße hinsichtlich des Sprechers. In dieser Phase, d.h.
_____________ 31 Traugott (1982, 1989) verwendet den Begriff „metalinguistic“, wenn sie die zweite Ten-
denz in ihrer „Subjektivierungsskala“ beschreibt. In der später erschienenen Studie zum semantischen Wandel (Traugott/ Dasher 2002, 89 ff.) zieht sie ihm den Terminus „metatextual“ vor: „’Metatextual’ is preferable since it refers to the act of using language in negotiating meaning through explicit mention of the discourse being undertaken“.
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
in kritischen Kontexten I, welche auch in der heutigen Sprache verbreitet sind (vgl. Kap.5), kann die Konstruktion nicht mehr in ihrer alten aktionalen Bedeutung interpretiert werden, da sie keinen beobachtbaren Eintritt in einen neuen Zustand ausdrückt, der sich vor den Augen des Sprechers ereignet (oder ereignet hat), sondern eine geschlussfolgerte Entwicklung der gegebenen Situation durch den Sprecher bezeichnet. Es ist an dieser Stelle allerdings zu erwähnen, dass es sich in dieser Phase noch um eine sehr stark an den Kontext gebundene Interpretation von würde + Infinitiv handelt. Kritische Kontexte I zeichnen sich durch die textuelle Präsenz einleitender epistemischer oder emotionaler Ausdrücke aus, die die Sprecherperspektive explizit markieren. Diese Ausdrücke üben dank ihrer lexikalischen Bedeutung Einfluss auf die untergeordnete Konstruktion würde + Infinitiv aus, die jedenfalls eine Sprecherbezogenheitskomponente erhält. M.E. erfüllt würde + Infinitiv in solchen Kontexten ihre eigene Leistung, indem die Folge-Komponente reinterpretiert wird als in der mentalen Welt des Sprechers stattfindende Entwicklung (Schlussfolgerung), die zum einen zu der Konklusion führt, die der Sprecher mit würde formuliert, zum anderen aber auch eine bestimmte epistemische Einstellung des Sprechers hervorruft (wissen, glauben, denken, zweifeln etc.). Kritische Kontexte I bilden also die Anfangsphase für die Herausbildung der heutigen evidentiellen Bedeutung von würde + Infinitiv, die darin besteht, den Schlussfolgerungsprozess des Sprechers zu kodieren. Die Informationsquelle, die Evidenzen müssen fortan nicht obligatorisch im Text expliziert sein, sie werden durch die Verwendung von würde + Infinitiv impliziert, da jeder Schlussfolgerungsprozess natürlicherweise auf Prämissen beruht. Diese Entwicklungsrichtung, die durch die kritischen Kontexte I gekennzeichnet ist, teilte die Konstruktion würde + Infinitiv mit der indikativischen Fügung werden + Infinitiv. Obwohl die vorliegende Untersuchung nur auf die Konstruktion würde + Infinitiv und ihre Verwendungskontexte fokussiert, liefern gegenwärtige Untersuchungen zu werden + Infinitiv ausreichend Evidenzen dafür, die indikativische Fügung ebenfalls als eine evidentiell inferentielle Konstruktion einzustufen (vgl. dazu vor allem Marschall 1987, Fritz 2000b, Diewald 2005, Mortelmans demn.). Dies legt die Vermutung nahe, dass würde + Infinitiv in dieser Lesart eine präteritale konjunktivische Entsprechung zu werden + Infinitiv darstellt und sich daher in das heutige werden-Paradigma einordnen lässt. Eine andere Art kritischer Kontexte bilden Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen. In jeder historischen Grammatik des Deutschen findet man die Feststellung, dass würde + Infinitiv sich anfänglich in Hauptsätzen hypothetischer Bedingungsgefüge behauptete. Hier
Zusammenfassung
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war auch die Bedeutungskomponente der Folge m.E. „verantwortlich“ für diese Entwicklung. Die konditionale Interpretation der abstrakt als Folgerelation definierten Bedeutung der werden-Periphrasen wurde allerdings durch die verstärkte Verwendung in Konditionalkonstruktionen dominant gesetzt. Was also diese Verwendungen von würde + Infinitiv im Unterschied zu kritischen Kontexten I zur Folge hatten, ist die Profilierung und genauere Bestimmung der Folge-Komponente als Folge einer durch den Kontext gegebenen Bedingung. Würde + Infinitiv wird zum sprachlichen Zeichen einer konditionalen Beziehung, und zwar zum expliziten Marker einer Folge in der aufgebauten konditionalen Relation. Die textorganisierende Funktion, die in den untypischen Kontexten in der Realisierung einer nur vage bestimmten Folgerelation zwischen textuell benachbarten Propositionen (Situationen) bestand, geht in die explizite Markierung einer konditionalen Relation über. Diese konkrete Entwicklung lässt sich auch für die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv beobachten. Was allerdings als Folge dieser Entwicklung in der Geschichte von würde + Infinitiv von besonderer Relevanz erscheint und diese von der indikativischen Fügung werden + Infinitiv scheidet, ist die weitere Verbreitung von würde + Infinitiv in anderen typischen konjunktivischen Kontexten. Am markantesten ist in dieser Hinsicht das Auftreten dieser Konstruktion in Bedingungssätzen, in denen mit würde nicht mehr die Folge, sondern die Bedingung selbst formuliert wird. Diese Verwendungsmöglichkeit zeugt von einer Wandlung, die anscheinend in Hauptsätzen hypothetischer Konditionalkonstruktionen begann, nämlich von der Reinterpretation von würde + Infinitiv als synthetischer Konjunktiv. Würde + Infinitiv erweitert ihren Anwendungsbereich auch auf andere typischen konjunktivischen Kontexte wie Vergleichssätze, Konzessivsätze u.a. Diese Konstruktion wird also zum grammatischen Modusmarker und gleichbedeutend mit dem Konjunktiv II. Dessen Funktion wurde in Kap.6.3. beschrieben als Zuweisung eines modaldeiktischen Wertes [+ nichtfaktisch], der sich aus dem Verhältnis des dargestellten Sachverhalts (Proposition) zu „nichterfüllten Bedingungen der sinnvollen Behauptbarkeit“ ergibt (Kasper 1987a, b; Diewald 1999). Das Verhältnis zwischen dem dargestellten Sachverhalt und den konstruierbaren Bedingungen, die seine Nichtfaktizität begründen, ist also konditional. Durch die Verwendung in hypothetischen Konditionalkonstruktionen des Frühneuhochdeutschen und somit mit der Favorisierung eben dieser konditionalen Relation durch diese Kontexte wurde die Konstruktion würde + Infinitiv also in die funktionalsemantische Nähe der modalen Kategorie Konjunktiv II gerückt. Die diachrone Untersuchung der Konstruktion würde + Infinitiv führte also zu den Ergebnissen, die sich kurz wie folgt formulieren lassen: in der frühneuhochdeutschen Periode bildeten sich zwei distinktive Kontext-
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Die diachrone Entwicklung von würde + Infinitiv
typen (kritische Kontexte I und II) heraus, die jeweils bestimmte Lesarten der Konstruktion favorisierten. In Abhängigkeit von Verben und Verbalphrasen mit epistemischer oder emotionaler Bedeutung entwickelte würde + Infinitiv verstärkt die sprecherbezogene inferentielle Komponente. Diese Entwicklung besteht also in der Intensivierung der werden-Komponente. Würde + Infinitiv markiert primär, dank der Reinterpretation der lexikalischen mutativen Bedeutung von werden, den Schlussfolgerungsprozess des Sprechers, der auf Informationen, Prämissen basiert, die nicht unbedingt im Text explizit vorhanden sind, aber implizit vorausgesetzt werden. In (hypothetischen) Konditionalkonstruktionen wird die Folge, die mit würde formuliert wird, an eine Bedingung gebunden. Würde + Infinitiv wird zum Ausdruck der Folge eines konditionalen Verhältnisses, was die Periphrase in die funktionale Nähe zum Modus Konjunktiv II bringt. Diese Entwicklung besteht also in der Hervorhebung und Favorisierung der morphologischen Form der Konstruktion, d.h. in der Intensivierung der konjunktivischen Komponente. Die werden-Komponente wird dadurch unterdrückt und die Fügung entwickelt sich allmählich zum analytischen Konjunktiv II. Diese Entwicklung wird durch strukturelle Faktoren begünstigt: durch Veränderungen in dem verbalen System, die zum formalen Zusammenfall indikativischer und konjunktivischer Flexionsformen regelmäßiger Verben führte. Erste Anzeichen der isolierenden Kontexte für diese Lesart lassen sich beobachten: würde + Infinitiv weitet seinen Verwendungsbereich auf andere typische konjunktivische Kontexte aus und steht eindeutig im Konkurrenzverhältnis zu synthetischen Konjunktiv IIFormen. In dieser Hinsicht ist die modaldeiktische Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv (analytischer Konjunktiv II) in der frühneuhochdeutschen Periode stärker grammatikalisiert als ihre epistemisch-evidentielle Variante, deren Interpretation noch stark an den gegebenen kontextuellen Rahmen (einleitende Verben des Wissens, Denkens, Fühlens etc.) gebunden ist.
9. Bilanz Die Arbeit stellte sich zur Aufgabe, den funktional-semantischen Status der Konstruktion würde + Infinitiv im verbalen System der deutschen Gegenwartssprache zu klären. Eine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt der Grammatikalisierung sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht wurde zu diesem Zweck durchgeführt. Hierzu wurden zwei Korpora aus zwei Epochen des Deutschen (das Frühneuhochdeutsch und das Gegenwartsdeutsch) ausgewertet. Daneben wurden Erkenntnisse bereits vorliegender empirischer Studien herangezogen. Die wichtigsten Ergebnisse der durchgeführten Analyse werden in diesem Abschnitt kurz vorgestellt (detaillierte Beschreibungen finden sich in zusammenfassenden Abschnitten am Ende jedes Kapitels). In Kap.2. und Kap.3. wurden Ansätze vorgestellt, die in der sprachwissenschaftlichen Forschung über würde mit Infinitiv zur Erklärung der Bedeutungszusammenhänge dieser Fügung aufgestellt worden sind. Die bisher vorgeschlagenen Theorien nehmen jeweils unterschiedliche Kernfunktionen oder Kombinationen unterschiedlicher semantisch-funktionaler Werte dieser Konstruktion als Grundlage für deren Einordnung in das Verbalsystem der deutschen Sprache und für die Erklärung ihrer kontextund situationsspezifischen Ausprägungen bzw. Lesarten. Und während hinsichtlich der Lesart von würde + Infinitiv, die sich als analytische Entsprechung zum synthetischen Konjunktiv II beschreiben lässt, in der Forschung offenbar ein Konsens besteht, sind andere, von dieser Funktion verschiedene, Interpretationen der Konstruktion immer noch nicht einheitlich definiert. Nicht zuletzt hängt dies damit zusammen, dass die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv und ihre Stellung im Verbalparadigma des Deutschen nicht eindeutig bestimmt sind. Von der Annahme ausgehend, dass die Kernbedeutung der Periphrase sich kompositionell aus der Leistung der Konstruktion werden + Infinitiv und dem eigenen Beitrag der Konjunktiv II-Flexion erklären lässt, wurden diese beiden Elemente bzw. Bestandteile von würde + Infinitiv im Einzelnen eingehender Betrachtung unterzogen. Auf der Grundlage des Modells einer abstrakten Bedeutungsschablone bzw. einer relationalen Struktur (image-schema), die allen synchronen Varianten der Konstruktion zugrunde gelegt werden kann und sich in all ihren diachronen Entwicklungsstufen nachvollziehen lässt, wurde der Versuch unternommen, den heutigen Sta-
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tus der Konstruktion würde + Infinitiv und ihre Entwicklungsgeschichte systematisch darzustellen. Die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv wurde dabei in ihrer grundlegenden Bedeutung als evidentielle Verbalperiphrase bzw. als Evidentialitätsmarker klassifiziert. Die Eingliederung dieser Konstruktion in das deutsche Verbalsystem erforderte zunächst eine allgemeine (auf typologischen Erkenntnissen basierende) Analyse der Kategorie Evidentialität als einer nach den allgemeinen Prinzipien deiktischer Determination aufgebauten grammatischen Kategorie. Unter Verwendung von Bühlers Konzept der Zeigarten und Jacobsons Markiertheitstheorie konnten spezifische evidentielle Werte in einem einheitlichen Konzept einer evidentiellen deiktischen Dimension zusammengefasst werden. Da die Kategorie Evidentialität ein relativ neues Feld in der germanistischen Forschung darstellt, wurde der Betrachtung dieser Fragen ein bedeutender Teil der Untersuchung gewidmet (Kap.4.). Es konnte gezeigt werden, dass Evidentialität im Deutschen den Status einer deiktisch determinierten grammatischen Kategorie (noch) nicht erlangt hat. Somit fungieren heutige deutsche Evidentialitätsmarker (die Konstruktionen scheinen/ versprechen/ drohen + zu + Infinitiv und werden + Infinitiv) noch nicht als vollständig grammatikalisierte Elemente (im Gegensatz zu ‚reinen’ Evidentialitätsmarkern einiger Sprachen). Sie können daher als sekundäre Prädikationen angesehen werden, die zusätzliche Informationen zum propositionalen Gehalt einer Aussage hinzufügen. Ihr funktional-semantischer Beitrag besteht darin, eine Informationsquelle zu kodieren, aus der der Sprecher Gründe, Beweise, Indizien – Evidenzen – für seine Sachverhaltsdarstellung bezieht. Es wurde außerdem festgestellt, dass deutsche Evidentialitätsmarker in ihrem Bedeutungsspektrum auch modale Werte aufweisen, die sie in die funktionale Nähe der so genannten Faktizitätsmarker bringen. Das enge Interaktionsverhältnis zwischen Evidentialität und Faktizität in der deutschen Sprache macht die eindeutige Klassifizierung der Konstruktion werden + Infinitiv in der linguistischen germanistischen Forschung so schwierig. Die Kernbedeutung von werden + Infinitiv konnte vor diesem Hintergrund folgendermaßen definiert werden: werden + Infinitiv kodiert die mentale Aktivität des Sprechers, den Prozess des Schlussfolgerns. Der Sprecher bringt durch die Verwendung von werden + Infinitiv zum Ausdruck, dass seine Aussage Ergebnis eines Schlussfolgerungsprozesses ist. Bestimmte Informationen – Evidenzen – werden vom Sprecher als Prämissen für die geäußerte Konklusion genommen. Werden + Infinitiv ist also ein indirekter Evidentialitätsmarker mit inferentieller Bedeutungskomponente. Das Spektrum der Gebrauchsweisen bzw. Lesarten dieser Periphrase ergibt sich aus je verschiedenen Spezifizierungen dieser grundlegenden Bedeutung, genauer gesagt aus verschiedenen Spezifizierungen
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der relationalen Bedeutungsschablone, in der die einzelnen relationalen Positionen unterschiedlich besetzt und repräsentiert werden. Mit der Bestimmung der evidentiellen Bedeutungskomponente als distinktives semantisches Merkmal der Periphrase werden + Infinitiv und mit dem Erarbeiten der relationalen Bedeutungsschablone dieser Konstruktion wurde die Basis für die weitere Untersuchung der Fügung würde + Infinitiv geschaffen. Für den Konjunktiv II wurde eine grundlegende Bedeutung angenommen, die ebenfalls in einem relationalen Bedeutungsschema dargestellt wurde. Die Hauptfunktion des Konjunktivs II wurde in Anlehnung an bereits vorliegende Arbeiten von Kasper (1987 a, b) und Diewald (1999) als die Zuweisung eines negativen Faktizitätswertes dem dargestellten Sachverhalt durch den Sprecher (von der Origo aus) aufgrund des Nichterfüllt-Seins bestimmter Bedingungen der sinnvollen Behauptbarkeit verstanden. Diese Bedeutung wurde im relationalen Schema des Konjunktivs II als Einheit von zwei einzelnen Relationen dargestellt, wobei die erste den Zusammenhang zwischen den nichterfüllten Bedingungen und der Proposition und die zweite denjenigen zwischen dem Sprecher und dem ersten Zusammenhang bildet. Die relationale Bedeutungsschablone des Konjunktivs II erlaubt es ähnlich wie im Falle der Konstruktion werden + Infinitiv, die Gebrauchsweisen dieser Form durch die unterschiedlichen Spezifikationen einzelner Positionen und damit auch der auch Relationen in diesem Schema zu erklären. Die nach dem gleichen Modell rekonstruierten Basisbedeutungsschablonen von werden + Infinitiv und dem Konjunktiv II ergaben nach ihrer Zusammenführung ein komplexes Bedeutungsschema der Konstruktion würde + Infinitiv. Die zentrale Hypothese, dass diese semantische Basisstruktur verschiedenen Gebrauchsweisen dieser Konstruktion zugrunde gelegt werden kann und unter Berücksichtigung spezifischer kontextueller und situativer Faktoren ihre unterschiedlichen Interpretationen erklären lässt, wurde anhand der durchgeführten korpusbasierten Analyse überprüft und bestätigt. In synchroner Hinsicht konnte gezeigt werden, dass durch bestimmte Merkmale ausgezeichnete Kontexttypen (z.B. temporale Vergangenheitsperspektive, einleitende kognitive Verben und Verbalphrasen, erlebte Rede, epistemisch verknüpfte Konditionalsätze und ähnliche Konstruktionen) die so genannte werden-Relation in dem relationalen Basisschema der Periphrase würde + Infinitiv dominant setzen, sodass die Konstruktion in diesen Fällen am besten mit Bezug auf die Konstruktion werden + Infinitiv erklärt werden kann. Würde + Infinitiv tritt hierbei in ihrer (epistemisch)evidentiellen Lesart auf, wobei weitere kontextinduzierte Spezifizierungen ausdifferenziert werden können. In Kontexten mit einleitenden kognitiven
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Ausdrücken und in der erlebten Rede kann die Konstruktion würde + Infinitiv als (modusneutrale) präteritale Entsprechung von werden + Infinitiv bestimmt werden (anstelle von der in der heutigen deutschen Sprache fehlenden Form *wurde + Infinitiv). In weiteren, hauptsächlich gegenwarts- oder zukunftsbezogenen Kontexten (epistemisch verknüpfte Konditionalsätze und ähnliche Konstruktionen, Kontexte vom Typ X würde Vinf., In X würde Y Vinf.) tritt würde + Infinitiv als konjunktivische Entsprechung der indikativischen Konstruktion werden + Infinitiv auf. Würde + Infinitiv stellt in diesen Fällen also die durch die Konjunktivflexion „abgeschwächte“ Variante von werden + Infinitiv. Andere Gruppen von relevanten Kontexten konnte verzeichnet werden, die eine grundsätzlich andere Realisierung des relationalen Basisschemas und somit eine andere Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv triggern. Das sind vor allem typische konjunktivische Kontexte (Nebensatzkonstruktionen), inhaltlich verknüpfte (hypothetische und irreale) Konditionalsätze und weitere spezifische würde-Verwendungen (wie z.B. Ich würde sagen/ meinen etc.; Ich würde gern/ lieber...). Dazu gesellt sich die indirekte Rede. Hier tritt die Konstruktion würde + Infinitiv in ihrer modaldeiktischen Lesart auf und ist als analytische Alternative zum synthetischen Konjunktiv II aufzufassen. Die so genannte Konjunktiv II-Relation des komplexen Basisschemas wird in solchen Fällen dominant gesetzt. Würde kann hier also als formbildendes Auxiliar zur analytischen Konjunktivbildung definiert werden, das seine lexikalische Bedeutung zugunsten der grammatischen Markierung modaler Werte (Konjunktiv II) fast völlig abgebaut hat. Was die diachrone Analyse betrifft, so zeigte sich, dass die im synchronen Teil aufgestellten Hypothesen auch für die historische Entwicklung relevant sind. Insbesondere konnte durch das Konzept der relationalen Basisstruktur die synchrone Variation mit der diachronen semantischen und funktionalen Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden, insofern zwei Grundentwicklungslinien in der Geschichte der Periphrase würde + Infinitiv festgestellt werden konnten, die dann auf die synchronen Varianten der Fügung projiziert werden konnten. Für die Untersuchung des diachronen Ablaufs der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv wurde das Konzept eines Phasenmodells angewendet (Diewald 2002, Heine 2002), das den kontinuierlichen Grammatikalisierungsprozess in einzelne Stufen gliedert. Für jede der aufeinander folgenden Phasen der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv konnten semantische und strukturelle Besonderheiten sowohl der Konstruktion selbst als auch der externen kontextspezifischen und ferner sprachsystemischen Faktoren ermittelt werden, die die Entwicklung der Periphrase als einen umfassenden Grammatikalisierungsprozess darstellen lassen (Kap.8.).
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Die erste Phase besteht in der Herausbildung von notwendigen, aber nicht hinreichenden Vorbedingungen für die spätere Grammatikalisierung. Sie findet in untypischen Kontexten statt und betrifft, wie festgestellt werden konnte, noch nicht die Konstruktion würde + Infinitiv selbst, sondern das gesamte Paradigma der Verbindungen von werden (in allen Tempusund Modusformen) mit Infinitiv bzw. Partizip Präsens. Die Bedeutung dieser Fügung, die ursprünglich in der Bezeichnung des aktional mutativen/ inchoativen/ ingressiven Charakters des beschriebenen Vorgangs bestand, wird in dieser Phase als Kodierung einer Folgerelation umgedeutet, die als eine temporale, kausale, konditionale oder konsekutive interpretiert werden kann. In der zweiten Phase wird die in der ersten Phase entstandene Bedeutung der Folgerelation von allen werden-Konstruktionen weitergeführt und weiterentwickelt. Dabei entstehen zwei Typen von kritischen Kontexten: Einerseits wird die konditionale Interpretation der allgemein definierten Folgerelation favorisiert (in Konditionalkonstruktionen, ferner in weiteren typischen konjunktivischen Kontexten), was in der dritten Phase (in isolierenden Kontexten) dazu führt, dass die Konstruktion würde + Infinitiv als analytische Form des Konjunktivs II grammatikalisiert wird. Würde + Infinitiv schlägt also eine Entwicklungsrichtung ein, die sie von den anderen werden-Periphrasen absondert und den allmählichen Ausgleich der funktionalen Bereiche des Konjunktivs II und der würde-Fügung als Ergebnis hat. Weitere externe Faktoren wie die Umstrukturierung des Modussystems des Deutschen und der damit einhergehende lautliche und formelle Zusammenfall vieler indikativischer und konjunktivischer Verbformen spielen in diesem Prozess mit. All dies hat zur Folge, dass diese Lesart der Konstruktion heute schon ziemlich stark grammatikalisiert ist und sich in der Phase ihrer Konventionalisierung befindet. Andererseits entwickelt sich die im Verb werden verankerte Bedeutung einer allgemein formulierten Folgerelation in die Kodierung einer zunächst textuell begründeten Folgerelation und dann einer sprecherspezifischen (internalisierten) Folgerelation. Dieser Prozess ist als Entwicklung der heutigen evidentiellen Bedeutung zu betrachten, wobei die Bezeichnung einer Folge zur Bezeichnung mentaler Tätigkeit des Sprechers (Schlussfolgern) reinterpretiert wird. Diese Entwicklung ist nicht nur für die Konstruktion würde + Infinitiv spezifisch, sondern gilt auch für die indikativische Fügung werden + Infinitiv, wie anhand des bearbeiteten Datenmaterials diagnostiziert werden konnte. Es handelt sich also hierbei um die Grammatikalisierung der werden-Periphrasen als inferentielle Evidentialitätsmarker. Dieser Prozess dauert bis heute noch an, und obwohl der Übergang in die dritte Phase (isolierende Kontexte) schon ansatzweise festgestellt werden konnte, ist diese Lesart der Konstruktion würde + Infi-
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nitiv deutlich schwächer grammatikalisiert als ihre Lesart als analytische Konjunktiv II-Form. Die Ergebnisse der synchronen sowie der diachronen Untersuchung können kurz wie folgt zusammengefasst werden, wobei einige Generalisierungen gemacht werden können: Die Periphrase würde + Infinitiv ist eine polyfunktionale Konstruktion, die sich in ihrem synchronen Status sowie in ihrer diachronen Entwicklung kompositionell aus dem eigenen Beitrag von werden + Infinitiv und der Konjunktivflexion erklären lässt, und zwar mittels Zurückführung aller ihrer Gebrauchsweisen auf eine grundlegende relationale Bedeutungsschablone, die infolge der Zusammenführung beider Komponenten entsteht (Kap.5. und Kap.6.). Es lassen sich zwei distinktive Lesarten der Konstruktion würde + Infinitiv postulieren: zum einen würde + Infinitiv als analytische Form des synthetischen Konjunktivs II, was eine funktionale und semantische Äquivalenz beider Formen bedeutet; zum anderen würde + Infinitiv als flektivische Entsprechung der inferentiellen evidentiellen Konstruktion werden + Infinitiv. Die zweite Lesart stellt allerdings eine komplexe Struktur dar, da sie kontextspezifisch einerseits als (modusneutrale) präteritale Entsprechung der Konstruktion werden + Infinitiv fungiert und andererseits als deren (tempusneutrale) konjunktivische Form auftritt. Die konjunktivische Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv ist eine stark grammatikalisierte Variante der Fügung, insofern als das Auxiliar würde seine ursprüngliche lexikalische Bedeutung (fast) vollständig abgebaut hat und diese als Markierung der grammatischen Kategorie Modus umgedeutet hat. Würde + Infinitiv in dieser Lesart kann nicht mehr ohne weiteres auf die Bedeutung von werden plus Konjunktivflexion zurückgeführt werden, was von einem sehr hohen Grammatikalisierungsgrad dieser Fügung zeugt. Die evidentielle Lesart der Konstruktion würde + Infinitiv ist noch nicht in dem Maße grammatikalisiert wie ihre konjunktivische Lesart. Die indikativische Konstruktion werden + Infinitiv und ihr immer noch in der sprachwissenschaftlichen Literatur umstrittener Status im Verbalsystem des Deutschen liefert eine weitere Evidenz dafür. In dieser Lesart stehen die beiden Periphrasen in einem sehr engen Zusammenhang, wobei würde + Infinitiv nur mit Bezug auf werden + Infinitiv erklärt werden kann. Die hier vorgeschlagene strikte Unterscheidung zwischen zwei Hauptlesarten von würde + Infinitiv entsprich nicht nur dem eigentlichen Wesen der Konstruktion würde + Infinitiv in der deutschen Sprache der Gegenwart, sie hat außerdem den Vorteil, dass sie die Klassifizierung weiterer Bedeutungsvarianten dieser Fügung systematisch aufbauen lässt. Es ist nicht mehr nötig, alle möglichen Verwendungskontexte und Interpretati-
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onsmöglichkeiten der würde-Form aufzulisten (wie es die meisten Grammatiken bis heute tun, vgl. Kap.2.), um ihre semantisch-funktionale Leistung in der Sprache so umfassend wie möglich zu gestalten. Das Auftreten der Fügung in unterschiedlichen Kontexten erfolgt nicht zufällig und ohne sichtbare Ordnung, sondern ist durch die semantische Struktur der Konstruktion selbst motiviert.
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