Die vergangene Zukunft Europas: Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert 9783412214333, 9783412206369


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Die vergangene Zukunft Europas: Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert
 9783412214333, 9783412206369

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Die vergangene Zukunft Europas Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Petra Overath

2011 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Das dieser Publikation zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundes­ ministeriums für Bildung und Forschung unter den Förderkennzeichen 07GW02A bis C gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren und Autorinnen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Graphik auf dem Buchcover entwarf Blaise Bourgeois für das BMBF-Projekt www.vergangene-zukunft.eu

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: General-Druck, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20636-9

Inhalt Petra Overath Einleitung: Bevölkerungsprognosen und das Antlitz Europas im 20. und 21. Jahrhundert .............................................................................................

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A: Bevölkerungswissen transnational Heinrich Hartmann „Eine unaufhörliche Schwächung der Wehrkraft unseres Vaterlandes“. Rekrutenstatistik und demografischer Diskurs in Europa vor dem Ersten Weltkrieg ...........................................................................................

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Petra Overath Bevölkerungsforschung transnational. Eine Skizze zu Interaktionen zwischen Wissenschaft und Politik am Beispiel der International Union for the Scientific Study of Population ................................................................

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Regula Argast Population under Control: Das Ciba-Symposium „The Future of Man“ von 1962 im Spannungsfeld von Reformeugenik, Molekulargenetik und Reproduktionstechnologie .....................................................................

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Daniel Schmidt Von der Krise zur Chance – Die Politik der „Bevölkerung“. Deutsche und Europäische Diskurse seit 1970 ............................................. 117 B: Bevölkerungswissen zwischen Pathologie, Dekadenz und moralischer Lebensführung Anne Seitz Mikroben in der Dekadenz. Degeneration und Bakteriologie in Familienzeitschriften und in fiktionaler Literatur (Frankreich um 1900) ..... 145 Ursula Ferdinand Das Gespenst des Geburtenrückgangs im (deutschen) ‚Denken über die Bevölkerung‘ im 20. Jahrhundert.................................................................... 163

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Inhalt

Patrick Kury Zivilisationskrankheiten an der Schwelle zur Konsumgesellschaft: Das Beispiel der Managerkrankheit in den 1950er- und 1960 Jahren .......... 185 C: Demografische Konstruktionen europäischer Selbstverständnisse Petra Overath/Anne Seitz Bedrohte Europäer? Literarische Entwürfe und demografisches Wissen zum homo europaeus in der Zwischenkriegszeit ................................................... 211 Ian Innerhofer Die wissenschaftliche Konstruktion der „agrarischen Übervölkerung“ in Südosteuropa vor und während des Zweiten Weltkriegs .............................. 243 Martine Mespoulet Die Bevölkerung zählen und klassifizieren. Die demografischen Volkszählungen in der UdSSR (1920–1989) ................................................ 269 Annett Steinführer Konstruktionen des demografischen Wandels in der Tschechischen Republik 1990–2008. Oder: Von der Unmöglichkeit eines neutralen Konzepts .......... 297 D: Die Demografie auf dem Weg zur politischen Leitdisziplin des 21. Jahrhunderts? Interaktionen zwischen Bevölkerungswissen und Sozialpolitik Maximilian Schochow Das „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“: oder von der Grammatik der DDR-Sozialpolitik ........................................................................................ 323 Arnaud Lechevalier Konkurrierende Ansätze der Generationengerechtigkeit und Rentenreformen im gegenwärtigen Kontext ................................................. 351 Heike Kahlert Die vergangene Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Spiegel des demografischen Wandels . ............................................................................. 373 AutorInnen..................................................................................................... 405

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Einleitung: Bevölkerungsprognosen und das Antlitz Europas im 20. und 21. Jahrhundert Europa und die europäischen Gesellschaften sehen sich derzeit vom „Demografischen Wandel“ herausgefordert, also von einer veränderten Altersstruktur, deren aktuellen Tendenzen sich in naher Zukunft – so die Prognosen – noch dramatisch verstärken werden.1 Es existieren bereits seit Jahren großzügig finanzierte Forschungsprojekte zu diesem Thema sowie Lösungsansätze für das „Problem“ der zunehmenden „Alterung“ der europäischen Gesellschaften2 von der betrieblichen zur kommunalen über die nationalstaatliche bis hin zur europäischen Ebene.3 Gesellschaftspolitisch relevant ist, dass die Studien über Bevölkerungsentwicklungen, die verschiedene Maßnahmen begründen können, sowie deren Auswertungen und Diskussionen, weit mehr als nüchternes Zahlenmaterial verbreiten: Sie vermitteln 1 Der „Demografische Wandel“ hebt auf die Altersstruktur einer Bevölkerung ab. Beschrieben wird damit ein Trend der letzten Jahrzehnte hin zu einer veränderten Bevölkerungsstruktur – und zwar der, dass seit den 1970er Jahren durch niedrigere Geburtenraten sowie längere Lebenserwartung ein vergleichsweise höherer Anteil von älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung vorhanden ist. In Forschungen zum „Demografischen Wandel“ geht es nun um die Frage, in welchem Ausmaß sich dieser Trend fortsetzen wird und wie man ihm begegnen kann. Für das Jahr 2060 erwartet die Europäische Kommission auf der Grundlage der Prognosen von Eurostat etwa, dass sich das Verhältnis von Personen von über 65 Jahren zu Personen im erwerbsfähigen Alter von derzeit 1:4 verändert auf 1:2. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:0462:FIN:DE:PDF (14. Februar 2011) 2 Die Kategorie „Alt“ ist keinesfalls überzeitlich und von einem archimedischen Punkt aus definierbar. Sie ist historisch gewachsen und wer oder was als „alt“ gilt, ist gesellschaftlich ausgehandelt. Patrice Bourdelais, L’âge de la vieillesse: Histoire du vieillissement de la population, Paris: Odile Jacob 1997. Élise Feller, Histoire de la vieillesse en France, 1900–1960, Du vieillard au retraité (A History of Older People in France, 1900–1960: From the Impoverished Poor to the Retired) Paris: Éditions Seli Arslan 2005. 3 Hier seien lediglich einige Beispiele genannt: Die Bertelsmann-Stiftung startete das Projekt „Aktion Demographischer Wandel“, das sich an Bund, Länder und Kommunen wendet und politikberatend agiert. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst/ hs.xsl/499.htm. (14. Februar 2011). Das EU-Strategiepapier von 2006 umfasst 6 Punkte zur Herausforderung des Demografischen Wandels in der EU. Das Demografie-Forum der EU-Kommission beschäftigt sich mit zentralen demografischen Entwicklungen und gibt politische Empfehlungen zu demografischen Prognosen ab. Ausführlich behandeln die Beiträge von Daniel Schmidt und Heike Kahlert die EU-Ebene in diesem Sammelband.

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auch und vor allem „Erzählungen“, Gesellschaftsentwürfe und -vorstellungen von Europa, die durchaus brisant sein können.

1.  Von Zahlen zu „Erzählungen“ über Europa Im Jahr 2008 brachte zum Beispiel das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ein medial stark beachtetes Buch mit dem Titel „Die demografische Zukunft von Europa“ auf den Markt.4 Auf der Webseite des Instituts sind knapp 100 internationale Reaktionen aus Hörfunk, Fernsehen und Presse auf die Studie aufgelistet, die mehrheitlich zwischen August und Dezember 2008 – also kurz nach Erscheinen der Studie – veröffentlicht oder ausgestrahlt wurden. Besonders gerne griffen die Medienmacher die These auf, dass Europa bis zum Jahr 2050 um 52 Millionen auf 447 Millionen Einwohner schrumpfen werde.5 Aber auch das Schlagwort von Deutschlands Osten als „demografisches Notstandsgebiet“ erregte die Aufmerksamkeit von Journalistinnen und Journalisten insbesondere aus Deutschland.6 Dabei sind die Thesen nicht neu, sondern die Spitze des Eisbergs einer Hochkonjunktur: Spätestens seit der Jahrtausendwende sind demografische Themen in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Diskussion.7 Der mediale Erfolg der Studie des Berlin-Instituts erklärt sich mit dem derzeitigen Interesse an der demografischen Zukunft Europas. Er erklärt sich 4 Der Untertitel des Buches lautet: Wie sich die Regionen verändern. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2008. Eine Kurzfassung des Buches findet sich als pdf-Dokument auf der Webseite des Berlin-Instituts unter http://www.berlin-institut.org/studien/diedemografische-zukunft-von-europa.html (14. Februar 2011). Dort sind auch Reaktionen aus Funk und Presse auf die Studie aufgelistet. Untersucht werden in der Studie die Folgen des demografischen Wandels in den 27 EU-Staaten, in der Schweiz, in Norwegen und Irland. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist eine Stiftung, die sich durch Spenden, Stiftungskapital und Projektförderung finanziert. Es hat sich explizit zum Ziel gesetzt, Ergebnisse der demografischen Forschung aufzubereiten und zu verbreiten. Entsprechend ist ein Großteil der Mitarbeiter aus journalistischen Bereichen rekrutiert. Weitere Informationen zum Institut in den Beiträgen von Daniel Schmidt und Ursula Ferdinand. 5 Bsp.:http://www.berlin-institut.org/aktuelles/presseschau.html#c1687 (Stand: 14. Februar 2011), Reuters, 21.8.2008, European areas face desertion as population changes. 6 Vgl. ibid. die Beispiele vom 21.8.2008 bei spiegel-online, „Kindermangel macht Ostdeutschland zur Notstandsregion“ u.v.m. 7 Vgl. dazu die Artikel insbesondere von Heike Kahlert, Arnaud Lechevalier, Daniel Schmidt, Annett Steinführer. Und zum Beispiel die Arte-Themenabende „Stirbt Europa aus?“ vom November 2004, die Themen des Instituts für demografische Zukunftsfähigkeit in Oberursel. „Demography drives Europe’s future“ – der Slogan eines Zusammenschlusses von europäischen Demografen, der sich „Population Europe: The European

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aber auch durch die anschauliche Präsentation des vielfach diskutierten sogenannten Demografischen Wandels in bunten Grafiken sowie durch griffig formulierte Thesen. Die Autoren der Studie8 präsentieren nicht nur Zahlenmaterial, sondern auch eindringliche Erzählungen über das „Europa der Bevölkerungen“: Sie berichten von einer Konkurrenz zwischen den Regionen Europas im Umgang mit dem sogenannten Demografischen Wandel. Die in der Studie ermittelten Ranglisten zur demografischen „Zukunftsfähigkeit“ einzelner europäischer Regionen bringen „Gewinner“ hervor, die es richtig machen, aber auch „Verlierer“, deren Zukunftsaussichten trübe erscheinen. Überblickt man grob die Gesamtbewertung zu Europas demografischer Zukunft, dann wird deutlich: In den bunten Grafiken blitzt der Eiserne Vorhang als Phantomgrenze in Europas Landkarte auf. „Der Westen“ schneidet jeweils besser ab als „der Osten“. Auch mitten durch Deutschland verläuft im Jahr 2008 immer noch der Eiserne Vorhang als Phantomschmerz. Er teilt das Land nicht durch eine Mauer, aber durch demografische Faktoren.9 Europa hat in dieser Studie viele Gesichter. Das gilt zum einen für seine Ausgestaltung im „Innern“, aber auch für den Blick von und nach „Außen“. Im Vergleich mit anderen Weltregionen erscheint Europa tendenziell gefährdet, schrumpfend und immer älter werdend.10 Die verschiedenen Gesichter, die diese Studie von Europa zeichnet, illustrieren nicht zuletzt sehr eindringlich, dass das Wissen über die Zukunft des „Europas der Bevölkerungen“ auch Dimensionen des Vergangenen umfasst. Die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft ganz offensichtlich die Interpretationen der Daten zur demografischen Zukunft des Kontinents. Beispielhaft abgeleitet von der zitierten Studie könnte man anders gewendet, genau wie im Hinblick auf Bevölkerungswissen allgemein, auch folgendermaßen argumentieren: Voraussagen über die demografische Zukunft Europas konstituieren gegenwärtige Wissensbestände, die zugleich in der Vergangenheit verankert sind.11 Die Motive und Interessen von Auftraggebern oder Akteuren für das For-

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Population Partnership“ nennt, für demografische Fragen sensibilisiert sowie Politiker und Journalisten berät u.v.m. Steffen Kröhnert, Iris Hossmann, Rainer Klingholz et. al. Vgl. Karte auf S. 7, Interpretationen S. 4f. In der Kurzstudie, S. 4., heißt es: „Durch Deutschland verläuft nach wie vor die alte Grenze zwischen den Systemen“. Vgl. auch die Zeitungsartikel vom 22. August 2008: Frankfurter Rundschau/Steffen Hebestreit, Das geteilte Europa. 23. August 2008: Tagesspiegel/Fabian Leber, Ostdeutschland wird Krisenregion. Ebd./Thorsten Metzner, Wir werden kein demografisches Notstandsgebiet, u.v.m. „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“ untersucht der BMBF-Forschungsverbund von Béatrice von Hirschhausen und Catherine Gousseff am Centre Marc Bloch, Berlin. Vgl. Tabelle und Interpretationen auf S. 3. Grundlegend zu Zukunftswissen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel, Prognosen: Wissenschaftliche Praxis im öffentlichen Raum,

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mulieren von Bevölkerungsprognosen sind ebenso wie deren Wirkungen stärker im Hier und Jetzt verankert, als in der Zukunft. Mehr noch: Interpretationen von Bevölkerungsprognosen können wirkungsmächtige Narrative transportieren, die diesen Verschränkungen zwischen historischen Dimensionen von gegenwärtigem Wissen, das sich mit Zukunftsvorstellungen verbindet, Ausdruck verleihen. Sie können dann selbst wieder verändernde Effekte haben. Es liegt auf der Hand, dass Prognosen über ab- und aussterbende Landstriche potentielle Investoren abschrecken, zumindest aber verunsichern können.12 Dann können sich Prognosen sogar in self fulfilling prophecies verwandeln. Gerade solche Analysen laufen Gefahr, verschiedene bereits vorhandene Grenzziehungen – in Politik, Kultur oder von sozialen Gefällen, die historisch gewachsen sind – unreflektiert zu reproduzieren. Sie spiegeln Binnendifferenzierungen europäischer Selbstverständnisse wider, wenn es etwa um die Unterscheidung zwischen „Ost“ und „West“ geht. Soziale und kulturelle Grenzen werden hier durch demografische verstärkt und in die Zukunft verlängert. Es wird sich längerfristig folgende Frage stellen: Auf welche Weise trägt historisch verankertes, wissenschaftlich unterfüttertes, öffentlichkeitswirksam inszeniertes demografisches Zukunftswissen zur politischen Gestaltung von Europa bei? An der Erforschung der dynamischen Zeitdimensionen von Bevölkerungswissen setzen die Beiträge des Sammelbands an. Sie widmen sich dem schillernden Antlitz Europas, das über Bevölkerungsprognosen und Bevölkerungswissen im 20. und 21. Jahrhundert hervorgebracht, verhandelt oder verändert wurde. „Das Europa der Bevölkerungen“ war und ist auch heute noch – so eine These des Buches – ein zentrales Aushandlungsfeld der sozialen, politischen und kulturellen Bestimmungen Europas. Die einzelnen Artikel präsentieren entsprechend eine Vielzahl demografischer Konstruktionen von europäischen Selbstverständnissen in Geschichte und Gegenwart. „Europa“ ist dabei nicht nur ein Raum im Sinne einer relationalen (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten,13 sondern auch ein Vorstellungs-Raum, in dem sich die Ebenen der Nationalität, Transnationalität und Internationalität dynamisch überkreuzen, trennen, verbinden oder einschreiben. Die verschiedenen Ebenen erscheinen dabei nicht als statische Größen; vielmehr in: Dies. (Hrsg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt/New York: Campus 2010, S. 7–29 sowie die betreffenden Artikel im Sammelband. 12 Vgl. dazu auch den Beitrag von Daniel Schmidt in diesem Sammelband 13 Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 271. Zur Konstruktion des Europäers, siehe Einleitung und Beiträge in: Veronika Lipphardt, Lorraine Bluche, Kiran-Klaus Patel (Hrsg.), Der Europäer – ein Konstrukt, Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen: Wallstein 2009.

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bedingen sie – je nach historischer Konfiguration – einander.14 Die Beiträge des Sammelbands machen sichtbar, dass die Akteure, die Deutungsmacht über Europa und Bevölkerungswissen beanspruchen, dezentral agieren. Die Konstituierung von Wissen über den Kontinent – oder über das Antlitz Europas – als geografische Einheit, kultureller Verband, politisches Konstrukt oder durch „Rassen“ definiertes Gemeinwesen changiert je nach lokaler, sozialer und historischer Verankerung der Akteure.15 Die Beiträge des Sammelbands untersuchen die vielfältigen Gesichter des „Europas der Bevölkerungen“ aus verschiedenen disziplinären und (trans-)nationalen Perspektiven vor allem vom 20. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert hinein, aber auch mit Rückblick auf das 19. Jahrhundert. Die sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Bestimmungen des „Europas der Bevölkerungen“ erscheinen somit in ihrer Pluralität, Instabilität, in ihrem Wandel, aber auch in ihrer Wirkungsmächtigkeit – bis heute.

2.  Perspektiven einer Sozial- und Wissensgeschichte auf das „Europa der Bevölkerungen“ Die Beiträge des Sammelbands sind – jenseits ihrer thematischen und chronologischen Breite – durch die Perspektive einer Sozial- und Wissensgeschichte des „Europas der Bevölkerungen“ verklammert, ohne diese in all’ ihren Facetten erschöpfend behandeln zu können.16 Mit diesem Fokus gerät die breite Palette von kulturellen Vorannahmen von wissenschaftlichem Bevölkerungswissen genauso ins Blickfeld der Untersuchung, wie Zirkulation und Wandel von wissenschaftlichen Methoden und Modellen, Disziplinbildungsprozesse oder Argumentationsfiguren zur Durchsetzung von divergenten wissenschaftlichen Positionen. Die einzelnen Beiträge des Sammelbands setzen in unterschiedlicher Gewichtung fol14 Michael Werner/Bénédicte Zimmermann (Hrsg.), Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, Paris: Seuil 2004, S. 15-52, S. 29ff. Jacques Revel, Micro-analyse et la con­struction du social, in: Ders. (Hrsg.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris: Gallimard/Seuil 1996, S. 15–36. 15 Vgl. auf philosophischer Ebene zur Dezentrierung: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom. Berlin: Merve 1976, v.a. S. 28f., 34f. 16 Programmatisch zur Wissensgeschichte allgemein: Jakob Vogel, Von der Wissenschaftszur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639–660. Die thematischen Forschungsfelder des Wissenstransfers in Bevölkerungsfragen zwischen außereuropäischen und europäischen Akteuren spielen im Sammelband eine untergeordnete Rolle, sind aber für eine ausgewogene Ausweitung des Forschungsfeldes zu einer Wissens- und Sozialgeschichte eines „Europas der Bevölkerungen“ längerfristig zentral.

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gende Schwerpunkte und tragen damit zur Formulierung übergreifender Ergebnisse bei. 2.1  Die besondere Kompatibilität von „Bevölkerungswissen“ und Politik Bevölkerungswissen vermochte – und vermag auch heute noch, das zeigen die Beiträge des Sammelbandes – Orientierungshilfen für politisches Handeln auf Länder-, Staats- oder EU-Ebene zu vermitteln. Es zeichnet sich durch seine herausgehobene Kompatibilität für verschiedene Politikfelder aus. Das macht Bevölkerungswissen ganz besonders attraktiv für verschiedene soziale Akteure. Das ist ferner ein wichtiger Grund dafür, dass auch in Wissenschaft und Öffentlichkeit Expertisepositionen für „Bevölkerungsfragen“, wie etwa Geburtenrückgang oder Übervölkerung, angestrebt und eingenommen werden. Sie vermögen sozialen Akteuren Ressourcen sowohl in Form von materiellen Leistungen als auch symbolträchtigem Prestige zu verschaffen. In bestimmten Situationen werden über Bevölkerungsfragen auch kulturelle, soziale oder politische Debatten über das eigene Selbstverständnis als Wissenschaftler, Europäer oder Mensch ausgehandelt. Bevölkerungswissen konstituiert sich an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Bis heute bildet das dynamische Dreieck in Bezug auf „Bevölkerungsfragen“ ein Ressourcenensemble,17 in dem Vorannahmen, Erzählungen und Interpretationen rotieren, wobei der Transfer zwischen den Sphären jeweils Wissensbestände grundlegend verändert. Wissenschaftliche Akteure entwickeln die Praktiken der Bevölkerungsprognosen im Wechselspiel zwischen Erfahrungen und Erwartungen. In den Worten von Reinhart Koselleck: „zieht Prognostik ihre Evidenz aus der bisherigen Erfahrung, die wissenschaftlich verarbeitet wird.“18 Im weiteren Sinne und unter Berücksichtigung der jeweiligen politischen und sozialen Kontexte geben Zukunftswissen und Prognosen auch immer Auskunft über die Akteure, die sie formulieren: Und zwar nicht nur über den momentanen Kenntnisstand der Akteure, sondern auch über ihre aktuellen 17 Mitchel G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner 2002, S. 193–214. Arne Schirrmacher/Sybilla Nikolow, Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte: Historiographische und systematische Perspektiven, in: Dies. (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander, Studien zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 11–38. 18 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 207.

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Interessen, Strategien und Ziele, sich in wissenschaftlichen und politischen Feldern zu behaupten. Gleichwohl handelte es sich dabei keinesfalls, trotz zahlreicher Kontinuitäten, wie etwa auf sprachlicher Ebene, um überzeitliche Konstellationen. Vielmehr, so zeigen die Beiträge des Sammelbands, existieren situative historische Figurationen, in denen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander in Bevölkerungsfragen fungierten. Aus dieser Perspektive gerät auch die Frage nach der Bedeutung sowie dem Status von „wissenschaftlichem Wissen“ in europäischen Gesellschaften allgemein in den Blick: Auf welche Weise wandelte sich der Status von demografischem Wissen vor allem im 20. und 21. Jahrhundert? Welche Rolle spielte und spielt auch heute noch demografisches Wissen bei der Formulierung und Platzierung von Expertisen?19 Explizit zu fragen ist aber auch: Welche Funktionen und Effekte hat Zukunftswissen in diesen Konstellationen?20 Es mag in diesem Zusammenhang zumindest erstaunen, dass der Misserfolg demografischer Prognosen in der Regel kaum bemerkt oder zumindest nicht breit thematisiert wird. Bevölkerungsprognosen basieren auf Erfahrungen und Erwartungen, sie wirken im Hier und Jetzt und mobilisieren Zukunftsvorstellungen mit zuweilen gravierenden Effekten. 2.2  Bevölkerungsprognosen im Wandel Bevölkerungsprognosen korrespondieren mit Machttechniken, die Michel Foucault als „Bio-Macht“ bezeichnet hat und die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in den modernen Gesellschaften etablierte. Diese brachte ein ganzes Ensemble von Praktiken und Strategien hervor, die darauf zielten, das Verhältnis von Geburten und Mortalität, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung, die Lebensdauer von Individuen, ja die Gattung Mensch und das Leben selbst, zu erfassen und zu regulieren.21 Indem sich Machttechniken an der „Bevölkerung“ ausrichteten, eröffnete 19 Für Deutschland grundlegend: Margit Szöllösi-Janze, Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin: Duncker&Humblot 2004, S. 79–100. 20 Ulrike Felt, Zukunftsszenarien als wissenschaftliche Ressource: Begegnungen zwischen Wissenschaft, Politik und Medien, in: Rainer Egloff/Gerd Folkers/Matthias Michel (Hrsg.), Archäologie der Zukunft, Zürich: Chronos 2007, S. 287-302. Jüngst: Hartmann/Vogel, Prognosen: Wissenschaftliche Praxis im öffentlichen Raum, in: Dies. (Hrsg.), Zukunftswissen, S. 7–29. 21 Michel Foucault, Il faut défendre la société. Cours au Collège de France, 1976, Paris: Gallimard/Seuil 1977, S. 216.

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sich „eine ganze Serie von Gegenstandsbereichen für mögliche Wissensarten“, die wiederum die Bevölkerung als Korrelat der Macht erhielten.22 Statistiken machten dabei Kollektive und Kausalzusammenhänge (etwa zwischen sozialen Gruppen und Krankheiten) sichtbar bzw. brachten diese mit hervor,23 erzeugten administratives Wissen und ebneten den Weg für staatliche Interventionen. Zunächst wurden sie in den Statistischen Ämtern produziert, die in den meisten europäischen Staaten seit dem 18. Jahrhundert eingerichtet wurden.24 Parallel dazu formierte sich die (mathematische) Wahrscheinlichkeitsrechnung, die sich bis in die 1930er Jahre hinein weitgehend getrennt von den amtlichen Statistiken entwickelte.25 Die Methoden und Maße zur Erforschung des zukünftigen Bevölkerungswachstums wandelten sich im letzten Jahrhundert grundlegend. Spätestens seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts setzten sich analytische Modelle durch, die für Laien oder politische Aktivisten nicht mehr ohne weiteres verständlich waren.26 Sie bedurften daher zunächst der spezifischen „Übersetzungsleistung“, um politisch oder öffentlich wirksam werden zu können. Bis zur Wende vom 19. zum 20.  Jahrhundert hatten Statistiker die zukünftige Reproduktionskapazität einer Bevölkerung über Geburten- und Sterberaten bzw. deren Verhältnis zur Gesamtzahl der Einwohner eines definierten Territoriums ermittelt.27 Eine grundlegende Innovation stellte etwa die Einführung und Verbreitung der Nettoreproduktionsrate in der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft dar. Richard Böckh legte für die Nettoreproduktionsrate die Grundlagen, die Robert René Kuczynski und Alfred Lotka aufgriffen und verfeinerten. Bis heute ist die Nettoreproduktionsrate relevant bei der Ermittlung von zukünftigen Entwicklungen des Bevölkerungswachstums. Sie errechnet das Verhältnis zwischen den Zahlen der Generation der Mütter und der Zahl ihrer lebend geborenen Töchter. Grundlage der Be22 Ders., Vorlesung vom 25. Januar 1979, in: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 120. 23 Sybilla Nikolow, Die Nation als statistisches Kollektiv. Bevölkerungskonstruktionen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Ralph Jessen/Jakob Vogel (Hrsg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus 2002, S. 235–265. 24 Aus vergleichender Perspektive: Alain Desrosières, La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris: La Découverte 2000, v.a. S. 180ff. 25 Desrosières, La politique, S. 345ff. Lorraine J. Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton: University Press 1988; Ian Hacking, The taming of chance, Cambridge: University Press 1990. 26 Paul-André Rosental, Wissenschaftlicher Internationalismus und Verbreitung der Demographie, in: Patrick Krassnitzer/Petra Overath (Hrsg.), Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich (1870–1939), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007, S. 257–291, S. 288. 27 Ibid., S. 279f.

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rechnung sind die jeweils aktuellen altersspezifischen Geburten- und Sterbeziffern von Frauen, die sodann – unter Annahme ihrer Konstanz – hochgerechnet werden. Liegt der ermittelte Wert über oder unter dem Wert 1 lässt sich folgern, dass die Bevölkerung längerfristig wächst – oder eben nicht.28 Mathematische Spezialkenntnisse verlangten die Arbeiten des Physikochemikers Alfred Lotka, der in den 1930er Jahren mit seinem analytischen Ansatz der sogenannten „reinen Demografie“ – in deren Rahmen hypothetische Daten durchgespielt werden konnten – der Bevölkerungsforschung eine eigene wissenschaftliche Grundlage als Fachdisziplin verschaffte.29 Vielleicht, so könnte man spekulieren, hat eine zunehmende Komplexität der Praktiken zur Ermittlung prospektiven Bevölkerungswachstums dazu beigetragen, dass mediale Vermittlerpositionen, die das demografische Zukunftswissen verständlich aufbereiten, zunehmend attraktiver wurden. Zu fragen wäre aber, welche Vorstellungen von Kollektiven – wie etwa von Europa – in solchen „Übersetzungen“ dann jeweils mit geliefert wurden und auch heute noch mit geliefert werden. Nicht selten sind Bevölkerungsprognosen mit Krisenstimmungen kombiniert. Das Schüren von Ängsten oder Unsicherheiten auf der Grundlage von Bevölkerungsprognosen geht allerdings nicht unbedingt von den Demografen selbst aus. Auch Akteure aus Politik und Öffentlichkeit können, wie sich in den Beiträgen zeigt, die Prognosen durchaus mit strategischer Absicht aufgreifen und dann auf die jeweiligen aktuellen Kontexte beziehen. 2.3  Historische Zugänge zu aktuellen Debatten Mit der Historisierung des Bevölkerungswissens eröffnen die Beiträge des Sammelbands zum einen den Blick auf die historische Situiertheit von Wissen. Sie machen zum anderen aber auch auf die historischen Dimensionen gegenwärtigen Wissens aufmerksam. Die Artikel zeigen etwa, dass die Aushandlungsprozesse von statistischen Kategorien zwischen verschiedenen Akteuren Aufschluss geben über deren Konstruiertheit, Wandel, Zeitgebundenheit, vielleicht sogar Kontingenz. Die wissensgeschichtliche Untersuchung bringt darüber hinaus auch die 28 Ursula Ferdinand, „Zukunftswissen“: Die Kritik Robert René Kuczynskis an der englischen Registrierungspraxis, in: Hartmann/Vogel, Zukunftswissen, S. 153–174, S. 157– 162. Florence Vienne, Der prognostizierte Volkstod. Friedrich Burgdörfer, Robert René Kuczynski und die Entwicklung demographischer Methoden vor und nach 1933, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hrsg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn/München/Wien/ Zürich: Ferdinand Schöningh 2010, S. 251–272. 29 Rosental, Wissenschaftlicher Internationalismus, S. 285f.

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wechselhaften Konstruktionsphasen der bis heute unscharfen Disziplingrenzen der Demografie in den Blick: Welche Grenzen wurden zwischen verschiedenen Wissensbeständen gezogen und welche Wissensbestände als Kanon in die Demografie integriert? In welchen Bereichen und über welche Kanäle zirkulierte demografisches Wissen jenseits disziplinärer Verankerungen? Wie wirkte es auf letztere wieder zurück? Und vor allem: Was bedeutet das für den Status der Demografie heute? Diese Überlegungen und Fragen machen ein Potential von wissensgeschichtlichen Untersuchungen zum „Europa der Bevölkerungen“ deutlich, das bislang in der Forschung erst in Ansätzen ausgeschöpft ist: Die Beiträge des Sammelbands zeigen die Dynamik von komplexen Zeitschichten des Wissens in den zentralen Feldern von Demografie und Bevölkerungspolitik. Die vergangene Zukunft Europas ist somit nicht nur erstaunlich aktuell, sondern auch politisch brisant: Etwa wenn es um die Ausgestaltung der sich stetig wandelnden EU geht, sowie um Diskurse über deren Erweiterung und Abgrenzung.30 Die Beiträge des Buches bereichern damit nicht nur die Fachdebatte, sie vermögen darüber hinaus kritische und reflexive Überlegungen für aktuelle Diskussionen über das „Europa der Bevölkerungen“ bereitzustellen. Sie beantworten erste wichtige Fragenkataloge und sie eröffnen des Weiteren darauf aufbauende Forschungshorizonte.

3.  Die Beiträge Die Artikel des Sammelbands sind nach vier thematischen Schwerpunkten angeordnet, die die zuvor angesprochenen Aspekte aufgreifen, ergänzen und erweitern. A:  Bevölkerungswissen transnational Ein zentrales Merkmal der Zirkulation von Bevölkerungswissen ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert seine transnationale Dimension. Ohne dass es Wissenschaftlern, Ärzten, politischen Aktivisten, Verwaltungsrepräsentanten oder Politikern gelungen wäre, Fragestellungen, Datenerhebungen und -auswertungen zu zen30 Das zeigt sich insbesondere am Beispiel der Migrationspolitik der EU, aber auch in den Debatten über die EU-Beitrittsoptionen der Türkei, die durchaus auch mit demografischen Argumenten geführt wurden. http://www.zeit.de/2010/20/Demografie-Tuerkei/ (14.2.2011). Zum Zusammenhang von europäischen Selbstverständnissen und Migrationspolitik vgl.: Clemens Benedikt, Diskursive Konstruktionen Europas. Migration und Entwicklungspolitik im Prozess der Europäisierung, Frankfurt a.M.: Brandes & Aspel 2004.

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tralen Bevölkerungsfragen, wie etwa Geburtenrückgang, Wehrtauglichkeit oder Übervölkerung, transnational zu harmonisieren, entfaltete sich mit der institutionalisierten Internationalisierung der Wissenschaften auch die transnationale Diskussion von Bevölkerungsfragen in neuen Dimensionen. Der frühe „transnationale Kern“ von Bevölkerungswissen hing nicht zuletzt damit zusammen, dass bereits im Kameralismus, sodann verstärkt im 19. Jahrhundert die „Größe“ der Bevölkerung mit militärischer Stärke korreliert und diese dann mit anderen Nationen, Regionen oder Staaten in Vergleich gesetzt wurde.31 Wie schon angedeutet, waren die Phasen der Entfaltung und Verbreitung von Bevölkerungswissen mit Momenten der Grenzziehung oder des Bruchs verzahnt. Ihre Interaktionen, auch im Zusammenspiel zwischen nationaler und internationaler Ebene, werden in den Beiträgen des ersten Teils untersucht. Heinrich Hartmann arbeitet heraus, wie von Militär und Militärstatistik seit dem 19. Jahrhundert entscheidende Impulse für die demografische Forschung sowie die „Demografisierung der Gesellschaft“ ausgingen. Dabei treten die komplexen Verschränkungen zwischen der Erstellung und Verbreitung von Militärstatistiken sowie der Ausbildung demografischer Wissensfelder und Kategorien im 19. Jahrhundert hervor, die sich in den westeuropäischen Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht beobachten lassen. Den Militärmedizinern kam in dieser Entwicklung eine Schlüsselrolle zu, indem sie Daten erhoben und interpretierten, die weit über das Militär hinaus von Interesse waren. Kontroverse Debatten über Methoden und Ergebnisse der Militärstatistik auf transnationaler Ebene trugen dazu bei, dass sich der Handlungsdruck vor allem auf die Kriegsministerien verstärkte, die militärische Datenerhebung auf nationaler Ebene zu konsolidieren und auszubauen. Zentrale Kategorien aus militärstatistischen Kontexten diffundierten in demografischen Untersuchungssettings und blieben dort längerfristig präsent. Als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt genoss „die Bevölkerung“ seit dem 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit verschiedener Akteure und Disziplinen. Petra Overath zeigt, wie sich nach Einberufung der ersten Weltbevölkerungskonferenz 1928 in Genf und der anschließenden Gründung der International Union for the Scientific Investigation of Population Problems ein transnationales Expertennetzwerk für Bevölkerungsfragen etablierte, das in seinen Statuten explizit „wissenschaftliche Neutralität“ verankerte. Overath interpretiert dieses längerfristig wirkungsmächtige Selbstverständnis zahlreicher Demografen als Diskursstrategie, die der Disziplinbildung auf nationaler Ebene zum Vorteil gereichen konnte, aber 31 Vgl. den Artikel von Heinrich Hartmann im Sammelband und dazu auch Heinrich Hartmann/Corinna Unger, Zur Transnationalen Wissensgeschichte der Demografie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 33/3 (2010), S. 235–245.

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weniger mit einer realen Neutralität zusammenhing. Sodann argumentiert sie, dass sich die internationale Plattform der Union zu einem wichtigen Austragungsort für wissenschaftliche, politische und kulturelle Differenzkonstruktionen entwickelte, die über Bevölkerungsfragen ausgehandelt wurden. Nicht zuletzt darin liegt ein struktureller Grund dafür, so die Autorin, dass bis heute aus wissenschaftlichem Bevölkerungswissen politische Problemwahrnehmungen hervorgehen können, die grundsätzlicher Reflektionen bedürfen, weil sie mit demografischen Argumenten Sachzwänge suggerieren. Das gilt zum Beispiel für zeitgenössische Forschungen über den sogenannten „Jugendüberschuss“ in arabischen Ländern, der ein Gefahrenpotential für den Frieden Europas darstelle. Die nationale Rezeptionen eines internationalen Kongresses untersucht Regula Argast. Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Ciba-Symposium The Future of Man aus dem Jahr 1962, auf dem sich internationale Spitzenforscher trafen. Das Symposium spiegelt zentrale epistemologische Verschiebung in der Bevölkerungsforschung der Zeit wider: Die Forderung nach Regulierung der weltweiten Bevölkerungsentwicklung wurde mit neuen Ergebnissen aus der Molekulargenetik sowie mit antizipierten gen- und fortpflanzungstechnologischen Innovationen unterfüttert. Besondere Brisanz gewann dieser scientific shift durch die Tatsache, dass er mit der Forderung nach reformeugenischen Maßnahmen einherging. Die Untersuchung der Rezeption der Symposiums-Ergebnisse zeigt verschiedene „nationale Stile“. In Deutschland entfaltete sich zum Beispiel eine frühe Auseinandersetzung mit der Rolle der Humangenetik zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Effekte für die Gen- und Reproduktionstechnologie waren indes eher retardierender Art. Den umstrittenen Forschungen zur in-vitro-fertilization sowie zum Embryonentransfer wurde immer wieder deren eugenische Dimension zum Vorwurf gemacht. Im angelsächsischen Raum hatte die Rezeption vor allem die Popularisierung von Wissensbeständen über Reproduktionstechnologien und Genetik zur Folge. Der Demografisierung der Politik im Wechselspiel zwischen nationalen und europäischen Argumenten geht Daniel Schmidt in seinem Beitrag nach. Schmidt stellt eine bemerkenswerte Zäsur in der Mitte der 1990er Jahre fest: Seither ist ein grundlegender Wandel im öffentlichen Reden über Bevölkerung dahingehend zu beobachten, dass nicht mehr nur (apokalyptische) Krisenstimmungen, sondern vielmehr auch positiv aufgeladene Chancendiskurse dominieren. Auf den ersten Blick scheint dieser pragmatische Ansatz, der parteiübergreifend nachweisbar ist, einen „unverkrampften“ oder unideologischen Zugang zu Bevölkerungsfragen zu begünstigen. Mit Rekurs auf historische Entwicklungen seit den 1970er Jahren argumentiert Schmidt jedoch, dass sich die Sachlage aus verschiedenen Gründen wesentlich komplizierter darstellt und die Rede von der Chance vor allem dazu beiträgt, die Demografisierung der Politik voranzutrei-

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ben. Schmidt macht an verschiedenen Beispielen deutlich, wie der sogenannte Demografische Wandel sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene die Funktion eines scheinbar unhinterfragbaren Sachzwangarguments zugeschrieben bekommt. Er zeigt sodann auf verschiedenen Ebenen, wie damit erfolgreich Politik gemacht werden kann. Die vier Beiträge bieten Einblicke in verschiedene Phasen der Transnationalisierung von Bevölkerungswissen. Sie untersuchen Grenzen und Brüche der Transnationalisierung. Sie demonstrieren, wie in Debatten über Bevölkerungsfragen politische Systemgrenzen verhandelt und auch stabilisiert wurden. Alle Beiträge verdeutlichen die spezifische Brisanz von historischem Bevölkerungswissen, das in geostrategischen sowie eugenischen Kontexten verankert sein konnte. Zugleich wird in diesen Beiträgen der konstruierte Charakter von Bevölkerungsfragen besonders deutlich. B:  Bevölkerungswissen zwischen Pathologie, Dekadenz und moralischer Lebensführung Letztlich, so eine Annahme des Buches, zielen Bevölkerungsprognosen nicht nur auf die Verantwortung der Politik, sondern auch auf das Verhalten der Individuen, die durch bewusstes Handeln daran mitwirken können, vermeintliche zukünftige Schäden (für die Allgemeinheit) abzuwehren. In den Argumentationen steckt eine „präventive Wissensproduktion“: Es werden Risikopotentiale für Schäden in der Zukunft benannt und ihr „Eintreten als Folge eigenen Handelns oder Unterlassens gedeutet“.32 Parallel zur Betonung individueller Verantwortung in Bezug auf Krankheit, Geburtenraten, Dekadenz und Moral thematisiert das Zukunftswissen über „das Europa der Bevölkerungen“ demnach – teilweise durchaus paradox – auch Risiken für das Kollektiv durch das Individuum. In diesem Sinne können Bevölkerungsdiskurse zwischen disziplinierenden, moralisierenden und erzieherischen Ansprüchen an das Individuum schwanken. Das lässt sich auch aktuell auf europäischer Ebene beobachten: Im Jahr 2009 hat die Europäische Kommission vorgeschlagen, das Jahr 2012 zum „Europäischen Jahr des aktiven Alterns“ auszurufen. EU-Parlament und Rat stimmten diesem Vorschlag im Frühjahr 2011 zu. Was sollen die Bürger Europas im Jahr 2012 lernen? Es geht darum, die Bevölkerung weiter für demografische Fragen – vor allem das Altern – zu sensibilisieren. Sie sollen lernen, schon früh darauf zu achten, dass

32 Ulrich Bröckling, Prävention, in: Ders., Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 210–215, S. 213.

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sie gesund altern. Und: Ihre Arbeitskraft soll auch im hohen Alter noch nutzbar gemacht werden, indem sie sich etwa ehrenamtlich engagieren.33 Individuelle Verhaltensregeln, die über Bevölkerungswissen transportiert werden, untersucht der erste Beitrag des zweiten Teils: Anhand von Familienzeitschriften und fiktionaler Literatur aus Frankreich um 1900 macht Anne Seitz Diskurse an der Grenze zur „biologische(n) Modernitätsschwelle der Gesellschaften“ (Foucault) sichtbar. Konkret deckt sie auf, wie sich in fiktionaler Literatur, zwei in der Medizin verankerte Diskurse, nämlich die Bakteriologie und die Befürchtung einer kulturell bedingten Degeneration, miteinander verbanden. Seitz entfaltet ein breites Spektrum von literarischen Krankheitsdeutungen und zeigt, wie sich Fortschrittskritik und Nervenleiden verbanden. Insbesondere die Neurasthenie wurde zu einem symbolischen Aushandlungsfeld für verschiedene kulturell-soziale Einheiten, wie etwa Amerika, Europa oder sogenannte „nicht-entwickelte“ Erdteile. Das Aufgreifen des Wissens über die um 1900 entdeckte Mikrobe wurde zu einem vermittelnden Feld für die Vorstellungen nicht nur von Krankheit, sondern auch von sozialen Beziehungen. Die Krankheiten als Konsequenz der fortschrittsbedingten schwächlichen Konstitution des modernen Menschen gehörte ebenso zu den gängigen Topoi der Literatur wie die Darstellungen des (gemeinschaftlichen) Niedergangs oder des Verfalls, die anhand eines Individuums, einer Familie oder auch anhand ganzer Bevölkerungen durchgespielt wurden. Bis zum Ersten Weltkrieg fand in der Literatur eine wechselseitige Ergänzung zweier Vorstellungswelten statt: Krankheiten als Krieg und Krankheiten als selbstverschuldeter Verfall. Die Gespenster des Geburtenrückgangs, die seit über 100 Jahren in Deutschland umher spuken, untersucht Ursula Ferdinand in ihrem Beitrag in unterschiedlichen Kontexten an der Schnittstelle von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Diese waren und sind, obwohl der Geburtenrückgang weder positiv noch negativ bewertet werden kann, immer wieder mit Vorstellungen des kulturellen Verfalls sowie des sittlichen und moralischen Niedergangs verbunden. Ferdinand entfaltet ein breites Panorama von Geburtenrückgangsdiskursen und argumentiert, dass sich mit der Entwicklung moderner Verhütungsmittel sowie neuer Reproduktionstechnologien der Blick vom Gebärzwang auf die Geburtenregelung verschob. Damit sei jedoch keineswegs die wertende Sichtweise auf die Bevölkerungsdynamik beendet. Auch heute wird vor allem der Geburtenrückgang im Namen der Verantwortung für die Allgemeinheit kritisiert. Als Grundlage für eine konstruktive Bearbeitung von „Bevölkerungsfragen“ sei diese Perspektive al33 Die vorläufigen Ziele der EU-Kommission, die mit dem Europäischen Jahr des aktiven Alterns verbunden sind, stehen auf folgender Seite: http://ec.europa.eu/social/main.jsp? langId=de&catId=89&newsId=860 (14. Februar 2011). Allgemein zur Geschichte moderner Krankheitsprävention jüngst: Martin Lengwiler, Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld: transcript 2010.

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lerdings kaum weiterführend. Gleichwohl kann sie moralisierende und disziplinierende Effekte, insbesondere für Frauen, haben. Patrick Kury untersucht die Verschränkungen von Gesellschaft und Gesundheit am Beispiel der Managerkrankheit, deren „Erfindung“ nach 1945 auf verschiedenen Ebenen aufschlussreich war: In den 1950er Jahren tauchte die Managerkrankheit, wenn auch als umstrittene Diagnose auf und wurde weit über die Wissenschaft hinaus – so etwa in Musik, Literatur und Öffentlichkeit – aufgegriffen und popularisiert. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre spielte sie jedoch in medizinischen Debatten kaum mehr eine Rolle. Kury argumentiert, dass trotz des kurzzeitigen „Erfolgs“ der Managerkrankheit in der Medizin, das Reden über dieselbe eine Kontinuität von Akteuren und medizinischen Konzepten von den 1930er bis in die 1960er Jahre hinein ermöglichte. Es gestattete medizinischen Experten, ihre bereits im Nationalsozialismus vertretenen Ansprüche an eine „Gesundheitsführung“ kulturkritisch zu tarnen, zeitgleich weiter zu propagieren sowie den Anschluss an eine stärker individualisierte Gesundheitspolitik der Nachkriegszeit herzustellen. C:  Demografische Konstruktionen europäischer Selbstverständnisse Welche Merkmale zeichnen Europa, den Europäer oder das „Europa der Bevölkerungen“ im 20. Jahrhundert aus? Eine ähnliche Frage trieb den französischen Schriftsteller und Philosophen Paul Valéry nach dem Ende des Ersten Weltkriegs um. Im Jahr 1919 veröffentlichte er seinen vielzitierten Essay La crise de l’ésprit. Darin reflektierte er die tiefen Ängste und existentiellen Unsicherheiten, die den europäischen Menschen nach den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vor allem im Hinblick auf die Zukunft des Kontinents bewegten. Valéry warf die Frage auf, durch welches Wunder es möglich geworden war, dass Europa – also lediglich „ein kleines Kap des asiatischen Kontinents“ – über Jahrhunderte hinweg das Weltgeschehen hatte dominieren können. Da die Anzahl der Bewohner Europas kein überzeugendes Argument für die umfassende Dominanz des Kontinents und seiner Menschen darstellte, setzte er bei der spezifischen Qualität seiner Bewohner an. Diese machte er in Interaktionen vielfach ambivalenter Kräfte ihrer Psyche fest, die sich durch „aktive Gier, brennende und zugleich uninteressierte Neugier, eine glückliche Mischung aus Phantasie und logischer Strenge, einer bestimmten nicht pessimistischem Skepsis und einem nicht resignativen Mystizismus“34 34 Paul Valéry, La crise de l’ésprit. Deuxième lettre, 1919, in: Ders., Œuvres I, Paris: Gallimard 1965, S. 996. (Zitat wurde von der Autorin übersetzt).

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auszeichne. Valéry formulierte damit eine besonders kritische zeitgebundene Sichtweise auf Europa und die Europäer. Im Verlauf des 20. und auch im 21. Jahrhundert kristallisierte sich im weiten Feld von Bevölkerungswissen ein breites Spektrum von Narrativen über Europa und die Europäer heraus.35 Einem Teil davon widmen sich die Beiträge des dritten Teils des Sammelbands. Der erste Artikel untersucht das Verhältnis zwischen Literatur und Wissen am Beispiel des homo europaeus, das in den vergangenen Jahren in den Kulturwissenschaften verstärkt in den Blick genommen wurde. Im Beitrag von Anne Seitz und Petra Overath geht es um Krisenerzählungen über den europäischen Menschen. In dem Artikel werden Schnittfelder herausgearbeitet, in denen sich wissenschaftliche und literarische Wissensordnungen überlagerten. So entwickelte sich in beiden Wissensfeldern eine breite Palette von Selbstthematisierungen des sozialen und kulturellen Europas, die einander keinesfalls ausschlossen oder widersprachen, sondern vielmehr ergänzten oder überlappten. In den Bevölkerungswissenschaften der Zwischenkriegszeit konnte der homo europaeus als rhetorische Figur und als Vehikel zur Politikberatung dienen. Die literarischen Texte zeichnen sich durch Ambivalenzen zwischen einer Übernahme der wissenschaftlichen Argumentationen und ihrer gleichzeitigen Differenzierung aus. Zentral ist in den angeführten Texten aber eine Rückführung der Erfahrungswelt auf individuelle Subjektpositionen. Es gab demnach Verschränkungen und Berührungspunkte beider Wissensordnungen, die den homo europaeus zu einer in sich heterogenen, instabilen und dennoch gemeinsamen Wissensfigur machten. Die Binnendifferenzierung der europäischen Bevölkerungen und die wissenschaftliche Konstruktion eines spezifischen „südosteuropäischen Bevölkerungsproblems“ ist das Thema des Beitrags von Ian Innerhofer. Er zeigt, wie Wissenschaftler die zeitgenössischen wirtschaftlichen und politischen Interessen Deutschlands an der Erschaffung eines „Großwirtschaftsraumes“ mit demografischen Argumenten stärkten. Demografische Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung in Südosteuropa spielten bei der Dramatisierung einer angeblichen Überbevölkerung in Südosteuropa, die seit den 1920er Jahren deutlich wird, eine wichtige Rolle. Innerhofer analysiert, wie sozioökonomische Fragen von verschiedenen Akteuren in Bevölkerungsprobleme umgedeutet wurden: Damit galten die Menschen Südosteuropas nicht mehr als Ressource für wirtschaftliche Entwicklung, sondern sie wurden vielmehr als deren Bedrohung eingeordnet. All diese Interpretationen 35 Zu Merkmalen und Wandel europäischer Selbstverständnisse allgemein: Hartmut Kaelble, Europäisches Selbstverständnis und Gesellschaftliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert, in: Ders./Martin Kirsch (Hrsg.), Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2008, S. 421–447.

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boten – verbunden mit rassistischen Elementen – einen Argumentationsrahmen, um Maßnahmen gegen die vermeintliche Übervölkerung zu diskutieren. Über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren betrachtet Martine Mespoulet die Volkszählungen in der UdSSR (von den 1920er bis in die 1980er Jahre hinein). Als symbolträchtige Momente für den Staat lösten sie immer wieder heftige Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern und Wissenschaftlern über Kategorien der Erfassung der Bevölkerung sowie über die praktische Durchführung von Volkszählungen aus. Besonders die 1920er und 30er Jahre wertet Mespoulet als eine Transformationsphase, in der die Forschungsprogramme der internationalen statistischen Kongresse des 19. Jahrhunderts durch die Statistik im „Dienste“ des sowjetischen Staates abgelöst wurden. Die Spannungen zwischen dem selbstbewussten Berufsstand der Statistiker sowie den politischen Machthabern erreichten ihren Höhepunkt mit der Vorbereitung und Durchführung der Volkszählung von 1937. Die später zwischen 1959 und 1989 vorgenommenen Volkszählungen waren nachhaltig von den Prinzipien geprägt, die sich anlässlich der Erhebung von 1939 etabliert hatten und trugen entscheidend dazu bei „die sozialistische Realität“ in der UdSSR zu erschaffen und zu konsolidieren. Annett Steinführer geht in ihrem Beitrag von der Beobachtung aus, dass der Demografische Wandel in Tschechien keine eindeutig fassbare Entwicklung, sondern vielmehr seit 1990 ein kontinuierlich neu verhandeltes und unterschiedlich interpretierbares Phänomen ist. Steinführer untersucht zunächst die Institutionalisierung von Bevölkerungsforschung in Tschechien und bewertet diese als disziplinär breit und solide verankert. Sodann führt sie vor, wie der seit 1990 wissenschaftlich erfasste Geburtenrückgang von den einschlägigen Akteuren unter Rückgriff auf europäische Zugehörigkeitsvorstellungen interpretiert wird. Bevölkerungsforscher vertreten zum einen die Ansicht, Tschechien befinde sich gerade im „Zweiten Demografischen Übergang“ und sei damit „im Westen“ angekommen. Andere dagegen interpretieren den Geburtenrückgang als „postsozialistische Krise“. Dabei wird auch die demografische Zugehörigkeit zu den Regionen Europas vor 1990 diskutiert und unterschiedlich bewertet. Die Auseinandersetzungen um den Geburtenrückgang können, so die Autorin, als Selbstvergewisserungsdebatten in Tschechien über den Platz des Landes in Europa gewertet werden und unterstreichen nochmals ausdrücklich die Bedeutung von Bevölkerungswissen für Identitätsfragen. Alle Artikel illustrieren die eingangs formulierte These, dass das „Europa der Bevölkerungen“ bis heute ein zentrales Aushandlungsfeld der sozialen, politischen und kulturellen Bestimmungen Europas darstellt.

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D:  Die Demografie auf dem Weg zur politischen Leitdisziplin des 21. Jahrhunderts? Interaktionen zwischen Bevölkerungswissen und Sozialpolitik Befindet sich die Demografie auf dem Weg zu einer neuen Leitwissenschaft der europäischen Gesellschaften? Betrachtet man die Konzentration von materiellen Ressourcen als stichhaltiges Kriterium zur Beantwortung dieser Frage, dann ist wohl ein „ja“ und „nein“ zugleich als Antwort angebracht. Sicher ist, dass in den letzten zwei Jahrzehnten zumindest in Deutschland vergleichsweise viele Gelder in den institutionellen Ausbau von demografischen Forschungsstrukturen geflossen sind, was sich etwa an der Neugründung des international ausgerichteten Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung in Rostock ablesen lässt. Vermutlich werden zukünftig auch auf EU-Ebene die Ressourcen für demografische Forschungen ausgeweitet.36 Verglichen mit den Neurowissenschaften oder der Biologie, die ebenfalls als Leitwissenschaft verhandelt werden, sind die materiellen Forschungsressourcen der demografischen Forschung vermutlich aber eher bescheiden. Betrachtet man dagegen die Präsenz von demografischen Problemwahrnehmungen oder -interpretationen in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit, dann könnte man durchaus geneigt sein, die Demografie auf dem Weg zur Leitwissenschaft des frühen 21. Jahrhunderts zu sehen. Die historischen und aktuellen Verknüpfungen mit insbesondere sozialpolitischen Problemwahrnehmungen versprechen der Bevölkerungsforschung als politikberatende Instanz eine aussichtsreiche Zukunft.37 Die Beiträge des vierten Teils decken einige der zentralen Verbindungen zwischen Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik auf. Maximilian Schochow beschäftigt sich mit der Bevölkerungsforschung in der DDR seit den 1950er Jahren und konkret mit dem „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“. Heutzutage, so Schochow, werde das Gesetz von ehemaligen DDR-Demografen als ideologisch abgetan und verworfen, da es den Ansprüchen zeitgenössischer demografischer Forschung nicht gewachsen sei. Schochow zeigt vor dem Hintergrund dieser Einschätzung die vielfältigen Effekte des Ge36 Dafür sprechen auch die Untersuchungen von Heike Kahlert und Daniel Schmidt in diesem Band. 37 Zu deren Geschichte am Beispiel der Schweiz: Martin Lengwiler, Geschichte der Zukunft: Demografische und versicherungsmathematische Prognosen im schweizerischen Sozialstaat 1890–2000, in: Studien und Quellen, 31 (2006). Siehe dazu auch die Arbeiten von Robert Castel: „Le sentiment d’insécurité n’est pas exactement proportionnel aux dangers réels qui menacent une population. Il est plutôt l’effet d’un décalage entre une attente socialement construite de protections, et les capacités effectives d’une société donnée à les mettre en oeuvre“, in: Ders., L’insécurité sociale? Qu’est-ce qu’être protégé? Paris: Éd. du Seuil 2003, S. 7.

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setzes seit den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren war das „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“ zum Beispiel für das künftige Profil des ersten Lehrstuhls für Demografie in der DDR bestimmend. Hier bildete sich ein eigentümliches Wechselverhältnis zwischen sozial- bzw. bevölkerungspolitischen Maßnahmen einerseits und der Bestimmung demografischer Gesetze andererseits heraus. In den 1980er Jahren waren das „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“ und dessen Abkömmlinge der Ausgangspunkt für zahlreiche demografische Forschungsarbeiten. Diese bildeten wiederum die Grundlage für die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen in der DDR. Den aktuellen Debatten über Sozialversicherungssysteme widmet sich der Beitrag von Arnaud Lechevalier. Jüngst wurden die grundlegenden Reformen der gesetzlichen Rentenkassen, wie sie in den OECD Staaten vorgenommen wurden, mit der „intergenerationellen Gerechtigkeit“ legitimiert. Lechevalier greift diese Zielvorgabe auf. Auf der Grundlage einer komplexen Analyse der Rentenreformen in Deutschland, unter Hinzuziehung der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, kommt Lechevalier zu einem ernüchternden Ergebnis. Was mit dem Anspruch der „intergenerationellen Gerechtigkeit“ durchgesetzt wurde, verkehrt sich in sein Gegenteil. Die Reformen werden letztlich vor allem jene Generationen negativ treffen, die ohnehin bisher im Lauf ihres Lebenszyklus ein geringeres Wachstum ihres Einkommens und weniger geradlinige Erwerbsbiografien mit geringeren Aufstiegsmöglichkeiten erfahren haben, als dies bei ihren Vorfahren der Fall war. Deshalb plädiert Lechevalier für konkurrierende und besser begründete Ansätze zur Generationengerechtigkeit, die alternative kollektive Entscheidungen bzw. Rentenreformen nach sich ziehen würden. In ihrem Beitrag „Die vergangene Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Spiegel des demografischen Wandels“ verzeichnet Heike Kahlert eine zunehmende Aufmerksamkeit auf EU-Ebene für die Entwicklung der „Europäischen Bevölkerungen“. Kahlert legt ihre These dar, wonach sich die Aufmerksamkeit für die demografische Zukunft Europas in einer Rhetorik und politischen Handlungsstrategie ausdrückt, in der die soziale Frage, die Geschlechterfrage sowie demografische Fragen eng miteinander verschränkt sind. Eine Folge dieser Verschränkung ist darin zu sehen, dass in der EU-Politik gezielt die Etablierung des Modells einer Zwei-Verdiener-Familie gefördert wird, das als Geschlechter- und Familienleitbild vor allem die gut gebildeten Mittelschichten adressiert. Die Etablierung dieses Modells ist dabei in erster Linie arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch sowie demografisch motiviert und wird durch eine Politik der Geschlechtergleichstellung flankiert. Es wird sich zukünftig zeigen, wie sehr und mit welchen gesellschaftlichen Effekten demografische Argumente in sozialpolitischen Debatten eine Rolle spielen.

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Der Sammelband geht aus einer Tagung hervor, die im Januar 2009 an der Universität Leipzig im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts Die vergangene Zukunft Europas. Kulturwissenschaftliche Analysen zu demografischen Prognosen und Wissensordnungen im 20. und 21. Jahrhundert durchgeführt wurde. Wichtige Beiträge zur Tagung leisteten auch die Kommentatoren und Kommentatorinnen: Josef Ehmer, Wolfgang Fach, Diana Hummel, Martin Lengwiler, Dietmar Müller, Rebecca Pates, Alexander Pinwinkler sowie Jakob Vogel. Ebenso Patricia Deuser als Koordinatorin. Mein herzlicher Dank gilt ihnen allen. Tagung, Sammelband und Projekt wurden durch die großzügige Finanzierung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ermöglicht. Die Kolleginnen und Kollegen des Centre Marc Bloch, Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften in Berlin, haben die Projektaktivitäten immer unterstützt und konstruktiv begleitet. Sowohl das Verbundprojekt als auch die Tagungsorganisation funktionierten wissenschaftlich und menschlich auf zukunftsweisende Art. In der Projektlaufzeit gab es Momente, in denen meine persönlichen Prognosen mehr als unklar waren. Auch wenn das nun – zum Glück – Vergangenheit ist, ist mir die großartige Unterstützung des gesamten Teams immer gegenwärtig. Mein Dank gilt ganz besonders Anne Seitz, die mehr als souverän alles aufgefangen hat. Insa Breyer, die unglaublich schnell das Staffelholz übernommen hat. Beide sind, genau wie Heinrich Hartmann, Pascale Laborier, Daniel Schmidt, Maximilian Schochow und Jakob Vogel, großartige Kollegen und Freunde. Sehr herzlich möchte ich auch den Gastwissenschaftlern des Projekts, Alexander Pinwinkler und Werner Lausecker danken, die das Lektorat des Sammelbands kompetent und zuverlässig unterstützt haben. Elena Mohr, die Lektorin des Böhlau-Verlags, war sehr geduldig und immer konstruktiv. Petra Overath

Berlin, im Januar 2011

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„Eine unaufhörliche Schwächung der Wehrkraft unseres Vaterlandes“ Rekrutenstatistik und demografischer Diskurs in Europa vor dem Ersten Weltkrieg Die tagesaktuellen Debatten um die Entwicklung der Bevölkerung, um demografische Wissenschaft und um adäquate politische Maßnahmenpakete zeigen immer wieder, dass Wissenschaft, Experten und Öffentlichkeit in diesen Fragen auf zahlreiche Referenzpunkte zurückgreifen und gedankliche Querverweise zu vermeintlich längst abgeschlossenen Diskurslinien machen. Viele der Diskussionen funktionieren nicht nur nach lange eingeübten Redemustern und Diskursregeln, sondern sie stützen sich auch immer wieder auf überkommene, lang bewährte und allgemeinverständliche Argumente oder auf fest etablierte Wissenskategorien. Wo in Debatten um den demografischen Wandel auf historische Parallelen angespielt wird, scheinen sich Lösungsmöglichkeiten wie von selbst aus dem gesellschaftlichen Erfahrungsraum zu ergeben. Und in umgekehrter Richtung verbinden sich mit Reizwörtern wie dem der ‚Wehrfähigkeit‘ schnell Bruchstücke von demografischen Krisenszenarien, die sich über den Verlauf des 20. Jahrhunderts mit diesen Debatte verknüpft haben. Solche ‚gedanklichen Autobahnen‘ versetzen uns im Aufbau unseres eigenen Wissens immer wieder in einen Bezug zur Vergangenheit, die somit in sich selbst zu einer evidenzgenerierenden Instanz wird. Gerade im Fall der Demografie scheint mir damit historisches Wissen nicht alleine eine nachträgliche Überprüfungsfunktion zu haben, sondern auf viel komplexere Art und Weise mit der Genese eines demografischen Wissensbestandes verbunden zu sein. Die Beispiele sind zahlreich, an denen gerade diese Verstrickung zwischen historischem und demografischem Wissen auf die latente Konvergenz vermeintlich getrennter Wissensbereiche deuten.1 1 Diese Beispiele sollen hier nicht ausgeführt, sondern lediglich angedeutet werden: Zu denken ist an die Schwierigkeiten der Demografen in Fragen der Datengenerierung, durch die Historiker immer wieder in der Lage waren, eine aktive Rolle in demografischen Debatten zu spielen. Hier sei nur an die Rolle des Sohnes von Robert René Kuczynski, Jürgen Kuczyinski, für die demografische Forschung in der DDR erinnert (Vgl. Beitrag von Maximilian Schochow in diesem Band). Es sind allerdings auch zahlreiche Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik und Westeuropas, etwa zur Rolle von Historischer Demographie und Strukturgeschichte, zu erwähnen. Vgl. hierzu: Paul-André Rosental, Pour une histoire politique des populations, in: Annales HSS, 61 (2006),

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Doch nicht nur institutionell, personell und methodisch erscheinen die Denkpfade aktueller demografischer Debatten als zeitlich rückgebundene Diskurse mit einer spezifischen Historizität. Auch die dabei verwendeten Analysekategorien, haben ihre Geschichte, und sorgen dafür, dass sich in sehr konkreten forschungspraktischen Settings und Methoden ihre historische Gewachsenheit spiegelt und erkennen lässt. Diese Kategorien prägen somit, im Sinne von Karin KnorrCetina,2 Kulturen des Wissens und der Evidenzerzeugung, und das schon alleine durch die Eigengesetzmäßigkeiten der Repräsentation von Bevölkerungen durch große Zahlen. Die vergangene Zukunft der Bevölkerung ist vor allem Anderen die vergangene Zukunft der Kategorien, durch die die Bevölkerung erkannt wird. Sie ist zudem die vergangene Zukunft von Interpretationsgewohnheiten und diskursiven Pfaden, die sich teils bis heute fortsetzen. Dies mag ein Charakteristikum verschiedener Wissenssysteme sein, allerdings prägt es das demografische Wissensfeld durch seine enge Verbindung zur politischen Sphäre besonders nachhaltig. Durch die wachsende Bedeutung sozialen Wissens über die Bevölkerung schrieben sich demografische Denkkategorien auch in die Struktur des Sozialstaats nachhaltig ein. In diesem Beitrag möchte ich an Hand eines spezifischen Untersuchungsgegenstandes, der Militärstatistik, zeigen, inwieweit das Denken über und die Sicht auf die Bevölkerung von spezifischen historischen Kontexten abhängig waren. Ich möchte auf diese Weise auch die Historizität demografischer Argumentationsmuster für die Diskussion der Geschichte der Wissensgesellschaft hervorheben, die sich selbst erst die Untersuchungskategorien schafft, aus denen heraus sie sich selbst versteht und interpretiert. In diesem Sinne verstanden als Muster der Selbstreflexion einer Gesellschaft ist die Wissensgesellschaft kein historisches Faktum, das sich über den Verlauf des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert hat; vielmehr verändern sich die Motive dieser Selbstwahrnehmung. Die spezifisch S. 7–29; Alexander Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland: Konzeptionelle und insitutionengeschichtliche Aspekte, Erich Keyser und Wolfgang Köllmann im Vergleich, in: Historische Sozialforschung 31 (2006) (= Sonderheft Bevölkerungskonstruktionen in Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des 20. Jahrhunderts. Transdisziplinäre und internationale Perspektiven), S.  64–100; Werner Lausecker, „Überbevölkerungs“konstruktionen in der deutschen Bevölkerungsgeschichte und Paul Momberts Kritik 1933, Eine Fallstudie zur Produktion und Dekonstruktion wissenschaftlicher Mythen 1929–1976, in: Ibid., S. 131–147. Erkennbar ist aber auch der genuin demografische Charakter historischer Forschungsparadigmen, wie etwa in der Pauperisierungsdebatte oder in der Historischen Industrialisierungsforschung, etwa Wolfgang Köllmann, Bevölkerung in der industriellen Revolution, Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1974. 2 Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen, Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 331ff.

Rekrutenstatistik und demografischer Diskurs

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militärischen Konnotationen demografischer Diskurse führen in die Zeit vor 1914 zurück. Untersucht wird dabei die Diskussion um die Frage nach der Wehrkraft der einzelnen europäischen Nationalstaaten und somit deren vermuteter Machtbasis im Konzert der europäischen Mächte. Dieses Moment nationalisierter Diskurse ist bis heute in seiner eigenen Dynamik und der Komplexität in der Gemengelage von militärischen und demografischen Topoi in wissenshistorischer Hinsicht noch kaum untersucht worden.3 Diese Lücke ist umso auffälliger, als seit der frühen Neuzeit die Bestimmung militärischer Stärke zu den initialen Paradigmen demografischer Forschung zu rechnen ist. Durch die frühen kameralistischen Schriften zur Bevölkerung war der Topos der militärischen Stärke durch eine hohe Bevölkerungszahl nachhaltig im politischen Diskurs verankert worden.4 Diese Korrelation von Raum und Bevölkerung 3 In dieser Richtung liegen nur einzelne Ausschnitte vor, etwa Odile Roynette, La statistique médicale de l’armée française au XIXe siècle: un instrument de savoir et de pouvoir démographiques?, in: Petra Overath, Patrick Krassnitzer (Hrsg.), Bevölkerungsfragen, Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich (1870–1939), Köln: Böhlau 2007, S. 67–80; Sehr kursorisch bei Matthias Weipert, „Mehrung der Volkskraft“, Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation, Paderborn: Schöningh 2006, S. 65ff. Andere Debatten versuchten sich mehr an einer historisch-demografischen Rekonstruktion der militärdemografischen Untersuchungen im Sinne einer sogenannten „anthropometrischen Geschichte“ und nahmen dabei die Daten der Rekrutenstatistiken unkritisch als glaubwürdiges historisches Quellenmaterial. Für Frankreich etwa: JeanPaul Aron/Paul Dumont/Emmanuel Le Roy Ladurie, Anthropologie du conscrit français: d’après les comptes numériques et sommaires du recrutement de l’armée (1819–1826), Paris: Mouton de Gruyter 1972; Emmanuel Le Roy Ladurie/Nicole Bernageau, Étude sur un contingent militaire (1858): mobilité géographique, délinquance et stature, mises en rapport avec d’autres aspects de la situation des conscrits, in: Annales de démographie historique (1971), S. 311–337; John Komlos, The Height and Weight of West Point Cadets: Dietary Change in Antebellum America, in: Journal of Economic History 47 (1987), S. 897–927; Für Österreich: John Komlos, Stature and Nutrition in the Habsburg Monarchy: The Standard of Living and Economic Development, in: American Historical Review 90 (1985), S. 1149–1161; Hermann Rebel, Massensterben und die Frage nach der Biologie in der Geschichte. Eine Antwort an John Komlos, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5 (1994), 279–286. Hier soll es aber keineswegs um eine solche Form der Geschichtsschreibung gehen. 4 Nur als ein Beispiel: „Ein kleines aber gut bevölkertes Reich, kann dagegen ein viel grösseres, aber leeres Königreich über den Haufen werfen, wovon wir in der Geschichte viele Beyspiele finden. Wenn demnach ein Reich eben so viele Einwohner hat, als ein 3 mal grösseres; so ist desselben Ehre, Macht und Sicherheit 3 mal grösser, oder die Herrlichkeit des letzteren ist 3 mal kleiner. Wenn sodann die übrigen Anstalten, die zur Vertheidigung und Sicherheit eines Landes nöthig sind, ebenfals auch besser sind, als in einem viel grösseren Lande; wenn ein Regent mit der Menge der Unterthanen die Sorge für die Erhaltung guter Sitten, der Tugend, der Tapferkeit, der Kriegesübung und Disciplin verbindet: So lässt sichs daraus begreifen, wie ein anfänglich kleiner, aber sehr bevölkerter und tugendhafter Staat

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als Ausdruck militärischer Stärke behielt ihre paradigmatische Wirkung in den demografischen Debatten, und steigerte diese Wirkung noch durch die Etablierung von stehenden Heeren und allgemeiner Wehrpflicht im späten 19. Jahrhundert. Diese beiden Neuerungen schufen die Voraussetzung für aussagekräftige Ergebnisse der Militärstatistik. Die hieraus resultierende pronatalistische Argumentationslinie behielt ungeachtet der malthusischen und neomalthusischen Attacken eine gewisse Bedeutung, inspirierte allerdings auch kollektive Ängste durch den hierdurch angestoßenen Vergleich zwischen den einzelnen europäischen Bevölkerungen. Die tatsächliche Bedeutung des militärischen Topos für die Demografie lag allerdings bei weitem nicht nur in der Persistenz des Arguments, sondern auch in ihren weitreichenden Auswirkungen auf die Konstruktion der wissenschaftlichen Methode einer eigenständigen Militärstatistik. In diesem Beitrag möchte ich darstellen, inwiefern die Militärstatistik sich zu einem der diskursiven Ausgangspunkte und wissenschaftspraktischen Motoren der Demografie in ihrer frühen Konstitutionsphase vor 1914 entwickelte und die Pfade mitbestimmte, in denen Demografie im 20. Jahrhundert gedacht wurde.5 Der Beitrag greift auf den reichhaltigen ‚Werkzeugkasten’ der transnationalen Geschichtsschreibung zurück. Ohne eine systematisch vergleichende Perspektive liefern zu können, spiegelt sich doch die transnationale Konstruktion einer spezifisch militärstatistischen Methode in den wechselseitigen Beobachtungen der Demografen, aber auch in der eigenständigen Ebene eines transnational wissenschaftlichen Diskurses, etwa in Form der zahlreichen internationalen Kongresse. Daneben führen die Darstellungen der jeweiligen nationalen Kontexte zum Verständnis der teilweise höchst unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, die die entsprechenden Daten erfuhren. Besonders gut lassen sich solche wechselseitigen Verflechtungen hier am Beispiel Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz zeigen, wo die Wehrpflicht vor 1914 wohl mit am vollständigsten durchgesetzt worden war und sich zudem ein weit reichendes statistisches Instrumentarium zu deren Erfassung entwickelt hatte. von Rom, sich bey seinen viel mächtigern Nachbarn Respect hat verschaffen, und sie sich endlich gar unterwürfig machen können“, Johann Peter Süssmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben, Berlin 1761, § 207, S. 402. 5 „Demografie“ wird dabei dezidiert nicht als institutionalisierte Wissenschaft verstanden. Die Erforschung der Bevölkerung war zumindest vor 1914 akademisch nicht fest verankert, sondern setzte sich vielmehr aus einer Vielzahl von eigenen Wissenschaftspraktiken zusammen. Aber sie existierte als Fach durchaus in den Köpfen vieler Wissenschaftler, die sich aktiv als Bevölkerungsforscher verstanden und sich durch ihre Präsenz auf den entsprechenden Fachkongressen abzuheben versuchten.

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Ursprünge Im engeren Sinne kamen Militär und Statistik mit der langsamen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht miteinander in Kontakt. „Langsam“ ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Einschränkung, da es sowohl im Ursprungsland der Wehrpflicht, Frankreich, als auch in Deutschland bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerte, bis sich diese als grundsätzliches Prinzip männlicher Staatsbürgerschaft annähernd durchgesetzt hatte.6 Damit Statistiker Schlussfolgerungen vom Militär auf die Gesellschaft und umgekehrt ziehen konnten, war allerdings zumindest der Anspruch vollständiger Erfassung der Bevölkerung, auch der Anzahl der Kinder und damit indirekt auch der weiblichen Bevölkerung, eine wichtige Voraussetzung. Frankreich kommt eine Vorreiterrolle auch in Bezug auf die statistische Analyse der Armee zu. Bereits ab den 1840er Jahren begann hier eine Diskussion, die klare Regeln für die Verhältnismäßigkeit von Staat und Armee zu formulieren suchte. Frühe Statistiker arbeiteten sich dabei an dem Problem ab, die komplizierten, kleingliedrigen Verwaltungseinheiten in Frankreich mit dem Prinzip einer einheitlichen Wehrgerechtigkeit auf dem französischen Territorium zu verein6 Diese Geschichte, die verschiedenste Formen des sich Freikaufens, der selektiven Erfassung, der institutionellen Versicherung gegen die Wehrpflicht und vieler anderer Formen des Umgehens dieser Pflicht kannte, ist inzwischen von unterschiedlicher Seite beschrieben worden: Gerd Krumeich, Zur Entwicklung der „nation armée“ in Frankreich bis zum Weltkrieg, in: Stig Foerster (Hrsg.), Die Wehrpflicht, Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München: Oldenbourg 1994, S. 133–145; Jörn Leonhardt, Die Nationalisierung des Krieges und der Bellizismus der Nation: Die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren in: Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat, Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen: Klartext 2004, S. 83–105; Frank Becker, „Bewaffnetes Volk“ oder „Volk in Waffen“? Militärpolitik und Militarismus in Deutschland und Frankreich 1870–1914, in: Ibid., S. 158–174; ders: Synthetischer Militarismus, Die Einigungskriege und der Stellenwert des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, in: Michael Epkenhans/Gerhard P. Gross (Hrsg.), Das Militär und der Auf bruch in die Moderne 1860 bis 1890, Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, München: Oldenbourg 2003, S. 125–142; Markus Ingenlath, Mentale Aufrüstung, Militarisierungstendenzen in Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M.: Campus 1998, S. 39ff; Ute Frevert, Die kasernierte Nation, Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München: C. H. Beck 2001; Dies., Das jakobinische Modell: Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen-Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 17–46; Aus der Perspektive der Jahrhundertwende: Eduard Otto, Zur Geschichte der Theorie der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, Hamburg: Verlagsanstalt 1900.

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baren, aber auch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zu formulieren.7 Doch mit diesen ersten Versuchen, einen bestimmten Raum, eine Bevölkerung und eine zu erreichende Armeegröße statistisch in Beziehung zu setzen, wurde den Autoren umgehend die Unsicherheit der empirischen Daten zur Rekrutierung in die Armee bewusst. Nicht nur, dass die Erfassung der Daten auf Grund der zu erwartenden Schwierigkeiten in der Informationsweitergabe und -verarbeitung an ihre Grenzen stieß; sie hing auch ab von der Erhebung dieser Daten, also von der jeweiligen Weiterleitung des Datenmaterials der Musterungskommissionen. Diese Entscheidungen beruhten nicht auf objektivierbaren Kriterien, sondern letztlich auf der souveränen Urteilskraft von Militärmedizinern. Zweifel an der Qualität der Erhebungsergebnisse wurden bereits 1841 von dem Regierungsbeamten Taillepied de Bondy erkannt. Er formulierte die Notwendigkeit, die Ergebnisse zu verbessern. Denn schließlich, so Bondy, bedinge die Erstellung der richtigen Rekrutenstatistik nicht nur korrekte Aussagen über die Bevölkerung, sondern auch eine gerechte Berechnung der zukünftig auszuhebenden Rekrutenzahlen. Mittel und Weg hierzu sollte ein verlässlicher Tauglichkeitsquotient sein, der die Menge tauglicher Rekruten auf eine bestimmte Bevölkerungszahl, teilweise in Abhängigkeit von den Musterungsergebnissen dieser Region in den vorangegangenen Jahren, ausdrückte.8 Wohl von diesen französischen Vorbildern beeinflusst arbeitete auch das preußische statistische Bureau unter Wilhelm Dieterici und seinem Nachfolger Ernst Engel bereits an der Berechnung der entsprechenden militärischen Statistiken.9 Der Tauglichkeitsquotient machte nicht nur in Hinblick auf die Wehrgerechtigkeit Karriere. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde er auch zu einem zentralen Werkzeug in der Diskussion um den Gesundheitszustand der Bevölkerung und sollte die Militärmediziner in die Lage versetzen, dieses komplexe Datenmaterial zusammenzufassen und daraus eventuelle Schlussfolgerungen über die Lage der 7 François-Marie Taillepied de Bondy, Recrutement de l’armée, Observations pratiques sur les inégalités du mode actuel de répartition des contingents entre les départements et les cantons; et proposition d’un nouveau mode, Auxerre: Ed. Porquinet 1841. Jean-Christian Boudin, Hygiène militaire comparée, et statistique médicale des armées de terre et de mer, Paris: J.-B. Baillière 1848; Jean-Charles Chenu, Recrutement de l’armée et population de la France, Paris: Victor Masson 1867; Auguste Vitu, Histoire civile de l’armée ou conditions du service militaire en France depuis le temps les plus reculés jusqu’à la formation de l’armée permanente, Paris: Didier 1868. 8 Taillepied de Bondy, Recutement, S. 5ff. 9 Thomas L. W. Bischoff, Ueber die Brauchbarkeit der in verschiedenen europäischen Staaten veröffentlichten Resultate des Recrutirungs-Geschäftes zur Beurtheilung des Entwicklungs- und Gesundheits-Zustandes ihrer Bevölkerung, München: Verlag der königlichen Akademie 1867, S. 11.

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Nation ziehen zu können.10 Nach den Vorstellungen vieler Statistiker sollte mit der einfachen Relation zwischen tauglichen Rekruten und der Anzahl der insgesamt Gemusterten auch ein räumlicher Eindruck des Gesundheitszustandes gegeben werden können. Leicht sollte hierdurch erkennbar sein, welche Regionen die gesündesten Rekruten ‚produzierten‘. Aber eine solch einfache Erfolgsgeschichte war der Tauglichkeitskennziffer als Instrument zur Beurteilung der Bevölkerung nicht beschieden. In der Realität scheiterten diese Versuche, Räume und Zahlen miteinander in einfache Beziehung zu setzen, an der Komplexität der zugrunde liegenden Erfassung der Zahlen. Trotz aller Bemühungen konstatierten die Statistiker, Militärs und Mediziner häufig das Fehlen einer verlässlichen, durch Datenmaterial abgesicherten Basis, auf der sich Aussagen über den jetzigen Zustand der Bevölkerung oder über die zukünftige Armeestärke treffen ließen. Bereits 1867 warnte der Münchener Anatomie- und Physiologieprofessor Bischoff vor allzu weitreichenden Interpretationen einer solchen Statistik: „Was kann es helfen, tiefer einzugehen, und nach den Verschiedenheiten der Stadtund Landbevölkerung, den Folgen der Industrie, der Fabrikation, des Ackerbaues, der Verschiedenheiten des Klimas und Bodens zu forschen, wenn man die Ueberzegung gewonnen hat, dass die allgemeinen Grundlagen zur Erlangung richtiger Zahlen nicht vorhanden sind?“11

Ähnlich lautende Kritiken der Verlässlichkeit der Daten blieben prägend für die Debatte um solche Statistiken und ließen sich bis 1914 durchgehend in den verschiedensten Kontexten finden.12 In dieser Hinsicht verliefen die Diskussionen in 10 Diskussion in Frankreich, etwa Léon Joseph Du Cazal,/Louis Catrin, Médecine légale militaire, Paris 1892; parallel dazu paraphrasiert Kratz den Status der Militärmediziner in Deutschland: „Wenn dem Militairarzt bei dieser Verwaltung [der Rekrutierung, H.H.] im Allgemeinen nur eine berathende, nicht eine entscheidende Stimme eingeräumt ist, so befindet er sich in derselben Lage, wie andere ökonomische Verwaltungen, und im analogen Verhältniss, wie der Gerichtsarzt gegenüber dem Richter. Sein Rath wird aber um so mehr die Bedeutung einer Entscheidung haben, je mehr er von der einen Grundidee ausgeht: – die Schlagfertigkeit der Armee zu fördern. Alle anderen Rücksichten sind dieser gegenüber von untergeordneter Bedeutung: Das Individuum darf nicht berücksichtigt werden, sobald es sich um die Existenz des Ganzen handelt. Sein Rath wird ferner um so mehr reüssiren, je mathematischer derselbe construirt, je präciser er formuliert ist“, Fr. Kratz: Recrutirung und Invalidisirung, Eine militärärztliche Studie, Erlangen: Ferdinand Enke 1872, S. 1. 11 Bischoff, Brauchbarkeit, S. 11. Ganz ähnliche Äußerungen zu Frankreich etwa bei Georges Morache: Considérations sur le recrutement de l’armée et sur l’aptitude militaires dans la presse francaise, Paris: J. Dumaine 1873, S. 60ff. 12 „Bevor wir uns [dem] Zusammenhang von Militärtauglichkeit und Industriestaat […] zuwenden können, müssen wir uns über die Bedeutung des keineswegs einheitlichen Begriffes „Militärtauglichkeit“ klar sein. Ob ein Gestellungspflichtiger als diensttauglich be-

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anderen europäischen Nationen sehr ähnlich. Trotz der grundsätzlichen Zweifel an der Verlässlichkeit des Materials führten die frühen Militärstatistiken zur wissenschaftlich Vision, ein Abbild der gesamten Bevölkerung sowie deren ‚Tauglichkeit‘ erhalten zu können. Hingewiesen sei hier auch auf ein zweites Element, dass die Entstehung eigenständiger militärstatistischer Kategorien beförderte: die Morbiditätsstatistiken der Armeen – die so genannten „Militär-Sanitätsstatistiken“. Ab den 1860er Jahren wurden diese Statistiken in immer größerem Umfang aufgestellt.13 Mit ihrer Hilfe sollten zudem internationale Vergleiche zwischen den einzelnen europäischen Staaten möglich werden. Die Frage allerdings, wie diese internationale Vergleichbarkeit, angesichts unterschiedlichster Erfassungspraktiken und Krankheitsbilder, konkret aussehen sollte, blieb lange eine offene Frage und generierte einen hohen Interpretationsbedarf für all diese Statistiken, worauf noch zurückzukommen sein wird.14 Aus diesem offenen Spannungsverhältnis zwischen vorliegendem Datenmaterial und der schnell ersichtlichen Unmöglichkeit, dieses Material angemessen zu interpretieren, ergab sich die zentrale Rolle der Militärmediziner, waren sie doch geradezu ‚Meister der Zahlen.‘ Schließlich waren sie nicht nur in der Lage, die entsprechenden Tabellen adäquat zu lesen; als Musterungs- und Kasernenexperten oblag ihnen auch die Entscheidung über die Einordnung des ‚Soldatenmaterials‘ in die entsprechenden Kategorien. Ihre Bewertungen waren Grundlage des gewonnen Datenmaterials und fußten wiederum auf deren Interpretation. Die Frage, wie das Monopol ärztlicher Expertise und ein solch spontaner Expertenblick vor externen Kategorisierungsversuchen durch die Statistiker zu schützen war, wurde vehement in den militärärztlichen communities verschiedener Länder verhandelt.15 Der Fall der Schweiz zeigt, wie vehement die Verteidigungshaltung zeichnet wird, hängt nämlich von dem Ermessen der jeweiligen Ersatzbehörden ab. Diese aber haben nach Ort und Zeit sehr verschiedenartige Anschauungen,“ Alfons Fischer, Militärtauglichkeit und Industriestaat, Leipzig: Dietrich 1912, S. 7f. 13 Für eine Zusammenfassung der verschiedenen Arbeiten bis in die 1880er Jahre auch in Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit: Adolf Zemanek, Werth und Bedeutung der MilitärSanitäts-Statistik, Wien: Verlag Moritz Perier 1884, S. 10ff. 14 Fröhlich: Zur Musterungsstatistik, in: Der Militärarzt, Zeitschrift fu¨r das gesamte Sanita¨tswesen der Armeen, 14 (1880), S. 92ff; Heinrich Bircher, Die Armeeorganisation und Militärkreiseinteilung der schweizerischen Eidgenossenschaft auf Grundlage der Tauglichkeitsziffern, Aarau: H.R. Sauerländer 1886, S. 36; Die Unfähigkeit, solche klaren Kriterien oder objektivierbaren Wissensbestände zu finden, wird von den Militärmedizinern im Übrigen meist mit dem Problem einer Definition individueller Wehrkraft verknüpft. 15 Etwa Kratz für Deutschland: „Könnten für die Beurtheilung der Körperkraft zuverlässige Zahlenausdrücke gefunden werden, so würde freilich das Untersuchungsgeschäft auf

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der Militärmediziner gegenüber den statistischen Bureaus16 und damit gegenüber den verwaltungstechnisch-politischen Vorgaben zur Vereinheitlichung des statistischen Materials war. Anlässlich der Einführung eines neuen Musterungskriteriums sah sich etwa der Schweizer Oberfeldarzt im Jahre 1884 gezwungen, seine Abneigung gegen die Versuche der Statistiker zur Vereinnahmung des statistischen Datenmaterials auf den Punkt zu bringen: „Ich habe von jeher den von verschiedenen Seiten (statist. Bureau, Anthropo-, Ophtalmo- und andere -logen) angestrebten Belastungen der Untersuchungskommission mit solchen statistischen Erhebungen mich mit Bestimmtheit widersetzt, welche nur allgemein wissenschaftlichen und nicht speziell militärischen Zwecken dienen. Wenn ich die Messung des Oberarmumfanges eingeführt habe, so geschah dies absolut nicht zu statistischen, sondern rein nur zu militärischen Zwecken.“17

In den Aussagen des obersten Schweizer Militärmediziners wirken die Worte „wissenschaftlich“ und „statistisch“ despektierlich. Sie werden „militärischen Zwecken“, die alleine Legitimität beanspruchen sollten, entgegengestellt.18 Auch wenn diese gegenseitige Skepsis zwischen Militärmedizinern und Statistikern im Prinzip bestehen blieb, so lernten Erstere durchaus, die Tragweite des von ihnen bearbeiteten Datenmaterials und die daraus resultierende Bedeutung der eigenen Profession zu erkennen. Bereits 1903 mahnte der schweizerische Oberfeldarzt das statistische Bureau, seine Untersuchungen gewissenhafter durchzuführen. In jedem Fall sei an den heterogenen statistischen Ergebnissen der Militär- und Rekrutenstatistik keinesfalls „das Verfahren schuld, wie ich mich alljährlich mittelst wesentlich positiveren Grundlagen ausgeführt werden können. Aber zwischen dem Apoll von Belvedere und dem kypothischen Schneider, zwischen Hercules von Farnese und dem schwindsüchtigen Kandidaten existirt eine unendliche Reihe verschiedener männlicher Gestalten, die Anspruch auf den Begriff eines normalen Köperbaus haben, und bei denen die grössere Fülle von Gesundheit und Kraft keineswegs in der grösseren Körperfülle ihren Ausdruck findet“, Kratz, Recrutirung, S. 37; andere Diskussionen ließen sich für Frankreich verfolgen, wo der autonome Expertenblick bei Rekruten- und Soldatenuntersuchungen konstituierendes Merkmal des militärärztlichen Selbstverständnisses war. Vgl. die über Monate geführte Debatte zwischen den französischen Musterungsärzten, dokumentiert im „Bulletin bi-mensuel de la Société de médecine militaire française“, 1913– 1914. Die Diskussion lässt sich allerdings auch schon bedeutend früher bei vielen Autoren fnden, etwa: Morache, Considérations. 16 Zur Geschichte der statistischen Bureaus in Europa als erster Erfassungsinstanz der demografischen Daten Alain Desrosières, La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris: La Découverte 1993, S. 185ff und 219ff. 17 Brief des Oberfeldarztes an das Eidgenössische Militärdepartement, 30.05.1884, Bundesarchiv Bern, E 27/5829. 18 Der teilweise vehemente „Kampf um die Daten“ in Form der zahlreichen Schriftwechsel zwischen Oberfeldarzt und Statistikern ist auch sonst gut dokumentiert. Vgl. Bundesarchiv Bern, E 27/5856.

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meiner Inspectionen überzeuge, sondern die Ungleichheit des Menschenmaterials“ und insbesondere eine Vielzahl kaum zu differenzierender Faktoren von der sozialen Herkunft über den Beruf oder die Ernährungs- und Trinkwasserversorgung.19 Solche Einordnungen des eigenen Datenmaterials verweisen auf die neuen Bedeutungsdimensionen, die den Daten zugeschrieben wurden. Auch die Entwicklung der Diskussion im Deutschen Reich deutet auf einen ähnlichen Sachverhalt. Aus den Detailfragen der Musterung konstruierte sich zunehmend ein Feld politischer Aktivität, das sich bis 1914 eines fast stetig steigenden öffentlichen und politischen Interesses erfreute.20 Dies motivierte in besonderem Maße die weitreichenden statistischen Aktivitäten, die etwa die zentrale Institution der deutschen Militärmediziner, die Kaiser Wilhelms-Akademie für militärärztliches Bildungswesen (KWA), bis zu ihrer Schließung 1919 unternahm. Ihre wichtigsten Ergebnisse wurden vom obersten deutschen Militärarzt, Otto Schjerning, in einer Gesamtdarstellung zusammengefasst.21 Dieses Buch stellte gleichzeitig den einzigen Versuch dar, das Verhältnis von Staatsbevölkerung und Armeegröße nicht nur spekulativ, sondern auf Grundlage statistischen Zahlenmaterials darzustellen.

Dimensionen und Interpretationen Teil dieser Konjunktur der Militärstatistik war auch ein dezidiertes Interesse an pathologischen Klassifikationen. Das prominente Beispiel von Florence Nightingale im Krimkrieg und ihrer nachfolgenden statistischen Aktivitäten deuten bereits auf die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Militär- und Medizinalstatistik. Einerseits bot die Armee, ob nun in einer speziellen Kriegssituation oder unter den besonders geeigneten Beobachtungsbedingungen der Kaserne, eine der wenigen Gelegenheiten, einen pathologischen Querschnitt durch die Bevölkerung zu unternehmen. Andererseits konstatierten Militärmediziner, eher als die 19 Brief des Oberfeldarztes an das Eidgenössische Militärdepartement 30.06.1903, Bundesarchiv Bern, E 27/5831. 20 Georg Schmidt, Militärdienst und Körpergewicht, in: Deutsche Militärärztliche Zeitschrift, 32 (1903), S. 65–91, S. 66. 21 Hermann Schmidt: Die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, Von 1895 bis 1910, Festschrift zur Einweihung des Neubaues der Akademie, Berlin: Mittler 1910; Otto v. Schjerning: Sanitätsstatistische Betrachtung über Volk und Heer, Berlin: Hirschwald 1910; hierzu Heinrich Hartmann: Die Produktion der Wehrbevölkerung, Musterungskommissionen als Begegnungsort von Demographie und medizinischem Expertenwissen, 1890–1914, in: Axel Hüntelmann/Michael C. Schneider (Hrsg.), Jenseits von Humboldt, Wissenschaft im Staat 1850–1990, Frankfurt a.M.: P. Lang 2010, S. 149–164.

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politischen Entscheidungsträger, dass die hohe Morbiditätsrate zu empfindlichen Schwächungen in Kriegszeiten führen konnte und einen bedeutenden Aufwand für die militärische Verwaltung im Frieden bedingte.22 Nicht nur in Frankreich, auch in Österreich-Ungarn, England oder den USA sahen die 60er und 70er Jahre eine ganze Anzahl von Untersuchungen und Publikationen zur Krankenstatistik in der Armee.23 Dabei spiegelten die Ängste bezüglich der militärischen Dynamik häufig genug auch viel weiter reichende Befürchtungen hinsichtlich der Entwicklung der Bevölkerung wider. Besonders deutlich äußerte sich dies in Frankreich, wo die Angst vor einem allgemeinen Bevölkerungsrückgang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kontinuierlich wuchs.24 Die Kaserne wurde zu einem prototypischen Ort, an dem man in nuce entsprechende Gegenmaßnahmen durchführen konnte und gleichzeitig ihre Wirkung unter nahezu laborähnlichen Bedingungen statistisch auswerten zu können glaubte.25 In vielen europäischen Ländern gingen die Erklärungsambitionen noch wesentlich weiter. Der Schweizer Militärmediziner Heinrich Bircher versuchte sich an einer endemischen Gliederung der Schweiz an Hand der Rekrutenstatistiken. Seiner Meinung nach erlaubten die Ergebnisse die Festlegung von Krankheitsbildern auf bestimmte Landstriche, insbesondere des kretinischen Kropfes und der Plattfüße, zwei Krankheitsbilder, die Bircher nahezu als Schweizer National-

22 „Wenn […] die Zahl schwacher Männer so verhältnismäßig hoch bleibt, wenn die falsch verstandenen Interessen der Dörfer und Orte über die Interessen des Landes gestellt werden, wenn weiterhin die trügerische Hoffnung, durch Nachmusterung eine hohe Zahl Untauglicher in die Armee zu bringen, den Absichten des Gesetzgebers Gewalt antut, wird die Sterblichkeit in der Armee ihr Recht und ihren Anteil behalten und dies wird für den Staat hohe und unnütze Ausgaben bedeuten.“ Chenu, Recrutement, S. 8; auch: „da es nun schon mal eine Armee gibt, soll sie auch stark sein und um stark zu sein, muss sie aus guten Elementen zusammengesetzt werden. Das Interesse des Landes, das Interesse der Familien und das Interesse der Armee sind untrennbar miteinander verbunden.“ Ibid, S. 32. 23 Benjamin A. Gould, Investigations in the Military and Anthropological Statistics of American Soldiers, New York: Hurd and Houghton 1869; Paul Myrdacz, Ergebnisse der Sanitätsstatistik des k. u. k. Heeres in den Jahren 1870–1882, Mit vergleichender Berücksichtigung der Jahre 1883–1885, sowie der Sanitäts-Statistik fremder Armeen, Wien 1887. 24 Christiane Dienel, Kinderzahl und Staatsräson, Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster: Westfälisches Dampfboot 1995, S. 30–35; Alain Ronsin, La grève des ventres, Propagande néo-malthusienne et baisse de la natalité française (XIXe–XXe siecles), Paris: Aubier 1980. 25 Jean-François Chanet, Vers l’armée nouvelle, République conservatrice et réforme militaire, 1880–1919, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2006.

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Abb. 1:  Geologisches Höhenprofil von Birchers Heimatkanton Aargau, kombiniert mit der relativen Verteilung der Kropferkrankungen (Medizinhistorisches Archiv Zürich, PN 10.4 300-303)

krankheiten vereinnahmte.26 In recht komplexen Verfahren erarbeitete er dabei geologische Karten des Landes und verband diese mit den Ergebnissen der Musterung, mit dem Anspruch, geografische, aber auch mineralogische Ursachen für das geballte Auftreten bestimmter Krankheiten zu finden.27 Das Militär war in Birchers Augen nicht mehr bloß ein statistisch erfassbares Laboratorium, sondern eine evidenzgenerierende Instanz, durch die er etwa seine ernährungsphysiologischen Forderungen nachhaltig unterstreichen und wissenschaftlich untermauern konnte. Auch sein Sohn Eugen Bircher sollte diesen Ansatz in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende fortsetzen und durch seine späteren politischen Ämter die militärmedizinischen Untersuchungen seines Vaters auch in praktische politische Programme umsetzen.28 In den deutschen Staaten und ab 1871 im Deutschen Reich wurde die Diskussion um die Rekrutenstatistik durch andere Vektoren bestimmt und auch mit anderen Bedeutungszuschreibungen versehen. Die politischen Kontexte und die dezentralen Praktiken der militärischen Verwaltung stellten sich zunächst mehr als etwa in Frankreich einer zentralen statistischen Erfassung der Armee entgegen. In den einzelnen Ländern waren meist weder die korporativen Strukturen der Militärmediziner, noch die Militärverwaltung groß genug, um sich mit ähnlich kom 26 Heinrich Bircher, Die Rekrutierung und Ausmusterung der schweizerischen Armee, Aarau: H.R. Sauerländer 1886; Ders., Der endemische Kropf und seine Beziehung zur Taubstummheit und zum Cretinismus, Basel: Benno Schwabe 1883. 27 Medizinhistorisches Archiv Zürich, PN 10.4 279ff. 28 Sammlung Eugen Bircher, Medizinhistorisches Archiv Zürich, PN 10.1 54. Ders., Zur Pathogenese der kretinischen Degeneration (= Beihefte zur Medizinischen Klinik, Bd. 6), Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 1908.

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Abb. 2:  Karte der statistischen Verteilung von Kropferkrankungen im Kanton Bern (Medizinhistorisches Archiv Zürich, PN 10.1 50)

plexen wissenschaftlichen Fragestellungen zu beschäftigen. Erst 1876 wurde in der preußischen Armee mit der Einführung einer eigenen Sanitätsstatistik begonnen, was noch lange nicht gleichbedeutend mit der Formulierung entsprechender Ergebnisse war.29 Diese Situation änderte sich in Preußen erst mit den 29 Salzwedel, 30 Jahre preußischer Militärsanitätsstatistik, Vortrag gehalten vor der Berliner Militärärztlichen Gesellschaft am 21.1.1906, nach Hans Bischoff, Festschrift zur 50 Jährigen Stiftungsfeier der Berliner Militärärztlichen Gesellschaft am 20.2.1914, Berlin: Mittler 1914.

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1890er Jahren, insbesondere mit der bereits erwähnten Neugründung der KWA, durch Zusammenlegung verschiedener militärchirurgischer Ausbildungsstätten. Hinzu kam die wachsende berufsständische Organisation der Militärärzte in den militärärztlichen Gesellschaften auf lokaler, bald aber auch nationaler Ebene.30 Analog zur verhältnismäßig späten professionellen Differenzierung der deutschen Mediziner,31 schufen sich die Militärmediziner somit erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Plattform, über die sie ihre eigenen Interessen wirksam verbreiten konnten.32 Allerdings waren es bei weitem nicht alleine diese Kontexte wachsender Institutionalisierung und Professionalisierung, die die Militärstatistik in Deutschland zu einem neuen Untersuchungsfeld werden ließen und ihre Verbindungen zu demografischen Fragestellungen ins öffentliche Bewusstsein rückten. Hinzu gesellten sich vielmehr vehement nationalisierende Debatten im Kontext der Liberalisierung der deutschen Wirtschaftspolitik. In einer anonymen, doch außerordentlich weit rezipierten und zitierten Schrift mit dem Titel „Ein Vermächtnis Moltke’s“33 warnte der Verfasser 1892 vor dem Untergang Deutschlands. Als „Wehrnation“ könne dessen Existenz lediglich so lange aufrechterhalten werden, solange es stärker als seine Nachbarn sei. Der Text beruhte dabei auf der Annahme, dass die Landbevölkerung in weit höherem Maße als die Stadtbevölkerung die Tauglichkeitskriterien des Militärdienstes erfüllte. Die Schlussfolgerung war: „Da […] die Landbevölkerung […] den Kern des Ersatzes unserer Armee stellt, ist ihre relative Abnahme gleichbedeutend mit einer unaufhörlichen Schwächung der Wehrkraft unseres Vaterlandes.“34

Dem zukünftigen Verfall Deutschlands konnte in diesem Sinne nicht mehr ausgewichen werden. Für Preußen prognostizierte der Autor in den nächsten Jahren eine ausgeglichene Relation zwischen Land- und Stadtbevölkerung, binnen 30 Jahren dann die Umkehr des Verhältnisses zuungunsten der Landbevölkerung. Im selben Jahr führte der Nationalökonom und Agrarwissenschaftler Max Sering in einer Rede vor dem Landwirtschaftsrat aus, dass die Industrialisierung 30 Bereits 1872 war eine eigene gemeinsame Zeitschrift gegründet worden. Ibid. 31 Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 68), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1985, insb. S. 177ff. 32 Martin Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne, Die Geschichte der Militärpsychiatrie in Deutschland und der Schweiz 1870–1914, Zürich: Chronos 2000, S. 177ff. 33 Anonym: Ein Vermächtnis Moltke’s: Stärkung der sinkenden Wehrkraft, Berlin: Eisenschmidt 1892. 34 Ibid., S. 11.

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Deutschlands und die damit einhergehende Urbanisierung der Bevölkerung einen direkten negativen Einfluss auf die Wehrkraft der Bevölkerung haben.35 Die Gesamtbevölkerungszahl, so Sering, steige zwar an, allerdings nehme die Anzahl wehrtauglicher junger Soldaten kontinuierlich ab, und die relative Wehrkraft der deutschen Bevölkerung gegenüber ihren direkten europäischen Rivalen sinke in gefährlichem Maße.36 Die Thesen Serings wurden durch den nationalkonservativ orientierten Bund der Landwirte aufgegriffen.37 Die Landwirte, die sich in der deutschen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Industrialisierung und dem liberalen Schwenk der Handelspolitik des deutschen Reiches in ihrer Existenz bedroht sahen, reproduzierten die Thesen Serings in den Folgejahren nur zu gerne, um die Positionen der Agrarlobby zu stärken und die Landwirtschaft als einen entscheidenden Pfeiler im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit nachhaltig zu verankern.38 Dies erschien umso wichtiger, als die Landwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches ab den 1890er Jahren von dem Bestreben um Liberalisierung geprägt war und somit durch die US-amerikanische und russische Konkurrenz für viele Bauern bedrohlich wurde. Zeichen für diese Schwierigkeiten war die zunehmende Tendenz zur Landflucht, die einen dauerhaften Bedeutungsverlust des Landes im politischen und gesellschaftlichen Gefüge des Deutschen Reiches erahnen ließ.39 Doch gegen die zentralen Argumente Serings formierte sich mit einiger Verzögerung auch ein liberales Gegenlager, das sich in erster Linie um den Nationalökonomen Lujo Brentano gruppierte. Brentano beauftragte einen seiner Doktoranden, den später bedeutenden Statistiker Robert René Kuczynski, die wissenschaftlichen Argumente des pessimistischen Lagers um Sering genauer un-

35 Diese Debatte findet sich dargestellt bei Lengwiler, Zwischen Klinik, S. 224ff. 36 Max Sering, Rede vor dem Deutschen Landwirtschaftsrat, in: Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates (1892). 37 George Vascik, Agrarian Conservatism in Wilhelmine Germany. D. Hahn and the Agrarian League, in: Larry Eugene Jones/James N. Retallack (Hrsg.), Between Reform, Reaction, and Resistance, Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence: Berg 1992, S. 229–260; Geoff Eley, Anti-Semitism, Agrarian Mobilization, and the Conservative Party: Radicalism and the Containment in the Founding of the Agrarian League 1890–93, in: Ebd., S. 187–228. 38 Etwa in Form von Postkartenkampagnen, in denen die Argumente Serings noch 1909 in populärer Form visualisiert und unter der Bevölkerung verteilt wurden. Deutsches Historisches Museum Postkartensammlung PK 003368. 39 Hierzu etwa Ursula Ferdinand, Die Debatte Agrar- vs. Industriestaat und die Bevölkerungsfrage, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt Bevölkerung vor, in und nach dem Dritten Reich, Frankfurt a.M.: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 111–149.

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ter die Lupe zu nehmen.40 Kuczynski bezog sich zunächst in seiner Kritik auf die mangelhafte Trennung von Bestands- und Fließgrößen in den Arbeiten der ‚Wehrpessimisten’: Dort wo statistisches Material über längere Zeiträume nicht vorhanden war, konnte, so Kuczynski, nur auf Grund von kleinen Beständen argumentiert werden, nicht aber auf Grund von Entwicklungslinien. Er rekurierte in seiner Kritik mithin auf die zahlreichen Unzulänglichkeiten statistischer Erfassung, auf die mangelnde Kohärenz der Argumente der Pessimisten, aber auch auf die mangelhafte Durchsetzung der Wehrkraft im Allgemeinen. Zwischen 1897 und 1905 eskalierte der Streit zwischen beiden Lagern vollends. Die Argumente, die in der konservativen „Kreuzzeitung“ und in der liberalen „Nation“ ausgetauscht wurden,41 entfernten sich zusehends von wissenschaftlichen Kriterien und gerieten mitunter zu einer reinen Schlammschlacht. Brentano etwa stellte sich schützend vor seinen Doktoranden Kuczynski, indem er seinerseits nach wissenschaftlichen Belegen für die Untragbarkeit der Thesen des Gegenlagers suchte. Er fand die Gleichung der Wehrdichte, nach der nicht der relative Unterschied zwischen Stadt und Land in den Blick genommen werden müsse, sondern die Menge der ‚produzierten‘ Wehrdienstleistenden pro 1000 Quadratkilometer.42 Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, dass Kuczynskis und Brentanos absolute Lesart der Zahlen doch die Stadt als Hauptträger der „Wehrkraft“ ausmachte. Allerdings blieben solche Argumente rein auf den deutschen Kontext zugeschnitten, ein breiter internationaler Vergleich wurde dadurch unmöglich. Es ist bemerkenswert, dass in Deutschland eine solche Debatte weniger von den Militärs oder der Militärverwaltung als vielmehr von der Nationalökonomie und wirtschaftlich interessierten Lobbygruppen angestoßen wurde und damit ihren Platz in hoch politisierten, wenn auch gänzlich anders gelagerten Debatten hatte. Auf diese Weise erlangte die Militärstatistik in Deutschland eine Bedeutung, die sie vorher nicht hatte, die aber auch im Vergleich mit anderen Ländern einmalig blieb. Allerdings entfaltete diese einzigartige Konjunktur ihre Wirkung 40 Robert René Kuczynski, Der Zug nach der Stadt, Statistische Studien über die Bevölkerungsbewegungen im Deutschen Reich, Stuttgart: J.G. Cotta‘sche Buchhandlung 1897; Ders.: Ist die Landwirtschaft die wichtigste Grundlage der deutschen Wehrkraft?, Berlin: Leonhard Simion 1905. 41 Aus der Flut von Artikeln, die in den Jahren nach 1897 nicht nur in diesen beiden Zeitungen veröffentlicht wurden, hier nur die ersten beiden Titel, die als Auslöser der späteren Debatte gedient haben: Lujo Brentano: Die heutige Grundlage der deutschen Wehrkraft, in: Die Nation, 30.10.1897; „Stadt und Land“, in: Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), 3.11.1897. 42 Lujo Brentano, Die heutige Grundlage der deutschen Wehrkraft, Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung 1900.

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auch in einem größeren Rahmen. Im Juli 1912 erhielten Brentano und Kuczynski Geld von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, um ihre Forschungen zu den Veränderungen von Berufstand und Herkunft der Rekruten auf die Armeegrößen in mehreren Ländern vergleichend durchzuführen.43 Auf Grund des Kriegsausbruches konnte dieses Projekt allerdings nicht mehr realisiert werden. Doch zahlreiche andere wissenschaftliche und populäre Arbeiten belegen das akzentuierte Interesse an diesen Fragen.44

Statistische Praktiken, national und transnational Man könnte eine Vielzahl von Effekten und wissenschaftlichen Einflüssen dieser Debatte bis hin zum Ersten Weltkrieg und noch weit darüber hinaus anführen. Ich will in diesem Zusammenhang lediglich auf die statistischen Praktiken Bezug nehmen. Ab 1900 wurde bei den Rekrutierungen in Bayern etwa systematisch nach dem Berufsstand und der Herkunft der Eltern gefragt, aus dem gewonnen Material wurden später entsprechende Übersichten erstellt. Im gleichen Jahr schrieb die Universität München unter ihren Medizinstudenten einen Wettbewerb mit folgender Problemstellung aus: „Die physische Beschaffenheit der Bevölkerung Bayerns nach den Ergebnissen des Musterungsgeschäfts soll für einige Regierungsbezirke mit der jeweilig vorliegenden Berufsthätigkeit der Bevölkerung, mit ihrer Wohlhabenheit, Ernährung und Lebensweise und anderen analogen Faktoren in statistischen Zusammenhang gebracht werden.“45

43 Nachlasssammlung der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Sammlung Kuczynski, Kuc 7-2-C 174. 44 Eine Vielzahl von Artikeln in deutschen Tageszeitungen, insbesondere der Preußischen „Kreuzzeitung“ und der liberalen „Nation“ zwischen 1897 und 1905 zeugen hiervon. Eine spätere Zusammenfassung aus industriefreundlicher Sicht findet sich bei Heinz Potthoff, Industrialisierung und Wehrkraft, in: März 16 (1910), S. 262–270. Daneben löste die Debatte eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, gerade auch Doktorarbeiten aus. Hier nur einige Arbeiten Fischer, Militärtauglichkeit; Georg Bindewald, Die Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Bevölkerung, Halle 1901; Walter Abelsdorff, Die Wehrfähigkeit zweier Generationen, mit Rücksicht auf Herkunft und Beruf, Berlin: Reimer 1905; es bleibt anzumerken, dass etwa in der Schweiz diese Frage mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs nun auch eine stärkere Beachtung fand, vor allen Dingen seitens des Bauernverbandes und seines Sekretärs Ernst Laur. Ernst Laur, Die Wehrkraft des Schweizer Volkes und des Bauernstandes, Zürich: Rascher 1915. 45 Zitiert nach Freiherr v. Cetto, Koreferat zu Max Sering, gehalten auf der XXX. Plenarversammlung des Deutschen Landwirthschaftsraths 1902, in: Archiv des Deutschen Landwirthschaftsraths, XXX (1902), S. 70–77.

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Durch die Medizinalstatistiken sollte versucht werden, eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Herkunft und Wehrtauglichkeit zu finden. Die Ausschreibung blieb freilich ohne Ergebnis, so dass sie im nächsten Jahr wiederholt wurde. Doch wieder konnte kein eindeutiger Ansatz zur Erstellung dieser Korrelation gefunden werden. Die nachhaltigste, weil weitreichendste Folge dieser statistischen Diskussionen vor dem Krieg war allerdings eine Untersuchung, die Reichskanzler und Reichstag gemeinsam unter dem Titel: „Ermittlungen über die Herkunft und die Beschäftigung der beim Heeres-Ergänzungsgeschäfte des Jahres 1902 zur Gestellung gelangten Militärpflichtigen“ in Auftrag gaben. Die Studie zielte explizit darauf ab, die soziale und geografische Herkunft der Soldaten statistisch zu erfassen. Der Bericht wurde im November 1903 dem Reichstag und der Öffentlichkeit vorgestellt. Exklusiv bekam ihn der Bund der Landwirte allerdings bereits einen Monat zuvor, um die Ergebnisse angemessen interpretieren und entsprechende öffentliche Reaktionen vorbereiten zu können. Doch die Daten scheinen dem Bund und Sering als seinem Wortführer nicht ausgereicht zu haben. Sering verlangte in weiteren Eingaben an die Reichsregierung immer mehr Datenmaterial, bzw. den Zugang zu bislang geheim gehaltenem Material: „Die Aufgabe, um die es sich handelt, besteht darin, die Einwirkung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf die körperliche Entwickelung der wehrpflichtigen Jugend aufzudecken. Um diese für die Politik und für die Wissenschaft gleich wichtige Frage befriedigend beantworten zu können, bedürfte man einer möglichst vollkommenen Kenntnis aller derjenigen Lebensbedingungen, welche überhaupt als Massenerscheinungen statistisch erfassbar sind. […]

Die Statistik der Herkunft unserer jungen Mannschaften würde erst vollen Wert gewinnen, wenn man sie kombinieren könnte mit dem Wohnort der Eltern und dem Aufenthaltsort der jungen Leute, wenn man ferner die Ortsklassen viel feiner gliederte, als es bei der letzten Aufnahme beliebt worden ist. Die Berufsstatistik des Ersatzgeschäfts würde erst vollen Wert gewinnen, wenn man sie ebenfalls viel feinergliederte und neben dem Beruf der wehrpflichtigen Jugend den der Eltern feststellte. Schon das vorliegende Material würde an Wert gewinnen, wollte man es nach dem bayerischen Vorbilde für kleinere Verwaltungsbezirke veröffentlichen. Für den Sozialpolitiker, den Anthropologen und Arzt wäre es endlich von unschätzbarem Werte, wenn auch die in den Kontrollisten enthaltenen Angaben über die Körperbeschaffenheit der Wehrpflichtigen zur Mitteilung gelangt.“46 46 Max Sering, Die Bedeutung der ländlichen Bevölkerung für die Wehrkraft des deutschen Reichs nach den von dem Herrn Reichskanzler angeordneten Erhebungen, Referat gehal-

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Die Forderung nach immer feingliedrigeren Erklärungsmustern und immer größeren Datenmengen legt die Vermutung nahe, dass eine dynamische Betrachtung von Herkunft und Familiengeschichte sowie die Definition einer bestimmten Generationszugehörigkeit die Statistiker methodisch überforderte. Das zu bearbeitende Datenmaterial war zu groß und seine Homogenität nur allzu leicht anzweifelbar. Zwar erlangten die Wissenschaftler in den nächsten Jahren auch Zugang zum regelmäßigen Bericht über die körperliche Beschaffenheit der Rekruten, der ab 1906 alle 10 Jahre erhoben werden sollte, sowie zu den Berufsstatistiken, dennoch waren sie weiterhin kaum in der Lage, eine eindeutige statistische Antwort auf die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Herkunft, Generationszugehörigkeit und Wehrkraft geben zu können. Es wäre nicht angemessen, die Brentano-Sering-Kontroverse als alleinigen Auslöser für die Konjunktur der deutschen Militärstatistik zu verstehen. Auch die zuvor dargestellten Vergleiche mit anderen europäischen Mächten, transnationalen Netzwerken sowie das ausgeprägte Konkurrenzdenken zwischen den wissenschaftlichen Akteuren stießen in Deutschland eine Vielzahl neuer Forschungen an. Die Forderung nach einer verlässlichen und homogenen statistischen Erfassung der Rekruten- und Militärstatistik ließ zeitgleich, also ab den 1860er Jahren, auch Wünsche nach international vergleichbaren Studien auf der Grundlage einer einheitlichen Kategorisierung aufkommen.47 Analog zur Situation in den verschiedenen europäischen Ländern scheiterte eine solche Transnationalisierung der Verfahren im Sinne einer Abgleichung nicht zuletzt an der mangelnden Vernetzung der selbst auf nationaler Ebene nur sehr schwach institutionalisierten Expertenzirkel. Breitflächig änderte sich diese Situation ab den frühen 1890er Jahren. Auf dem „Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie“ in Budapest im Jahre 1894 einigten sich Militärmediziner verschiedener europäischer Länder auf die Gründung einer Internationalen Kommission für Militär-Sanitätsstatistik, die von nun an auf den Internationalen Kongressen für Medizin oder auf den Kongressen für Hygiene und Demografie zusammentrat. Ziel dieser Kommission war folgendes: „Auf Grund der Pariser Beschlüsse [nimmt Bezug auf den Internationalen Kongress für Medizin in Paris im Jahre 1900, H.H.] finden mit Allerhöchster Genehmigung alljährlich Versendungen von Auszügen der JahresSanitätsbereichte nach vereinbartem Muster an die beteiligten Staaten unterein-

ten auf der XXXII. Plenarversammlung des Deutschen Landwirtschaftsrats, in: Archiv des DLR, XXXII (1904), S. 282–298, S. 298. 47 Bischoff, Brauchbarkeit.

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ander statt.“48 Es ging mit anderen Worten darum, sich um die lange eingeklagte Vergleichbarkeit zu bemühen und diese gleichzeitig zu überwachen. Anlässlich des Kongresses für Hygiene und Demografie in Berlin im Jahre 1907 wurden die Militärmediziner dieser Aufgabe mit einer besonderen Sektion zur Rekrutenstatistik gerecht,49 die federführend vom Vorsitzenden der Berliner militärärztlichen Gesellschaft, Heinrich Schwiening, organisiert wurde. Die verschiedenen Argumentationslinien, die jeweils auf ihre Weise den Konnex zwischen Militärstatistik und demografischen Wissensfeldern beeinflussten, führten dauerhaft dazu, dass den Militärs die Deutungshoheit über ihre eigenen Statistiken entrissen wurde. Die zunächst häufig noch geheim gehaltenen Datensammlungen führten immer öfter zu verhältnismäßig offenen Untersuchungen. Das schweizerische statistische Bureau, das teils auf Wunsch der Armee teils auf Druck des Departements des Innern die Bearbeitung der verschiedenen Rekrutenuntersuchungen50 unternahm, erlangte in seiner Behandlung und Verwertung der militärischen Daten eine immer größere Autonomie, die sich in einer Vielzahl von Berichten ausdrückte. Auch wenn die offiziellen Berichte über die Ergebnisse der Rekrutenaushebung ab 1910 bis weit nach dem Ersten Weltkrieg den Vermerk „Konfidentiell“ trugen,51 so machten doch die regelmäßigen Berichte in diversen Zeitschriften, allen voran der „Zeitschrift für Schweizerische Statistik“ den Sinn dieser militärischen Geheimhaltung bald obsolet.

Epigonen Das ursprünglich rein statistische und administrative Problem der Rekrutenstatistik wurde somit zu einem Politikum, durch das sich Bedeutungsfelder eröffneten, die jenseits der bloßen Korrelation von Bevölkerungszahl und Armeestärke lag. Auch die Frage einer qualitativen Bestimmung der Wehrkraft wurde zu einer Frage, die im Verlauf des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts parallel zu den rein quantitativen Messungsmethoden ihre Bedeutung entwickelten und sich dabei an die politische Brisanz der statistischen Forschung anschloss. Kaum ein anderer Forscher brachte diese dynamischen Bedeutungsdimensionen des Topos der Wehrkraft im Deutschen Kaiserreich deutlicher auf den Punkt 48 Brief Kriegsministerium an Minister für Auswärtige Angelegenheiten, 2.3.1907, BArch R 1501 – 111 163. 49 Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Hygiene und Demographie, Berlin 1907; Sektion Rekrutenstatistik. 50 Neben der eigentlichen Musterung ab 1875 auch der pädagogischen Rekrutenprüfung und ab 1905 der als Turnprüfungen angelegten physischen Eignungstests. 51 Diese Berichte erschienen jährlich ab 1912. Bundesarchiv Bern, E 27 / 5825.

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als Rudolf Virchow. Auf dem Vorbereitungstreffen des Internationalen Statistischen Kongresses im Jahre 1863 in Berlin wies Virchow, noch ganz in seiner Roller als Politiker und Statistiker, auf die eminente Bedeutung der Rekrutenstatistik und die hieraus möglichen Erkenntnisse hin. „Der Kongress erkennt in der Rekrutirung eine der wichtigsten Gelegenheiten, um über den physischen Zustand eines grossen Bruchteils der männlichen Bevölkerung zuverlässige statistische Beobachtungen zu sammeln, welche nicht blos für die Gewinnung erfahrungsgemässer Grundlagen des Rekrutirungswesens, sondern namentlich für die Beurtheilung des Wohlergehens der Bevölkerung überhaupt sichere Anhaltspunkte gewähren können. […] Zusammengehalten mit der Rekrutirungsstatistik kann eine derartige Darstellung der Grundlage einer eingehenden Kenntnis von dem körperlichen Entwicklungsleben unserer Nation werden.“52

Diese grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten, die Virchow in der Untersuchung der Rekruten und ihrer Musterungsdaten sah, griff er verschiedentlich wieder auf. Doch eine wirkliche Perspektive für eine Realisierung dieses Projekts ergab sich erst nach der Reichsgründung unter deutlich anderen Vorzeichen. Virchow regte in der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ im Jahre 1873 an, die ‚rassische‘ Herkunft der deutschen Bevölkerung zu untersuchen und somit die Brücke zu spannen von der Urgeschichte bis in die Differenzierung der gegenwärtigen Bevölkerungsstrukturen.53 Als Methode schlug er eine anthropologische Untersuchung der Bevölkerung vor. Aus dieser seien Phänotypen abzuleiten, die dann wiederum Dynamiken und Wanderungen innerhalb der Bevölkerung aufzeigen sollten. Da eine vollständige Untersuchung der gesamten Bevölkerung unrealistisch erschien, sprach sich Virchow für zwei mögliche Untersuchungsgruppen aus: Schulkinder und Rekruten. Für die Untersuchung der Rekruten wurde Virchows Ansinnen vom Kriegsministerium und von 52 Zitiert nach Fröhlich, Musterungsstatistik. Noch weiter gingen die Ambitionen des französischen Militärarztes Morache: „Die Rekrutierung, durch die die gesamte männliche Bevölkerung gezwungen ist, vor der Musterungsbehörde zu erscheinen, wäre eine einzigartige Gelegenheit eine große Menge von Fragen zu stellen, die nur durch die Untersuchung einer großen Zahl einzelner Fälle beantwortet werden kann; so könnte die Ethnologie hier eine Vielzahl von Indikatoren über die rassische Zusammensetzung Frankreichs erhalten; der Physiologie würden die zahlreichen Verbindungen zwischen den äußeren Erscheinungen des menschlichen Körpers zu Gute kommen; die Moralwissenschaften und die Sozialstatistik würden hier nicht weniger wertvolle Studien zur intellektuellen Entwicklung der Bevölkerung anstellen können.“ Morache, Considérations, S. 60. 53 Rudolf Virchow, Über die ursprüngliche Bevölkerung Deutschlands und Europas, in: Die vierte Allgemeine Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu Wiesbaden am 15. bis 17. September 1873, Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1874.

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der Armee abgewiesen. Virchow selbst stützte sich also für seine Untersuchungen auf die Schulkinder. Die Geschichte dieser Studien an rund 6 Millionen Kindern ist hinreichend bekannt.54 Durch die enorme Zahl von zu Untersuchenden wurde es notwendig, auf anthropologisch völlig ungeschultes Personal – und zwar das Lehrpersonal – zurückzugreifen. Die Lehrer wurden verpflichtet, die Ergebnisse aus ihren jeweiligen Klassen einzureichen. Allerdings sah Virchow sich gezwungen, hier Konzessionen zu machen und lediglich äußerlich sichtbare Merkmale, v.a. Haar-, Augen- und Hautfarbe als Kriterien abzufragen.55 Zudem beklagte er die Ungenauigkeit des Datenmaterials, da die Kinder häufig noch in der Entwicklung standen und die untersuchten Kriterien veränderlich waren.56 Genau diese Probleme hofften er und seine Kollegen prospektiv durch eine entsprechende Nutzung der Musterungsergebnisse umgehen zu können, wurden diese Untersuchungen doch per se durch medizinisch geschultes Fachpersonal und an erwachsenen Männern durchgeführt. Doch bis zu Virchows Tod im Jahre 1902 blieben diese immer wiederkehrenden Forderungen nach einer systematischen Untersuchung der deutschen Rekruten unerfüllt. Die anthropologische Untersuchung der Bevölkerung und die Darstellung entsprechender räumlicher Differenzierungsmuster blieben mithin anfechtbar, wenn man eine breite statistische Datenbasis als Argument benutzen wollte. Dieses Manko war für die anthropologische Forschung in Deutschland umso deutlicher, als im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern entsprechende Untersuchungen publiziert wurden, die sich auf 54 Anschaulich dargestellt etwa bei Andrew Zimmermann, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago: The University of Chicago Press 2001, S. 137–147. 55 Ibid. Zudem sei darauf hingewiesen, dass Virchow aufgrund von Kritik der Gesellschaft für Anthropologie eine konfessionelle Differenzierung in diese Untersuchung mit einbezog. Seine Kollegen befürchteten, dass ansonsten die rassische Gliederung des Deutschen Volkes durch die „rassisch jüdischen Elemente“ verfälscht würden. Hierdurch wurde für Deutschland eine solche konfessionelle Differenzierung zum festen Bestandteil von „methodisch sauberen“ Untersuchungen, etwa bei Otto Ammon. Hierzu auch Annegret Kiefer, Das Problem der „Jüdischen Rasse“: Eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie (1870–1930), Frankfurt a.M.: P. Lang 1991; Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, London: Harvard University Press 1964; Werner Kümmel, Rudolf Virchow und der Antisemitismus, in: Medizinhistorisches Journal 3 (1968), S. 165–179. 56 Rudolf Virchow, Gesamtbericht über die Statistik der Farbe der Augen, der Haare und der Haut der Schulkinder in Deutschland, in: Correspondenzblatt der Deutschen anthropologischen Gesellschaft 15 (1885), S. 89–100; sowie Ders.: Gesamtbericht über die von der deutschen anthropologischen Gesellschaft veranlassten Erhebungen über die Farbe der Augen, der Haare und der Haut der Schulkinder in Deutschland, in: Archiv für Anthropologie, 16 (1886), S. 275–475.

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breitflächige statistische Auswertungen und Differenzierungsmuster, teils auch schon auf Rekrutenuntersuchungen, berufen konnten.57 Auf dieser internationalen Ebene entwickelte besonders die Untersuchung des italienischen Militärmediziners Ridolfo Livi eine paradigmatische Wirkung. Livi griff dabei nicht auf eigene Erhebungen zurück, sondern stützte seine Erkenntnisse auf die Ergebnisse der Rekrutierungen aus den Jahren 1859 bis 1863, also die Jahre vor der politischen und administrativen Vereinigung Italiens.58 Er betrachtete dabei sowohl äußerliche Eigenschaften, wie Haar- und Augenfarbe, als auch messbare Körpereigenschaften, etwa die Schädelgröße, die sich anschickte, zum anthropologischen Paradigma schlechthin zu werden.59 Seine generelle Feststellung war dabei die rassische Zweiteilung Italiens, die in etwa den politischen Konfliktlinien zwischen dem Norden und dem Süden folge. Livis Untersuchung erhielt eine deutliche Vorbildfunktion, so dass in verschiedenen europäischen Ländern anthropologische Gesellschaften sich darum bemühten, ähnliche Untersuchungen anzuregen.60 Teils explizit, teils implizit galten allerdings auch die Anregungen Rudolf Virchows immer wieder als Inspiration für entsprechende Arbeiten. Auch wenn im Deutschen Reich eine systematische Erfassung der Musterungsergebnisse in anthropologischer Hinsicht nicht stattfand, soll dies natürlich nicht heißen, dass es keine anthropometrischen Rekrutenuntersuchungen gab. Wie auch in anderen Ländern fanden diese ab den 1880er Jahren verstärkt statt, blie57 Besonders deutlich ist dabei, dass der Anfang für diese Bestrebungen im Vielvölkerreich Österreich-Ungarn lag: Augustin Weisbach, Körpermessungen verschiedener Menschenrassen, Berlin: Weidler 1874; Ders.: Herzegowiner verglichen mit Tschechen und Deutschen aus Mähren nach Major Himmel’s Messungen, o.O. 1889; Für Frankreich: René Collignon, Anthropologie de la France, Dordogne, Charente, Corrèze, Creuse, Haute-Vienne, Paris 1894; Georges Vacher de Lapouge, L’Aryen, son rôle social, Cours libre de science politique, Paris 1899; Für Italien: Ridolfo Livi, Antropometria Militare, (2 Bände) Rom 1896 und 1905; Für Schweden und Norwegen: Carl Fürst, Gustav Retzius, Anthropometria suecica, Beiträge zur Anthropologie der Schweden, Stockholm: Aftonbladets Druckerei 1902; Carl Oscar Eugen Arbo, Sveriges anthropologi med sammenlignende bemaerkninger til Norges, Christiania: Jacob Dybwad 1903. 58 Livi, Antropometria Militare. 59 Zimmermann, Anthropology, besonders S. 88f. 60 Als ein Beispiel John Beddoe, President’s Address, in: The Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland, 19 (1890), S. 481–493. Beddoe geht hier detailliert auf die verschiedenen anthropologischen Erkenntnisse ein, die auf der Pariser Weltausstellung von 1889 präsentiert wurden. Darunter, wie bereits gesagt, eine Vielzahl von Untersuchungen die sich auf die Rekrutenstatistiken stützten. Allerdings machte er auch die Differenzierung gegenüber den präsentierten Kolonien stark, ein Thema, auf dessen enorme Bedeutung hier nur kursorisch verwiesen werden kann.

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ben allerdings immer auf bestimmte Regionen begrenzt. Den wichtigsten Fall stellten dabei die Untersuchungen im südwestdeutschen Grenzraum dar, allen voran die äußerst umfassenden Untersuchungen, die Otto Ammon an den Rekruten in Baden durchführte.61 Die umfassenden Daten, die Ammon gesammelt hatte, erlaubten es ihm dennoch nicht, seine Ergebnisse auf Deutschland hochzurechnen, da die Untersuchungen sich sehr eng an die einzelnen badischen Verwaltungsbezirke anlehnten. Umso mehr jedoch hob Ammon auf eine generelle Differenzierung zwischen ‚badischer‘ und ‚jüdischer‘ Bevölkerung ab. Daneben schloss er ebenfalls auf eine Vielzahl sozialer Differenzierungsmuster, durch die er wiederum das Topos der Degeneration der Stadt- im Vergleich zur Landbevölkerung zu untermauern suchte. Um 1900 wurden diese Untersuchungen für das benachbarte Elsass weiter vorangetrieben. Gustav H. Schwalbe, einer der wichtigsten Vertreter der statistischen Anthropologie an der Universität Straßburg, bemühte sich, gemeinsam mit seinem Doktoranden Gustav Brandt darum, zumindest an Hand der Körpergrößen entsprechende Kategorienbildungen für das neue Reichsland nachzuvollziehen.62 Aus beiden Studien liest sich mithin ein klarer Subtext heraus: rassische Differenzierungsmuster sollten es den Anthropologen ermöglichen, eine rassische Erosion in den Grenzräumen abzubilden, durch die die anthropologische Andersartigkeit des politisch Anderen naturwissenschaftlich erhärtet werden sollte. Die Parallele zu den Untersuchungen Ridolfo Livis ist auch in dieser Hinsicht überdeutlich. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts blieben die Wünsche nach einer großflächigen Untersuchung der deutschen Rekruten durch die Anthropologen unverändert bestehen. Ein Jahr nach dem Tod Rudolf Virchows sah sich eben jener Gustav Schwalbe, inzwischen einer der Vorsitzenden der Gesellschaft für Anthropologie, veranlasst, in einem längeren Artikel eine solche Untersuchung der Rekruten erneut anzuregen.63 Beherrschendes Motiv seiner Argumentation war dabei die Konkurrenz zu anthropologischen Forschern anderer Nationen, die entsprechende Studien bereits publiziert hatten. Die Anthropologische Gesellschaft 61 Neben einigen Auszügen wurde der Hauptbericht dieser Untersuchung erst 1899 publiziert: Otto Ammon, Zur Anthropologie der Badener. Bericht über die von der anthropologischen Kommission des Karlsruher Altertumsvereins an Wehrpflichtigen und Mittelschülern vorgenommenen Untersuchungen, Jena: Fischer 1899. 62 Gustav Adolf Brandt, Die Körpergröße der Wehrpflichtigen des Reichslandes ElsaßLothringen, Mit drei kolorierten Karten, Straßburg: Trübner 1898. 63 Gustav Schwalbe, Ueber die umfassende Untersuchung der physisch-anthropologischen Beschaffenheit der jetzigen Bevölkerung des Deutschen Reiches, in: Correspondenzblatt der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, (1903) (Bericht der 34. allgemeinen Versammlung in Worms).

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beschloss umgehend, sehr wahrscheinlich von langer Hand vorbereitet, einen neuen Anlauf in Richtung einer solchen Untersuchung zu wagen. Gemeinsam mit den beiden anderen Vorsitzenden der Gesellschaft, Wilhelm Waldeyer und Eugen Fischer, wandte sich Schwalbe mit einer entsprechenden Eingabe an das Kriegsministerium. Zwar blieb man hier hinsichtlich der Bitte, nach den Musterungsuntersuchungen systematisch eigene Ergänzungsuntersuchungen durch die Mitglieder der jeweiligen lokalen Anthropologischen Gesellschaften durchzuführen, skeptisch, verwies dieses Ansinnen allerdings an die Reichskanzlei als übergeordneter Behörde.64 Der Reichskanzler Bernhard von Bülow und sein zuständiger Staatssekretär Arthur von Posadowsky-Wehner waren durch die seit Jahren stattfindenden Debatten um die Wehrfähigkeit des deutschen Volkes sensibilisiert. Die Diskussion um die statistisch-demografische Auswertung der Musterungsprozesse war zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten, wenngleich eher unter den Vorzeichen der Diskussion um die soziale Herkunft. Die Reaktion des Reichskanzlers war dementsprechend aufgeschlossen, man bat um weitere Informationen. Die Anthropologische Gesellschaft stellte in ihren Antworten explizit auf die praktische Durchführung, aber auch und gerade auf die sozial-politische Relevanz der Rekrutenuntersuchungen ab, indem sie vorschlug, auch den Berufstand und die soziale Herkunft der Rekruten mit in die Untersuchung einzubeziehen, mit den anthropologischen Untersuchungsmerkmalen zu kreuzen und hierdurch einen sozialanthropologischen Erklärungsansatz für soziale Ungleichheiten mit zu liefern. Als Hauptziel sollte aber das Verhältnis zwischen unterschiedlichen geografischen oder geologischen Faktoren und den verschiedenen in Deutschland lebenden ‚Rassen‘ ermittelt werden. Wie im Rahmen der Diskussion um die Berufsstatistik des Militärs waren allerdings auch hier die Reaktionen von Kriegsministerium, Militärs, Statistikern und Militärärzten äußerst verhalten bis negativ. Parallel zu anderen Diskussionskontexten, etwa der Frage der pathologischen Untersuchungen an den Rekruten oder der Frage der Korrelation zwischen Geburtenrate und Armeegröße bemühten sich die Militärs, allen voran Kriegsminister von Einem, die Musterungsprozesse von weitergehenden wissenschaftlichen Interessen frei zu halten. Die Bemühungen der Anthropologen belegen ihr vehementes Interesse am Potential der Musterungs- und Rekrutenstatistiken. Dabei ging es nicht nur um die Entwicklung eines verlässlichen Screeningmechanismus, sondern auch um Vergleichbarkeit mit anderen europäischen Völkern, mit dem Ziel, eine umfassende Rassenkarte Europas neu zu zeichnen, nach dem Vorbild von Livis klassifi64 Diese Ausführungen beziehen sich auf den entsprechenden Schriftwechsel der Gesellschaft mit der Reichskanzlei zwischen November 1903 und Juni 1904, Februar 1904. Bundesarchiv Reichskanzlei, R 43/2070.

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zierendem Atlas. Die militärische Institution der Musterung war gerade durch die vermutete internationale Vergleichbarkeit nicht nur Instrumentarium, sondern auch Motor der rassisch-biologistischen Konstruktion des Selbst und des Anderen im Europa vor dem Weltkrieg. Letztlich scheiterte allerdings auch dieses Vorhaben der Anthropologen an dem viel zu hohen praktischen Aufwand. Das Projekt sah vor, dass alle lokalen anthropologischen Gesellschaften an den entsprechenden Untersuchungen beteiligt würden, was in der Realität schon allein auf Grund des finanziellen Rahmens nicht durchführbar war. In den Jahren bis zum ersten Weltkrieg wurde das Thema von der Gesellschaft nicht wieder belebt. Stattdessen verlagerte sich der Arbeitsschwerpunkt zu anderen Ansätzen – etwa der Schädelmessung – häufig also einer archäologisch-kasuistischen Herangehensweise, in die entsprechende rassistische Vorannahmen bereits eingeflossen waren. Die anthropologische Forschung, die die Rekruten als systematisches Untersuchungsobjekt spät für sich entdeckt hatte, ließ sie gleichzeitig recht früh wieder fallen und scheiterte damit ein weiteres Mal an dem Versuch, die weitreichenden und immer wichtiger werdenden rassistischen Hypothesen auch an Hand von statistischem Zahlenmaterial zu überprüfen.

Schlussbemerkung Die Dynamik der Militärstatistik war für die sich konstituierenden demografischen Wissensfelder zwischen ca. 1850 und 1914 zentral. Gleichzeitig verdankte sie ihre schlagartige Relevanz auch dem um die Jahrhundertwende in verschiedenen europäischen Staaten aufkeimenden Interesse an sozialem Wissen über die Bevölkerung. Sie beeinflussten sich gegenseitig und determinierten dabei ihre gegenseitige Entwicklung. Für den deutschen Fall ließ sich dies etwa an Hand der statistischen Praktiken, aber auch in der Forschungsfrage von demografischen Projekten vor 1914 nachweisen. Die Untersuchung der Bevölkerungsdynamik wurde in ihren Kategorien analog zur nationalen Kraft und militärischen Stärke konstruiert. Militär war somit einer der frühen Motoren einer „Demografisierung“ der Gesellschaft. In Hinblick auf die Einordnung dieses Falls in eine Wissensgeschichte der Demografie möchte ich fünf Punkte zusammenfassend anführen: 1. Durch den neuen Stellenwert der Militärstatistik als Datenlieferant für die Bevölkerungsstatistik – gerade in den westeuropäischen Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht – erlangten die Personen, die dieses Datenmaterial bereitstellten, also die Militärmediziner, einen neuen Status neben der bloßen

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kurativen Tätigkeit in der Armee. Ihre Rolle als Statistiker, vor allem aber als ‚Hüter und Deuter‘ des entsprechenden ‚Datenschatzes‘ verlieh ihnen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Status von Experten. Durch ihre Entscheidungen bei den Musterungen wurden demografische Kategorien mit beeinflusst, auch wenn sich viele Militärmediziner gegen die Verbindung ihrer Wissenschaft mit politischen Inhalten zur Wehr setzten. 2. Der Platz des Transnationalen im Aufbau solcher demografischer Wissensordnungen wird hier besonders deutlich. Gerade in militärischen Kontexten bauten sich wissenschaftliche Praktiken auf dem Motiv des wechselseitigen Voneinander-Lernens und der Konkurrenz gegenüber anderen Nationen auf. Viele Forschungsfragen wurden auf den entsprechenden Internationalen Kongressen um die Jahrhundertwende, den Fachorganen oder den Gesellschaftsversammlungen methodisch verhandelt und schaukelten sich später in der nationalen wissenschaftlichen Praxis gegenseitig in die Höhe. Dabei blieben sehr deutliche nationale Spezifika erhalten und führten zu einer Eigenlogik der nationalen Diskussionen, durch die letzten Endes ein systematischer Vergleich zwischen den Nationen so gut wie ausgeschlossen blieb. 3. Auf staatlich-institutioneller Ebene – also zumeist in den Kriegsministerien der einzelnen europäischen Länder – ergab sich durch die heftigen öffentlichen Debatten ein gewisser Handlungsdruck. Programme zur militärischen Datenerhebung wurden ins Leben gerufen und hatten push-Effekte für die demografische Forschung insgesamt zur Folge. Die Fragestellungen, die einmal an Hand der Militärstatistik problematisiert worden waren, etwa die Herkunft vom Land und aus der Stadt oder die Thesen zur sozialen Degeneration, wurden auch in anderen Untersuchungssettings weiter genutzt und durchzogen demografische Forschungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Staaten wie ein roter Faden, auch wenn die konkrete Aufarbeitung der Militärstatistik nach 1914 keine große Karriere mehr hatte. 4. In Form der militärischen Musterung wurden bevölkerungswissenschaftliche Diskurse in konkreten Entscheidungen greifbar. Der individuelle Körper des Rekruten wurde in Verbindung gesetzt mit dem Ganzen des ‚Volkskörpers‘ und gleichzeitig konnte entschieden werden, welche Körpermerkmale Teil dieses ‚Volkskörpers‘ sein sollten und welche nicht. Diese weite Bedeutungsdimension der militärischen Musterung lässt es wenig verwunderlich erscheinen, dass zahlreiche gesellschaftliche und politische Gruppierungen versuchten, auf die Musterung und die Entstehung der Militärstatistik einzuwirken. Im Begriff der Tauglichkeit fanden dabei medizinische, anthropologische, militärische und statistische Wissensbestände in ganz besonderen Konstella-

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tionen zusammen. Auch in anderen Bereichen, wie etwa den Untersuchungen zur Arbeitstauglichkeit, wurden hier individuell medizinische Untersuchungspraktiken mit statistischem Wissen verknüpft.65 Solche Dynamiken prägten die eklektischen Ansätze der Demografie über den hier besprochenen Zeitrahmen hinaus. 5. Dieses Beziehungsgeflecht zwischen breitenwirksamen Diskursen und wissenschaftlichen Praktiken prägte über einen gewissen Zeitraum eine Kultur statistischer Evidenz, in der dem militärischen Topos eine wichtige Bedeutung zukam. Meist unreflektiert blieb dabei, dass sich eine solche Debatte wie selbstverständlich auf die männliche Hälfte der Bevölkerung, also auf die potentiellen Rekruten verengte. Die speziell militärische Komponente der demografischen Argumentation prägte damit das Bild eines ‚männlichen Volkskörpers‘, dessen besondere Formen des Screenings sich auch an ‚männlichen‘ Körpereigenschaften festmachen ließen. Sie war damit eine Form der Evidenz, die sich nur noch auf einer Hälfte der Nation aufbaute, die aber den Handlungsdruck auch der anderen Hälfte der Bevölkerung zuschrieb, indem die Verantwortung für den gesunden Soldatennachwuchs im Wesentlichen den Müttern obliegen sollte.

65 Ein anderes Beispiel bietet die US-amerikanische Migrationsregulierung; Patrick Kury/ Barabara Lüthi/Simon Erlanger, Grenzen setzen, Vom Umgang mit Fremden in der Schweiz und in den USA (1890–1950), Köln: Böhlau 2005, S. 117ff; Barbara Lüthi, Invading Bodies, Medizin und Immigration in den USA 1880–1920, Frankfurt: Campus 2009.

Petra Overath

Bevölkerungforschung transnational. Eine Skizze zu Interaktionen zwischen Wissenschaft und Politik am Beispiel der International Union for the Scientific Study of Population 1.  Transnationale demografische Wissensproduktion zwischen Wissenschaft und Politik – ein aktuelles Beispiel Im breiten Feld transnationaler Bevölkerungsforschung zeichnen sich seit dem 11.  September 2001 neue Problemhorizonte und Untersuchungsgegenstände ab.1 Zum Beispiel konnte sich ein Forschungsfeld etablieren, in dem Bevölkerungswissenschaftler die Korrelationen zwischen demografischen Entwicklungen – konkret einem „Jugendüberschuss“ – und zukünftigen Kriegswahrscheinlichkeiten untersuchen.2 Dieser Ansatz hat in Europa verschiedene Vorläufer3 oder historische Dimensionen, an die unter veränderten Vorzeichen angeknüpft werden konnte: Die Erforschung der Verbindungen zwischen Ressourcenknappheit und Konflikten, zwischen Kriegen und deren demografischen Folgen sowie zwischen Militär und Demografie haben eine lange Tradition.4 Vergleichsweise jung ist 1 Im Folgenden wird in erster Linie von „transnationaler“ Bevölkerungsforschung und Wissensproduktion gesprochen. Damit ist der grenzübergreifende Wissenstransfer von Akteuren gemeint, die sich zu „Bevölkerungsfragen“ – wie zum Beispiel Geburtenrückgang oder Übervölkerung – in verschiedenen historischen Konstellationen austauschten. Sofern es sich dabei auch um Austauschprozesse handelte, die explizit zwischenstaatlicher Natur waren, wird außerdem der Begriff der „Internationalisierung“ gebraucht. 2 Special issue of Journal of Peace Research, 42/4 (2005), Special issue of European Journal of Population 21/2 und 3 (2005), Helge Brunborg/Ewa Tabeau/Henrik Urdal (Hrsg.), The Demography of Armed Conflict, International Studies in Population, 5 (2006). 3 Dieses Wort wird hier mit großer Vorsicht benutzt. Gemeint ist hier keinesfalls „jener Wissenschaftler (oder Ansatz, Anm. der Autorin), von dem man erst viel später weiß, dass er seinen Zeitgenossen voraus war (…).“ Georges Canguilhem, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: Wolf Lepenies (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Gesammelte Aufsätze von Georges Canguilhem, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1979, S. 22–37, S. 34–36. Vielmehr geht es darum zu betonen, dass scheinbare demografische Themenkontinuitäten (Bevölkerungsrückgang, Überalterung, Geburtenrückgang) zu verschiedenen Zeiten höchst unterschiedliche Bedeutungen hatten. Gleichwohl sind semantische Kontinuitäten durchaus gegeben. 4 Vgl. z.B. den Artikel von Heinrich Hartmann in diesem Sammelband zu Militär(statistik) und Demografie sowie Ursula Ferdinand zu Ressourcenknappheit und (wirtschaftlichsozialer) „Not“ nach Malthus bzw. zu Ressourcenknappheit und Krieg in der Malthusrezeption: Ursula Ferdinand, Das Malthusische Erbe, Entwicklungsstränge der Bevölke-

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aber der transnationale Fokus auf die Anzahl junger Männer einer Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Ausbruch von gewaltsamen Konflikten. Dabei geht es um den sogenannten youth bulge,5 der zwar bereits 1995 von dem amerikanischen Autor, Politikanalysten und Islamexperten Graham E. Fuller als demografischer Faktor für die Erklärung von Krieg in die Diskussion eingebracht wurde.6 Auf transnationaler Ebene beachtete man den youth bulge zunächst aber relativ wenig. Dies änderte sich nach den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center (WTC) am 11. September 2001. Seither ist das Problem des „Jugendüberschusses“ vor allem der islamischen Staaten auch transnational ein prominentes Forschungsthema. In einem Bericht zu einem Seminar der International Union for the Scientific Study of Population7 – also einer seit ihrer Gründung im Jahre 1928 bis heute wichtigen Plattform für transnationale Bevölkerungsforschung – umschreibt ein (anonymer) Berichterstatter im Jahr 2003 den youth bulge als das „Anschwellen“ der Zahl von Jugendlichen in einer Gesellschaft aufgrund demografischer Entwicklungen, die praktisch ohne berufliche Perspektiven seien und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit in Slum-Gebieten oder in, wie es im Bericht heißt, „aufständischen Gruppen“ landeten.8 Bemerkenswert ist an dieser Beschreibung des Phänomens des youth bulge zweierlei: Es wird eine Kausalkette zwischen demografi-

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rungstheorie im 19. Jahrhundert und deren Einfluß auf die radikale Frauenbewegung in Deutschland, Münster: LIT Verlag 1999, z.B. S. 53ff. Youth bulge wird auch mit „Jugendberg“ übersetzt. Nach Fuller liegt ein Jugendüberschuss vor, wenn die 15–24Jährigen mindestens 20 Prozent bzw. die 0–15 Jährigen mindestens 30 Prozent der Gesamtgesellschaft darstellen. Garry Fuller, The Demographic Backdrop to Ethnic Conflict: A Geographic Overview, in: Central Intelligence Agency (Hrsg.), The Challenge of Ethnic Conflict to National and International Order in the 1990s: Geographic Perspectives, A Conference Report, Washington, DC, 1995, S. 151–154. Zeitlich noch vor Fuller vertrat der französische Soziologe Gaston Bouthol die These, dass ein hoher Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung ursächlich kriegerische Auseinandersetzungen auslösen könnte. Ausführlicher zur Genese dieses Forschungsfeldes unter Bezugnahme auf die Thesen von Samuel Huntington, die „verspätete“ Rezeption in Deutschland sowie weiterführende Literaturhinweise bei: Steffen Kröhnert, Warum entstehen Kriege? Welchen Einfluß demografische und ökonomische Faktoren auf die Entstehung von bewaffneten Konflikten haben, Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2006, S. 2ff. Im Jahr 1928 wurde die International Union for the Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP) gegründet, der im Jahr 1947 nach einer institutionellen Reformierung der Name International Union for the Scientific Study of Population (IUSSP) verliehen wurde. Im Folgenden wird Union als übergreifender Begriff für beide Zeitabschnitte verwendet. Diese Definition des Phänomens stammt aus dem Report on the Seminar on the Demography of Conflict and Violence, organized by the IUSSP Working Group on the Demography of Conflict and Violence, Oslo, Norway, 8–11 November 2003, Abruf bar unter: http://www.iussp.org/Activities/wgc-con/con-report04.php (zuletzt konsultiert im September 2010), S. 1.

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schen Entwicklungen und hohem Konfliktpotential in Gesellschaften hergestellt, die noch dazu eine starke Suggestivkraft aufweist. Es liegt nahe, bei den „aufständischen Truppen“ sofort an Rekrutierungsgruppen für Terroristen zu denken. Als wichtige Ursache für das Gewaltpotential erscheinen in dieser Beschreibung „die demografischen Entwicklungen“. Es klingt, als umfasse die Demografisierung des Gesellschaftlichen (Barlösius),9 auch explizit die Demografisierung des Terrorismus. Das Beispiel zeigt pointiert die Verschränkungen von Wissenschaft und Politik im Bereich aktueller transnationaler Bevölkerungsforschung. Dabei zeichnet sich das breite Feld transnationaler Bevölkerungsforschung bereits seit seiner Herausbildung im 19. Jahrhundert und – wie das Beispiel zeigt – bis in die jüngste Zeit hinein durch ein ausgeprägtes Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik aus.10 Das ist sicher kein Alleinstellungsmerkmal für demografische Forschungen.11 Gleichwohl zeigen sich in Vergangenheit und Gegenwart die Vertreter bevölkerungswissenschaftlicher Forschung mit deren flexiblen Wissensbeständen besonders offen für das Aufgreifen oder explizite Formulieren von politischen Problemen.12 Das zeigt sich an den historischen und an den zeitgenössischen Diskussionen über Geburtenrückgang und „Überalterung“ ebenso wie an jenen über das „Schrumpfen“ von Regionen, Nationen oder Kontinenten.13 Das Beispiel des youth bulge macht darüber hinaus vier strukturelle Eigenheiten des Spannungsfeldes von Wissenschaft und Politik in der Bevölkerungsforschung deutlich: Mit dem gezielten Platzieren des youth bulge auf internati9 Barlösisus analysiert, wie soziale Probleme in demografische umgedeutet werden und damit eine spezifische Zwangsläufigkeit zugeschrieben bekommen. Eva Barlösius, Die Demographisierung des Gesellschaftlichen, Zur Bedeutung der Repräsentationspraxis, in: Eva Barlösius/Daniela Schick (Hrsg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 9–36, S. 27. 10 Vgl. dazu zum Beispiel: Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten, Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York: Campus 1997, S. 109f. Jüngst: Heinrich Hartmann/ Corinna R. Unger, Einleitung: Zur transnationalen Wissensgeschichte der Demografie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3 (2010), S. 235–245, S. 236. 11 Volker Roelcke, Auf der Suche nach der Politik in der Wissensproduktion: Plädoyer für eine historisch-politische Epistemologie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte  2 (2010), S. 176–192, S. 176f. 12 Josef Ehmer, Bevölkerungswissen und Demographie in der Wissensgesellschaft des 20.  Jahrhunderts, in: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hrsg.), Wissenschaften im 20.  Jahrhundert, Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 149–167, S. 164. 13 Vgl. die historischen und politikwissenschaftlich-aktuellen Untersuchungen in diesem Sammelband von Ursula Ferdinand, Arnaud Lechevalier, Heike Kahlert, Daniel Schmidt.

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onalem Parket, etwa in den wissenschaftlichen Panels der International Union for the Scientific Study of Population, ist erstens offensichtlich, dass nicht-wissenschaftliche Ereignisse – in diesem Fall die Terroranschläge vom 11. September 2001  – dazu beitragen können, wissenschaftliche Fragestellungen zu verändern bzw. zunächst marginale Untersuchungs-Settings auf breiterer Ebene zu etablieren sowie deren gesellschaftlich-politischen Interpretationen zu verschieben. Zweitens umfassen und produzieren demografische Diskurse, genau wie im Fall der youth bulge, Differenzkonstruktionen: „Bevölkerungsfragen“ befinden sich an der Schnittstelle von verschiedenen kollektiven Selbstverständnissen (regional, national, europäisch, international, religiös, ethnisch, völkisch, rassisch, modern, zivilisiert, fortschrittlich usw.), die über Differenz entstehen, also „über die Beziehung zum Anderen, in Beziehung zu dem, was sie (die eigene Identität)14 nicht ist.“15 Im konkreten Fall setzt die Berechnung von „Kriegswahrscheinlichkeiten“ auf der Grundlage von demografischen Prognosen Diskurse in Gang, in denen der Feind in einer unübersichtlichen Welt geortet wird. Es entstehen Vorstellungen von einer Art „demografischer Aggressionszone“, die zum Beispiel durch den „Jugendüberschuss“ in islamischen Ländern erklärt wird. Die ermittelten „demografischen Aggressionszonen“ befinden sich zwar geografisch außerhalb Europas, bedrohen dessen Zukunft – in diesen Diskursen – dennoch existentiell. Betrachtet man umgekehrt die umfangreichen Diskussionen zur „Überalterung“ der europäischen Industriestaaten,16 dann zeichnet sich bereits an dieser Stelle ab: Bevölkerungsfragen stellen ein zentrales Aushandlungsfeld der sozialen und kulturellen Bestimmungen Europas dar: Auf der einen Seite zirkulieren Vorstellungen vom alternden Europa, auf der anderen Seite vom jungen, aggressiven Islam. Internationale Plattformen, wie die bereits erwähnte International Union for the Scientific Study of Population, fungieren drittens als vermittelnde Medien oder Agenten wissenschaftlicher demografischer Expertise für „Weltprobleme“, die mit der Transnationalisierung des Wissens auch politische, kulturelle oder soziale Hierarchien von Kollektiven vermitteln. Damit liegt viertens auf der Hand, dass sich demografisch arbeitende Forscher in den letzten Jahren mit diesen Studien in zentrale Bereiche der Konflikt- und Friedensforschung „eingeklinkt“ haben, um sich damit bewusst oder unbewusst ein neues Expertisefeld zu eröffnen: Jenes der Erklärung von Ursachen für internationalen Terrorismus, der derzeit vor allem die so genannte „westliche Welt“ in neuer Qualität bedroht. 14 Anmerkung der Autorin. 15 Stuart Hall, Wer braucht Identität?, in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 167–187, S. 171. 16 Grundlegend zum Konstruktionscharakter von „Alter“ in Frankreich, aber vom Grundgedanken her auch weit darüber hinaus: Patrice Bourdelais, L’âge de la vieillesse, Histoire du vieillissement de la population, Paris: Odile Jacob 1993.

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Das wissenschaftliche Feld der Demografie ist dabei als ein „kultureller Raum“ zu verstehen, in den nicht-wissenschaftliche Faktoren eingehen können. Er konstituiert sich durch Akteure, die auf eine Etablierung, Sicherung sowie Reaktivierung ihrer Ressourcen im wissenschaftlichen und politischen Feld zielen und damit auch innerhalb des wissenschaftlichen Feldes politisch agieren.17 Entsprechend ist es sinnvoll, Wissenschaft und Politik keinesfalls als fest umrissene Entitäten zu denken, sondern als vielfache ineinander übergehende Einheiten, in denen relationale Machtverhältnisse entstehen, die im Sinne der Bio-Macht mit Wissensformationen korrespondieren.18 So können sie sich auch als „Ressourcen für einander“ erweisen.19 Führt man sich allerdings zeitgenössische demografische Diskussionen und wissenschaftliche Studien vor Augen, dann ist grundsätzlich überraschend, wie wenig diese offensichtlichen Interaktionen in bevölkerungswissenschaftlichen Untersuchungen angesprochen oder tiefergehend reflektiert werden.20 Ausgehend von diesen Befunden wird hier vorgeschlagen, die historischen Dimensionen transnationalen Bevölkerungswissens zu problematisieren und damit auch den Blick für Interaktionen zwischen Wissenschaft und Politik in zeitgenössischen demografischen Forschungen zu schärfen.21 Im Folgenden geht es daher darum, durch die Historisierung von transnationalem Bevölkerungswissen 17 Dazu allgemein: Elisabeth Crawford/Terry Shinn/Sverker Sörlin, The Nationalization and Denationalization of the Sciences: An Introductory Essay, in: Dies. (Hrsg.), Denationalizing Science. The Contexts of International Scientific Practice, Dordrecht/ Boston/London: Kluwer Academic Publishers 1993, S. 1–42, S. 2f. 18 Michel Foucault, Il faut défendre la société, Cours au Collège de France, 1976, Paris: Gallimard/Seuil 1997, vor allem S. 216ff. 19 Mitchel G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner 2002, S. 193–214. 20 Das stellt auch Alexander von Schwieren in seinem Tagungsbericht „Culture Meets Demography: Key Concepts of Demographic Research in Historical and Cultural Perspectives“ fest, den er zur gleichnamigen Tagung am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, 02.07.–04.07.2009 verfasst hat. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=2733&view=print. (Januar 2011). Susan Greenhalgh erstaunte Mitte der 1990er Jahre, dass die modernisierungstheoretischen und eurozentrischen Implikationen in den demografischen Forschungen zur Fruchtbarkeit unreflektiert blieben, Greenhalgh, The social construction of Population Science: An Intellectual, Institutional, and Political History of Twentieth-Century Demography, in: Comparative Studies in Society and History, 38 (1996), S. 26–66, S. 27. 21 Paul-André Rosental formulierte im Jahr 2006 in diesem Sinne folgenden Appell: „L’émergence d’une histoire sociale et politique des populations doit être entendue comme un moyen, pour les sciences sociales, de combattre la naturalisation et le réductionnisme statistiques des objets de la démographie, et de faire pièce aux démarches socio-biologiques

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nochmals zu unterstreichen, wie groß zum einen die Bedeutung demografischer Wissensbestände für politische Diskussionen (und umgekehrt) war und wie sich die Konfigurationen von Wissenschaft und Politik immer wieder wandelten.22 Es wird zum anderen gezeigt, dass Bevölkerungsfragen von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Motiven ausgehandelt wurden, und dass Bevölkerungsfragen damit immer auch konstruierte Dimensionen haben und keinesfalls – wie im Eingangsbeispiel suggeriert wird – unabänderliche, quasi naturgegebene Problemwahrnehmungen darstellen. Es werden entsprechend historische Motive, Akteure, Institutionen und Effekte der Transnationalisierung von Bevölkerungswissen überblicksartig für Europa und die USA herausgearbeitet. Innerhalb Europas liegt ein Schwerpunkt auf Deutschland und Frankreich, deren Verhältnis – nicht nur im Bereich der Bevölkerungsforschung – besonders stark durch Rivalität, Bewunderung sowie gegenseitige kritische Beobachtung gekennzeichnet war.23 Konkret setzt die Untersuchung im 19.  Jahrhundert und damit in einer zentralen Phase der Transnationalisierung von Bevölkerungswissen ein. Es wird zunächst die „Erfindung“ der Demografie in Frankreich beschrieben. Darüber hinaus wird analysiert, wie wissenschaftliche Akteure im „Zeitalter des europäischen Nationalismus“ grenzübergreifende Netzwerke knüpften, in denen sie intensiv Bevölkerungsfragen diskutierten (2). Im Mittelpunkt steht sodann die Etablierung einer institutionalisierten grenzübergreifenden Bevölkerungsforschung, wie sie im Jahr 1928 mit der Gründung der International Union for the Scientific Investigation of Population Problems, realisiert wurde. Damit wird eine Phase skizziert, die besonders markant durch konfliktreiche Aushandlungsprozesse zur Deutungshoheit über Bevölkerungsfragen gekennzeichnet war. Ein Fokus liegt dabei auf der Frage, auf welche Weise zeitgenössische Akteure selbst das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der take-off-Phase internationaler Bevölkerungsforschung thematisierten (3). An die historische Untersuchung schließen sich nochmals einige Überlegungen zum Verhältnis von zeitgenössischer Bevölkerungsforschung und Politik an (4). qui s’efforcent aujourd’hui de réinvestir cette discipline.“ Paul-André Rosental, Pour une histoire politique des populations, in: Annales 1 (2006), S. 7–29, S. 29. 22 Die Autoren des Sammelbandes Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“ untersuchen teilweise explizit wie Wissenschaft und Politik im Deutschland der 1930er Jahre im Bereich der NS-Bevölkerungspolitik als Ressourcen füreinander dienten: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.), Ibid., Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag 2009 (vgl. vor allem die Beiträge von Carsten Klingemann, Hansjörg Gutberger und Sonja Schnitzler). 23 Das belegen zum Beispiel die Beiträge im Sammelband von Patrick Krassnitzer/Petra Overath (Hrsg.), Bevölkerungsfragen, Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich (1870–1939), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, vgl. v.a. S. 5.

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2.  Multiple Wissensordnungen und Netzwerke bis zum Ersten Weltkrieg Aushandlungsprozesse über Kernelemente von Bevölkerungsforschung sind bereits für das 19. Jahrhundert vielfach nachweisbar und eng mit Disziplinbildung und -wandel verbunden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts brachten die Franzosen Achille Guillard und Louis-Adolphe Bertillon Begriff und Definition für eine neue Disziplin, namentlich die Demografie, in Umlauf. Diese bestimme die internen Variabeln der Bevölkerung, und zwar die Geburten, die Eheschließungen und die Sterblichkeit. Soziale, ökonomische, politische oder institutionelle Faktoren, die auf die Bevölkerung einwirkten, waren aus dieser Perspektive sekundär oder wurden als exogen eingeordnet.24 Letzteres war neu und beide Männer verknüpften mit dem Vorhaben, eine neue wissenschaftlichen Disziplin zu etablieren, auch das Ziel, die eigene Position im Feld der Sozialwissenschaften in Frankreich zu verbessern. Die Definition – die heute noch anerkannt ist – übte allerdings zunächst kaum einen Einfluss im wissenschaftlichen Feld aus und auch eine Institutionalisierung der Demografie als eigenständige Fachwissenschaft gelang erst später.25 Eine breit angelegte Bevölkerungsforschung, die sich ausgehend von den Statistischen Ämtern, den Staatswissenschaftlichen-statistischen Universitätsseminaren sowie in verschiedenen Disziplinen etabliert hatte, blieb vorherrschend:26 Die Bevölkerung wurde als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt seit dem 17.  Jahrhundert von der politischen Arithmetik, Theologie, Astronomie27 und seit dem 18.  Jahrhundert von Staatswissenschaft, Politischer 24 Achille Guillard, Eléments de statistique humaine; Ou démographie comparée, où sont exposés les principes de la science nouvelle, et confrontés, d’après les documents les plus authentiques, l’état, les mouvements généraux et les progrès de la population dans les pays civilisés, Paris: Guillaumin 1855. Rosental, Histoire des populations, S. 13f. 25 Guillard entwickelte seine Thesen im disziplinären Kontext der Ökonomie, entsprechend scheiterte das Projekt an der Abwehr oder Ignoranz liberaler Ökonomen, die die Statistik nicht als Grundlage für die Politische Ökonomie der Zeit akzeptieren wollten. Libby Schweber, Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham/London: Duke University Press 2006, S. 43–53. 26 Ausführlich diskutiert die wissenschaftlichen und administrativen Aspekte der Statistik im internationalen Vergleich (konkret vor allem USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien): Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag 2005, v.a. S. 165ff. Bernhard vom Brocke, Die Förderung der institutionellen Bevölkerungsforschung in Deutschland zwischen Weltkrieg und Diktatur, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik vor 1933, Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 39–60, S. 39ff. 27 Hervé LeBras, Naissance de la mortalité, L’origine politique de la statistique et de la démographie, Paris: Gallimard Le Seuil 2000.

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Ökonomie, Verwaltungs- und Militärstatistik erfasst. Später sollten Soziologie, Geschichte, Eugenik und Anthropologie dazu kommen. Die Demografie war also zunächst lediglich eine wissenschaftliche Herangehensweise an die „Bevölkerung“ als Untersuchungsobjekt unter vielen anderen.28 Auf transnationaler Ebene standen breitere Bevölkerungsfragen, in denen es etwa um die Erfassung von Pathologien, sozialen Kriterien oder Devianz ging, seit dem 19. Jahrhundert und damit bereits vergleichsweise früh auf der Agenda von grenzübergreifend aktiven Statistikern, einem engagierten Netzwerk von Technokraten. Dieses schrieb sich ein in eine allgemeinere Entwicklung. Für die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg ist die Ausbreitung eines internationalen (wissenschaftlichen) Milieus mit formalisierten Strukturen charakteristisch: Die Zeit um 1864/65 und die Gründung der Internationalen Telegraphenunion wird in der jüngeren Forschung als Wendepunkt für einen nicht mehr umkehrbaren Beginn grenzübergreifender Vernetzungen gedeutet. Bis 1905/1910 wurde ein erster Höchststand von multinationalen Gründungskonventionen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken erreicht.29 Auf Initiative von Adolphe Quételet fand 1853 der erste Internationale Statistikkongress in Brüssel statt. Es folgten Kongresse im Abstand von zwei Jahren, die in der Regel etwa zehn Sektionen umfassten, wovon jeweils zwei explizit Bevölkerungsfragen im weiteren Sinne, wie etwa dem gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung, sozialen Fragen oder Kriminalstatistiken, gewidmet waren.30 Das Ziel der Statistikkongresse bestand zum einen darin, in allen Ländern eine größt28 Zur Internationalisierung von Bevölkerungsfragen im Rahmen der Militärstatistik, siehe den Beitrag von Heinrich Hartmann in diesem Band. Zu internationalen bevölkerungs-/ geschichtswissenschaftlichen Kongressen: Alexander Pinwinkler, Wilhem Winkler (1884–1984) – eine Biographie, Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland, Berlin: Duncker&Humblot 2003, S. 230–257. Zu internationalen Sexualkongressen: Ursula Ferdinand, Die kulturwissenschaftliche Sexualwissenschaft des Ökonomen Julius Wolf (1862–1937), Das Konzept einer sexologischen Bevölkerungstheorie, in: Krassnitzer/Overath, Bevölkerungsfragen, S. 81–106. 29 Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865, Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt: WBG 2009, S. 32ff. Auch vor der Zeit der Mitte des 19. Jahrhunderts existierten durchaus zahlreiche formale und informelle Netzwerke der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Teilen der Welt. Charakteristisch und neu für die Zeit seit 1850 ist der von den zeitgenössischen Akteuren bewusst angestrebte Internationalismus. Zugleich meinte Internationalismus zu dieser Zeit europäisch und Nord-Amerikanisch, aber keinesfalls global. Martin H. Geyer/Johannes Paulmann, Introduction: The Mechanics of Internationalism, in: Dies. (Hrsg.), The Mechanics of Internationalism, Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford: University Press 2001, S. 1–25, S. 2f. und S. 10. 30 Friedich Zahn, 50 Années de l’Institut International de Statistique, Den Haag: Institut International de Statistique 1934, S. 1f. – vom Brocke, Bevölkerungswissenschaft, S. 307.

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mögliche Anzahl von statistischen Daten zu erheben und diese zu vergleichen sowie zum anderen langfristig in wichtigen politischen oder sozialen Bereichen eine internationale Statistik zu etablieren.31 In gewisser Weise waren diese Ziele repräsentativ für die Kongresse dieser Zeit. In den verschiedensten Disziplinen ging es um das Ideal der weltweiten Vollständigkeit von Daten: Die Historiker stießen etwa groß angelegte Vorhaben der Material- und Quellensammlungen an, die Juristen stellten Strafrechtsnormen zusammen, die Mathematiker bibliografische Hinweise zu zentralen Problemen. Auch das Ziel der Vergleichbarkeit zwischen Staaten zeichnete zahlreiche Kongresse aus.32 Im Falle der Etablierung der Internationalen Statistik ging es auch darum, westliche Klassifikations- und Ordnungsmodelle durchzusetzen.33 Allerdings formierten sich auf nationaler Ebene teilweise heftige Widerstände gegen die Internationalen Statistik-Konferenzen: Die offiziöse Durchführung der Kongresse verunsicherte einige Regierungen und rief die Sorge hervor, dass die einzelnen Staaten durch die internationalen Kongresse in ihrer Souveränität eingeschränkt werden könnten.34 Als Quételet mit einer Reihe von Kollegen versuchte, durch eine permanente Kommission in Stockholm eine Formalisierung und institutionelle Verfestigung der Kongresse durchzusetzen, eskalierte die Situation: Einige Regierungen widersetzten sich von nun an der weiteren Teilnahme ihrer Wissenschaftler. 1878 versammelte sich die Kommission zum letzten Mal und es kam kein weiterer Kongress mehr zustande. Das Scheitern der Statistikkongresse belegte die ausgeprägte Skepsis der Regierungen gegenüber Institutionalisierungsprozessen in Form der Einrichtung ständiger transnationaler Kommissionen. Gleichwohl hatten die Kongresse bis dato bereits wichtige Impulse dahingehend gebracht, dass sich die Regierungen verstärkt für internationale Bevölkerungsdaten und -statistiken interessierten. Längerfristig existierte darüber hinaus die Statistique Internationale de la Population, eine komplexe Datensammlung, die Quételet und Heuschling im Jahr 1865 zum ersten Mal herausgaben.35 Trotz des Scheiterns kann man sagen, dass um 1880 ein Netzwerk von Aktivisten existierte, das sich selbst als „Internationale der Statistiker“ wahrnahm und

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Friedrich W. R. Zimmermann, Das Internationale Statistische Institut im letzten Jahrzehnt, in: Allgemeines Statistisches Archiv 7/2 (1914), S. 155. Zahn, 50 Années, 6–8. Sylvia Kesper-Biermann, Problemfeld „Bevölkerung“, in: Dies./Esteban Maurer (Hrsg.), Bevölkerungsfragen in Wissenschaft und Politik, 19. und 20. Jahrhundert, München: A. Dreesbach (erscheint 2011). Herren, Internationale Organisationen, S. 19. Henri Bunle/Claude Levy, Histoire et chronologie des réunions et congrès internationaux sur la population, Paris: INED 1954, S. 14–15. Ibid., S. 12–14

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das den nationalen Regierungen die Notwendigkeit der Transnationalisierung von statistischen Daten nahe bringen wollte. So dauerte es auch nicht lange, bis ein weiterer Versuch gestartet wurde, die Statistik erneut auf internationaler Ebene zu etablieren. Auf Initiative des englischen Foreign Office kam es im Jahr 1885 zur Gründung des Internationalen Statistischen Instituts in London (ISI), einer regierungsunabhängigen Institution, die einen ähnlichen Aufbau wie eine wissenschaftliche Akademie aufwies. 36 Das ISI besteht bis heute.37 Die „Internationale der Statistiker“ konnte sich also längerfristig über alle Skepsis hinwegsetzen und etablieren; sie verstand sich selbst als neutral und gewann mit der Gründung des ISI zusätzlich an Selbstbewusstsein.38 Das Selbstverständnis der Statistiker als politisch neutrale scientific community spielte für die Bevölkerungsforschung längerfristig eine wichtige Rolle.39 In dieser take-off-Phase der Internationalisierung wissenschaftlicher Kongresse griff der Schwiegersohn Achille Guillards, und zwar der Mediziner Louis-Adolphe Bertillon, die Überlegungen Guillards im Jahre 1873 erneut auf und versuchte, die Demografie als eigenständige Disziplin in Frankreich zu etablieren und sich explizit der Erforschung der aus seiner Sicht zentralen demografischen Variabeln zu beschäftigen. Die Chance dazu bot sich nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, nachdem Bevölkerungsfragen neue Brisanz erlangt hatten. In Kontexten der Angst vor der so genannten dépopulation und der Durchsetzung der wissenschaftlichen Konzeption der französischen Bevölkerung als einem bedrohtem Kollektiv gelang es Bertillon, einen Universitätskurs und eine Zeitschrift zu demografischen Fragen im engeren Sinne zu etablieren.40 In Frankreich herrschte ein Klima der Unsicherheit vor dem sogenannten Erzfeind Deutschland, der – so ein zentrales Thema der Zeit – den Krieg nicht zuletzt aufgrund seiner Soldaten36 37 38 39

Ibid., S. 16–19 www.isi-web.org. (Januar 2011). Zahn, 50 Années, S. 44. Eric Brian verweist für die Internationalen Statistikkongresse darauf, dass sie zugleich politisch und gelehrt sind, dass die Aufteilungen zwischen beiden Sphären ein permanentes Thema der Kongresse selbst darstellte und sich von Sitzung zu Sitzung verschieben konnten. Eric Brian, Y a-t-il un objet Congrès? Le cas du Congrès international de statistique (1853–1876), in: Cahiers Georges Sorel 7/1 (1989), S. 9–22, S. 21. Die Ausbreitung der Vorstellung einer „reinen Wissenschaft“ setzte sich im 19. Jahrhundert allgemein durch: „Le discours de la science pure, notamment, a pris sa forme définitive au XIXe siècle, moment à partir duquel il a joué un rôle culturel décisif. […] Réussissant à occulter l’insertion réelle des savants dans le monde, il a aidé à positionner la ,civilisation occidentale‘ comme supérieure.“ Dominque Pestre, Science, Argent et Politique, Un essai d’interprétation, Paris: INRA 2003, S. 20. 40 Libby Schweber, Disciplining Statistics, Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham, London: Duke University Press 2006, S. 67ff.

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masse habe gewinnen können. Dem wollten Bertillon und zahlreiche Kollegen mit einer Reihe von Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang begegnen.41 In diesem politischen Klima versuchte Bertillon, die Demografie auch auf internationalem Parkett zu verankern. Er klinkte sich in die Internationalen Hygienekongresse ein und verwandelte diese 1878 in die Internationalen Hygiene- und Demografiekongresse. Durch den Schulterschluss mit der Hygienebewegung hoffte Bertillon, mehr Wissenschaftler und größere Aufmerksamkeit für demografische Fragen zu gewinnen, und damit nicht zuletzt auch zur besseren Positionierung seiner eigenen wissenschaftlichen Aktivitäten beizutragen. Mit dem Tode Bertillons im Jahre Tod 1882 starb auch das Projekt zur Institutionalisierung und Internationalisierung explizit demografischer Fragen. Die Kongresse fanden zwar noch bis 1912 alle zwei Jahre statt, die Demografie wurde allerdings wieder von Forschungen zur Hygiene verdrängt und spielte eine zunehmend randständige Rolle.42 Das hatte mittelfristig bedeutsame Auswirkungen: Noch bis in die 1930er Jahre hinein blieb die Gemeinschaft von Wissenschaftlern klein und marginal, die sich weltweit mit im engeren Sinne demografischen Fragen, oder – wie es später hieß – „reiner Demografie“ beschäftigten.43 Bevölkerungsfragen im weiteren Sinne, allen voran die Erforschung der ökonomischen, sozialen, kulturellen oder moralischen Ursachen für den im internationalen Vergleich auffällig ausgeprägten Geburtenrückgang sowie Migrationsentwicklungen, blieben in Frankreich und darüber hinaus jedoch durchaus heftig diskutierte Themen.44 Bis zum ersten Weltkrieg wurde Bevölkerungswissen an den Schnittstellen von verschiedenen Disziplinen ausgehandelt: Auf transnationaler Ebene behandelten neben Statistikern auch Eugeniker, Historiker, Sexualwissenschaftler und Soziologen diverse Bevölkerungsfragen, ohne jeweils ein Deutungsmonopol be-

41 Positive Anreize zur Geburtensteigerung sollten zum Beispiel staatliche finanzielle Hilfsprogramme für Familien garantieren. Rückblickend: Henry Clément, La dépopulation en France, ses causes et ses remèdes, D’après le travaux les plus récents, Paris: Bloud 1907. 42 Bunle/Levy, Histoire, S. 14–15. 43 Die Forschung strukturierte sich rund um das Untersuchungsobjekt „Bevölkerung“. Entsprechend spricht die historische Forschung auch erst für die Zeit um 1945 von der Begründung der Demografie in Frankreich. Maßgeblich war dabei die Rezeption des Modells von Alfred Lotka, das dem Fach eine eigenständige theoretische Fundierung verschaffte. Paul-André Rosental, L’intelligence démographiques, Sciences et politiques des populations en France (1930–1960), Paris: Odile Jacob 2003, S. 244ff. 44 Petra Overath, Zwischen Krisendeutung und Kriegszenarien, Bevölkerungspolitische Vorstellungen in Deutschland und Frankreich (1870–1918), in: Petra Overath/Daniel Schmidt (Hrsg.), Volks-(An)Ordnung, Einschließen, ausschließen, einteilen, aufteilen! Comparativ 13 (2003), S. 65–79.

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anspruchen zu können.45 Diese Breite von Problemwahrnehmungen, die rund um das Untersuchungsobjekt „Bevölkerung“ angesiedelt war, sowie die verschiedenen disziplinären Zugriffe darauf, trugen zu einer Multiplizierung bevölkerungswissenschaftlicher Wissensfelder bei. Die Motive der Akteure, die eine Transnationalisierung von Bevölkerungswissen vorantrieben waren unterschiedlich. Zum einen ging es um die persönliche Positionierung im nationalen Feld. Zum anderen ging es aber auch ernsthaft um die Internationalisierung von Bevölkerungsforschung und -statistik. Ähnlich wie in anderen wissenschaftlichen Feldern der Zeit etablierten sich scientific communities, die sich im „Zeitalter des europäischen Nationalismus“ grenzübergreifend vernetzten.

3.  Die Trennung von Wissenschaft und Politik als Diskursstrategie: Die International Union for the the Scientific Investigation of Population Problems (1928) Nach dem Ersten Weltkrieg standen Bevölkerungsfragen mit besonderer Brisanz auf der politischen Agenda verschiedener europäischer Nationalstaaten. Es flammten immer wieder Diskussionen über die zahlreichen kriegsbedingten Menschenverluste sowie über den verstärkten Geburtenrückgang in den Industrienationen auf.46 Auch der sogenannte qualitative Zustand der Bevölkerung wurde intensiv debattiert. Die Diskussionen lassen sich – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – in Europa sowie in Nord- und Südamerika gleichermaßen nachweisen.47 In den 1920er Jahren verdichtete sich schließlich vor allem in Europa und Nordamerika ein Netzwerk von wissenschaftlichen Akteuren, das die internationale Zusammenarbeit in Bevölkerungsfragen einforderte. Dabei ging es nicht nur um den Geburtenrückgang in den Industrienationen, sondern auch um die andere Seite der Medaille von Bevölkerungsfragen, und zwar um die Übervölkerung des sogenannten Südens. Als Problemregionen wurden Afrika, China und Indien identifiziert, vor allem wegen der hohen Geburtenraten, der damit verbundenen angeblichen Kriegsgefahren sowie wegen den vermeintlichen

45 Vgl. Anmerkung 28. 46 Matthew Connelly, Fatal Misconception, The Struggle to Control World Population, Cambridge/London: Belknap Press of Harvard University Press 2008 S. 46ff. 47 Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 188ff, 286ff. Patrick Krassnitzer, „Le meilleur fourrier de l’Hitlérisme“: George Montadon und die französische Eugenik 1930–1944, in: Overath/ Krassnitzer, Bevölkerungsfragen, S. 155–182.

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Gefährdungen für die sogenannte „weiße Rasse“.48 Insgesamt lässt sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Trend zur Politisierung der Reproduktion – und zwar in beide Richtungen, der Steigerung und Verhinderung – auf internationaler Ebene beobachten. Dieser Politisierungsschub trug zur Einberufung der ersten Weltbevölkerungskonferenz in Genf 1927 bei, auf der die Gründung der Union beschlossen wurde.49 Ähnlich wichtig, wie Quételet für die Statistikkongresse und Bertillon für die Hygiene- und Demografiekonferenzen gewesen war, so war auch hier eine äußerst engagierte Persönlichkeit zentral für die Einberufung der ersten Weltbevölkerungskonferenz.50 Diese ging in hohem Maß auf das Engagement der Amerikanerin und Geburtenkontroll-Befürworterin Margaret Sanger (1883–1966) zurück. Sanger, Krankenschwester und politische Aktivistin, hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg das Projekt verfolgt, Geburtenkontrolle als wirksames Instrument zur Verbesserung der Situation von Frauen zu propagieren. Gleichzeitig verfolgte sie mit den Praktiken der Geburtenkontrolle durchaus auch eugenische Ziele. Sanger verfügte über enorme finanzielle Mittel, die ihr zum einen durch ihren wohlhabenden Ehemann zugänglich waren, zum anderen konnte sie Gelder vom Milbank Memorial Fund einwerben. Vor allem aber war Sanger die zentrale Schalt- und Schnittstelle eines weitreichenden Netzwerks von Akteuren und Institutionen – vor allem Kliniken, in denen Geburtenkontrolle praktiziert wurde – in der ganzen Welt.51 In der Gründungsphase der Union und auch in den ersten Jahren ihres Bestehens lassen sich verschiedene Thematisierungen zentraler Akteure zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Bevölkerungsforschung unterscheiden.

48 Connelly, Fatal Misconpetion, S. 49ff. 49 Margaret Sanger (Hrsg.), Proceedings of the World Population Conference, London: Edward Arrnold & Co 1927, Announcement. Grundlegend für die Gründungsphase der Union: Ursula Ferdinand, Die NS-Bevölkerungswissenschaft und -politik im Spiegelbild des internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Kongresses in Paris 1937, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 32/1-2 (2007), S. 263–288. Kühl, Die Internationale, Edmund Ramsden, Carving up Population Science: Eugenics, Demography and the Controversy over the „Bioglocial Law“ of Population Growth, in: Social Studies of Science, 32 (2002), S. 857–899. 50 Die herausragende Bedeutung von Einzelperson für das Initiieren der internationalen Kongresse stellte ein allgemeines Phänomen der Zeit dar: Herren, Internationale Organisationen, S. 42ff. 51 Connelly, Fatal Misconcpetion, S. 50ff.

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3.1  „Wissenschaftliche Neutralität“ versus „politischer Aktivismus“ – Die Formierung einer Identität als Bevölkerungswissenschaftler (USA) Bei der Gründung der Union spielten die USA, wie bereits durch das Engagement von Sanger deutlich wurde, eine wichtige Rolle. Sanger trat als politische Aktivistin für Bevölkerungsfragen in Erscheinung und versuchte, sich mit Wissenschaftlern zu verbünden. Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin hatte die Bevölkerungsforschung zu dieser Zeit in den USA keine universitäre Rückbindung und es existierte entsprechend keine disziplinär gebundene Identität als Bevölkerungswissenschaftler.52 Sanger wählte daher am Ende der 20er Jahre den Schulterschluss mit den Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, damit diese ihre politischen und anwendungsorientierten Anliegen der Geburtenkontrolle wissenschaftlich unterfüttern und generell unterstützen konnten. Auch wenn sie es schaffte, die Wissenschaftler für ihr „praktisches“ Engagement zusammenzurufen, so war sie letztlich nur sehr bedingt erfolgreich. Es gelang Margret Sanger zwar im Jahr 1927, international anerkannte Wissenschaftler zur Diskussion von „Bevölkerungsfragen“ zusammenzuführen. Das Who’s Who of the Conference zeigt auch, dass es sich dabei in erster Linie um Repräsentanten aus den USA und dem vor allem westlichen Europa handelte.53 In gewisser Weise stellte die Konferenz für Sanger aber auch eine Niederlage dar: Es gelang ihr nicht, die versammelten Wissenschaftler auf die Idee der Geburtenkontrolle einzuschwören. Ganz im Gegenteil: Auf der Tagung wurde vor allem die breite Opposition gegen dieselbe deutlich. Es kam zu heftigen Diskussionen zwischen Natalisten, Eugenikern, Katholiken und positivistisch eingestellten Wissenschaftlern. Der Idee der Geburtenkontrolle konnten jedoch, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, die wenigsten etwas abgewinnen.54 Während Sanger hoffte, „practical action“ gegen wachsende Bevölkerungsteile der Welt zu vereinbaren, also konkret durch Empfängnisverhütung das Wachstum zu bremsen, verabschiedete das Executive Committee der Weltbevölkerungskonferenz unter dem Vorsitz des eugenisch orientierten Biologen Raymond Pearl am 3. September 1927 schließlich eine Resolution, wonach eine ständige internationale Organisation gebildet werden sollte, die „in a purely scientific spirit the prob52 Greenhalgh, The social construction, S. 34. 53 Mit einigen Ausnahmen aus Süd-Amerika, einem Vertreter aus China und Siam. Sanger, Proceedings, S. 363–368. 54 Genauer dazu: Ursula Ferdinand, Bevölkerungswissenschaft und Rassismus, Die internationalen Bevölkerungskongresse der International Union of the Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP) als paradigmatische Foren, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“, Opladen: Leske und Budrich 2004, S. 61–98, S. 65.

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lems of population“ untersuchen sollte.55 Pearl ging es darum, sich von „politischen Aktivisten“ explizit abzugrenzen, in dem er der (internationalen) Bevölkerungsforschung aus strategischen Gründen das Label der „reinen“ Wissenschaftlichkeit zuschrieb.56 Zugespitzt formuliert: Nach innen handelte es sich darum, im Führungskampf zwischen praktizierter Geburtenkontrolle und biologisch orientierter Eugenik die Oberhand zu gewinnen. Das schien erreichbar, indem nach außen vermittelt wurde, die Arbeit der Union sei nicht anwendungsorientiert-politisch ausgerichtet, sondern vor allem theoretisch-wissenschaftlich. Den Frontstellungen der Zeit entsprechend hitzig fielen im Vorfeld der Gründung der Union die Diskussionen zwischen Eugenikern, Natalisten und Neomalthusianern über den aus der jeweiligen Sicht „richtigen“ Umgang mit Bevölkerungsfragen aus. Aufgrund der Streitigkeiten spalteten sich schließlich unterschiedliche internationale Bewegungen vom Formierungsfeld der Union ab: Da war zum einen das Comité international pour la vie et la famille, eine religiös und explizit gegen Geburtenkontrolle ausgerichtete Vereinigung. Auch Sanger wurde aus dem Gründungskomitee der Union herausgedrängt. Sie engagierte sich fortan im Birth Control International Information Center. 57 Schließlich profitierte der amerikanische eugenisch orientierte Biologe Raymond Pearl von der Situation und lud zur konstituierenden Sitzung der Union nach Paris ins Musée Social ein. Pearl schlug aus taktischen Gründen vor, weltanschaulich-politische Differenzen, die viele mit Sangers politischem Aktivismus verbanden, durch wissenschaftliche Forschungen zu umgehen und berief renommierte Bevölkerungsforscher aus den Bereichen der Biologie, Anthropologie, Soziologie, Statistik, Ökonomie, Geschichte, Medizin und Hygiene ein.58 Seine Diskursstrategie bestand darin, wissenschaftliche Neutralität positiv von politischem Engagement abzuheben. Insgesamt waren auf der konstituierenden Sitzung der Union 35 Gründungsmitglieder aus zwölf Staaten anwesend, wobei der geografische Schwerpunkt auf Europa und Nordamerika lag.59 Diese Konstellation war mehr oder weniger 55 56 57 58

Sanger, Proceedings, Announcement, S. 361. Greenhalgh, The social construction, S. 30ff. Connelly, Fatal Misconception, S. 84ff. Ferdinand, Bevölkerungswissenschaft, S. 71ff. Rosental, L’intelligence démographique, S. 176–178. 59 Ein Vertreter kam darüber hinaus aus Südamerika: Das Statut der Union ist abgedruckt im Interim Report of the Proceedings of the First General Assembly of the International Union for the Scientific Investigation of Population Problems, in: Journal of the American Statistical Association 23/163 (1928), S. 306–317, S. 306. Allerdings sollten auch Argentinien, Japan, Brasilien, Russland und einige andere Staaten problemlos Mitglied werden dürfen, sofern sie zum ersten oder zweiten Treffen der Union nationale Komitees entsenden würden. Ibid., S. 308.

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„typisch“ für die Internationale Kongressbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg: Bisherige Forschungen haben gezeigt, dass die Kongresse bis dahin vor allem europäisch-, genauer westeuropäisch-, nordamerikanische Angelegenheiten blieben.60 Die Union wurde in einer Phase gegründet, in der allgemein eine Professionalisierung des Kongresswesens zu beobachten ist. Während die Organisation der Tagungen vor dem Ersten Weltkrieg oftmals in der Hand von engagierten Einzelpersonen lag, war seit den 1920er Jahren ein Trend hin zur Einrichtung von ständigen Büros oder Komitees zu beobachten, die eine kontinuierliche Verwaltungstätigkeit sicher stellen.61 Das galt auch für den Aufbau der Union, bei der es sich um eine semioffizielle Institution handelte, d.h. die Union ist nicht auf der Grundlage eines staatlichen Gründungsakts ins Leben gerufen worden. Die ständigen Verwaltungsorgane waren im Prinzip regierungsunabhängig, aber über die nationalen Delegationen, die jedes Mitgliedsland einrichten mussten, konnten die Regierungen zugleich wieder Einfluss auf politisch-wissenschaftliche Konstellationen ausüben. In Deutschland bestimmte die Regierung zum Beispiel die Beschickung der nationalen Delegation maßgeblich mit. In den USA hingegen waren dafür die nationalen Forschungsräte zuständig. Im Einzelnen bestand die Union aus einer Generalversammlung, zu der die Mitglieder der nationalen Komitees gehörten, die vor allem für die wissenschaftliche Richtung der Union verantwortlich war. Das Executive Komitee, gebildet aus einem Präsidenten und drei Vize-Präsidenten, bereitete die Budgetplanung vor und legt sie dem Delegiertenrat vor. Der Delegiertenrat bestand aus je einem Repräsentanten der nationalen Komitees und überwachte das Budget und die Ausführung der Entscheidungen, die die Generalversammlung traf. Dem ständigen zentralen Verwaltungsbüro oblag die administrative Arbeit. Finanziert wurde die Union im Wesentlichen durch die Mitgliedsländer;62 kurz nach ihrer Gründung genoss sie zudem für begrenzte Zeit finanzielle Hilfen aus den USA, die zugleich immer wieder in Frage gestellt und für politischen Druck genutzt wurden.63 Das zentrale Ziel der Union formulierten die Gründungsmitglieder wie folgt: „The purpose of the Union is to develop scientific studies pertaining to the problems of population, and particularly:

60 Kesper-Biermann, Problemfeld. 61 Ibid. 62 Interim Report of the Proceedings of the First General Assembly of the International Union, S. 308ff. 63 Minutes of the Social Science Research Council, 6. April 1929 aus dem Social Science Reasearch Council Archives (in Kopie beim INED/Paris).

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– To initiate and organize researches which depend upon international coöperation (sic), to provide for the scientific discussion of the results of such researches, and to publish them without duplicating the publications of existing international statistical agencies. – To faciliate the establishment of common standards for the collection, tabulation and analysis of data regarding human populations, including not only demographic, but also agricultural, economic, sociologic, and biologic data in the broadest sense. – To serve as a clearing house for the interchange of information about population, for the purpose of facilitating researches. – To coöperate (sic) to the fullest extent with other organizations of a scientific character having similar objects. – The Union confines itself solely to scientif investigation in the strict sense, and refuses either to enter upon religious, moral or political discussion, or as a Union to support a policy regarding population, of any sort whatever, particularly in the direction either of increased or of diminished birth-rates.“64

Das Statut reflektiert deutlich die konfliktreichen Aushandlungsprozesse über den Zugang zum Untersuchungsobjekt „Bevölkerung“ in der Zeit zwischen Weltbevölkerungskonferenz und Gründung der Union. Das zeigt sich etwa in der Strategie der beteiligten Akteure, der Union als zentralem Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen international tätigen Institutionen „wissenschaftliche Neutralität“ zuzuschreiben. 3.2  Legitimationsprobleme der Union aufgrund disziplinärer Unschärfe und Konkurrenzen Von der Gründung bis in die 1930er Jahre hinein drohte die Union allerdings angesichts von Legitimationsproblemen sowie vor dem Hintergrund differenter nationaler wissenschaftlicher und politischer Stile zu zerbrechen. Zentral war dabei, wie bereits dargelegt, die Rolle der USA, die als zentraler Geldgeber besonders wichtig für das Gelingen der Union über den Gründungsakt hinaus war.65 Es entwickelten sich massive Konflikte im Vorfeld der Organisation der ersten Union-Konferenz, die für das Jahr 1931 in Rom vorgesehen war. Zunächst gab es Verzögerungen bei der Bildung des amerikanischen nationalen Komitees, das in den USA vom Social Science Research Council (SSR) in Kooperation mit dem National Research Council, also den zwei zentralen Forschungskoordinations-Organisationen, eingerichtet werden sollte. Ein Grund dafür war, dass die Union als 64 Interim Report of the Proceedings of the First General Assembly of the International Union, S. 308. 65 Greenhalgh, The social construction, S. 30.

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überflüssig eingeschätzt wurde, weil ihr wissenschaftliches Programm bereits von anderen internationalen Institutionen abgedeckt sei. Der Präsident des SSR, der Statistiker Edwin B. Wilson, äußerte grundsätzliche Zweifel an der Kohärenz „der Bevölkerung“ als Forschungsobjekt. Im November 1930 schrieb er an den Biologen Raymond Pearl, also an den ersten Präsidenten der Union, dass es noch unsicher sei, ob sich das nationale Komitee bis zum nächsten Kongress in Rom gebildet habe und dass er überhaupt die Relevanz des Forschungsobjekts „Bevölkerung“ bezweifle: „What seems to me doubtful is wether population is a subject which can cohere.“66 Die beiden nationalen Forschungsorganisationen standen der Union anfänglich grundsätzlich ablehnend gegenüber: Die Protokolle ihrer Verhandlungen belegen, dass die Gründung der Union gar in mehrfacher Sicht als „schwerer Fehler“ bezeichnet wurde. Im November 1930 schickte Wilson als Repräsentant des SSR einen Brief an Pearl mit umfangreichen Anlagen. Diese umfassten unter anderem einen Zusammenschnitt anonymer Stellungnahmen zur Union, verfasst von verschiedenen amerikanischen Bevölkerungsexperten. Die Positionen decken ein durchaus breiteres Spektrum von Haltungen ab, der allgemeine Trend ist allerdings eher negativ und eindeutig ablehnend: „What future has the Union as a research body? Practically non.“ Vor allem ein Argument findet sich zur Belegung dieser These mehrmals: Die Union sei schlicht überflüssig, weil ihre Datenerhebungen und -interpretationen in Konkurrenz zu den Vereinten Nationen und zum International Statistical Institute träten, die auf diesem Gebiet bereits seit vielen Jahren gute Arbeit leisteten.67 Aus dieser Perspektive gab es im Prinzip keinen Bedarf für eine weitere internationale Institution für Bevölkerungsforschung. 3.3  Die Union in den 1930er Jahren: Eine internationale Plattform zur Verhandlung von politischen und wissenschaftlichen Selbstverständnissen Der Anspruch der „reinen Wissenschaftlichkeit“ beim Aufbau der Union resultierte nicht nur aus den Abgrenzungsbestrebungen gegenüber politischen Aktivisten sowie dem Aufbau einer disziplinären Identität als Bevölkerungsforscher in den USA.68 Seit Gründung der Union wurde auch ein subtiler Machtkampf darü66 Brief von Wilson an Pearl vom 8. November 1930, S. 3. (Kopie aus der American Philosophical Society Library beim INED/Paris). 67 Ibid., Appendix VIII, S. 41ff. (Kopie aus der American Philosophical Society Library beim INED/Paris). 68 Zunächst kritisierten Vertreter der beiden Councils, dass die Union ein Kopf ohne Unterbau sei, weil es in den USA keine Universitätskurse, keine Studenten und auch keine Fachzeitschriften zur Bevölkerungsforschung gebe. Ibid., S. 45. Den mit der Gründung

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ber ausgetragen, wer als Wissenschaftler die Deutungsmacht über Bevölkerungsfragen beanspruchen konnte. Mit der Transnationalisierung des Wissensobjekts Bevölkerung im Rahmen der Union konstituierten sich komplexe Diskursstrategien, in denen es darum ging, Grenzen zwischen den verschiedenen eugenischen Strömungen der Zeit zu ziehen. Eine umstrittene Frage war dabei die nach der Anwendungsorientierung der Forschung.69 Die Union stellte eine wichtige Plattform für diese Aushandlungsprozesse und Grenzziehungen dar, nicht zuletzt weil hier Wissenschaftler verschiedener politischer Systeme aufeinander trafen.70 In diesen Aushandlungsprozessen lassen sich grob zwei Phasen unterscheiden. Phase I: Die Kritik am ersten Präsidenten-Duo der Union Kurz nach Gründung der Union intensivierte sich die Diskussion darüber, ob Bevölkerungsfragen eher den Sozialwissenschaften oder der Biologie zuzuordnen seien. Darüber hinaus geriet die faschistische Bevölkerungspolitik Italiens zunehmend in die Kritik. Beide Aspekte spiegeln sich in der Kritik am ersten Präsidenten-Duo der Union wider. Anonyme US-amerikanische Gutachter befanden einen Biologen an der Spitze der Union ebenso als Fehlbesetzung, wie den Statistiker Corrado Gini als Vize-Präsident: „Gini’s defense of Fascim’s population policies was either so naive as to disqualify him as an informed student or so slavish as to classify him as an ambitious politician rather than a scientist.“71

Die Mitglieder der beiden nationalen Councils in den USA stemmten sich gegen das Präsidentschafts-Duo der Union. Sie zogen die wissenschaftliche Kompetenz des Biologen Pearl als Präsidenten und Bevölkerungsexperten in Zweifel und jene des Italienischen Vize-Präsidenten, Corrado Gini, aus politischen Gründen. Beide Präsidenten zusammen, so das Urteil führender Vertreter der Councils, würden die Union über kurz oder lang in den Ruin führen.72 Im Zitat wird deutlich, dass von einer klaren Trennung zwischen (faschistischer) Bevölkerungspolitik und „den Wissenschaften“ ausgegangen wurde. Wer sich, wie Gini, als aktiver

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der Population Association of America im Jahr 1931 beginnende Ausbau der institutionellen amerikanischen Bevölkerungsforschung analysiert Greenhalgh, Social Construction, S. 34f. Edmund Ramsden, Carving up Population Science: Eugenics, Demography and the Controversy over the „Bioglocial Law“ of Population Growth, in: Social Studies of Science, 32 (2002), S. 857–899, S. 872ff. Kühl, Die Internationale, S. 102. Brief von Wilson an Pearl vom 8. November 1930, S. 3. (Kopie aus der American Philosophical Society Library beim INED/Paris), Appendix 8, S. 40 ff. Ibid.

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Bevölkerungspolitiker offenbarte, dem wurde die Kompetenz als Wissenschaftler abgesprochen. Die Situation spitzte sich weiter zu: Im September 1930 teilt Wilson VizePräsident Gini schriftlich mit, dass sich die beiden Councils grundsätzlich weigerten, ein nationales Komitee einzurichten, weil die Union keinerlei wissenschaftlichen Mehrwert biete und der Direktor als Biologe die falsche Profilierung für Bevölkerungsfragen mit sich bringe, denn diese seien den Sozialwissenschaften zuzuordnen.73 Wilson sprach ferner offen an, dass seine Kollegen Ginis faschistische bevölkerungspolitischen Vorstellungen missbilligten.74 Die Amerikaner boykottierten sodann die Rom-Konferenz von 1931. Pearl, der Ginis’ bevölkerungspolitische Ansichten ebenfalls nicht teilte, trat zurück – offiziell wegen Überarbeitung.75 Kurzerhand verlegte man den Austragungsort der ersten UnionKonferenz nach London, wo sie im Juni 1931 stattfand. Gini und das italienische Komitee zogen sich daraufhin aus der Union zurück. Frank H. Hankins setzte sich während der Londoner Konferenz in seinem Vortrag „Has the Reproductive Power of Western People declined?“ explizit und kritisch mit Ginis’ biologischer Theorie zur Degeneration von Keimzellen auseinander, in der Bevölkerungswachstum als ein sich selbst-regulierender biologischer Prozess konzipiert war. Hankins, selbst als Biologe ausgebildet, erklärte die veränderte Fruchtbarkeit dagegen mit einer biologischen Anpassungsleistung an neue zivilisatorische Erfordernisse.76 Zehn Monte später hielt Gini als Gegenveranstaltung zu London die Konferenz in Rom wie ursprünglich geplant ab. Gini nutzte den Kongress zur positiven Selbstdarstellung des faschistisch regierten Italien und dokumentierte die Ergebnisse in 10 monumentalen Bänden. Einzelne Wissenschaftler brachten kritische Positionen in Rom ein, wie etwa der amerikanische Ökonom Joseph J. Spengler: Er verknüpfte seine wissenschaftlichen Ausführungen mit der Warnung, Bevölkerungsstudien nicht militaristisch oder nationalistisch aufzuladen.77 73 Brief vom 12. September 1930, Wilson an Gini, (Kopie aus der American Philosophical Society Library beim INED/Paris). 74 Brief vom 3. Juli 1930, Wilson an Gini, (Kopie aus der American Philosophical Society Library beim INED/Paris). 75 Minutes of the Committee on Problems and Policiy, 19.–30. August 1929, Appendix V, S. 57 (Kopie aus dem INED/Paris). 76 Problems of Population, Beeing the Report of the Proceedings of the second Assembly of the International Union for the Scientific Investigation of Population Problems, Hrsg. Von G.H.L.F. Pitt-Rivers, London: George Allen 1932, S. 181–188. Ramsden, Carving up, S. 869. 77 Joseph J. Spengler, The Social and the Economic Consequences in Population Growth, in: Atti del Congresso Internazionale per Gli Studi della Popolazione, Hrsg. v. Corrado Gini, Vol. VI, Rom 1932, S. 18–33, S33.

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In der konfliktreichen Anfangsphase der Union lässt sich eine aktive Diskreditierung der Biologie als Leitwissenschaft für die Bevölkerungsforschung beobachten. An die Stelle der als ideologisch und deterministisch eingestuften Biologie sollten die Sozialwissenschaften treten. Darüber hinaus zirkulierte eine relativ diffuse Kritik an faschistischer Bevölkerungspolitik. US-amerikanische Bevölkerungswissenschaftler vertraten die These, dass aktive (faschistische) Bevölkerungspolitik nicht mit wissenschaftlichen Ansprüchen vereinbar sei. Ziel dieses Vorgehens war es, sich von faschistischer Bevölkerungspolitik abzugrenzen und sich damit zugleich die Option auf eugenisch orientierte Maßnahmen offenzuhalten.78 Phase II: Die Konferenzen von Berlin (1935) und Paris (1937) Zur Zeit der Berliner Konferenz der Union im Jahre 1935 war die „Internationale der Bevölkerungswissenschaftler“ nunmehr mit einer wesentlich radikaleren Variante von Bevölkerungspolitik konfrontiert als noch Anfang der 1930er Jahre. Bis zum Berliner Kongress hatte das NS-Regime bereits die Gesetze zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sowie zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft gesetzt.79 Eine deutsche Delegation war bereits früh in die Union integriert worden. Im Mai 1929 hatte Raymond Pearl den deutschen Mediziner, Anthropologen und Rassenhygieniker Eugen Fischer nach Paris eingeladen, weil kein Repräsentant aus Deutschland bei der konstituierenden Sitzung der Union zugegen gewesen war. Pearl wollte von Fischer wissen, welche Haltung Bevölkerungsexperten in Deutschland zur Union einnähmen, womit er nicht zuletzt auch seine Wertschätzung für Bevölkerungswissenschaftler aus Deutschland zum Ausdruck brachte. Bei dem Treffen in Paris versicherte Fischer, dass der Repräsentant für Deutschland zum Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung erkrankt gewesen war und daher nicht anwesend sein konnte. Das Interesse an der Union sei von deutscher Seite in jedem Fall groß. Fischer stellte Pearl die Mitglieder der deutschen Delegation vor, deren Vorsitz er selbst übernahm. Zu diesem Zeitpunkt gehörten der Delegation Erwin Baur, Alfred Grotjahn, Friedrich Burgdörfer, Friedrich Zahn,

78 Ramsden, Carving up, S. 877. 79 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933/geändert durch Gesetz vom 23. Juni 1933 (RGBl. I. S. 389, ber. S. 514), Gesetz vom 20. Juli 1933 (RGBl. I. S. 518), Gesetz vom 22. September 1933 (RGBl. I. S. 655), Gesetz vom 22. März 1934 (RGBl. I. S. 203), Gesetz vom 11. Juli 1934 (RGBl. I. S. 604), Gesetz vom 26. September 1934 (RGBl. I. S. 845), durch das Deutsche Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 (RGBl. I. S. 39) weitgehend aufgehoben. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GezVeN) vom 14. Juli 1933 (RGBl. I, S. 529) trat am 1. Januar 1934 in Kraft.

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Fritz Lenz, Hans Harmsen, Paul Mombert, Robert R. Kuczynski, Julius Wolf sowie Hermann Muckermann an.80 Bereits auf dem Kongress in London 1931 war Berlin als Austragungsort für die nächste Union-Konferenz festgelegt worden. Bis zur Berliner Konferenz 1935, also zwei Jahre nach der NS-Machtergreifung, waren zentrale Akteure des deutschen Komitees, die nun als Juden verfolgt wurden, bereits aus dem aktiven Berufsleben verdrängt worden: Paul Mombert, Julius Wolf und Hermann Muckmann wurden zwangsentlassen bzw. zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Robert R. Kuczynski sah sich gezwungen, ins Exil nach London zu gehen.81 Ziel des Berliner Kongresses war von deutscher Seite, die international teilweise heftig kritisierte nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik in ein positives Licht zu rücken. Entsprechend war eine stark erbbiologische, radikal eugenische Ausrichtung der Vorträge auf dem Kongress vorgesehen. Darüber hinaus galt die Einberufung internationaler Konferenzen und generell die Ansiedlung internationaler Organisationen in Deutschland als zentral für die NS-Politik, um sich internationales Prestige zu verschaffen. Die Jahresberichte der Deutschen Kongress-Zentrale, die diese Aktivitäten maßgeblich mitkoordinierte, belegen, dass aus deutscher Sicht Italien und Frankreich als größte Konkurrenten bei der Ansiedlung internationaler Organisationen gesehen wurden.82 Vor allem Frankreich galt darüber hinaus traditionell als Konkurrent, Feind- und Abgrenzungsfolie für bevölkerungspolitische Maßnahmen.83 Wie verhielten sich die internationalen Wissenschaftler zu dieser deutlich propagandistisch geprägten Veranstaltung in Berlin, die von einem offenkundig menschenverachtenden Regime organisiert wurde? Das amerikanische Komitee boykottierte die Konferenz. Die Teilnehmerzahl war etwas geringer als auf dem Kongress 1931. Es nahmen die Komitees Frankreichs, der Niederlande, Großbritanniens, Italiens, der Tschechoslowakei, Schwedens und Polens teil. Insgesamt waren etwa 500 Teilnehmer aus 38 Staaten zu verzeichnen, wobei fast 300 allein 80 Minutes of the Committee on Problems and Policy, 19.–30. August 1929, Appendix V, S. 61, (Kopie aus dem INED/Paris). 81 Ursula Ferdinand, Die NS-Bevölkerungswissenschaft und -politik im Spiegelbild des internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Kongresses in Paris, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 32/1–2 (2007), S. 263–288, S. 265 und S. 279, Fußnote 3. 82 Jahresbericht der Deutschen Kongress-Zentrale 1938, (Maschinenschriftliches Manuskript), S. 18f. und S. 23. 83 Schon kurz nach dem Krieg wird aus einer Perspektive, die das ausgeprägte Rivalitätsdenken von deutscher Seite Frankreich gegenüber belegt, eine umfassende Denkschrift zur bevölkerungswissenschaftlichen Forschung in Frankreich erstellt von Melzer, in: BArch, R164/292 (Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung), ohne Datierung, es liegt ein Zettel von Eugen Fischer vom 31.7.1951 bei.

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aus Deutschland stammten.84 Zu den zentralen Themen des Kongresses zählten die Ursachen des Geburtenrückgangs sowie der sogenannten Bevölkerungsbewegungen, womit Veränderungen der Gesamtbevölkerung eines Gebiets aufgrund von Verschiebungen im generativen Verhalten oder aufgrund von Mobilität gemeint waren. Es gab auch durchaus Kritik an der NS-Bevölkerungspolitik, vor allem am Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sowie an den Zwangssterilisationen. Allerdings war, so geht aus einem Bericht von David V. Glass zur Konferenz hervor, der Raum für Diskussionen und damit auch für Kritik zeitlich erheblich eingeschränkt.85 In Reaktion auf die 1935er-Konferenz beschloss der Union-Vorstand lediglich, die „wissenschaftlichen Standards“ der Union für die 1937 in Paris geplante Tagung explizit hochzuhalten; es wurde aber weder über einen Ausschluss Deutschlands aus der Union, noch über andere Sanktionsmaßnahmen wegen des propagandistischen Charakters der Veranstaltung diskutiert, der eindeutig gegen die Statuten verstoßen hatte.86 In Reaktion auf die Entwicklungen in Deutschland verschoben sich die wissenschaftlichen Felder auch in den USA. Radikale Eugenik war nunmehr diskreditiert.87 Zugleich verstärkte sich die Kritik an den NS-Bevölkerungswissenschaften bis zum Kongress des Jahres 1937 in Paris. Auf diesem Kongress waren die Zukunft der „weißen Rasse“ sowie der zivilisierten Welt ein zentrales Thema der bevölkerungswissenschaftlichen Diskussionen. An dem Kongress in Paris nahmen etwa 350 Wissenschaftler teil. Bereits im Vorfeld der internationalen Konferenz übten die französische Vereinigung Races et Racisme oder der nach New York emigrierte Franz Boas scharfe Kritik an der Rassengesetzgebung und Eugenik im nationalsozialistischen Deutschland.88 Die wissenschaftliche Vielfalt und Offenheit der Diskussion war in Paris gewährleistet; an zahlreichen wichtigen Forschungsdiskussionen wie etwa in der Prognostik zukünftiger Bevölkerungsentwicklungen, nahmen Wissenschafter aus Deutschland teil und vertraten einflussreiche Positionen.89 Politische Systeme und Ländergrenzen übergreifend war, wie schon angedeutet, die Sorge um die Stellung der „weißen Rasse“ in der Welt. Allerdings wurde heftig über die Frage ge84 Ferdinand, Bevölkerungswissenschaft, S. 76. 85 David Victor Glass, The Berlin Population Congress and Recent Population Mouvements in Germany, in: The Eugenics Review 27/3 (1935–1936), S. 207–212, S. 207. 86 Ferdinand, Bevölkerungswissenschaft, S. 83. 87 Ramsden, Curving up, S. 877. 88 Ursula Ferdinand, Die NS-Bevölkerungswissenschaft und -politik, S. 268f. 89 Elisabeth Pfeil, Der Internationale Bevölkerungskongress in Paris, 1937, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik, Hrsg. v. Friedrich Burgdörfer u.a., VII (1937), S. 288–301, S. 290.

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stritten, ob diese Frage in erster Linie sozial oder biologisch zu klären sei. In dieser Debatte trugen die Referenten eine große Spannbreite von wissenschaftlichen Argumentationen vor, in denen die Einschätzungen der Bedrohungsszenarien für Europa oder für die westliche Welt durchaus unterschiedlich ausfielen. Der Soziologe Maurice Halbwachs vertrat etwa eine optimistische Position, indem er zu dem Schluss kam, dass zum Zeitpunkt der Konferenz drei Viertel der Weltbevölkerung in der „alten“ Welt (Europa und Asien) und weniger als ein Achtel in Nord- und Südamerika lebten. Der Bevölkerungszuwachs in den letzten 200 Jahren sei vor allem aus Europa gespeist. Langfristig seien es vor allem gestaltbare soziale Faktoren, die sich auf die weitere demografische Entwicklung in Europa auswirkten.90 Halbwachs war Mitarbeiter in dem Projekt der Encyclopédie française. Konkret vertrat er darin die These, dass Rassen nicht real existent seien, weil sich Völker durch ununterbrochene Vermischungen von Bevölkerungen bildeten. Entsprechend untersuchte er die Lebensweise der Europäer und die Frage, wie sich deren berufliches Leben, soziale Kontexte – und eben nicht deren biologische Veranlagungen – auf ihr Reproduktionsverhalten auswirkten.91 Auch andere Referenten, wie Antoni Bohac aus Prag, schätzten vor allem nicht biologische – in diesem Fall aber psychologische und ökonomische – Faktoren als zentral für die abnehmende Fruchtbarkeit der Europäer ein.92 Die „Internationale der Bevölkerungswissenschaftler“ nahm die abnehmende Fruchtbarkeit der Europäer bzw. der so genannten westlichen Welt sehr ernst und lieferte mit der Emanzipation der Frau, der Nervosität durch beruflichen Stress oder dem Willen nach sozialem Aufstieg zahlreiche Erklärungsmomente. Starke Bedenken gab es indes gegen biologisch begründete Rassenkonzepte. In diesem Sinne und explizit gegen die Delegation aus Deutschland und deren Rassentheorien argumentierte zum Beispiel der Arzt und Radiologe Ignaz Zollschan, der sich für eine interdisziplinäre sowie transnationale Expertenkommission aussprach, die am Untersuchungsgegenstand der Theorie der nordischen Rasse die wissenschaftlichen Grundlagen von Rassentheorien überprüfen sollte. Aus der Sicht Zollschans waren tradiertes Erbe und die Umwelt wesentlich zentraler für die Zusammensetzung der Bevölkerung als das biologische Erbgut.93 Ähnlich konse90 Maurice Halbwachs, La population de la terre et des continents, in: Congrès International de la population, Facteurs et conséquences de l’évolution démographiques, Band VII, Paris 1937, S. 1–18, S. 15–17. 91 Eric Brian/Marie Jaisson, Les Races dans l’Espèces Humaine, in: Le Point de Vue du Nombre, 1935, Kritische Edition von Dies., Paris: Institut National d’Études Démographiques 2005, S. 25–51. 92 Ferdinand, Die NS-Bevölkerungswissenschaft, S. 274. 93 Ignaz Zollschan, Die Bedeutung des Rassenfaktors für die Kulturgenese, in: Congrès International, Band VIII, S. 93–105.

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quent wie Zollschan zweifelte auch der Anthropologe Franz Boas die wissenschaftlichen Grundlagen der Rassentheorien an, die er als Fiktionen abtat.94 Drei Monate nach dem Kongress berichtete Falk A. Ruttke in einem vertraulichen Bericht über den Kongress, dass der Programmaufbau in Paris so angelegt gewesen sei, dass die Referenten aus Deutschland isoliert waren und ihre Zuhörerschaft durch spontane Änderungen der Vortragszeit gering gehalten wurde.95 Weitere Maßnahmen der Union gegen die radikal menschenverachtenden Positionen der deutschen Wissenschaftler sind nicht bekannt. Die für 1940 geplante Konferenz in Tokio96 fand wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr statt. 1947 rekonstituierte sich die Union. Aufgrund der Konflikte der 1930er Jahre existierte nach Kriegsende eine etablierte internationale scientific community, die sich – zunächst unter Ausschluss von Deutschland und Italien – schnell wieder organisieren und zusammenfinden konnte. Die wichtigste Reform der Union bestand darin, dass sie keine Länderkomitees mehr aufnahm, sondern ausschließlich Einzelpersonen. Damit sollte die „nationale Unterwanderung“ und Instrumentalisierung der Union zukünftig ausgeschlossen werden.97

4.  Schluss Der historische Überblick hat deutlich gemacht, dass Bevölkerungswissen seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum von Aushandlungsprozessen über politische und wissenschaftliche Selbstverständnisse stand. Er hat gezeigt, dass sich die Konstellationen vielfach wandelten: Die Transnationalisierung von Bevölkerungswissen im 19. Jahrhundert konnte einzelnen wissenschaftlichen Akteuren Ansehen und Prestige verschaffen. Zugleich blieb das Bevölkerungswissen ein boundary object, das von Akteuren verschiedener Disziplinen aufgegriffen und reformuliert wurde. 94 Franz Boas, Heredity and environement, in: Congrès International, Band VIII, S. 83–92, S. 92. 95 Vertrauliches Schreiben von [Falk Alfred] Ruttke (handschriftliche Angabe des Nachnamens) vom 28. November 1937, in: BArch R 4901, 2760, Blatt 204–207, Blatt 205. 96 Ernst Rüdin, Bericht über die Pariser Kongresse 1937 (ohne Datum), in: BArch R 4901, 2760, Blatt 190–200, Blatt 200. 97 Für die Zeit nach 1945 weiterführend: Marc Frey, Neo-Malthusianism and Development: Shifting Interpretations of a Contested Paradigm, in: Journal of Global History 6,1 (2011), (= Special Issue on Global Inequality and Development after 1945, Hrsg. von Alexander Nützenadel and Daniel Speich), zum Zeitpunkt der Drucklegung des Manuskripts noch ohne Paginierung. Patrick Wagner, Im Schatten der „Bevölkerungsbombe“ – die Auseinandersetzungen um eine Weltbevölkerungspolitik (1950–1994), oder: Zeitgeschichte als Weltgeschichte, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 1 (2008), S. 9–26.

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Mit der Gründung der Union als Produkt und Agent einer Politisierung von Wissenschaft auf transnationaler Ebene lässt sich eine Neuordnung des wissenschaftlichen Feldes nachzeichnen: Zwar gestaltete sich die Etablierung der Union als internationale Institution für Bevölkerungsforschung schwierig. Auch dafür lag der Grund in Breite und Unschärfe von Bevölkerungswissen. Die zögerliche Etablierung hing aber auch mit den komplexen Führungskämpfen zwischen Akteuren der verschiedenen politischen und wissenschaftlichen Strömungen der Zeit zusammen. Vor allem aber brachte die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik die Eugenik in Verruf und trug zu Abgrenzungsbestrebungen und einer Neuordnung des breiten Feldes internationaler Bevölkerungsforschung bei. Ohne deren Dimensionen des social engineerings aufzugeben, sahen sich die Vertreter „der angelsächsischen Eugenik“ herausgefordert, der Bevölkerungsforschung ein neues Image zu verschaffen. Eine zentrale Diskursstrategie bestand darin, die These zu vertreten, dass sich Wissenschaft und Politik bei „Bevölkerungsfragen“ trennen lassen würde. Mit der institutionalisierten Transnationalisierung von Bevölkerungswissen in der Union erhielt darüber hinaus die politische, rassische, soziale und kulturelle Hierarchisierung der Welt aus westeuropäisch-nordamerikanischer Perspektive eine zusätzliche Plattform, von der aus diese Hierarchisierung wissenschaftlich plausibel gemacht und verkündet wurde. Das vieldiskutierte Problem des Geburtenrückgangs der „weißen Rasse“ teilte aus Sicht der beteiligten Akteure die Welt in Gebiete mit „zu wenig“ und „zu viel“ Bevölkerung ein. Damit entstanden wissenschaftlich unterfütterte Vorstellungen von „demografischen Aggressionszonen“, die die Zukunft Europas zu bedrohen schienen. Dieser Befund führt uns zu unserem Eingangsbeispiel des youth bulge zurück. Selbstverständlich haben sich Kontexte, Inhalte und Akteure grundlegend geändert. Dennoch: Solche seit dem 19. Jahrhundert wissenschaftlich plausibel gemachten Differenzkonstruktionen von Kollektiven können, genau wie auch die in der Einleitung dargelegten Forschungen zum youth bulge in bestimmten Weltregionen, bis heute als ein herausragendes Merkmal dafür gelten, dass demografische Forschungen für jeweils aktuelle politische Fragestellungen besonders anschlussfähig sind. Forschungsfragen und -settings können dazu beitragen, dass ohnehin zirkulierende Wissensfiguren – wie im Hinblick auf unser Eingangsbeispiel etwa Stereotype von gewaltbereiten islamischen Jugendmassen, die „den Westen“ nahezu zwangsläufig überrennen werden – aufrecht erhalten, wissenschaftlich unterfüttert und damit sogar verstärkt werden. In Deutschland entstanden nämlich tatsächlich Rückkopplungseffekte zwischen Forschungen zu den youth bulge und öffentlichkeitswirksamen Stereotypen wie „Demografie als Waffe“ oder „Hohe Geburtenraten bringen radikalen

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Islamisten Zulauf“.98 Das zentrale Problem an solchen Aussagen besteht in der Gefahr der Verkürzung und Vereinfachung von Problemkonstellationen sowie im Schüren von Ängsten. Es kommen mentale Blockbildungen in Umlauf, die einer sachlichen Problemanalyse wohl kaum dienlich sind. „Die Demografie“ ist per se sicher keine Waffe und es sind auch nicht die „hohen Geburtenraten“, die Terrorgruppen quasi automatisch Zulauf bringen. Die Einordnung von Neugeborenen als Waffe stimmt nachdenklich; als Bild und emotionaler Stimmungsmacher scheint das aber gut zu funktionieren: Solche Wissensformationen bieten Mosaiksteine für anschauliche irrationale Vorstellungen von unheimlichen „islamistischen Massen“. Um es zugespitzt zu formulieren: die Interaktionen von Politik und Wissenschaft, wie sie am Beispiel der youth bulges zutage treten, erhält vor dem Hintergrund eines langen Prozesses, in dem die rhetorische Trennung beider Felder mit einer Politisierung der Bevölkerungsforschung einherging, eine besondere Brisanz. Kulturwissenschaftlich-historische Untersuchungen können ihrerseits dazu beitragen, naturalisierende und verkürzende Dimensionen deutlich zu machen, die zeitgenössische Bevölkerungsforschungen „anbieten“. Denn die Identifizierung verschiedener „demografischer Aggressionszonen“ in Vergangenheit und Zukunft zeigen: In der gegenwärtigen Diskussion über die Zukunft Europas werden vergangene Zukünfte nur selten oder gar nicht konstruktiv diskutiert.

98 Vgl. das gleichnamige Interview von Katja Schlesinger, Deutschland Radio, mit dem Philosophen Peter Sloterdijk am 31.07.2006. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ kulturinterview/525982/. (Januar 2011). Grundlegend zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit: Arne Schirrmacher/Sybilla Nikolow, Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte: Historiographische und systematische Perspektiven, in: Dies. (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander, Studien zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./ New York: Campus 2007, S. 11–38, v.a. S. 24–27.

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Population under Control Das Ciba-Symposium „The Future of Man“ von 1962 im Spannungsfeld von Reformeugenik, Molekulargenetik und Reproduktionstechnologie 1.  Einleitung Zu Beginn der 1960er-Jahre kam es über die Ländergrenzen hinweg zur Formation eines Bevölkerungswissens, das mit neuen Paradigmen aus Genetik und Fortpflanzungstechnologie verknüpft wurde.1 Unter dem Eindruck der so genannten „Bevölkerungsexplosion“ und verbreiteter Degenerationsängste formulierten Genetiker und Eugeniker nicht nur ihre alarmistischen Gegenwartseinschätzungen und Zukunftsvisionen von der menschlichen Bevölkerung neu, sondern auch ihre eugenischen Maximen. Dabei trafen Genetiker, die bereits vor 1945 eine herausragende Rolle in der Populations- und Strahlengenetik gespielt hatten, auf Exponenten der jüngeren Molekulargenetik.2 Ihnen gemeinsam war die Ablehnung von Rassenhygiene und nationalsozialistischer Eugenik und zumeist die Befürwortung einer seit den 1930er-Jahren im Rahmen liberaler Rechtsstaatlichkeit agierenden und wissenschaftlich fundierten „Reformeugenik“, deren Vertreter betonten, Klassen- und Rassenvorurteile abzulehnen und auf Aufklärung und Freiwilligkeit zu setzen.3 1 Zum Wandel von Bevölkerungswissen und -politiken im 20. Jh. vgl. z.B.: Paul-André Rosental, L’intelligence démographique: Sciences et politiques des populations en France (1930–1960), Paris: Editions Odile Jacob 2003; Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/ Josef Ehmer (Hrsg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009; Matthew Connelly, Fatal Misconception: The Struggle to Control World Population, Cambridge/London: The Belknap Press of Harvard University Press 2008. 2 Zur Geschichte der Genetik vgl. z.B.: Daniel J. Kevles, In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human Heredity, Cambridge/London: Harvard University Press 41995; Hans-Peter Kröner, Von der Eugenik zum genetischen Screening: Zur Geschichte der Humangenetik in Deutschland, in: Franz Petermann/Silvia Wiedebusch/ Michael Quante (Hrsg.), Perspektiven der Humangenetik: medizinische, psychologische und ethische Aspekte, Paderborn: Schöningh 1997, S. 23–47. 3 Zur „Reformeugenik“ vgl.: Kevles, Eugenics, S. 164–175, S. 176; Connelly, Misconception, S. 107, S. 249; Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten: Der Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im zwanzigsten

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Der Begriff „Eugenik“ wurde erstmals im Jahr 1883 vom englischen Naturphilosophen und Anthropologen Francis Galton verwendet.4 Gemeinhin wird darunter eine „Disziplin zur Steuerung und Kontrolle der menschlichen Erbgesundheit“ verstanden, welche angesichts eines vermeintlichen Degenerationsprozesses die Fortpflanzung von als „höherwertig“ bezeichneten Individuen, Bevölkerungsgruppen und „Rassen“ fördern („positive Eugenik“) und diejenige von als „minderwertig“ bezeichneten Menschen verhindern sollte („negative Eugenik“). Voraussetzung dafür war einerseits die Verwissenschaftlichung der menschlichen Fortpflanzung, andererseits deren Regulierung durch „Selektion“.5 Die Eugenik wurde in der Folge zu einer angewandten Wissenschaft, zur länder- und disziplinenübergreifenden „Sozialtechnologie“, die mit bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Praktiken wie Sterilisation, Abtreibung und Beratung oft auch den Genpool der gesamten Bevölkerung zu verbessern strebte und während des Nationalsozialismus ihre menschenverachtende Extremform fand.6 Eugenische Diskurse und Prozeduren aus der Zeit vor 1945 konnten jedoch bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus Bestand haben, wie neuere Forschungsarbeiten gezeigt haben.7 Gleichzeitig sei es im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit der modernen Fortpflanzungsmedizin und moleku-

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Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1997, S. 95ff. Zur Problematik der Freiwilligkeit vgl.: Kevles, Eugenics, S. 168. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development, London: Macmillan 1883. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik in Deutschland, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21996, S. 17ff. Folgende Angaben: Ibid., S. 139–187. Vgl. dazu: Jakob Tanner, Eugenik und Rassenhygiene in Wissenschaft und Politik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung: Zigeunerforschung und -politik im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, S. 109–121. Hans-Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie: Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1940, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21992.Zur Interdisziplinarität der Eugenik vgl.: Gabriela Imboden/Hans Jakob Ritter/Sabine Braunschweig u.a., „Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?“, in: Regina Wecker/Dies./Ders. u.a. (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau Verlag 2009, S. 13–21, S. 17. Vgl. z.B.: Wecker u.a. (Hrsg.), Eugenik; Mackensen u.a. (Hrsg.), Ursprünge; Maria A. Wolf, Eugenische Vernunft: Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900–2000, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2008; Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik: Bestandesaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002.

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laren Genetik zu einer „neuen Eugenik“ gekommen.8 Diese Eugenik habe nicht den Genpool der gesamten Bevölkerung im Blick, sondern betreffe die genetische Ausstattung einzelner Menschen.9 Es handle sich dabei um eine „nachgefragte“10 Eugenik ohne Zwang oder, wie Jürgen Habermas es ausdrückt, um eine „liberale Eugenik“, die „eine Grenze zwischen therapeutischen und verbessernden Eingriffen nicht anerkennt, aber die Auswahl der Ziele merkmalsverändernder Eingriffe den individuellen Präferenzen von Marktteilnehmern überlässt.“11 Gleichzeitig wird betont, dass die einzelnen, freiwillig und individuell getroffenen Maßnahmen in ihrer Summe über die Ziele früherer Eugeniker hinaus führen.12 Auch der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Kontinuitäten, Brüchen und Verschiebungen zwischen alten und neuen Paradigmen aus Eugenik, Genetik und Fortpflanzungstechnologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Neuformation eines naturwissenschaftlich begründeten (Zukunfts-)Wissens von der Bevölkerung, wie es im angelsächsi8 Vgl. dazu: Thomas Lemke, Zurück in die Zukunft? Genetische Diagnostik und das Risiko der Eugenik, in: Sigrid Graumann (Hrsg.), Die Genkontroverse: Grundpositionen, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder Verlag 1991, S. 37–44. 9 Vgl. zur „neuen Eugenik“: Kevles, Eugenics, S. 251–268; Weingart u.a., Rasse, S. 635, S. 646–652, S. 664ff; Kühl, Internationale. Das Konzept der „neuen Eugenik“ ist eng verbunden mit dem Aufstieg eines antieugenischen Diskurses seit den 1980er-Jahren. Der Begriff wird jedoch uneinheitlich verwendet und findet auch für die in den 1930erJahren einsetzende „Reformeugenik“ Anwendung z.B. bei: Karl Heinz Roth, Schöner neuer Mensch: Der Paradigmenwechsel der klassischen Genetik und seine Auswirkungen auf die Bevölkerungsbiologie des „Dritten Reichs“, in: Heidrun Kaupen-Haas/Christian Saller (Hrsg.), Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York: Campus 1999, S. 346–429, S. 364–369. Der vorliegende Beitrag schließt sich der Unterscheidung von „Reformeugenik“ und „neuer Eugenik“ an. 10 Jürgen Reyer, Stichwort „Eugenik“, in: Wörterbuch Soziale Arbeit: Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, hrsg. von Dieter Kreft und Ingrid Mielenz, Weinheim: Juventa Verlag 62008, S. 272–275, S. 274. 11 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 38f. Imboden u.a., Eugenik, S. 16, betonen hingegen, dass sich die Eugenik als „biopolitisches Projekt der Moderne“ bereits vor 1945 „mit modernen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verband“ und „der „‚eugenische Normalfall’ [...] nicht staatlicher Zwang, sondern die Freiwilligkeit und Einsicht in die Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen unter dem Primat der Wissenschaft“ war. 12 Christoph Rehmann-Suter (ehemalige Präsident der schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Humanbereich), in: Schweizer Radio DRS2, KONTEXT, 11.1.2006, zitiert nach: Christoph Keller, Normalisierungsverfahren in der Eugenik und in der Humangenetik, Referat an der Tagung „Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?“, Basel 17. Februar 2006, S. 3.

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schen Raum der beginnenden 1960er-Jahre diskutiert wurde. So wird danach gefragt, wie der Zustand und die Entwicklung der weltweiten Bevölkerung von führenden Naturwissenschaftlern damals eingeschätzt wurden und welche reproduktionstechnologischen, genetischen und eugenischen Maßnahmen ihnen angemessen schienen, um die Entwicklung der Bevölkerung zu steuern. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass die wichtigsten Topoi des damaligen, transnationalen Bevölkerungsdiskurses mit neuen Erkenntnissen aus der Molekulargenetik sowie der Antizipation gen- und fortpflanzungstechnologischer Innovationen kombiniert wurden, um im selben Atemzug eugenische Forderungen daraus abzuleiten. Darüber hinaus fragt der Beitrag nach der Rezeption dieses Bevölkerungswissens in der Bundesrepublik Deutschland und in englischsprachigen Ländern sowie nach seiner praktischen Bedeutung: Über welche Kanäle wurde es verbreitet, zu welchen Reaktionen führte es in der medialen Öffentlichkeit und welche praktische Bedeutung besaß es für Bevölkerungspolitik, Wissenschaft und Gesellschaft? Angenommen wird, dass das damalige naturwissenschaftlich begründete Wissen von der Bevölkerung eine legitimierende Funktion besaß, und zwar sowohl für bevölkerungspolitische Maßnahmen, die angewandte Forschung, insbesondere die Gen- und die Reproduktionstechnologie, als auch die damals antizipierte „Genetisierung der Fortpflanzung“.13 Zum andern wird von der Hypothese ausgegangen, dass die Popularisierung dieses Wissens in Deutschland eine Möglichkeit darstellte, die Vergangenheit der deutschen Humangenetik während des Nationalsozialismus öffentlich zu thematisieren, und einer frühen Bioethik Auftrieb verlieh. Emblematisch für das Zusammentreffen von Bevölkerungswissen und neueren Paradigmen der Genetik und Reproduktionstechnologie im angelsächsischen Raum der beginnenden 1960er-Jahre steht das Londoner Ciba-Symposium „The Future of Man“ von 1962.14 Diese Konferenz, auf der nicht weniger als „die Zukunft des Menschen“ zur Diskussion stand, bildet die Grundlage der folgenden 13 Abby Lippman, Prenatal Genetic Testing and Geneticization: Mother Matters for All, in: Fetal Diagnosis and Therapy 8 (1993) suppl. 1, S. 175–188, 178. Vgl. zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik als gegenseitige Ressourcen: Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Bruch/Kaderas, Wissenschaften, S. 32–51. 14 Die Tagungsprotokolle erschienen 1963: Gordon Wolstenholme (Hrsg.), Man and his Future, London: J. & A. Churchill 1963. Der Titel der Publikation unterschied sich vom ursprünglichen Titel des Symposiums („The Future of Man“), da Peter Medawar im Jahr 1960 ein gleichnamiges Buch herausgegeben hatte. F. Peter Woodford, The Ciba Foundation: An Analytic History 1949–1974, Amsterdam/Oxford/New York: Associated Scientific Publishers 1974, S. 100.

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Überlegungen.15 Das Symposium vereinte 27 namhafte Wissenschaftler, die zumeist aus England und den USA stammten, allen voran Mediziner, Biologen, Biochemiker und Genetiker. Einige von ihnen gehörten zu den Verfechtern der bereits erwähnten „Reformeugenik“.16 Aufgrund der hochkarätigen Teilnehmerliste mit wichtigen Vertretern sowohl der älteren als auch der jüngeren Genetikergeneration stehen die dortigen Beiträge symbolisch für das damals im angelsächsischen Raum kursierende, naturwissenschaftlich fundierte Bevölkerungswissen, das, wie zu zeigen sein wird, auch in Kontinentaleuropa rezipiert wurde. Zusammen mit zwei weiteren internationalen Konferenzen in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre markiere das Ciba-Symposium „The Future of Man“, wie der britischen Wissenschaftshistoriker Robert Bud betont, den Beginn einer breiteren Auseinandersetzung von Molekularbiologen mit dem Thema „Eugenik“: dem Symposium „The Control of Human Heredity and Evolution“ an der Ohio Wesleyan University 1963 und dem Symposium „Biological Aspects of Social Problems“ der britischen Eugenics Society in London 1964.17

2.  Das Ciba-Symposium „The Future of Man“ Die Ciba Foundation Veranstaltet wurde die Konferenz „The Future of Man“ von der angesehenen Ciba Foundation for the Promotion of International Cooperation in Medical and Chemical Research, kurz: Ciba Foundation. Das gleichnamige Basler Chemie- und Pharmaunternehmen CIBA (Gesellschaft für Chemische Industrie Basel, seit 1970 Ciba-Geigy AG, seit 1996 Novartis AG) hatte die Foundation im Jahr 1947 als unabhängige Stiftung gegründet, ihr Sitz in London war im Jahr 1949 offiziell 15 Vgl. zum Ciba-Symposium „The Future of Man“ auch: Heike Petermann, die biologische Zukunft der Menschen: Der Kontext des CIBA Symposiums „Man and his Future“ (1962) und seine Rezeption, in: Mackensen u.a. (Hrsg.), Ursprünge, S. 393–415; Robert Bud, Wie wir das Leben nutzbar machten: Ursprung und Entwicklung der Biotechnologie, Interdisziplinäre Forschung, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg Verlag 1995 (englische Originalausgabe 1993), S. 219–224; Weingart u.a., Rasse, S. 646–652; Wess (Hrsg.), Träume, S. 184–187. 16 Insbesondere Hermann J. Muller, Julian Huxley und J.B.S. Haldane. Vgl. dazu die Ausführungen zum so genannten „Genetiker-Manifest“ von 1939 weiter unten. 17 Bud, Leben, S. 219. Bereits 1966 hat auch der Molekulargenetiker Joshua Lederberg festgehalten, dass die Debatte über Eugenik und „experimentelle Genetik und Biochemie“ mit diesen drei Konferenzen begonnen habe. Ders., Experimental Genetics and Human Evolution, in: The American Naturalist, Vol. 100, No. 915, September-October 1966, S. 519–531, S. 519.

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eröffnet worden.18 Der Stiftungszweck bestand darin, „[t]o advance and promote the study of and research in all branches of the science of chemistry, medicine and surgery and in particular to advance and promote international co-operation in medical, chemical, biological and pharmaceutical research.“19 Im Zentrum der Aktivitäten der Ciba Foundation stand seither die Organisation von internationalen Konferenzen mit anerkannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu Themen der Endokrinologie, Chemie, Zellbiologie, Fortpflanzungs- und Entwicklungsphysiologie, dem Altern oder – in kleinerem Umfang – der Psychiatrie, der medizinischen Versorgung und der Gesellschaft.20 Als Gründe für die Wahl des Londoner Standorts hatten die Stifter außer den Errungenschaften Britischer Forscher und der zunehmenden Bedeutung der englischen Sprache als Wissenschaftssprache auch das englische Trust-Recht genannt, das die Unabhängigkeit der Stiftung vom Basler Unternehmen garantieren sollte.21 Auch in den späteren Jahren betonte die Ciba Foundation immer wieder ihre Unabhängigkeit: „The Founder Company […] supports the Foundation financially but cannot direct its policy“, hieß es beispielsweise im Bericht des Jahres 1980.22 Insofern ist davon auszugehen, dass die von der Stiftung veranstalteten Symposien zumindest nicht direkt den kommerziellen Interessen der Gründerfirma CIBA dienten. Trotz der stiftungsrechtlichen Unabhängigkeit ist jedoch auch bei den Aktivitäten der Ciba Foundation die prinzipielle Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Grundlagenforschung, Pharmaindustrie und Ärzteschaft mitzudenken, wie sie die Historikerin Christina Ratmoko am Beispiel der Erforschung und Herstellung von Geschlechtshormonen zwischen 1910 und 1940 für das Pharmaunternehmen CIBA aufgezeigt hat.23 So ist davon auszugehen, dass es in diesem Geflecht von Akteuren grundsätzlich keine gänzlich unabhängige Forschung gibt und daher der Auftrag der Ciba Foundation, die internationale 18 „The Foundation is styled ‚Ciba‘ rather than ‚CIBA‘ to emphasize the distinction between the Foundation and the Founder Company.“ The Ciba Foundation for the Promotion of International Cooperation in Medical and Chemical Research, 1980 Report, London (Selbstverlag) 1980, S. 1. 19 Dies., Opening Ceremony on 22nd June, 1949, London (Selbstverlag) 1949, S. 5. 20 Woodford, Ciba Foundation, S. 8, S. 50. Die Nachfolgerin der Ciba Foundation, die Novartis Foundation, ging 2008 in der britischen Academy of Medical Sciences auf. Vgl. Novartis Foundation, in: www.acmedsci.ac.uk/p189.html (19.5.2011). 21 Address by Dr. Dr. h.c. Max Hartmann, in: The Ciba Foundation, Opening Ceremony, S. 14. 22 The Ciba Foundation, 1980 Report, S. 1. 23 Christina Ratmoko, Damit die Chemie stimmt: Die Anfänge der industriellen Herstellung von weiblichen und männlichen Sexualhormonen, 1914–1938, Zürich: Chronos 2010.

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Kooperation von Forschenden zu unterstützen, letztlich auch im Dienst von Pharmaindustrie und Ärzteschaft stand. Das offenkundigste Beispiel für die engen Verbindungen zwischen Forschung, Pharmaindustrie und Ärzteschaft im Falle der Teilnehmer des Ciba-Symposiums „The Future of Man“ bot der amerikanische Physiologe Gregory Pincus, Mitentwickler der ersten, im Jahr 1960 von Searle auf den US-amerikanischen Markt gebrachten „Anti-Baby-Pille“ namens Enovid, deren Wirkung in klinischen Studien durch den Gynäkologen John Rock erprobt worden war.24 Außerdem ist auf die Beziehungen der Ciba Foundation zu andern Organisationen hinzuweisen. So stand sie beispielsweise in freundschaftlichem Kontakt zu Stiftungen und Organisationen, die sich im gesundheitlichen, bevölkerungspolitischen und eugenischen Bereich betätigten. Beispielsweise gehörte die 1930 gegründete, britische Family Planning Association dazu. Ihr damaliger Präsident, Lord Walter Russell Brain, führte nicht nur den Vorsitz auf dem Symposium „The Future of Man“, sondern war auch Trustee der Ciba Foundation selbst. Ebenso war die britische Eugenics Society durch ihren Präsidenten Julian Huxley auf dem Symposium repräsentiert. Weitere Beziehungen unterhielt die Foundation etwa zum United Kingdom Committee for the World Health Organization oder zur Royal Society of Medicine.25 Teilnehmer, Ziele und Programm Die Teilnehmer des Ciba-Symposiums „The Future of Man“ zählten damals zu den renommiertesten Wissenschaftlern der westlichen Welt. Der Jahresbericht der Ciba Foundation aus dem Jahr 1962 bezeichnete sie als “[p]eople of world renown, who have special knowledge of one or more aspects of the problems which science is busy preparing for all humanity, and who have considered the ethical implications of the situation from very different standpoints […].”26 Für die Auswahl der Teilnehmer zeichnete grundsätzlich der langjährige Direktor der Ciba Foundation, Gordon Wolstenholme, verantwortlich. Die wichtigsten Auswahlkriterien waren dabei „scientific excellence“, „the ability to take valid impromptu contributions to discussions, to challenge accepted dogmas or approaches, to synthesize related ideas, and [...] to speak English sufficiently 24 Vgl. dazu: Angus McLaren, A History of Contraception: From Antiquity to the Present Day, Oxford/Cambridge: Basil Blackwell 1990, S. 240; John Rock, The time has come: a Catholic doctor’s proposals to end the battle over birth control, London: Longmans 1963. 25 The Ciba Foundation for The Promotion of International Co-operation (sic) in Medical & Chemical Research, 1961 Report, London (Selbstverlag) 1961, S. 23f. 26 Dies., 1962 Report, London (Selbstverlag) 1962, S. 15.

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well.“27 Bei der Auswahl der Teilnehmer wirkten teilweise auch weitere Personen mit, beispielsweise der stellvertretende Direktor der Foundation, die Mitglieder des internationalen wissenschaftlichen Beirats, der für die Konferenz vorgesehene Vorsitzende oder diejenige Person, die das Konferenzthema angeregt hatte.28 Der Vorschlag für das Symposium „The Future of Man“ stammte vom bereits erwähnten Physiologen Gregory Pincus, der ein Freund von Gordon Wolstenholme war.29 Unter den 27 Männern, die am Symposium teilnahmen – Wissenschaftlerinnen waren keine anwesend –, befanden sich mehrere Nobelpreisträger, Universitätsprofessoren und Präsidenten von Nichtregierungsorganisationen. Manche von ihnen standen seit langen Jahren in wissenschaftlichem Kontakt zueinander.30 Aus den Beiträgen, die sich mit eugenischen und genetischen Fragen beschäftigten, ragten zunächst diejenigen der beiden Genetiker und Exponenten der angelsächsischen Eugenik Hermann Joseph Muller und Julian Huxley hervor. Besonders zu erwähnen ist auch der Beitrag des noch jungen amerikanischen Molekulargenetikers und Professors für Genetik und Biologie in Palo Alto, Joshua Lederberg, der 1958 im Alter von 33 Jahren für die Entdeckung des Austausches von genetischen Informationen zwischen Mikroorganismen den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“ erhalten hatte.31 Der 1890 geborene, amerikanische Genetiker Muller war ebenfalls Träger des Medizinnobelpreises, der ihm im Jahr 1946 für seine Erkenntnisse über die künstliche Auslösung von Mutationen durch Röntgenstrahlen an Fruchtfliegen verliehen worden war. In den 1930er-Jahren hatte er verschiedene Forschungsaufenthalte in Europa verbracht, unter anderem 1932/33 als Guggenheim Fellow am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin, in den Jahren zwischen 1933 und 1937 hatte er am Institut für Genetik der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad und Moskau gearbeitet, später in Edinburgh.32 Der englische Biologe und Genetiker Julian 27 28 29 30

Woodford, Ciba Foundation, S. 45. Ibid., S. 45ff. Ibid., S. 30f, S. 104. Vgl. z.B. zu den persönlichen Verbindungen zwischen J.B.S. Haldane, Julian Huxley, Gregory Pincus und Hermann J. Muller: Ludger Wess (Hrsg.), Die Träume der Genetik: Gentechnische Utopien vom sozialen Fortschritt, Nördlingen: Greno 1989, S. 35, S. 48f. 31 Bud, Leben, S. 218; Wess, Träume, S. 184f. 32 Hermann J. Muller, Biography, in: http://nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/ 1946/muller-bio.html (11.7.2011); Volker Wunderlich, Hermann Joseph Muller: einer der Bahnbrecher der Genetik, in: Genetiker in Berlin-Buch, hrsg. vom Max-DelbrückCentrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch, Berlin 2008, S. 40–59. Während Wunderlich Muller als „frühe[n] Vordenker der Molekulargenetik“ würdigt, erwähnt er weder sein 1935 erschienenes Werk „Out of the Night“ noch die darin formulierte sozialtechnologische Utopie der „germinal choice“. Vgl. dazu: Hermann Joseph Muller, Out

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Huxley, der Bruder des bekannten Schriftstellers Aldous Huxley,33 war ehemaliger Präsident der UNESCO und, wie erwähnt, Präsident der britischen Eugenics Society. Beide, Muller und Huxley, waren in der Zwischenkriegszeit Verfechter einer sozialistischen beziehungsweise „linken“ Eugenik gewesen und zählten im Jahr 1962 bereits zur älteren Genetikergeneration.34 Dasselbe gilt für den 1892 geborenen, britischen Genetiker und Evolutionsbiologen J.B.S. (John Burdon Sanderson) Haldane, Mitbegründer der Populationsgenetik und von 1942 bis 1950 Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens.35 Weitere Teilnehmer waren der britische Biochemiker und Medizinnobelpreisträger Francis Crick, der 1953 zusammen mit James D. Watson den molekularen Aufbau der DNA beschrieben hatte,36 sowie der bereits erwähnte Ideengeber für das Symposium, der US-Amerikaner Gregory Pincus. Außer dem Straßburger Professor für medizinische Biologie und Endokrinologen Marc Klein nahm kein kontinentaleuropäischer Forscher am Symposium teil. Ebenso wenig waren Humangenetiker auf dem Symposium vertreten.37 Welches Ziel verfolgte das Ciba-Symposium „The Future of Man“? Der Jahresbericht der Ciba Foundation für das Jahr 1962 formulierte nachträglich die Hoffnung, dass die Diskussionen, Anschauungen und Prognosen der Wissenschaftler dem „intelligenten Laien“ und insbesondere den Staatsmännern und Politikern helfen, „to be better prepared for the decisions which will have to be taken.“38 Freilich bestand der Anspruch des Symposiums nicht in der direkten Politikberatung, aber doch wohl in der Bereitstellung eines interdisziplinären Orientierungswissens für Entscheidungen im Bereich der Bevölkerungspolitik und Familienplanung. Allgemeiner hielt der Herausgeber der publizierten Symposiumsprotokolle Gordon Wolstenholme im Vorwort und mit Blick auf die damals noch junge Atomund Strahlentechnologie fest:39 „[B]iological research is in a ferment, creating and promising methods of interference with ,natural processes‘ which could destroy or transform nearly every aspect of human life which we value.“ Deshalb, so Wols-

33 34 35 36 37 38 39

of the Night: A Biologist’s View of the Future, New York: The Vanguard press 1935, sowie die Ausführungen weiter unten. Aldous Huxley war der Verfasser des pessimistischen Zukunftsromans „Brave New World“ (erschienen 1932). Weingart u.a., Rasse, S. 113, S. 133. Ibid., S. 364. Zu J.B.S. Haldane vgl. auch: Wolstenholme, Man and his Future, S. 423. James D. Watson/Francis Crick, A structure for deoxyribose nucleic acid, in: Nature 171 (1953), S. 737f. Weingart u.a., Rasse, S. 673. The Ciba Foundation, 1962 Report, S. 15. Vgl. zur Bedeutung des Atomwaffenprogramms „Manhatten-Projekt“ für die Humangenetik: Wess (Hrsg.), Träume, S. 40–42.

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tenholme weiter, müssten die Menschen darauf vorbereitet sein, „to use the immense creative opportunities for a happier and healthier world.“ Etwas unvermittelt folgerte er: „This book should make people think.“40 Ausgehend von dieser Prämisse formulierten die Teilnehmer ihre Vorstellungen von einer besseren Welt. Den Auftakt machte das Referat von Julian Huxley zur Zukunft des Menschen aus der Perspektive der Evolution, worauf Vorträge und Diskussionen zu Themen wie „Weltressourcen“, „Weltbevölkerung“, „Gesundheit und Krankheit“ oder „Eugenik und Genetik“ folgten. Der Beitrag „Biological possibilities for the human species in the next ten thousand years” von J.B.S. Haldane stand am Schluss der publizierten Symposiumsbeiträge.41 Diagnosen und Prognosen zur Entwicklung der weltweiten Bevölkerung Zur Entwicklung der weltweiten Bevölkerung waren auf dem Ciba-Symposium die gängigsten Topoi des damaligen transnationalen Bevölkerungsdiskurses zu hören. Dazu gehörten der Topos der „Übervölkerung“ oder der so genannten „Bevölkerungsexplosion“ in den Ländern der „Dritten Welt“,42 der Topos der zunehmenden Nahrungsmittelknappheit bei wachsender Weltbevölkerung (Neomalthusianismus) und der Topos der „Degeneration“ beziehungsweise „genetischen Verschlechterung“ der Menschheit, der seit Galton untrennbar mit dem eugenischen Diskurs verknüpft war.43 Verschiedene Symposiumsteilnehmer verbanden damit das bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehende Konzept der „differentiellen Fertilität“, womit soziale oder geographische Unterschiede der Fruchtbarkeit in den Blick rücken und zumeist als besorgniserregend interpretiert werden.44 Nach dem Zweiten Weltkrieg sei das Konzept der „differentiellen Fertilität“, wie 40 Gordon Wolstenholme, Preface, in: ders., Man and his Future, S. V. Wolstenholme leitete die Foundation von 1949 bis 1978. http://www.guardian.co.uk/news/2004/jul/07/ guardianobituaries.health (19.5.2011). 41 Bud, Leben, S. 220, weist darauf hin, dass Haldanes Referat das zweite auf dem Symposium war. 42 Vgl. dazu: Ursula Ferdinand, Der Geburtenrückgang als Herausforderung an die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, in: Mackensen u.a. (Hrsg.), Ursprünge, S. 229– 287, S. 269. 43 Connelly, Misconception, S. 190–192, S. 107, S. 12. Diese Topoi stimmen auch mit dem Bevölkerungsdiskurs überein, den Thomas Etzemüller für Deutschland und Schweden für die Zeit nach 1950 beschrieben hat. Ders., Ein ewigwährender Untergang: Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript-Verlag 2007, S. 52f, S. 131, S. 133. 44 Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000, München: Oldenbourg Verlag 2004, S. 100.

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der Historiker Matthew Connelly festhält, auch in Staaten propagiert worden, die bis dahin keine explizite Politik der negativen Eugenik gekannt hätten, unter anderem Großbritannien und Frankreich. So hätten die beiden (ehemaligen) Kolonialmächte das Bevölkerungswachstum in der Heimat befürwortet, während sie es in den (ehemaligen) Kolonien oder unter Einwanderern als „pathologisch“ bezeichneten.45 Angesichts dieser Sachlage erstaunt es wenig, dass der so genannte „Babyboom“ der 1940er- und 60er-Jahre in den Ländern der westlichen Welt auf dem Symposium „The Future of Man“ nicht thematisiert wurde.46 Das neomalthusianische Paradigma galt für die meisten Symposiumsteilnehmer als unumstößliche Tatsache: Wenn der derzeitige Trend bei der Bevölkerungszunahme ungehindert weitergehe, werde die weltweite Nahrungsmittelproduktion nicht Schritt halten.47 So gab zum Beispiel Norman C. Wright, Vize-Direktor der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen zu bedenken, dass gemäß dem in Kürze erscheinenden Dritten Welternährungsbericht der UNO (publiziert 1964) die Weltbevölkerung bis ins Jahr 1975 von rund drei auf etwa vier Milliarden anwachsen werde und die Nahrungsmittelproduktion daher insgesamt um 50 Prozent ansteigen müsse.48 Dieser Sichtweise widersprachen Colin Clark und J.B.S. Haldane. Clark, Direktor des Agricultural Economics Research Institute in Oxford, war überzeugt, dass Zeiten der andauernden Bevölkerungszunahme selten seien und die Bevölkerungszunahme (land-)wirtschaftliche Veränderungen erzwinge.49 Haldane äußerte ebenfalls Zweifel an den neomalthusianischen Prognosen. Er glaubte, dass

45 Connelly, Misconception, S. 117, S. 120f., S. 181. Besonders Frankreich, das 1920 die Geburtenkontrolle per Gesetz verboten hatte, habe sich mit diesem Dilemma konfrontiert gesehen. Ibid., S. 181. Ursula Ferdinand weist darauf hin, dass bereits in der Zwischenkriegszeit „Spannungen zwischen nationalistischen Positionen“ und „globalen Bevölkerungsfragen“ bestanden. Dies., Geburtenrückgangstheorien und „Geburtenrückgangsgespenster“ 1900–1930, in: Josef Ehmer/Dies./Jürgen Reulecke u.a. (Hrsg.), Herausforderung Bevölkerung: Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 77–98, S. 80. 46 Zum „Babyboom“ vgl.: Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 44f.; Ferdinand, Geburtenrückgang, S. 269. 47 Zum Neomalthusianismus vgl.: Ursula Ferdinand, Neomalthusianismus und Frauenfrage, in: Dies./Andreas Pretzel/Andreas Seeck (Hrsg.), Verqueere Wissenschaft, Geschlecht – Sexualität – Gesellschaft I, Münster: LIT 1998, S. 261–280. 48 Norman C. Wright, World Resources (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 62. 49 Colin Clark, Agricultural Productivity in Relation to Population, in: Ibid., S. 23–35, S. 32.

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die „Übervölkerung“ mit neuen wirksamen Verhütungsmethoden, insbesondere mit oralen Kontrazeptiva bekämpft werden könne.50 Keiner der Wissenschaftler stellte hingegen die „Bevölkerungsexplosion“ in Frage. Julian Huxley, Gregory Pincus, der ungarisch-amerikanische Biochemiker Albert Szent-Györgyi oder Joshua Lederberg gingen bei ihren Äußerungen von einem exponentiellen Bevölkerungswachstum und/oder der „Übervölkerung“ aus.51 Während Jahrtausenden, so Huxley, habe die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung nicht mehr als 0,1 Prozent betragen. Im Jahr 1962 liege sie hingegen bei 1,8 Prozent, Tendenz steigend.52 Verschiedentlich wurde auch implizit oder explizit darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen der Bevölkerungszunahme zwar global, die verursachenden Länder jedoch in Asien, Afrika und Lateinamerika zu finden seien.53 Einig war man sich darin, dass das starke Wachstum der Weltbevölkerung auf die durch verbesserte Hygiene und medizinische Versorgung verminderte Sterberate zurückzuführen sei. So bemängelte Albert Szent-Györgyi: „[...] progress can be harmful if it is not planned. For instance, we have introduced death control without birth control [...].“54 Mit den geschilderten quantitativen Prämissen verbanden einige Wissenschaftler, allen voran Hermann J. Muller, Julian Huxley und Joshua Lederberg, die Vorstellung von der Abnahme der „genetischen Qualität“ der Menschen. So betonte beispielsweise Huxley: „Our present civilization is becoming dysgenic […],“ und Lederberg bestätigte: „Most geneticists […] are deeply concerned over the status and prospects of the human genotype.“55 Über die Ursachen äußerte sich wiederum Huxley: 50 J.B.S. Haldane, Biological Possibilities in the Next Ten Thousand Years, in: Ibid., S. 337–361, S. 341. 51 Huxley, Future, S. 14, Wright, World Ressources (Discussion), S. 62, Joshua Lederberg, World Resources (Discussion), in: Ibid., S. 70, Gregory Pincus, Control of Reproduction in Mammals, in: Ibid., S. 79–90, S. 79, Albert Szent-Györgyi, The Promise of Medical Science, in: Ibid., S. 188–195, S. 190. 52 Huxley, Future, S. 14f. 53 Vgl. z.B. Huxley, Future, S. 15, oder den Beitrag des amerikanischen Anthropologen Carleton S. Coon, Growth and Development of Social Groups, in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 120–131, S. 129. 54 Albert Szent-Györgyi, Ethical Considerations (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 374. Die damals international favorisierte und von der neueren Forschung stark kritisierte Theorie der „demographischen Transition“, wonach die Geburtenrate im Zuge der Modernisierung zunächst langsamer als die Sterberate sinkt, um sich später an die Sterberate anzugleichen, wurde nicht explizit erwähnt. Vgl. dazu: Connelly, Misconception, S. 22f; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 118–127. 55 Huxley, Future, S. 21; Joshua Lederberg, Biological Future of Man, in: Ibid., S. 263– 273, S. 264.

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„It [the general quality of the world’s population] is deteriorating, thanks to genetic defectives who would otherwise have died being kept alive, and thanks to the crop of new mutations due to fall-out. In modern man the direction of genetic evolution has started to change its sign, from positive to negative, from advance to retreat [...].“56

Dieser Gedanke war keineswegs neu, sondern, wie erwähnt, seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil des eugenischen Wissens.57 Ebenso war die Prämisse der Degeneration bereits in den 1930er-Jahren von denselben Genetikern vertreten worden.58 Trotz der fachlichen und persönlichen Autorität von Huxley, Muller und Lederberg stieß nun aber im Jahr 1962 die These von der Verschlechterung des menschlichen Genoms bei einzelnen Symposiumsteilnehmern auf Widerstand. Erhebliche Zweifel meldete der britisch-polnische Mathematiker und Biologe Jacob Bronowski an. Er hielt fest: „I know of no evidence that the present human population is inferior, in any respect that one could quantify, to the human population 50 years ago. On the contrary, the only important experimental test of this assertion – the experimental intelligence testing of Scottish children which has been carried out over the past 25 years – produced exactly the opposite results. The human race seems to be improving itself by those natural means which I propose to continue to enjoy so long as I can!“59

Dem Zweifel von Bronowski hatte Huxley kaum etwas entgegenzuhalten. Nach dem Beweis für die genetische Verschlechterung gefragt, argumentierte er tautologisch: „The evidence is mainly deductive, based on the fact that we are preserving many more genetically defective people than before, and are getting a lot of radioactive fallout.“60 Vorgeschlagene Maßnahmen zur Regulierung der Fortpflanzung Grundsätzlich war sich der Großteil der Wissenschaftler auf dem Ciba-Symposium darin einig, dass sowohl die „genetische Degeneration“, verursacht durch einen Mangel an natürlicher Selektion und die Vergrößerung der Mutationsrate 56 Huxley, Future, S. 17. 57 Connelly, Misconception, S. 12; Weingart u.a., Rasse, S. 73–79. Zu weiter zurückreichenden Degenerationskonzepten vgl.: Ibid., S. 27–66. 58 Weingart u.a., Rasse, S. 637. Vgl. dazu auch: Johan Hendrik Jacob van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts: Eine systematische Übersicht der Theorien, Bd. I, Assen: Van Gorcum 1985, S. 624; Roth, Mensch, S. 365f, S. 408; Wess (Hrsg.), Träume, S. 42f. 59 Jacob Bronowski, Eugenics and Genetics (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 285. 60 Julian Huxley, Eugenics and Genetics (Discussion), in: Ibid., S. 289.

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durch radioaktive Strahlung, als auch die „Bevölkerungsexplosion“ vermindert werden sollten. Wie dem Bevölkerungsanstieg Einhalt zu gebieten sei, glaubte besonders Gregory Pincus zu wissen. Er plädierte ebenso wie Haldane für die Regulierung der Fortpflanzung mithilfe von neuen Verhütungsmethoden. Mit seinem Vortrag zur Wirkungsweise und Anwendung des von ihm, Carl Djerassi und John Rock entwickelten hormonellen Wirkstoffs zur oralen Empfängnisverhütung präsentierte er die Erfolgsgeschichte der ersten Anti-Baby-Pille.61 Konkrete Aussagen zur Steuerung der Fortpflanzung auf der Grundlage der Konzepte „Rasse“ oder „soziale Schicht“ lassen sich in den Symposiumsbeiträgen kaum finden. Es kamen zwar durchaus biologistische und gesellschaftliche Konzeptionen differentieller Fertilität zum Tragen, doch blieben die Kriterien dafür, wessen Fortpflanzung „erwünscht“ oder „unerwünscht“ sei, mit pauschalen Formulierungen wie „genetisch ungünstig“ (genetically unfavourable) oder „sozial erwünscht“ (socially desirable) zumeist unscharf. Der Molekularbiologe Crick war etwa davon überzeugt, dass sich nicht alle Menschen im gleichen Maß fortpflanzen sollten und es – aus Sicht einer humanistischen Ethik, im Gegensatz zur christlichen Ethik – kein grundsätzliches Recht auf eigene Kinder gebe. Er hielt fest: “[…] I do not see why people should have the right to have children. I think that if we can get across to people the idea that their children are not entirely their own business and that it is not a private matter, it would be an enormous step forward. If one did have a licensing scheme, the first child might be admitted on rather easy terms. If the parents were genetically unfavourable, they might be allowed to have only one child, or possibly two under certain special circumstances. That seems to me the sort of practical problem that is raised by our new knowledge of biology.”62

Crick ging davon aus, dass eine solcherart verstandene Fortpflanzungsregulierung technisch durchaus möglich sei und beispielsweise mit staatlich durchgesetzten Nahrungsmittelzusätzen erreicht werden könnte: “It would not be very difficult, as we gathered from Dr. Pincus, for a government to put something into our food so that nobody could have children. Then possibly – and this is hypothetical – they could provide another chemical that would reverse the effect of the first, and only people licensed to bear children would be given this second chemical. This isn’t so wild that we need not discuss it.”63

Unterstützung fand dieser Gedanke vom britischen Biochemiker und Virologen Norman Wingate Pirie: „What has always appeared to me the ideal contraceptive technique would be a situation in which people would normally be infertile 61 Pincus, Control, S. 79–90. 62 Francis Crick, Eugenics and Genetics (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 275. 63 Ibid.

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and should do something if on any particular occasion they wished to become fertile.“64 Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre hatten also Naturwissenschaftler wie Pirie, Crick und Pincus die Vision von der „Normalisierung der Unfruchtbarkeit“ formuliert. Das ist bemerkenswert, verortet doch die Biologin und Kulturwissenschaftlerin Bettina Bock von Wülfingen die Normalisierung der Unfruchtbarkeit und – in diesem Zusammenhang – die Kombination von „anti- und pronatalistischen Vorstellungen“ für Deutschland ins ausgehende 20. Jahrhundert.65 Doch zurück zum Ciba-Symposium. Francis Crick relativierte die Radikalität seiner Aussage, indem er anfügte: „But let me come down to practical measures, because I think what I have described is a bit extreme.“ Zu den bedenkenswerten Maßnahmen zählte er hingegen die Methode, „to encourage by financial means those people who are more socially desirable to have more children [...].“66 Deutlicher noch als Crick hatte sich zuvor Gregory Pincus von seinen Äußerungen zur unfreiwilligen Unfruchtbarmachung der Bevölkerung durch Nahrungsmittelzusätze distanziert und sich auf den Standpunkt gestellt, dass solche Maßnahmen nur in totalitären Staaten möglich wären. Er hingegen bezeichnete sich selbst als „anti-totalitarian“.67 Nicht nur Crick und Pincus, sondern die Mehrheit der Forscher auf dem Symposium lehnte die Ausübung von Zwang im Bereich der menschlichen Fortpflanzung durch autoritäre Regime ab. Das (vordergründig) liberale Credo – ebenso wie die bereits erwähnte, im Sinne der Reformeugenik postulierte Ablehnung der Annahme, dass bestimmte „Rassen“ und „Klassen“ besseres beziehungsweise schlechteres „Genmaterial“ besäßen – hatten namhafte Genetiker bereits im Jahr 1939 auf dem siebten Internationalen Genetiker-Kongress in Edinburgh, im so genannten „Genetiker-Manifest“ mit ihrer Unterschrift kundgetan.68 Das „Manifest“ hatte sich in erster Linie gegen die deutsche Rassenhygiene gerichtet, die Sozialtechnologie der Eugenik war damit aber keineswegs in Frage gestellt worden.69 Ebenso wenig im Jahr 1962: Zahlreiche Symposiumsteilnehmer sprachen sich dafür aus, dass die Freiwilligkeit eugenischer Maßnahmen zwar gewährleistet 64 Norman Wingate Pirie, Eugenics and Genetics (Discussion), in: Ibid., S. 282f. 65 Bettina Bock von Wülfingen, Genetisierung der Zeugung: Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte, Bielefeld: transcript-Verlag 2007, S. 22. 66 Beide Zitate: Crick, Eugenics, S. 275f. 67 Gregory Pincus, World Population (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 103. 68 Social Biology and Population Improvement, in: Nature 144 (1939), S. 521f. Bei der Abfassung des Manifests war Hermann J. Muller federführend gewesen. 69 Vgl. dazu: Weingart u.a., Rasse, S. 543. Wess (Hrsg.), Träume, S. 156, geht einen Schritt weiter: Das „Manifest“ sei vor allem ein „taktischer Versuch [gewesen], die Eugenik vor ihrer Identifizierung mit der Rassenhygiene des Nationalsozialismus zu retten.“

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sein müsse, dass aber das reproduktive Verhalten der Menschen mit staatlichen Anreizen gesteuert werden sollte. Den dehnbaren Begriff der Freiwilligkeit unterzogen sie keinerlei Kritik. Das Ziel der „genetischen Verbesserung“ richtete sich hauptsächlich nach den Kriterien der „Intelligenz“ und „Tüchtigkeit“. So war Julian Huxley überzeugt: „The general level of genetic intelligence could theoretically be raised by eugenic selection; and even a slight rise in its average level would give a marked increase in the number of the outstandingly intelligent and capable people needed to run our increasingly complex societies.“70 In der Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit und der menschlichen Intelligenz erkannte auch Haldane ein lohnendes Ziel. In seinen Augen war es „desirable that the fraction of persons with such capacity [as Newton, Beethoven, and Gandhi] should be increased.“71 Haldane ließ schließlich auch keinen Zweifel offen, welche Menschen ihm dabei als Vorbild dienten. Unter „Elite“ verstand er „roughly persons like ourselves […].“72 Hermann J. Muller, der nicht persönlich anwesend war und dessen Beitrag von Gordon Wolstenholme vorgetragen wurde, ging mit den Vorschlägen zur „genetischen Verbesserung“ der Menschheit am weitesten. Er formulierte in seinem Beitrag: “It is probable that some 20 per cent, if not more, of a human population has received a genetic impairment that arose by mutation in the immediately preceding generation [...]. If this is true, then, to avoid genetic deterioration, about 20 per cent of the population who are more heavily laden with genetic defects than the average must in each generation fail to live until maturity or, if they do live, must fail to reproduce.”73

Doch gerade diejenigen Menschen, so war Muller überzeugt, „[...] who are clumsier, slacker, less provident, and less thoughtful are the very ones most likely to fail in keeping the number of their children down to whatever quota they may have set.“74 Offensichtlich brachte Muller die von ihm beobachtete differentielle Fruchtbarkeit mit charakterlichen, sozialen und ökonomischen Merkmalen in Verbindung. Gleichzeitig lässt sich aus seinen Ausführungen schließen, dass es gerade diese Menschen seien, welche mehr „genetische Defekte“ als der Durchschnitt aufwiesen.75 70 71 72 73

Huxley, Future, S. 17. Haldane, Biological Possibilities, S. 342. Ibid., S. 357. Hermann J. Muller, Genetic Progress by Voluntarily Conducted Germinal Choice, in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 247–262, S. 252. 74 Ibid., S. 254. Im Folgenden: Ibid., S. 253. 75 Vgl. zur In-Bezug-Setzung von biologischer Wertigkeit und sozialer Stellung in der Zwischenkriegszeit in Deutschland: Ferdinand, Geburtenrückgang, S. 252.

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Was die „genetische Konstitution“ der Menschen betraf, so erkannte Muller enorme Möglichkeiten zu deren „Verbesserung“.76 Insbesondere schwebten ihm für die Zukunft Methoden zur „Manipulierung des genetischen Materials“ vor.77 Allerdings waren direkte Eingriffe ins Genom zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Robert Bud spricht in diesem Zusammenhang von zwei „Schlüsselereignissen“, die für die Herausbildung der „Gentechnologie“ unentbehrlich waren. Zum einen war dies der Nachweis des molekularen Aufbaus der DNA durch Francis Crick und James D. Watson im Jahr 1953.78 Das zweite „Schlüsselereignis“, die „Entdeckung“ der künstlichen Rekombination der DNA durch Stanley Cohen und Herbert Boyer, fiel jedoch erst ins Jahr 1973. Die Gentechnologie vorwegnehmend, plädierte Muller also dafür, dass man in der Zwischenzeit „die gröberen Methoden“ anwende, die derzeit zur Verfügung stünden.79 Damit meinte Muller nicht negativ-eugenische Maßnahmen, um etwa die Familiengröße bestimmter Menschen klein zu halten, beispielsweise die eugenische Eheberatung.80 Hingegen plädierte Muller wiederum für eine positiv-eugenische Maßnahme, und zwar für die „künstliche Befruchtung“ mit Spendersamen, die durch Tiefkühlung konserviert worden waren.81 Mit diesem Vorschlag wiederholte Muller sein seit Jahrzehnten formuliertes Konzept der „Samenwahl“ (germinal choice), womit die Hebung der genetischen Qualität der Menschheit zu erreichen sei.82 Das „Samenmaterial“ sollte zu diesem Zweck in „Samenbanken“ konserviert sowie nach eugenischen Gesichtpunkten ausgewählt und angewendet werden. Was bereits in den Vereinigten Staaten praktiziert werde, um trotz der Unfruchtbarkeit des Ehemannes Kinder zu bekommen, erweise sich, so Muller, in Kombination mit sicheren Verhütungsmitteln, als „the most practical, effec76 Muller, Progress, S. 255. 77 Ibid., S. 261. 78 Bud, Leben, S. 218, folgende Angaben: Ibid. Vgl. zu Forschungen in den 1930er- und 1940er-Jahren, die dem Nachweis vorausgegangen waren: Wunderlich, Muller, S. 50; Bud, Leben, S. 218; Wess (Hrsg.), Träume, S. 19. Vgl. zum Nachweis genetischer Ursachen von bestimmten Krankheiten seit den 1930er-Jahren, zur Bestimmung der exakten Chromosomenzahl Mitte der 1950er-Jahre und zum 1959 erbrachten Nachweis, dass das „Down Syndrom“ in einer Chromosomentrisomie begründet liegt: Albert R. Jonsen, The Birth of Bioethics, New York/Oxford: Oxford Univerity Press 1988, S. 173. 79 Muller, Progress, S. 255. 80 Ibid., S. 256. Andere Maßnahmen wie die eugenisch indizierte Sterilisation oder Abtreibung erwähnte Muller nicht. 81 Ibid., S. 258. 82 Ibid. Vgl. dazu: Ders., Out of the Night; Roth, Mensch, S. 368f; ders., Sozialer Fortschritt durch Menschenzüchtung? Der Genetiker und Eugeniker H.J. Muller (1890–1967), in: Friedrich Hansen/Regine Kollek (Hrsg.), Gen-Technologie – Die neue Waffe, Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1985, S. 120–151; Van der Pot, Bewertung, S. 625f.

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tive, and satisfying means of genetic therapy.“83 Auch andere technische Verfahren würden derzeit erprobt, beispielsweise die Aufbewahrung weiblicher Eizellen, die Entwicklung von Keimzellen außerhalb des Körpers oder die „klonische Fortpflanzung“ (clonal reproduction). Bis diese Methoden und insbesondere die Manipulation des „genetischen Materials“ ausgereift seien, sollten Paare freiwillig darauf verzichten, genetisch eigene Kinder zu zeugen, um dafür auf Keimzellen von herausragenden männlichen Spendern zurückzugreifen.84 Grundsätzlich aber redete Muller einer zukünftigen Genetisierung der Fortpflanzung das Wort. Mullers Vorschläge fanden prinzipiell Unterstützung von Huxley, Crick und teilweise auch von Haldane. Letzterer wies allerdings nüchtern auf ein zentrales Problem hin: „[...] we have little notion of how to produce more superior people.“85 Auch der renommierte Molekularbiologie Joshua Lederberg war skeptisch gegenüber gentechnischen Eingriffen in das menschliche Genom oder, wie er es nannte, „the direct control of nucleotide sequences in human chromosomes, coupled with recognition, selection and integration of the desired genes“.86 Zwar entsprächen diese Vorstellungen von einer zukünftigen Eugenik wohl der allgemeinen Einschätzung der späteren Rolle der Molekularbiologie für die menschliche Evolution. Allerdings werde dieser Einfluss für die nähere Zukunft falsch eingeschätzt. Man habe nämlich die „Euphenik“ übersehen, worunter Lederberg die „technische Lenkung der menschlichen Entwicklung“ mittels „Steuerung und Durchführung der Proteinsynthese“ verstand.87 Dabei ging es Lederberg nicht um die Veränderung des Genotyps – den Eingriff ins menschliche Genom lehnte er ab –, sondern um die Veränderungen des Phänotyps nach der Befruchtung der menschlichen Eizelle, „wobei zukünftige Generationen [...] nicht beeinflusst werden“, wie Robert Bud verdeutlicht.88 So ging Lederberg, wie der Wissenschaftssoziologe 83 84 85 86 87

Muller, Progress, S. 258. Ibid., S. 261f. Haldane, Biological Possibilities, S. 351. Lederberg, Future, S. 265. Ibid, S. 265f. Die englischen Formulierungen lauten: „the engineering of human development“ und „regulation and execution of protein synthesis“. Vgl. dazu: Bud, Leben, S. 219– 224, sowie ders., Molecular Biology and the Long-Term History of Biotechnology, in: Arnold Thackray (Hrsg.), Private Science: Biotechnology and the Rise of the Molecular Sciences, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998, S. 3–19, S. 10f. 88 Bud, Leben, S. 221, vgl. dazu: Ibid., S. 223. Die Interpretationen des Beitrags von Lederberg gehen auseinander. So lesen Wess, Träume 184ff, Weingart u.a., Rasse, S. 648f, sowie Van der Pot, Bewertung, S. 164, im Gegensatz zu Bud diesen nicht nur als Plädoyer für das Konzept der Euphenik, sondern auch für die gentechnische Manipulation des menschlichen Erbguts. Für die Sichtweise von Bud spricht auch: Andreas Lösch, Genomprojekt und Moderne, Soziologische Analysen des bioethischen Diskurses, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2001, S. 71.

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Andreas Lösch festhält, von der Einsicht aus, dass „Genkombinationen [...] bestimmten Umweltverhältnissen unterworfen werden und sich erst im nachhinein die optimalen Kombinationen bestimmen lassen.“89 Insofern bedeutete Lederbergs Kritik an den auf dem Symposium formulierten eugenischen Utopien nicht, dass er nicht auch danach strebte, die Erkenntnisse aus der Molekulargenetik für die „Verbesserung“ der Menschheit einzusetzen. Nur sollte die Verbesserung nicht am Genom der Keimzellen, sondern in den Körperzellen vorgenommen werden und auf die jeweilige Umwelt ausgerichtet sein. Entsprechend glaubte Lederberg, dass man wohl bald eine Technik entwickeln könne, „to regulate, for example, the size of the human brain by prenatal or early postnatal intervention.“90 Als weiteres Beispiel für die Verbesserung des Menschen durch die Euphenik nannte er die industrielle Herstellung von Proteinen, insbesondere von Gewebeantigenen, die später bei der Organtransplantation eingesetzt werden könnten. Andere Teilnehmer des Ciba-Symposiums äußerten Bedenken, die stärker in einem historischen Bewusstsein gründeten. Beispielsweise mahnte der Franzose Marc Klein als einer der wenigen zur grundsätzlichen Vorsicht. Er sei als Arzt Gefangener in Auschwitz gewesen: „As everybody now knows, huge experiments were performed there on the sterilization of both men and women. Once you have seen with your own eyes where those problems can lead, you are always very cautious, even when you hear about the very beginnings of this type of experiment.“91

Außer dem britischen Experimentalphysiker und Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Yale University, Derek John de Solla Price, dem britischen Zoologen Peter Brion Medawar, dem israelischen Architekten Artur Glikson und anderen meldete wiederum Jacob Bronowski Zweifel an: „I find myself out of sympathy with much that has been said in Muller’s and Lederberg’s papers. That is because I really do not understand what problem you are trying to solve. If you are trying to upset violently the present gene frequencies in the population, then nothing that Muller proposes could do this. Just as Haldane has shown long ago that sterilization of the unfit would hardly have any influence on the proportion of recessive genes, so the multiplication of what we choose to call the fit can really have very little effect on the presence of recessives. […] If you are trying radically to change the gene frequencies, of course you can only do that in Crick’s way, that is by forcibly preventing all but a few genes from reproducing. Even this supposes that you know (a) why you think a particular gene is good, and (b) what tests to apply in order to identify it.“92 89 Lösch, Genomprojekt, S. 71. 90 Ibid., S. 266, folgende Angabe: Ibid., S. 268. 91 Marc Klein, World Population (Discussion), in: Wolstenholme, Man and his Future, S. 101. 92 Bronowski, Eugenics and Genetics (Discussion), S. 285f.

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Die Fragen von Bronwski führen nur allzu deutlich vor Augen, dass die wie auch immer definierten Maßstäbe zur „Verbesserung“ der Menschheit gezwungenermaßen arbiträr bleiben mussten. So hatte auch kein Teilnehmer des Ciba-Symposiums eine Antwort bereit: weder die Vertreter der älteren Genetikergeneration und Reformeugenik, die darüber berieten, wie die Eindämmung der „Bevölkerungsexplosion“, die „Verbesserung“ der „genetischen Ausstattung“ der Menschen und die Regulierung der „differentiellen Fertilität“ mit den (antizipierten) Möglichkeiten der Molekularbiologie und Reproduktionstechnologie erreicht werden könnten, noch die Vertreter der jüngeren Molekulargenetik, die nach sozialtechnologischen Anwendungsmöglichkeiten ihrer in der Bakteriengenetik gewonnenen Erkenntnisse suchten. Die daraus resultierende Verknüpfung des damaligen Bevölkerungswissens mit der Gentechnologie avant la lettre und der antizipierten „Genetisierung der Fortpflanzung“ war die zentrale Neuerung in der damaligen Diskussion zur Steuerung der menschlichen Zukunft.93 Wie in Wissenschaft und Öffentlichkeit in den folgenden Jahren auf die Verbindung zwischen Reformeugenik, Molekulargenetik und Reproduktionstechnologie reagiert wurde, sollen die nachstehenden Ausführungen zur Rezeption und Bedeutung des Symposiums „The Future of Man“ zeigen.

3.  Rezeption und Bedeutung des Ciba-Symposiums Die Symposiumsbeiträge und Diskussionsprotokolle wurden im Jahr 1963 unter dem Titel „Man and his Future“ publiziert. Im Gegensatz zu anderen Konferenzbänden der Ciba Foundation, die eine durchschnittliche Auflage von 3500-4000 Exemplare besaßen, wurde „Man and his Future“ rund 14  000 mal verkauft.94 Der Wissenschaftshistoriker F. Peter Woodford bezeichnete „The Future of Man“ rückblickend denn auch als die „anregendste“ Konferenz von denjenigen CibaSymposien, die sich mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigten.95 Die Reaktionen auf das Erscheinen von „Man and his Future“ im Jahr 1963 und der deutschen Übersetzung drei Jahre später stützen diese Einschätzung.

93 In Anlehnung an den amerikanischen Atomphysiker und Regierungsberater Alvin Weinberg sowie den amerikanischen Sozialwissenschaftler Amitai Etzioni spricht der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart in diesem Zusammenhang von einem „technological (bzw. genetic) fix“, einer rein technischen Lösung für die angenommenen sozialen Probleme. Weingart u.a., Rasse, S. 649. 94 Woodford, Ciba Foundation, S. 38. 95 Ibid, S. 96.

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Antrieb für den Bioethik-Diskurs im Bereich der Gentechnologie in der BRD Die deutsche Übersetzung von „Man and his Future“ wurde 1966 vom Zukunftsforscher Robert Jungk und dem Verleger Hans Josef Mundt unter dem Titel „Das umstrittene Experiment: der Mensch“ herausgegeben.96 Sie wurde im deutschsprachigen Raum vielfach und durchweg kritisch zur Kenntnis genommen.97 Seither habe sich, so Peter Weingart, auch „die Humangenetik aufgrund ihrer offenkundigen Nähe zur experimentellen Genetik gezwungenermaßen mit den ethischen Problemen der Genmanipulation auseinandergesetzt.“98 In diesem Prozess sei das Ciba-Symposium aber „eher als symbolischer Markstein denn als reale Ursache der Diskussion um die genetische Manipulation zu werten.“99 Für die Selbstreflexion der Humangenetik in der Bundesrepublik habe hauptsächlich der politische Kontext im Zuge der Studentenbewegung von 1968 verantwortlich gezeichnet, der durch einen Modernisierungs- und Demokratisierungsschub sowie die gewachsene Sensibilität gegenüber den Überresten des Nationalsozialismus und zukünftiger autoritärer Macht gekennzeichnet war. Es sei denn auch im Jahr 1969 gewesen, als sich mit dem Marburger Forum philippinum zum Thema „Genetik und Gesellschaft“ eine „innerfachliche Diskussion um die ethische Verantwortung der Disziplin“ zu entwickeln und etablieren begonnen habe.100

96 Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hrsg.), Das umstrittene Experiment: der Mensch, 27 Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution (Sonderausgabe aus Modelle für eine neue Welt 5), München/Wien/Basel: Verlag Kurt Desch 1966. Vgl. zur Rezeption in der BRD und zum Vorwurf der „Pseudowissenschaftlichkeit“: Ina Heumann, Wissenschaftliche Phantasmagorien: Die Poetik des Wissens in Man and his Future und ihre Rezeption in der Bundesrepublik, in: Dirk Rupnow/Veronika Lipphardt/Jens Thiel et al. (Hrsg.), Pseudowissenschaft: Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 343–370. 97 Bereits der Titel der Übersetzung betonte die kontroverse Seite der Tagungsbeiträge. F. Peter Woodford, Ciba Foundation, S. 38, betont: „Man and his Future caused something of a sensation in the German-speaking world […]. Its participants’ advocacy of the urgent application of measures for population control and intensification of research on birth control techniques produced a storm of protest from Protestants and Catholics alike. […] French and Finnish translations were made also, but the reactions in France and Finland were less violent.“ (Hervorhebung im Original). 98 Weingart u.a., Rasse, S. 673. 99 Ibid., folgende Angabe: Ibid., S. 669. 100 Ibid., S. 670. Vgl. zum Forum Philippinum: Petermann, Zukunft, S. 405–408. Die Untersuchung der Tagungspunkte zeigt hingegen nach Einschätzung der Autorin des Artikels, dass die Konferenz in erster Linie die Neupositionierung und Dynamisierung der genetischen Beratung in der BRD zum Ziel hatte.

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In der Öffentlichkeit und auf populärwissenschaftlicher Ebene hingegen – so die im Folgenden vertretene These – setzte das Ciba-Symposium im deutschsprachigen Raum, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, die erste kritische Auseinandersetzung über die ethischen Implikationen des Zusammenspiels von Molekulargenetik, Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin in Gang. So verlieh die Rezeption des Symposiums „The Future of Man“ der frühen Bioethik in diesen Bereichen Auftrieb. Darüber hinaus machte sie es überhaupt erst möglich, die Rolle der deutschen Humangenetik während des Nationalsozialismus öffentlich zu thematisieren und zu kritisieren. Bei der Rezeption und Bewertung des Ciba-Symposiums im deutschsprachigen Raum wurden die auf dem Symposium diskutierten Fragen denn auch zumeist mit der nationalsozialistischen Rassenhygiene und „Menschenzucht“ in Bezug gesetzt und entsprechend abgelehnt.101 Beispielsweise verurteilte der Spiegel am 25. September 1963 unter dem Titel „Vaterschaft aus der Truhe“ die menschenzüchterischen Phantasien von „Tiefkühl-Genetikern“, wie Hermann J. Muller bezeichnet wurde, sowie anlässlich der Geburt von zwei „Tiefkühlkindern“ – gemeint waren Kinder, die mit tiefgekühlten und wieder aufgetauten Samen gezeugt worden waren – die Realisierung solcher Phantasien.102 Scharfe Kritik an den Aussagen, die auf dem Ciba-Symposium zur „genetischen Verbesserung“ der Menschheit formuliert worden waren, äußerte im Jahr 1965, also noch vor erscheinen der deutschen Ausgabe der Symposiumsprotokolle, auch Thomas Regau in seinem Buch „Menschen nach Maß: Werkstoff Mensch im Griff einer seelenlosen Wissenschaft“. Er hielt fest: „Die Forschungsaufgaben, die auf uns zukommen – so sagen die Gen-Konstrukteure –, erfordern eine enorme Steigerung der Intelligenz, eine ‚Hirnverdoppelung‘, also den geistigen Übermenschen […]. Wir würden uns nicht wundern, wenn nur Biologen wie Julian Huxley [...] solcher prometheischen Hybris verfielen. Es erliegen aber auch Biologen, die wir bislang für nüchterne Wissenschaftler hielten, diesem luziferischen Pathos, das wir schon aus den Zeiten der militanten deutschen Eugenik kennen. Offenbar hat man zwanzig Jahre nach dem ruhmlosen Verschwinden des gottgleichen, nordischen Rasse-Adels vergessen, daß die eugenischen Produzenten statt des Übermenschen meist nur den Unmenschen erzeugen.“ 103

Ähnliche Kritik am Ciba-Symposium formulierten beispielsweise auch die Beiträge des Sammelbandes „Menschenzüchtung: Das Problem der genetischen 101 Für das Fach Humangenetik gelte „in Deutschland mehr als anderswo, daß die Perspektiven seiner zukünftigen Entwicklung immer im Zusammenhang mit seiner Vergangenheit gesehen werden.“ Weingart u.a., Rasse, S. 670. 102 Der Spiegel 39, 25.9.1963, S. 100–103, S. 102. 103 Thomas Regau, Menschen nach Maß: Werkstoff Mensch im Griff einer seelenlosen Wissenschaft, München/Esslingen: Bechtle 1965, S. 40.

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Manipulierung des Menschen“ aus dem Jahr 1969.104 Gleichzeitig bot das CibaSymposium „The Future of Man“ auch einem Wissenschaftler, der während des Nationalsozialismus eine führende Rolle in der deutschen Humangenetik gespielt hatte, die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. So kritisierte kein anderer als der Erbforscher und frühere Rassenhygieniker Otmar von Verschuer, von 1942 bis 1945 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, die auf dem Ciba-Symposium genannten Visionen.105 Verschuer, von dem der Medizinhistoriker Hans-Peter Kröner schreibt, dass er während des Nationalsozialismus vom „Kämpfer für die Rassenhygiene zum Kämpfer für den Nationalsozialismus geworden“ sei,106 lehnte in seiner 1966 publizierten Schrift „Eugenik: Kommende Generationen in der Sicht der Genetik“ ein „,Manipulieren’ in dem Sinne der Erzeugung irgendwelcher neuer normaler Gene“ als „Utopie“ ab. Es müsse nämlich gesagt werden, so Verschuer, „daß die Beziehung von genetischer Substanz auf der einen Seite zu Begabung und Charakter des Menschen auf der anderen Seite so komplex und ganzheitlich ist, daß sie im Bereich des Normalen nicht in einzelne Genwirkungen zerlegt werden kann.“107 Daraus folgerte Verschuer, dass „die auf dem Londoner Symposium diskutierten Vorschläge vom Standpunkt der Humangenetik“ abgelehnt werden müssen.108 Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Vergangenheit betonte er: Es scheint, dass „[...] das Londoner Symposium ein besonders lebhaftes Echo bei uns in Deutschland gefunden hat. Die Erklärung hierfür möchte ich darin sehen, daß die Probleme der Eugenik bei uns noch auf eine durch die Vergangenheit sensibilisierte Situation treffen. 104 Friedrich Wagner (Hrsg.), Menschenzüchtung: Das Problem der genetischen Manipulierung des Menschen, München: Beck 1969. 105 Vgl. zu Otmar von Verschuer: Hans-Peter Kröner, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege (Medizin in Geschichte und Kultur 20), Stuttgart/Jena/ Lübeck u.a.: Gustav Fischer 1998; ders., „Rasse“ und Vererbung: Otmar von Verschuer (1896–1969) und der „wissenschaftliche Rassismus“, in: Mackensen u.a. (Hrsg.), Ursprünge, S. 203–213; Carola Sachse, Wissenschaftseliten und NS-Verbrechen: KaiserWilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft, in: Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hrsg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945: Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus (Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 22), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 207, S. 43–64. 106 Kröner, „Rasse“ S. 210. 107 Otmar von Verschuer, Eugenik: Kommende Generationen in der Sicht der Genetik, Witten: Luther Verlag 1966, S. 72. Vgl. dazu: Petermann, Zukunft, S. 403, die Verschuers Äußerungen zum Ciba-Symposium ohne Hinweis auf seine nationalsozialistische Vergangenheit darstellt. 108 Verschuer, Eugenik.

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Diese erhöhte Wachsamkeit hat uns zu der Erkenntnis geführt: Die ‚klassische‘ selektionistische Eugenik muß abgelehnt werden, weil es keinen objektiv gültigen Maßstab für die Bewertung des einzelnen Menschen gibt.“109

Die selbstgerechten Bemerkungen von Verschuer unterstellten einen kollektiven Lernprozess, ohne eigene Fehler zu bekennen. Umso mehr ist an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass die öffentliche und populärwissenschaftliche Kritik am Ciba-Symposium in der Bundesrepublik Deutschland zumeist die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Mitverantwortung deutscher Humangenetiker öffentlich anprangerte. Die „Re-Moralisierung“ der Wissenschaft seit der Mitte der 1960er-Jahre, wie Weingart die damalige Situation bezeichnet, habe schließlich zur Abkehr der Humangenetik von „den sozialtechnologischen Konzepten der Eugenik“ beigetragen.110 Ein wichtiger Faktor sei dabei auch eine innerwissenschaftliche Entwicklung gewesen, und zwar die Verschiebung des Gegenstandes der Humangenetik „von der genetischen Beschaffenheit einer Population [...] zur genetischen Beschaffenheit von Individuen [...]“ bei gleichzeitiger Hinwendung zur Medizin.111 Genetische screenings, genetische Beratung und genetische Pränataldiagnostik gehörten seither mehr und mehr zum Kerngeschäft der Humangenetik.112 Doch gerade mit den medizinischen Anwendungen, die trotz betonter Freiwilligkeit und individueller Wahlmöglichkeit keineswegs frei von eugenischen Dynamiken sind und zu normalistischen Zwängen führen, kam es seit den 1980er-Jahren zu einem hegemonialen antieugenischen Diskurs. Damit untrennbar verknüpft war das kritische Konzept der eingangs erwähnten „neuen Eugenik“. Popularisierung von naturwissenschaftlichem Wissen im angelsächsischen Raum Auch in England und den USA scheint „The Future of Man“ in fachwissenschaftlichen Zirkeln kaum verhandelt worden zu sein. Vereinzelt lassen sich kritische Rezensionen in Fachzeitschriften finden, beispielsweise in der Zeitschrift Human Biology im Februar 1965. Der Rezensent, der amerikanische Anthropol109 110 111 112

Ibid., S. 72f. Weingart u.a., Rasse, S. 631, S. 635. Ibid., S. 635. Ibid, S. 632–646, S. 652–664. Vgl. zum Zusammengehen von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin auch: Giselind Berg, Reproduktionstechnologien oder: Der „Systembaukasten“ der Fortpflanzung, in: Ellen Kuhlmann/Regine Kollek (Hrsg.), Konfiguration des Menschen: Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik, Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 24–29.

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oge britischer Herkunft Earl Wendel Count, machte keinen Hehl aus seiner Kritik an den Symposiumsteilnehmern und ihrer Macht: „The modern ‚symposiants‘ […] belong to that increasing class who have their hands in the machinery they discuss; they can suggest and speculate upon a far Braver New World than any conceivable by an amateur.“113 Ebenso äußerte Count unverblümt seine Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Diskussionen, die auf dem Symposium stattgefunden hatten. „Their conversations seem to alternate between holding social factors constant while allowing biological factors to vary, and holding biological factors constant while allowing social factors to vary. But neither they nor the rest of us have yet found a principle whereby to tell when to do the one and when the other.“114

Abgesehen von ein paar wenigen Rezensionen dieser Art wurde das Ciba-Symposium „The Future of Man“ auch im angelsächsischen Raum stärker populärwissenschaftlich rezipiert.115 Die Rezeption führte jedoch längst nicht zur selben heftigen Kritik wie in Deutschland. Außer dem von Gordon Rattray Taylor verfassten und berühmt gewordenen Buch „The biological Time-Bomb” aus dem Jahr 1968 nahm die Zeitschrift Life International im Jahr 1965 in einer Serie mit dem Titel „Astonishing Biological Revolution“ Bezug auf das Ciba-Symposium.116 Im Life International-Artikel von Albert Rosenfeld „Will man direct his own evolution?“ vom 1. November 1965 schilderte der Autor sachlich und ohne zu moralisieren die reproduktionsmedizinischen und (human)genetischen Möglichkeiten, die von Huxley, Muller, Lederberg und Haldane diskutiert worden waren.117 Dabei warf Rosenfeld grundsätzliche Fragen ethischer und rechtlicher Art auf, beispielsweise ob einem geschiedenen Mann das Besuchsrecht für ein Kind abgesprochen werden könne, das seine ehemalige Frau durch eine Samenspende empfangen hatte.118 Dabei hob Rosenfeld die Notwendigkeit der Forschung zum Zweck medizinischer Errungenschaften hervor:

113 Earl W. Count, Book Review: Man and His Future, in: Human Biology 37, 1/1965, S. 67. 114 Ibid., S. 68. 115 Möglicherweise erhielten damals insbesondere die Visionen von Hermann J. Muller weniger Resonanz, weil sein Buch „Out of the Night“ bereits bei Erscheinen im Jahr 1935 große Beachtung (und Anerkennung) bei den Rezensenten gefunden hatte. Vgl. dazu: Wess, Träume, S. 132f. 116 Gordon Rattray Taylor, The biological Time-Bombe, London: Thames & Hudson 1968; Life International, September 20 (1965), ibid., November 1 (1965). 117 Albert Rosenfeld, Will man direct his own evolution?, in: Life International, November 1 (1965), S. 54–58, besonders S. 55–57. 118 Ibid., S. 54.

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„Not everyone would agree that these marvellous transformations are worth striving for. Their mere evocation will surely elicit as much dismay as delight. But research along these lines is bound to be intensively pursued. In fact, this must be done even to bring about the much more immediate and altogether noncontroversial medical benefits. The carrying out of the research itself cannot be anything but controversial – even within the ranks of the medical profession.“119

In diesem Sinn kam er zum Schluss, dass man die ethischen und rechtlichen Fragen nicht allein den Politikern, den Theologen, Philosophen und Wissenschaftlern überlassen dürfe, sondern dass sich jeder Mensch um deren Folgen kümmern müsse.120 Bemerkenswert ist an der Artikelserie in Life International nicht nur der Umstand, dass sachlich über die Utopien von Genetikern berichtet wurde, sondern dass die unaufgeregte Haltung auch mit Illustrationen kontrastierte, die einen Laien kaum unberührt lassen. Das Bildprogramm der Serie war geprägt durch den schonungslosen Blick auf das, was meist verborgen bleibt: Lebende Embryonen und Föten von Mensch und Tier außerhalb des mütterlichen Körpers.121 Es scheint jedoch, dass die Bilder weniger als Provokation oder als Aufruf zur Kritik verstanden sein wollten, sondern – in Kombination mit dem sachlichen Text, der auf die Urteilskraft der Lesenden baute – die Funktion besaßen, die weit reichenden Dimensionen der damaligen Forschungstätigkeit in den Lebenswissenschaften, die mit bloßen Worten nicht beschrieben werden konnte, zu verdeutlichen und zu popularisieren.122 Angesichts dieser Art der Rezeption scheint das Ciba-Symposium im angelsächsischen Raum weniger als in deutschsprachigen Ländern Antrieb für die Herausbildung bioethischer Debatten gewesen zu sein. Dies wird auch durch den Medizinhistoriker Albert R. Jonsen bestätigt: In den USA fand die allmähliche Etablierung der Bioethik gegen Ende der 1960er-Jahre und Anfang der 1970erJahre mit der Gründung einzelner Zentren wie The Hastings Center oder dem Kennedy Institute of Ethics at Georgetown University statt.123 Diesen Gründungen sei 119 Ibid., S. 57. 120 Ibid., S. 58. 121 Life International, September 20 (1965), S. 54–56, S. 62f. Vgl. zur Kulturgeschichte der Darstellung von Embryonen außerhalb des Mutterleibes: Susan Merrill Squier, Babies in bottles: twentieth-century visions of reproductive technology, New Brunswick: Rutgers University Press 1994. 122 Das spannungsvolle Text-Bild-Verhältnis öffnet den Blick für weiter führende Forschungsfragen. 123 Jonsen, Bioethics, S. 13–26; Vgl. dazu auch: Hans-Martin Sass (Hrsg.), Bioethik in den USA: Methoden, Themen, Positionen, mit besonderer Berücksichtigung der Problemstellungen in der BRD, Berlin/Heidelberg/New York u.a.: Springer-Verlag, 1988, S. 36–56.

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ein Jahrzehnt von einzelnen „unprecedented conferences“ zu ethischen Problemen der biomedizinischen Forschung vorausgegangen.124 Dazu zählt Jonsen nach einer ersten Konferenz im Jahr 1960 zum Thema „Great Issues of Conscience in Modern Medicine“ am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, unter anderem auch das Ciba-Symposium „The Future of Man“.125 Jonsen bewertet dieses also selbst als Teil des sich formierenden bioethischen Diskurses in den USA und nicht als eigentlichen Impuls dafür. Die Bedeutung des Ciba-Symposiums für die Reproduktionstechnologie Abgesehen von der Bedeutung, die das Ciba-Symposium in der Bundesrepublik Deutschland für den frühen Bioethik-Diskurs und die kritische Bewertung der Humangenetik zur Zeit des Nationalsozialismus sowie im angelsächsischen Raum für die Popularisierung reproduktionsmedizinischer und genetischer Utopien und Forschungstätigkeiten besaß, ist eine unmittelbare praktische Wirkung des Symposiums, etwa für die damalige Reproduktionstechnologie, beim jetzigen Stand der Forschung nicht auszumachen. Eine – allerdings bizarre – Ausnahme lässt sich ins Jahr 1980 datieren. Damals, 13 Jahre nach Hermann J. Mullers Tod, gründete der amerikanische Millionär Klark Graham in Kalifornien das Hermann J. Muller Repository for Germinal Choice (später: Repository for Germinal Choice).126 Das Ziel dieser Samenbank war es, Hermann J. Mullers Konzept der „Samenwahl“ zur „Selektion“ intelligenter Menschen in die Tat umzusetzen. Zu diesem Zweck sollten, wie der Journalist und Publizist David Plotz recherchierte, Nobelpreisträger und andere hoch angesehene Männer für eine Samenspende gewonnen werden, um damit bei ausgewählten, gesunden und intelligenten Frauen eine künstliche Befruchtung durchzuführen. Obwohl das Repository for Germinal Choice von der Presse stark kritisiert wurde, bestand offensichtlich eine Nachfrage nach Samenspenden von „herausragenden“ Männern: Insgesamt wurden 217 Kinder geboren, die mit Samen aus dem Repository for Germinal Choice gezeugt worden waren. Erst nach dem Tod von Klark Graham im Jahr 1997 schloss seine Familie die Samenbank.127 Bei der Frage nach der praktischen Bedeutung des Ciba-Symposiums „The Future of Man“ gilt es im Zusammenhang mit dem Repository for Germinal Choice jedoch zu bedenken: 124 Jonsen, Bioethics, S. 13. Vgl. dazu: Ibid., S. 13–19. 125 Ibid., S. 15ff. 126 David Plotz, The genius generation: The Nobel Prize sperm bank was set up to produce a new generation of geniuses; what happened to its children? In: The Guardian, 15. April 2004, in: http://www.guardian.co.uk/science/2004/apr/15/science.highereducation (31.5.2011). 127 Ganzer Abschnitt: Ibid.

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Hermann J. Muller hatte sein Konzept der „Samenwahl“ bereits in den 1930erJahren formuliert und war nicht müde geworden, dieses zu propagieren.128 Daher ist zu bezweifeln, dass das Ciba-Symposium von 1962 allein den Ausschlag für die Gründung der Samenbank gegeben hatte. Anders verhielt es sich, wie bereits angedeutet, bezüglich der Bedeutung des Ciba-Symposiums für die Reproduktionstechnologie. Während sich die Teilnehmer des Ciba-Symposiums bei der Formulierung ihrer Vorschläge zum Kampf gegen die „Übervölkerung“ und zur „Verbesserung“ der Menschheit von den damaligen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten (hormonelle Verhütungsmittel, Konservierung von Keimzellen, Insemination) inspirieren ließen, scheint das Ciba-Symposium umgekehrt keinen direkten Einfluss auf die Erforschung und Anwendung der Reproduktionstechnologie genommen zu haben. So zeigt das Studium der umfangreichen Tagungsbände des Weltkongresses zur Fertilität und Sterilität, der seit 1951 von der International Fertility Association (IFA) in ungefähr dreijährigen Intervallen organisiert wurde, bereits vor 1962 eine auffallende Affinität der Reproduktionsmedizin zu familienplanerischen Programmen. Obwohl der Hauptzweck der IFA der Erforschung und Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit in der gesamten Welt galt, war in den Tagungsbänden immer wieder von den Aufgaben der Reproduktionsforschung für die Bevölkerungskontrolle und Familienplanung zu lesen. Bereits im Tagungsbericht des ersten Weltkongresses zur Fertilität und Sterilität im Jahr 1951 in New York kam der Topos von der „Bevölkerungsexplosion“ zum Tragen. Beispielsweise hielt Henry Fairfield Osborn (jr.), Präsident der New Yorker Conservation Foundation, auf dem Kongress in einer kurzen Ansprache fest: „This great world congress, the first of its kind, is an inspiring occasion. Its sole purpose is the advancement of the well-being of humanity. A great number of technical questions will be considered and discussed. Each of them is important because each has some bearing on human health and happiness. However, all are over-shadowed by one dominant and ever-increasing threat – that of the over-population of the earth.“129

128 Beispielsweise präsentierte Hermann J. Muller im Jahr 1963 sein Konzept der „germinal choice“ auch auf der bereits erwähnten Konferenz in Ohio. Vgl. dazu: T.M. Sonneborn (Hrsg.), The Control of Human Heredity and Evolution: symposium held on April 6, 1963, at Ohio Wesleyan University, Delaware, New York: Macmillan 1965. 129 [Henry] Fairfield Osborn, The Limits of the Earth: Address by Invitation, in: International Fertility Association (Hrsg.), Proceedings of the First World Congress on Fertility and Sterility, Vol. I, Mexiko: C. D. Guerrero/New York: A.I. Weisman [ca.1954/55], S. 13–19, S. 13. Osborn war der Sohn des berühmten Anthropologen, Eugenikers und Präsidenten des American Museum of Natural History Henry Fairfield Osborn und Vetter von Frederick Henry Osborn, dem Reformeugeniker und Mitbegründer der American Eugenics Society im Jahr 1926. Vgl. Connelly, Misconception, S. 106.

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Der geschilderte Sachverhalt wird auch von den Forschungsergebnissen der USamerikanischen Soziologin Adele Clarke bestätigt, die den komplexen Zusammenhang zwischen Reproduktionswissenschaft, Bevölkerungskontrolle, Familienplanungsbewegung und Forschungsförderung für die USA erarbeitet hat. Die heterogene, aber nicht minder einflussreiche, eugenisch motivierte Familienplanungs- und Bevölkerungskontrollbewegung hatte sich in den 1940er-Jahren aus der ursprünglich feministischen Geburtenkontrollbewegung heraus entwickelt. Sie war maßgeblich an der privaten Finanzierung der Fruchtbarkeits- und Sterilitätsforschung beteiligt.130 Nachdem sich die Tagungsorganisatoren des World Congress on Fertility and Sterility in den 1950er-Jahren auch der Kritik ausgesetzt gesehen hatten, dass das vordringliche Ziel der IFA die Unterstützung unfruchtbarer Paare sei, und nicht die Verhütung von Nachwuchs, setzte sich die Überzeugung durch, dass es bei der reproduktionsmedizinischen Forschung immer um ein doppeltes Ziel gehe: einerseits um die Hilfe für kinderlose Paare, andererseits um die Bereitstellung wirksamer Verhütungsmittel. So fanden beispielsweise auf den Kongressen von 1966 und 1968 eigens Sektionen zum Thema „Fertilitätskontrolle“ statt. Und noch im Jahr 1971 argumentierte auf dem siebten Weltkongresses zur Fertilität und Sterilität der britische Zoologe, Genetiker und Cambridge-Professor Robert G. Edwards, als er den Stand seiner Forschung zur In-vitro-Fertilisation mit anschließendem Transfer des Embryos in die Gebärmutter der Frau vorstellte: „Our primary task is to alleviate the infertility of our patients by means of embryo transfer, a task that could bring considerable happiness to many couples. In attempting to achieve this our work should also help in understanding basic reproductive physiology in man, so that we will be better able to evaluate methods of contraception […].“131

Die zahlreichen Bemerkungen und Sektionen zur Geburtenkontrolle auf den Kongressen der IFA sind jedoch nicht auf den Einfluss des Ciba-Symposiums von 1962 zurückzuführen. So steht das bis in die 1970er-Jahre wiederholt geäußerte Ziel der Geburtenkontrolle, wie gesehen, in Kontinuität mit den bereits in den 1950er-Jahren geäußerten Zielen. Außerdem lassen sich in den Weltkongressberichten nach 1962 keine direkten Bezüge zum Ciba-Symposium „The Future of Man“ ausmachen.

130 Adele Clarke, Disciplining reproduction: Modernity, American life sciences, and the „problems of sex“, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1998. 131 Robert Edwards, In vitro Fertilization of Human Oocytes, in: Toshio Hasegawa und Motoyuki Hayashi et al. (Hrsg.), Fertility and Sterility: Proceedings of the VII World Congress, October 17–25, 1971, Tokyo and Kyoto, Japan, Amsterdam/New York: Excerpta Medica 1973, S. 45–55, S. 55.

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Bei der Untersuchung der Protokolle zu den Weltkongressen zur Fertilität und Sterilität fällt schließlich ein weiterer Aspekt auf: Nach dem Ciba-Symposium von 1962 wurden darin keine Vorstellungen positiv eugenischer Art im Sinne Hermann J. Mullers artikuliert, die auf die dereinst möglichen direkten Eingriffe ins Erbgut des werdenden Lebens gesetzt hätten. Insbesondere kam die Möglichkeit therapeutischer Eingriffe ins Genom menschlicher Embryonen in vitro auf den Kongressen jener Zeit nicht zur Sprache. Hingegen sprach sich niemand anderer als Anne McLaren, die bedeutende britische Entwicklungsbiologin und Genetikerin, die in den 1950er-Jahren zum Embryotransfer an Mäusen geforscht hatte, bei der Diskussion über die Insemination mit Spendersamen – notabene auf einem weiteren Ciba Symposium im Jahr 1973 zum Thema „Law and Ethics of A.I.D. [Artificial Insemination by Donor] and Embryo Transfer” – explizit gegen Hermann J. Mullers Vorstellungen aus: „Will A.I.D. ever be used in the interests of positive eugenics, for the genetic improvement of mankind or to further some less reputable social or political aim? […] Muller argued strongly that some effort should be made to improve the quality of the human race by the use of A.I.D., but he has few supporters. Medawar concluded on genetic grounds that the goal of positive eugenics could never be achieved, since ‚the human genetic system does not lend itself to improvement by selective inbreeding’. We are genetically very diverse and our well-being depends on this diversity. Maynard Smith, taking I.Q. score as an example, emphasized the extreme slowness of any advance under selection that could be achieved through the use of artificial insemination in women.“132

Um den noch in der Erprobung befindlichen Embryotransfer im Rahmen von Fruchtbarkeitsbehandlungen kinderloser Paare zu legitimieren, meldete sich auf demselben Symposium wiederum der spätere Medizinnobelpreisträger Robert G. Edwards zusammen mit dem Gynäkologen Patrick C. Steptoe zu Wort (sie sollten die ersten sein, die bei der Anwendung dieser Methode am Menschen erfolgreich waren: Nach der Übertragung einer in vitro befruchteten Eizelle in die Gebärmutter von Lesley Brown wurde im Jahr 1978 Louise Brown geboren, das erste außerhalb des mütterlichen Körpers gezeugt Kind): „Some of the comments that are made about the wider implications of embryo transfer appear to be irrelevant or misleading. Debates on the imminence of genetic engineering, for example, are highly imaginative. […] Likewise, suggestions that the infertile should not be cured because of the problems of overpopulation must be dismissed as mistaken. Adopting this suggestion would lead to changes in the doctor-patient rela-

132 Anne McLaren, Biological aspects of A.I.D., in: Ciba Foundation (Hrsg.), Law and Ethics of A.I.D. and Embryo Transfer (Ciba Foundation Symposium 17, new series), Amsterdam/London/New York: Associated Scientific Publishers 1973, S. 3–9, S. 7f.

Population under Control

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tionship and would demand that an unfortunate minority be penalized for the sake of majority.“133

Es sei an dieser Stelle dahingestellt, wie die Aussagen von McLaren, Edwards und Steptoe zu werten sind: lediglich als Strategie im damaligen Legitimationsdiskurs oder als Ausdruck einer inneren Überzeugung. Auf jeden Fall aber machen die Statements deutlich, dass sich die Reproduktionswissenschaftler, die nicht zur Verhütung von Schwangerschaften, sondern zur In-vitro-Fertilisation und dem Embryo-Transfer forschten, zu Beginn der 1970er-Jahre insbesondere von eugenischen und gentechnischen Utopien sowie teilweise vom Topos der „Bevölkerungsexplosion“, wie sie auf dem Ciba-Symposium „The Future of Man“ im Jahr 1962 geäußert worden waren, distanzieren mussten.

4.  Fazit Bei dem Versuch, die Zukunft der menschlichen Bevölkerung zu prognostizieren, bewegten sich die Einschätzungen der 27 Wissenschaftler des Ciba-Symposiums „The Future of Man“ zumeist im Rahmen gängiger Topoi des damaligen im angelsächsischen Raum, aber auch darüber hinaus zirkulierenden Bevölkerungsdiskurses („Bevölkerungsexplosion“, Neomalthusianismus, „genetische Verschlechterung“, „differentielle Fertilität“). Hingegen kam es bei den Vorschlägen zur Steuerung der menschlichen Zukunft zur Verschränkung von reformeugenischen, molekularbiologischen und reproduktionstechnologischen Vorstellungen. Diese Kombination bestand aus dem „negativ eugenischen“ Paradigma der Empfängnisverhütung bei Menschen mit so bezeichneten „unerwünschten“ Eigenschaften durch hormonelle Verhütungsmittel und aus „positiv eugenischen“ Vorstellungen zur „genetischen Verbesserung“ der Menschheit und zur Hervorbringung „hochintelligenter“ Menschen durch die noch nicht mögliche Genmanipulation, das ebenfalls antizipierte reproduktive Klonen sowie die Tiefkühlung menschlicher Keimzellen zwecks künstlicher Befruchtung. Somit wurde auf dem Symposium von 1962 wiederholt der Genetisierung der menschlichen Fortpflanzung das Wort geredet. Vor allem Hermann J. Muller blickte auf die in Zukunft möglich erscheinende Manipulation des Genoms vorgeburtlichen Lebens. Bis es soweit wäre, sollte die Regulierung der Fortpflanzung mit hormonellen Verhütungsmitteln und qualitativ hoch stehenden Spendersamen vorangetrieben werden, Maßnahmen, deren Einfluss auf die menschliche Evolution jedoch als äußerst gering eingeschätzt wurde. Joshua Lederbergs „Euphenik“ setzte im Gegensatz dazu zwar 133 Robert G. Edwards/Patrick C. Steptoe, Biological aspects of embryo transfer, in: Ibid., S. 11–18, S. 16.

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Regula Argast

nicht auf die Veränderung des Genoms menschlicher Keimzellen, bei dem Ziel einer technologischen „Verbesserung“ des Menschen stand sie Mullers Visionen jedoch in nichts nach. Zusammen mit zwei weiteren Konferenzen in den Jahren 1963 (Ohio) und 1964 (London) stand das Ciba-Symposium exemplarisch für die damals weit verbreiteten Bestrebungen zur Regulierung der weltweiten Bevölkerungsentwicklung, bei der sich neuerdings reformeugenische Zielsetzungen mit den (antizipierten) molekulargenetischen sowie reproduktionstechnologischen Möglichkeiten verbanden. Die Rezeption erfolgte in Deutschland und im angelsächsischen Raum in unterschiedlicher Art. Die divergierenden historischen Erfahrungen und die unterschiedlichen Ausprägungen der Eugenik seit den 1920er-Jahren scheinen dabei – was nahe liegend ist – eine treibende Kraft gespielt zu haben. Gerade der wiederkehrende Bezug auf die nationalsozialistische Eugenik und Rassenhygiene in der deutschsprachigen Rezeption einerseits und das bemerkenswerte Spannungsverhältnis zwischen spektakulären Bildern und moderaten Texten in englischsprachigen Publikumsmedien andererseits weisen in diese Richtung. Grundsätzlich aber bot die Rezeption des Symposiums in der BRD noch vor dem Marburger Forum philippinum von 1969 eine Möglichkeit, die Rolle der deutschen Humangenetik während des Nationalsozialismus öffentlich zu thematisieren sowie einen frühen bioethischen Diskurs in den Bereichen Gen- und Reproduktionstechnologie zu lancieren. Im angelsächsischen Raum führte die populärwissenschaftliche Beschäftigung mit den auf dem Ciba-Symposium vorgetragenen Vorstellungen hingegen eher dazu, ein rudimentäres Grundlagenwissen der Forschungsvorhaben und Machbarkeiten früher Reproduktionstechnologie und Genetik zu popularisieren. Die sozialtechnologischen Implikationen, die auf dem Symposium zur Geltung gekommen waren, wurden dabei eher außer Acht gelassen. Entgegen der eingangs formulierten Hypothese, dass die auf dem CibaSymposium verhandelten eugenischen Bevölkerungsutopien eine legitimierende Funktion für die Gen- und Reproduktionstechnologie besaßen, war die praktische Bedeutung des Ciba-Symposiums für diese Wissenschaftszweige gering. Mehr noch: Die auf dem Ciba-Symposium formulierten Utopien hatten gerade der damaligen Forschung zur In-vitro-Fertilisation und zum Embryotransfer einen Bärendienst erwiesen, wie unter anderem die Tagungsprotokolle des Weltkongresses zur Fertilität und Sterilität der International Fertility Association deutlich machen: Immer öfter sahen sich Reproduktionsmedizinerinnen und -mediziner dem Verdacht ausgesetzt, positiv eugenischen und gentechnologischen Anwendungen Vorschub zu leisten. Davon mussten sie sich unmissverständlich distanzieren, wollten sie ihre umstrittene Forschung legitimieren.

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Von der Krise zur Chance – Die Politik der „Bevölkerung“. Deutsche und europäische Diskurse seit 1970 „And I call on researchers, policy makers and other stakeholders in civil society to join force and share their creative ideas to transform the demographic challenge into an opportunity for all Europeans.“ Vladimir Špidla, EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit1 „Die Mitglieder der Enquete-Kommission sehen den demografischen Wandel nicht vordergründig als eine Gefahr, sondern vielmehr als eine Herausforderung an, sie sehen ihn aber gleichzeitig auch als Chance, die Zukunft des Freistaates Sachsen zu gestalten und erfolgreich die Konsequenzen des demografischen Wandels zu gestalten.“ Bericht der Enquete-Kommission „Demografische Entwicklung in Sachsen“2

Der Bevölkerungs-Diskurs, das öffentliche Reden von demografischen Veränderungen in der Gesellschaft und ihren zukünftigen oder gegenwärtigen Folgen, hat in der Bundesrepublik Deutschland seit etwa Mitte der Neunzigerjahre erneut erhebliche Konjunktur. Dabei hat sich in diesem Zeitraum eine sprachliche Verschiebung ergeben: Dominierten am Anfang noch die Expertisen einiger Bevölkerungswissenschaftler und der Alarmismus vornehmlich konservativer Publizisten, so ist der „demografische Wandel“ inzwischen zu einem Leitthema der Politik geworden, und zwar (wenn man von inhaltlichen Differenzierungen absieht) weitgehend unabhängig von der parteipolitisch-ideologischen Orientierung. Mit dieser Verlagerung haben sich aber auch die Konnotationen verschoben. Viele Diskutanten bemühen sich, nicht mehr das Krisenhafte der Bevölkerungsentwicklung zu betonen – „Überalterung“ und eine „Fertilität“ unter dem „Bestandserhaltungsniveau“ führten zum „Aussterben“ der Bevölkerung –, sondern sie als Chance zu begreifen. 1 Vladimir Špidla, Foreword, in: European Communities (Hrsg.), Europe’s Demographic Future: Facts and Figures on Challenges and Opportunities, Luxemburg: Office for the Official Publications of the European Communities 2007, S. 7. 2 Sächsischer Landtag, Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder, Bericht der Enquete-Kommission, Landtags-Drucksache 4/13 000, Dresden 2008, S. 24.

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Dieses Wort von der „Chance“ oder „Opportunity“ kommt häufig, wie in den Eingangszitaten, als merkwürdige Leerformel daher. Die Krise oder die Herausforderung als Chance zu sehen, ist generell ein Leitmotiv politischer Rhetorik. Es suggeriert eine externe Bedrohung unserer Ordnung, etwas, das wir nicht mehr werden abwenden können. Wir wissen, es wird hart werden, aber wir wissen nicht genau, wie hart. Doch müssen wir auf jeden Fall das Beste daraus machen.3 Siehe die beiden Beispiele oben: Die Enquete-Kommission proklamiert tautologisch, der demografische Wandel sei eine Chance, die Folgen des demografischen Wandels zu gestalten. Da sich Zähler und Nenner aufheben, bleibt die Gestaltung übrig; vielleicht besteht die Chance gerade darin, dass sich mit diesem Begründungszusammenhang politische Gestaltungsspielräume eröffnen lassen. (Im konkreten Fall geht es unter anderem darum, europäische Fördermittel zu generieren.) Der leidenschaftliche Appell des EU-Kommissars, der das erste Green paper der EU zum demografischen Wandel einleitete, ist zuallererst an die europäische Wissenschaftsgemeinde adressiert. Für sie bietet sich insofern eine Chance, dass die Bevölkerungsveränderungen selbst und dann auch seine Folgen wissenschaftlich beschrieben, abgeschätzt, prognostiziert werden müssen. Zugleich geht es hier aber auch um eine Europäisierung des demografischen Wandels. Damit würde sich für die EU-Kommission die Chance eröffnen, zur Bewältigung der Folgen ihre Regelungskompetenzen auszuweiten. Politik und Wissenschaft stehen – nicht nur im Zusammenhang mit Bevölkerungsfragen – in einem Wechselverhältnis, in dem beide Seiten mit Mitchell G. Ash „Ressourcen für einander“ dar- und bereitstellen: „Dabei zeigt es sich, daß solche Ressourcenensembles im Prinzip gegenseitig mobilisierbar sind. Das heißt unter anderem, daß Wissenschaftler genausogut Ressourcen aus der politischen Sphäre für ihre Zwecke mobilisieren, wie Politiker die Wissenschaftler und ihre Ressourcen für ihre Zwecke zu benutzen versuchen können. Dies geht mit einem komplexen sozialen Prozeß der zunehmenden Verwissenschaftlichung vieler Bereiche der Politik und der zunehmenden Ausrichtung wissenschaftlicher und technischer Forschung auf eben diese Bereiche einher.“4 3 In diesem Beitrag geht es nicht darum, demografischen Wandel zu bestreiten oder zu dekonstruieren. Bevölkerungsgrößen und -zusammensetzungen verändern sich immer („Nullwachstum“, statische und homogene Bevölkerungen sind Traumgebilde ordentlicher Menschen). Es ist jedoch keineswegs voraussetzungslos, solche Veränderungen a) zu problematisieren und b) als Krisenphänomene zu interpretieren. Ich interessiere mich vorrangig für die (politischen) Voraussetzungen und Konsequenzen solcher Problematisierungen. 4 Mitchel G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestands-

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In der Geschichte der bundesdeutschen Bevölkerungswissenschaft und -politik seit Mitte der siebziger Jahre hat das Ressourcenensemble recht unterschiedliche diskursive Ausprägungen erfahren. Einige konservative Wissenschaftler behaupten gelegentlich, dass es bis vor kurzem noch ein bevölkerungspolitisches „Tabu“ gegeben habe. Das ist sicher die radikalste (und hintersinnigste) Interpretation einer Politik, die das demografische Argument aus verschiedenen Gründen nicht in ihrem Legitimationsreservoir führte. Wenn es tatsächlich so gewesen ist, dann stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass das Reden von „bevölkerungsbewusster Politik“5 oder „aktive[r] Gestaltung des demografischen Wandels“6 fester Bestandteil politischer Rhetorik und Programmatik geworden ist. Meine vorläufige – prozedurale – Antwort: – Bevölkerungswissenschaftliche Fragestellungen und Wissensbestände wurden in der Bundesrepublik nach 1990 stärker als zuvor von einigen konservativen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Teilen der Medien und auch in der Politik mehr und mehr als bedrohliches Krisenphänomen interpretiert. – Neue Agenturen und Formen der Vermittlung dieses Wissens in Öffentlichkeiten und Politik haben die Popularisierung befördert. Das Krisen-Narrativ ist durch spezifische Zuspitzungen und Moralisierungstendenzen gekennzeichnet. – In jüngster Zeit wurde der „demografische Wandel“ auch von nichtkonservativer Seite und auf europäischer Ebene als politische Ressource begriffen, wobei man aber vermied, ihn als Katastrophe zu beschreiben. Vielmehr ist nun von Chancen, Herausforderungen und Möglichkeiten die Rede. – Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch ein „unverkrampfter“ oder scheinbar unideologischer Umgang mit dem prognostizierten Bevölkerungsrückgang und der Alterung der Gesellschaft bestimmte Topoi reproduziert, die einer Politik, die die Bevölkerungsentwicklung überhaupt problematisiert, gewisse Denk- und Handlungslogiken aufzwingen.7 aufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner, 2002, S. 32–51; dieses Zitat: S. 33. 5 Sächsischer Landtag, Demografischer Wandel, S. 59. 6 So z.B. ein Positionspapier der bündnisgrünen Bundestagsfraktion: http://www.gruenebundestag.de/cms/demografie/dok/298/298861.geburtenrate_und_demografie.html (Zugriff: 15.09. 2009) 7 An einer Diskussion aus dem Herbst 2009 kann man das sehr schön studieren. Auf die Auslassungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin Anfang Oktober über „Kopftuchmädchen“, „Araberfrauen“ und „Türken“, die die Hauptstadt immer mehr dominierten, antwortete Constanze von Bullion in einem SZ-Kommentar ambivalent:

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Meine Darstellung wird sich auf einige wenige Aspekte beschränken müssen. Wichtige Ereignisse, Entwicklungen und Institutionen in der jüngeren Diskursgeschichte des Bevölkerungswissens und der Demografie habe ich, um mich auf Fragestellung und Hypothesen zu konzentrieren, nur am Rande erwähnt oder verschwiegen (der Volkszählungsprotest 1983–87, die deutsche Delegation auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994, die Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ des Bundestags 1992–2002, das Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock u.a.). Die hier zitierten Bevölkerungsforscher sind keine ausschließlichen Repräsentanten der Bevölkerungswissenschaft. Aus den Quellen sprechen aber Narrative, Topoi und Problemdefinitionen, die in den jüngsten Bevölkerungsdiskursen sehr einflussreich geworden sind.

1.  Institutionalisierung Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander – dieses Verhältnis bekam in der Institutionalisierung der deutschen Bevölkerungsforschung quasi als untergeordnete Behörde des Bundesinnenministeriums eine spezifische Ausprägung. Ein internationaler politischer Kontext dieser Gründung im Jahr 1973 war die Diskussion über die Überbevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern, die 1974 in der Ersten Weltbevölkerungskonferenz kulminierte. Der nationale Kontext war vielschichtig, aber es ist sicher mehr als eine historische Koinzidenz, dass die Bundesregierung im Dezember 1973 einen Anwerbestopp für Gastarbeiter in Kraft setzte. Ich will diese Rahmungen kurz erläutern. Die weltweite Debatte um die Überbevölkerung ging, Marc Frey zufolge, wesentlich auf die Initiative US-amerikanischer Bevölkerungswissenschaftler zurück, die nach 1945 mit Hilfe philanthropischer Stiftungen das Thema „Weltbevölkerung“ auf die politische Agenda gesetzt hätten. Es ging in dieser Geschichte um die Deutungshoheit über die Ursachen der Nahrungsmittelknappheit in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ und damit über Maßnahmen zur Bekämpfung von Hunger und Armut. Diese Demografen hatten Überbevölkerung „Wer nicht will, dass wenig Gebildete ständig neue Kopftuchmädchen produzieren, wie Sarrazin das nennt, während die Leistungsträger der Gesellschaft aussterben, der muss auch dafür sorgen, dass diejenigen sich stärker vermehren, denen man offenbar mehr Grips zutraut: die akademischen Frauen, die arbeitenden Mütter. Egal, woher ihre Großeltern stammen.“ Die Autorin argumentiert gegen die pauschalisierende (und von Sarrazin rassistisch akzentuierte) Zuschreibung von Bildungsstand und Herkunft (ein häufiger Topos im demografischen Diskurs) und reproduziert dabei aber einen anderen, nicht weniger schwierigen Topos: den von den „kinderlosen Akademikerinnen“, wobei dieses „Vermehren“ sowohl biologistisch als auch bildungspolitisch gelesen werden kann. Vgl. „Die Stadt des Thilo Sarrazin“, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.10.2009, S. 4.

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als entscheidenden Faktor ausgemacht, für die wiederum mangelnde Familienplanung ursächlich sei. Verschiedene Stiftungen und die amerikanische Außenpolitik versuchten, entsprechende Familienplanungsprogramme – soll heißen: Maßnahmen zur Geburtenkontrolle – in Entwicklungsländern anzuschieben. Flankiert wurden diese Bemühungen durch einen Ausbau der Forschungseinrichtungen zur Weltbevölkerung sowie von einer Vielzahl internationaler Konferenzen. Jedoch „basierten malthusianische Warnungen vor gewaltigen Hungerkatastrophen“ laut Frey „zu keinem Zeitpunkt auf empirischen Befunden, sondern auf unbegründeten, wertorientierten Annahmen“.8 Der Diskurs hatte seinen ersten Höhepunkt im Jahr 1974, das von den Vereinten Nationen als „UN-Weltbevölkerungsjahr“ proklamiert wurde. Im August fand in Bukarest die erste Weltbevölkerungskonferenz statt, auf der es zu massiven Polarisierungen zwischen Nord und Süd, Ost und West kam.9 Entsprechend blieb der schließlich verabschiedete Weltbevölkerungsaktionsplan weitgehend unverbindlich; aber er postulierte das Prinzip der staatlichen Souveränität in Bezug auf bevölkerungspolitische Maßnahmen. Das Thema sollte demnach weiter beforscht werden: „Nationale und regionale Forschungseinrichtungen, die sich mit Bevölkerungsfragen und verwandten Gebieten befassen, sollten unterstützt und gegebenenfalls erweitert werden. Besondere Anstrengungen sollten unternommen werden, um die Forschungsarbeit dieser Einrichtungen durch den erleichterten Austausch von Informationen über die geplanten und laufenden Forschungsprojekte zu koordinieren.“10

Es ging auch um eine Ausweitung der demografischen Forschungen, um die Ursachen, Folgen und Lösungsansätze des sogenannten Weltbevölkerungsproblems wissenschaftlich erfassen und bewerten zu können; und es ging um Vernetzung, Wissenstransfer, Internationalisierung. In diesem internationalen Kontext wurde 1973 das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden gegründet, das – als Bundesanstalt im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern – 1974 seinen Betrieb aufnahm. Vorausgegangen waren eine sechsjährige Vorbereitungszeit und ein noch viel längerer Zeitraum, in dem sich die seit 1952 „auf Initiative des Sozialhygienikers Harmsen“ (Jürgens) wieder in einer Fachgesellschaft versammelten Bevölkerungsforscher bemüht hatten, ihre Disziplin in einer geeigneten Weise neu zu 8 Marc Frey, Experten, Stiftungen und Politik: Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 1+2, S. 8. 9 Ibid., S. 13. 10 Dokumentiert in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft (ZfBw) 1 (1975), H. 2, S. 80– 108, hier S. 103.

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institutionalisieren.11 Damit gab es erstmals nach 1945 wieder eine zentrale Forschungseinrichtung, die zudem explizit Beratungsleistungen für Regierung(en) und Administration zu erbringen hatte.12 Der Kuratoriumsvorsitzende des BiB definierte den Zweck der bevölkerungswissenschaftlichen Betätigung so: „Das Institut hat die vordringliche Aufgabe, wissenschaftliche Forschungen über Bevölkerungs- und damit zusammenhängende Familienfragen als Grundlage für die Arbeit der Bundesregierung zu betreiben. Ferner ist es beauftragt, wissenschaftliche Erkenntnisse in diesem Bereich zu sammeln, nutzbar zu machen und zu veröffentlichen […]. Die gegenwärtigen Schwerpunkte in der Institutsarbeit liegen bei Untersuchungen über die Veränderung der Geburtenzahl und ihre möglichen Auswirkungen, so z.B. im Bereich der Bildungsplanung, des Arbeitskräftepotentials und der Altersversorgung, bei Studien über die Veränderung der Altersstruktur und ihrem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Menschen. Da Bevölkerungsfragen nicht isoliert, sondern nur im weiteren europäischen und internationalen Rahmen gesehen werden können, wird die künftige Forschung des Bundesinstituts auch diesen Fragenkomplex in angemessener Form mit zu berücksichtigen haben.“13

Ordemann, der den BiB-Forschern diese Agenda mit auf den Weg gab, war Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium. Vermutlich hatte die Entscheidung, die Bevölkerungsforschung in Deutschland a) regierungsamtlich und b) zentralistisch zu betreiben, zwei nachhaltige Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Disziplin und für die Popularisierung von Bevölkerungsfragen: Erstens die auffällige Konzentration auf nationale Bevölkerungsfragen und zweitens die Marginalisierung der Bevölkerungswissenschaft an den Universitäten.

11 Vgl. Hans W. Jürgens, Zur Lage der Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZfBw 1 (1975), H. 1, S. 9ff. Zu Initiierung und personeller Kontinuität der deutschen Bevölkerungswissenschaft nach 1945 in der DGBW vgl. Alexander Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“ in der „Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft“ (1952 bis ca. 1970), in: Josef Ehmer/Ursula Ferdinand/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Herausforderung Bevölkerung, Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 283–294. 12 Aktuell arbeiten am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, u.a. Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Demografen, Politikwissenschaftler. Der Zuschnitt ist also eher klein. Neben der Durchführung eigener Forschungsprojekte sieht das BiB seine Aufgaben darin, Politik, Öffentlichkeit und Unternehmen über bevölkerungswissenschaftliche Themen zu informieren und insbesondere die Bundesregierung „in der Interpretation demografischer Trends und Analysen“ zu beraten. Es wird in Verwaltungsgemeinschaft mit dem Statistischen Bundesamt geführt, das ebenfalls in Wiesbaden ansässig ist. 13 Hans Joachim Ordemann, Geleitwort, in: ZfBw 1 (1975), H. 1, S.4

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Die allererste Beschäftigung am BiB galt gar nicht dem Problem der „Überbevölkerung“ in den Entwicklungsländern, wie es das internationale Umfeld anheischig machte, sondern folgendem Thema: „Der Stillstand des Bevölkerungswachstums, Wandlungen der Altersstruktur, Probleme der Binnenwanderung sowie die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer sind Fragen, die für die zukünftige Entwicklung von erheblichem Einfluß auf zahlreiche Lebensbereiche sind“. So heißt es in dem Geleitwort.14 Sorge machte vor allem das deutsche „Geburtendefizit“, also die Rückläufigkeit der Geburtenziffern unter das sogenannte Bestanderhaltungsniveau seit 1971. Genau genommen handelte es sich dabei um einen Gestorbenenüberschuss der Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit von 3,2 Promille im Jahr 1973 bei einem Geborenenüberschuss der Menschen mit „fremder“ Staatsangehörigkeit von 22,6 Promille.15 Mit einem Report über diese Entwicklung reüssierte das BiB dann auf der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest. Der Gegenstand der demografischen Forschung war also deutlich auf die nationalstaatliche Ebene fokussiert; und es war eine streng administrativ-staatliche, vielleicht sogar kameralistische Perspektive, die die Kategorien zur Beschreibung der „Bevölkerung“ vorgab. Damals wurden Standardnarrationen etabliert, die wir noch heute aus demografischen Diskursen kennen und die ihrerseits historisch nicht voraussetzungslos sind: – Die Problematisierung eines angeblichen Bevölkerungsrückgangs verweist auf die Idee, dass militärische, wirtschaftliche oder weltpolitische Macht und Bedeutung an die Zahl der auf einem Staatsgebiet lebenden Menschen geknüpft seien. Im bundesdeutschen Fall wurden diese Menschen freilich geschieden in solche mit deutscher und solche mit „fremder“ Staatsbürgerschaft; wenn die Rede davon ist, dass die Bevölkerung in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren „schrumpfe“, dann ist damit nicht die absolute Zahl gemeint, sondern die der explizit „deutschen“ Bevölkerung. So ist auch das Wort vom „Gebur-

14 Ibid. Damit will ich nicht behaupten, dass Weltbevölkerungsfragen am BiB oder in seiner Zeitschrift gar keine Rolle gespielt hätten. Vgl. beispielsweise Rainer Münz, Zur Entwicklung der Weltbevölkerung und zu den Ergebnissen des World Fertility Survey, in: ZfBw 6 (1980), H. 2, S. 245–249. Auch gehört zu den Aufgaben des Instituts, „die Bundesregierung bei der internationalen Zusammenarbeit in Bevölkerungsfragen, insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen.“ Vgl. http://www.bib-demographie. de/cln_099/nn_750618/DE/AufgabenZiele/leit-bild__hidden__node. html?__nnn=true (Zugriff: 1.10.2009). 15 Gerd-Rüdiger Rückert/Heinrich Tegtmeyer, Die demographische Situation in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1973, in: ZfBw 1 (1975), H. 1, S. 22.

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tendefizit“ oder vom „deutschen Defizit“16 in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Erstens als ein mathematisch-statistisches Minus der Geburten gegenüber den Todesfällen, zweitens als ein tendenzielles Verlieren sowohl im internationalen als auch im internen (deutsch-ausländischen) Geburtenwettstreit: „Die Tatsache, daß die Bundesrepublik nicht nur im Verlauf des generellen Trends aller Industrienationen einen Geburtenrückgang aufweist, sondern daß bereits jetzt ein Geburtendefizit registriert wird, läßt der Erforschung dieser Fragen […] hohe Priorität zukommen.“17, so noch einmal Ordemann. – Das zweite Narrativ ist das der „Überalterung“, dem eine Differenzierung der „Bevölkerung“ in „Generationen“ zugrunde liegt und das seinen sichtbarsten Ausdruck im demografischen Altersstruktur-Diagramm, der Burgdörferschen „Bevölkerungspyramide“, findet. Die mittleren – produktiven – Generationen müssen demnach die jungen und die alten – unproduktiven – Generationen tragen. Werden es der Alten immer mehr und leben sie immer länger, könnte die Belastung der Alimentierenden zu groß werden. Das umlagefinanzierte Sozialversicherungssystem, etwa die 1957 eingeführte solidarische Rentenversicherung, bräche dann zusammen. Dergleichen Szenarien gibt es noch viele mehr. – Wo es ein Defizit gibt, etwas wegbricht, eine Lücke entsteht, da kann etwas anderes nachströmen. Auch diese Idee findet sich bereits bei Burgdörfer; allerdings sah er die Bedrohung in den slawischen Völkern.18 In den siebziger Jahren standen die Gastarbeiter im Vordergrund. Als man diese aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht mehr benötigte, gingen sie – trotz Rückkehrprogrammen – häufig nicht in ihre Heimatländer zurück. Im Gegenteil, sie holten oft (auch infolge des Anwerbestopps) ihre Familien nach. Die Problematisierung dieses Phänomens in den Worten des BiB-Gründungsdirektors Hans W. Jürgens: „Der stetige Zustrom von Gastarbeitern, der nicht nur zu 16 Karl Schwarz, Das deutsche Defizit, in: Lutz Franke/Hans W. Jürgens (Hrsg.), Keine Kinder – keine Zukunft? Zum Stand der Bevölkerungsforschung in Europa, Boppard: Boldt 1978, S. 27. 17 Ordemann, Geleitwort, S. 4. 18 „Der genügsame, willige und billige polnische Wanderarbeiter ist der Wegbereiter für das Vordringen des geburtenstarken, und expansiven polnischen Volkstums. Hier ergeben sich – zumal in der heutigen weltpolitischen Konstellation – schwere Gefahren für die Behauptung des deutschen Volkstums, besonders im Osten unseres Vaterlands, wo die Gefahr durch die Landflucht noch verstärkt wird. Geburtenrückgang im heutigen Ausmaß führt zum Bevölkerungsschwund, mangelnde Reproduktion des eigenen Volkes führt – bei gleichbleibendem oder steigendem Kräftebedarf der Wirtschaft – zur Unterwanderung durch volksfremde Elemente, Unterwanderung führt auf die Dauer zur ‚Umvolkung’.“ Friedrich Burgdörfer, Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers, Berlin: Vowinckel, 1932, S. 216f.

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einer Zunahme der Bevölkerung in der Bundesrepublik führt und der auch durch Eheschließungen und Geburten künftig von zunehmender Bedeutung sein wird, wirft zahlreiche Probleme auf.“19 Die „Aufnahmefähigkeit“ der deutschen Gesellschaft, so wird diese Erzählung häufig weitergesponnen, sei begrenzt und dürfe keineswegs überstrapaziert werden (anderenfalls werde der Ausländerfeindlichkeit Tür und Tor geöffnet). Das sollten die ersten Hauptgegenstände der amtlichen Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland sein. Die Zentralisierung an einem Institut könnte dazu beigetragen haben, dass die Bevölkerungswissenschaft nur vergleichsweise marginal an den Universitäten vertreten gewesen ist. Jürgens konnte 1981 fünf Hochschulen identifizieren, an denen es bevölkerungswissenschaftliche Lehrstühle gab (einschließlich Bevölkerungsgeschichte): Bochum, Kiel, Bamberg, Bielefeld und die FU Berlin.20 Während sich die demografische Entwicklung immer mehr zu einem politisch relevanten Thema entwickelte und der wissenschaftliche Politikberatungsbedarf zunahm, vor allem also seit Ende der neunziger Jahre, sind diese Lehrstühle mit der Emeritierung ihrer Inhaber und darauf folgender Nichtnachbesetzung oder Umwidmung zum Teil wieder verschwunden. Lediglich an der Universität Rostock gab es einen Neuaufbau, der wohl im Zusammenhang mit dem dortigen Max-Planck-Institut für demografische Forschung zu sehen ist.21 Die Institutionalisierung ist über das amtliche Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung nicht weit hinausgekommen – und das trotz der Anstrengungen einiger publizistisch besonders aktiver Bevölkerungsforscher (wie z.B. Herwig Birg), demografische Fragen zu popularisieren.

19 Jürgens, Lage der Bevölkerungswissenschaft, S. 15 – Ein weiteres aus der Beharrlichkeit der Kategorien resultierendes Forschungsfeld des BiB, das dessen Direktor Jürgens seinerzeit auf ’s Tapet brachte, scheint – wenigstens vorübergehend – in den Hintergrund getreten zu sein: „Schließlich sind auch weite Aufgabengebiete der Sozialmedizin, insbesondere der Epidemiologie und Probleme der Populationsgenetik (Erbkrankheitsregister etc.) zu nennen, die gerade in Anbetracht der Entwicklung der Sozialgenetik immer stärker auf die Mitarbeit der Bevölkerungswissenschaft angewiesen sind.“ – Ibid. 20 Jürgens, Bevölkerungswissenschaft an Hochschulen, S. 87–109. 21 Die öffentliche Erscheinung des MPI war durch die Langlebigkeitsforschungen seines ehemaligen Direktors James Vaupel geprägt. Einige Rostocker Demografinnen und Demografen haben aber in den jüngsten Debatten die Rolle derjenigen übernommen, die in der Lage sind, konservative Alarmismen durch interne Kritik zu relativieren, etwa durch den Verweis auf fehlende statistische Grundlagen. Vgl. Michaela Kreyenfeld/Dirk Konietzka, Die Analyse von Kinderlosigkeit in Deutschland: Dimensionen – Daten – Probleme, in: Dies. (Hrsg.), Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, S. 11–44.

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An dieser Popularisierung beteiligen sich inzwischen auch noch andere, nichtstaatliche Agenturen. Private Stiftungen und Institute, wie z.B. das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, die Stiftung Weltbevölkerung oder die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, produzieren offenbar politikaffinere Studien; sie bearbeiten Fragestellungen und wählen Darstellungsformen, die sich öffentlichkeitswirksam inszenieren lassen. Ihre Analysen und Prognosen sind tendenziell alarmistisch, ohne dabei konservativ oder zu wissenschaftlich oder zu amtlich zu klingen (auch wenn sie sich – wie das BiB – im Wesentlichen auf die Daten des Statistischen Bundesamts und der UNO stützen). „In Leipzig und Dresden ziehen neue Industrien ein – in der Oberlausitz die Wölfe“22, so klingen mediengerechte Übersetzungen demografischen Wissens. Exemplarisch, vielleicht auch etwas exzeptionell für diese neue Art der demografischen Politikberatung steht das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Nachdem der FAZ-Publizist Frank Schirrmacher seine Hypothese über den Zusammenhang von Frauenmangel und Rechtsextremismus in „entvölkerten“ Regionen vor allem der neuen Bundesländer publiziert hatte23, stellte das Berlin-Institut diese Behauptung auf eine Daten-Grundlage und bebilderte sie mit bunten Landkarten und Schema-Zeichnungen. Das Ergebnis lautete, auf den Punkt gebracht: „Not am Mann“24. Die Rechtsextremismus-These wurde dabei eher beiläufig behandelt; aber die Abwanderung „junger, gut ausgebildeter, gebärfähiger Frauen“ aus dem Osten wurde zu einem immensen Problem erklärt25, und zwar ohne jemals die Frage der statistischen Signifikanz und der politischen und volkswirtschaftlichen Relevanz fundiert zu erörtern. Der dramatische „Frauenmangel“ in den ostdeutschen Bundesländern ist zu einer öffentlichen Gewissheit geworden; das Thema ist als diskursives Phänomen politisch relevant, und selbst das BiB beruft sich auf diese Erkenntnisse.

22 Steffen Kröhnert u.a., Deutschland 2020. Die demografische Zukunft der Nation, Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, 2004, S. 46. 23 Frank Schirrmacher, Nackte Äste, in: SPIEGEL ONLINE, 20.09.2006, http://www. spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,438071,00.html (Zugriff: 20.09.2006). 24 Steffen Kröhnert/Reiner Klingholz, Not am Mann, Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht?, Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007. 25 Genauer dazu Daniel Schmidt, Reproduktionsmaschinen. Die Rolle der „Frau“ in demografischen Diskursen, in: Esther Donat/Ulrike Froböse/Rebecca Pates (Hrsg.), ‚Nie wieder Sex‘, Geschlechterforschung am Ende des Geschlechts, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 185–200.

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2.  Demografische Krise: Moralisierung und Zuspitzung Die öffentliche Problematisierung des demografischen Wandels in Deutschland (und Europa) geschah und geschieht in einem ausgeprägten Krisendiskurs, in dem jene Beiträge am wirkmächtigsten zu sein scheinen, die auf die Moralisierung generativer Entscheidungen und die Zuspitzung der angeblich drohenden Gefahren abzielen. Diese Aufladung der Bevölkerungsentwicklung mit einem Set von Bedeutungen will ich im folgenden an einigen Beispielen zeigen: (1) am Spiel mit dem „bevölkerungspolitischen Tabu“; (2) an der Forderung nach einer „Population Education“, die die Entscheidung, Kinder zu bekommen oder nicht, ihres privaten Charakters zu entheben versucht; (3) an der Vergesellschaftlichung dieser Entscheidung; (4) an ihrer Rückbindung an das Verantwortungsgefühl des Einzelnen; (5) an der Konstruktion einer Gefährdung sowohl der Rolle Europas in der Welt als auch der inneren Sicherheit in Deutschland. (1) Das bevölkerungspolitische „Tabu“. Bei der gewissermaßen nacheilenden Tabuisierung bevölkerungspolitischer Fragen handelt es sich um ein diskursives Wahrheitsspiel, das vor allem von Bevölkerungsexperten selbst gespielt wird, so als müssten sie sich dafür entschuldigen, dass sie sich mit Bevölkerungsfragen beschäftigen und aus ihren Erkenntnissen politische Konsequenzen ableiten. Dieses Argument hielt sich in der einschlägigen Literatur erstaunlich lange. 1975 beschäftigte sich der damalige Ministerialrat im Bundesfamilienministerium Max Wingen mit „Grundfragen der Bevölkerungspolitik“, und er proklamierte, damit an ein Tabu zu rühren: „Noch bis in die Gegenwart hinein wird in der BRD die bevölkerungspolitische Fragestellung weithin geradezu tabuisiert. Das gilt sowohl für die Bevölkerungspolitik als praktisch politisches Handlungsfeld als auch für die gedankliche Durchdringung dieses Aktionsfeldes seitens der Bevölkerungswissenschaft. Die starke Reserve gegenüber bevölkerungspolitischen Fragen sei, so wird in der aktuellen Diskussion um den Geburtenrückgang verschiedentlich sogar vermutet, ein Grund dafür, daß die tatsächliche Bevölkerungs- und Geburtenentwicklung in der BRD vielfach als nicht besorgniserregend bezeichnet und damit ‚verharmlost‘ werde.“26

Die Gründe dafür sah er erstens in der Auffassung, bevölkerungspolitische Maßnahmen tangierten den „höchstpersönlichen Charakter der menschlichen Entscheidung auf dem Gebiete der Fortpflanzung“. Und zweitens: „Unverkennbar ist

26 Max Wingen, Grundfragen der Bevölkerungspolitik, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1975, S.  12. Wingen war von 1980 bis 1991 Leiter des Statistischen Landesamts von BadenWürttemberg. Vorher und nachher arbeitete er als Referent im Bundesfamilienministerium.

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die bevölkerungspolitische Fragestellung aber auch noch heute durch die Erfahrung mit den Mißbräuchen im Dritten Reich stark belastet.“27 „Mißbräuche“ – dahinter steckt die Hypothese, die Nationalsozialisten hätten die Erkenntnisse einer werturteilsfreien, rationalen Wissenschaft für ihre ideologischen Zwecke instrumentalisiert, möglicherweise gegen den Willen der Bevölkerungsforscher. Diese seien nach dem Ende des Nationalsozialismus’ auch noch quasi Opfer eines Banns geworden, wie beispielsweise 1981 Jürgens behauptete: „Die Vermischung von Bevölkerungspolitik mit Rassefragen, die Übertreibung eugenischer Konzepte und die rabiaten Methoden zur Durchsetzung bevölkerungspolitischer Ziele trugen dazu bei, eine anhaltende Aversion gegen jede Bevölkerungspolitik zu schaffen. Gleichzeitig mit der Bevölkerungspolitik wurde aber auch die Bevölkerungswissenschaft von dem nach 1945 folgenden Bann betroffen.“28 Der Anthropologe Jürgens hatte sich gleichwohl mit solchen Fragen beschäftigt und beispielsweise 1961 über „Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem“ publiziert.29 Von 1974 bis 1979 war er Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, danach Universitätsprofessor in Kiel. Das Tabu indes blieb weiter bestehen, folgt man einem der politisch und publizistisch einflussreichsten Bevölkerungswissenschaftler der jüngeren Zeit, Herwig Birg. Der schrieb noch 2001: „Fünfzig Jahre nach der nationalsozialistischen Barbarei ist es in Deutschland immer noch ein Wagnis, sich öffentlich über die demographische Zukunft des Landes Gedanken zu machen, weil jede diesbezügliche Äußerung Gefahr läuft, politisch instrumentalisiert und mißbraucht zu werden.“30 Ich werde auf Birg noch zurückkommen.

27 Wingen setzte diese Missbräuche mit der „vom nationalsozialistischen Gedankengut verfälschten Eugenik“ gleich: „Auch hier ist die Diskussion bisher empfindlich von einer Ausprägung von ‚Eugenik‘ in nationalsozialistischer Zeit belastet, obwohl Eugenik als solche zumindest insoweit berechtigt erscheint, als sie darauf abzielt, das in der Bevölkerung vorhandene genetische Potenzial vor Schäden zu bewahren und auch in der nächsten Generation zur bestmöglichen Entfaltung zu bringen.“ Ibid., S. 13. 28 Hans W. Jürgens, Bevölkerungswissenschaft an Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft – Demographie (ZfBw), 7 (1981), H. 1, S. 90. 29 Hans W. Jürgens, Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem, Stuttgart: Enke, 1961. Vgl. Ludger Wess, Hans Wilhelm Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft, In: Heidrun Kaupen-Haas (Hg.), Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen: Greno, 1986, S. 121–145. 30 Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München: Beck, 2001, S. 194.

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Dem bevölkerungspolitischen Tabu sind drei Aspekte eigentümlich: Zum einen wird die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik verharmlost und als ideologische Instrumentalisierung von Wissenschaft konnotiert. Dann sagt man niemals explizit, wer denn eigentlich gegen Bevölkerungspolitik und –wissenschaft in Deutschland sei. Der Gegner bleibt gewissermaßen anonym, gesichtslos. Schließlich wird dieses Tabu offenbar ständig unterlaufen. Wie man sieht, war mindestens 25 Jahre lang die Rede davon, übrigens auch in der Politik.31 Ganz abgesehen davon, dass es de facto in der Bundesrepublik immer bevölkerungspolitische Interventionen gegeben hat – die freilich, und darin könnte der Kern des Tabus liegen, offiziell nicht so bezeichnet worden sind. Das Reden vom „Tabu“ oder „Wagnis“ muss also eine besondere Funktion haben. Einerseits kann sich derjenige, der es in Anschlag bringt, als Tabubrecher stilisieren und damit andererseits seine Hypothesen, Erkenntnisse und Ableitungen dramatisieren. Die Logik: Weil die meisten sich weigerten, eine „besorgniserregende“ Entwicklung überhaupt wahrzunehmen, verschärfe sich das Problem immer weiter, bis eines Tages jegliche Steuerung unmöglich und der „Niedergang“ nicht mehr aufzuhalten seien. (2) „Population education“. „Education“ hat im Deutschen bekanntlich (mindestens) zwei Bedeutungen: einerseits Bildung, andererseits Erziehung. In der „Population education“ ging es darum, bevölkerungswissenschaftliches Wissen an den Einzelnen und die Einzelne zu vermitteln und an die persönliche Verantwortung für das Ganze zu knüpfen. Max Wingen etwa verstand „population education“ als „bevölkerungspolitische Aufgabe“ und berief sich dabei unter anderem auf die UNESCO, auf Erfahrungen aus den Niederlanden und auf den Weltbevölkerungsaktionsplan von Bukarest. Letzterer sah vor, Experten für Bevölkerungsfragen auszubilden, politische Eliten zu schulen und auf der gesellschaftlichen Ebene vor allem „das Analphabetentum zu beseitigen, die Bildung der Jugendlichen zu fördern und Faktoren, die zur Diskriminierung der Frau führen, zu beseitigen.“32 Wingens Programm zielte jedoch in eine etwas andere Richtung: „Insgesamt geht es darum, die Lernenden zu befähigen, das Wissen, die Fähigkeiten sowie die Einstellungen und Wertvorstellungen zu erlangen, die notwendig sind, um informierte Entscheidungen über Vorgänge und Probleme der Bevölkerung zu treffen, 31 Vgl. z.B. die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter und der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung, 1977. Die Abgeordneten versuchten mit ihren Fragen u.a. einen Zusammenhang zwischen der Stagnation der Geburten 1976/77 und der Neuregelung des § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch) herzustellen sowie familienpolitische Maßnahmen (Erziehungsgeld) zur Förderung generativer Entscheidungen zu thematisieren. Bundestags-Drucksache 8/680. 32 Zit. nach ZfBw, 1 (1975), H. 2, S. 104.

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welche die gegenwärtige und zukünftige Lebensqualität für die einzelnen selbst, ihre Familien und die Gesamtgesellschaft beeinflussen. […] Eine umfassende demographische Bildung dürfte im Ergebnis (wenn auch in begrenzter Weise) auf den Wertewandel in der Gesellschaft einwirken. […] Die größere Gemeinschaft muß wegen der auch gesellschaftlichen Folgewirkungen des generativen Verhaltens des Einzelnen daran interessiert sein, daß sie, die den Einzelnen im übrigen mitträgt, in ihren Grundlagen und in der Verwirklichung grundlegender gesellschaftlicher Wertentscheidungen durch das individuelle Verhalten nicht gefährdet wird.“33

Man muss diese Textstelle umdrehen, um sich die Kausalkette zu verdeutlichen: a) Der Einzelne verhält sich individualistisch, b) gefährdet dabei (durch seine mögliche Entscheidung zur Nicht-Reproduktion) die Grundlagen einer „größeren Gemeinschaft“, welche c) den Einzelnen aber „mitträgt“, weshalb er d) über die gefährlichen Folgen seines (Nicht-)Tuns aufgeklärt werden müsse, um e) im Effekt in seinem „generativen Verhalten“ den Wert der Gemeinschaft im Blick behalten zu können. Diese Logik folgt aus dem Modell der „säkularen Transition“ zur Erklärung der sinkenden Geburtenraten in den Industrieländern: Individualisierung, Emanzipation „der Frau“ und der gesellschaftliche Bedeutungsverlust der Kirchen seien ursächlich dafür, dass sich Paare für weniger oder gar keine Kinder entschieden.34 „Die höchstpersönliche Entscheidung eines Ehepaares über seine Kinderzahl ist in ihren objektiven Konsequenzen von weitreichender gesellschaftlicher Tragweite. Daher kann auch mit Fug und Recht die Frage gestellt werden: Sollte es für diese unbestritten höchstpersönliche Entscheidung nicht doch auch Orientierungspunkte aus der überindividuellen Sicht geben?“35

Diese „Orientierungspunkte“ sollten vor allem in den Schulen vermittelt werden, entweder in einem eigenen Fach „Bevölkerungskunde“ oder als Querschnittsthema in verschiedenen Unterrichtsfächern. Dann aber sollte man „auf die Massenmedien zurückgreifen“, um „die jungen Erwachsenen“ erreichen zu können, die im Begriff waren, eigene Familien zu gründen. Schließlich sollte die Aufklärung der Aufklärer (letztere sind Pädagogen und „bevölkerungswissenschaftlich engagierte Journalisten“) mittels wissenschaftlicher Gutachten und Sachverständigenberichte erreicht werden. 33 Max Wingen, „Population education“ als bevölkerungspolitische Aufgabe, Anmerkungen zu einem pädagogischen Ansatz einer demographisch akzentuierten Gesellschaftspolitik, in: ZfBw, 6 (1980), H. 3+4, S. 273f. 34 Vgl. Jochen Fleischhacker, Bevölkerungspolitische Erwägungen in Zeiten exorbitanter Geburtenausfälle im 20. Jahrhundert, In: Heidrun Kaupen-Haas, Christiane Rothmaler (Hrsg.), Moral, Biomedizin und Bevölkerungskontrolle, Frankfurt a. M.: Mabuse, 1997, S. 62. 35 Wingen, Population education, S. 281.

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Wingen reflektierte auch ausführlich die Gefahren („Manipulation“, „tendenziöse Meinungsbildung“) einer solchen demografischen Erziehung. Und er sah sie als eine kommunikative Herausforderung an: „Dazu bedarf es einmal einer oft schwierigen Transformation fachspezifischer Betrachtungsweisen und Terminologien auf die Ebene des gehobenen Allgemeinwissens in umgangssprachlichem Gewande. Beispiele aus der öffentlichen Diskussion um Geburten- und Bevölkerungsrückgang in den letzten Jahren zeigen immer wieder, daß diese Schwierigkeiten nicht leicht zu meistern sind.“36 Der Aufsatz hält keinen konkreten Aktionsplan bereit. Schulen, Medien, Politik – das waren die Adressaten der „population education“.37 Zu einem politischen Topthema ist die „Bevölkerungsschrumpfung“ jedoch weniger durch sachliche Aufklärung geworden, als vielmehr durch die Beschwörung einer tiefgreifenden Krise. Wo Wingen noch nebulös von einer Gefährdung der Gemeinschaft raunte, stand anderswo schon ihr Überleben auf dem Spiel; es drohte das „Aussterben“ der Deutschen und der Europäer.38 (3) Die Vergesellschaftlichung generativer Entscheidungen. Ein Jahr nach dem Mauerfall veröffentlichte der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann einen Beitrag, den er Hermann Schubnell zum 80. Geburtstag widmete. Er handelte von den „Ursachen des Geburtenrückgangs in der Bundesrepublik Deutschland und Möglichkeiten staatlicher Gegenmaßnahmen“. Dieser Geburtenrückgang sah in Zahlen etwa so aus: Die Zusammengefasste Geburtenziffer (TFR – Total Fertility Rate) – also die statistische Berechnung, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens durchschnittlich hätte, wenn ihr Geburtenverhalten mit dem aller Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Zeitraum (meist jährlich) übereinstimmen würde39 – lag 1970 noch bei 2,02, um danach allmählich zu sinken, bis sie 1985 mit 1,28 ein Minimum erreichte. Bis 1990 war sie wieder bis auf 1,45 leicht angestiegen. Das ist weit unter dem sogenannten Bestandserhaltungsniveau von durchschnittlich 2,1 Kindern, die (einer häufig kolportierten Ge36 Ibid., S. 285. 37 „Population education“ bleibt auch weiterhin virulent. Im Bericht der sächsischen Enquete-Kommission, genauer im Minderheitenvotum der CDU-Vertreter heißt es: „Für Gegenwart und Zukunft ist es unerlässlich, dass junge Menschen über Grundkenntnisse der Demografie verfügen und über den Zusammenhang von generativem Verhalten, Bildungsprozessen und Wohlstandssicherung Bescheid wissen. […] Ein Bewusstsein der Bevölkerungsfrage macht die jungen Menschen damit vertraut, dass ausreichend Nachwuchs, der in die Bildungseinrichtungen und schwierig gewordene Arbeitsmärkte strebt, schrittweise Probleme löst und Zukunftsperspektiven schafft.“ Sächsischer Landtag, Demografische Entwicklung, S. 73f. 38 Hermann Schubnell, Sterben die Europäer aus?, in: Franke/Jürgens (Hrsg.), Keine Kinder, S. 16. 39 http://www.zdwa.de/zdwa/artikel/index_dateien/index_0407.php (Zugriff: 15.12.2009)

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wissheit zufolge) jede Frau zwischen ihrem 15. und 49. Lebensjahr zur Welt bringen müsse.40 Kaufmann konstatierte eine „Polarisierungstendenz […] zwischen denjenigen, die ‚in Familie investieren’ und dann überwiegend zwei oder evtl. drei Kinder haben, und denjenigen, die ganz darauf verzichten; die oft als brauchbarer Kompromiß zwischen den familiären und den beruflichen Lebensansprüchen der Frauen gepriesene Ein-Kinder-Familie [sic!] scheint nicht zum dominierenden Typus zu werden.“41 An dieses „neue Phänomen“ sollte sich in den folgenden Jahren ein umfangreicher Diskurs über Verantwortung und Verantwortlichkeiten anschließen, in dessen Zentrum kinderlose Frauen, insbesondere „kinderlose Akademikerinnen“ stehen, und der unter anderem dazu geführt hat, dass sich diese vermeintliche Polarisierung in den individuellen Beitragssätzen zur Pflegeversicherung niederschlägt.42 Daneben aber stellte Kaufmann vorausschauend fest: „Auch wenn gegenwärtig die Vereinigung Deutschlands alle anderen Probleme überschattet, die demographische ‚Revolution auf leisen Sohlen‘ (J. Schmid) wird den Politikern noch genügend Kopfzerbrechen bereiten und sie zu einem Umdenken zwingen.“43

Kaufmann sah eine „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ der Gesellschaft gegenüber Familien als wichtigste Ursache für Kinderlosigkeit und forderte konsequenterweise ein ganzes Bündel „familienförderlicher“ Maßnahmen, so etwa Kinderbe40 Die TFR sank in den neunziger Jahren weiter: 1991 lag sie bei 1,33, 1994 auf einem historischen Minimum von 1,24, und 2008 waren es 1,38 Kinder pro Frau. Quellen: ZfBw, 17 (1991), S. 97 und Statistisches Bundesamt: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/ cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/AktuellGeburten entwicklung, templateId=renderPrint.psml (Zugriff: 10.10.2009). Die Bedeutung dieser Zahl wird in der öffentlichen Diskussion vollkommen überschätzt, denn sie allein sagt nichts über die absolute Bevölkerungsgröße aus. Durch Wanderungsüberschüsse und kontinuierlich gestiegene Lebenserwartung ist die Zahl der Menschen in Deutschland (nach allem, was man wissen kann) gestiegen: von 78,1 Millionen 1970 auf 79,8 Millionen 1990 und 82,5 Millionen im Jahr 2004; das ist ein Zuwachs von 5,6 Prozent. 41 Franz-Xaver Kaufmann, Ursachen des Geburtenrückgangs in der Bundesrepublik Deutschland und Möglichkeiten staatlicher Gegenmaßnahmen, in: ZfBw, 16 (1990), S. 384f. 42 Nach Einführung der Pflegeversicherung hatte ein Vater einer zehnköpfigen Kinderschar vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde dagegen erhoben, dass er denselben Beitrag leisten müsse wie kinderlose Versicherte, welche doch keine individuellen Kosten für die Kinderaufzucht trügen und aber später möglicherweise durch ihre Pflegebedürftigkeit gesellschaftliche Kosten verursachen würden, die wiederum von des Beschwerdeführers Kindern beglichen werden müssten. Das BVerfG gab ihm in seiner Entscheidung vom 3.04.2001 prinzipiell Recht (Az: 1 BvR 1629/94); seither zahlen Kinderlose, die älter als 23 Jahre sind, einen individuellen Aufschlag auf den Arbeitnehmeranteil zur Pflegeversicherung von 0,25 Prozent. 43 Kaufmann, Ursachen des Geburtenrückgangs, S. 393.

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treuungsplätze für Frauen mit „hoher Berufsorientierung“ bei gleichzeitiger finanzieller Kompensation für „stark kindorientierte Frauen“.44 (4) Rückbindung an die individuelle Verantwortung. Kaufmanns Bielefelder Kollege45 Herwig Birg dagegen glaubt insbesondere nicht an die Wirkung höherer finanzieller Transfers (mit der ebenso einfachen wie verblüffenden Logik, dass die Armen mehr Kinder bekämen als die gut verdienenden Individualisten); er appelliert an die Verantwortung der einzelnen Frauen. Damit liegt er ganz auf der Linie Wingens, verschärft aber den Ton deutlich, wobei er den Kategorischen Imperativ in Anschlag bringt: „Die Maxime Kants wäre z.B. verletzt, wenn das Fortpflanzungsverhalten der jüngeren Frauenjahrgänge in Deutschland auf die gesamte Menschheit übertragen würde. Wenn sich alle Frauen der Welt so verhielten wie jenes Drittel zeitlebens kinderlos bleibender Frauen unter den 1965 und später geborenen Jahrgängen in Deutschland, wäre die Erde mit dem Hinscheiden des zuletzt geborenen Menschen, also in etwa 120 Jahren menschenleer.“46

Folglich spielt er – unter Berufung auf Hans Jonas – mit der Idee einer „Pflicht zur Fortpflanzung“, die er, unter Verweis auf und in Abgrenzung zu Friedrich Burgdörfer, sogleich wieder verwirft und den Versuch, das Leben, das man selbst geschenkt bekommen habe, weiterzugeben, zu einem Gebot der Sittlichkeit erklärt.47 (5) Konstruktion von neuen Gefährdungen. Diese ganzen Problematisierungen sind natürlich kein Selbstzweck. Noch düsterer als die prognostizierten Bevölkerungsentwicklungen sind häufig die vorhergesagten Folgen. Und das ist keine Spezialität ausschließlich deutscher Experten. Europas strategische und politische Rolle in der Welt werde sich durch den Bevölkerungsschwund verringern, so der Tenor eines Aufsatzes von Paul Demeney für die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE): 44 Ibid. Vgl. auch Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005. 45 Kaufmanns Interpretationen kommen nicht so alarmistisch und reaktionär daher wie die Birgs. Beide zitieren sich ausgiebig gegenseitig und galten beziehungsweise gelten in der Öffentlichkeit als die wissenschaftlichen Bevölkerungsexperten in der Bundesrepublik. Birg hat den „demographischen Niedergang“ nicht nur mit seinen Sachbüchern popularisiert, sondern auch mit einer ganzen Artikelserie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Grundkurs Demographie, Februar/März 2005). FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher seinerseits hat Birgs Projektionen in zwei eigenen Büchern zu Dystopien weiter zugespitzt: Das Methusalem-Komplott, München: Blessing 2004 und Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft, München: Blessing 2006. 46 Birg, Demographische Zeitenwende, S. 208. 47 Ibid., S. 218.

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„As an illustration of such shifts, consider the population size of the EU 25 countries that on 1 May 2004 will constitute the enlarged European Union – an area of peace and prosperity. Compare this EU 25 to its southern hinterland: a 25-countries assemblage of countries from West Asia to North Africa, stretching from Pakistan in the east to Marocco in the west. The terminology is arbitrary: seen from West Asia and North Africa, the EU 25 could be called that region’s northern hinterland.“48

Mag sein, dass er für diese Beschreibung auch auf die Landkarte geschaut hat; er bezieht sich jedoch auf die unterschiedlich starken demografischen Dynamiken in diesen beiden tatsächlich etwas willkürlich konstruierten Regionen: Von 1950 bis 2000 stieg die Bevölkerungszahl in den 25 EU-Ländern von 350 auf 452 Millionen, während die des „Hinterlands“ im gleichen Zeitraum von 164 auf 588 Millionen gewachsen ist. Richtig dramatisch wirkt diese Differenz freilich erst in der Prognose: Im Jahr 2050 soll die EU-25-Bevölkerung nur noch 431 Millionen Menschen zählen, die der umliegenden 25 Staaten Westasiens und Nordafrikas dagegen dreimal so viele – 1.260 Millionen. Die Konstruktionsweise dieser Gegenüberstellung ist bemerkenswert. Die 25 ‚Anliegerstaaten’ der EU reichen bei Demeney von Pakistan bis Marokko. Und es dürfte kein Zufall sein, dass Demeney die Region mit dem militärischen Begriff des „Hinterlands“ markiert. Der „Kampf der Kulturen“49 wird auch demografisch ausgetragen. Denn bei diesem Nebeneinander, so die nächste Sorge, werde es nicht bleiben. Vielmehr resultiere aus der Differenz der Populationsdynamiken Europas und seiner Nachbarn „a continuing very strong and increasing migratory pressure from south to north“50. Und das hätte nicht nur soziale, ökonomische und kulturelle Folgen für die Zielländer, sondern wirke sich spürbar auf die innere Sicherheit aus, wie auch Evelyn Grünheid vom BiB meint, wobei sie aus einer Studie des bereits erwähnten Berlin-Instituts zitiert: „Über einen massiven Migrationsdruck auf die Bevölkerung können sich diese Risiken auf potenzielle Zielländer ausweiten. ‚Dann können umfangreiche Zuwanderungen die innenpolitische Stabilität und den sozialen Frieden und somit auch die innenpo48 Paul Demeney, Policy Challenges of Europe’s Demographic Changes: From Past Perspectives to Future Prospects, in: UNECE (Hrsg.), The new demographic regime, Population challenges and policy responses, Genf: UN 2005, S. 7. Dieser Beitrag zeigt auch die europäische Dimension von Bevölkerungsfragen (und zwar in der „Außensicht“). Europa erscheint in demografischen Diskursen entweder als differenziertes Gebilde aus nationalen Bevölkerungen mit je eigenen Entwicklungen oder als einheitlicher demografischer Schicksalsraum, dessen ökonomische und politische Bedeutung aufgrund seiner demografischen Entwicklung im Vergleich zu anderen (USA, China/Indien, „Nachbarschaft“) im Rückgang begriffen sei. 49 Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München: Europa-Verlag, 1996. 50 Demeny, Policy Challenges, S. 7.

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litischen Voraussetzungen der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der betroffenen Staaten beeinträchtigen. Solche Gefahren sind in vielen Industrieländern zu erkennen: die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit, von rechtsradikalem Gedankengut, der Glaubwürdigkeitsverlust der etablierten politischen Kräfte, unter Umständen auch die Gefahr eines Imports ethnischer Konflikte, das Überspringen terroristischer Aktivitäten sowie die Ausbreitung von Drogenhandel und organisiertem Verbrechen. (Angemendt 2006, 3f.)’“51

Es geht also (und das seit den Debatten der siebziger Jahre) nicht nur um die absolute Bevölkerungsgröße, sondern auch um die Zusammensetzung der Bevölkerung. Solche krisenhaften Zuspitzungen und Moralisierungen von Bevölkerungswissen sind dem Reden vom demografischen Wandel sehr häufig eingeschrieben. Vielleicht ist es noch zu früh, das zu analysieren, aber es könnte sein, dass jegliche demografisch akzentuierte Politik diesen Diskurs implizit weiterführt. Dann würde sich die Umwertung der Krise zur Chance als Trojanisches Pferd erweisen.

3.  Demografischer Wandel: Herausforderung und Chance Die vermeintliche demografische Katastrophe oder Krise wird zur Herausforderung und Chance umgewertet. Oder sollte man das Wort „opportunities“ aus dem Špidla-Zitat am Anfang besser mit „Gelegenheiten“ übersetzen? Womit wir es hier zu tun haben, ist die Entdeckung (oder vielmehr: Wiederentdeckung), dass sich der „demografische Wandel“ politisch-strategisch einsetzen lässt. „Generally one of our main aims is to raise awareness for demographic change, and […] our message is that people should not be afraid of demographic change.“, das sagte ein mit der demografischen Lage befasster EU-Beamter im Interview.52 Man müsse

51 Evelyn Grünheid, Die Auswirkungen demographischer Entwicklungen auf die innere Sicherheit in Deutschland, in: ZfBw, 33 (2008), H. 1, S. 67. – In ¾ des Gesamtumfangs ihres Artikels fokussiert Grünheid auf „Migranten“ als Täter oder Opfer von Kriminalität. Erstaunlich ist auch, dass die „Themenstellung zu den Einflüssen demographischer Entwicklungen auf innere und äußere Sicherheit […] durch das Bundesministerium des Innern an das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) herangetragen“ worden sei, Grünheid aber ganz überwiegend mit regierungsamtlichen Quellen argumentiert. Durch diese ‚Übersetzung‘ kann nun das BMI zum Beispiel BKA-Erkenntnisse als wissenschaftliche Expertise zitieren. 52 Im Rahmen des diesem Beitrag zugrundeliegenden Forschungsprojekts haben wir im November 2007 mehrere Experteninterviews geführt, eines davon mit einem Beamten der Europäischen Kommission, Generaldirektion Beschäftigung und soziale Sicherheit. Er war dort u.a. für Fragen der demografischen Entwicklung verantwortlich.

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den Leuten erst einmal die Angst nehmen. Danach könne es an die politische Gestaltung gehen. Zur Erläuterung dieser Umwertung ziehe ich zwei Beispiele demografisch akzentuierter Politik heran: In der Legislaturperiode 2005 bis 2009 haben Bündnis 90 / die Grünen, wie andere Parteien auch, den demografischen Wandel in der Bundesrepublik relativ ausgiebig thematisiert.53 Ihre Interventionsvorschläge beziehen sich ausschließlich auf Adaption, also Anpassung an Bevölkerungsveränderungen (statt geburtenfördernder Bevölkerungspolitik). Letztlich jedoch ließen sich diese Ideen auch ohne demografischen Bezug begründen, weshalb man wiederum vermuten könnte, dass dem politischen Rekurs auf Bevölkerungswissen eine spezifische Funktion zukommt. Als zweiten Fall habe ich den Bericht der sächsischen Enquete-Kommission zum demografischen Wandel untersucht. Meines Wissens gab es bisher eine Enquete zu diesem Thema im Bundestag (1992–2002) und zwei auf Länderebene (Baden-Württemberg 2004/05, Sachsen 2005–2008)54. Auch wenn ihr direkter politischer Einfluss – etwa auf die Gesetzgebung – eher gering sein dürfte, sind solche Kommissionen als Orte der Wissensproduktion und des Agendasetting von einiger Bedeutung; vor allem sind sie Schnittstellen, an denen das anfangs angesprochene gegenseitige Ressourcenverhältnis von Wissenschaft und Politik eine interessante Ausprägung erfährt. Zunächst zu Bündnis 90 / die Grünen : In einem Beschlusspapier der Bundestagsfraktion heißt es, man erkenne an, dass „wir dem demografischen Wandel 53 Wir haben die Wahl- und Parteiprogramme aller Bundestagsparteien und der NPD analysiert. (Vgl. Daniel Schmidt, Das lange Sterben der Deutschen. Die Politik des „demografischen Wandels“; in: Diffusionen. Der Kleine Grenzverkehr zwischen Neuer Rechter, Mitte und Extremen; hrsgg. vom Forum für kritische Rechtsextremismusforschung und dem Herbert-Wehner-Bildungswerk, Dresden 2007; S. 104–115). Das demografische Argument kam bei allen vor, allerdings in unterschiedlicher Konnotation. B’90/Die Grünen kann aber als eine Partei gelten, die sich gerade im Kampf um Bürgerrechte (und u.a. gegen die Volkszählung 1983/1987) etabliert hat. Sie steht deshalb hier paradigmatisch für die Umwertung der „Krise“ zur „Chance“. 54 In der Kurzfassung des baden-württembergischen Abschlussberichts heißt es übrigens: „Die demografische Entwicklung ist als Herausforderung anzunehmen, die eine Chance zu einem umfassenden Innovationsschub für Gesellschaft und Wirtschaft bietet. Geboten ist ein gleichermaßen sachlich-nüchterner wie transparenter Umgang mit den demografischen Fakten und den hieraus abzuleitenden Konsequenzen. Weder eine übertriebene Darstellung noch die Bagatellisierung oder Verdrängung der Auswirkungen des demografischen Wandels führen weiter. Es gilt insbesondere auch, die Potenziale des Alters zu erkennen und sie sozial, kulturell sowie wirtschaftlich zu nutzen.“ Landtag von BadenWürttemberg, Demografischer Wandel – Herausforderung an die Landespolitik. Kurzfassung zum Abschlussbericht der Enquetekommission, Stuttgart 2005, S. 15. http:// www.landtag-bw.de/Gremien/Abschlussbericht_EDW-Kurzfassung.pdf (Zugriff am 13.10. 2009)

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und den damit einhergehenden Veränderungen nur etwas Positives abgewinnen können, wenn wir ihn akzeptieren und aktiv gestalten. In den Veränderungen der Strukturen und des Zusammenlebens liegt die Chance der Neugestaltung, wir wollen sie nutzen.“55 Im Frühjahr 2008 veranstaltete die Fraktion eine „Grüne Demografie-Tagung“ unter der Fragestellung „Wer sind wir morgen?“. Auf dem Podium sagte die Fraktionssprecherin für Demografie und Altenpolitik, Britta Haßelmann: „Der demografische Wandel ist eine Chance für die Grünen, Themen, die sie schon länger bewegen, wieder auf die Agenda zu bringen.“ Konkret wurden vier Themenfelder und Pilotprojekte vorgestellt und diskutiert:56 – „Arbeit und lebenslanges Lernen im demografischen Wandel“ – Ältere Arbeitnehmer würden in der Arbeitswelt immer wichtiger; heute allerdings würden sie aus dem Erwerbsleben herausgedrängt. Die Unternehmen müssten dafür sorgen, dass die Alten bis zum Renteneintritt beschäftigungsfähig bleiben: mit „gesundheitlicher Prävention, altersgerechten Arbeitsplätzen und fundierten Weiterbildungsangeboten“. – „Etablierung alternativer Wohnformen“ – Es würden altersgerechte und barrierefreie Wohnungen benötigt; „alternative Wohnformen“, in denen Alt und Jung zusammenleben, bekämen immer mehr Bedeutung. Denn: „Viele können und wollen sich nicht vorstellen, in ein Altenheim zu ziehen.“57 – „Kulturelle Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen“ – Die Kürzung von Kulturförderung und die Schließung von Theatern etc. seien der falsche Weg; in manchen von Abwanderung gekennzeichneten Städten käme es gerade zu kulturellen Innovationen wie der Nutzung leerstehender Gebäude und so weiter. Kultur- und Bildungsangebote müssten vernetzt werden. – „Zukunft selbst gemacht! Bürgerschaftliches Engagement im demografischen Wandel“ – „Kreativität und Eigeninitiative“ sollten gefördert werden, um neue Formen der Teilhabe und des Miteinanders der Generationen zu finden. Die Grünen stehen mit diesen Themen nicht allein. Diese Punkte findet man in vielen politischen Papieren zur Herausforderung des demografischen Wandels und auch im Bericht der sächsischen Enquete-Kommission. Wenn man verstehen will, wie die Politik des demografischen Wandels funktioniert, muss man 55 Fraktionsbeschluss „Demografischer Wandel als Chance“ vom 17. Oktober 2006; S. 4f. 56 Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion (Hrsg.), Wer sind wir morgen? Politische Handlungsstrategien im demografischen Wandel, Berlin 2008. 57 Seine Ausgestaltung erfährt dieser Punkt zurzeit in den sogenannten Mehrgenerationenhäusern, die als Pilotprojekte vom Bundesfamilienministerium unterstützt werden. Faktisch sind das jedoch keine „Rentner-WGs“, sondern Clubs, die Veranstaltungen für Jung und Alt anbieten. Mehr dazu unter http://www.mehrgenerationenhaeuser.de.

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einfach jeden Demografie-Bezug wegstreichen. Dann wird man andere Begründungszusammenhänge finden (müssen). Es ist sicher richtig, dass viele Menschen Angst davor haben, ihre letzten Lebensjahre unter entprivatisierten und manchmal menschenunwürdigen Zuständen in einem Altersheim zu verbringen. Wenn man argumentiert, dass „wir alle älter werden“ und die Zahl der alten Menschen in näherer Zukunft verhältnismäßig steigt und man deshalb neue Wohn- und Betreuungsformen für Senioren etablieren müsse, dann ist das zynisch gegenüber den heutigen Alten, die offenbar nicht alt genug oder ausreichend zahlreich sind, um sie vor Entwürdigung schützen zu müssen. Der demografische Wandel erfüllt in diesen Programmen die Funktion eines scheinbar unhinterfragbaren Sachzwangarguments: Man kann erstens seine Ursachen nicht beeinflussen, zweitens wird seine Faktizität allgemein geteilt, drittens ist er als Phänomen operationalisierbar, weil er in der Sprache der Zahlen beschrieben werden kann, und viertens kann die Politik einen ganzen Katalog von Maßnahmen offerieren, um die Folgen zu bewältigen – da es sich um eine langfristige Entwicklung handelt, wird auch kein Rechtfertigungsdruck entstehen, sollten die deklarierten Ziele nicht erreicht werden können. Mein zweiter Fall ist die Enquete-Kommission des sächsischen Landtags mit dem etwas sperrigen Titel „Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder“. Im Minderheitenvotum der Vertreterinnen und Vertreter der CDU, deren Position zwischen Anpassung und aktiver Bevölkerungspolitik ambivalent bleibt, heißt es: „In ganz Europa ist eine Tendenz zu staatlichen Eingriffen in die Bevölkerungsentwicklung festzustellen. Sie könnte auch dem Freistaat Sachsen als Rückenwind für solche Vorhaben dienen. […] Die bewusste staatliche Einflussnahme auf demografische Trends beruht auf den Folgen des zweiten demografischen Übergangs der letzten Jahrzehnte, auf der Basis demokratischer Verfassungskonformität und einer Rationalität, die sich über politischen Alltag und ideologische Zwistigkeiten erhebt.“58

Das Beispiel Sachsens zeigt, dass man mit der Demografie auch indirekt instrumentelle Politik machen kann. Die Voraussetzung dafür ist aber ein differenziertes Wissen über die Schrumpfungprozesse: „Es ist Aufgabe der Politik, die vorliegenden demografischen Analysen und Prognosen zu bewerten. Sie sollte nicht zögern, sie gegebenenfalls als besorgniserregend einzustufen.“59 Für die Wissensproduktion war neben der schon erwähnten Enquete-Kommission des Landtags, die von 2005 bis 2008 in 22 Sitzungen tagte, auch eine Expertenkommission der Staatsregierung „Demografischer Wandel in Sachsen“ zuständig. 58 Sächsischer Landtag, Demografische Entwicklung, S. 74f. 59 Ibid., S. 75.

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Im Oktober 2006 reiste Ministerpräsident Georg Milbradt nach Brüssel, um Sachsen auf dem Ersten Europäischen Demografie-Forum der Kommission als „demografischen Pionier“ vorzustellen. Er argumentierte so: Die Veränderungen, an die sich das Land heute schon anpassen muss, stünden den meisten europäischen Regionen erst noch bevor. Und er vergaß auch nicht zu erwähnen, dass auf den Freistaat noch ein ganz anderes Anpassungserfordernis zukomme: „Wir wollen insbesondere darauf hinweisen, dass die Strukturfonds in der nächsten Periode neu ausgerichtet werden müssen. In schrumpfenden und alternden Regionen müssen die Strukturfondsmittel so bald wie möglich auch für die notwendigen Anpassungs- und Umbauprozesse eingesetzt werden können. Wir regen deshalb auch an, Ausnahmeregelungen bzw. eine Vereinfachung der Notifizierungspflicht in demographiesensitiven Bereichen zu erwägen, zum Beispiel beim Wohnungsbau oder Gesundheitsdienstleistungen. Wir schlagen ferner vor, ein europäisches Programm für die integrierte Entwicklung von Schrumpfungsräumen aufzulegen. Wir brauchen für solche Regionen Anpassungskonzepte und Instrumente, um stabile Bedingungen für eine stark geschrumpfte bzw. gealterte Bevölkerung schaffen zu können.“60

Darum geht es nämlich auch: Wegen der Erweiterung der Europäischen Union werden bis 2013 die Bedürftigkeiten der Förderregionen neu definiert. Das bedeutet für Sachsen, dass ein Teil des Freistaats nicht länger in der höchsten Förderkategorie eingestuft wird. Bestimmte Infrastruktur- und Ausbildungsmaßnahmen können dann nicht mehr aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Sozialfond (ESF) kofinanziert werden. Würde man sich – so Milbradts mutmaßliche Strategie – darauf einigen können, die prognostizierten sozialen und infrastrukturellen Folgen des demografischen Wandels in den Kriterienkatalog für die Feststellung der regionalen Förderbedürftigkeit aufzunehmen, dann könnte die „Pilotregion“ Sachsen weiter an den EU-Fonds partizipieren. Damit dieser Plan aufgeht, müssen diese Folgen eben erst prognostiziert werden – deshalb diese umfangreiche Wahrheitsproduktion in diversen Studien, in Enquete- und Regierungskommissionen. Wir haben gesehen, wie einzelne Bevölkerungsforscher und Publizisten versucht haben, Politik und Öffentlichkeit für demografische Prozesse zu sensibilisieren. Das sächsische Beispiel zeigt, dass die Demografisierung der Politik auch strukturpolitisch intendiert sein kann.

60 Georg Milbradt, Demographischer Wandel in Sachsen, Entwicklungen, Folgen, Lösungsansätze; Einführungsvortrag beim „First Forum on Europe’s Demographic Future“ der EU-Kommission in Brüssel am 30. Oktober 2006, S. 4 http://ec.europa.eu/employ ment_social/empl web/events/event_en.cfm?id=625 (Zugriff: 12.05.2009.)

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4.  „Jedes Kind ein Geschenk“ Bevölkerungswissenschaftliches Wissen – Annahmen, Berechnungen, Schlussfolgerungen, Kategorisierungen, Inklusions- und Exklusionsrhetoriken – ist eine grundlegende Voraussetzung für modernes Regieren in Nationalstaaten. Diese Wissensbestände sind aber auch Gegenstand diskursiver Verhandlungen, einer Politik der „Bevölkerung“. Ich habe versucht, die Wechselseitigkeit des vermutlich privilegierten Verhältnisses von Politik und Demografie zu zeigen, von der Institutionalisierung einer angeblich tabuisierten Disziplin, über die alarmistische Zuspitzung demografischer Prognosen bis zur pragmatischen Umwertung. Für den beobachteten Zeitraum von einer tendenziellen Politisierung der Demografie zu sprechen, wäre tautologisch. Aber es scheint so, dass wir es seit Mitte der neunziger Jahre mit einer Demografisierung der Politik zu tun haben. Über die Konsequenzen dieser Politik des demografischen Wandels lässt sich im Moment nur spekulieren: Erstens könnte der „demografische Wandel“ als Erkenntnisgegenstand und „bevölkerungsbewusste Politik“ als Interventionsfeld stärker als bisher im engeren Sinne europäisiert werden. Bis Anfang des Jahrhunderts haben Kommission, Rat und Parlament demografische Fragen weithin als nationale Angelegenheiten der Mitgliedstaaten betrachtet. Überträgt man aber die Bevölkerungstrends auf eine NUTS-III-Karte61, dann wird nicht nur die Frage aufkommen, aufgrund welcher Vergangenheit die Entwicklung so ist, wie sie prophezeit wird, sondern auch die, was die Regionen (oder Nationalstaaten) in der Zukunft tun wollen, um den Trends entgegenzuwirken oder sich ihnen anzupassen. Und diese Maßnahmen könnten einem innereuropäischen Vergleich unterworfen und mit konkreten Empfehlungen versehen werden. Die Kommission ist mit ihrem Green paper62 bereits auf dieser Stufe angekommen. Über ihre Kompetenzen in der sogenannten Ersten Säule könnten die EU-Institutionen intervenieren, etwa wenn es um die Adaption des ökonomischen Sektors an die „alternde Gesellschaft“ geht – Überlegungen, die unter dem Stichwort „silver economy“ verhandelt werden. Jedenfalls dürfte eine Demografisierung der europäischen Förderpolitik – und nichts anderes forderte Milbradt mit seinem „Demografie-Check“ – nicht ohne Gegenleistungen zu haben sein, nicht ohne Maßnahmebündel, nicht ohne Benchmarking-Verfahren, nicht ohne Evaluation. 61 NUTS (Nomenclature des unités territoriales statistiques) bezeichnet die Gebietseinheiten für die statistische Erfassung in der EU. NUTS-III entsprechen in Deutschland den Regierungs- oder Direktionsbezirken. 62 European Communities (Hrsg.), Europe’s Demographic Future.

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Die zweite Konsequenz ist wahrscheinlich unintendiert und besteht in einer paradoxen sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dieser Strategie ist implizit, dass die zukünftige Situation möglichst drastisch gezeichnet werden muss. Das macht man beispielsweise, indem man mit dramatischeren Prognosevarianten operiert oder das Prognoselimit weiter in die Zukunft verlagert. So haben sich die CDUVertreter in der sächsischen Enquete-Kommission seinerzeit veranlasst gesehen, in einem Minderheitenvotum die offiziellen Annahmen des Statistischen Landesamts (bis 2020), die eigentlich Grundlage der Arbeit in der Kommission gewesen sind, bis ins Jahr 2050 zu extrapolieren: „Die Unschärfe der Ergebnisse, die mit der Entfernung von der Gegenwart zunimmt, entschädigt mit der umso deutlicheren Zuspitzung des Bevölkerungsproblems im Freistaat Sachsen, die bei einer Kurzfrist bis 2020 leider unterbelichtet bleibt.“63 Bei einer anderen Taktik wird die Situation mit Extremfällen illustriert, die wie exemplarische Fälle aussehen sollen: Hoyerswerda zum Beispiel oder Johanngeorgenstadt. Beide Städte müssen extreme Rückgänge ihrer Einwohnerzahlen hinnehmen, weil die lokalen Industrien, mit denen sie einst ebenso rasant expandiert waren (Braunkohle- beziehungsweise Uranförderung), nach 1990 rationalisiert oder ganz abgebaut worden sind. Jedenfalls könnte sich diese Taktik des pragmatischen Alarmismus’ am Ende als kontraproduktiv erweisen, denn die öffentliche Prognostizierung und Problematisierung „sterbender“ Regionen ohne Arbeitskräfte und mit prekärer öffentlicher Daseinsvorsorge wird nicht gerade attraktiv auf potenzielle Investoren und Zuwanderer wirken. Die vermeintliche ‚Abwärtsspirale‘ wird diskursiv erst so richtig in Schwung gebracht. Schließlich und drittens: Wenn man Demografie zu einem Querschnittsthema macht, wird jede Maßnahme daraufhin überprüft, ob man sie nicht auch demografisch begründen könne. Dabei werden offensichtlich bevölkerungspolitische Interventionen jenseits von bloßer Adaption auch im politischen Feld denk- und sagbar. Sachsen ist dabei in der Bundesrepublik ebenfalls Pionier: Seit 2009 übernimmt der Freistaat einen Teil oder die gesamten Selbstkosten einer künstlichen Befruchtung für Ehepaare (50 Prozent der Behandlungskosten zahlt die Krankenkasse), die sich ihren Kinderwunsch nicht auf natürlichem Weg erfüllen können. Zur Begründung bemüht das zuständige Sozialministerium keine Gerechtigkeits- oder Humanitätsargumente sondern bevölkerungspolitische: In Bezug auf einen rapiden Rückgang der künstlichen Befruchtungen seit der Einführung des Selbstkostenanteils 2003 heißt es: „Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung können wir uns das nicht leisten“64 Und in einem Flyer des Ministeriums zu diesem Programm schreibt die Ministerin selbst: „Der Freistaat Sachsen ist 63 Sächsischer Landtag, Demografische Entwicklung, S. 68. 64 Süddeutsche Zeitung vom 11.02.2009.

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damit das erste und einzige Bundesland, das Behandlungen zur assistierten Reproduktion finanziell unterstützt. Für uns ist jedes Kind ein Geschenk – deshalb bieten wir Ihnen unsere Hilfe an!“65 Es wäre interessant zu erfahren, auf welches „Wir“ dieses „uns“ verweist. Aber es ist sicher nicht ganz abwegig anzunehmen, dass das Kind als „Geschenk“ nicht nur den Eltern sondern einer über die Familie hinausreichenden Gemeinschaft tatsächlich gehören soll.

65 Sächsisches Staatsministerium für Soziales (Hrsg.), Förderung von Maßnahmen der Kinderwunschbehandlung (assistierte Reproduktion), Dresden 2009.

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Mikroben in der Dekadenz Degeneration und Bakteriologie in Familienzeitschriften und in der fiktionalen Literatur (Frankreich um 1900) 1857 urteilte der Literaturkritiker Charles Augustin Sainte Beuve anlässlich des Erscheinens von Gustave Flauberts Madame Bovary, dass sich das Verhältnis von Literatur und Medizin in sein Gegenteil verkehrt habe: sei es im 17. Jahrhundert die Medizin gewesen, die sich an der Literatur orientiert habe, so sei es nun die Literatur, die nach möglichst medizinischer Darstellung strebe.1 Dieses Erstaunen über das Streben der realistischen Romanciers nach wissenschaftlicher Korrektheit in der Beschreibung und Benennung von Symptomen verweist auf einen grundlegenden Wandel in der Romanästhetik des 19. Jahrhunderts.2 In Flauberts Roman sind die Krankheiten keine selbstbezüglichen literarischen Motive mehr, sondern werden wie wissenschaftliche Objekte behandelt. Das Bemühen der Realisten um Wissenschaftlichkeit wirkte zugleich auf die Sprache zurück und führte zu einer Integration gängiger Fachdiskurse und Fachbegriffe in die Literatur.3 Die Krankheiten wurden in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts aber nicht nur in eine wissenschaftliche Perspektive gestellt. Vielmehr wurden sie zu einem vermeintlichen Ausdruck von Degeneration und westlicher Zivilisationskrise. Literarische Krankheitsbeschreibungen kanalisierten diffuse Ängste vor dem Verfall der europäischen Nationen und des gesamten europäischen Kulturraums. Das Sanatorium in Thomas Manns Zauberberg wird in der Forschung gleichermaßen als metaphorische Untergangsbeschreibung gelesen – der Roman endet mit dem Ersten Weltkrieg – wie auch als medizinische Darstellung der Tuberkulose auf dem europäischen Kontinent.4 1 Charles Augustin Sainte Beuve, Nouvelles correspondances, Paris 1857, zitiert nach Tilmann Kleinau, Der Zusammenhang zwischen Dichtungstheorien und Köperdarstellung in der französischen Literatur des 17.–19. Jahrhunderts, Bonn: Romanistischer Verlag 1990, S. 185. 2 Kleinau, Dichtungstheorien, S. 226 ff. 3 Vgl. Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen: Narr 2002; Jean-Louis Cabanès, Le corps et la maladie dans les récits réalistes (1856–1893), Paris: Klingsieck 1991, S. 244 ff. 4 Philippe Zard, La fiction de l’Occident. Thomas Mann, Franz Kafka, Albert Cohen, Paris: PUF 1999, S. 107 ff.

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In der Annahme, dass es sich bei den die Menschen und die Bevölkerung pathologisierenden Perspektiven um spezifische und zeitgebundene Repräsentationsformen der Jahrhundertwende handelt, die im 19. Jahrhundert einsetzen und sich bis weit ins 20. Jahrhundert zogen, sollen im Folgenden Krankheitsdarstellungen in der fiktionalen Literatur und in Familienzeitschriften genauer herausgestellt und ergründet werden. Inwiefern haben sich in der fiktionalen Literatur zwei in der Medizin verankerte Diskurse, nämlich die Bakteriologie und die Befürchtung einer kulturell bedingten Degeneration, miteinander verbunden? Welche Metaphern haben diese beiden Darstellungen geprägt und in welchen Kontexten wurden sie mobilisiert? Die Beantwortung dieser Fragen soll eine Untersuchung literarischer und populärwissenschaftlicher Darstellungen von Krankheiten um 1900 leisten.5 Berücksichtigt wurde insbesondere der Roman Histoire de quatre ans von Daniel Halévy6, in dem Europa von einer nicht näher benannten „Fortschrittskrankheit“ heimgesucht wird, sowie die Familienzeitschriften Je sais tout. Magazine encyclopédique illustré (im Folgenden JST) und Lectures pour tous. Revue universelle et populaire illustrée (LPT). Der 1903 veröffentlichte und bis heute kaum bekannte Roman Halévys führt verschiedene Diskursstränge zusammen, indem er die Folgen des fortschrittsbedingten Werteverfalls pathologisiert; epidemiologisches Wissen wird auf diese Weise zum Ausdruck einer umfassenden Gesellschaftskritik. Die an ein bürgerliches Publikum adressierten Zeitschriften zeichnen sich wie Halévys Roman durch ein nicht weniger stark ausgeprägtes pädagogisches Anliegen aus und repräsentieren in der Gleichzeitigkeit verschiedener, sich überlagernder, bisweilen widersprüchlicher Diskurse ebenfalls eine Zusammenführung konkurrierenden und heterogenen Wissens.7 Sowohl an den Familienzeitschriften als auch an dem Roman Halévys lassen sich bakteriologische und kulturpessimistische Wissensbestände wie auch die Verbindung beider Diskurse nachweisen.8 In einem ersten Teil werde ich unter 5 Der Untersuchungszeitraum ergibt sich aus den unterschiedlichen Erscheinungsdaten der Zeitschriften. Je sais tout erschien ab 1905, Lectures pour tous ab 1898. Aus diesem Grund wurden verstärkt die zeitgleich erschienenen Ausgaben berücksichtigt. 6 Daniel Halévy, L’histoire de quatre ans (1997–2001). Paris: Kimé 1997. 7 BNF/Département des périodiques, La vie littéraire en 1908. Analyse et dépouillement des périodiques, Tome V: Lecture pour tous, Paris 1986; Gilles Feyel, Naissance, constitution, progression et épanouissement d’un genre de presse aux limites floues: le magazine, in: Jean-Marie Charon/Rémy Rieffel (Hrsg.), La presse magazine, Paris: Hermès 2001, S. 19–53. 8 Aus der Auswahl der Quellen ergibt sich, dass die als „Volkskrankheiten“ bezeichneten Pathologien, das heißt Schwindsucht/Tuberkulose, Syphilis und Alkoholismus, nur nachgeordnet behandelt werden können. Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus wurden

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verstärktem Rückgriff auf die bestehende Forschungsliteratur eine Einordnung der Diskurse über „Zivilisationskrankheiten“ vornehmen. Dieses Vorgehen erlaubt eine eingehendere Untersuchung der Krankheitsbilder in ihrer Bedeutung für die Beschreibung gesellschaftlicher Befindlichkeiten, um den Deutungsspielraum pathologischer Konzepte auszuloten und deren Übertragbarkeit auf literarische Wissensräume zu verdeutlichen. In einem zweiten Teil werde ich dann unter exemplarischer Berücksichtigung der untersuchten Zeitschriften das Aufkommen einer Wissensfigur – der Mikrobe – skizzieren und anhand einer einleitenden Theoretisierung des Wissensbegriffs in der Literatur zeigen, auf welche Weise das mikrobiologische Wissen ausgestaltet werden konnte. Schließlich werde ich anhand von Halévys Roman untersuchen, inwieweit beide Darstellungen, die der „Zivilisationskrankheiten“ und die der Bakteriologie, in der Konstruktion nationaler und supranationaler Identitäten zusammengeführt wurden.

I.  Zivilisationskrankheiten Die Bedeutung der Degeneration – verstanden als anhaltende Verschlechterung des Menschen in seiner physiologischen wie geistigen Beschaffenheit – wurde seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorrangig in Frankreich und Italien thematisiert und bereits zu diesem Zeitpunkt als Indikator für eine vermeintliche Verschlechterung des menschlichen Erbguts gelesen. Die Pathologien wurden häufig unter dem Konzept der „Degenereszenz“ (dégénérescence) zusammengefasst, welches 1857 von dem französischen Arzt Bénédict Augustin Morel geprägt worden war.9 Die Begrifflichkeit der dégénérescence speiste sich aus verschiedenen naturwissenschaftlichen Theorien, wobei ein zentrales Element für das Verständnis ihrer Deutungskraft die Vererbungslehre war. Morel ging – kulturpessimistisch und im Glauben an die Erbsünde – von der kontinuierlichen Verschlechterung des einst vollkommenen type primitif aus. Die Heredität spielte also eine entscheidende Rolle in der Übertragung und Verstärkung des

in den Familienzeitschriften kaum thematisiert. Die Behandlung der Tuberkulose erfolgte demgegenüber meist vor dem Hintergrund therapeutischer Neuerungen, weswegen der Aspekt der „Volkskrankheit“ kaum Beachtung fand. An dem Diskurs über „Zivilisationskrankheiten“, also durch den Fortschritt bedingten oder ausgelösten Krankheiten, partizipierten sie in den untersuchten Quellen kaum. 9 Bénédict Augustin Morel, Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives, Paris: Baillière 1959.

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Defekts auf die folgenden Generationen.10 In dieser Wahrnehmung waren die Krankheitsbilder Nervosität und Nervenschwäche seit ihrem Aufkommen in den 1850er- Jahren ein Ausdruck der dégénérescence, zumal sie in ihren unspezifischen Symptomen auf den Einzelnen wie auf größere Bevölkerungsteile angewandt werden konnten.11 Wie das Konzept der Degeneration die Wahrnehmung der Medizin perspektivierte, prägte auch die Bakteriologie die Vorstellungen des Pathologischen und verband sich in prägnanter Weise mit den Ideen des Fortschritts. Der erste wissenschaftliche Nachweis einer bakteriellen Infektion erfolgte 1837 durch Agostino Bassi an Seidenraupen, aber die Annahme eines contagium vivum, eines lebendigen Überträgers, hatte Girolamo Fracastoro bereits 1546 in der Vermutung von Krankheitssamen (seminaria morbi) formuliert.12 Die reproduzierbaren Nachweisverfahren der Bakteriologen ermöglichten die Durchsetzung und den Erfolg des bakteriologischen Paradigmas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.13 Die herausragende Bedeutung einzelner wissenschaftlicher Protagonisten wurde in der Bezeichnung der „Pasteurisierung Frankreichs“ von Bruno Latour sinnbildlich zum Ausdruck gebracht und verwies auf die umfassende Verbreitung des bakteriologischen Wissens in Medizin und Gesellschaft.14 Die Berichterstattung der populärwissenschaftlichen Literatur und der Familienzeitschriften trug zu dieser Verbreitung wesentlich bei. Die Bakteriologie wurde in den Artikeln als moderne Wissenschaft zelebriert, nicht nur wegen der Hoffnung, (sämtliche) Krankheiten

10 Morel, Dégénerescence, S. 4 und 60 ff. Diese Vorstellung wurde in der Literatur etwa von Emile Zola umgesetzt, bei dem die „lésion nerveuse première“ der Adélaïde Fouquc den Ausgangspunkt für den Verfall der Familie der Rougon-Macquart bildet. Emile Zola, Le Docteur Pascal. Paris: Gallimard 1993, S. 167. 11 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München: Hanser 1998, S. 263 ff. Außerdem Daniel Pick, Faces of Degeneration. An European Disorder 1848–1918, Cambrigde: University Press 1989. 12 Weiterführend: Mirko D. Grmek, Le concept de maladie, in: Ders. (Hrsg.), Histoire de la pensée médicale en Occident, Band III: Du romantisme à la science moderne, Paris: Seuil 1999, S. 147–169. 13 Die Reproduzierbarkeit eines Versuchs galt als entscheidende Voraussetzung in der experimentellen Medizin. Zur Durchsetzung der Bakteriologie vgl. Georges Canguilhem, Der Beitrag der Bakteriologie zum Untergang der „medizinischen Theorien“ im 19. Jahrhundert, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 110–133. Zu der Kontingenz in der Wissenschaftsgeschichte vgl. etwa die Darstellung der Wassermann-Reaktion bei Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 112f. 14 Bruno Latour, Pasteur. Guerre et paix des microbes, Paris: La Découverte 2001.

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dauerhaft heilen zu können, sondern auch, weil sie kraft ihrer Methoden für die erfolgreiche Etablierung einer empirischen Laborwissenschaft stand.15 Wie ist es nun zu erklären, dass beide Erklärungsansätze, die „Zivilisationskrankheiten“ als pathologisch-diskursiver Befund des neuen Zeitalters auf der einen, die Bakteriologie als moderne Wissenschaft auf der anderen Seite, als Reservoir für ganz ähnliche Deutungsstrategien der Moderne herangezogen wurden, mittels derer – wenn auch auf unterschiedliche Weise – im Wesentlichen eine Kritik am Fortschritt transportiert wurde? Um den Prozess der gleichzeitigen Entfaltung und Überlagerung von möglichen „Deutungshoheiten“ zu verstehen, wird zunächst die diskursive Verbindung von Medizin, Fortschritt und Moderne herausgestellt, um dann das Krankheitsbild der Nervosität als paradigmatisch für diese Verbindung in der öffentlichen Wahrnehmung um die Jahrhundertwende zu analysieren. Krankheiten werden dabei nicht nur in der disziplinären Auseinandersetzung innerhalb der Medizin betrachtet, sondern in ihrer Eigenschaft als „verfasste“ – also schriftlich konstruierte – Imaginationsräume untersucht. Sie sind damit nicht nur medizinische, sondern vor allem gesellschaftliche Phänomene, die an einen spezifischen historischen Kontext gebunden sind und mit dem Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer als „kontingente Kulturleistungen“ verstanden werden können.16 Das Interesse an medizinischen Fragestellungen in der Literatur war dem realistischen Paradigma geschuldet, aber auch darauf zurückzuführen, dass die Biologie im Wissenschaftssystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Kanon der weltdeutenden Disziplinen fest etabliert war.17 Die Medizin wurde in diesem Zusammenhang als „Anwendungswissenschaft“ der Biologie verstanden und erlangte ihrerseits Einfluss auf die Dekodierung des menschlichen Körpers und des Lebens überhaupt.18 Aber auch umgekehrt fand sich ein Interesse seitens der Wissenschaften an literarischen Vermittlungsformen. So stellten Zeitschriftenartikel 15 Philipp Sarasin et al (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, insbesondere die Einleitung und dort S. 19ff. 16 Hans-Georg Hofer, Nerven, Kulturen und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte, in: Frank Stahnisch/Florian Steger (Hrsg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart: Steiner 2005, S. 225–244, S. 231. 17 Dies zeigt sich auch in der Literatur: Honoré de Balzac errichtete seine Comédie humaine auf der Annahme einer Analogie von Natur und Gesellschaft bzw. von den „Espèces Zoologiques“ und den „Espèces Sociales“. In: Ders., La Comédie humaine. Etudes des moeurs: Scènes de la vie privée, Paris: Gallimard 1976, S. 9. Emile Zola wählte für seinen Romanzyklus der Rougon-Macquart wiederum den Untertitel „Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire.“ 18 Heinz Schott, Zur Biologisierung des Menschen, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu

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ausdrücklich den Zusammenhang von Literatur und Fortschritt der Wissenschaft in der Ästhetisierung heraus: „La science possède l’incomparable privilège de pouvoir faire entrer la poésie dans la réalité, et de les ,transmuter‘ l’une dans l’autre. Prenons l’une quelconque des délicieuses légendes poétiques de la primitive humanité : presque toujours nous la verrons réalisée par la science moderne.“19

Wenn auf der einen Seite die Literatur als Wegbereiterin für die moderne Wissenschaft angesehen wird – oder zumindest als Verwalterin vergangener Machbarkeitsphantasien –, so stellte auf der anderen Seite die wissenschaftliche Forschung der Literatur ein Arsenal an neuen Motiven zur Verfügung.20 Der rhetorische Gestus der Eroberung der Natur – in der Literatur wie in der Wissenschaft – führte in der literarischen Darstellung der medizinischen Forschung zu einer Verknüpfung von Medizin und Fortschritt.21 Anders ausgedrückt etablierte sich ein gleichermaßen diachrones wie synchrones Zeichensystem, in dem Krankheiten Aufschluss über den Entwicklungsstand und die Modernität einer Gesellschaft geben sollten und das die Selbstwahrnehmung gegenüber anderen Erdteilen und vergangenen Zeiten zu stabilisieren suchte. Über diese Form der Selbstverortung entfaltete die Verwendung pathologischer Kategorien ausgehend vom medizinischen Feld auch in anderen Bereichen der Gesellschaft eine umfassende Deutungskraft. Die Übertragung des medizinischen Vokabulars auf Politik und Verwaltung, die Integration in die Alltagssprache, die „politisch-imaginäre Dimension“ des neuen Wissens sowie die besondere Bedeutung der Krankheitsmetaphorik zur Benennung und Stigmatisierung des „Feindes“ haben unter anderem die Historiker Philipp Sarasin, Paul Weindling und Christoph Gradmann überzeugend herausgearbeitet.22

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Formationen, Brüchen und Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, S. 99–108. [„Die Wissenschaft besitzt das unvergleichliche Privileg, Poesie in die Wirklichkeit zu bringen und beide ineinander zu verschachteln. Nehmen wir eine beliebige der köstlichen poetischen Legenden der primitiven Menschheit; fast immer sehen wir sie heute umgesetzt von der modernen Wissenschaft.“] Max de Nansouty, Les machines, titans modernes, JST 16 (1906), S. 403–408, S. 403. Vgl. den Anspruch Emile Zolas, dass die Literatur sich schon deshalb an den Wissenschaften orientieren müsse, weil sie ihr ja voranzugehen und den Weg zu weisen habe. Emile Zola, Le Roman expérimental, in: Ders., Écrits sur le roman (herausgegeben von Henri Mitterrand). Paris: LGF 2004, S. 242–252. Vgl. Emile Zola, Le Roman expérimental, S. 252; Anne Chah-Wakilian, Le triomphalisme médical à travers un journal de la fin du 19e siècle. Thèse soutenue à Paris 12-Créteil, 1986. Philipp Sarasin et al, Bakteriologie und Moderne. Eine Einleitung, in: Ders., Bakteriologie, S. 8–43, S. 25; im gleichen Sammelband: Paul Weindling, Ansteckungsherde.

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Die Evozierung eines Feindes verwies dabei gleichermaßen auf die Annahme einer Gefährdung von innen und von außen. Die Ängste vor der europäischen Degeneration wurden etwa mit vermeintlichen Bedrohungen aus dem Osten verknüpft, insbesondere mit der so genannten „gelben Gefahr“.23 Die Abgrenzung von den „gesund lebenden Völkern“ bewirkte insgesamt eine kritische Auseinandersetzung mit den als negativ angesehenen Auswirkungen der beschleunigten und technisierten Welt. In der Monatsschrift für Hygiene und Sport beschrieb der Autor Dr. Rasser beispielsweise den Zusammenhang von Krankheit und modernem Leben einerseits, von Gesellschaft und Körper andererseits. Seine besondere Aufmerksamkeit wandte er der Darstellung der Nervenschwäche zu. Die zum Vergleich herangezogene indische Mutter, die beim Anblick eines Tigers in der Nähe ihrer Kinder das Tier durch eine umgehende Attacke mit dem Sonnenschirm in die Flucht schlägt, kontrastierte dabei mit der Darstellung einer Gruppe grundlos in Panik geratener europäischer Mütter. 24 Reine Fortschrittspathologien wurden in den Familienzeitschriften wiederum fast ausschließlich in Amerika vermutet. Die transatlantische Lebensführung schien die europäische Zukunft zwar gewissermaßen vorwegzunehmen, wurde aber durch eine Vielzahl distanzierender Beschwichtigungen als genuin amerikanisch ausgewiesen.25 Die Geschichte der Neurasthenie legt nahe, dass die Wahrnehmung einer differenten Fortschrittlichkeit auf Gegenseitigkeit beruhte. Der „Entdecker“ und Namensgeber dieser Krankheit, der amerikanische Arzt George M. Beard, hatte dieses Nervenleiden ursprünglich als organische Krankheit diagnostiziert, die aus modernen Lebensbedingungen folge, wie sie einzig in den Die deutsche Bakteriologie als wissenschaftlicher Rassismus 1890–1920, S.  354–374; Christoph Gradmann, Unsichtbare Feinde. Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich, S. 327–353 sowie Ders., „Auf Collegen, zum fröhlichen Krieg“. Popularisierte Bakteriologie im Wilhelminischen Zeitalter, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-BoschStiftung 13 (1994), S. 35–54. 23 Eine Übersicht über die literarischen Darstellungen findet sich bei Jean Marc Moura, L’Europe littéraire et l’ailleurs. Paris: PUF 1998, S. 125 ff. Für die Familienzeitschriften vgl. etwa Anonym, Le péril jaune, in: JST 2 (1905), S. 131–139; Paul Villiers, La race jaune va-t-elle déborder, in: JST 72 (1910), S. 703–715. 24 Dr. Rasser, Wenig Blut und schwache Nerven – das leibliche Befinden der modernen Gesellschaft, in: Körperkultur. Künstlerische Monatsschrift für Hygiene und Sport 7 (1911), S. 31–35, S. 34. 25 Dies erfolgte bei aller Ernsthaftigkeit notfalls auch ironisch: „Le repos, c’est pour la vieille Europe. L’Amérique est le pays de la vie intense“. Hygiène Palace, Anonym, in: LPT 6 (1909), S. 674–678, S. 675. Vgl. außerdem Anonym, Les découvertes de demain, in: JST 2 (1905), S. 187–196. Zu der Darstellung des Amerikabildes in den Familienzeitschriften: Denis Bertholet, Le Bourgeois dans tous ses états. Le roman familial de la Belle époque, Paris: Orban 1987, S. 209.

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Vereinigten Staaten zu finden seien. Die american nervousness, Attribut der amerikanischen Moderne, sei deshalb von der europäischen Nervosität zu trennen.26 Die Neurasthenie diente damit zugleich zur Beschreibung einer Pathologie und zur Abgrenzung gegenüber den weniger entwickelten Kulturkreisen. Die Diagnose der Neurasthenie – in Deutschland auch als „Auszehrungskrankheit“ bekannt – wurde seit der Jahrhundertwende auch auf dem europäischen Kontinent gestellt. Wie auch in Amerika blieb die Wahrnehmung von (weiblicher) Hysterie und (männlicher) Nervosität auch hier ambivalent. Trotz des Stigmas der ausgezehrten Nerven behielt die Krankheit ein Ästhetisierungspotential, da sie auf eine vermeintlich „spezifisch moderne Sensibilität” verwies und Rückschlüsse auf den zivilisatorischen Entwicklungsstand zuließ.27 Zusammenfassend stand die Zeit der Jahrhundertwende in einem Spannungsfeld von sozialen, biologischen und teleologischen Krankheitsdeutungen, die in der widersprüchlichen Wahrnehmung des Fortschritts begründet waren und zwischen Aufbruchsstimmung und verstärkter Krisenerfahrung schwankten. In dieses komplexe Bedeutungsgeflecht schrieben sich die literarischen und populärwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Krankheiten ein.

II.  Der Einfall der Mikroben In den 1880er-Jahren brach ein neuer Akteur in das Deutungsgefüge der medizinischen Darstellungen ein: die Mikrobe. Die von den Bakteriologen erbrachten Nachweise über die Ätiologie der Infektionskrankheiten stießen nicht nur unter Medizinern auf große Aufmerksamkeit. Das bestehende Interesse an anthropologischen und biologischen Themen wurde vielmehr auf die Erkenntnisse der Mikrobiologie ausgeweitet und durch ein bereits ausdifferenziertes System der Wissensvermittlung verstärkt.28 Aufgrund ihrer mikroskopischen Größe und der damit einhergehenden Unsichtbarkeit für das bloße Auge sowie ihrer gleichzeitigen Omnipräsenz war die Mikrobe seit ihrer Entdeckung ein schwer fassbares Objekt, das mannigfaltigen 26 Andreas Steiner, Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900, Zürich: Juris 1964, S. 33ff. Vgl. außerdem HansGeorg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Köln: Böhlau 2004. 27 Hofer, Nerven, Kultur und Geschlecht, S. 241. 28 Vgl. Bruno Béguet (Hrsg.), La Science pour tous. Sur la vulgarisation scientifique en France de 1850 à 1914, Paris: Sirtec 1990; Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914), Stuttgart: Steiner 1999.

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Bemühungen der Vergegenwärtigung ausgesetzt war: „Ce microbe qui est autour de nous, qui est en nous, qui est partout, que nous foulons à chaque pas sans l’écraser jamais, tant il est ténu, combien rares sont les gens qui le connaissent… de vue !“29 Bereits Robert Koch hatte an gängige Visualisierungsstrategien angeknüpft und sich darüber hinaus neuer Verfahren der Verbildlichung wie Photographie und Einfärbung bedient.30 Die Mikrobe wurde damit zu einer „Figur“, die nicht nur sprachliche und bildliche Gestalt hatte, sondern der in Form von dreidimensionalen Modellen sogar Plastizität verliehen wurde.31 Angesichts des Unvermögens, die mikroskopischen Wesen in ihrer Natürlichkeit zu präsentieren, hatten die literarischen Beschreibungen einen großen Anteil an der kulturellen Konstruktion der Mikrobe. Dabei hoben die Literaten auf die Unsichtbarkeit ab, noch viel mehr aber auf die Figur des Bösen, der nun (endlich) Gestalt verliehen werden konnte. So heißt es in einem Mikrobengedicht: „A l’œil humain bien qu’invisible,/ Et cependant matériel,/ Je [die Mikrobe] suis le mal irrésistible:/ C’est là pour moi l’essentiel.“32 Auch die Ebenbürtigkeit der Mikroben – wenn nicht die Überlegenheit – klang immer wieder in den Texten an: „L’homme pourrait anéantir, d’un jour à l’autre, la race des lions ou des éléphants. Mais jamais (…) il ne fera disparaître ce bacille, cet être infinitésimal, qui n’a pas un millième de millimètre. Tout ce que nous pouvons espérer, c’est que la science nous permettra bientôt d’opposer une résistance plus énergique à notre ennemi invisible, immortel et partout présent…“33 29 [„Diese Mikrobe, die um uns ist, die in uns ist, die überall ist, die wir bei jedem Schritt mit Füßen treten, ohne sie jemals zu zermalmen, so winzig ist sie – wie wenige kennen sie... vom Sehen ?“] G. Kimpflin, Ce que le monde peut voir au microscope, in: JST 168 (1919), S. 633–637, S. 633. 30 Thomas Schlich, Die Repräsentation von Krankheitserregern. Wie Robert Koch Bakterien als Krankheitsursachen dargestellt hat, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 165–190, S. 166. Vgl. außerdem Philipp Sarasin, Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie, in: Ders., Bakteriologie, S. 427–461. 31 Schlich, Repräsentation, S. 187. 32 [„Dem menschlichen Auge unsichtbar/ und nichtsdestotrotz materiell/ bin ich (die Mikrobe) das unwiderstehliche Übel/ und das ist für mich das Wesentliche.“] Eugène Billard, Le microbe. Monologue anti-cholérique, Paris: Librairie théâtrale 1885, S. 6. 33 [„Der Mensch könnte von einem Tag auf den anderen Löwen und Elefanten ausrotten. Aber niemals wird er die Bazille vernichten können, das winzige Wesen, das nicht einmal die Größe eines Tausendstel Millimeters erreicht. Die einzige Hoffnung ist, dass die Wissenschaft es uns bald erlauben wird, unserem unsichtbaren, unsterblichen und allgegenwärtigem Feind mit noch mehr Widerstand entgegenzutreten...“] Gustave Téry, Guérit-on de la tuberculose? in: JST 17 (1906), S. 475–482, S. 476.

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Die Konstruktion dieser Wissensfiguren – verstanden als Bedeutungsverdichtungen, die aufgrund ihrer Bildlich- oder Figürlichkeit zu Katalysatoren des Erkenntnis- und Verständigungsprozesses werden – erlaubte eine Aneignung wissenschaftlicher Wissensbestände durch die Literaten, die in der Regel Laien in den von ihnen dargestellten Bereichen waren. Die Annahme einer über diese Bedeutungsverdichtungen erfolgende Wissensvermittlung schließt daher an die Wissens- und Sagbarkeitsräume von Jürgen Link an, demzufolge die Literatur, wie auch die Populärwissenschaft, als „elaborierter Interdiskurs“ bestimmt ist, der zwischen spezialisierten Diskursen vermittelt und dabei eigenes Wissen hervorbringt.34 Die Möglichkeit einer Inanspruchnahme verschiedener Deutungsstrategien lag dabei zumindest anteilig an der Ambivalenz, die dem Krankheitskonzept zueigen war. Krankheiten wurden einerseits als wissenschaftliche Gegenstände wahrgenommen, die in eine wissenschaftliche Sprache übertragbar waren und damit objektiviert werden konnten.35 Sie stellten andererseits irrationale Momente des Kontrollverlustes dar, die individuell rekonstruiert wurden und die auf schwer vermittelbare, zumindest nicht objektivierbare, Bereiche des menschlichen Empfindens verwiesen. Die Literaten setzten sich in den Darstellungen von Krankheiten daher indirekt auch mit der Verortung des Individuums im Spannungsfeld zwischen Natur und Gesellschaft auseinander.36 Zugleich positionieren sie sich in ihren Darstellungen gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt. Die Literaturwissenschaftlerin Martina King beschreibt etwa die literarische Inszenierung von Mikrobenfiktionen als Formulierung von „infektiologischen Positionen“, die sich zum wissenschaftlichen Wissen autonom verhielten, das heißt alternative Erklärungsansätze anboten, oder das medizinische Wissen umgekehrt stereotypisch reproduzierten.37 Die Diskussion über Natur und Intensität der Verflechtung von Wissen und Literatur wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung seit den 1960er-Jahren, und verstärkt ab den 1990er-Jahren, theoretisiert und kann an dieser Stelle 34 Jürgen Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.), Diskurstheorie und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 284–307, S. 286. 35 Mit der Objektivierung soll hier nur auf die „Objektkonstitution“ verwiesen werden, nicht auf einen wie auch immer gearteten Wahrheitsanspruch. Zu den Schwierigkeiten der Normierung und der wissenschaftlichen Wahrheit in der Beschreibung der Krankheit vgl. Georges Canguilhem, Le normal et le pathologique. Paris: PUF 1988. 36 Thomas Anz, Gesund oder krank, Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart: Metzler 1989, S. 6. 37 Martina King, Von Mikroben und Menschen: bakteriologisches Wissen und Erzählprosa um 1900, in: Scientia poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 12 (2008), S. 141–180, S. 152.

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nur verkürzt wiedergeben werden.38 Die Literatur als Wissensordnung wurde insbesondere in den 1970/80er-Jahren im Hinblick auf die Darstellung von Krankheiten untersucht.39 Diese konzeptuellen Annäherungen an eine literarisch-pathologische Deutung orientierten sich insgesamt stärker an einer Ideengeschichte als an dem Versuch einer wissensgeschichtlichen Darstellung. Die Betrachtung der Literatur als Imaginationsraum wurde insbesondere von den Literaturwissenschaftlern Rainer Warning und Jürgen Link vorgenommen, die sich auf einen Foucaultschen Diskursbegriff beziehen und diesen auf die Literatur anwenden. Rainer Warning betont dabei explizit den Aspekt der Imagination, deren zentrale Rolle er für den literarischen contre-discours hervorhebt. Die Literatur vermittle das Wissen demzufolge nicht alleine dadurch, dass sie es „einfach inventarisiert, gliedert, wiederholt und neu kombiniert“, sondern dass sie es „unter eine kritische Perspektive“ stelle.40 Dabei bleibt allerdings die Frage offen, inwieweit diese Vorstellung nicht einem grundsätzlichen Nebeneinander von Wissenschaft und Fiktion verhaftet bleibt. Jürgen Link versteht die Literatur wiederum als Interdiskurs, welcher sich Diskursmaterial aus verschiedenen, spezialisierten Diskursen aneigne und Verbindungen zwischen ausdifferenzierten Diskursen herstelle. Daraus folgten nicht eine Totalisierung des Wissens, sondern vielmehr „selektivsymbolische, exemplarisch-symbolische, also immer fragmentarische und stark imaginäre Brückenschläge über Spezialgrenzen hinweg“.41 Die Aufgabe der literarischen Diskurse bestehe laut Jürgen Link aber nicht allein in der „Übersetzung“ der spezialisierten Diskurse. Über die Zusammenführung des ausdifferenzierten Spezialwissens in einen literarischen „Wissens- und Sagbarkeitsraum“ produzierten vielmehr auch die Interdiskurse selbst Wissen.

38 Ein Ausgangspunkt der jüngeren Debatte ist etwa die These von Charles Percy Snow, der die Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften postulierte. Charles Percy Snow, Die zwei Kulturen. Literarische und wissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart: Klett 1967. 39 Vgl. Susan Sontag, Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern. Frankfurt/Main: Fischer 2005; Sander L. Gilman, Disease and representation. Images of illness from madness to Aids, Ithaca: Cornell University Press 1988; Jochen Hörrisch, Epochen/ Krankheiten. Das pathognostische Wissen der Literatur, in: Frank Degler/Christian Kohlross (Hrsg.), Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, St. Ingbert: Röhrig 2006. Eine Übersicht über den Forschungsstand findet sich bei Andrea Kottow, Der kranke Mann. Medizin und Geschlecht in der Literatur um 1900, Frankfurt a.M.: Campus 2006, S. 48–67. 40 Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 316. 41 Jürgen Link, Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik, in: Rainer Keller et al (Hrsg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 408–430, 412f.

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Ein solcher „Sagbarkeitsraum“ wurde in der literarischen Darstellung der Mikrobe etwa insofern aufgemacht, als die mikrobiologische Lebenswelt sich auf einen menschlichen Erfahrungshorizont übertragen ließ. Erst diese Übertragung gestattete es der Metaphorik um die Mikrobe, zu einer Projektionsfläche für die menschlichen Beziehungen überhaupt zu werden. Die medizinische Erforschung der Mikrobe verschränkte sich dabei insofern mit ihrer literarischen Darstellung, als auch rationale und menschliche Verhaltensweisen und Beweggründe Eingang in die wissenschaftliche Literatur fanden. Die Mikrobe wurde so zu einer bedeutsamen Vermittlungsinstanz für die Vorstellungen nicht nur von Krankheit, sondern auch von sozialen Beziehungen. Ein prägnantes Beispiel für eine solche Übertragung ist etwa die Darstellung der Krankheit als Krieg und der Mikrobe als Opfer. Die Notwendigkeit ihrer „Memoiren“ rechtfertigt eine Mikrobe etwa mit den Worten: „La guerre nous fut donc déclarée, acharnée, impitoyable, d’autant plus implacable que l’homme nous considère, dès lors, comme des agresseurs contre lesquels le cas de défense légitime l’autorisait à user de tous les moyens que lui suggéraient son imagination et ses conquêtes scientifiques. C’est ce long combat dont, témoin depuis quelques vingt ans, je veux retracer les émouvantes péripéties.“42

In einem Zeitschriftenartikel über die Funktionsweise des menschlichen Körpers wurden der Mikrobe als solcher wiederum militärische Tugenden wie Heimatverbundenheit, Patriotismus und Liebe zum Vaterland/ Körper unterstellt, wobei ihre Perspektive an die Ordnung tatsächlicher Nationen zurückgebunden wurde: „De même qu’aux frontières de la France vivent des peuples étrangers dont les intérêts et les ambitions peuvent faire, habituellement ou accidentellement, des ennemis, de même, aux frontières de l’organisme humain, dans l’atmosphère où se développe ce merveilleux peuple de cellules d’autres groupements d’individus cellulaires pullulent innombrablement.“ 43 42 [„Der Krieg wurde erklärt, gnadenlos und unerbittlich, und schonungsloser denn je, da der Mensch uns von nun an als Angreifer betrachtete, gegen den jedes Mittel der Notwehr gerechtfertigt sei, die ihm seine Einfallskraft und die Eroberungen der Wissenschaft einflüsterten. Es ist dieser lange Kampf, dessen Zeuge ich seit mehr als zwanzig Jahren bin, den ich hier in seinen bewegenden Schicksalsschlägen wiedergeben möchte.“] Alexandre Wiart, Mémoires d’un microbe. Paris: Coccoz 1882, S. 16. 43 [„Wie an den Grenzen Frankreichs fremde Völker leben, deren Absichten und Ambitionen sie, aus Gewohnheit oder aus Zufall, zu Feinden machen, so treiben sich auch an den Grenzen des menschlichen Organismus, in der Umgebung, in der das brave Zellvolk gedeiht, andere Gruppierungen zellulärer Individuen herum.“] Und weiter: „Nos cellulessoldats réussissent généralement à maintenir la paix par des opérations de simple police, arrêtant les microbes aux entrées du corps. (…) [Mais ] des bacilles tuberculeux ou typhiques (…), il y en a toujours à rôder de-ci de-là, dans les voies respiratoires, dans l’intestin, tout prêts à profiter d’une plaie, d’une défaillance, comme ces Boches qui espionnent la

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Die Darstellung der Krankheit als Krieg wurde vor allem dann reflektiert, wenn ihre Bedeutung noch verstärkt werden sollte: „Si nous parlons de ‘guerre à la tuberculose’, ce n’est pas une simple métaphore. Un laboratoire est un arsenal, un hôpital est un champ de bataille. (…) Ne devons-nous même pas espérer que nos petits-neveux, si le mot ‘progrès’ a un sens, ne connaîtront plus d’autres guerres que celle-là?“44

Aus diesen Beispielen wird ersichtlich, dass das Zitieren wissenschaftlicher Erkenntnis nicht nur zentrales Element der Handlung war, sondern auch der Beschreibung oder der Rechtfertigung des Settings diente. Prägender als die Wiedergabe des Wissens war demnach die ambivalente Charakterisierung der Beziehung zwischen Mensch und Mikrobe. In der literarischen Darstellung der Krankheit als Krieg gegen die Mikroben kreuzten sich Überlegenheits- und Bescheidenheitstopoi: war dem Menschen die Möglichkeit gegeben, den Feind zu identifizieren, so führte die Ernsthaftigkeit, mit der die Medizin sich diesem Ziel verschrieben hatte, zu einer literarischen Aufwertung der mikroskopisch kleinen Organismen. Zugleich etablierten die literarischen und vor allem die populärwissenschaftlichen Darstellungen die Position der Ärzte als Mittler zwischen der Bevölkerung und den unsichtbaren Erregern. Das unterstellte intentionale Handeln der Mikrobe in Literatur und Populärwissenschaft schuf so die Vorstellung eines Daseinskampfs, in dem die Menschen sowohl in dem Rahmen nationaler Grenzen (als Bevölkerung) als auch universell (als Menschheit) gedacht werden konnten.45 So unbezwingbar die Mikrobe mitunter dargestellt wurde, wenn sie „fremdes“ Territorium – den Körper oder die Heimat – besetzte, besaß das Feindbild einen entscheidenden Vorteil: der Mensch wusste nicht nur, auf wessen Seite er stand, sondern erhielt auch wissenschaftlich France en temps de paix. “ [„Unseren Zellsoldaten gelingt es meistens, den Frieden durch einfache Polizeiaktionen zu erhalten, indem sie die Mikroben an den Körperöffnungen festnehmen. Aber die Tuberkel- oder Typhusbazillen lungern immer wieder hier und da herum, in den Atemwegen, in den Gedärmen, immer bereit sich auf die nächste Wunde zu stürzen, wie die Deutschen, die in Friedenszeiten in Frankreich umherspionieren.“] Octave Béliard, La guerre des microbes et des globules, in: LPT 11 (1919), S. 193–198, S. 194. 44 [„Wenn wir von dem „Krieg gegen die Tuberkulose“ sprechen, ist das nicht einfach nur eine Metapher. Ein Labor ist ein Waffenlager, ein Krankenhaus ein Schlachtfeld. Dürfen wir nicht hoffen, dass unsere Nachfahren, wenn das Wort „Fortschritt“ noch einen Sinn hat, nur diesen einen Krieg noch kennen werden?“] Téry, Guérit-on de la tuberculose, S. 478. 45 In dem Zukunftsroman „Das Automatenzeitalter“ beschreibt Ludwig Dexheimer etwa das szenische Aufeinandertreffen verschiedener Bakterien auf dem Rücken einer Fliege, in dem das eigene Scheitern reflektiert wird. Ludwig Dexheimer (alias Ri Tokko), Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman, Leipzig: Amalthea 1930, S. 630f.

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verbürgte Anweisungen darüber, mit welchen Mitteln der Feind zu bezwingen war. Die manichäische Ausprägung des bakteriologischen Hygienediskurses war allerdings von Anfang an anfällig für die ausgrenzende Metaphorisierung des Fremden. Die „Einfachheit“ der mikrobiologischen Welt verkomplizierte sich indes in dem Maße, in dem die Bakteriologie an ihre Grenzen stieß. Krankheiten waren bis ins 19. Jahrhundert als ursprüngliche Ausdrucksformen der Natur angesehen worden.46 Durch die Erfolge in der Mikrobiologie war der Mensch – oder vielmehr der Arzt – vorübergehend in die Position des Bändigers der Natur gerückt. Fehlschläge in der Bakteriologie – etwa das Unvermögen, bestimmte Krankheitserreger zu entdecken oder einige Krankheiten trotz der Entdeckung der betreffenden Erreger zu heilen – sorgten angesichts der Erwartungen jedoch für umgehende Ernüchterung.47 Zudem erschwerte die Entwicklung differenzierter Gleichgewichtsmodelle innerhalb der Bakteriologie zunehmend die Vermittlung der Erkenntnisse an die fachfremde Öffentlichkeit.48 Vor diesem Hintergrund blieb die Attraktivität literarischer Krankheitsbeschreibung – und der damit verbundene Versuch einer Sinnzuschreibung – bestehen. Die Krankheiten als Konsequenz der fortschrittsbedingten schwächlichen Konstitution des modernen Menschen gehörte ebenso zu den gängigen Topoi der Literatur wie die Darstellungen des (gemeinschaftlichen) Niedergangs oder des Verfalls, die anhand eines Individuums, einer Familie oder auch anhand ganzer Bevölkerungen unaufhaltsam durchgespielt wurden.49 Die Beschreibung des Untergangs durch Schwäche und Verfall gipfelte – im deutschsprachigen Raum – in der Abhandlung Oswald Spenglers, in der dekadente Kulturen mangels ausreichender Reproduktion ihrem unausweichlichen Ende entgegengehen. Spengler verwendete aus einer organizistischen Sicht auf die Geschichte, deren Zyklen er als Folgen natürlicher Alterungsprozesse beschrieb, demografische Begrifflichkeiten, um die Sterblichkeit von Kulturen darzustellen. 50 46 Anz, Gesund oder krank, S. 5f. 47 Etwa der so genannte „Tuberkelinrausch“ 1890. Vgl. Gradmann, „Auf Collegen“, S. 45. 48 J. Andrew Mendelsohn, Von der „Ausrottung“ zum Gleichgewicht: Wie Epidemien nach dem Ersten Weltkrieg komplex wurden, in: Sarasin, Bakteriologie, S. 239–284. Zur Komplexität der Erregertheorie am Beispiel der Syphilis: Ludwik Fleck, Wissenschaftliche Tatsache, S. 26ff. und 79ff. 49 Joris Karl Huymans, A rebours, Paris: Gallimard 1994; Emile Zola, Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, Paris: Cercle du livre précieux 1967; Thomas Mann, Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a.M.: Fischer 1981. 50 „Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer in diesem Kreise vielleicht einen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen biographische Urformen zugrunde?“ Oswald Speng-

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Wie die Mikroben in diese Vorstellung einer „sinnhaften“ Krankhaftigkeit integriert werden konnten, und wie sich mikrobiologische und kulturpessimistische Deutungsstrategien ergänzten, kann exemplarisch an der Zusammenführung beider Diskurse in Daniel Halévys Roman L’histoire de quatre ans gezeigt werden.

III.  Krankheit und Bevölkerung Die Vorstellungen einer „kranken Bevölkerung“ speisten sich gleichermaßen aus Elementen der Mikrobiologie und der Nervosität/ Dekadenz. Die von Literatur und Populärwissenschaften erzeugten Bilder des Krankhaften schrieben sich in eine weitreichende Pathologisierung des Sozialen und in die Verortung sozialer und kultureller Identitäten in medizinischen Zusammenhängen ein. Anders als zu erwarten wäre, dienten die bakteriologischen Erkenntnisse weniger dazu, die Art der Krankheit zu spezifizieren. Die Mikroben waren, im Unterschied zu ihrer Darstellung in der Populärwissenschaft, in der fiktional-imaginären Dimension nur in wenigen Fällen gleichbedeutend mit den Krankheiten.51 Sie wurden vielmehr jenseits einer Pathologie betrachtet und waren vermittelter Ausdruck einer unmittelbaren Bedrohung.52 In der als „gelbe Gefahr“ bezeichneten Furcht vor einem konzertierten Angriff aus dem Osten traten etwa Ängste vor der eigenen Verweichlichung zutage. In vielen Fällen waren Mikroben Teil des Bedrohungsszenarios und der angenommene Untergang wurde durch eine Seuche eingeleitet oder durch die bakteriologische Kriegsführung der angreifenden Völker provoziert.53 Die Krankheiten wurden dabei als Symptome des Verfalls gedeutet, und nicht als seine eigentliche Ursache. Die Verschränkung beider Diskurse lässt sich exemplarisch an dem 1903 erschienenen Roman des französischen Schriftstellers und Publizisten Daniel Halévy zeigen. Der Roman beginnt als Utopie, die sich aber im Laufe der Erzählung allmählich in ihr Gegenteil verkehrt. Die vereinten Bemühungen europäischer Wissenschaftler befreien die westlichen Bevölkerungen von den Zwängen der Erwerbsarbeit. Nach anfänglichem Enthusiasmus verwandelt sich die gewonler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München: Beck 1981, S. 1. 51 Laut Christoph Gradmann wurden Bakterien in der populärwissenschaftlichen Vermittlung zur „Verkörperung der Krankheit schlechthin“. Gradmann, Unsichtbare Feinde, S. 342. 52 Maurice Renard, Un homme chez les microbes. Paris: Crès 1928. 53 Halévy, Quatre ans ; Curt Abel-Musgrave, Der Bacillenkrieg. Eine Mahnung an alle, Frankfurt a.M.: Impavidus 1922.

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nene Freiheit in Beklemmung. Einer lebenslangen Freizeit ausgesetzt, beginnen die Menschen zu verwahrlosen, indem sie sich nacheinander zeitvertreibenden Launen hingeben, insbesondere exzessivem Drogen- und Alkoholgenuss. Dem Ausbrechen einer ebenso unbekannten wie mysteriösen Epidemie haben die geschwächten Freizeiteuropäer nichts mehr entgegenzusetzen, und nur eine selbstdisziplinierte Minorität, die sich jenseits der Städte in so genannte Kolonien zurückgezogen hat, vermag der Seuche zu trotzen. Die Mikroben werden in dem Roman explizit erwähnt, weisen in ihrer Charakterisierung aber die gleiche Uneindeutigkeit und metaphorische Offenheit auf wie die Krankheit selbst: „Les affinités d’un grand nombre de bactéries avaient changé. Ces petits êtres subissaient capricieusement l’action des matières colorantes qui autrefois les décelaient à coup sûr. Certains dépérissaient dans les plus énergiques bouillons de culture. Le monde des micro-organismes semblait bouleversé comme celui des hommes.“54

Die Mikroben büßten in dieser Darstellung ihre Stellung als autonome Gegner ein und wurden zu reinen Katalysatoren der Degeneration herabgestuft.55 Die Darstellung der Krankheit war bei Halévy somit der Ausgangspunkt einer Kritik, die sich explizit gegen Modernität und Dekadenz richtete – denen scheinbar sogar die Mikroben zum Opfer gefallen waren –, und die sich kreuzenden Diskurse wurden zum Kristallisationspunkt einer rückwärtsgewandten Definition Europas und der europäischen Bevölkerungen. Die deutliche Kritik Halévys richtete sich aber nicht nur gegen die Degeneration durch den Fortschritt, sondern auch gegen die selbstpostulierte Ahistorizität der „neuen“ Elite.56 Der Roman tendierte damit, ähnlich wie andere literarische und populärwissenschaftliche Darstellungen von „Zivilisationskrankheiten“ dazu,

54 [„Das Verhalten der Bakterien hatte sich geändert. Die kleinen Wesen reagierten launisch auf die Einfärbungen, die sie in früheren Zeiten eindeutig identifiziert hatten. Manche unter ihnen gingen in den schönsten Laborkulturen zugrunde. Die Welt der Mikroorganismen schien ebenso durcheinander geraten zu sein wie die der Menschen.“] Halévy, Quatre ans, S. 77. 55 In der Schlussszene treffen sich die Überlebenden, die dem Ansturm der Mikroben und der angreifenden Völker getrotzt haben und bestätigen sich selbstzufrieden ihre „natürlich Selektion“. Daraufhin weist ein alter Mann sie zurecht: „Sélection! (…) Est-ce un dieu qui choisit? Du tout: c’est un microbe! Il faut toujours en venir là; un microbe! Et c’est assez pour vous rendre fier comme des paons. Peu vous contente. [“Selektion ! (...) Ist es ein Gott, der auswählt? Nicht im Geringsten: es ist eine Mikrobe! Man muss es immer erinnern: eine Mikrobe! Und das genügt, um Euch stolz vor die Brust zu schlagen. Es bedarf nicht viel.“] Halévy, Quatre ans, S. 205. 56 Halévy, Quatre ans, S.120.

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Finalitäten festzuschreiben, um normierte Verhaltensweisen zu erzeugen.57 Die Verfahren der Normierung waren allerdings unterschiedlich, da in den Familienzeitschriften stärker auf die Disziplinierung des Kollektivs abgehoben wurde. Der Denatalitätsroman Fécondité von Emile Zola hatte zwar einen nicht minder moralisch-demografischen Impetus als der Zeitschriftenartikel „La France va-telle s’effacer?“ von Charles Torquet, in dem dieser den Untergang Frankreichs als Zivilisationskrise beschrieb.58 In Torquets Artikel ging es aber auch um nichts weniger als um das Schicksal Frankreichs und damit, aus der Perspektive des Autors, um das Schicksal der Zivilisation, während Zolas Roman sich – zumindest vordergründig – in das Gewand einer Einzelstudie kleidete. Wo Torquet hyperbolisch vorging, war Zola synekdotisch: der eine beschrieb Frankreich als die ganze Welt, der andere als einzelne Familie eines Pariser Vororts. Beide Vorgehensweisen einte indes die Vorstellung einer Bevölkerung, die in ihrer Summe ein einheitliches, organisch beschreibbares Ganzes ergibt.59 In dieser Vorstellung hatte der Einzelne seinen Beitrag zu einem gesunden Ganzen zu leisten, was einerseits auf einen disziplinierenden Effekt abzielte, andererseits aber die Verletzlichkeit und die Endlichkeit des alternden, sich nicht mehr reproduzierenden Volkes offenbarte. Diese Darstellung wies über literarische und wissenschaftliche Bezugsräume hinaus: Michel Foucault bezeichnete die Sorge um den Gattungserhalt als „biologische Modernitätsschwelle der Gesellschaften“.60 In der Konstruktion des Kollektivs – das sich immer auch über Ausschlussverfahren konstituierte – drohten Mikroben und die krankhafte Disposition der Bevölkerung den (gewaltsamen) Untergang herbeizuführen. Bis zum Ersten Weltkrieg fand in der Literatur also eine wechselseitige Ergänzung beider Vor57 Das Primat der Gesundheit wurde über die Ästhetisierung der Krankheit in der dekadentistischen Literatur zwar infrage gestellt, dies erfolgt aber mit dem dezidiert subversiven Anspruch der Literaten, die Dogmen der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden. Vgl. Joris-Karl Huysmans, Jean Lorrain oder Paul Bourget. Weiterführend: Maria MoogGrünewald, Poetik der Décadence – eine Poetik der Moderne, in: Rainer Warning/ Winfried Wehle (Hrsg.), Fin de siècle, München: Fink 2002, S. 165–195. 58 Charles Torquet, La France va-t-elle s’effacer, in: JST 60 (1909), S. 785–793; Emile Zola, Fécondité, Paris: Fasquelle 1957. 59 Zu der Verschränkung von individuellem und kollektivem Körper über die Reproduktion vgl. Ute Planert, Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (2000), „Körpergeschichte“, S. 539–576, S. 546. 60 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 138. Erst vor diesem Hintergrund konnten Krankheiten als „Bevölkerungsphänomene“ beschrieben werden. Im Rahmen dieser Untersuchung kann der Zusammenhang zwischen der literarischen Krankheitsdarstellung und den Vorstellungen des „Staatskörpers/ Volkskörpers“ leider nicht ausgeführt werden

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stellungswelten statt – Krankheiten als Krieg und Krankheiten als selbstverschuldeter Verfall –, die ganz unterschiedliche Gegenstrategien auf den Plan riefen: Wissen auf der einen Seite, die Abkehr von jenem Fortschritt, der Dekadenz bedeutet, auf der anderen Seite.

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Das Gespenst des Geburtenrückgangs im (deutschen) ‚Denken über die Bevölkerung‘ im 20. Jahrhundert1 In seinem prognostischen Roman „Das Automatenzeitalter“2 hat der Autor Ri Tokko3 das so genannte Bevölkerungsproblem mit einer sozialtechnologischen Utopie gelöst: Kinder werden je nach Weltbedarf in ‚richtiger’ Quantität und Qualität gezeugt und geboren. Der darüber wachende Genetiker trachtet danach, dass die „Menschheit nur noch aus Genies besteht.“ Einzig beklagt er die dem Menschen in der ‚Automatenstadt‘ im Jahre 2500 noch immer innewohnende Sentimentalität: „Wann werden die Menschen endlich begreifen, dass in unserer Zeit Fortpflanzung und Liebe nichts mehr miteinander zu tun haben.“ Für ihn befreite der größte Triumph der Biologie – „(d)en Menschen außerhalb des Mutterleibes aus seinen Keimelementen entstehen zu lassen“ – die Frau vom biblischen Fluch „(m)it Schmerzen sollst du Kinder gebären!“4 Die Biologie hatte das demographische Problem gelöst. Der Traum des Biologen Julian Huxley (1887–1975) und des Genetikers Hermann Joseph Muller (1890–1967) um 1930, die Kontrolle der Fruchtbarkeit zu einem bedeutenden medizinischen und eugenischen Aspekt der Bevölkerungsforschungen, zu einem vom Aberglauben und vom Tabu befreiten Werkzeug ‚wirklicher‘ Wissenschaft werden zu lassen, war in Ri Tokkos Romanwelt Wirklichkeit geworden.5 Die Realität der 1920er Jahre war weit entfernt von dieser Utopie. Ri Tokkos ‚Automatenstadt‘ liegt in einer weitgehend von Krieg und Seuchen befreiten Welt. 1 Diese Fallstudie basiert auf meinen Untersuchungen der Geburtenrückgangstheorien in der Arbeitsgruppe von Rainer Mackensen des DFG-Sonderforschungsprogramms 1106 „Das ‚Konstrukt‘ Bevölkerung vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘“. Bei der Erstellung des Beitrages unterstützte mich Christoph Wichtmann mit konstruktiver Kritik. 2 Ri Tokko, Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman, Zürich/Leipzig/Wien: Amalthea-Verlag 1931. 3 Unter dem Pseudonym Ri Tokko publizierte der Chemie-Ingenieur Ludwig Dexheimer (1891–1966) seinen prognostischen Roman. Er erschien 1930, vom Verlag aber auf das Jahr 1931 datiert. 1938 wurde er von den Nationalsozialisten verboten. Im Jahr 2004 gab der Shayol-Verlag (Berlin) den Roman als „erste vollständige Ausgabe“ heraus. http://www.epilog.de/PersData/D/Dexheimer_Ludwig_1891/Automatenzeitalter (27.02.09) 4 Ri Tokko, Das Automatenzeitalter, S. 723 und S. 736f. 5 Julian Huxley, Biology of Population, in: Birth Control Review XII/3 (1928), S. 83–85. Hermann J. Muller, The Dominance of Economics, in: Birth Control Review XVI/8 (1932), S. 236–238.

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Die Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts kennzeichnete – so der Genetiker im Roman – jedoch eine ‚militaristische Epoche‘. Hier gestalteten sich die Beziehungen zwischen den europäischen Nationen durch ein „Wettrüsten“ und „Wettgebären“.6 Die Bevölkerungspolitik stand unter dem Diktat einer ‚Kanonenfutterproduktion‘. Deutsche Politiker(innen) und Wissenschaftler(innen) sorgten sich in den 1920er Jahren darüber, dass Deutschland im Vergleich mit 22 anderen europäischen Ländern „nach der ehelichen Fruchtbarkeit bereits an 21. Stelle, nach der Geburtenzahl an 17. Stelle hinter Frankreich (steht). Polen und Italien hatten in den letzten Jahren absolut schon einen erheblich größeren Geburtenüberschuss als Deutschland!“7

Sie warnten vor dem Selbstmord der europäischen Völker. In ihre Wertungen der Bevölkerungsdynamik flossen militärische Ängste und Szenarien internationaler Konflikte ebenso ein wie Befürchtungen vor interner Instabilität, Überfremdung oder Verdummung aufgrund der differentiellen Geburtenrate zwischen den Klassen und Völkern. Facettenreich illustrierten düstere Szenarien die wirtschaftlichen, kulturellen und machtpolitischen Folgen des Geburtenrückgangs. Dagegen zeichneten Karikaturisten das Bild einer ‚Antigeburtenrückgangsmaschine‘: „Aus einer Bessemerbirne quollen in dichten Massen Säuglinge heraus, künstlich erzeugt nach Art des Homunkulus, wurden gebadet, ärztlich untersucht und behördlich abgestempelt.“8 Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) kommentierte militärische Erwägungen sarkastisch: „Als Deutschland nicht mehr Einwohner hatte als Frankreich, siegte es, als es doppelt so viele hatte, nachdem es sich sechsmal so stark wie Frankreich vermehrt hatte, wurde es besiegt.“9 Der Frauenarzt und Sozialdemokrat Karl Kautsky jr. (1892–1978) stellte das ‚Gespenst des Geburtenrückgangs‘ an den Pranger: „Ein Gespenst geht um in Europa. Der Geburtenrückgang hält die Gemüter der Volkswirte, Politiker und Ärzte in seinem Bann. Ahnungsvolle Schwarzseher verkünden in allen Tonarten den ›Untergang des Abendlandes‹ als Folge des Aussterbens der Kulturvölker. Unsere Menschheit in Westeuropa sei alt geworden, unfähig zur Verjüngung und Erneuerung. Der Völkertod sei naturgesetzlich …“10 6 Ri Tokko, Das Automatenzeitalter, S. 746; Franz Müller-Lyer, Die Zähmung der Nornen. Erster Teil: Soziologie der Zuchtwahl und des Bevölkerungswesens, München: Albert Langen 1918, S. 156. 7 Franz Eulenburg, Großraumwirtschaft und Autarkie, Jena: Fischer 1932, S. 69. 8 Ri Tokko, Das Automatenzeitalter, S. 744. 9 Magnus Hirschfeld, Geschlechtskunde, Bd. II. Folgen und Folgerungen, Stuttgart: Püttmann 1928, S. 389. 10 Karl Kautsky, Der Kampf gegen den Geburtenrückgang. Kapitalistische oder sozialistische Geburtenpolitik, Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1924, S. 1.

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Dem Geburtenrückgangsgespenst als Legitimation einer kapitalistisch-imperialistischen Geburtenpolitik setzte Kautsky eine sozialistische Geburtenpolitik entgegen, eine auf Fürsorge begründete Menschenökonomie, die „jeden Schritt des Lebens“ behüten, eine prosperierende Zukunft gestalten sollte.11 Doch war in den 1920er Jahren das ‚Gespenst des Geburtenrückgangs‘ keineswegs neu. Es hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Frankreich aus den Weg in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit der Nachbarländer gebahnt. Seitdem erscheint es bis heute immer wieder in neuem Glanz. Aktuell künden z.B. in Deutschland Alarmglocken vom Niedergang, vom demographischen Machtverlust, von Überfremdungs- und Verdummungsgefahren durch unzureichende Reproduktionsleistung des weiblichen, vor allem des akademischen Teils der (deutschen) Nation. Das ‚Gespenst des Geburtenrückgangs‘ scheint unsterblich. Wie aber sah und sieht dieses ‚Gespenst’ aus, das mit facettenreichen Szenarien seit etwa Anfang des 20. Jahrhunderts Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in Deutschland in seinen Bann hält?

Vom Erwachen zur Allgegenwärtigkeit des Geburtenrückgangsgespenstes (1880–1914) Die (statistische) ‚Endeckung‘ des Geburtenrückgangs in Deutschland in den 1880er Jahren bedrängte die damals vorherrschende Bevölkerungslehre von Thomas Robert Malthus (1766–1834). In der Folge entstand im fächerübergreifenden Kanon – Rassenhygiene, Medizin/Sozialhygiene, Statistik, Nationalökonomie/ Sozialwissenschaften etc. – eine Vielzahl von Theorien mit dem Anspruch, dieses Phänomen zu erklären.12 Sie fanden biologische, eugenische und physiologische wie soziologische und psychologische Ursachen – wachsender Wohlstand, Verbreitung von Kenntnissen der Geburtenkontrolle, Frauenemanzipation, Entfremdung von Kirche und Religion, Einfluss des sozialdemokratischen Denkens, Liberalismus, Individualismus, Materialismus, Urbanisierung – der verringerten

11 Ibid., S. 31f. 12 U.a. David E.C. Eversley, Social Theories of Fertility and the Malthusian Debate, Oxford: Clarendon Press 1959; Ursula Ferdinand, Systematisierungen der Geburtenrückgangstheorien ‚um 1930‘, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Gesellschaft 62/6 (2003), S.  171–186; Dies., Geburtenrückgangstheorien ‚um 1930‘ in Deutschland, in: Diane Auth/Barbara Holland-Cunz (Hrsg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich 2007, S. 19–36.

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Kinderzahl.13 Gemeinsamer Ausgangspunkt aller Geburtenrückgangstheorien war die differentielle Fruchtbarkeit zwischen armer und reicher, ländlicher und städtischer Bevölkerung, zwischen Klassen oder Berufsgruppen sowie zwischen Völkern und ‚Rassen‘. Sie wurde zum konstituierenden Element der bevölkerungstheoretischen Konzeptionen im 20. Jahrhundert.14 Indem der Geburtenrückgang das Malthusische Übervölkerungsgespenst bannte, erweckte die (wertende) Sicht auf das neue demographische Phänomen ein neues facettenreiches ‚Gespenst‘. Das verwies auf die Gefahrenfelder des mit zurückgehenden Geburtenraten und differentieller Fruchtbarkeit einhergehenden globalen demographischen Bedeutungsverlustes der westlichen Welt. Wertkonservative Haltungen und der Glaube an die ‚Macht der großen Zahl‘ beförderten nationalistische sowie völkische, imperiale, rassistische und antifeministische Betrachtungen des neuen demographischen Phänomens und dementsprechende Politikempfehlungen.15 Der Geburtenrückgang wurde zur „Chiffre für nicht genau definierte Ängste“, die von einem „Sinken der Moral, einer Schwächung der Kriegsfähigkeit und der ökonomischen Leistungsfähigkeit bis zur Überfremdung durch fremde ‚Rassen‘ und […] einem Aussterben des deutschen Volkes reichten.“16 Er wurde als historischer Bruch, als Chance, Niedergang oder alles zugleich wahrgenommen. Mit der neuen Bevölkerungsdynamik sah man am Horizont Gefahren der Überfremdung, Verdummung und Degeneration der deutschen Nation. In der globalen Sicht galt sie als „Vorbote“ einer „neuen Epoche der Weltgeschichte: Die weiße Rasse stirbt und mit ihr die alte Kultur, im fernen

13 Vgl. Peter Marschalck, Die bevölkerungswissenschaftlichen Deutungen von Fruchtbarkeitsunterschieden und ihre bevölkerungspolitischen Konsequenzen seit dem Beginn des 19.  Jahrhunderts, in: Eckard Voland (Hrsg.), Natur und Kultur im Wechselspiel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 13–27, S. 21f.; Jürgen Cromm, Familienbildung in Deutschland. Soziodemographische Prozesse, Theorie, Recht und Politik unter besonderer Berücksichtigung der DDR, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 230ff.; Ferdinand, Systematisierungen der Geburtenrückgangstheorien; Dies., Der Geburtenrückgang als Herausforderung an die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘. Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden: VS-Verlag 2009, S. 229–287. 14 Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 53ff.; Ders., Die bevölkerungswissenschaftlichen Deutungen, S. 21f.; Cromm, Familienbildung, S. 230ff. 15 Ibid.; Almon B. Wolfe, Theory, in: Encyclopedia of the Social Science, XI/XII, New York: Macmillan 1936, S. 247–254. 16 Matthias Weipert, „Mehrung der Volkskraft“. Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, S. 42.

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Osten aber regen sich und wachsen Völker anderer Rassen, fremder Kultur, erfüllt von dem Willen zur Hegemonie.“17 In den 1890er Jahren waren in Deutschland die Malthusischen Themen – Fortpflanzung und Nahrungsspielraum – wichtige Ecksteine der Debatte ‚Agrar- versus Industriestaat‘.18 Agrarstaatsbefürworter sorgten sich um die Zukunft der Nahrungsversorgung wie um eine vorgeblich demographische Gefährdung Deutschlands durch eine forcierte weltmarktorientierte Industrialisierung. Mit Blick auf die inneren Bevölkerungsverschiebungen in Folge des Industrialisierungsprozesses erfassten sie die wachsende Mobilität – den ‚Zug nach der Stadt‘ – als zeitgeschichtlichen Prozess des demographischen Verfalls. Otto Ammon (1842–1916), Begründer der Sozialanthropologie in Deutschland und Sozialdarwinist des Status quo, zeichnete die Stadt als ‚Rassengrab‘. In der Stadt verschwinde aufgrund unzureichender Reproduktion der ‚höherwertige‘ Teil der Bevölkerung. In der Diskussion über die These von der Stadt als ‚Rassengrab‘ wurde dann der demographische Übergang bevölkerungsstatistisch ‚entdeckt‘.19 Der Geburtenrückgang bzw. die differentielle Fruchtbarkeit rückte nun ebenso wie Fragen der Vererbung und Leistungsfähigkeit ins Zentrum des ‚Denkens über die Bevölkerung‘. Der Schritt zur Vielfalt war getan. Facettenreich gestalteten die Verfechter des Gespenstes des Geburtenrückgangs aus diffusen Ängsten Gefahrenfelder der neuen Bevölkerungsdynamik und des damit verbundenen Wandels der Sexualmoral. Die Prognose, dass Entvölkerung und nicht Übervölkerung das vorherrschende demographische Problem des 20. Jahrhunderts sei, verstärkte die Ängste. In ihnen offenbarte sich der tiefe Glaube an die ‚Macht der großen Zahl‘ im Denken über die Bevölkerung: Wirtschaftliche und imperiale Stärke und das Überleben des deutschen Staates im internationalen Konkurrenzkampf schienen direkt an das Bevölkerungswachstum gebunden: Starke Volksvermehrung galt als Quelle der nationalen Kraft,20 hohe Geburtenraten notwendig für die Sicherung der militärischen, kolonialen und imperialen Macht der Nation.

17 Oscar Wingen, Die Bevölkerungstheorien der letzten Jahre. Ein Beitrag zum Problem des Geburtenrückgangs, Stuttgart/Berlin: J. G. Cotta 1915, S. 4. 18 Ursula Ferdinand, Die Debatte ‚Agrar-versus Industriestaat‘ und die Bevölkerungsfrage. Eine Fallstudie, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden: VS-Verlag 2005, S. 111–149. 19 Ibid. 20 Julius Wolf, Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des Sexuallebens unserer Zeit, Jena: Gustav Fischer 1912, S. 150.

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„Ein Volk ohne starken Kinderzuwachs ist wie ein Tier, dessen natürliche Heilkraft verloren ging. Kinderbringende Völker können Niederlagen aushalten, ohne an ihnen zugrunde zu gehen, weil sie Wachstumskräfte in sich haben.“21

Mit Blick auf das ‚Mutterland‘ des Geburtenrückgangs warnte man vor ‚französischen Verhältnissen’ und sah das Zweikindersystem in Deutschland bereits im Anmarsch.22 Damit lauerte die Gefahr der prospektiven Entvölkerung, die mit Blick auf das Bevölkerungswachstum der östlichen Nachbarländer eine besondere Dramatik erhielt. „Die drohende Entvölkerung kleidet sich … in die Form einer zunehmenden Mischung mit eingewanderten Fremdelementen, wie sie in Deutschland, Frankreich und anderwärts schon begonnen hat.“23

Die komplexen Transformationsprozesse von der ruralen Agrargesellschaft zur städtischen Industriegesellschaft wurden weiterhin als Quelle des Verderbens gesehen, die Urbanisierung als treibende Kraft des Geburtenrückgangs. Der moderne Mensch suche sozial aufzusteigen und beschränke deshalb seine Kinderzahl.24 Mit dem Blick auf den menschlichen Willen als entscheidende Komponente des generativen Verhaltens, den Sozialwissenschaftler nach 1900 in die Bevölkerungsdiskussion eingeführt hatten,25 ließ sich der Geburtenrückgang als Manifestation des Wandels individueller Einstellungen zeigen. Dieser komme in der immer mehr um sich greifenden Irreligiosität als Folge des wachsenden Materialismus und Egoismus zum Ausdruck. Er resultiere aus der Ehefeindlichkeit von Frauen sowie im ‚naturwidrigen Handeln‘ im Geschlechtsleben, der willentlichen Geburtenregelung. Mit der selbstbestimmten Geburtenregelung klopfte für Konservative und Nationale ein „unheimliche(r) Gast“ an die „Tür des deutschen Volkes“: Der Neomalthusianismus, der „weiße Tod“26 des 20. Jahrhunderts, verlangte nach Einlass. 21 Friedrich Naumann, Mehr Kinder!, in: Autonomie 9/78 (1913), S. 101–103, S. 101. 22 Julius Wolf, Das Zweikindersystem im Anmarsch und der Feldzug dagegen. Erweiterter Abdruck zweier Aufsätze der ‚Berliner klinischen Wochenschrift‘, Berlin: Hirschfeld 1913. 23 Karl Oldenberg, Rückgang der Geburten- und Sterbeziffern, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 32 u. 33 (1911), S. 319–337, 401–499, S. 493. 24 Ibid. 25 Cromm, Familienbildung, S. 236ff.; Ursula Ferdinand, Das Malthusische Erbe. Entwicklungsstränge der Bevölkerungstheorie im 19. Jahrhundert und deren Einfluss auf die radikale Frauenbewegung in Deutschland, Münster: LIT 1999. 26 Josef Gra ßl, Der Geburtenrückgang in Deutschland. Seine Ursachen und seine Bedeutung, Kempten/München: Verlag der Joes. Kösel’schen Verlagsbuchhandlung 1914, S. 1.

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Die Protagonist(inn)en der neomalthusianischen Bewegung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland ausbreitete, hatten die sexualethische Orthodoxie Malthus’ über Bord geworfen.27 Sie propagierten die Trennung von Sexualität und Reproduktion und kämpften um die Demokratisierung des Zugangs zu Verhütungsmitteln. Das – so ein Blick aus den 1920er Jahren – beförderte den „Siegeslauf der Geburtenkontrolle“ in Deutschland. Er marschierte „von der Weltstadt, von den Oberschichten und von den religiös Indifferenten. Die Richtung der Heeresstraße war wie folgt: Weltstadt – Großstadt – Klein- und Mittelstadt – plattes Land. Großbürgertum – Mittelstand – gelernte Arbeiter – ungelernte Arbeiter. Mischehen – Juden – Protestanten – Katholiken.“28

Moralisten, Nationale und Eugeniker suchten diesen Siegesmarsch zu stoppen, verurteilten die Propagierung der (selbstbestimmten) Geburtenkontrolle. Für sie galt der Geburtenrückgang als eine der bedrohlichsten Verfallserscheinungen.29 Sie wollten den Abwärtstrend der Geburtenraten durch die „Regeneration von Liebe und dem Wunsch zum Kinde“ umkehren und mit dem Appell an den Patriotismus potentieller Eltern deren Individualismus und Egoismus zurückdrängen.30 Eugeniker sahen das Ende der Bevölkerungszunahme als sicheres Anzeichen für den kulturellen Niedergang einer Nation sowie als Schwächung im internationalen Daseinskampf.31 Den Blick auf die inneren Gesellschaftsstrukturen gerichtet, fokussierten sie auf die differentiellen Fruchtbarkeitsraten der sozialen Klassen. Eugeniker deuteten die geringen Geburtenraten der oberen Klassen als Zeichen von Dekadenz und drohender Degeneration. Sie banden das historische Geschick einer Gesellschaft – Auf- und Abstieg einer Nation, ‚rassische‘ oder ‚nationale‘ Entartung – an Veränderungen der ererbten Eigenschaften der Bevölkerung.32 Die innere Bevölkerungsentwicklung zeichne die qualitative, 27 Ursula Ferdinand, Neomalthusianismus und Frauenfrage, in: dies./Andreas Pretzel/ Andreas Seeck (Hrsg.), Verqueere Wissenschaft?, Münster: LIT 1998, S. 261–280. 28 Ernst Kahn, Der internationale Geburtenstreik. Umfang, Ursachen, Wirkungen, Gegenmaßnahmen?, Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag 1930, S. 18f. 29 Jean Bornträger, Der Geburtenrückgang in Deutschland. Seine Bewertung und Bekämpfung. Auf Grund amtlichen und außeramtlichen Materials, Würzburg: C. Kabitzsch 1913. 30 Karl von Behr-Pinnow, Geburtenrückgang und Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, Berlin: Julius Springer 1913, S. 40. 31 Alexander Tille. Wintersonnenwende, in: Die Zukunft, 9 (1894), S. 544–553. 32 Vgl. Ursula Ferdinand, Historische Argumentationen in den deutschen Debatten zu Geburtenrückgang und differentieller Fruchtbarkeit. Fallbeispiel Karl Valentin Müller (1896-1963), in: Josef Ehmer/Werner Lausecker/Alexander Pinwinkler (Hrsg.), Bevölkerungskonstruktionen in der Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des

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der internationale Daseinskampf die quantitative Seite des Bevölkerungsproblems. Beide Seiten bilden die Pfeiler einer biologischen Politik – das System der biologischen fitness der Nation.33 In diesen Topoi erhoben sich Eugeniker zu vehementen Kritikern des Neomalthusianismus. Für Wilhelm Schallmayer (1857–1919), einem der Begründer der Rassenhygiene in Deutschland, machten sich die Protagonist(inn)en des Neomalthusianismus des „größten Verbrechens schuldig.“34 Für den frühen Rassenhygiene-Aktivisten Alexander Tille (1866– 1912) galt es, gegen die (neomalthusianische) Propaganda „für einen schmerzlosen Selbstmord“ der Nationen anzugehen, dem Missbrauch des Präventivverkehrs Einhalt zu gebieten.35 Einig waren sich beide darin, dass man mit dem präventiven Geschlechtsverkehr den Erdball nicht erobert. Aus der Sicht der Eugeniker versperrten sich Neomalthusianer(innen), die „überall eine zu große Zahl Menschen finden und dem Bevölkerungszuwachs den Vernichtungskrieg erklärt haben,“ der Idee einer rationalen Zuchtwahl. Sie verkannten den eugenischen Imperativ, „den Kranken, den Unfähigen, den Blöden, den Schlechten, den inferioreren Rassen“ einen konsequenten Neomalthusianismus beizubringen.36 Der Kulturmenschheit drohe eine Gefährdung „durch inferiore Menschenrassen infolge deren großen Fruchtbarkeit.“37 Die Lenkung der Reproduktion sei durch Unterordnung des individuellen Willens unter einen eugenischen Imperativ, eine generative (Bevölkerungs-)Politik, notwendig.38 Im nationalen Ideal, das Bevölkerungswachstum für Fortbestand und Geltung der Nation als Bedingung festschrieb, offenbarte der Wandel der Sexual-

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20.  Jahrhunderts. Transdisziplinäre und internationale Perspektiven, Historical Social Research, 31/4 (2004), S. 208–235, S. 214ff. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 132ff.; Josef Ehmer, Bevölkerungswissen und Demographie in der Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hrsg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert: Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 149–167, S. 158ff. Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine naturwissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, Jena: Gustav Fischer 1903, S. 329. Anonym (Alexander Tille), Volksdienst. Von einem Sozialaristokraten. Berlin/Leipzig: Wiener’sche Verlagsbuchhandlung 1893; Alexander Tille, Die Überwindung des Malthusianismus, in: Die Zukunft 42 (1894), S. 107–119. Siehe Ferdinand, Das Malthusische Erbe, S. 187ff. Auguste Forel, Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische und soziologische Studie für Gebildete, München: Reinhardt 8+91909, S. 537f. Ibid., S. 589. Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung, Jena: Gustav Fischer 21910, S. 325ff; Müller-Lyer, Die Zähmung, S. 145ff.

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moral in Deutschland zwei widerstreitende Prinzipien der modernen Bevölkerungsfrage – Staats- versus Privatmoral –, die als deren nationale und soziale Seite erfasst wurden. Anders als die soziale Seite, in der sich Fortschrittstendenzen und fortschreitende Demokratisierung durch die Einklage individueller Rechte spiegelten, verwies die nationale Seite auf potentielle Gefahren aufgrund global ungleicher Bevölkerungsentwicklungen.39 Sie kündigte einen ‚Wendepunkt in der Geschichte‘ an und schürte Ängste vor dem demographischen Bedeutungsverlust, vor Entvölkerung bzw. Entnationalisierung der Kulturländer.40 Der Entnationalisierungsgefahr hofften liberale Ökonomen mit einer (nationalen) Wirtschaftspolitik begegnen zu können, mit der die Sterblichkeitsziffer niedrig gehalten wird, um bei niedrigen Geburtenziffern trotzdem Geburtenüberschüsse zu erzielen.41 Für andere verwiesen die unterschiedlichen Wachstumsraten der Völker auf das ‚Minenfeld‘ international ungeregelter Migrationsbewegungen.42 Auch die sozialdemokratische Parteidoktrin blieb beim Thema Geburtenrückgang national gebunden, dem Glauben an die große Zahl ‚revolutionärer Soldaten’ verpflichtet. Bereits August Bebel (1840–1913) hatte im neomalthusianischen Propagandisten Arnold Meyerhof43 einen „Sozialistentöter“ festgemacht.44 In den 1910er Jahren verwarfen sozialdemokratische Politiker(innen) die These, dass der Geburtenrückgang den „Kapitalismus an seinem Lebensmark treffe“. Sie sahen das ‚Gespenst des Sozialismus‘ durch das des Gebärstreiks verdrängt und wehrten 39 Vgl. Ursula Ferdinand, Die kulturwissenschaftliche Sexualwissenschaft des Ökonomen Julius Wolf (1862–1937), in: Patrick Krassnitzer/Petra Overath (Hrsg.), Bevölkerungsfragen. Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich (1870–1939), Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 81–106; dies., Von der Rationalisierung des Sexuallebens zur sexologischen Erklärung des Geburtenrückgangs – Das bevölkerungswissenschaftliche Werk, Julius Wolfs (1862-1937), in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXV (2007), S. 86–109. 40 Julius Wolf, Der Geburtenrückgang; Ders., Nahrungsspielraum und Menschenzahl. Ein Blick in die Zukunft, Stuttgart: Ferdinand Enke 1917; ders., Die neue Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage, Jena: Gustav Fischer 1928. Vgl. Joshua Cole, The Power of Large Numbers. Population, Politics, and Gender in Nineteenth-Century France, Ithaca/London: Cornell University Press 2000; Christiane Dienel, Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster: Westfälisches Dampf boot 1995. 41 Lujo Brentano, Die Bevölkerungslehre, in: Ders., Konkrete Grundbedingungen der Volkswirtschaft, Leipzig: Felix Meiner 1924, S. 196–338. 42 Havelock Ellis, Rassenhygiene und Volksgesundheit, Würzburg: C. Kabitzsch 1912. 43 Der Arzt Arnold Meyerhof, der unter dem Pseudonym Hans Ferdy publizierte, zählt zu den frühen bedeutenden deutschen Neomalthusianern. Ferdinand, Neomalthusianismus, S. 270f. 44 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin: Dietz Verlag 1976, S. 548.

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den Gebärstreik als untaugliches sozialistisches Kampfmittel ab. Damit verbannten Sozialdemokrat(inn)en die Frauenfrage auf das Gleis des Nebenwiderspruchs und degradierten Frauen zu ‚Gebärmaschinen‘ zukünftiger Kämpfer für die proletarische Revolution.45 Für Kritiker der Forcierung hoher Geburtenzahlen förderte eine Bevölkerungs- und Generationenpolitik, die auf wachsende Bevölkerungszahlen und die „Verschwendung von Menschenmaterial“ baut, weder den Kulturfortschritt noch die wirtschaftliche und militärische Stärke der Nation.46 Sie verwiesen darauf, dass nicht die Völker mit den höchsten Geburtenzahlen, sondern die mit der geringsten Sterblichkeit die Spitze der Kultur erklimmen werden47 und lehnten die Gleichsetzung von Geburtenrückgang mit Bevölkerungsrückgang ab. Zudem begrüßten sie den Übergang vom ‚tierähnlichen Typus der Fortpflanzung und des Altersaufbaus‘ zum ‚menschlichen Typus‘. Auch traten sie den ‚Finis GermaniaeRufen‘ der Geburtenrückgangspessimisten entgegen und verwarfen deren Bild, dass in Folge des Geburtenrückgangs, „die Botokuden und andere interessante Völkerschaften demnächst ihre Zeltlager in den verödeten Straßen von Berlin aufschlagen werden.“48 Doch das ‚Gespenst des Geburtenrückgangs‘ mit seinen düsteren Szenarien blieb wirkungsmächtig: Vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Geburtenrückgang durch die „gefahrenverkündende Losung“ der „Untervölkerung“ zum „Zentralproblem“ erhoben49 und fand Aufnahme in die politische Agenda Deutschlands. Aus zeitgenössischer Sicht hatte der Geburtenrückgang aufgehört „nur eine theoretische Erscheinung zu sein. Er beschäftigt mehr und mehr alle einsichtigen Politiker. Und das mit Fug und Recht, denn der sich anbahnende Rückgang des Geburtenüberschusses der Kulturnationen bedeutete für viele von ihnen

45 Ludwig Quessel, Die Ökonomie des Gebärstreiks, in: Sozialistische Monatshefte 22/19 (1913), S. 1319–1325. Vgl. Anna Bergmann, Die verhütete Sexualität. Die Anfänge der modernen Geburtenkontrolle, Hamburg: Rasch und Röhring 1992, S. 286ff.; Turgott Jähnischen, Droht die Erschöpfung unserer Volkskraft? Der sozialkonservative Protestantismus und die Diskussionen in Deutschland im Jahr 1913, in: Romana Myrrhe (Hrsg.), Geschichte als Beruf, Demokratie und Diktatur – Protestantismus und politische Kultur. Festschrift für Klaus Erich Pollmann, Magdeburg: Stekovics 2005, S. 225–240. 46 Theodor Lessing, Kulturfortschritt und Bevölkerungszahl, in: Die Neue Generation 11 (1909), S. 474–481, S. 481. 47 Rudolf Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie, Leipzig: W. Klinkhardt 1911. 48 Eugen Würzburger, Der Geburtenrückgang und seine Statistik, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 38/3 (1914), S. 147–175, S. 167. 49 Wingen, Bevölkerungstheorien, S. 4.

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und nicht zuletzt in Deutschland eine nationale Gefahr und damit indirekt auch eine wirtschaftliche.“50

Der Erste Weltkrieg verstärkte solche Ängste und rückte die militärpolitischen Folgen des Geburtenrückgangs immer stärker ins Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit. Für viele zeigte sich mehr denn je ein dunkler Punkt am Horizont der Menschheit, die Gefährdung Deutschlands durch die ‚slawische Lawine‘.51 Die Suche nach effektiven bevölkerungspolitischen Maßnahmen bestimmte die Medienlandschaft und beherrschte auch wissenschaftliche Diskussionen.

Das Thema ‚Bevölkerung‘ in den 1920er Jahren Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Bevölkerungsfragen zu Topthemen der Politik und Wissenschaften sowie vielfältiger (international) agierender Reformbewegungen. Die Bevölkerungslehre Malthus’ erfuhr ein Revival durch John Maynard Keynes (1883–1946),52 zugleich begann der Siegeszug demographischer Prognosemodelle. Im Pakt mit der Politik zementierten manche dieser Modelle die Gewissheit, dass sich Bevölkerungen selbst erneuern und um Ewigkeit ringen können, oder – im Fall unzureichender Ersetzung – die Gefahr der Auslöschung und des ‚Rassensuizids‘ drohe.53 Dabei erwies sich auch das Konzept der Nettoreproduktionsrate (NRR), dem der deutsche Statistiker und Demograph Robert René Kuczynski (1876–1947) Ende der 1920er Jahre zum internationalen Durchbruch verhalf, durch die prospektiven Implikationen als nützliches Instrumentarium zur Untermauerung der Entvölkerungsszenarien.54 Kuczynskis Berechnungen zeigten, dass in den nord- und westeuropäischen Ländern 100 Mütter nur 50 Julius Wolf, Soziale und nationale Seite des Bevölkerungsproblems, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, N.F., III (1913), S. 821–831, S. 831. 51 Julius Wolf, Ziele und Wege der Bevölkerungspolitik, in: Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Forschritt IV/17-22 (1916), S. 157–163. 52 Vgl. John Toye, Keynes on Population, Oxford/New York: Oxford University Press 2000, S. 166ff. 53 Henk A. de Gans, Population Forecasting 1895–1945. The Transition to Modernity, Dodrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers 1999; Richard A. Soloway, Demography and Degeneration. Eugenics and the Declining Birthrate in TwentiethCentury Britain, Chapel Hill/London: The University of North Carolina Press 1995; Carl Ipsen, Under the Stats of Fascism: The Italian Population Projections of 1929-31, in: Jochen Fleischhacker/Henk A. de Gans/Thomas K. Burch (Hrsg.), Populations, Projections and Politics. Critical and Historical Essays on early Twentieth Century Population Forecasting, Amsterdam: Rozenberg Publishers 2003, S. 205–224. 54 Robert Réné Kuczynski, The Balance of Births and Deaths, 1: Western and Northern Europe, New York; The Macmillan Company 1928.

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noch 93 zukünftige Mütter gebaren. Über Europa sah er das Damoklesschwert des Aussterbens.55 Die Einführung der Birth control in das ‚Denken über die Bevölkerung‘ hatte die Bevölkerung zu einem lenkbaren Faktor der menschlichen Wohlfahrt gemacht. Auf der Basis von Vernunft, Vorausschau und Selbstkontrolle bzw. durch Steuer- und Familienpolitik schien die Bevölkerungsentwicklung manipulierbar. Im Spannungsfeld zwischen individuellen Freiheitsrechten und den postulierten Gefahren abnehmender Geburtenzahlen erörterte man bevölkerungspolitische Themen im Kontext nationalistischer oder imperialistischer Bestrebungen.56 Für viele schien in den 1920er Jahren der Geburtenrückgang den fortschreitenden Siegeslauf der (modernen) Geburtenkontrolle zu belegen. Über deren kulturelle, machtpolitische, wirtschaftliche oder militärische Konsequenzen schieden sich jedoch wie ehedem die Geister. Individualistische Positionen waren mit kollektivistischen ebenso wenig vereinbar wie nationale mit kosmopolitischen. Resigniert konstatierte ein Zeitgenosse: „Die Vertreter dieser Weltanschauungen werden sich niemals verstehen, ganz zu schweigen von den religiösen.“57 Obwohl die Ängste und Bedrohungsszenarien lebendiger denn je waren, bewirkte zu Beginn der Weimarer Republik die Diskursvielfalt eine neue Qualität im ‚Denken über die Bevölkerung‘.58 Die beginnende Demokratisierung schuf eine breite Öffentlichkeit und eine daraus resultierende basisorientierte Praxis.59 In dem Diskursterrain der individuell-sozialen und nationalen Seite der Bevölkerungsfragen verorteten sich (Sexual-)Reformer(innen), liberale wie konservative Wissenschaftler(innen). Auf internationalen Kongressen der Sexualreformer(innen), der Birth Control-Aktivist(inn)en sowie der Bevölkerungswissenschaftler(innen) der 1920er Jahre avancierte die moderne Bevölkerungsfrage zu einer Frage der ‚Ord55 Ibid.; ders., Sterbende Völker, in: Finanzpolitische Korrespondenz IX/31-32, 33-34, 3738, 39-40 (1928), S. 1-4, 1-5, 1-4, 1-2; Paul Mombert, Bevölkerungslehre, Jena: Gustav Fischer 1929, S. 322. 56 Henry Fairchild, A New Aspect of Population Theory, in: Lane-Fox Pitt-Rivers (Hrsg.), Problems of Population. Being the Report of the Proceedings of the Second General Assembly of The International Union for the Scientific Investigation of Population Problems, Port Washington, N.Y./London: Kennikat Press 1932, S. 321–325. 57 Ernst Kahn, Der internationale Geburtenstreik, S. 185. 58 Cornelie Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster: Westfälisches Dampf boot 1994; Michael S. Teitelbaum/Jay M. Winter, The Fear of Population Decline, San Diego et al.: Academic Press 1985. 59 Resultate zeigte dies u.a. in der Freigabe von Verhütungsmitteln sowie in der Einrichtung von Sexualberatungsstellen. Siehe Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control & Abortion Reform, 1920–1959, New York/Oxford: Oxford University Press 1995.

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nung der Welt‘. Sie galt es durch eine angestrebte internationale Bevölkerungspolitik – etwa durch die Verpflichtung aller Länder zur Geburtenregelung und Regelung der Migration – im Rahmen einer neuen internationalen Arbeitsteilung und neuen Weltwirtschaftsstruktur zu gestalten.60 Dabei suchten reformorientierte Bevölkerungs- und Sexualwissenschaftler(innen) der nationalistischen oder völkischen Propaganda eine Bevölkerungspolitik als Mittel für den Erhalt des Weltfriedens entgegenzustellen. Einige – so Magnus Hirschfeld und Rudolf Goldscheid (1870– 1931) – stritten auch für eine weltweite Verankerung sexueller und reproduktiver Menschenrechte. Für Hirschfeld verband sich die Angst vor dem ‚Gespenst des Geburtenrückgangs‘, „das seit mehreren Jahrzehnten viele Patrioten … mit banger Sorge um ihre Völker erfüllt“, mit der Frage: „[L]iegt hier eine biologische oder eine soziologische Erscheinung vor? Hat sich die Zeugungskraft oder der Zeugungswille verringert, handelt es sich um eine Abnahme oder Zunahme des sexuellen Verantwortungsgefühls, welches der Mensch sich selbst, seinen Mitmenschen und, ob er will oder nicht, auch denen gegenüber besitzt, die er ‚in die Welt setzt‘?“61

Eine förmliche „rage du nombre“, die die Nationen ergriffen hatte, stand für ihn einem „sozialen Internationalismus“ ebenso entgegen wie dem Gleichheitsgrundsatz der Lebensinteressen aller Menschen und Völker. Eine Nation, „welche die Aufzucht ihrer Kinder nicht zu verbürgen vermag, [hat] nicht das Recht …, Kinder zu verlangen.“62 Goldscheid vermochte nicht einzusehen, warum eine künftige Untervölkerung ein Schreckgespenst für Wirtschaft und Gesellschaft sei. Für ihn kamen die eigentlichen Gefahren einer Untervölkerung nicht aus dem Geburtenrückgang, sondern aus der leichtfertigen Menschenverschwendung der kapitalistischen Wirtschaft.63 Auch auf der ersten Weltbevölkerungskonferenz 1927 in Genf hofften manche, nationalistisch geprägte Meinungsunterschiede überwinden zu können. Die 60 Edward A. Ross, Raum für alle?, Berlin/Leipzig: DVA 1929; Max Hirsch, Geburtenrückgang ein internationales Problem, in: Archiv für Frauenkunde und Konstitutionsforschung XVI/1 (1928), S. 53–58; Julius Wolf, Bevölkerungsfrage, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Bd. 1, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931, S. 52– 66. 61 Hirschfeld, Geschlechtskunde, S. 387. 62 Ibid., S. 393f. 63 Rudolf Goldscheid, Geburtenregelung und Menschenökonomie, in: Die neue Generation 1 (1925), S. 1–5. Vgl. Jochen Fleischhacker, Menschen- und Güterökonomie. Anmerkung zu Rudolf Goldscheids demoökonomischem Gesellschaftsentwurf, in: Mitchell Ash/Christian H. Stifter (Hrsg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien: WUV Universitätsverlag 2002, S. 207–229.

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sich hier formierende internationale Wissenschaftsgemeinschaft suchte die Bevölkerungswissenschaft interdisziplinär auszugestalten und zu festigen. Doch blieben die Beiträge und Diskussionen auf der Konferenz, die Frauen- und Geschlechterfragen ignorierten, ein Spiegelbild nationaler Denkstile. Die sich ein Jahr später konstituierende International Union for the Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP) beförderte zwar demographische Forschungen ihrer Länderkomitees, konnte diese Forschungen aber oft nicht von ihren ideologischen Vereinnahmungen – weltanschauliche und persönliche Ressentiments ebenso wie nationale Denkstile – befreien.64 Die Kassandrarufe verstummten in der Weimarer Republik keineswegs. Mit Bedrohungsszenarien, in denen statistische und ideologische Elemente verwoben waren, warnten sie vor dem „allgemeinen Bevölkerungsschwund“ Europas in 100 Jahren.65 ‚Ewig Gestrige‘ genauso wie manche Gynäkologen verdammten die absichtliche Verhütung der Konzeption.66 Die Nationalgesinnten hielten an dem Bild fest, dass das Schicksal des deutschen Volkes vom Bevölkerungswachstum abhänge. Die Rationalisierung der Sexualmoral, Ausdruck des fundamentalen Einstellungs- und Mentalitätswandels der deutschen Bevölkerung, führe in den ‚weißen Tod‘.67 Frauenemanzipation wurde weiterhin als eine primäre Ursache des Geburtenrückgangs genannt. Sie lenke „Frauen von ihren generativen Aufgaben und Erziehungspflichten ab“ und vermindere zudem „die sozialethische Wertung dieser Pflichten.“68 Großstädte blieben ‚Volksfriedhöfe‘, bäuerliche Familien der ‚Jungbrunnen‘ des deutschen Volkes. Als große kulturelle Gefahr figurierte die

64 Ursula Ferdinand, Der internationale Kongress für Bevölkerungswissenschaft 1935 in Berlin, in: Mitteilungen der Hirschfeld Gesellschaft 24 (1997), S. 5–33; Dies., Bevölkerungswissenschaft und Rassismus – Die internationalen Bevölkerungskongresse der International Union for the Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP) als paradigmatische Foren, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im ‚Dritten Reich‘, Opladen: Leske + Budrich 2004, S. 61–98. 65 Hans Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs unter besonderer Berücksichtigung des Geburtenrückgangs, Berlin: Kurt Vowinckel 1927, S. 185. 66 So kritisch Max Marcuse, Der Präventivverkehr in der medizinischen Lehre und ärztlichen Praxis, Stuttgart: Ferdinand Enke 21931, S. 138ff. 67 J. Klug, Lebensbeherrschung und Lebensdienst, Paderborn: Schöningh 1920, 2 Bde. Klug – ibid. Bd. 2, S. 278ff. – stellte dem ‚weißen Tod‘ – das langsame Sterben der weißen Völker infolge des fortgesetzten Rückgangs der Geburtenziffer – den ‚roten Tod‘ (Krieg) und den ‚schwarzen Tod‘ (Pest) gegenüber. 68 Roderich von Ungern-Sternberg, Die Ursachen des Geburtenrückgangs im europäischen Kulturkreis. (Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung, XXXVI. Bd., 7. H.), Berlin: Richard Schoetz 1932, S. 65, 204.

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‚Überfremdung‘.69 Aus dem Osten sah man in Deutschland weiterhin die ‚slawische Lawine‘ heranrollen und dahinter die ‚gelbe Gefahr‘ immer näher rücken. Ernster als vor dem Ersten Weltkrieg verwies dies auf den demographischen Bedeutungs- und drohenden Weltmachtverlust der westlichen Kulturländer.70 In der völkischen Sicht verdichtete sich die immer weiter um sich greifende Beschränkung der Geburten zu einer weit größeren Bedrohung als das Malthusische Übervölkerungsgespenst. „Die hemmungslose Geburtenbeschränkung stellt nicht das Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Lebensspielraum her, sondern bringt das Volk aus dem Gleichgewicht. Sie beschwört an Stelle der Ueberbevölkerung die Gefahr der Untervölkerung und der Entvölkerung herauf. Diese Gefahr ist aber … unendlich ernster als die der Uebervölkerung, denn sie endet nicht nur mit Volksnot, sondern mit Volkstod.“71

Schlagwörter wie ‚Volk ohne Raum‘ (Hans Grimm), ‚Volk ohne Jugend‘ (Friedrich Burgdörfer) und ‚Volk ohne Wiegen‘ (Alfred Mjoen) sowie die Angst vor Vergreisung machten öffentlich Karriere. Sie untermalten die Angst vor dem ‚Volkstod‘ – jenem „Ausgeborenwerden“ durch das „Nachlassen des Fortpflanzungswillens“, der „willentlichen Einschränkung der natürlichen Fruchtbarkeitsmacht“.72 Vom nationalen Standpunkt aus betrachtet lauerte neben der Gefahr der ‚Überflutung‘ durch Nachbarkulturen und der Erstickung der eigenen die des Verlustes nationalen Siedlungsraumes. Ein „Raum ohne Volk“, wie die „dünn bevölkerten Ostprovinzen gegenüber der rasch zunehmenden Bevölkerung unserer östlichen Nachbarn“, barg die Gefahr, als „künftige menschenarme Steppen oder durch Unterwanderung“ verloren zu gehen.73

69 Friedrich Zahn, Die Entwicklung der räumlichen, beruflichen und sozialen Gliederung des deutschen Volkes seit der industriell-kapitalistischen Wirtschaftweise, in: Bernhard Harms (Hrsg.), Volk und Reich der Deutschen, Berlin: Hobbing 1929, S. 220–279. 70 Vgl. Ferdinand, Die Debatte; Dies., Zu Leben und Werk des Ökonomen Julius Wolf (1862–1937). Eine biographische Skizze«, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden: VS-Verlag 2005, S. 150–200. 71 Friedrich Burgdörfer, Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung. Die Lebensfrage des deutschen Volkes, Berlin: Richard Schoetz 1929, S. 103; Ders., Zurück zum Agrarstaat? Stadt und Land in volksbiologischer Betrachtung. Dynamische Grundlinien künftiger Agrar-, Siedlungs-. Wohnungs- und Wirtschaftspolitik, Berlin: Kurt Vowinckel 21935. 72 Burgdörfer, Der Geburtenrückgang, S. 173; Ders., Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der nationalen Zukunft, Berlin: Vowinckel 1932. 73 Kahn, Der internationale Geburtenstreik, S. 189; Max Klesse, Mehr sozialistische Bevölkerungspolitik!, in: Sozialistische Monatshefte, 34 (1928), S. 314–319, S. 318.

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Um das Bevölkerungswachstum zu fördern bzw. den Umschwung hin zum Bevölkerungsrückgang zu stoppen, sollten innenpolitische Maßnahmen wie Elternversicherung, Steuerpolitik, Bekämpfung der Wohnungsnot und Förderung der inneren Kolonisation sowie eine sittlich-geistige Erneuerung wertkonservativer Einstellungen zum Kind und zur Familie dienen. Für den Beweis der Dringlichkeit erwies sich wie ehedem der Blick auf das Nachbarland Frankreich als nützlich. Dort präge Untervölkerung angeblich eine stagnierende Wirtschaft und zeichne sich als Folge des ‚Bevölkerungsschwunds‘ der Verlust „des höchsten Gutes – der Nationalität“ ab.74 Um den deutschen ‚Volkskörper‘ als ‚Volk ohne Raum‘ zu stärken, redete der deutsche Statistiker Friedrich Burgdörfer (1890–1967) einer mit demographischen Zielvorgaben ausgestalteten Bevölkerungspolitik und der Reagrarisierung Deutschlands das Wort.75 Der vorgeblich drohenden Schrumpfung und Überalterung des ‚Volkskörpers‘ solle durch eine ‚volkserhaltende‘ und ‚volkserneuernde‘ Familienpolitik begegnet werden.76 Im Pakt mit der Politik versprach er, mit seiner demographischen Prognose, „verantwortliche(n) Staatsmänner(n)“ ein Instrument an die Hand zu geben, um den „Kampf gegen die biologische Selbstgefährdung ihres Volkes aufzunehmen, ehe es zu spät ist.“77 Statistische Untersuchungen zur differentiellen Fruchtbarkeit zeigten unterdessen das weitgehende Verschwinden des Zusammenhangs ‚Beutel schwer – Wiege leer // Batzen rar – Kinderschar‘. Die (selbstbestimmte) Geburtenregelung war auch in den Arbeiterschichten allgemeine Sexualpraxis geworden. „Das großstädtische Proletariat hat aufgehört sich proletarisch fortzupflanzen, es beschränkt seine Kinderzahl bereits stärker als die wirtschaftliche und soziale Oberschicht.“78 Das Vordringen der ‚streberischen Gesinnung‘, jenes vermeintliche Produkt des individualistisch-liberalistischen Zeitalters, im Proletariat bewirkte den dortigen

74 Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs, S. 10; Kahn, Der internationale Geburtenstreik, S. 195ff.; Maria Monheim, Rationalisierung der Menschenvermehrung. Eine Studie zur praktischen Bevölkerungspolitik, Jena: Gustav Fischer 1928, S. 119f. 75 Friedrich Burgdörfer, Familie und Volk, Berlin: Deutscher Schriftenverlag 1930; Ders., Eheberatung, Sexualberatung und Krankenkasse vom bevölkerungspolitischen Standpunkt, in: Soziale Hygiene 2 (1930), S. 100–108; Ders., Zurück zum Agrarstaat? 76 Burgdörfer, Volk ohne Jugend. 77 Friedrich Burgdörfer, Vorausberechnungen über die deutsche Bevölkerungsentwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, in: Corrado Gini (Hrsg.), Verhandlungen des internationalen Kongresses für Bevölkerungsforschung. (Rom, 7.–10. September 1931), VII, Rom: Instituto Poligrafico 1934, S. 21–63, S. 63. 78 Friedrich Burgdörfer, Die kinderreiche Familie, ihre volksbiologische Bedeutung und ihre statistische Erfassung, in: Corrado Gini (Hrsg.), Verhandlungen des internationalen Kongresses für Bevölkerungsforschung. (Rom, 7.–10. September 1931), VIII, Rom: Instituto Poligrafico 1933, S. 343–353, S. 349.

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Geburtenrückgang und damit dessen Untergang.79 Solche kulturpessimistischen Untergangsszenarien zeichneten die führenden Schichten aufgrund geringer Geburtenraten als Totengräber der abendländischen hochkapitalistischen Kultur. Mit der nachlassenden Fruchtbarkeit des modernen zivilisierten Menschen begann der Untergang des Abendlandes.80 Eugeniker sorgten sich nun um den (nicht gelenkten) Siegeslauf der Geburtenkontrolle in der Arbeiterklasse. Sie sahen im daraus vorgeblich resultierenden ‚Geburtenselbstmord‘ eine Gefahr für die Tüchtigkeit des deutschen Volkes. „Anstelle des sozialen Abstiegs … ist das Aussterben der oberen Schichten [des Proletariats, UF] getreten. Dadurch bleibt das Gleichgewicht der sozialen Schichten zwar gewahrt, aber die tüchtigsten Familien sieben sich aus der Bevölkerung heraus, so dass das Begabungsniveau sinkt.“81

Die Zivilisation schien durch die unzureichende Reproduktion an sich und die fitness des Volkes durch die geringen Kinderzahlen bestimmter Subpopulationen – Bauernstand, obere Klasse, (städtischer) Mittelstand und die oberen Schichten der Arbeiterklasse – bedroht. Zwar verstand mancher in den krisengeschüttelten 1920er Jahren den Geburtenrückgang als ein notwendiges Ventil eines zu starken Bevölkerungswachstums, doch das Handlungsgebot war, das Ventil richtig zu handhaben.82 Dem folgte der Ruf nach dem Experten. Ihm oblag es, alle Aspekte der menschlichen Reproduktion aus der individuellen Verantwortung zu lösen. Dabei bedrängten Eugeniker sozialdemokratische Kreise, sich den aus dem Geburtenrückgang angeblich erwachsenen Gefahren endlich zu stellen. Eine Einschränkung der Geburten sei noch keine Regelung: „Denn die Geburtenzahl ist bereits in einem Maß gesunken, dass die Substanz der Arbeiterbevölkerung zu schwinden droht.“83 Rassenhygieniker beschworen, wie vor dem Krieg, die mehrfache ‚innere‘ Bedrohung – die quantitative und qualitative Implosion und den ‚rassischen‘ Untergang als Folge von Degeneration und Überfremdung. Das stärkte ökonomisches Nutzen- und Leistungsmaximierungsdenken wie sozialtechnologische Utopien 79 Ungern-Sternberg, Die Ursachen des Geburtenrückgangs. 80 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München: C. H. Beck 1980. Vgl. Herwig Birg, Was auf Deutschland zukommt – Die zwingende Logik der Demographie, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXV (2007), S. 292–309, S. 293f. 81 Karl Valentin Müller, Eugenik und Sozialismus, in: Günther Just (Hrsg.), Eugenik und Weltanschauung, Berlin/München: Metzner 1932, S. 141–196, S. 173. 82 Alfred Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik, Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 1926. 83 Ibid., S. 294. Vgl. Rebecca Heinemann, Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen, München: Oldenbourg Verlag 2004, S. 253ff.

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in bevölkerungspolitischen Vorstellungen und medizinischen Fruchtbarkeitsforschungen. Reformeugeniker verwarfen den Geburtenzwang als religiöses Dogma. Sie hofften, dass Hormonforschung und eine Revolutionierung der Verhütungstechnologien Mediziner bzw. Genetiker bald befähige, die Frauen von ihrer ‚biologischen Tragödie‘ zu befreien. 84 Demgegenüber verstummte jedoch die Angst nicht, dass diese Technologien eine tatsächliche Dezimierung der ‚wertvollen‘ Bevölkerungsanteile in wenigen Generationen befördern könnten. Am Ende der Weimarer Republik wirkte die Diskursvielfalt nicht mehr zur Proliferation politisch vielfältiger Projekte. Rassenhygieniker und Rassenanthropologen erhoben die Erbbiologie zum dominanten Faktor sozialer und demographischer Prozesse. Sie suchten eine Geburtenpolitik als ‚planvolle Züchtung‘ auszugestalten und stellten über die ‚Biologisierung des Gesellschaftlichen‘ die ‚Rassenpflege‘ des deutschen Volkes ins Zentrum.85 Der Schutz der rassisch definierten Volksgemeinschaft erfordere eine qualitative Bevölkerungspolitik. Die politische Zäsur 1933 zerstörte in Deutschland die Diskursvielfalt endgültig. Die neuen Machthaber zementierten über das Gebot der Erbpflege eine mörderische Rassen- und Bevölkerungspolitik. Der Kern der Rassenhygiene, die differentielle Fruchtbarkeit, verortete Bevölkerungspolitik erbbiologisch und rassisch. Die Trias Rassendiskriminierung, Einschränkung der Fortpflanzung und planerische Züchtung wurde zum unumstößlichen Baumaterial des Denkens über die Bevölkerung. Eine biologisierte Bevölkerungspolitik war über Maßnahmen zur (a) quantitativen Sicherung des Volksbestandes (Geburtenpolitik); (b) qualitativen Geburtenförderung (Rassenhygiene i.e.S.) sowie (c) zur Erhaltung der rassischen Eigenart des Volkes (Rassenpolitik) dem Doppelziel Ausmerze und Züchtung verpflichtet. Eine selektierende, ausgrenzende und mörderische Bevölkerungspolitik wurde juristisch verankert. Ziel war es, dass jedes Jahr 300.000 Kinder mehr geboren, 12 Millionen Menschen zugleich an der Fortpflanzung gehindert werden sollten.86 Dabei beschwor etwa Burgdörfer ab 1933 den Erfolg einer ‚psychischen‘ Bevölkerungspolitik: Steigende Geburtenzahlen seien Ausdruck des zurückgewonnenen Vertrauens der Deutschen in ihren Führer. Sieben Jahre 84 A.W. Nemilow, Die biologische Tragödie der Frau, Berlin: Verlag Oscar Engel 1925; Emil Höllein, Gebärzwang und kein Ende, Berlin: Universum-Bücherei für alle 31931. 85 Karl-Valentin Müller, Arbeiterbewegung und Bevölkerungsfrage. Eine gemeinverständliche Darstellung der wichtigsten Fragen der quantitativen und qualitativen Bevölkerungspolitik im Rahmen gewerkschaftlicher Theorien, Jena: Karl Zwing 1927. 86 So Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877–1946) in einer Rede zu den Zielen seiner Bevölkerungs- und Rassenpolitik 1933. Zit. in: Josef Ehmer, ›Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik‹ in der neueren historischen Forschung, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im ‚Dritten Reich‘, Opladen: Leske + Budrich 2004, S. 21–44, S. 37.

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später verkündete er, dass das deutsche Volk nicht mehr ein ‚Volk ohne Jugend‘ sei, es wieder zu den „fruchtbarsten und jungen Völkern Europas“ gehöre.87 Gleichwohl verschwanden die demographischen Gespenster des Geburtenrückgangs weder 1933, als sich ein anderes Gespenst anschickte, tausend Jahre zu hausen, noch 1945.

Die altneue Debatte über das Zuviel und Zuwenig an Menschen nach 1945 Nach 1945 hatte die mörderische Ausrottungs- und Aufartungspolitik der Nationalsozialisten die deutsche Bevölkerungswissenschaft diskreditiert, doch gab es kaum internationale Bestrebungen zur radikalen Neugestaltung des ‚Denkens über die Bevölkerung’. Globale Bevölkerungsfragen rückten ins Blickfeld der Bevölkerungswissenschaft. In der Zeit des Kalten Krieges und der wachsenden Emanzipationsbewegungen in den (ehemaligen) Kolonialländern avancierten Übervölkerung und Familienplanung zu Topthemen der Wissenschaft und Politik. In Europa gehörten in Folge der nationalsozialistischen ‚Neuordnung Europas‘ und des Zweiten Weltkriegs Migration und die Vertreibung deutscher Bevölkerungsgruppen nach 1945 zum wichtigen Politikfeld. Doch blieben im Nachkriegseuropa auch Geburtenrückgangsgespenster lebendig. Wertkonservative Bevölkerungswissenschaftler verurteilten künstliche Befruchtung als eine „Auflehnung gegen Gott“ und sahen in Familienplanungsprogrammen einen Widerspruch zur christlichen „Ordnung der Ehe“.88 Während sie dem Überstülpen der „westeuropäischen Bevölkerungsweise“ auf die Völker der sog. Dritten Welt skeptisch bzw. ablehnend gegenüberstanden, verbanden sozialanthropologisch orientierte Bevölkerungswissenschaftler die „Bevölkerungsexplosion“ dieser Völker mit einem „biologischen Imperialismus“, der die abendländische Gesittung zu verschlingen drohe.89 Begrenzt auf die Industrieländer galt bald die Sorge den ökonomischen, biologischen und sozialen Folgen einer alternden Gesellschaft bzw. der ‚Überfrem87 Zit. in Florence Vienne, Die ›Lösung der Bevölkerungsfrage‹ im Nationalsozialismus. Richard Korherrs und Friedrich Burgdörfers Beiträge zur Vernichtung der Juden in der Geschichte der Bevölkerungswissenschaft, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im ‚Dritten Reich‘, Opladen: Leske + Budrich 2004, S. 151–164, S. 160. 88 Roderich von Ungern-Sternberg, Die Auflehnung gegen Gott. Kann künstliche Befruchtung der Frau gerecht werden?, in: Sobrietas. Wissenschaftlich-praktische Vierteljahreszeitschrift für Lebenserneuerung und Volksgesundheit 1 (1960), S. 31–34, S. 34. 89 Karl Valentin Müller, Zur Soziologie der Entwicklungsländer, in: Eugen H. Sieber (Hrsg.), Entwicklungsländer und Entwicklungspolitik. Nürnberger Hochschulwoche 27.–30. November 1962, Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 237–253, S. 249.

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dung‘, teilweise auch drohender Verdummung.90 Die demographische Struktur der reichen Länder prägte in der Sicht mancher Demograph(inn)en ein ‚Gebärstreik‘, die katholischen europäischen Mittelmeerländer wurden überraschend zum ‚sterilen Süden‘. Das bedinge auch hier die ‚Umkehrung der Alterspyramide‘ und führe weltweit zu einem ‚Zuwanderungsdruck‘ auf alle ‚weißen Festungen‘. Manche klagten über die Tabuisierung von Geburtenförderungen in der Politik und hoben an zum Plädoyer für eine ‚Renaissance der Alten Welt‘.91 Im Unterschied zur Geburtenrückgangsdiskussion der 1920er und 1930er Jahre spielten dabei militärische Argumente kaum noch eine Rolle, doch bestand weiterhin der Glaube an die Macht der großen Zahl. Wie ehedem lauerte die Gefahr vorgeblich in der angeblichen ‚Überfremdung‘, dem Untergang der ‚Leitkultur‘. Seit den 1950er Jahren wurden die Ängste vor ‚Vergreisung‘, zunehmenden Versorgungspflichten, Überfremdung oder Verkümmerung des geistigen Potentials immer wieder beschworen.92 Für Wertkonservative blieben geburtenverhütende Mittel und Abtreibung eine ‚weiße Plage‘. Für sie waren die nach 1945 entwickelten Verhütungsmittel viel gefährlicher als die atomare Aufrüstung.93 Auch blieb der Geburtenrückgang häufig konnotiert mit dem Untergang der Nation. Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren meinte man auch in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion, sich Sorgen über einen möglichen Bevölkerungsrückgang machen zu müssen. Anfang der 1980er Jahre konstatierte der Schriftsteller Alexander Solschenyzin (1918–2008), dass die westlichen Demographen zeigen würden, dass sich das russische Volk auf dem Weg der biologischen Degeneration befände, sich selbst auflöse und bald von der Erde verschwinden werde, und dass diese Entwicklung irreversibel sei.94 In Großbritannien warnten Politiker aufgrund der hohen Fruchtbarkeit der Migrant(inn)en vor „black cities“ und „streets of blood“.95 1981 forderten im „Heidelberger Manifest“ einige rechtsgerichtete deutsche Professoren und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen die Bewahrung der 90 Barry Mirkin, Evolution of National Population Policies since the United Nations 1954 World Population Conference«, Genus LXI/3-4 (2005), S. 297–328, S. 310f.; Rainer Mackensen, Vergangenheit und Zukunft der Demographie als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 25/3-4 (2000), S. 399–429, S. 418f. 91 Jean-Claude Chesnais, Le crépuscule de l’Occident. Démographie et politique, Paris: Robert Laffont 1995. 92 Vgl. u.a. Roderich von Ungern-Sternberg, Das Kind in der Bevölkerungspolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 6/3/4 (1953/54), S. 504–513; Teitelbaum/Winter, The Fear. 93 Ibid., S. 131. 94 Ibid., S. 3. 95 Ibid., S. 136.

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Sprache, der Kultur und des nationalen Charakters der Deutschen gegen die Konsequenzen der niedrigen Fruchtbarkeit und der kontinuierlich hohen Einwanderungszahlen. „Mit großer Sorge betrachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von Millionen von Ausländern und ihren Familien … Allein im Jahre 1980 hat die Zahl der gemeldeten Ausländer trotz Anwerbestopp um 309 000 zugenommen, davon 194 000 Türken. Gegenüber der zur Erhaltung unseres Volkes notwendigen Zahl von Kindern werden jetzt jährlich kaum mehr als die Hälfte geboren. Bereits jetzt sind viele Deutsche in ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eigenen Heimat“96

Noch heute erklingen die Klagen über den Geburtenrückgang in Deutschland, wieder erleben sie eine Konjunktur.97 Feuilletonistische Kirrmacher erinnern die deutsche Öffentlichkeit mit düsteren Prognosen an alte Werte. Das prophezeite ›Aussterben der Deutschen‹ kommentierte man in Großbritannien ironisch: „Warum nicht 100 Jahre früher? – Warum haben sie (die Deutschen) uns so lange warten lassen?“98 Das sich als Think-Tank verstehende „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ präsentiert unter der Frage „Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen“ Fakten zur demographischen Lage der Nation.99 Öffentlichkeitsmächtig vergeben diese Studien im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts den Regionen im wiedervereinten Deutschland Noten für ihre Zukunftsfähigkeit. Sie zeichnen unter dem Motto ‚Deutschland auf dem Schrumpfkurs‘ in düsteren Farben die Folgen faktischer demographischer Entwicklungen und bescheinigen Deutschland bei der Geburtenrate einen weltweiten ‚Minimum-Rekord‘. Abgesehen von der Schlichtheit der Folgenszenarien demographischer Erscheinungen sind solche (durchgehend vierfarbig im Druck, monochrom im Inhalt) Publikationen eher PR-Maßnahmen einer Lobby-Einrichtung als dem Ringen um ernsthafte Antworten auf den Fragenkomplex von Ursachen, Wirkungen und Folgen demographischer Entwicklungen im sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext dienlich. Schwund- oder ähnliche Metaphern eignen 96 Siehe Abdruck des Heidelberger Manifestes (17. Juni 1981) im antifaschistischen pressearchiv und bildungzentrum berlin e.v. http://apabiz.de/archiv/material/Profile 97 Steffen Kröhnert/Nienke von Olst/Reiner Klingholz, Deutschland 2020. Die demografische Zukunft Deutschlands. Herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin 32005.; Steffen Kröhnert/Franziskus Medicus/Reiner Klingholz, Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? Herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, München: dtv 2006. 98 Die tageszeitung, 14.4.2006. 99 Kröhnert et al., Deutschland; Kröhnert et al., Die demografische Lage.

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sich gewiss zu Dramatisierungen, doch kaum zur wissenschaftlichen Fundierung von Prognosen oder für Klärungsansätze der Beziehungen zwischen Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Geburtenrate von 1,36 Kindern pro Frau ist nun einmal kein Indiz für zu viele oder zu wenige Menschen. Die heutige Debatte basiert auf der Angst vor dem Kollaps des gegenwärtigen Systems der sozialen Sicherung. Dieses System basiert auf dem Verhältnis von Erwerbstätigen und Leistungsbezieher(innen) – beides Gruppen, die per se nicht bestimmten Alterskohorten angehören müssen – und der Wirtschaftskraft. Eintritt in das Erwerbsleben, Arbeitslosigkeit, Beginn und Dauer des Ruhestands sind die wichtigen Variablen, die in der Beschäftigungs-, Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialpolitik fußen. Sie wurzeln nicht im leeren Uterus uneinsichtiger Frauen, die das Volkswohl ignorieren, sondern sind bestenfalls Parameter zur Bewertung einer Volkswirtschaft. Nimmt man das (wirtschafts-)politische Unvermögen, alle Erwerbsfähigen erwerbstätig sein zu lassen, als Maßstab, so leben wir in Deutschland (und dort insbesondere in den kaum bevölkerten metropolenfernen Regionen) trotz niedriger Geburtenrate in einem übervölkerten Land. Fehlt es dem Wirtschaftsprozess für das Wachstum an Konsument(inn)en, so liegt tendenziell eine Untervölkerung vor, sofern man sich dieser Terminologie bedienen möchte. Eine Balance zwischen Übervölkerung auf der einen Seite und Untervölkerung auf der anderen Seite zu schaffen, ist gewiss keine Aufgabe der Geburtenpolitik. Seit über 100 Jahren verkünden Gespenster mit dem Geburtenrückgang das Menetekel des kulturellen Verfalls und des sittlichen und moralischen Niedergangs Deutschlands. Obwohl der Geburtenrückgang als solcher weder positiv noch negativ bewertet werden kann, scheinen diese Gespenster unsterblich. Zwar hat die Entwicklung moderner Verhütungsmittel wie neuer Reproduktionstechnologien den Blick vom Gebärzwang auf die Geburtenregelung gelegt, doch keineswegs die wertende Sichtweise auf die Bevölkerungsdynamik damit beendet. Mit der Wertung demographischer Phänomene werden weiterhin facettenreich Bedrohungs- und Untergangsszenarien gezeichnet, die das Mentekel der ‚Unterfruchtigkeit‘ des zivilisierten Menschen beschwören. Auch die Reproduktions- und Geburtenpolitik in der optimistischen Utopie Ri Tokkos, deren technische Realisierbarkeit wir heute mit den neuen Reproduktionstechnologien näher gekommen sind, eignet sich nicht zur Lösung von Bevölkerungsproblemen. Denn diese Technologien bergen gesellschaftliche Gefahren, die Ri Tokkos pessimistischer Zeitgenosse Aldous Huxley (1894–1963) in der ‚Schönen neuen Welt‘ schon klar erkannt hat.

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Zivilisationskrankheiten an der Schwelle zur Konsumgesellschaft Das Beispiel der Managerkrankheit in den 1950er- und 1960 Jahren Zivilisationskrankheiten und Wiederaufbau nach 1945 „Können wir uns des Wiederaufbaus, den die Welt als das deutsche Wunder bestaunt, wirklich freuen, wenn er von Ungezählten mit dem vorzeitigen Verlust der Gesundheit und des Lebens bezahlt werden muss? Dieses Arbeitstempo zusammen mit den […] schädlichen Einwirkungen rafft, wie es die Statistik eindeutig beweist, gerade die Fähigsten, die heute am notwendigsten gebraucht werden, im besten Alter dahin. Nach den ungeheuren Opfern, die der Krieg und die Nachkriegszeit besonders unter der arbeitsfähigen Bevölkerung gefordert hat, ist der Verlust, den das ganze Volk durch diese ‚Manager-Todesfälle‘ erleidet, doppelt schmerzlich und wirklich unersetzbar.“1

Mit diesen Worten warnte 1956 der deutsche Kurarzt Klaus Franke vor der so genannten „Managerkrankheit“ und brachte die damals vorherrschenden Ängste vor dem „Wegsterben der Elite“ auf den Punkt. Franke, Autor eines populärmedizinischen Ratgebers zum Thema Managerkrankheit, war nicht der Einzige, der sich um die Gesundheit der Bevölkerung sorgte. Immer mehr Ärzte in Deutschland und Österreich – später und unter etwas anderen Voraussetzungen auch in der Schweiz – machten Leistungs- und Anpassungsdruck sowie Krankheit und Tod von Männern in leitenden Funktionen zum Thema. Seit 1953 setzte sich hierfür der Begriff Managerkrankheit durch, da Überarbeitung und Erschöpfung vor allem der wirtschaftlichen und politischen Elite – gemeint waren ausschließlich Männer – zugeschrieben wurden. Über die Debatten zur Managerkrankheit machten sich verschiedene Wissenschaftler grundsätzlich Gedanken zum Gesundheitszustand der Nachkriegsbevölkerung und betrieben Politik, indem sie Prognosen erstellten, eine einseitig auf Materialismus ausgerichtete Lebensführung kritisierten und Gesundheitsratgeber veröffentlichten.

1 Klaus Franke, Die sogenannte Managerkrankheit, ihre Ursachen, ihre Behandlung, ihre Verhütung, Eine ärztliche Schrift für den überarbeiteten Menschen, Stuttgart: FriedrichKarl Schattauer-Verlag 1956, S. 9.

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Die über die Managerkrankheit vermittelte Kritik an einer leistungsorientierten Lebensführung bildete in den 1950er Jahren eine Ausnahme. Denn das beispiellose wirtschaftliche Wachstum und der rasante soziale Wandel, den vor allem Gesellschaften des Westens durchlebten, sind in der kollektiven Erinnerung sowie in der Historiographie, von einigen sozialgeschichtlichen Einwänden abgesehen, meistens positiv besetzt. In der Tat veränderten der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und das Bestreben, den Nachholbedarf an Konsumgütern zu decken, die Arbeitsgewohnheiten und Lebensverhältnisse. Die Währungsreform dynamisierte die Leistungsbereitschaft, da es sich wieder lohnte für Geld zu arbeiten. Nachdem die ersten Nachkriegskrisen überwunden waren, stieg in der Bundesrepublik das Realeinkommen zwischen 1952 und 1973 um das Dreifache.2 Mit dem Übergang von der Mangelwirtschaft der Kriegs- und vor allem ersten Nachkriegsjahre, hin zum Überfluss der Konsumgesellschaft der 1950er- und folgenden Jahre, wandelten sich auch die Ernährungsgewohnheiten) Die so genannte „Fresswelle“ setzte ein und die Menschen konnten Genussmittel wie Alkohol und Tabak wieder uneingeschränkt konsumieren. Bei der etwas schemenhaften Skizzierung des Übergangs in die Nachkriegsphase darf jedoch nicht vergessen werden, dass wichtige Schritte hin zu einer Konsumgesellschaft in Deutschland bereits während des Zweiten Weltkriegs vollzogen wurden. Zugleich blieb die Ernährungslage in Deutschland für die zur „deutsch-arischen“ Volksgemeinschaft zählende Bevölkerung nicht zuletzt aufgrund der Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten nahezu bis Kriegsende weitgehend sichergestellt.3 Nach Kriegsende folgte in Deutschland jedoch vorerst eine sehr schwierige Versorgungslage. Wirtschaftswachstum und das Herausformen neuer konsumorientierter Kollektivcharaktere im Sinne David Riesmans sind jedoch ambivalente Phänomene.4 Denn zeitgleich mit beginnender Hochkonjunktur und Prosperität setzten neue Mangel- und Belastungserfahungen ein. Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Veränderungen nahmen, wie zahlreiche sozial-medizinische Texte zeigen, Klagen über körperliche und seelische Belastungen zu. Im gleichen Maße wie die privaten Budgets entlastetet wurden, lässt sich somit eine 2 Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 86–103; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München: Beck 2008 (Studienausgabe), S. 48–53. 3 Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2005. 4 David Riesman, Die einsame Masse, Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, (mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky), Darmstadt: Luchterhand 1956.

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Zunahme psychischer Spannungen feststellen. Zumindest wurden unterschiedliche berufliche und lebensweltliche Belastung artikuliert, ja konnten aufgrund des offeneren gesellschafts-politischen Klimas der Nachkriegszeit überhaupt erst geäußert werden. Um einen Einblick in die Zusammenhänge von Gesellschaft und Gesundheit in der frühen Nachkriegszeit zu erhalten, bietet sich die Beschäftigung mit der Managerkrankheit an. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie im Übergang von einer im Nationalsozialismus propagierten und vielfach auch tatsächlich erlebten Kriegsgemeinschaft zu einer Nachkriegsgesellschaft nach 1945 sowie beim Wandel von einer Mangel- zu einer Konsumwirtschaft Gesundheitswissen generiert und transnational rezipiert wurde. Am Beispiel der Managerkrankheit soll in der Folge nachgezeichnet werden, wie sich Vorstellungen von einer Zivilisationskrankheit im Kontext des sozio-ökonomischen Wandels nach 1945 im deutschsprachigen Raum konstituierten und im Verlaufe der 1950er-Jahre entwickelten. In einem zweiten Schritt richtet sich der Fokus einerseits auf die Kontinuität von Personen und medizinischen Konzepten von den 1930er- bis in die 1960er-Jahre und andererseits auf Überlegungen zur Individualisierung von Gesundheit und Lebensführung nach 1950. Dabei soll gezeigt werden, dass das Reden über die Managerkrankheit eine Art Brückenfunktion besaß. Es gestattete medizinischen Experten, die bereits im Nationalsozialismus aktiv waren, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1945 zu kritisieren, ohne unterschiedliche Aspekte einer nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ aufgeben zu müssen. Zugleich ermöglichte ihnen das Reden über die Managerkrankheit, den Anschluss an eine stärker individualisierte Gesundheitspolitik der Nachkriegszeit herzustellen. Der Begriff der „Zivilisationskrankheit“ ist im deutschen Sprachraum seit 1880 verbreitet.5 Von diesem Zeitpunkt an diskutierten Ärzte, Psychiater und eine breite Öffentlichkeit intensiv über den Zusammenhang moderner Lebensführung und Krankheit. Die damalige Modekrankheit Neurasthenie wurde als erste Zivilisationskrankheit der Moderne betrachtet. Unter der Bezeichnung Zivilisationskrankheit werden seither Krankheiten gefasst, bei denen die Zeitgenossen jeweils einen engen kausalen Bezug zu Lebens- und Arbeitsbedingungen ökonomisch hoch entwickelter, arbeitsteiliger Gesellschaften vermuten. Zu diesen Lebensbedingungen zählen hohe hygienische Standards der Bevölkerung, ausreichende Ernährung sowie industrielle beziehungsweise postindustrielle Arbeitswelten. 5 Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt/New York: Campus 1999, S. 101–137; Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg, Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien: Böhlau 2004. Hans-Georg Hofer und Uwe Spiekermann danke ich auch für zahlreiche Anregungen und verschiedene Hinweise zur Managerkrankheit.

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Der immer wieder formulierte enge Zusammenhang zwischen einer sozio-ökonomischen Situation und einzelnen Krankheiten erklärt, weshalb die medizinische Theoriebildung bezüglich Zivilisationskrankheiten ähnlichen Konjunkturen unterliegt wie der soziale Wandel selbst.6 Nicht zuletzt deshalb herrscht kaum Einigkeit darüber, welche Krankheiten als Zivilisationskrankheiten zu betrachten sind. Gerade aufgrund dieser definitorischen Offenheit erfreut sich der Terminus „Zivilisationskrankheit“ inner- und außerhalb der medizinischen Wissenschaft großer Beliebtheit. Dabei wird der Begriff teilweise synonym, teilweise in Abgrenzung zu sogenannten „Volkskrankheit“ verwendet. In den 1950er- und teilweise noch in den 1960er-Jahren stellte die Managerkrankheit im deutschsprachigen Raum eine viel beachtete Zivilisationskrankheit dar.

Das Jahrzehnt der Managerkrankheit Einer der ersten, der sich zur Managerkrankheit äußerte, war der Präsident des Deutschen Bäderverbandes, Ministerialrat, Prof. Michael Bauer. In der renommierten Münchner Medizinischen Wochenschrift äußerte er sich 1953 zur „heute so stark beachteten Managerkrankheit. Bauer erkannte in der Managerkrankheit den „besten Zeugen“ für die verschiedenen „Zivilisationsschäden“, die seit dem Zweiten Weltkrieg so stark zugenommen hätten.7 Seit Beginn der 1950er-Jahre seien es, so Bauer, die „Abnützungs- und Verbrauchskrankheiten, die einen beachtlichen Teil der nicht-infektiösen Volkskrankheiten“ ausmachten. Zur starken Zunahme der Abnützungserkrankungen hätten Änderungen des Arbeits- und Konsumverhaltens in der Nachkriegszeit beigetragen. Der damalige Präsident des deutschen Bäderverbandes machte hierfür „Überanstrengung bis zur Erschöpfung, Mangel an Schlaf und echter Erholung, Überforderung der Leistungsfä6 Volker Roelcke, Zwischen individueller Therapie und politischer Intervention, Strategien gegen „Zivilisationskrankheiten“ zwischen 1920 und 1960, in: Gesundheitswesen 57 (1995), S. 443–451, S. 443. Vgl. auch: Ders., Krankheit und Kulturkritik, S. 11–14; Ders., „Zivilisationsschäden“ am Menschen und ihre Behandlung, Das Projekt einer „seelischen Gesundheitsführung im Nationalsozialismus“, in: Medizinhistorisches Journal 31 (1996), S.  3–48. Zur Geschichte des Begriffs der Zivilisationskrankheit vgl. auch: Carl Haffter, Die Entstehung des Begriffs der Zivilisationskrankheiten, in: Gesnerus 36 (1979), S. 228–237; Esther Fischer-Homberger, Vergessene Zivilisationskrankheiten, in: André Mercier, Umwelt und Mensch, körperliche und seelische Auswirkungen, Kulturhistorische Vorlesungen 1976/77, Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas: Peter Lang 1978, S. 9–38. 7 M[ichael] Bauer, Das Deutsche Bäderwesen und seine Organisation im Dienste der Vorbeugung, Behandlung und Behebung von Krankheiten und Krankheitsfolgen, in: Jubiläumsausgabe, 100 Jahre Münchner Medizinische Wochenschrift 95 (1953), S. 126–128, S. 127.

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higkeit, geringe Bewegung, übermäßiger Gebrauch von Genussmitteln jeder Art“ und andere zivilisatorische Faktoren verantwortlich.8 Zur gleichen Zeit wies auch der an der Innsbrucker Universitätsklinik arbeitende Internist Max Halhuber auf das gewachsene öffentliche Interesse an der Managerkrankheit hin, die „zu den medizinischen Lieblingsthemen der illustrierten Wochenzeitschriften und Tageszeitungen geworden sei. Stärker als Bauer setzte Halhuber den Akzent auf frühzeitige Todesfälle.9 In der Zeitschrift Ars Medici, einem in der Schweiz erschienenen Organ für den praktischen Arzt, konstatierte Halhuber eine beunruhigende „sozial-medizinische Erfahrung: nämlich die auffällige Zunahme plötzlicher Kreislauftodesfälle bei verhältnismäßig jungen Männern der Wirtschaft und Politik“.10 So hätten nicht weniger als 22 Abgeordnete des Deutschen Bundestages in der ersten Legislaturperiode der Bundesrepublik einen Herzkreislauftod erlitten.11 Obwohl sich die Experten nicht darin einig waren, welche Symptome und gesundheitlichen Beschwerden unter der Managerkrankheit zu subsumieren seien, und bereits Zeitgenossen die statistische Grundlage für eine Bewertung dieser Krankheit kritisch beurteilten, reagierten auch Betriebspsychologen und Versicherungsvertreter besorgt. Die westdeutsche Zeitschrift Neues aus der Versicherung widmete beispielsweise der Managerkrankheit mit dem Titel: „Intelligenz – zu Tode gehetzt“ eine Sondernummer und warnte vor dem Wegsterben der deutschen Elite.12 Um definitorische Klarheit über die Managerkrankheit zu erhalten, luden im Juli 1954 die Redakteure der Zeitschrift „Medizinische Klinik“ Experten dazu ein, die Verwendung des Terminus in der Zeitschrift zu diskutieren.13 Einleitend wiesen die Redakteure darauf hin, dass sich der Begriff trotz zahlreicher berechtigter Einwände durchgesetzt habe und dies, obwohl es sich dabei um einen „verschwommenen Modebegriff“ handle.14 Mit der initiierten Debatte unterstrichen die Redaktoren die große Bedeutung, die der medizinischen Begriffsbildung zukommt. Der französische Philosoph, Schriftsteller und Semiotiker Roland Bar-

8 Ibid. 9 M[ax] J[oseph] Halhuber, Begriff und Bedeutung der „Managerkrankheit“, in: Ars medici, Das Organ des praktischen Arztes, 43/1 (1953), S. 462–466, S. 462. 10 Ibid. 11 Ibid., S. 463. 12 Herbert Gross u.a., Intelligenz – zu Tode gehetzt, Sonderdruck für „Neues aus der Versicherung“, o. O., 1958 (Nachdruck), S. 1. 13 Die Umfrage, Für und wider die Managerkrankheit, in: Medizinische Klinik, Die Wochenschrift für Klinik und Praxis, 49/27 (1954), S. 1608–1611. 14 Ibid., S. 1608.

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thes brachte dies 1972 auf die Formel: „Eigentlich heißt eine Krankheit erkennen, ihr einen Namen geben.“15 Aus der Perspektive des Klinikers hat auch unlängst der Leiter der Abteilung Medizinische Genetik an der Universitätskinderklinik beider Basel, also der beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Hansjakob Müller, auf die fundamentale Bedeutung der Begriffsbildung in der Medizin hingewiesen. Das Problem besteht nach Müller in einer strukturellen Inkongruenz zwischen wissenschaftlicher Theorie und klinischer Praxis. Die Medizin definiere Krankheitsbilder in der Regel auf der Grundlage der Anatomie und Morphologie, die von so genannten „Vollbildern“ von Krankheiten ausgehe. Solchen „Vollbildern“ begegne der medizinische Praktiker im ärztlichen Alltag jedoch eher selten.16 Somit ergebe sich das Problem, dass von einzelnen Symptomen auf Krankheitsmodelle geschlossen werde, wie sie idealtypisch in Lehrbüchern formuliert sind. Entsprechend wird, so Müller weiter, dem Patienten vorschnell ein „Diagnose-Etikett“ verpasst, das häufig nur eingeschränkt zutrifft, am Patienten jedoch während längerer Zeit haften bleibt und weitere Behandlungsschritte präfiguriert.17 Auch die Mediziner der 1950er-Jahre hatten die strukturelle Inkongruenz von Theorie und Praxis erkannt. Sie stritten jedoch weniger über die Konsequenzen sogenannter Diagnose-Etiketten als über den pädagogischen und präventivmedizinischen Nutzen populärer Bezeichnungen. Einige Ärzte vertrat die Auffassung, dass die Managerkrankheit nur Verwirrung schaffe, da damit keine neue Krankheit bezeichnet werde. Alle Symptome seien bereits bekannt und entsprechend beschrieben. Andere Mediziner stellten den Aspekt einer bereits bekannten Symptomatik keineswegs in Abrede. Sie erkannten in der raschen und starken Zunahme von Belastungsbeschwerden, insbesondere von Herz- Kreislauferkrankungen, jedoch nicht nur eine quantitative, sondern auch qualitative Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Aus gesundheitspolitischen Motiven setzten sie auf die Modernität und Popularität des Begriffs Managerkrankheit. Da wohl jedermann gerne Manager wäre und der Ausdruck wahrscheinlich aus Amerika stamme, so argumentierten verschiedene Ärzte, sollte der Begriff genutzt werden, um die Öffentlichkeit für Zivilisationskrankheiten zu sensibilisieren. Andere Begriffe wie „Unternehmerkrankheit“, „Zeitkrankheit“ 15 Roland Barthes, Semiologie und Medizin, in: Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Franz. Originalausgabe 1972), S. 210–220, S. 217. 16 Hansjakob Müller, Vom Umgang mit ärztlichen Akten bei Personen mit Krankheitsveranlagungen und Fertilitätsstörungen, in: Claudia Kaufmann/Walter Leimgruber (Hrsg.), Was Akten bewirken können, Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs, Zürich: Seismo Verlag 2008, S. 116–127, S. 116f. 17 Ibid., S. 119.

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oder „Krankheit der Verantwortlichen“, würden, gemäß dem einleitend zitierten Kurarzt Franke, noch mehr Verwirrung schaffen, so dass man sich auf den populären Begriff Managerkrankheit einigen solle.18 Mit „Manager“ sei zudem weniger der Beruf im eigentlichen Sinn als vielmehr ein bestimmter Lebensstil gemeint, der mit dieser Berufsgruppe in Verbindung gebracht werde und als gesundheitsschädigend gelte. Einwände gegen den Begriff und dessen Verwendung kamen aus der damaligen DDR. In ihrer statistisch-empirisch angelegten Dissertation zur Untersuchung der Managerkrankheit bestätigte die Sozialmedizinerin Christa Gamnitzer zwar das Faktum des überproportionalen Auftretens von Herz-Kreislauferkrankungen in gewissen Kaderberufen. Die Verwendung des Terminus Managerkrankheit lehnte sie aber aus gesellschaftskritischen Erwägungen ab. Denn mit der Bezeichnung Managerkrankheit sei per se eine berufsständische Hierarchisierung möglich, die den Idealen einer klassenlosen Gesellschaft zuwider laufe.19 Christa Gamnitzer traf mit ihrer Kritik nicht nur einen zentralen Punkt einer sozialistischen Ideologie. Auch generell hält die Managerkrankheit, verstanden als Elitephänomen, einer historischen Überprüfung keineswegs stand. Betrachtet man die vorgeführten Fallbeispiele im Einzelnen, sind nämlich nicht „nur“ die Eliten von der Managerkrankheit betroffen, sondern alle gesellschaftlichen Schichten.20 Diese schillernde Begrifflichkeit tat dem vorübergehenden Erfolg der Managerkrankheit keinen Abbruch – im Gegenteil. Nicht nur Fachzeitschriften, auch die Wochenpresse, Werbung, Belletristik und Musik machten die Managerkrankheit populär. Wie bereits Max Halhuber hat anklingen lassen, lässt sich seit den frühen 1950er-Jahren ein permanentes Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft feststellen.

18 Die Umfrage, Für und wider die Managerkrankheit, S. 1611. 19 Christine Gamnitzer, Statistische Untersuchung zum Begriff der Managerkrankheit, Med. Diss., Karl Marx Universität Leipzig, unveröffentlicht o. O. 1957, S. 9 und S. 38. 20 F[rédéric] Cornu, Die Managerkrankheit, Ursachen, Erscheinung und Bekämpfung, Nach einem Vortrag am Kurs der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale für Gewerkschaftsfunktionäre, o. O. 1959, S. 30; H[erbert] Warning, Die Managerkrankheit des kleinen Mannes und naturgemäße Wege zu ihrer Bekämpfung, in: Hippokrates, Zeitschrift für praktische Heilkunde und die Einheit der Medizin, 25 (1954), S.  721–725, S.  724. Zum Verhältnis von Gesundheit und sozialem Milieu vgl. allgemein: Richard G. Wilkinson, Kranke Gesellschaften, Soziales Gleichgewicht und Gesundheit, mit einem Geleitwort von R. Horst Noack, Wien, New York: Springer 2001 (Englische Originalausgabe 1996). Diesen Literaturhinweis verdanke ich Werner Lausecker.

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Mit der Erzählung „Es wird etwas geschehen“ von Heinrich Böll fand das Thema 1956 beispielsweise Eingang in die Belletristik.21 In einer, wie es im Untertitel heisst, „handlungsstarken Geschichte“ zeichnet die Erzählung das bedingungslose Leistungsprinzip des Firmenleiters Wunsiedel nach, der dem selbst auferlegten Druck nicht standhalten kann, einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Böll erzählte die Geschichte Wunsiedels, diesem „Opfer des Wirtschaftswunders“, aus der Perspektive des alter egos und nicht namentlich genannten Icherzählers, der „von Natur“ aus „mehr dem Nachdenken und dem Nichtstun zugeneigt“ war und sich so im Zeitalter des Wiederaufbaus schadlos hielt. Auch die Musik griff das Thema Managerkrankheit auf. Ende der 1960erJahre komponierte der bekannte Wiener Kabarettist Peter Wehle ein Chanson mit dem Titel Managerkrankheit und nahm in musikalischer Form das Thema ins gehobene Liedgut auf.22 Wehle karikierte in seiner Interpretation den Lebensstil der Temposüchtigen und Gehetzten, die im Verlauf ihres Lebens Familie, Beziehung und Freunde verlieren und nur eines erlangen: die Managerkrankheit. Zu diesem Zeitpunkt war die Managerkrankheit in medizinischen Debatten allerdings kein Thema mehr. Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre war sie ähnlich rasch aus der medizinischen Literatur verschwunden, wie sie eine Dekade früher dort aufgetaucht war. Im öffentlichen Bewusstsein war der Begriff noch weiter präsent. Diente im Verlaufe der 1950er Jahre das offene Konzept der Managerkrankheit um physio-psychische Belastungsvorgänge mit den veränderten sozioökonomischen nach 1945 in Beziehung zu setzen, wurde ein solches medizinische Konzept in 1960er-Jahren weniger benötigt. Möglicherweise, weil einerseits die größten Anstrengungen des Wiederaufbaus erbracht waren, andererseits von beruflichen Eliten und der Arbeiterschaft weniger Zusatzleistungen erwartet wurden und zudem gewerkschaftliche Maßnahmen die Arbeitnehmer entlasteten. Während zu Beginn der 1950er-Jahre die Wochenarbeitszeit häufig noch 49 Stunden betrug und meistens auch am Samstag gearbeitet wurde, änderte sich dies im Verlaufe der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Die 5-Tage-Woche, die Reduzierung der Arbeitszeit auf 45 Stunden sowie ein freies Wochenende wurden Schritt für Schritt eingeführt.23 Über diesen sozialhistorischen Deutungsansatz hinaus kann das Verschwinden der Managerkrankheit auch innerwissenschaftlich erklärt werden: Keinesfalls vermochte die Managerkrankheit auf die 21 Heinrich Böll, Es wird etwas geschehen, Eine handlungsstarke Geschichte, in: Heinrich Böll, Erzählungen, Herausgegeben von Jochen Schubert, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2 2007, S. 407–413. 22 Georg Kreisler/Gerhard Bronner/Peter Wehle et al., Biddla Buh, Tonträger, Wien o. J. (ca. 1969). 23 Zum Ausbau der sozialen Marktwirtschaft vgl.: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 73–76.

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Dauer konzeptionell (zu) überzeugen. In der Medizin begann sich nach und nach der Stressbegriff zu etablieren, der auf einer biochemisch-hormonellen Grundlage und Konzeption fußt. Das Stresskonzept, das vom deutsch-ungarischen Mediziner und Biochemiker Hans Selye entwickelt wurde, war weitaus vielfältiger anwendbar und begann sich insbesondere auch für physio-psychologische Vorgänge durchzusetzen. Stress basierte damals auf neuesten biochemisch-medizinischen Erkenntnissen. Das Stresskonzept mit seinem homeostatischen Ansatz einer körpereigenen Anpassung auf externe Reize stellte insbesondere für die an individuellen Prozessen interessierte Psychologie ein Erfolg versprechendes Instrument dar.24 Im Gegensatz dazu machten die Verfechter der Managerkrankheit in aller Regel Anleihen beim nach 1945 längst überholten Begriff der Neurasthenie.

Die Managerkrankheit als Medium von Kulturpessimismus und Gesellschaftskritik der 1950er-Jahre Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Managerkrankheit in den 1950er-Jahren zu einem diskursiven Ereignis aufstieg. Mit der Chiffre Managerkrankheit konnte der sozio-ökonomische und gesellschaftspolitische Wandel der Nachkriegszeit und die einher gehende Zunahme körperlicher und psychischer Belastungen des Wiederaufbaus überzeugend auf den Punkt gebracht werden: Zu einem Zeitpunkt, als der Begriff „Stress“ im deutschen Sprachraum nur vereinzelt Experten bekannt gewesen war, bot sich der Begriff Managerkrankheit an, um physische und psychische Belastungen und Anpassungsleistungen zu benennen. Zugleich besaß die Managerkrankheit als moderne Erscheinung leistungsbereiter Individuen teilweise auch eine positive Konnotation. Als für die Begriffsbildung zentral wird in der zeitgenössischen Literatur immer wieder auf die Arbeit von James Burnhams „Die Revolution der Manager“ verwiesen, die eine soziologische Charakterisierung der Schicht der Manager der 1930er und 1940er Jahre der USA bot. In Anlehnung an James Burnhams Text sei, so vermutete beispielsweise Max Halhuber, in den USA der Begriff der „ma24 Die Geschichte des Stresses im deutschen Sprachraum ist erst in Ansätzen erforscht. Vgl.: Cornelius Bock, Kummer und Sorgen im digitalen Zeitalter, Stress als Erfolgsprodukt der fünfziger Jahre, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogel (Hrsg.), Archiv für Mediengeschichte – 1950, Weimar: Universitätsverlag 2004, S. 73–84; Hans-Georg Hofer, Von gestressten Körpern und kaputten Autos: Hans Selye (1907–1982) und das „Allgemeine Adaptionssyndrom“, in: Praxis, Schweizerische Rundschau für Medizin, 95 (2006/35), S. 1347–1350. Allgemein vgl.: Cary L. Cooper, Philip Dewe, Stress, A brief history, Malden, Oxford, Victoria: Blackwell 2004.

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nagerial disease“ entstanden, womit eine vorzeitige Gefäßsklerose als Berufserkrankung gemeint sei. 25 Mit seiner Vermutung lag Halhuber grundsätzlich richtig. Auch wenn der Begriff „managerial disease“, gemäß eigenen Nachforschungen, in den USA keine im deutschen Sprachraum vergleichbare Verwendung fand, dürften die Impulse für die Managerkrankheit tatsächlich aus den USA stammen. Denn in den Vereinigten Staaten gab es in den 1950er-Jahren medizinische Debatten, in welchen über die starke Zunahme der Herzgefäßerkrankungen bei Männern der Mittel- und Oberschicht diskutiert wurde. Ähnlich wie in Deutschland und Österreich und später via diese Länder auch in der der Schweiz wurden die Zunahmen der Herzgefäßerkrankungen als eine Wohlstandserkrankung der männlichen Mittel- und Oberschicht betrachtet, die durch sozioökonomische Transformationen verstärkt wurden. Allerdings fehlten jegliche Belege dafür, dass nicht Männer aller Schichten von der Zunahme von Herzkreislauferkrankungen gleichmäßig betroffen gewesen waren. Wie Barbara Ehrenreich gezeigt hat, wurde in den USA über psycho-soziale Ursachen der Zunahme von Herzkreislauferkrankungen auch in Publikumsmedien wie dem Life oder dem 1953 erstmals erschienen Männermagazin Playboy spekuliert. Dabei wurde in den USA auch Kritik an der Lebensweise der Männer und der Alleinernährerrolle laut. 26 Die Verwendung des Semi-Anglizismus „Managerkrankheit“ im deutschsprachigen Raum war auch Ausdruck der Amerikanisierung der 1950erJahre.27 Zugleich markierte diese im Zeitalter einer sich verfestigenden bipolaren Weltordnung die Zugehörigkeit zum westlichen kapitalistischen System. Die Gründe für die breite Beachtung, die der Managerkrankheit zuteil wurde, sind jedoch nicht nur in den äußeren Faktoren des sozio-ökonomischen Wandels zu suchen, sondern auch im sozialmedizinischen Diskurs selbst: Das Thematisieren der Managerkrankheit gewährte Medizinern die Gelegenheit, Gesellschaftskritik im Zeitalter der Hochkonjunktur zu üben.28 In den medizinischen Texten 25 Halhuber, Begriff und Bedeutung, S. 462. Die von Halhuber und anderen Autoren erwähnte Arbeit von James Burnham erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Ders., Das Regime der Manager, Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1948 und bildet eine Übersetzung von: James Burnham,or what is happening in the world now, London: Putnam 1943. 26 Zu den amerikanischen Debatten über Herzgefäßerkrankungen vgl.: Barbara Ehrenreich, Die Herzen der Männer, Auf der Suche nach einer neuen Rolle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, (Englischsprachiges Original 1983), S. 77–98. Diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Fach. 27 Zur Amerikanisierung vgl. bspw.: Angelika Linke/Jakob Tanner (Hrsg.), Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa, Köln: Böhlau 2006. 28 Zu den kulturkritischen Repertoires der 1950er-Jahre vgl.: Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, Von Rousseau bis Günther Anders, München: Beck 2007, S. 233–275.

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findet sich entsprechend eine Gemengelage medizinischer, gesundheitspolitischer und weltanschaulicher Betrachtungen. So warnte beispielsweise der Frankfurter Neurologe Jürg Zutt vor einer „für unsere Zeit nicht uncharakteristische[n] Entartung menschlicher Lebensweise“.29 Ein gewisser H. Schroeder sah in der „überfeinerten Zivilisation“ des heutigen Lebens die Grundlagen der „vis vitalis“ gefährdet und sprach in Anlehnung an Helmut Gollwitzer von der „Verführung zur Unmenschlichkeit“.30 Der Kurarzt Klaus Franke meinte, dass das „Managertum“ eine abendländische Kulturleistung darstelle, die jedoch eine „Entartungserscheinung des faustischen Geistes“ geworden sei.31 Und der Betriebsarzt Herbert Warning sprach schließlich von „chronifiziertem Siechentum“, das die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichne.32 Professor Max Hochrein, damaliger Chefarzt der Medizinischen Klinik in Ludwigshafen und später Leiter des Instituts für Leistungsmedizin ebendort, war einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Managerkrankheit. Anlässlich der oben erwähnten Debatte in der Zeitschrift Medizinische Klinik brachte Hochrein 1954 die weit verbreitete kulturpessimistische Haltung auf den Punkt: „Es geht hier nicht um die Arbeitsbelastung, nicht um das absolute Leistungsmaß, sondern um Arbeits- und Lebensbedingungen welche sich grundsätzlich geändert haben und die nahezu pandämonisch das Dasein bedrohen. Die Lebensangst, die ihre Wurzeln in dem Verlust der materiellen Existenz und ideeller Werte hat, welche den Menschen hetzt und treibt, ihn immer erneut nach materieller Sicherung streben sowie in Tempomanie, Rekordsucht und Gigantismus neue Werte suchen lässt, ist die Gestalterin eines zermürbenden Lebensmilieu, dem der Mensch auf die Dauer weder moralisch noch körperlich gewachsen ist.“33

In Anlehnung an den Theologen Joachim Bodamer charakterisierte Hochrein die sozio-ökonomische Nachkriegssituation als „Pathologie des Zeitgeistes“.34 Max Hochrein, der während des Zweiten Weltkriegs Leiter des von den Nationalsozialisten gegründeten ersten Instituts für Leistungs- und Arbeitsmedizin in Leipzig gewesen war und damals „das Leistungsprinzip“ zur „Grundlage unserer [nationalsozialistischen] Weltanschauung“ erhoben hatte, kritisierte Mitte der 1950er29 Die Umfrage, Für und wider die Managerkrankheit, S. 1610. Im Original gesperrt. 30 H. Schroeder, Über Ursachen und Verhütung der „Managerkrankheit“, in: Medizinischer Monatspiegel 2/3 (1953), S. 1–4, S. 4. 31 Klaus Franke, Die sogenannte Managerkrankheit, S. 10. 32 H[erbert] Warning, Die „Managerkrankheit“ des kleinen Mannes und naturgemäße Wege zu ihrer Bekämpfung, in: Hippokrates, Zeitschrift für praktische Heilkunde und die Einheit der Medizin, 25 (1954), S. 721–725, S. 724. 33 Die Umfrage, Für und wider die Managerkrankheit, S. 1609. 34 Ibid., S. 1610.

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Jahre ein einseitig auf Materialismus ausgerichtetes Arbeits- und Lebensprinzip, in welchem Tempo und Hedonismus zu Leitmotiven der Kultur der Nachkriegszeit geworden sind.35 Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es Hochrein selbstredend nicht mehr darum, die Leistungsfähigkeit für die nationalsozialistische Überlegenheit zu steigern. Dennoch sah er wiederum „Grundsätzliches“ bedroht, nämlich das „leib-seelische“ Gleichgewicht des Menschen. Zur Wiederherstellung dieses Gleichgewichts riet er „zur Besinnung“, und forderte Ärzte, Soziologen, Priester, Hochschullehrer und Philosophen dazu auf, es ihm gleich zu tun.36 Dabei stützte er sich, wie bereits erwähnt, auf den Theologen Joachim Bodamer.37 Andere Mediziner bezogen sich bei ihren gesellschafts- und kulturkritischen Betrachtungen der Nachkriegszeit auf die damals geläufigen Autoren wie Ortega y Gasset, Oswald Spengler, Hendrik de Man oder auf den auch an politischen Tagesfragen interessierten Philosophen Karl Jaspers sowie auf verschiedene deutsche Soziologen.38 In der Tat erschienen Mitte der fünfziger Jahre in der deutschsprachigen Soziologie eine Reihe von Schriften, die zu einem kritischen und pessimistischen Urteil bezüglich der modernen, industrialisierten Gesellschaft gelangten und eine emotionale und seelische Verarmung des Individuums zu erkennen glaubten. So warnten Soziologen vor einem vollständigen Siegeszug von Maschinen und Automatisierung oder sie plädierten für starke gesellschaftliche Institutionen, die das Individuum vor Entfremdung und seinem „eigenen Anarchismus“ schützen sollten.39 Zu nennen sind hier Arbeiten von Alfred Weber, Helmut Schelsky und Max Scheler sowie die Rezeption der früheren Arbeiten von Arnold Gehlen.40

35 M[ax] Hochrein/[Irene] Schleicher, Ärztliche Probleme der Leistungssteigerung, Leipzig: Thieme 1943, S. 3. Während Irene Schleicher als Koautorin genannt wurde, zeichnete Hochrein alleine für das Vorwort, aus welchem die hier zitierten Passagen stammen. 36 Die Umfrage, Für und wider die Managerkrankheit, S. 1610. 37 Joachim Bodamer, in: Die Pathologie des Zeitgeistes, in: Reformatio, Zeitschrift für evangelische Kultur und Politik 6 (August 1955), S. 446–451. Zur religiös motivierten Gesellschaftskritik der 1950-Jahre vgl.: Werner Faulstich, „Der Teufel und der liebe Gott“, Zur Bedeutung von Philosophie, Religion und Kirche im zeitgenössischen Wertesystem, in: Ders. (Hrsg.), Die Kultur der 50er, Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: Fink 2002, S. 23–34. 38 Zur Kulturkritik der nach dem Zweiten Weltkrieg vgl.: Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 233–275. 39 Vgl. allgemein: René König, Soziologie in Deutschland, Begründer, Verächter, Verfechter, München, Wien: Carl Hanser 1987, S. 428–440. 40 Hermann W. Von der Dunk, Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2004, S. 351f.

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Allerdings bildeten diese kulturkritischen Ansätze die Ausnahme innerhalb der deutschen Soziologie vor 1968.41 Die Wechselwirkungen von kulturkritischen, medizinischen und politischen Schriften in der frühen Nachkriegszeit können hier nicht näher verfolgt werden. Jedoch kann festgehalten werden, dass sich bereits Mitte der 1950er-Jahre ein bisher noch wenig berücksichtigter fächerübergreifender kulturpessimistischer Diskurs feststellen lässt, der in Widerspruch zu einer auf linearem Wachstums-, Aufbruchs- und Fortschrittsdenken basierender Interpretation der 1950er- und 1960er-Jahre steht. Dieser Befund deckt sich mit anderen wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnissen. In seiner begriffsgeschichtlichen Analyse des Terminus „Fortschritt“ zeigt beispielsweise der Bochumer Kulturwissenschaftler Benjamin Herzog, dass nicht erst in den 1960er- und 1970er-, sondern bereits in den 1950er-Jahren ganze „Bedeutungsschichten abblätterten“, so dass vom Fortschrittsbegriff nur noch „Schwundstufen“ übrig blieben.42 Auch in den Organen der bundesrepublikanischen Naturschutzbewegung, insbesondere in der Zeitschrift „Natur und Landschaft“ finden sich, wie der Umwelthistoriker Jens Ivo Engels in einer Studie gezeigt hat, für die gesamten 1950er-Jahre verschiedene kultur- und gesellschaftspessimistische Zeitdiagnosen.43 Diese Beiträge erreichten damals jedoch noch keine Öffentlichkeit außerhalb des Kreises der Naturschützer. Größere Breitenwirkung erlangten die Untergangsszenarien erst Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre. Zu nennen sind hier die Arbeiten des Naturschriftstellers Günther Schwab und des Arztes Bodo Manstein.44 Beiträge zur Managerkrankheit mit ihrem gesellschaftskritischen und kulturpessimistischen Potential erschienen in unterschiedlichen Medien und erreichten wohl eine breitere Öffentlichkeit.

41 Vgl. bspw. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1988, S. 479– 565. 42 Benjamin Herzog, Schwundstufen des Fortschrittsbegriffs, Zu seiner Reinterpretationen in der frühen Bundesrepublik in: Carsten Dutt (Hrsg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, S. 219–249. Diesen Hinweis verdanke ich Achim Eberspächer. 43 Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik, Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn, München u.a.: Ferdinand Schöningh 2006, S. 46–92. 44 Günther Schwab, Der Tanz mit dem Teufel, Ein abenteuerliches Interview, Hannover: Sponholtz 1958; Bodo Manstein, Im Würgegriff des Fortschritts, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1961.

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Personelle und diskursive Kontinuitäten Die grundsätzlich kulturkritischen Positionen zahlreicher Mediziner und Naturwissenschaftler im Zeitalter von Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum können überraschend wirken. In der Historiographie seit dem Zweiten Weltkrieg finden sich entsprechend nur vereinzelt Hinweise. Darauf hat unlängst auch der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler hingewiesen. So erlaubten es, den Mythos „Wirtschaftswunder“ und dessen Erfolgsgeschichte, die politischen Verstrickungen und Traditionen der Nachkriegszeit mit der Epoche des Nationalsozialismus „wegzuerzählen“.45 Insofern erstaunt es kaum, dass es sich bei den Autoren und wenigen Autorinnen, die kulturpessimistisch und gesellschaftskritisch argumentierten, häufig um Personen handelte, die vor und während des Zweiten Weltkriegs tragende Rollen in den nationalsozialistischen Ernährungsund Arbeitswissenschaften oder, wie Max Hochrein, in der Leistungsmedizin inne hatten. Die diskursiven und personellen Kontinuitäten im Übergang von einer nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“, die die Stärkung des „arischdeutschen Volkskörper“ bei gleichzeitiger „Ausmerzung und Vernichtung nichtarischer Volksteile“ zum Ziel hatte, hin zu einer grundsätzlich liberalen, auf die individuelle Gesundheitsversorgung ausgerichtete Politik soll im Folgenden am Beispiel von Max Hochrein sowie an einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift nachgezeichnet werden. Unter den zahlreichen medizinischen Autoren mit nationalsozialistischer Vergangenheit, die sich zur Managerkrankheit bzw. zu Belastungserkrankungen äusserten, nahm Max Hochrein sowohl vor 1945 wie in den 1950er-Jahren eine herausragende Stellung ein. Max Hochrein war 1933 der NSDAP beigetreten und wurde 1939 von der Universität Leipzig zum ordentlichen Professor für Innere Medizin und wenig später zum Direktor der dortigen Medizinischen Universitätspoliklinik ernannt.46 Als Experte für Kreislaufforschung übernahm Hochrein 1941 auch die Leitung des Instituts für Arbeits- und Leistungsmedizin in Leipzig. Das Institut in Leipzig ebenso wie ein Schwesterinstitut in Stuttgart wurde durch die Deutsche Arbeitsfront unterstützt und propagiert.47 In Leipzig waren es der Reichsorganisationslei45 Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009. 46 Zum Leipziger Institut für Arbeits- und Leistungsmedizin vgl.: Ingrid Kästner, Die nationalsozialistische Gesundheitspolitik und ihre Auswirkungen auf die Medizin, in: Ärzteblatt Sachsen 4 (2005), S. 137–141, S. 140; Irene Raehlmann, Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus, Eine wissenschaftssoziologische Analyse, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 129f. 47 Zum Leipziger Institut und zur Person von Max Hochrein vgl.: Steffi Habrecht, Gründung und Entwicklung des Instituts für Arbeits- und Leistungsmedizin an der Universität Leipzig, Unveröffentlichte Diplomarbeit der Karl-Marx-Universität Leipzig, Karl-

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ter Robert Ley und der Gauleiter von Sachsen, Martin Mutschmann, welche die Realisierung der Forschungsinstitution vorangetrieben hatten. Zu letzterem besaß Max Hochreich gute Kontakte. Die Leipziger Medizinhistorikerin Ingrid Kästner und andere haben darauf hingewiesen, dass die auf individuelle wie kollektive physische und psychische Steigerung ausgerichtete Leistungsmedizin eine wichtige Rolle innerhalb des nationalsozialistischen Gesundheitsapparates spielte.48 Nach Ausbruch des Kriegs war die Leistungsmedizin schließlich zu einem bevorzugten Forschungsfeld geworden. Hierzu zählten die Ermüdungs- und Konstitutionsforschung, insbesondere in der Aviatik, die Herz-Kreislaufforschung, Teile der Endokrinologie und der Vitaminforschung, sowie auch Bereiche der Erbforschung.49 Max Hochrein selbst erblickte in der „Fähigkeit zur höchsten Leistungssteigerung“ die zentrale Frage von „Sieg“ oder „Untergang“ des nationalsozialistischen Deutschlands.50 Die Aufgabe des Institutes sah er einerseits in der „Entwicklung neuer Methoden zur Erkennung der Übergänge von der Gesundheit zur Krankheit und die Bekämpfung erster Krankheitsanzeichen“, andererseits im Einwirken auf die „Gestaltung der Lebensführung des ‚schaffenden Menschen‘ zur Erhaltung und Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit“.51 Dabei strebte Hochrein eine enge Zusammenarbeit mit Psychologie und Physiologie an. Er setzte große Hoffnungen auf gruppenorientierte Gespräche. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er, zusammen mit seiner wissenschaftlichen Assistentin und späteren Ehefrau, Irene Schleicher, darüber hinaus der Ermüdungsforschung. Die durch

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Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, Leipzig 1986, S. 22–34. Zur Leistungsmedizin vgl.: Ingrid Kästner, Der Missbrauch des Leistungsgedankens in der Medizin unter der faschistischen Diktatur und die Folgen für die Gesundheitsund Sozialpolitik, in: Achim Thom/Genadij Ivanovič Caregorodcev, Medizin unterm Hackenkreuz, Volk und Gesundheit, Berlin (Ost): VEB Verlag Volk und Gesundheit 1989, S. 183–204, hier 197–199; Dies., Die nationalsozialistische Gesundheitspolitik S. 140; Alexander Neumann, Personelle Kontinuitäten – inhaltlicher Wandel: Deutsche Physiologen im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Medizin Historisches Journal, 40 (2005), 169–189, hier vor allem 174ff; Anne Cottebrune, Der planbare Mensch, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die menschliche Vererbungswissenschaft, 1920–1970, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 176–183. Cottebrune, Der planbare Mensch, S. 176. Hochrein/Schleicher, Ärztliche Probleme, S. 3. Habrecht, Gründung und Entwicklung, S. 24. Am Rande sei vermerkt, dass die Nationalsozialisten auch präventivmedizinische Ziele verfolgten, die aus heutiger Sich überraschen. Dies zeigt, dass das nationalsozialistische Deutschland in einigen Bereichen der Gesundheitsvorsorge dem Ausland um Jahre voraus war. So gab es in Deutschland Bestrebungen zum Schutz vor Asbest, Verbote von Pestiziden, Rauchverbote und anderes mehr. Vgl.: Robert N. Proctor, Blitzkrieg gegen den Krebs, Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 2002. Diesen Hinweis verdanke ich Werner Lausecker.

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Übermüdung ausgelösten Funktionsstörungen unterschiedlicher Organe bezeichneten die beiden Wissenschaftler als „neurozirkulatorische Dystonie“.52 Weiter wurde am Institut die Wirkung von Pharmaka, Genussmitteln und physikalischen Verfahren zum Kreislauftraining untersucht. Allerdings konnten nur wenige Forschungsvorhaben realisiert werden. Im Dezember 1943 wurde das Institut durch einen alliierten Luftangriff teilweise zerstört. Hinzu kamen finanziellen Schwierigkeiten und Kompetenzstreitigkeiten. Alles Gründe, die dazu führten, dass sich das Institut nicht wie gewünscht entwickeln konnte.53 Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte Hochrein in Ludwigshafen wieder eine führende Stellung als Mediziner und trat als umtriebiger Experte in Sachen Managerkrankheit und Leistungsmedizin in Erscheinung. Dabei trat er gemeinsam mit seiner Frau Irene Schleicher auch als Autor von Ratgebern in Erscheinung. Sie richteten ihr Augenmerk nicht mehr primär auf die Massenberatung im „biologischen Volkstaates“ für den Dienst der „höchsten Leistungssteigerung“ des „totalen Kriegs“.54 Nun stand eine auf Mäßigung und Ausgleich von Arbeits- und Freizeitaktivitäten zielende Beratung, die individuell auf die Bedürfnisse des Einzelnen ausgerichtet war, im Vordergrund.55

Managerkrankheit und Vitalstoffforschung Max Hochrein war nicht der einzige Mediziner mit NS-Vergangenheit, der im Bereich von Belastungserkrankungen nach 1945 ein Betätigungsfeld fand. Dies lässt sich auch anhand von neuer medizinischer gesundheitspolitischer Institutionen, wie der Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung, die über Deutschland hinaus auf Beachtung stießen, belegen. Auf dem Höhepunkt der wissenschaftlichen und populären Debatten über die Managerkrankheit lancierte im Jahr 1956 beispielsweise eine Gruppe von Naturwissenschaftlern und Medizinern die Zeitschrift „Vitalstoffe, Internationales Journal Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung“. Dabei handelte es sich um das Organ der zwei Jahre zuvor in Hannover gegründeten Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung.56 Präsident und eigentlicher 52 Ibid., S. 42; Kästner, Der Missbrauch des Leistungsgedankens, S. 198. 53 Habrecht, Gründung und Entwicklung, S. 38. 54 M[ax] Hochrein/[Irene] Schleicher, Leistungssteigerung, Leistung, Übermüdung, Erholung, Leipzig: Thieme 1944, S. 5. 55 Max Hochrein/Irène Schleicher, Unternehmerkrankheit, Entstehung und Verhütung, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1953. 56 Zur Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung vgl.: Jörg Melzer, Vollwerternährung, Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer

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Spiritus Rector der Gesellschaft war der Chemiker und Ernährungswissenschaftler Hans Adalbert Schweigart. Während des Nationalsozialismus hatte Schweigart das Institut für Vorratspflege und landwirtschaftliche Gewerbeforschung an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin geleitet und im Auftrag des Heeres „Kriegswehrmachtsernährungspläne“ für die Feldzüge der Wehrmacht nach Osten ausgearbeitet.57 Als Vizepräsidenten wirkten die Grazer und Frankfurter Internisten Wilhelm Halden und Wilhelm Heupke sowie der bereits erwähnte Betriebsarzt Herbert Warning. Heupke und Warning traten in der Ernährungsund Gesundheitsreformbewegung nach 1945 ebenso in Erscheinung, wie sie früher durch ihre nationalsozialistischen Aktivitäten aufgefallen waren. Heupke war Leiter der Abteilung „Ernährungswissenschaften“ am Frankfurter Institut für „Kochwissenschaften“ und Warning „Gauhauptstellenleiter im Rassenpolitischen Amt“. Zudem wirkte er als Chefarzt der Focke-Wulf Flugzeugwerke in Bremen.58 In der „Einführung“ zur ersten Ausgabe der Zeitschrift „Vitalstoffe“ erläuterten der Präsident und die Vizepräsidenten die drei Hauptanliegen der Zeitschrift und der internationalen Gesellschaft: 1. Schutz und Propagierung sogenannter „biologisch hochwichtiger [sic] Substanzen“. Zu diesen Substanzen, den so bezeichneten „Vitalstoffen“, zählte die Gesellschaft neben Wasser und Sauerstoff auch Amino- und Fettsäuren sowie Vitamine und Mineralstoffe. Die Vermittlung von neuen Erkenntnissen aus der „Vitalstofflehre“ sollte primär dazu dienen, Zivilisationskrankheiten zu bekämpfen.59 2. Förderung der Vollwert-Ernährung nach den Erkenntnissen von Werner Kollath, Maximilian Bircher-Benner und Wilhelm Heupke sowie Bewahrung und Schutz so genannter Vollwertprodukte vor schädigenden Umwelteinflüssen. 3. Eindämmung der „Zivilisationskrankheiten“ und „Zivilisationsschäden“. Dazu zählte die Gesellschaft eine ganze Reihe physischer und psychischer Erkrankungen und Gebrechen wie die Managerkrankheit, Herz-Kreislauferkrankungen, „vegetative Dystonien“, Allergien, Berufskrankheiten, Haltungsschäden, Gebisszerfall, „seelische Dystonien“ und Neurosen. Das Problem der Zivilisationskrankheiten erachtete die Gesellschaft als so dringlich, dass sie der Zeitschrift ab 1958 den Doppeltitel „Vitalstoffe, Zivilisationskrankheiten“ gab. Die Managerkrankheit betrachten die Herausgeber als typische ZiAnspruch, Stuttgart: Steiner 2003, S. 305–319, vgl. auch: Heiko Stoff, Hexa-Sabbat, Fremdstoffe und Vitalstoffe, Experten und der kritische Verbraucher in der BRD der 1950er und 1960er Jahre, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wirtschaft, Technik und Medizin 17/1 (2009), S. 55–83. 57 Ibid., 303ff. 58 Ibid., S. 270f und 284ff. 59 Vitalstoffe, Internationales Journal Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung, Spurenelemente, 1/1 (1956), S. 1f.

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vilisationskrankheit der Nachkriegszeit. Wenden wir uns vorerst der allgemeinen Bedeutung der Zivilisationskrankheit vor 1945 zu, um anschließend wieder deren spezifischen Ausformung Managerkrankheit nach 1950 aufzugreifen. Den ersten programmatischen Artikel zur Zivilisationskrankheit verfasste in der zweiten Nummer der Zeitschrift der frühere SS-Mediziner Professor Karl Kötschau.60 Kötschau, vor 1945 ordentlicher Professor für biologische Medizin in Jena und Schulungsleiter im rassenpolitischen Amt, war glühender Verfechter einer „Ganzheitsmedizin“, wie sie seit der Lebensreformbewegung vor dem Ersten Weltkrieg populär war.61 Bei seiner Darstellung der Zivilisationskrankheiten und „-schäden“ stützte sich Kötschau ausschließlich auf den Sammelband „Zivilisationsschäden am Menschen“, der von Heinz Zeiss und Karl Pintschovius 1940 herausgegeben worden war und als Standardwerk der NS-Zeit zu Zivilisationskrankheiten gilt.62 Darin finden sich Texte unter anderem von Autoren wie Werner Kollath und Johannes Heinrich Schultz, die nach dem Krieg als Ernährungsreformer beziehungsweise als Begründer des autogenen Trainings erfolgreich waren. Zugleich trifft man in den Beiträgen – wie am Beispiel Managerkrankheit teilweise oben erwähnt – auf Zivilisationskritik in Anlehnung an Oswald Spengler. Die nationalsozialistische Zivilisationskritik, wie sie im Sammelband enthalten ist, kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Im Kern wurde dabei jedoch davon ausgegangen, dass ein fortlaufender Prozess der „Denaturierung“ und eine Überhöhung der Vernunft zur körperlichen Verweichlichung und zu unterschiedlichen Formen individueller und kollektiver Orientierungslosigkeit wie „Entwurzelung“, „Verstädterung“, „Entseelung“ und „Vertechnisierung“ geführt hätten.63 Diese unterschiedlichen Formen der Orientierungslosigkeit seien wie60 Vitalstoffe, 1/2 (1956), S. 60f. 61 Karl Kötschau, Zur wissenschaftlichen Begründung der Homöopathie, Leipzig: Verlag Dr. Willmar Schwabe 1929; Ders., Wandlungen in der Medizin, 2 Bde., München, Berlin: Urban & Schwarzenberg 1955. Zum Konzept der Ganzheitlichkeit vgl.: Florentine Fritzen, Gesünder leben, Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S. 283–296. 62 Heinz Zeiss/Karl Pintschovius (Hrsg.), Zivilisationsschäden am Menschen, München, Berlin: J. F. Lehmanns Verlag 1940. Zur Konjunktur und Rezeption von „Zivilisationsschäden“ in der NS-Zeit vgl.: Volker Roelcke, „Zivilisationsschäden“ am Menschen, S. 3–48. 63 Vgl. hierzu die Beiträge von: Werner Kollath, Die Ernährungsnot zivilisierter Völker, S. 38–52, besonders S. 38f; Werner Achelis, Psychologische Zwischenbilanz, S. 53–81, besonders S. 57ff; Johannes Heinrich Schultz, Der nervöse Zustand, 82–102, besonders S.  89ff.; alle in: Zeiss/Pintschovius, Zivilisationsschäden am Menschen. Volker Roelcke hob zurecht die herausragende Bedeutung Werner Achelis bei der Formulierung der Zivilisationskritik hervor: Volker Roelcke, „Zivilisationsschäden“ am Menschen, S. 5–11.

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derum die Ursachen für verschiedene Sozialindikatoren wie Geburtenrückgang sowie für Zivilisationskrankheiten, die mit einer nationalsozialistischen Gesundheitspolitik überwunden werden könnten. Trotz seiner Anleihen an Zeiss und Pintschovius sprach Karl Kötschau 1956 verständlicherweise nicht mehr von der Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne einer nationalsozialistischen Volksgesundheitsideologie. Allerdings sah er – wie zahlreiche andere Mediziner, die sich nun in Sachen Managerkrankheit zu Wort meldeten – die Nachkriegsgesellschaft durch eine Vielzahl „psychischer Zivilisationsschäden“ und die zunehmende Zahl von Zivilisationskrankheiten bedroht.64 Innerhalb dieser bildete die Managerkrankheit eine populäre Variante.

Institutioneller Wandel Die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung weist über den Aufsatz von Kötschau und die Konzeptualisierung von Zivilisationskrankheiten hinaus auch vielfältige Bezüge zur nationalsozialistischen Volksgesundheitsideologie und Bevölkerungswissenschaften auf. Der Historiker Jörg Metzler hat beispielsweise unter anderem recherchiert, dass die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung ihre erste Versuchanbaustation für Reformprodukte unter dem Namen „Neuland“ auf dem Gelände des ehemaligen Kräutergartens des Konzentrationslagers Dachau eingerichtet hatte.65 Trotz des nationalsozialistischen Erbes verstand es der erste Präsident, HansAdalbert Schweigart, die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und VitalstoffForschung bis in die 1970er-Jahre zu einer international anerkannten Organisation zu formen. Die Gesellschaft entwickelte sich gar zu einem, wie Jörg Metzler formuliert, „Who is Who“ in den Bereichen Ernährung, Umwelt und Gesundheit.66 Dies gelang Schweigart durch eine konsequente Internationalisierung. Er selbst hatte von 1949 bis 1954 als Ernährungsberater der Apartheidregierung in Südafrika gewirkt. Mitte der 1960er-Jahre besaß alleine der wissenschaftliche Rat weltweit bereits 400 Mitglieder. Ebenso zählten 17 Nobelpreisträger zu seinen Ehrenmitgliedern.67 Zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannte die Gesellschaft Albert Schweizer, der diese Funktion bis zu seinem Tod 1965 innehatte. Die Kongresse waren häufig binational angelegt, was zur Überwindung früherer nationalstaatlicher Rivalitäten beitragen sollte. Kongresse und Zeitschrift waren dreisprachig. Der vorübergehende Erfolg der Gesellschaft fußte wohl hauptsächlich auf dem Initiieren 64 65 66 67

Vitalstoffe, 1/2 (1956), S. 60f. Melzer, Vollwerternährung, Diätetik, S. 307ff. Ibid., S. 307. Ibid., S. 305 und 307.

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verschiedener Resolutionen, wie die „Freudenstädter Beschlüsse zum Ernährungsund Trinkwasserschutz“ oder im Anregen internationaler Konventionen zum Schutz vor atomarer Bedrohungen.68 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wurde Hans-Adalbert Schweigart nach seinem Tod 1972 von seinen Mitstreitern als einer der Väter des bundesdeutschen Umweltschutzes geehrt.69

Von einer völkischen „Gesundheitsführung“ zur „Biopolitik“ avant la lettre Mit dem Tod von Hans-Adalbert Schweigart verlor die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung ihre treibende Kraft. In der Folge stellte die Organisation 1973 das Erscheinen ihrer Zeitschrift ein, verlegte ihren Sitz von Hannover nach Luxemburg und löste sich schließlich auf. Die internationale Gesellschaft hatte in den 1970er-Jahren den Höhepunkt ihres Erfolgs bereits überschritten. Vor dem Hintergrund des Berichts des „Club of Rome“ und der Ölkrise engagierten sich neben konservativen Kräften nun auch vermehrt Bürgerinitiativen aus den neuen sozialen Bewegungen für Umweltschutz und Gesundheit, was ein Ausdruck des Wandels bildete.70 Trotz des raschen Bedeutungsverlusts, den die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung in den 1970er-Jahren erfuhr, bleibt der vorübergehende Erfolg der Organisation beachtlich. Dies ist insbesondere auch deshalb bemerkenswert, weil sich im Kern dieser Gesellschaft einstige Repräsentanten einer völkischen „Gesundheitsführung“ zu Avantgardisten des bundesdeutschen Gesundheits- und Umweltschutzes transformierten. Als äußeres Merkmal des Wandels fallen zunächst die zahlreichen Änderungen in der Namensgebung auf. Nach verschiedenen Modifikationen wurde die Zeitschrift 1971 schließlich in „protectio vitae, Umweltforschung, Internationales Journal“ umbenannt.71 Auf 68 Vgl. die zahlreichen Resolutionen, abgedruckt in der Zeitschrift „Vitalstoffe“ beziehungsweise den Folgezeitschriften. 69 Protectio vitae, Umweltforschung, Internationales Journal 17 (1972), S. 147f. 70 Als bisher einzige Organisation, die an Stelle einer Autorin oder eines Autors den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, trat 1973 der „Club of Rome“ in Erscheinung. 71 Die Zeitschrift änderte im Verlauf der Jahre mehrfach ihr Erscheinungsbild sowie ihren Titel und Untertitel, was als Ausdruck ihrer Anpassungsfähigkeit interpretiert werden kann. So hieß die Zeitschrift ab 1956: „Vitalstoffe, Internationales Journal Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung, Spurenelemente», ab 1958: „Vitalstoffe, Zivilisationskrankheiten, Internationales Journal Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung, Spurenelemente, Ernährung“, ab 1962: „Vitalstoffe, Zivilisationskrankheiten, Internationales Journal, Ernährung, Makrobiotik, toxische Gesamtsituation, Luft- und Wasserverpestung, Spurenelemente“,

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inhaltlicher Ebene lässt sich allgemein eine Entwicklung von einer eher grundsätzlich ideologisch-weltanschaulichen zu einer stärker naturwissenschaftlichbiochemischen und ressourcenorientierten Betrachtung der Bereiche Ernährung, Umwelt und Gesundheit feststellen. So finden sich in der Zeitschrift neben Aufsätzen zu Berufskrankheiten, zur Managerkrankheit und zur beruflich-familiären Doppelbelastung von Frauen im Verlauf der Jahre auch vermehrt Beiträge zur Luftverschmutzung sowie biochemische Abhandlungen zur Ernährung, Abfallproblematik, Wasserverschmutzung und atomarer Bedrohung. Damit einher ging auch eine Modifikation bei den Interventionsstrategien der Zeitschrift in den Feldern Gesundheit, Ernährung und Zivilisationskrankheiten. Diese können einerseits als internationale Popularisierung, andererseits als Individualisierung charakterisiert werden. Im Rahmen der internationalen Popularisierungsstrategie verwies die Gesellschaft beispielsweise auf die dringende „Notwendigkeit“ „engster internationaler Zusammenarbeit“, damit das weltweit „sprunghafte“ Bevölkerungswachstum verlangsamt werden kann. Gleichzeitig machte sie in neo-malthusianischer Manier auf das Auseinanderklaffen der Verlaufskurven von Lebensmittelversorgung und Bevölkerungswachstum aufmerksam. Bei den Maßnahmen zur möglichen Steuerung des Bevölkerungswachstums schlug die Gesellschaft vor, Eingriffe jeweils nur als „Bündel“ von wirtschaftlichen, medizinischen, kulturellen, politischen und insbesondere sozialen Maßnahmen zu empfehlen.72 Als ernährungswissenschaftliche Expertin kritisierte die Organisation das Mitte der 1960er-Jahre von der WHO weltweit festgelegte Kaloriensoll von 2280 Einheiten als zu gering.73 Auf internationaler Ebene forderte sie zudem nach heutigem Verständnis eine ökologisch nachhaltige Entwicklung ein. Seit Ende der 1960er-Jahre bezeichnete die Organisation die Förderung solch nachhaltiger Entwicklung als „Biopolitik“ [sic].74 Der Begriff der „Biopolitik“ fand durch die Arbeiten von Michel Foucault seit Mitte der 1990er-Jahre Eingang in das Analyseinstumentarium der Sozial- und Kulturwissenschaften. Das Konzept, das der französische Philosoph eher skizzenhaft ausgeführt hat, meint die Herausbildung eines neuen Machttypus, „der auf das ‚Leben‘ und dessen ‚Steigerung‘ ausgerichtet ist.“75 Möglicherweise ist der Terminus „Biopolitik“ mit einer anderen Bedeutung vor Foucault und vor der Verwendung

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ab 1966: „Vitalstoffe, Zivilisationskrankheiten, Internationales Journal“, ab 1971: „protectio vitae, Umweltforschung, Internationales Journal“. Vitalstoffe – Zivilisationskrankheiten, 12/1 (1967), S. 38. Ibid., S. 37. Vgl. dazu: Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, Die Geburt der Biopolitik, Vorlesungen am Collège de France 1977 bis 1979, Hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004 (Französische Originalausgabe 2004). Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S. 166.

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durch die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung auch von völkisch-nationalsozialistisch orientieren Wissenschaftlern gebraucht worden; beispielsweise vom deutschen Statistiker und Bevölkerungwissenschaftler Friedrich Burgdörfer.76 Philipp Sarasin, dem wir diesen Hinweis auf die Verwendung der Bezeichnung „Biopolitik“ vor Foucault verdanken, hat zugleich darauf hingewiesen, dass der französische Philosoph die Schriften von Burgdörfer wohl nicht gekannt haben dürfte. Dies im Gegensatz zu den deutschsprachigen Wortführern der Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und VitalstoffForschung, denen die bevölkerungswissenschafltichen Theoreme eines Friedrich Burgdörfer eher ein Begriff gewesen sein könnten. Anders als Foucault, der sublime Machtverhältnisse im liberalen Zeitalter zu analysieren suchte, und einige Jahre vor dem französischen Philosophen, verstanden die Wissenschaftler der Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung unter der Bezeichnung „Biopolitik“ internationale politische Vereinbarungen in Umweltschutz, Ernährung und Gesundheit. „Biopolitik“ sollte dazu beitragen, die Bevölkerungsentwicklung, die Nahrungsmittelproduktion und die Ernährungsgestaltung sowie die Wohnsituation in Bezug auf Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie zum Sauerstoff-, Kohlesäure- und Wasserhaushalt der Erde längerfristig planbar zu machen.77 Zum Zweck der internationalen Popularisierung einer auf diese Weise verstandenen „Biopolitik“ erließ der wissenschaftliche Rat der Gesellschaft duzende von Beschlüssen, gab zahlreiche internationale Empfehlungen ab und geleitete verschiedene internationale Resolutionen auf den Weg. Die zweite Richtung der Interventionsstrategien zielte stärker auf das Individuum. Die Individualisierung bettet sich ein in „Technologien des Selbst“.78 So forderten zahlreiche Autoren in verschiedenen Beiträgen den Einzelnen auf, die Lebens- und Essgewohnheiten zu ändern und die Ernährung auf eine gemischte Vollwertkost mit starker laktovegetabiler und rohkostbetonter Ausrichtung hin umzustellen. Hinzu kamen Aufforderungen zum eingeschränkten Gebrauch von Genussmitteln, größere körperliche Aktivität und anderes mehr. Die hier nur skizzierte Ausrichtung auf den Einzelnen deckt sich mit Forschungsergebnissen des Giessener Medizinhistorikers Volker Roelcke. Roelcke hat an medizinischen und gesundheitspolitischen Texten den Wandel der In76 Philipp Sarasin , Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus, in: Martin Stingelin (Hrsg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 55–79, hier S. 77. 77 Protectio vitae, Umweltforschung, Internationales Journal, 16 (1971), S. 94. 78 Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: Ders./Martin Rux et al. (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1993, S. 24–62. Vgl. auch: Stefan Rieger, Arbeit an sich, Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit, Tübingen: G. Narr 2002, S. 109–125.

Zivilisationskrankheiten an der Schwelle zur Konsumgesellschaft

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terventionsstrategien gegen Zivilisationskrankheiten in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit nachgezeichnet. Am Beispiel des Endokrinologen und Psychosomatikers Arthur Jores macht Roelcke für die Nachkriegszeit und im Gegensatz zu den Jahrzehnten zuvor eine ausgeprägte Ausrichtung auf das Individuum aus, sowie sie teilweise in der Ratgeberliteratur bei Franke, Hochrein und vielen anderen zur Managerkrankheit zum Ausdruck kommt. Roelcke erklärt diese individualistisch angelegte Strategie einerseits durch die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem daraus resultierenden Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen, andererseits durch die sozioökonomischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftswunders, die die individuelle Leistung des Einzelnen vermehrt in den Mittelpunkt rückten.79 Der Blick auf die Managerkrankheit unterstützt die Individualisierungsthese von Roelcke. Die These vom vermeintlichen Misstrauen gegenüber staatlichen Maßnahmen, die aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus resultiere, soll aus der Perspektive der Managerkrankheit jedoch differenziert betrachtet werden. In der Transformation nach 1945 von einer nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ zu einer demokratisch-individuellen Gesundheitspolitik konnte Managerkrankheit, diskursiv betrachtet, eine Art Brückenfunktion einnehmen. Der Begriff Managerkrankheit wurde einerseits der gesellschaftlichen und ökonomischen Amerikanisierung nach 1945 gerecht. Andererseits bediente er durch seinen elitären Anspruch semantisch und symbolisch eine über Jahre hinaus eingetrichterte hierarchische Mentalität. Zudem bot die Managerkrankheit medizinischen Experten, die bereits im Nationalsozialismus aktiv waren, die Möglichkeit, die Lebens- und Arbeitsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg ganz grundsätzlich zu kritisieren, ohne die Traditionen einer nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ vollends über Bord werfen zu müssen. So belegen die Ausführungen zur Managerkrankheit eine frühe Kritik an einem vorherrschenden Fortschritts- und Wachstumsparadigma, das hauptsächlich auf nationalsozialistischen Konzeptionen von Degeneration und Zivilisationskrankheiten fußte. Somit wurden gerade die ehemaligen Funktionsträger der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ – nicht zuletzt über die Managerkrankheit – zu deren Transformatoren und zu Advokaten einer individuell-liberalen Gesundheitspolitik nach 1945.

79 Roelcke, Zwischen individueller Therapie, S. 446ff.

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Bedrohte Europäer? Literarische Entwürfe und demografisches Wissen zum homo europaeus in der Zwischenkriegszeit1 Im Jahr 1927 veröffentlichte der deutsch-französische Schriftsteller Yvan Goll den surrealistischen Roman „Die Eurokokke“2, in dem gleichermaßen eine europäische Untergangsstimmung und eine grundsätzliche Orientierungslosigkeit der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck kommen. Er handelt von einem europäischen Bazillus, der Steine, Tiere und schließlich auch Menschen befällt, indem er sich ihre „europäische Essenz“ einverleibt. Zurück bleiben Haut, Fassade oder Hülle, gerade genug also, um den Schein der Gesundheit aufrechtzuerhalten. Der erste erkrankte Mensch des Romans ist der junge Ich-Erzähler, ein flanierender Pariser Bohemien, den ein amerikanischer Professor mit der Diagnose der pathologischen Leere seines „Europäertums“ konfrontiert: „Sicher haben Sie auch keine Leber, kein Herz, keine Seele mehr. Das heißt, auf Ihr Menschentum übertragen: Sie haben keinen Ehrgeiz, keinen Glauben und keine Liebe mehr. [...] Nicht wahr, Sie haben auch kein Pflichtgefühl mehr, keine Ehrfurcht vor Eltern und Gott, keinen Respekt, keine Vernunft, keine Zucht und kein Ziel? Sie haben die Krankheit der Leere, auch Langeweile genannt, Sie haben die Eurokokke.“3

Die Analogie von organischem Befund und Qualitäten des Menschentums sowie das Reduzieren einer klinischen Diagnose auf bloßen Müßiggang stehen für die ironische Distanz des Autors zu zeitgenössischen Entwicklungen der Wissenschaft. Die Bezeichnung der Eurokokke suggeriert darüber hinaus, dass sich das Leiden über einen spezifischen Wirt identifizieren lasse – wodurch nicht nur ein neuer (und offensichtlich fiktiver) Erreger geschaffen, sondern auch ein vermeintlich bestehendes Kollektiv aktualisiert wird: die vorgestellte Gemeinschaft der Europäer bzw. der imagined europeans.4 1 Die Idee zu diesem Artikel entwickelte sich im Rahmen der Tagung „Auf der Suche nach dem homo europaeus“ im September 2007. Vgl. den aus dem Projekt „Imagined Europeans“ hervorgegangenen Sammelband Lorraine Bluche/Veronika Lipphardt/Kiran Klaus Patel (Hrsg.), Der Europäer – ein Konstrukt, Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen: Wallstein 2009. 2 Yvan Goll, die Eurokokke. Berlin: Argon 1988. 3 Ibid., S. 81f. 4 Die von Benedict Andersons herausgearbeiteten imaginierten Konstruktionsprinzipien der Nation – insbesondere Zensus, Geschichte und Landkarte – lassen sich auch auf die Gemeinschaft der Europäer übertragen. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation,

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„Die Europäer“5 erscheinen in dem Roman als krisentypische Phänotypen, die infolge von Überdruss und Unentschlossenheit lähmender Leere und Langeweile ausgesetzt sind.6 Die Darstellung des (West-)Europäers in seiner Zugehörigkeit zu einer dekadenten und dem Verfall entgegenstrauchelnden Kultur waren in der Literatur der Zwischenkriegszeit verbreitet.7 Golls Eurokokke stellte in diesem Zusammenhang ein (weiteres) verdichtetes Sinnbild für die negativen Kulturerscheinungen der Großstadt dar, für die Modernisierung sämtlicher Lebensbereiche und für die Brüchigkeiten der europäischen Kulturen, die besonders nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs deutlich geworden waren. Augenfällig ist in Golls Roman die Bedeutung der Pathologie bzw. ihres Erregers: Die „Europäer“ erscheinen weniger als eine (imaginierte) politische oder kulturelle Gemeinschaft, die durch übergreifende Werte verbunden ist; vielmehr sind sie auf eine „infizierbare Einheit“ und damit auf eine Art statistische Größe reduziert. Jeder einzelne Europäer ist in dem Roman der Gefahr der Ansteckung mit der Eurokokke ausgesetzt, die darüber hinaus nicht von Außen hereinzubrechen droht, sondern dem Inneren der Europäer selbst entspringt. Mit der Eurokokke bezieht sich Goll ausdrücklich auf zeitgenössisches wissenschaftliches Wissen, das in eine literarische Modellierung gebracht wird: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren Kokken als Krankheitserreger identifiziert.8 Golls Ironisierung der wissenschaftlich „verbürgten“ Kokke als Beleg für Langeweile kann als ein Archiv im Foucault’schen Sinne verstanden werden, das die-

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Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, besonders S. 163ff. Wir gehen davon aus, dass die Kategorie „der Europäer“ verhandelbar und unterschiedlich auslegbar ist. Im Folgenden wird sie synonym mit dem homo europaeus und teilweise auch mit den „europäischen Bevölkerungen“ verwendet. Um den Konstruktionscharakter zu betonen, verwenden wir diese Begriffe – bis auf den homo europaeus – in Anführungszeichen. „Mein Leid ist das Leid aller Europäer. Ich sehe immerfort auf die Uhr, langweile mich und fürchte mich doch zu sterben. Ich verachte mich und kann mich nicht hassen. Ich bin eine Nesselstaude und verlange nach Ruhm!“ Goll, Eurokokke, S. 57. Klaus Vondung, Von Vernichtungslust und Untergangsangst. Nationalismus, Krieg, Apokalypse, in: Rolf Grimminger (Hrsg.), Literarische Moderne, Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 232–256; Wolfgang Kemp, Das Ende der Welt am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Drost (Hrsg.), Fortschrittsglaube und Dekadenzbewusstsein im Europa des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 1986, S. 203–210. Kokken sind kugelförmige Bakterien, die bereits bei Antonie van Leeuwenhoek, später bei Christian Ehrenberg beschrieben und von Ferdinand Cohn benannt werden. Vgl. dazu Bernadino Fantini, La microbiologie médicale, in: Mirko Grmek (Hrsg), Histoire de la pensée médicale en Occident, Bd. 3, Du romantisme à la science moderne, Paris: Seuil 1999, S. 115–147, S. 119.

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jenigen Wissensbestände umfasst, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zirkulieren und Aussagen etwa über Politik und Gesellschaft ermöglichen.9 Eine wichtige Scharnierfunktion zwischen den literarischen und wissenschaftlichen Wissensbeständen in dem Roman stellte neben dem Rekurs auf die Kokken die Vorstellung vom „bedrohten Europäer“ dar. Auch in den Wissenschaften kursierten in der Zwischenkriegszeit unterschiedliche Vorstellungen vom bedrohten oder untergangsgeweihten „Europäer“. In diese Kontexte ist etwa Oswald Spenglers geschichtsphilosophische Arbeit zum Untergang des Abendlandes einzuordnen.10 Ferner identifizierten Bakteriologen – die bei Goll in der Figur des skurrilen Eurokokkenforschers verkörpert werden – spezifische Krankheitserreger, die sich aus ihrer Sicht verheerend auf die Europäer auswirken konnten. Der Historiker Paul Weindling hat gezeigt, wie Wissenschaftler in Deutschland um 1900 einzelne Krankheiten und Rassekonstruktionen miteinander in Bezug brachten sowie Cholera oder Fleckfieber als besonders bedrohliche Epidemien für die „europäische Zivilisation“ dämonisierten.11 Kennzeichnend waren verschiedene Gefahrenszenarien für die „Europäer“ – auch und gerade für jene Wissensfelder, in denen sich Wissenschaftler per se mit Kollektiven, wie einer Region, Nation, Rasse oder eben Europa beschäftigten. Dazu zählten insbesondere bevölkerungswissenschaftliche und statistische Felder: Die Wissenschaftler erfassten in ihrem jeweiligen Gebiet immer auch Kollektive, die hierüber zugleich konstruiert wurden. Indem sie die statistische Verbreitung von Krankheiten untersuchten, wurde zugleich die „kollektive Anfälligkeit“ hierfür analysiert, die Größe der jeweiligen Kollektive wurde dokumentiert, interpretiert und es wurde auf die Gefahren hingewiesen, die diesen drohte. Der international anerkannte Statistiker Friedrich Burgdörfer beschäftigte sich etwa mit der längerfristigen demografischen Entwicklung der „weißen Völker“ und interpretierte seine statistisch erhobenen Ergebnisse höchst negativ. Er lancierte im Jahre 1934 einen Hilferuf an seine Zeitgenossen, um vor einem langfristigen Aussterben der „Europäer“ zu warnen – in diesem Fall nicht aufgrund von Infektionen, sondern durch die Bedrohung, die aus seiner Sicht durch stetigen Geburtenrückgang entstand:

9 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 154ff. 10 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München: Beck 1963. 11 Paul Weindling, Die deutsche Bakteriologie als wissenschaftlicher Rassismus, in: Philipp Sarasin u.a. (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren, 1870–1920, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 354–374 u. S. 354–358. Ders., Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1940, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 21ff.

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„Die weißen Völker des abendländischen Kulturkreises sind in Gefahr, ja sogar in Lebensgefahr! Infolge ihrer unzulänglichen Fortpflanzung stehen sie zwar noch nicht unmittelbar im Begriff auszusterben, aber doch allmählich ‚ausgeboren‘ zu werden.“12

Die „weißen Völker des Abendlands“ lebten aus seiner Sicht in erster Linie in Europa, darüber hinaus bezog er sich aber auch auf die „germanische und angelsächsische Bevölkerung in Übersee (in Amerika, Australien und Südafrika)“, die ursprünglich aus Europa kam, bevor sie dann auch andere Erdteile besiedelte.13 Burgdörfer befürchtete, dass sich die sogenannten weißen Völker – vor allem im Vergleich mit den „gelben“ und „schwarzen“ Bevölkerungsteilen der Welt – unzureichend reproduzierten und damit ihr Bestehen langfristig gefährdeten. Seine Bedrohungsszenarien schrieben sich ein in eine über Deutschland hinaus verbreitete und seit längerem diskutierte Sorge um die geopolitische Suprematie der „weißen Rasse“. In Frankreich etwa hatte Fernand Boverat, Politiker und pronatalistischer Aktivist,14 im Jahr 1933 aus den gleichen Gründen vor den Todesgefahren für die „weiße Rasse“ gewarnt, unter die er ebenfalls mehr oder weniger explizit die Europäer oder die Bevölkerungen europäischen Ursprungs subsumierte.15 Diese Diskussionen hatten ihre Ursprünge bereits im 19. Jahrhundert und spielten oftmals in kolonialpolitischen Kontexten eine zentrale Rolle.16 12 Friedrich Burgdörfer, Sterben die weißen Völker? Die Zukunft der weißen und farbigen Völker im Lichte der biologischen Statistik, München: Georg D. W. Callwey 1934, S. 3. Ausführlich zu Leben und Werk des Statistikers Friedrich Burgdörfer: Florence Vienne, Une science de la peur, La démographie avant et après 1933, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2006; Thomas Bryant, „Volk ohne Jugend“ als „demographisches Drama“, Der Bevölkerungsstatistiker Friedrich Burgdörfer im Wechselspiel zwischen wissenschaftlicher Publizistik und popularisierter Wissenschaft (1909–1933), in: Patrick Krassnitzer/Petra Overath (Hrsg.), Bevölkerungsfragen, Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich (1870–1933), Köln: Böhlau Verlag 2007, S. 47–66. Neuerdings: Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967). Eine diskursbiographische Studie zur deutschen Demographie im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner 2010. 13 Burgdörfer, Sterben die weißen Völker, S. 3. 14 Fernand Boverat engagierte sich in der Alliance nationale pour l’accroissement de la population française, die ausführlich untersucht wurde von Virginie de Luca Barusse, Les familles nombreuses, Une question démographique, un enjeu politique, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2008, S. 24ff. 15 Fernand Boverat, La race blanche en danger de mort, Paris: Ed. de l’Alliance nationale 1933. Henri Decugis, Le destin des races blanches, Paris: Librairie de France 1935. Ausführlich zum Diskurs über die Gefahren für die „weiße Rasse“ in Frankreich vgl. PaulAndré Rosental, L’intelligence démographique, Sciences et politiques des populations en France (1930–1960), Paris: Odile Jacob 2003, S. 183–184. 16 Vgl. etwa die Diskurse zur Tropentauglichkeit der Europäer bei Heinrich Hartmann, Soldaten in den Tropen, Soldaten aus den Tropen. Neudefinitionen der Wehrkraft im kolonialen Kontext zwischen 1884 und 1914, in: Alain Chatriot/Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands und Frankreichs 1880–1962 /Poli-

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Die Beispiele deuten an, dass prominente Zeitgenossen die „Europäer“ und dabei wahlweise auch das Abendland oder die „weiße Rasse“ aus unterschiedlichen Gründen in größter Gefahr wähnten. Gemeinsam ist ihnen die Reflektion über den bedrohten Europäer, den homo europaeus. Im folgenden untersuchen wir diese Gefahrenszenarien für den „Europäer“ in ausgewählten bevölkerungswissenschaftlichen Feldern sowie in Romanen der Zwischenkriegszeit. Uns interessiert dabei, welche Akteure aus welchen Gründen heraus Wissen über den homo europaeus mobilisierten. In welchen historisch-politischen Situationen geschah das? Welche Eigenschaften wurden dem Europäer zugesprochen? Waren alle Europäer gleich und ähnlichen Gefahren ausgesetzt? Oder gab es innerhalb der Europäer Unterschiede? Welche Figurationen der bedrohten Europäer lassen sich schließlich in den verschiedenen Wissensfeldern im Vergleich herausarbeiten? Wir gehen von der Annahme aus, dass es sich bei den Krisenszenarien zum homo europaeus um längerfristige und transnationale Phänomene handelte. Der Schwerpunkt unserer Untersuchung liegt jedoch auf Deutschland und der Zwischenkriegszeit, um nationale „Brechungen“ und Spezifika herausarbeiten zu können. Die aufgeworfenen Fragen werden einerseits konkret anhand von Publikationen bevölkerungswissenschaftlich-statistisch arbeitender Autoren untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei bevölkerungswissenschaftliche Fachzeitschriften, statistische Lehrbücher sowie medizinische Dissertationen. Aufgrund der intensiven wissenschaftlichen und politischen Verflechtungen sowie Abgrenzungsbestrebungen zwischen Deutschland und Frankreich liegen Ausblicke auf Publikationen aus Frankreich nahe, die Ähnlichkeiten oder Unterschiede verdeutlichen können. Im Bereich der fiktionalen Literatur andererseits werden neben Yvan Golls Eurokokke auch der Tropen-Roman Die Sonnenseuche (1915) von Heinrich Nowak und der bekannte Roman Voyage au bout de la nuit (1932) von Louis Ferdinand Céline untersucht. Allen drei Romanen ist eine Auseinandersetzung mit Europa unter einem medizinischen Vorzeichen gemeinsam: Die Eurokokke und die Sonnenseuche führen ihre Pathologien bereits im Titel, in Voyage au bout de la nuit ist es der Erzähler, ein Arzt, der seine Beobachtungen zu den „Europäern“ in eine medizinische Ausdrucksweise kleidet. Die Rückbindung der Romane an einen wissenschaftlichen Diskurs verspricht dabei Aufschlüsse über die Vorstellungen zum Körper des „Europäers“. Die Romane verbindet außerdem die Betrachtung von Europa als einheitsstiftenden Erfahrungsraum in Abgrenzung zu tiques et pratiques coloniales dans les empires allemands et français 1880–1962, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, S. 223–246. Allgemeiner: Carole Reynaud-Paligot, La république raciale, 1860–1930, Paris: Presses Universitaires de France 2006, v.a. S. 226ff.

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anderen Erdteilen – dem kolonialen Afrika für Nowak und Céline, die transatlantische „neue Welt“ bei Goll. Die drei unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Kontexten entnommenen Romane erweitern die wissenschaftliche Perspektive damit um einen relativ breiten Blick auf Europa. Wir gehen in dem Vergleich beider Diskursformationen konsekutiv und parallelisierend vor: Im ersten Kapitel stellen wir beispielhaft Konstruktionen des homo europaeus in bevölkerungswissenschaftlich-statistischen Disziplinen vor. Im zweiten Kapitel geben wir einen Überblick über die Verhandlung der Europäer im literarischen Feld. Im Schlussteil vergleichen wir die Konstruktionen in den beiden Wissensfeldern, indem wir vor allem thematische Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellen und diese in wissenshistorische Kontexte einordnen.17

1.  Figurationen von „Europäern“ und europäischen Bevölkerungen in bevölkerungswissenschaftlich-statistischen Diskursen Die bevölkerungswissenschaftlich-statistischen Zeitschriften, Monografien oder Handbücher der Zwischenkriegszeit umfassten – wenigstens bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 – ein breites Spektrum von Disziplinen, die von der Ökonomie über die Medizin bis hin zu Biologie und Rassenhygiene reichten. Charakteristisch für die Bevölkerungsforschung in Deutschland war, dass sich die Wissenschaftler für das Kollektivsubjekt „der Bevölkerung“ interessierten, konkret etwa für die „weißen“ oder „europäischen Völker“ oder alternativ für die „zivilisierten Länder[n]“18 oder „Kulturstaaten“,19 die sich mehr oder weniger explizit aus der Summe „der Europäer“ ergaben. Manche Texttitel einschlägiger Forschungsarbeiten deuteten existentielle Gefahren für die europäischen Bevölkerungen an, und zwar gleichermaßen jene der Über- wie auch der Entvölkerung: „Übervölkerungserscheinungen in Westeuropa“20, „Die deutsche Bevölke-

17 Die Erforschung expliziter Interaktionen zwischen den beiden Wissensfeldern sowie die Identifizierung der entsprechenden Relais ist ein Forschungsprogramm für ein größeres Vorhaben, das wir längerfristig bearbeiten werden. 18 J[ean B.] Borntraeger, Der Geburtenrückgang in Deutschland und seine Bewertung und Bekämpfung, Auf Grund amtlichen und außeramtlichen Materials. Berlin: Verlagsbuchhandlung von Richard Schoetz 1912, S. 6. 19 Friedrich Burgdörfer, Geburtenhäufigkeit und Säuglingssterblichkeit, Mit besonderer Rücksicht bayerischer Verhältnisse, in: Allgemeines Statistisches Archiv 2/7 (1914), S. 63–154, S. 63. 20 Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1926, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1926, S. 161–178.

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rungsfrage im europäischen Raum“21, oder „Die Ursachen des Geburtenrückgangs im westeuropäischen Kulturkreis während des 19. und 20. Jahrhunderts“.22 Nicht immer ging es darin explizit um „den Europäer“, sondern um die Kollektivsubjekte, wie der „europäischen Bevölkerung“ oder den „europäischen Völkern“. Tendenziell war „der Europäer“ in bevölkerungswissenschaftlichen Arbeiten der Zeit eher eine implizite Figur. Eine Ausnahme bildeten rassistischbiologistische Arbeiten, die den Europäer mit einer Rasse gleichsetzten. Es lässt sich argumentieren, dass gerade das Kollektivsubjekt der europäischen Bevölkerungen einen wichtigen Beitrag zu Vorstellungen von „Europäern“ geleistet hat. Dabei können zwei wesentliche Funktionen unterschieden werden, die bei der Konstruktion der „europäischen Bevölkerungen“ und des „Europäers“ eine zentrale Rolle spielten: Zum einen die Abgrenzungen nach außen, zum anderen die Binnendifferenzierungen nach innen.23 Beide Funktionen waren jedoch situativ ausgestaltet, konnten einander überlappen, fast schon widersprechen und ineinander übergehen. Dies wird im Folgenden, (a) nach einer allgemeineren Kontextualisierung des homo europaeus, (b) am Beispiel des erwähnten Friedrich Burgdörfer und somit einem „zeitgenössischen Spezialfall“ gezeigt, der sich einerseits explizit für „die Europäer“ stark machte und andererseits zur Radikalisierung von Binnendifferenzierungen beitrug. a)  Plurale Wissenszirkulationen in Deutschland und transnational: Der homo europaeus als wissenschaftliche Kategorie, anthropologische Konstante oder Fortschrittsträger In der jüngeren Forschung, namentlich im BMBF-Projekt „Der homo europaeus in Wissenschaft und Politik“24 ist herausgearbeitet worden, dass der homo europaeus seit dem Jahr 1735 als explizite wissenschaftliche Kategorie existierte. In Carl Linnés Systema naturae galt er als eine Unterart des homo sapiens, der sich ferner in den homo americanus rufus und in den homo africanus aufgliederte. Seit 21 Festgabe des Bevölkerungspolitischen Ausschusses zur zehnten Wiederkehr des Gründungstages des Deutschen Schutzbundes, 19. Mai 1919–19. Mai 1929, Berlin/Salzburg, hrsg. von Hans Harmsen/Karl Christian von Loesch, Berlin: Vowinkel 1929. 22 Roderich von Ungern-Sternberg, Vortrag gehalten auf dem Internationalen Kongreß für Bevölkerungswissenschaft, Paris, Juli 1937, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik 8 (1938), S. 207–212. 23 Kiran Klaus Patel/Veronika Lipphardt, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Der Europäer, S. 7–32, S. 10. 24 Teilprojekt von Lorraine Bluche, Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel des inzwischen ausgelaufenen Gesamtprojekts „Imagined Europeans“, www.imagined-europeans.org. (September 2010).

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dem 18. Jahrhundert verfolgten vor allem Anthropologen das Ziel, aufgrund von Körpermerkmalen biologische Unterscheidungsmerkmale zwischen den Europäern und Nicht-Europäern festzulegen. Es etablierten sich verschiedene, in der Regel jedoch immer drei- bis fünfteilige Klassifikationssysteme. In Deutschland dominierte langfristig die Dreiteilung der Menschheit in „Europide“, „Negride“ und „Mongolide“,25 die auch der eingangs erwähnte Friedrich Burgdörfer aufgriff, indem er die Bedrohung der „weißen Rasse“ durch die „schwarze“ und „gelbe“ Gefahr betonte. Diese Dreiteilung war bereits prominent durch William Zebina Ripley in seinem Buch „The Races of Europe“ vertreten worden.26 Später griff zum Beispiel Hans F. K. Günther sie in seinem 1922 erstmals und dann in vielen Auflagen erschienen Buches zur Rassenkunde Deutschlands und Europas auf. Auf den ersten Seiten seines Buches fragte er, wie wohl die Forschung dazu komme, „geschiedene Rassenbilder aufzustellen?“ Die Antwort lag für ihn auf der Hand: „Denkt man an die Gelben und Schwarzen oder an die ‚Rothäute’, so scheint sich die Einteilung klar zu ergeben.“27 Als Definition verkündete er: „Eine Rasse stellt sich dar in einer Menschengruppe, die sich durch die ihr eigene Vereinigung körperlicher Merkmale und seelischer Eigenschaften von jeder anderen Menschengruppe unterscheidet und immer wieder nur ihresgleichen zeugt.“28 Die „Europäer“ zeichneten sich aus dieser Sicht zuallererst durch ihre weiße Haut, aber auch durch seelische Merkmale aus, die unterschiedlich ausfallen konnten. Zentral bei der Durchsetzung der Vorstellung von einer Dreiteilung der Menschheit war – auf einer medialen Ebene – das als „Baur-Fischer-Lenz“ bekannte Buch,29 das rassenhygienische Ideen aus Genetik, Anthropologie und Medizin zusammenführte und zu einem Werk vereinte. Es erschien zum ersten Mal im Jahr 1921, erlebte bis 1940 fünf Neuauflagen und galt schließlich als „Standardwerk“.30 Bereits 1934 stellte der Anthropologe Egon Freiherr von Eickstedt rückblickend 25 Veronika Lipphardt/Kiran Klaus Patel, Auf der Suche nach dem Europäer, Wissenschaftliche Konstruktionen des Homo Europaeus, in: Themenportal Europäische Geschichte, S. 1–10, S. 1ff. 26 William Z. Ripley, The Races of Europe: A Sociological Study, New York: D. Appleton and Co 1899. 27 Hans F. K. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, München/Berlin: J.F. Lehmanns 141940, S. 7. 28 Ders., Kleine Rassenkunde Europas, München: J.F. Lehmanns 1925, S. 8. 29 Veronika Lipphardt, Von der „europäischen Rasse“ zu den „Europiden“, Wissen um die biologische Beschaffenheit des Europäers in Sach- und Lehrbüchern, 1950–1989, in: Lorraine Bluche/Veronika Lipphardt/Kiran Klaus Patel (Hrsg.), Der Europäer, S. 163f. 30 Heiner Fangerau, Rassenhygiene und Öffentlichkeiten, Die Popularisierung des rassenhygienischen Werkes von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, in: Krassnitzer/ Overath, Bevölkerungsfragen, S. 131–154, S. 132ff.

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selbstverständlich fest, dass die Dreiteilung der Menschheit seit Ripley bekannt sei. Offenbar war diese „Tatsache“ zu dieser Zeit zumindest für Anthropologen und rassistisch orientierte wissenschaftliche Akteure über jeden Zweifel erhaben.31 Das besondere Interesse an der weißen Rasse und den europäischen Völkern sowie ihrer spezifischen Eigenschaften war keineswegs nur in Deutschland verbreitet. Das lässt sich beispielhaft auf internationaler Ebene zeigen, etwa an einer Sektion des bevölkerungswissenschaftlichen Fachkongresses der International Union of Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP) aus dem Jahr 1931 in Rom. Auf dem IUSIPP-Kongress gab es in der Sektion „Lebensmöglichkeiten der weißen Rassen unter Tropenklima“ Vorträge internationaler Referenten über die Akklimatisierung des Europäers in den Tropen. Im wesentlichen behandelten die Referenten die Frage, wie die Europäer in der tropischen Hitze leben konnten, wie sie im Vergleich mit der indigenen Bevölkerung auf bestimmte Bakterien und Viren reagierten, und für welche Krankheiten sie besonders anfällig waren. Der Europäer könne, so eine allgemeine These, „von Natur aus“ bestimmte Anpassungsleistungen nicht schaffen.32 Zum einen zeugte dieser Diskurs davon, dass „die Europäer“ von internationalen Wissenschaftlern selbstverständlich vorausgesetzt, zum anderen aber als klimatisch-kulturell „gebundene“ Menschen konstruiert wurden – mit einer Tendenz zu Empfindlichkeit, vielleicht sogar zu Verweichlichung. Auch in Forschungsarbeiten, die in einem engeren Sinne demografische Fragen wie Geburtenentwicklungen, Mortalität und Heiratsverhalten analysierten, gab es in Deutschland zunächst einmal keine Diskussionen über die grundsätzliche Existenz „des Europäers“. Es gab ihn einfach; er wurde – ähnlich wie in der Anthropologie – als wissenschaftliche Kategorie gesehen oder ohnehin selbstverständlich vorausgesetzt. Das galt auch für die intensiven Diskussionen und Bedrohungsnarrative über den Geburtenrückgang in Deutschland und Frankreich, den Akteure aus Deutschland etwas später aufgriffen als etwa ihre Kollegen aus Frankreich. Im Rahmen von Dekadenz- und Degenerationsnarrativen hatte der Geburtenrückgang in Frankreich bereits im 19. Jahrhundert sowohl Politiker als auch Wissenschaftler alarmiert. Von deutschen Wissenschaftlern wurde er als länderübergreifendes, und auch Deutschland selber existentiell betreffendes Phänomen nach 1900 als zentrales Forschungsfeld entdeckt. Auf die politische Agenda rückte 31 Egon Freiherr von Eickstedt, Die rassischen Grundlagen des deutschen Volkes, Köln: Schaffstein 1934, S. 24. 32 Umberto Gabbi, Intorno all’ acclimatamento dell’ europeo al clima tropicale, in: Corrado Gini (Hrsg.), Atti del congresso internazionale per gli studi sulla populazione, Band V (Sezione di Medicina et Igiene), Rom 1931, S. 487–493. Giuseppe MacalusoAleo, L’ acclimatazione degli Europei nell’ Africa settentionale, ibid., S. 497–534.

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das Thema allerdings noch etwas später, und zwar kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann besonders intensiv in den 1920er Jahren. Der Grund dafür lag in der Entwicklung der abnehmenden Geburtenrate, die allerdings erst ab etwa 1910/12 als stark bedrohlich wahrgenommen wurde.33 In Tageszeitungen dominierten als Erklärung für das Phänomen des Geburtenrückgangs die allgemeine Dekadenz und der Verfall der Sitten.34 Diese Argumentation war auch in einigen wissenschaftlichen Abhandlungen vertreten, auch wenn sie selten als hinreichende Erklärung angesehen wurde. In diesem Sinne arbeitete prominent der Mediziner Alfred Blaschko, indem er einen Zusammenhang zwischen Geschlechtskrankheiten und Geburtenrückgang herstellte.35 Ludwig Hanff untersuchte in seiner medizinischen Dissertation die Bedeutung von verschiedenen Geschlechtskrankheiten, die als Anhaltspunkte für Degenerationstendenzen und Sterilität galten.36 Gleichwohl führten beide Mediziner auch andere Gründe, wie etwa den „menschlichen Willen“, als zentralen Faktor für den Geburtenrückgang an.37 In Deutschland existierte bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 eine Vielfalt von medizinischen, sozialwissenschaftlichen, ökonomischen, rassen- und sozialhygienischen Erklärungen für die Ursachen des Geburtenrückgangs und seiner – als mehr oder minder stark eingestuften – katastrophalen Folgen.38 Bis 1900 hatten ökonomische Theorien dominiert, die vor allem die sozialen Unterschiede der Fruchtbarkeit betonten und etwa zwischen Armen und Reichen sowie städtischen und ländlichen Bevölkerungsschichten differenzierten.39 Ökonomische Theorien blieben auch nach 1900 zentral, wie etwa die Wohlstandsthe33 Petra Overath, Zwischen Krisendeutung und Kriegsszenarien, Bevölkerungspolitische Vorstellungen in Deutschland und Frankreich (1870–1918), in: Volks-(An)ordnung, Einschließen, ausschließen, einteilen, aufteilen! Comparativ 13/3 (2003), S. 65–79, vor allem S. 72ff. 34 Vgl. die Sammlung der Zeitungsartikel in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 76, VIII B, Nr. 2011. 35 Alfred Blaschko, Geburtenrückgang und Geschlechtskrankheiten, Leipzig: J.A. Barth 1914. 36 Ludwig Hanff, Studien über den Geburtenrückgang in Deutschland vom medizinischen und sozial-hygienischen Standpunkt, Berlin: Maschinenschriftliches Manuskript 1920, S. 6. 37 Ibid. 38 Vgl. die im folgenden zitierten Arbeiten von Ursula Ferdinand sowie deren Beitrag in diesem Sammelband. Die Literatur zur Geburtenrückgangsdebatte ist inzwischen umfangreich. Grundlegend und mit weiterführenden Literaturangaben: Matthias Weipert, „Mehrung der Volkskraft“: Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation, 1890–1933, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh 2006. 39 Ursula Ferdinand, Systematisierungsversuche der Geburtenrückgangstheorien „um 1930“, in: Sitzungsberichte der Leibnitz-Sozietät 62 (2003), S. 171–186, S. 172.

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orien von Lujo Brentano und Paul Mombert.40 Daneben gliederte sich das Feld aber weiter auf. Prominente Beispiele sind zum Beispiel Julius Wolf, der die Frage des Geburtenrückgangs aus ökonomischen Kontexten löste und mit sexualwissenschaftlichen Aspekten, namentlich der Zeugungsmoral, verband.41 Der Ökonom, Privatier und Frankreichkenner Roderich von Ungern-Sternberg identifizierte eine spezifische Mentalität oder Gesinnung als zentrale Ursache des Geburtenrückgangs im – wie er es nannte – „europäischen Kulturkreis“: „Selbst wenn die Verschiebungen im Altersaufbau, die Zunahme der ‚Großelternquote‘, einen gewissen Einfluß auf die ‚Kinderquote‘ im Sinne ihre Rückgangs zeitigt, so sind dabei nicht irgendwelche Naturkräfte im Spiel, sondern dieser Einfluß ist dadurch zu erklären, dass die westeuropäische Menschheit von einer Gesinnung beherrscht wird, die ihr vorschreibt, einen einmal erreichten Lebensstandard unter allen Umständen aufrechtzuerhalten“.42

Entscheidend war, dass der menschliche Wille zunehmend und auf vielfältige Weise als zentraler Faktor für die Abnahme der Geburtenraten in die Argumentationen eingeführt und mit anderen Faktoren kombiniert wurde. Die Emanzipation der Frauen sowie deren Erwerbstätigkeit, gestiegene Lebensansprüche, das Streben nach einer höheren sozialen Stellung, die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit und weitere Faktoren wurden in diesem Zusammenhang als einflussreich auf die Abnahmen der Geburtenrate benannt.43 In diesen Wissensbeständen spiegelte sich somit auch eine Verarbeitung und Interpretation von gesellschaftlichen Veränderungs- oder Modernisierungsprozessen wider. Umgekehrt kann man aber auch argumentieren, dass es sich hier nicht nur um eine Spiegelung von Moderni40 Lujo Brentano, Die Malthusische Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien, München: o.V. 1909. Paul Mombert, Bevölkerungslehre, Jena: Fischer Verlag 1929 41 Ursula Ferdinand hat Biografie und Werk von Julius Wolf umfassend aufgearbeitet. Stellvertretend sei hier zitiert: Ursula Ferdinand, Zu Leben und Werk des Ökonomen Julius Wolf (1862–1937), Eine biographische Skizze, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS-Verlag 2005, S. 150–200, S. 172ff. 42 Roderich von Ungern-Sternberg, Die Ursachen des Geburtenrückganges im europäischen Kulturkreis, in: Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung, hrsg. Von der Abteilung für Volksgesundheit des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt, 36 (1932), S. 453–772, S. 484. 43 So zum Beispiel aus: Friedrich Burgdörfer, Geburtenhäufigkeit und Säuglingssterblichkeit mit besonderer Berücksichtigung bayerischer Verhältnisse, in: Allgemeines Statistisches Archiv 7/2 (1914), S. 63–95. Franz Hitze, Geburtenrückgang und Sozialreform. Mönchengladbach: Volksvereins=Verlag GmbH 1917. Heinrich Oberdieck, Der Geburtenrückgang in Deutschland und seine Bekämpfung mit besonderer Berücksichtigung der Rassenhygiene. Berlin: Maschinenschriftl. Manuskript o.J. (um 1920).

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sierungsprozessen, sondern vielmehr um deren Inanspruchnahme für einen mehr oder minder scharf umrissenen „europäischen Kulturkreis“ handelte, der damit eine gewisse Homogenität durch Fortschrittlichkeit zugeschrieben bekam. Auch wenn der Geburtenrückgang als ein kollektives Problem dargestellt wurde, wurzelte dieses im Individuum, namentlich im „Willen“ der einzelnen „Europäer“, die damit zum Träger dieses durchaus ambivalent beschriebenen Fortschritts wurden. Die Beschreibungen, Einordnungen und Bewertungen der europäischen Bevölkerungen sowie ihrer existentiellen Bedrohung waren aus der Perspektive von Akteuren in Deutschland vielfältig: Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen griffen ineinander, verschiedene Disziplinen lieferten Problemdefinitionen, Erklärungs- und Lösungsansätze. Es entstanden damit dynamische, auch transnationale „Räume des Wissens“ in denen der homo europaeus mit entworfen, abgegrenzt und lebendig gehalten wurde. Diese Dynamik und Pluralität machte „den Europäer“ einerseits flexibel und schwer greifbar. Andererseits transportierten die Untersuchungen über die europäischen Bevölkerungen relativ deutliche Wissensformationen, die die Verantwortung des einzelnen „Europäers“ sowohl für das Problem des Geburtenrückgangs als auch für dessen Lösung herausstellten. Damit konstituierten sich wiederum Wissensbestände, die sich zur breiteren Popularisierung eigneten.44 b)  Homogenisierung durch Rassifizierung: Die Sprengung des homo europaeus Die im vorangegangenen Abschnitt kurz skizzierte Pluralität von Wissensordnungen zum Geburtenrückgang der europäischen Bevölkerungen fand mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine radikale Einschränkung. Mehr noch: Die nationalsozialistische Juden- und Rassenpolitik führte dazu, dass zentrale Akteure der Debatten über den Geburtenrückgang verdrängt oder gar ermordet wurden.45 Die Folgen davon waren gravierend und führten u.a. – konzentriert man sich auf das wissenschaftliche Feld im engeren Sinne – zu einer Verengung der Themenbreite von Geburtenrückgangstheorien und einer Stärkung der systemkonformen 44 Ausführlich dazu: Weipert, „Mehrung der Volkskraft“, S. 210ff. 45 Person und Werk von Julius Wolf (1862–1937) wurden zum Beispiel als jüdisch diffamiert und verdrängt. Ursula Ferdinand, Die kulturwissenschaftliche Sexualwissenschaft des Ökonomen Julius Wolf, in: Krassnitzer/Overath, Bevölkerungsfragen, S.  81–106. Der international anerkannte Bevölkerungstheoretiker Paul Mombert, der 1933 zwangsentlassen wurde, verstarb nach einer Gestapo-Haft 1938. Werner Lausecker, „Bevölkerung“/„Innovation“/Geschichtswissenschaften, in: Mackensen/Reulecke, Das Konstrukt, S. 201–235, S. 230.

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rassistischen Literatur. Mit der monokausalen Rassifzierung des Geburtenrückgangs in Europa verstärkte sich langfristig die Binnendifferenzierung des homo europaeus, wie im folgenden am Beispiel von Friedrich Burgdörfer gezeigt wird. Burgdörfer hatte sich bereits in der Weimarer Republik als Experte für die Erforschung des Geburtenrückgang positionieren können. Als Bevölkerungsstatistiker interpretierte er den Geburtenrückgang multifaktoriell; dabei griff er auch auf rassenhygienisches und eugenisches Gedankengut zurück.46 Die Dreiteilung der Menschheit war für ihn, wie bereits angedeutet, eine zentrale Grundannahme. Dies schloss freilich nicht aus, dass er (biologische) Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Europäern und Nicht-Europäern offen ansprach: „Für die Einteilung der Menschen nach Rassen bestehen noch keine allgemein gültigen Regeln, und auch die Abgrenzung der weißen Völker gegenüber den farbigen ist wegen der mancherlei Übergänge zum Teil strittig und auf alle Fälle schwierig.“

Dennoch zeichne sich, so Burgdörfer, ein Konsens ab: „Im allgemeinen pflegt man zu den weißen oder kaukasischen Rassen die Völker Europas und die von ihnen im Wege der Auswanderung gegründeten weißen Siedlungen in den anderen Erdteilen, insbesondere in Übersee, zu rechnen.“47

Burgdörfer identifizierte demnach nicht nur verschiedene Rassen, sondern setzte diese auch mit definierten Bevölkerungsgruppen gleich: Auf jeden Fall umfasste die weiße Rasse die europäischen Völker. Aus der Perspektive von Burgdörfer schienen die europäischen Bevölkerungen, und damit implizit auch der Europäer, aufgrund der Zugehörigkeit zur „weißen Rasse“ per se den farbigen oder gelben Rassen überlegen.48 Dem europäischen Kollektiv wurde unhinterfragt zugeschrieben, auf einer höheren Entwicklungsstufe zu stehen als andere Gemeinschaften. Es wurde in ein zivilisatorisches Narrativ eingebettet und zu einem Akteur mit einer Vergangenheit, einer Zukunft sowie einer Bestimmung gemacht: Burgdörfer musste letztlich in seinem alarmistischen Buch gar nicht erklären, warum der weißen Rasse – und damit im Kern den „Europäern“ – die geopolitische Vorherrschaft in der Welt zustehen sollte.49 Der wissenschaftlich ausgewertete Vergleich von Geburtenraten in verschiedenen Erdteilen diente der Beweisführung für die Gefährdung der „weißen Rasse“ insgesamt. Wissenschaft46 Thomas Bryant, Handbuchartikel „Friedrich Burgdörfer“, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften, hrsg. von Ingo Haar und Michael Fahlbusch, München: K.G. Saur Verlag 2008, S. 85–88, S. 86f. 47 Burgdörfer, Sterben die weißen Völker?, S. 8f. 48 Zu Genese und zu den verschiedenen Aspekten der so genannten „gelben Gefahr“, siehe Ute Mehmert, Deutschland, Amerika und die „gelbe Gefahr“. Zur Karriere eines Schlagworts in der großen Politik, 1905–1917, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995, S. 35ff. 49 Burgdörfer, Sterben die weißen Völker, S. 8.

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liches Wissen über den homo europaeus enthielt demnach selbstverständlich verwendete und nicht reflektierte kulturelle sowie machtpolitische Vorannahmen. Burgdörfer führte statistisch beobachtbare Einzelphänomene zu einem narrativen Erklärungsstrang zusammen, indem er die Entwicklungen von Geburtenraten in verschiedenen Erdteilen miteinander verglich50 und die Kategorie der „Vitalität“ einführte. „[...] diese urwüchsige Vitalität, welche die weißen Völker noch im vorigen Jahrhundert bekundet haben, ist heute nicht mehr im gleichen Maße vorhanden. Sie ist künstlich und willentlich abgedrosselt durch die weißen Völker selbst. Sie sind irre geworden an sich selbst, sie sind bequem, müde und skeptisch gegen ihre eigene Fortpflanzung geworden, sie schränken ihre Lebenskraft bewußt und willentlich in einem Maße ein, dass gerade die kulturtragenden und höchststehenden Völker unter ihnen schon nicht mehr in der Lage sind, ihren gegenwärtigen Bestand aus eigener Kraft zu erhalten. Was die weißen Völker jetzt noch an Zunahme aufzuweisen haben, ist weitgehend nicht mehr Zuwachs an jungem, frischen Leben, sondern Zunahme durch Konservierung alten Lebens, nicht Zunahme an Kindern und Jugend, sondern Zunahme an Greisen.“51

Neben der Überlegenheit der „weißen Völker“ klangen hier allerdings auch Binnendifferenzierungen an. Offenbar hatten die „weißen Völker“ im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung an Lebenskraft verloren, so dass ihre vermeintlich natürliche Vorrangstellung grundsätzlich gefährdet schien. Gleichzeitig existierte innerhalb der europäischen Bevölkerung eine weitere Hierarchisierung, wie es die Rede von den „kulturtragenden und höchststehenden Völkern“ nahe legt. Auf den ersten Blick grenzte Burgdörfer also die europäischen Völker nach Außen ab, stellte damit ihre Gemeinsamkeiten sowie ihre Geschlossenheit heraus: Die massive Sorge um die Vorherrschaft der „weißen Rasse“ ging dabei bei zahlreichen Wissenschaftlern der Zeit um.52 Ordnet man die Arbeiten von Burgdörfer in den breiteren wissenschaftsgeschichtlichen und politischen Kontext seiner Zeit ein, dann lassen sich Burgdörfers Ausführungen als Teil eines transnationalen Diskurses lesen. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich aber auch argumentieren, dass die europäischen Dimensionen des Abgrenzungsdiskurses lediglich in den Bereich nationalistischer politischer Rhetorik einzuordnen sind.53 Als Burgdörfer seine Schrift 1934 veröffentlichte, hatte er durch sein Buch „Volk ohne Jugend, Geburtenschwund und

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Ibid., S. 10. Ibid., S. 11. Rosental, L’intelligence, S. 183f. Es war nicht unüblich, dass nationale und europäische Kategorien im Fall des homo europaeus ineinander griffen. Vgl. zur pars-pro-toto These allgemeiner Patel/Lipphardt, Der Europäer, S. 28f.

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Überalterung des deutschen Volkskörpers“54 bereits einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Mit diesem Buchtitel spielte er auf den sechs Jahre früher erschienenen Roman von Hans Grimm „Volk ohne Raum“ an55, von dem etwa eine Million Exemplare verkauft wurden.56 Der Schriftsteller hatte mit seinem Roman einen Nerv der Zeit getroffen, indem er den Erwerb von neuem „Lebensraum“ für die deutsche Bevölkerung als Lösung für zahlreiche Probleme in der Zeit der Weimarer Republik propagierte. Auf diesen publizistischen Erfolg des Grimm’schen „Bestsellers“ wollte Burgdörfer aufsatteln und das aus seiner Sicht zentrale Bevölkerungsproblem der Zeit benennen. Wie es der Titel schon andeutet, ging es in seiner Untersuchung weniger um die räumliche Enge als um den Geburtenrückgang in Deutschland. Burgdörfers Studie war ein Erfolg und wurde in mehreren Auflagen verbreitet.57 Auch wenn sich die Ausführungen Burgdörfers in transnationale Bedrohungsszenarien über den Untergang der Europäer einschrieben,58 so hatten seine umfangreichen wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeiten, die sich auf den Geburtenrückgang bezogen, vor allem eins zum Ziel: die vermeintliche Rettung des deutschen Volks vor dem dramatisch inszenierten Aussterben.59 Mit seinen Problemwahrnehmungen, Datensammlungen und -interpretationen zum Geburtenrückgang war er bereits in der Weimarer Republik erfolgreich gewesen. Nach 1933 konnte er seinen Einfluss noch verstärken. Burgdörfer kooperierte mit den NS-Machthabern, indem 54 Ein Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der nationalen Zukunft, Berlin: Vowinckel 1932. 55 München: Langen 1926 56 Manfred Franke, Grimm ohne Glocken, Ambivalenzen im politischen Denken und Handeln des Schriftstellers Hans Grimm, Köln: SH-Verlag 2008, Vorwort. 57 Zum Erfolg von Burgdörfers Schrift und zur Korrespondenz zwischen Grimm und Burgdörfer, Bryant/Burgdörfer, S. 88ff. und 98ff. 58 Zu Burgdörfers Aktivitäten im Rahmen der Planung der „Endlösung der Judenfrage“, Vienne, Une Science, S. 132. Die Literatur zur sogenannten „Neuordnung Europas“ durch die Nationalsozialisten ist sehr umfangreich: Vgl.: Isabell Heinemann/Patrick Wagner, Einleitung, in: Isabell Heinemann/Patrick Wagner (Hrsg.), WissenschaftPlanung-Vertreibung, Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 7–21. Birgit Kletzin, Europa aus Rasse und Raum: Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung, Münster: Lit Verlag 2002. Jüngst: Mark Mazower, Hitler’s Empire, Nazi rule in occupied Europe, London: Allen Lane 2008. 59 Friedrich Burgdörfer, Das Bevölkerungsproblem, seine familienweise Erfassung in Statistik und Politik, München: Buchholz 1917; Ders., Vom Leben und Sterben unseres Volkes, Soziale Zeitfragen, Heft Nr. 88, Berlin: Bodenreform 1929; Ders., Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, Die Lebensfrage des deutschen Volkes, Berlin: Schoetz 1929; Ders., Volk ohne Jugend, Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers, Ein Problem der Volkswirtschaft – der Sozialpolitik – der nationalen Zukunft (Beihefte zur Zeitschrift für Geopolitik), Heft 9, Berlin: Vowinckel 1932.

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er in diversen bevölkerungspolitischen Gremien mitarbeitete. Unter anderem war er Mitglied im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, der vom Reichsministerium des Innern eingesetzt worden und an der Ausarbeitung des „Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ beteiligt war.60 Darüber hinaus war Burgdörfer bereits im Jahr 1933 für die Volkszählung in Deutschland verantwortlich.61 Der Beitrag Burgdörfers zur „europäischen Identitätsbildung“ in demografischen Schriften war nicht nur in Teilen rhetorisch, sondern vor allem auch offen ambivalent, indem es nunmehr in erster Linie um Deutschland in Europa ging und weniger um die Gefahr für die „westeuropäischen Bevölkerungen“ als transnationales bedrohtes Kollektiv. Diese Ambivalenz ging einher mit zunehmend radikalen Binnendifferenzierungen der Europäer. Auch wenn der Geburtenrückgang die Zukunft der „weißen Rasse“ bzw. „der Europäer“ zu gefährden schien, hatte sich bereits seit den 1920er Jahren und verstärkt dann in den 30er Jahren eine Differenzierung von Gefährdungen herauskristallisiert. Zentral waren in diesem Zusammenhang etwa das Aufgreifen und die wissenschaftliche Neuinterpretation des alten Stereotyps der „slawischen Gefahr“.62 Diese hatte seit längerem auch Aufnahme in bevölkerungswissenschaftlich-statistische Arbeiten gefunden. Vor allem in den Kontexten der Balkankriege und im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zirkulierte die Angst vor der vermeintlich übermächtigen Fruchtbarkeit „der Slawen“, wobei zugleich deren kulturelle Unterlegenheit gegenüber „den Deutschen“ betont wurde.63 Zu den gängigen wissenschaftlichen Beobachtungen nach 1900 zählte die Aufteilung Europas in einen westlichen Teil mit Tendenz zur Bevölkerungsabnahme sowie in einen öst60 Bryant, Handbuchartikel Burgdörfer, S. 87. 61 Bryant, „Volk ohne Jugend“, in: Krassnitzer/Overath, Bevölkerungsfragen, S.  50. Burg-döfer stellte sein statistisches Wissen bereits in den 1930er Jahren in den Dienst der NS-Politik, indem er Schätzungen über Juden und Mischlingsjuden erstellte sowie rassische Kategorien zur Erfassung von Juden im Rahmen der Volkszählung 1939 entwickelte und 1940, als Leiter des Statistischen Amtes in Bayern einen Bericht zur Deportation von Juden verfasste. Dazu ausführlich, Vienne, Une science, S. 133f. Wahrscheinlich kam die Auswertung zumindest der Volkszählungsdaten zu spät, um direkt die Deportationen von Jüdinnen und Juden vorzubereiten. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie, 1800–2000, München: R. Oldenbourg 2004, S. 74. 1937 wurde Burgdörfer Mitglied der NSDAP und Mitglied in der „Forschungsabteilung Judenfrage“. 62 Maria Todorova argumentiert, dass vor allem die ethnische Vielfalt des Balkans, die einen Kontrast zu den relativ „homogenen Blöcken“ Westeuropas bildeten, den Anlass für bedrohliche Stereotype, wie zum Beispiel Instabilität, gaben, vgl. Dies. Imagining the Balkans, New York: Oxford University Press 1997, S. 128. 63 Zu Gefahrennarrativen und den „östlichen Nachbarn“, siehe z.B. Julius Wolf, Der Geburtenrückgang, Die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit, Jena: Fischer 1912, S. 182ff. Zum Überlegenheitstopos der Deutschen gegenüber den Slawen in der Geschichtswissenschaft: Werner Lausecker, Werner Conze, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 93–103, S. 94.

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lichen Teil mit überwiegendem Bevölkerungszuwachs.64 In dramatischen Worten ausgewertete Berechnungen kündigten zudem an, dass dieser Trend anhalten bzw. sich verschärfen werde.65 Eine neue Qualität erreichten die Binnendifferenzierungen der Europäer in den späten 20er und vor allem den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die auf radikalisierte Stigmatisierungen Osteuropas hinausliefen.66 Dabei waren die Raumkonzepte der Akteure oftmals unscharf und je nach Argumentation beliebig. Die demografischen Entwicklungen in Europa wurden zunehmend als machtpolitische sowie militärische Konstellationen interpretiert. Der Statistiker Richard Korherr ging 1927 in seinem 1935 neu aufgelegten Buch so weit, die Geburtenhäufigkeit eines Landes als Kriterium für die kulturell-geografische Zuordnung eines Staates zu definieren sowie „den Balkan“ und vor allem Russland vom „Abendland“ abzutrennen: „Der Balkan gehört z. T. nämlich ebenso wenig wie Russland mit seinem ungeheuren Geburtenreichtum, das später behandelt wird, zum Abendland. Man hat „Europa“ und „Abendland“ lange Zeit fälschlich gleichgestellt. Der Balkan steht nur unter dem Einfluß des Abendlandes, ebenso wie das mächtige russische Bauernland seit Peter dem Großen künstlich in das Abendland hereingezogen wurde.“67

In diesem Fall kam die Binnendifferenzierung Europas einer offen ausgesprochenen Exklusion gleich: Indem Europa auf eine geografische Größe reduziert, das Abendland davon abgelöst und kulturell aufgeladen wurde, ergab sich, dass sowohl der Balkan als auch Russland definitiv „zum Fremden im Eigenen“ zählten. 64 „Für die folgende Erörterung ist, wenn wir Europa betrachten, von Bedeutung festzustellen, dass der europäische Kontinent hinsichtlich der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit in zwei Hauptteile gliedern lässt: in Osteuropa und Westeuropa. Danach werden die Länder mit relativ hoher Geburtenhäufigkeit dem Osten, die Länder mit Rückgang der Geburten (und Todeshäufigkeit) dem Westen zugeordnet.“ Roderich von UngernSternberg, Die Ursachen des Geburtenrückgangs im europäischen Kulturkreis, in: Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung 36/7 (1932), S. 453–771, S. 460. Julius Wolf, Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit, Jena: Fischer 1912, S. 182. 65 Berechnungen zum zahlenmäßigen „Sieg auf Sieg“ gegen die Weiße Rasse von Außen, Korherr, Geburtenrückgang, S. 41. Zur „Verschiebung des Bevölkerungsschwerpunkts nach Osten“: (ohne Autor), Bericht über die Tagung der Internationalen Union für das internationale Problem der Bevölkerungsabnahme, in: Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde (1931), S. 131–133, S. 133. Burgdörfer, Sterben die weißen Völker, S. 43. Arthur Gütt, Volk in Gefahr, Der Geburtenrückgang und seine Folgen für Deutschlands Zukunft, München/Berlin: J.F. Lehmanns 1939, S. 35ff. 66 Zu Stigmatisierungen und Radikalisierungen im Rahmen von Seuchenpolitiken ausführlich: Paul Weindling, Epidemics and genocide in Eastern Europe 1890–1945, Oxford: Oxford University Press 2000. 67 Richard Korherr, Geburtenrückgang, Mahnruf an das deutsche Volk, hier 3. Auflage 1935, München: Knorr und Hirth 1935, S. 17.

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Die Binnendifferenzierungen legten strukturell die Exklusion einzelner Bevölkerungsteile an und ließen den homo europaeus zu einer ebenso engen wie fragilen Wissensfigur werden. Während Burgdörfer vor dem Ersten Weltkrieg über die Gebiete „verschiedener Nativität“ zwar referierte und Frankreich sowie die slawischen Länder als zwei Extreme – zum einen für ein stark vom Geburtenrückgang betroffenes Land, zum anderen für die Länder, die kaum davon betroffen waren – herausgriff,68 verdichtete er aber seine wissenschaftliche Beweisführung längerfristig dahingehend, dass vor allem die biologisch-demografische Entwicklung eines Landes dessen politisches Gewicht ausmache und damit auch Machtbalancen verschiebe: „Das slawische Volkstum befindet sich – als Ganzes betrachtet – biologisch noch im Aufstieg, und die Dynamik dieser Bevölkerungsentwicklung führt zwangsläufig zu einer demographischen Schwergewichtsverlagerung in Europa, die auch wirtschaftlich, politisch und kulturell nicht ohne Rückwirkungen auf die Gestaltung Europas und der Welt bleiben wird. Solche Bevölkerungsverschiebungen sind (...) politische Faktoren allerersten Ranges.“69

Besonders gefährdet erschien aus dieser Perspektive Deutschland: „Das deutsche Volk hat sicher vor allen anderen Anlaß, diese Gefahren ernst zu nehmen; denn es wird durch seine mitteleuropäische Lage am unmittelbarsten von ihnen bedroht. Bildet doch Deutschland das Zentrum des demographischen Tiefdruckgebietes. Und dabei grenzt es im Osten unmittelbar an die breite Front des demographischen Hochdruckgebietes. Daher treten hier die volkspolitischen Spannungen notwendigerweise am schärfsten und unmittelbarsten hervor.“70

Diese Analyse der „demografischen Großwetterlage“ liest sich wie die Antizipation eines schweren politisch-militärischen Konflikts, der seine Ursachen vermeintlich in statistisch erfassbaren demografischen Entwicklungen habe. Mit anderen Worten: In die wissenschaftlichen Betrachtungen flossen nicht nur Stereotype und Überlegenheitsansprüche ein, sondern sie antizipierten darüber hinaus die Gefährdung des einen Teils Europas (konkret Deutschland) durch einen anderen Teil Europas (hier die diffuse Kategorie des „Ostens“). Ordnet man dieses Denken in die breitere politische und wissenschaftliche Geschichte der 1930er Jahre ein, dann ist unverkennbar, dass die Interpretation von Statistiken in die68 Burgdörfer, Geburtenhäufigkeit, S. 66. 69 Burdörfer, Sterben die weißen Völker, S. 46. Die „Verlagerung des Bevölkerungsschwerpunkts“ von West nach Ost und ähnliche Ausdrücke wurden vor allem seit den 1930er Jahren von mehreren Autoren verwendet. So zum Beispiel auch von Eugen Fischer in seiner Rede auf der zweiten Generalversammlung der Internationalen Union für das internationale Studium der Bevölkerungsprobleme, in: Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde, (1931), S. 133. 70 Burgdörfer, Sterben die weißen Völker, S. 47.

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sem Fall in erster Linie auf die Binnendifferenzierung Europas hinausliefen sowie Rechtfertigungsmuster für eine politische Exklusion Osteuropas und vor allem der Osteuropäer bereit stellten. Die Verengung auf rassistisch orientierte Problemund Lösungsansätze zu europäischen Bevölkerungsfragen führte somit letztlich zur Sprengung der Wissensfigur des homo europaeus. Wissenschaftliche Akteure mobilisierten die Gefahrenszenarien des Geburtenrückgangs nicht mehr, um die Situation der europäischen Bevölkerungen zu beschreiben, sondern ausschließlich, um diese im Innern zu hierarchisieren.

2.  Konstruktionen des literarischen homo europaeus Die „Großwetterlage“ der demografisch-politischen Beziehungen wurde ebenfalls in literarischen Texten angesprochen. Auch in der Literatur waren die Beschreibungskategorien des „Europäers“ nicht klar voreinander abgegrenzt, so dass der „Europäer“ zugleich über moralische, kulturelle und biologische Konzepte definiert werden konnte. Die Auseinandersetzung mit dem Europäischen und die Bemühungen, dieses auf allgemeingültige Beschreibungskategorien zurückzuführen, waren indes kein Kennzeichen der literarischen Moderne. Vielmehr war die Bestimmung von den Grenzen und den Eigenheiten Europas ein Topos, der sich in Form von Romanen, Reisebeschreibungen und Korrespondenzen durch die gesamte literarische Produktion zog.71 Singularisierung und Pathologisierung der Beschreibung, das heißt die Entdeckung des „bedrohten“ Europäers als literarische Figur, waren hingegen kennzeichnend für den untersuchten Zeitraum und speisten sich in einer besonderen Form auch aus den zeitgenössischen Diskursen der Wissenschaften. Die literarische Figur des „Europäers“ war indes keine ausgewiesen wissenschaftliche Konstruktion, sondern fügte sich eher implizit als explizit in einen fiktional-narrativen Gesamtzusammenhang ein. Dies erfolgte entweder (a) über die Stilisierung einer gemeinsamen pathogenen Umwelt bzw. über ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen, oder über (b) eine gemeinsame biologisch-essentielle Bestimmung des „Europäers“.

71 Anne Kraume, Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent (1815– 1945), Berlin: de Gruyter 2010; Paul Michael Lützeler, Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld: Aisthesis 2007; Claude D. Conter, Jenseits der Nationen – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Bielfeld: Aisthesis 2004; Pascal Dethurens, De l’Europe en littéraure. Création littéraire et culture européenne au temps de la crise de l’esprit (1918–1939),Genève: Droz 2002; Marc Fumaroli et al (Hrsg.), Identité littéraire de l’Europe, Paris: PUF 2000.

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a)  Der homo europaeus als homo patiens: europäische Gebrechen, europäische Krankheiten Die Bedeutung Europas innerhalb der Literatur wurde in dem Untersuchungszeitraum durch den intensiven Austausch der Literaten selbst begünstigt. Über die persönlichen Kontakte hinaus – in Form von Bildungsreisen, Korrespondenzen oder insbesondere von ab 1933 erzwungenen Exilaufenthalten – verstetigte sich auch in den Motiven die Darstellung des Europäischen.72 Im 19. Jahrhundert waren die Bedrohungen hinsichtlich der sinkenden Fruchtbarkeit noch in einem ausschließlich nationalen Kontext verortet gewesen: Emile Zola hatte der Darlegung der (in seinen Augen unlauteren) Gründe für die niedrige Geburtenrate einen ganzen Roman gewidmet.73 Der Roman Fécondité ist nur vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Alarmismus zu verstehen. In einem Artikel des Figaro stellte Zola einen expliziten Bezug zu den statistisch-politischen Diskursen her: „Der Alarmschrei [hinsichtlich der Entvölkerung] erklang bei jeder Volkszählung, wann immer die Statistik feststellen musste, dass die französische Bevölkerung in geringerem Umfang anstieg und bereits den Tag verhieß, an dem sie abnehmen würde. Eine Woche lang zeigte sich der Patriotismus besorgt, beunruhigt, beklagte die Gefahr für das Vaterland, das einem Erschöpfungstod entgegenwankte, das an Ort und Stelle zugrunde zu gehen drohte. Nicht ohne Grund wird die Zukunft den fruchtbaren Nationen verhießen. Dann kehrt Ruhe ein, und unsere Frauen bringen auch nicht mehr Kinder zur Welt als vorher.“74

Zola schloss sich in dem Zitat der Diagnose von zeitgenössischen Bevölkerungswissenschaftlern an, unterstellte ihrer Aufregung aber Kurzlebigkeit und den gewählten Maßnahmen zur Abhilfe generelles Scheitern. Damit schrieb er sich dezidiert in die Erklärung des Geburtenrückgangs über Mentalität und Sitten ein, weswegen er seinen Artikel in einem Appell an die französischen Mütter kulmi72 Vgl. zu der Exilliteratur etwa den Sammelband von Helmut Koopmann (Hrsg.), Exil. Transhistorische und transnationale Perspektiven, Paderborn: Mentis 2001. Zu der Bedeutung der Identitätskonstitution durch Reiseerfahrungen vgl. Uwe Hentschel, Wegmarken. Studien zur Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Lang 2010. 73 Emile Zola, Fécondité, Paris: Harmattan 1994. 74 Emile Zola, Le Figaro 144 (23/05/1896), S. 1. Im Original: „Ce cri [d’alarme au sujet de la dépopulation], il retentit à chaque recensement nouveau, lorsque la statistique constate que la population de France n’augmente plus que dans des proportions sans cesse déclinantes, qui font prévoir le jour prochain où elle diminuera. Et pour huit jours, le patriotisme s’inquiète, se lamente, clame que la patrie est en danger, puisqu’elle s’en va d’épuisement et qu’elle est menacée de mourir sur place. On répète avec raison que l’avenir est aux nations fécondes. Puis, tout se calme, et nos femmes ne font pas plus d’enfants qu’auparavant.“

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nieren ließ: „O französische Mütter, bringt Kinder zur Welt, auf dass Frankreich seine Stellung, seine Kraft und seinen Wohlstand behaupte!“75 Waren die Gründe des Geburtenrückgangs auch auf andere europäische Gesellschaften übertragbar, so stellte der patriotische Impetus und die Annahme der schützenswerten Einzigartigkeit Frankreichs den Beitrag in eine dezidiert nationale Diskussionskultur. Wenn die Klage über den Geburtenrückgang sich zunächst in einen nationalen Diskurs einschrieb, waren die literarischen Ausführungen der Jahrhundertwende nicht grundsätzlich blind gegenüber den verbindenden Elementen in der Darstellung der europäischen Völker. Diese Verbindungen funktionierten oft entsprechend der gängigen Krisendiskurse, die in der Argumentationen der demografischen Forschung bereits angeklungen sind: Insbesondere der kulturpessimistische Diskurs über ein dem Untergang geweihtes Europas prägte auch die literarische Bestimmung der Bevölkerungen. Ähnlich wie bei der Sorge um die „weiße Rasse“ in bevölkerungswissenschaftlich-statistischen Arbeiten formte sich auch in der Literatur ein „defensives“ Europabild, etwa unter dem Eindruck der sogenannten „gelben Gefahr“, die in Frankreich und Deutschland gleichermaßen rezipiert wurde. Die imaginierte Bedrohung wurde in Werken wie „Die gelbe Gefahr“ oder „Die japanische Pest“ nicht selten bereits im Titel deutlich zum Ausdruck gebracht.76 In der Darstellung einer möglichen Invasion asiatischer Völker in Europa verschränkten sich dabei demografische und bakteriologische Bedrohungsszenarien. Während in der deutschen Literatur eher das Motiv der technischen und kriegerischen Auseinandersetzung dominierte, erschien die Invasionsgefahr in der französischen Literatur fast ausschließlich im Zeichen der zahlenmäßigen Überlegenheit der asiatischen Völker. Auffällig ist für beide Staaten hingegen das Motiv der biologischen bzw. bakteriologischen Kriegsführung.77 Das literarische Motiv verwies damit auf eine Analogie der Debatten über die menschliche Fruchtbarkeit und die hohen Vermehrungsraten von Bakterien. Besonders deutlich wird dies in den Seuchennarrativen, in denen Bakterien durch ihre große Zahl, ihre Ununterscheidbarkeit und ihre schnelle Vermehrung charakterisiert wurden. All dies sind 75 Ibid. Im Original: „O mères françaises, faites donc des enfants, pour que la France garde son rang, sa force et sa prospérité !“ 76 Anonym (Hans Schmidt-Kestner), Die gelbe Gefahr. Der fliegende Tod, Wiesbaden: Westdeutsche Verlagsgesellschaft 1912; Ludwig Anton, Die japanische Pest. Bad Rothenfelde: Ernst Keils Nachfolger 1925. Vgl. auch Oscar Justinus, In der ZehnmillionenStadt. Berliner Roman aus dem Ende des 20. Jahrhunderts, Dresden: Pierson 1890. 77 Vgl. in Deutschland neben Hans Schmidt-Kestner etwa die U-Boot-Darstellung von Curt Abel-Musgrave, Der Bacillenkrieg. Eine Mahnung an alle, Frankfurt a. M.: Impavidus 1922; in Frankreich vgl. etwa Maurice Spronck, L’an 330 de la République. Paris: Chailly 1894.

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Elemente, die sich auch in der Beschreibung der „gelben Gefahr“ fanden.78 Aus diesem Grund erschien das Motiv der hohen Fruchtbarkeit in der Literatur nicht nur als Lösungsansatz im Sinne einer Steigerung der Geburtenrate, sondern auch als bedrohliches Attribut des Feindes. Auch in den Narrativen der „gelben Gefahr“ verschränkten sich rassische Zuschreibungen und kulturelle Krisenphänomene. Die Zeit- und Kulturgebundenheit der Krisenphänomene hatte einen entscheidenden Anteil an der biologistisch ausgerichteten Zusammengehörigkeitsfiktion. Das Europäische wurde entsprechend in einer Disposition zu bestimmten „Fortschritts-“, „Zivilisations-“ oder auch „Modekrankheiten“ eingebunden.79 Diese hatten gemeinsam, dass sie sich als Reaktionen auf die zeitspezifischen Anforderungen an die Menschen und ihre Körper definieren ließen. Dass pathologische Deutungsmuster sich auch jenseits der literarischen Darstellung als so verbindend ausweisen ließen, lag zum einen an der gefühlten Allgegenwart der Krankheit, die auf die zeitgenössische Wahrnehmung einwirkte.80 Zum anderen hatte die „europäisierende Krankheitsdarstellung“ eine gewisse Tradition: Wohl kaum eine Krankheit wurde in einen so europäischen Bedeutungszusammenhang gestellt wie die Cholera.81 Diese wurde auf der Grundlage einer vermeintlich wissenschaftlichen Argumentation in zwei Krankheitstypen eingeteilt, die cholera asiatica, die tödliche Variante, und die cholera nostra, der ein harmloserer Verlauf nachgesagt wurde. Das lateinische Possessivpronomen bezog sich dabei explizit auf den europäischen Raum. War die imaginierte Schicksalsgemeinschaft der Cholera aber ausschließlich pathologisch, situativ und zeitlich begrenzt, so wurden die Zivilisationskrankheiten der Jahrhundertwende nicht nur als zufällige Krankheitsgemeinschaft verstanden, sondern zu einem zeitlich und kulturell gebundenen, verbindenden Symptom einer Kulturkrise stilisiert. Daher stand weniger die Geografie der Krankheit im Vorder78 Zur literarischen Darstellung der „péril jaune“ in Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts: Jean-Marc Mourra, L’Europe littéraire et l’ailleurs. Paris: PUF 1998, S. 125 ff. 79 Zur Literatur als Indikatorin für epochenspezifische Diskursformationen vgl. Frank Degler/Christian Kohlross (Hrsg.), Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, St. Ingbert: Röhrig 2006. 80 Der Versuch einer Erklärung für die Wirkmacht der pathologischen Phänomene würde an dieser Stelle zu weit führen. Es sei aber hingewiesen auf die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten von Philipp Sarasin und Christoph Gradmann sowie, stellvertretend für die Literaturwissenschaft, auf Andrea Kottow, Der kranke Mann. Medizin und Geschlecht in der Literatur um 1900, Frankfurt a.M: Campus 2006. 81 Zur Geschichte der Cholera und insbesondere zu den „literarischen Immunisierungstrategien“ vgl. Olaf Briese, Angst in den Zeiten der Cholera. Berlin: Akademie-Verlag 2003 und dabei insbesondere den vierten Band: Ders., Das schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung, Berlin 2003.

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grund, sondern die Erkrankten selbst rückten mitsamt ihrer Biographie und ihren Anlagen in das Blickfeld der Zeitgenossen. Zu den neuen „europäischen“ Krankheitssymptomen zählte vor allem die nervliche Fragilität, die insbesondere in den Städten angesiedelt war. Dabei kam es zu Zuschreibungen von zeitspezifischen Krankheiten, die durch den rasanten technischen und gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen würden.82 In dem populärmedizinischen Diskurs war es vor allem das Nervenleiden der Neurasthenie, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausdruck moderner Empfindlichkeit und „spezifisch moderner Reflexionsqualitäten“83 zunehmend in die Nähe eines pathologisch-kulturalistischen Erklärungsansatzes gerückt worden war. Die medizinischen Phänomene wurden zu einer kulturellen Selbstzuschreibung und darüber hinaus zu einer Charakterisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Moderne.84 Über die kollektive Aneignung der Nervosität und über ihre Verzeitlichung in Form einer Selbstzuschreibung als „nervöse Generation“ fand damit auch eine Festlegung des „Europäischen“ und des „Europäers“ statt.85 Nervöse Protagonisten bevölkerten die Fiktionen des Fin de siècle, und die Autoren Thomas Mann, Gottfried Benn, Robert Musil, Emile Zola und Marcel Proust mögen beispielhaft für die Tendenz stehen, fortschrittsbedingtes Leiden als zeitspezifische Charakterisierung zu inszenieren.86 Der Europäer wurde insgesamt über seine Zugehörigkeit zur 82 Vgl. etwa Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München: Hanser 1998. 83 Jochen Hörrisch, Das pathognostische Wissen der Literatur, in: Degler/Kohlross, Epochen/Krankheiten, S. 21–45. 84 Hans-Georg Hofer etwa beschreibt die Neurasthenie als „Wissensformation“ über die „geschlechtsspezifischen Belastungen der Moderne“, wobei er Wissensformation als „Ergebnis eines vom sozialen und kulturellen Faktoren geprägten Herstellungsprozesses“ bezeichnet. Hans-Georg Hofer, Nerven, Kulturen und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte, in: Frank Stahnisch/Florian Steger (Hrsg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart: Steiner 2005, S. 225–244, S. 225 und 227. 85 Die Bedeutung der Generation ist dabei vor allem mit dem Auf bruchsgefühl und dem damit einhergehendem Gefühl des Bruchs mit dem Vergangenen verbunden. Gerade im Expressionismus, aber auch in anderen literarischen Strömungen, wird dieses Gefühl der neuen Zeit und des neuen Menschen beschrieben. Vgl. etwa das Kapitel „Der alte und der neue Mensch“, in: Thomas Anz/Michael Stark (Hrsg.), Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart: Metzler 1982, S. 130ff. Vgl. dort auch den Vortragstext von Robert Müller, Die Zeitrasse, S. 135–138, S. 136: „Der höchststehende Jetztzeitler hat zu dem unbedeutendsten Mitgliede seiner Zeit engere Beziehungen als zu Goethe.“ 86 Vgl. für die Literatur etwa Katrin Max, Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in den Buddenbrooks, Frankfurt a.M.: Klostermann 2008 und allgemein: Andreas Killen, Berlin electropolis. Shock, nerves and German modernity. Berkeley: University of California Press 2006.

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Moderne bestimmt, die sich – wie im Fall der Neurasthenie – in seinem Körper manifestierte und ihm Grenzen aufzeigte. Die Pathologisierung europäischer Krisenerscheinung trat schließlich auch in dem bereits eingeführten surrealistischen Roman Die Eurokokke (1927) zutage, in dem Yvan Goll medizinische und kulturpessimistische Argumentationen eindrucksvoll verklammerte, um eine Epidemie der europäischen Langeweile zu umfassender Geltung zu bringen: „Nun erst verstand ich die Leere in mir! (…) Nun wußte ich, woher die Müdigkeit im Hirn. (…) Ich hatte Eurokokken! Ich war ausgesaugt, ausgelaugt, ausgeraucht. Ich hatte die europäische Krankheit. (…) Was nützt es noch, ihr armen Leute, vor kahlen Polykliniken Schlange zu stehen, wo Assistenten ohne Ehrgeiz ihre Kenntnisse von Krebs- und Syphilisbehandlung erproben! Geduldiger, geduldiger Pöbel. Euer Heiland Pasteur kann euch diesmal nicht retten.“87

Der Europäer wird in Golls Roman in zweierlei Hinsicht als eine in die Jahre gekommene Konstruktion ausgewiesen: Einerseits über seine kulturellen (aber leeren) Codes, andererseits über ein imaginäres Krankheitsbild, dessen vordergründig wissenschaftliches Vokabular der Bakteriologie durch die Haltlosigkeit der Behauptungen ironisiert wird. So beginnen die Parasiten etwa, in den befallenen Objekten „kunstvolle Kanalanlagen und schattige Alleen“ anzulegen, und verhalten sich damit wie die kranken Europäer selbst, die über eine kodifizierte, überbeanspruchte Form das Fehlen des Inhalts zu verdecken suchen.88 Die Gefahr, die dem europäischen Kulturkreis droht, ist zum einen eine körperliche, da die Kokke sich in dem Organismus selbst ansiedelt. Und doch scheint es eher die geistig-kulturelle Unbestimmtheit zu sein, die dieser Epidemie zu ihrem Ausbruch verhilft und die schließlich auch dazu führt, dass die Europäer ihren eigenen Untergang herbeiführen: „Wir sind die Propheten des Selbstmords, aber in größerem Maßstab: Wir führen die okzidentale Kultur ad absurdum. Wir haben ihren Bankrott erklärt. Wir verlachen die Wunder der Technik, die Erfindungen der Ärzte, die Erfolge der Sklavenarbeiter und die Pflanzenphysiologie.“89

Durch die wahllose Aufzählung vermeintlicher Errungenschaften des 19. Jahrhunderts bringt Goll erneut eine ironische Distanz zu dem Fortschrittsparadigma zum Ausdruck. Zugleich zerschellt die religiös-mystische Überhöhung (der Propheten und Wunder) schon sprachlich an dem niederschmetternden und reichlich profanen Bankrott der westlichen Kultur. 87 Yvan Goll, Die Eurokokke, Berlin: Argon 1988, S. 83. 88 Ibid., S. 75. 89 Ibid., S. 111.

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Ein solch gleichermaßen hoffnungsloses, selbstkritisches und ironisches Bild kontrastiert mit zeitgenössischen Werken, die sich ihrerseits mit der Verortung der europäischen bzw. deutschen Identität auseinandersetzen. Einen unüberbrückbaren Gegensatz stellt etwa der nur ein Jahr zuvor erschienene Bestseller „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm dar. In diesem war für die Beschreibung und Konstruktion des „Europäers“ wiederum kein Raum vorgesehen, weil sich die Dynamik des Thesen-Romans – mit der einfachen, bereits im Titel ausformulierten „These“ eines Bedarfs an territorialer Expansion – in der Stilisierung eines Deutschtums erschöpfte, das gänzlich unwissenschaftlich daherkam: „Wir Deutschen alle lieben das Land der Väter, darin wir geboren sind, dessen Sprache wir sprechen, dessen Luft wir atmen, dessen Teil wir sind gleich Baum und Strauch, Wald und Wiese, Vogel und Fisch.“90 Das „Ferienbuch für [...] Landgerichtsdirektoren“, wie Kurt Tucholsky den Roman aburteilte91, und seine nationalen Zuschreibungen, die auch Tierwelt und Botanik umfassten, schufen auf der einen Seite die Figur eines vaterländischen Helden, der sich im Inland (Bochum) wie im Ausland (Südafrika bzw. Südwestafrika) verdient machte. Auf der anderen Seite partizipierte der Roman in seinem diffusen Rassismus nicht an der literarischwissenschaftlichen Stilisierung des „Europäers“, weil dem Deutschsein (und dem daraus folgenden Deutschfühlen) weder eine analytische Distanz noch eine wissenschaftliche Rechtfertigung eingeschrieben war. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die literarischen Fiktionalisierungen des homo europaeus mit den wissenschaftlichen Beschreibungen nicht in eine Konkurrenz um Deutungsmacht und Wahrheit traten, sondern sich mit wissenschaftlichen Interpretationen überlagerten und auf Assoziations- und Vorstellungsräume zurückwirkten. Die Konstruktionen des „dekadenten“ Europäers kreisten in den literarischen wie bevölkerungswissenschaftlichen Darstellungen der Bedrohungsszenarien um Konzepte wie Fruchtbarkeit, Masse und Macht. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs entwickelte sich ein Krisenbewusstsein, das sich in der Angst vor sinkender Fruchtbarkeit und der Verbreitung von spezifischen „europäischen“ Krankheiten konkretisierte. Dabei fand eine wechselseitige Übertragung von Gefahren der Bevölkerung und Gefahren auf den einzelnen Europäer statt. Wie in den wissenschaftlichen Diskursen wurde das Europäische also gleichermaßen in analogen Handlungsmustern wie in der sittlich-moralischen Beschaffenheit des Individuums gesucht.

90 Hans Grimm, Volk ohne Raum. München: Albert Langen 1926, S. 279. 91 Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel), Grimms Märchen. In: Die Weltbühne 36 (04.09.1928), S. 353.

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b)  Europäer in Übersee: die Suche nach der Essenz des homo europaeus Neben der Stilisierung der Gemeinsamkeiten über seinen zeitlich-kulturellen Zusammenhang, der immer wieder pathologische Beschreibungen aufrief, fanden sich ähnlich wie in den demografisch orientierten Wissenschaften auch in der Literatur Versuche, den europäischen Menschen biologistisch und auch rassistisch zu bestimmen. Dies erfolgte insbesondere im Rahmen einer „Kolonialliteratur“, in der die spezifischen physischen Eigenschaften des „Europäers“ unter Extrembedingungen den Literaten dabei die Möglichkeit boten, nicht nur die Konzepte des Eigenen und des Fremden auszuleuchten, sondern auch die etwaige Beschaffenheit einer europäischen „Substanz“ zu reflektieren. Während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte der österreichische Expressionist Heinrich Nowak etwa Novellen über Kolonialismus und Tropenkrankheiten, in denen der „Europäer“ als physiologisch bestimmter Gegensatz zu dem „Einheimischen“ konstruiert wurde.92 In der Novelle „Die Sonnenseuche“ (1915) setzt Nowak den Untergang der Kolonialstadt Littehota in Szene. Die Stadt, „irgendwo am Ozean“, wird von der „Sonnenseuche“ heimgesucht, die allerdings weniger als Krankheit, denn als Hitzewelle erscheint, und nur ein einziges Mal pathologisch begründet wird. In einem Gespräch mit einem Arzt versucht der Erzähler diesen von seiner eigenen Ansicht zu überzeugen: „Es gibt da eine ganz neue, erst vor kurzer Zeit entdeckte Art von Bazillen; man kann sie Sonnenbazillen nennen. Sie existieren nur bei abnorm starker Hitze. (…) Sie dringen in das Gehirn ein und richten dort eine furchtbare Verwirrung an. Die Geschichte endigt unbedingt nach zwei bis drei Stunden letal. Heilung ist fast ausgeschlossen; man müßte erst den Antibazillus finden“.93

Die ausbleibende Reaktion des Arztes stellt die pathologische Ausführung nicht nur in Frage, ihr werden auch noch andere Erklärungen hinzugefügt, so dass bis zuletzt Unklarheit über die Natur des Leidens besteht. Obwohl die Krankheit in dem weiteren Verlauf der Geschichte in den Hintergrund gerät und nur durch vereinzelte Fieberschübe und gelegentliche Zeitungsmeldungen über die „Selbstmorde wegen abnormer Hitze“ aufgerufen wird, lässt sie den Erzähler nicht los, der immer wieder Überlegungen über ihre Ätiologie und ihren Verlauf anstellt. Mögliche Erklärungen ergeben sich indes weniger aus diesen Reflektionen als aus der Differenz zwischen dem Erzähler und seiner einheimischen Geliebten, die von der Hitze völlig unbeeindruckt bleibt. Der Eindruck ihrer Resistenz wird durch die „Hitzebeständigkeit“ ihrer Arbeit verstärkt: Sie ist Pantherdompteurin, 92 Heinrich Nowak, Die Sonnenseuche (1915). Berlin: Meduca 1984. 93 Ibid., S. 79.

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lässt ihre Tiere durch glühende Reifen springen und wirft mit brennenden Fackeln um sich. Durch den wiederholten Verweis auf eine „andere“ Körperlichkeit drängt sich der Eindruck eines organischen Unterschiedes auf.94 Gleichzeitig wird die Pathologie mit psychischen Problemen in Verbindung gebracht: „Ich werde in die Stadt zu einem berühmten Psychiater fahren müssen. Ich stecke ja wahrscheinlich nur in einer sehr argen Neurose. Ein jeder, der bis jetzt an der Sonnenseuche starb, war ja irrsinnig.95 Bei dieser Fahrt in die Stadt gerät der Erzähler in einen Aufstand der Bewohner gegen die Soldaten der Regierung, die in die Flucht geschlagen werden. Die Befreiung markiert zugleich den Untergang der Stadt: „Littehota starb an der Sonnenseuche.“ In der Novelle wird die Krankheit zwar durch den Verweis auf pathogene Ursachen („Hitze-Bacillen“) in einen wissenschaftlichen Kontext gestellt, zugleich aber durch die Erzähltechnik permanent hinterfragt. Die Sonnenseuche wird damit als Konstruktion ausgewiesen, in der Eindrücke, Stereotype und Wahnvorstellungen ineinander übergehen. Literaturhistorisch kommt in dieser Darstellung die Abkehr von einem biologischen Determinismus zum Ausdruck, der im Naturalismus noch verbreitet gewesen war.96 Anders als bei Heinrich Nowak geht es in dem Roman „Voyage au bout de la nuit“97 von Louis Ferdinand Céline nicht um die Krankheit als Anpassungsreaktion auf eine Veränderung äußerer Faktoren, sondern um die Freilegung einer „europäischen“ Essenz. Die Idee einer französischen Rasse wird bereits auf der zweiten Seite des Romans mit expliziter Anspielung auf den wissenschaftlichen Forschungsstand verworfen: „Die französische Rasse hat es allerdings nötig [verteidigt zu werden], da es sie nicht einmal gibt! antwortete ich, um zu zeigen, dass ich Bescheid wusste.“98 Die französische Rasse wird negiert, die Idee einer grundsätzlichen Beschreibbarkeit der weißen Bevölkerung allerdings nicht angezweifelt. Im weiteren Verlauf des Romans und nach seiner (unrühmlichen) krankheitsbe94 So wird der Körper der Geliebten abwechselnd mit den Adjektiven „kühl“ und „braun“ umschrieben. Ibid., S. 84. 95 Nowak, Sonnenseuche, S. 92f. 96 Der biologische Determinismus wurde dabei als Einschränkung der freien Entfaltung verstanden, die der Expressionismus durch eine neue Selbstbestimmung des Menschen auf brechen wollte: „Die Darwinsche Entdeckung von der Entwicklung der Arten, die Marxistische Zergliederung des Produktionsgesetzes, die von einem Dichter wie Henrik Ibsen auf die Bühne gestellte Erkenntnis des biologischen und sittlichen Vererbungsgesetzes, all dies, von der Natur abgelesenen ‚Wahrheiten’ legten sich als ebenso viele Schlingen um das Individualgefühl des Menschen, zogen sich enger und erstickten es.“ Huebner, Europas neue Kunst, S. 80 ff. 97 Louis Ferdinand Céline, Voyage au bout de la nuit, Paris: Gallimard 1999. 98 Im Original: „Elle en a bien besoin la race française [d’être défendue], vu qu’elle n’existe pas ! que j’ai répondu moi pour montrer que j’étais documenté.“ Céline, Voyage, S. 8.

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dingten Entlassung aus der Armee setzt sich der Ich-Erzähler Ferdinand Bardamu in die Kolonien ab. Noch vor der Ankunft in der fiktiven Kolonie BambolaBragamance, – das Schiff hat eben Portugal passiert, – meint Bardamu aufgrund leidvoller Beobachtungen seine (weißen) Mitreisenden durchschaut zu haben: der „Europäer“ werde allein von dem kalten Klima des Nordens diszipliniert. Begebe der „Europäer“ sich in den Süden, übernehme das Tropenfieber – dem es scheinbar nur die Aussicht auf die Tropen bedarf – die Funktion eines aveu biologique: „In der Kälte Europas, unter dem schamhaften Grauschleier des Nordens, kann man hinter den üblichen Meucheleien die krauchende Grausamkeit unserer Brüder nur erahnen. (…) Aber sobald Arbeit und Kälte uns nicht langer zurückhalten, ihre Fesseln einen Moment lockern, sieht man die Weißen, so wie man ein Ufer erblickt, wenn sich das Meer zurückzieht: die Wahrheit, übelriechende Pfützen, Krebse, Aas und Kot.“99

Wenn das Klima die „europäische Natur“ zum Vorschein bringe, dann bedeutet das entweder, dass der „Europäer“ selbst ein verkappter „Wilder“ ist bzw. zumindest über die gleichen Anlagen verfügt. Es ist also das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren, die den „Europäer“ zutage bringt. Die „Wahrheit“ über die Europäer glich bei Céline freilich eher einem moralischen Urteil und entsprach der Enthüllung einer Verdorbenheit, die über „natürliche“ Kräfte im Zaum gehalten wurde.100 Entsprechend sind es die Kolonialherren, die als die eigentlichen „Wilde“ dargestellt werden: „Auf diese Weise ergossen sich die wenigen Energien, die der Malaria, dem Durst, der Sonne trotzten, in den so beißenden, verzehrenden Hass, dass viele Kolonialherren schon vor Ort verreckten, selbst-vergiftet wie Skorpione.“101 Auch bei Céline werden also Untergangsszenarien ins Feld geführt, die aus den Europäern selbst erwachsen und in denen die klimatischen Faktoren nur eine katalysatorische Funktion haben. Wenn sich auch festhalten lässt, dass die Bilder des „Europäers“ häufig in Abgrenzung erzeugt wurden, meist zu den kolonialisierten Bevölkerungen, kommt in diesem Differenzverhältnis immer auch eine dritte Bezugsgröße ins Spiel. Da zu99 Im Original: „Dans le froid d’Europe, sous les grisailles pudiques du Nord, on ne fait, hors les carnages, que soupçonner la grouillante cruauté de nos frères. [Mais] dès que le travail et le froid ne nous astreignent plus, relâchent un peu leur étau, on peut apercevoir des Blancs, ce qu’on découvre du gai rivage, une fois que la mer s’en retire: la vérité, mares lourdement puantes, les crabes, la charogne et l’étron“. Céline, Voyage, S. 113. 100 Céline kehrt damit wieder zu dem biologischen Einfluss auf den Menschen und seine Persönlichkeit zurück, ohne deshalb allerdings die naturalistische Vorstellung der Natur als regulierendes Gesetz zu übernehmen. 101 Im Original: „Ainsi, les rares énergies qui échappaient au paludisme, à la soif, au soleil, se consumaient en haines si mordantes, si insistantes, que beaucoup de colons finissaient par en crever sur place, empoisonnés d’eux-mêmes, comme des scorpions.“ Céline, Voyage, S. 125 f.

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mindest für die Kolonialliteratur die Ergründung des „Europäers“ in der Regel mit der Bestimmung des „Weißen“ zusammenfiel, der implizit (Nowak) oder explizit (Céline) als deckungsgleich mit dem „Europäer“ angesehen wurde, wurde in der europäischen Literatur neben dem homo europaeus daher auch der homo occidentalis – im Sinne einer Abgrenzung gegenüber dem Orient im weiteren Sinne – verhandelt. Waren diese Abgrenzungen essentialistisch angelegt, erfolgten diejenigen zum homo americanus, einer „Subspecies“ des homo occidentalis, auf dem bereits angeführten Feld der kulturellen Unterschiede. Der „amerikanische Mensch“ war ebenfalls oft durch somatische Zuschreibungen charakterisiert, die in den Augen der Zeitgenossen durch einen „noch moderneren“ Lebenswandel verursacht wurden – etwa durch Stress und Fehlernährung.102 In der Zuordnung des „Amerikanischen“ klang insgesamt bereits die Entstehung einer kulturellen Hegemonie an, wobei der Bezug auf Europa wesentlicher Bestandteil der Charakterisierung des homo americanus war. Für Rudolf Kayser war der Amerikanismus etwa eine „europäische Methode“, die sich in Energie und Körperlichkeit ausdrücke, für den Schriftsteller Stefan Zweig eine „Modernisierung und Monotonisierung des Daseins“, in dem Europa „das letzte Bollwerk des Individualismus“ darstelle.103 Golls Eurokokke wiederum wird das vermeintliche Heilmittel des Amerikoons entgegengestellt – ein „Quacksalbermittel“104, das nur den Blutkreislauf störe, ohne der Eurokokke Einhalt zu gebieten. Der Eurokokke wird in dieser Sequenz auch eine Art trotzigemanzipatorischer Aufbruchsmoment eingeschrieben, der sich explizit gerade gegen den „transatlantischen Ungeist“ richte: „Wir wollen unseren eigenen Tod sterben, nicht den der anderen. Das ist der Heroismus Europas.“105 Das Europäische besteht demnach nicht nur in einem Untergang, sondern ebenfalls in dem Wissen um den eigenen Untergang – was die Europäer schon fast zu tragischen Figuren werden lässt. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Abgrenzung des Europäers sich nach innen wie nach außen variabel gestaltet und dabei jeweils auf einen für Europa spezifisch angenommenen Stand der Zivilisation rekurriert. 102 Hofer, Nerven, Kultur und Geschlecht, S. 232. 103 Vgl. Rudolf Kayser, Amerikanismus. in Vossische Zeitung (27.9.1925) und Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt. in: Berliner Börsen-Courrier (1.2.1925), beide zitiert nach: Anton Kaes (Hrsg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zu deutscher Literatur 1918–1933, Stuttgart: Metzler 1983, S. 265 und S. 268. 104 Goll, Eurokokke, S. 97 105 Ibid., S. 98. Vgl. dazu auch Regine Rosenthal, Orte des Wanderns. Städtische und globale Räume im Werk Yvan Golls, in: Monika Schmitz-Evans/Manfred Schmeling (Hrsg.), Das Paradigma der Landschaft in Moderne und Postmoderne, Würzburg: Könighausen und Neumann 2007, S. 139–160, insbesondere S. 144ff.

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In beiden Fällen wird das Wissen um den Europäer an seinem Körper festgemacht, in europäischen „Zivilisationskrankheiten“ einerseits, in einer spezifisch körperlichen Reaktion auf die äußeren Umstände andererseits. Der „Europäer“ erschien in der Literatur damit zwar als ein in sich zerrissenes, höchst heterogenes Wesen – aber ungeachtet aller Fragen nach seiner Essenz oder seiner sozialen Prägung als ein Wesen, das nicht nur über einen Körper verfügt, sondern über ihn charakterisiert wird. Klaus Mann schrieb 1927 in seinem Essay über die Gemeinsamkeit Europas: „Ich sagte schon, was uns als einziges Erlebnis wirklich verbindet und überhaupt als Generation charakterisiert: es ist das neue Erlebnis des Körpers. Hierin erkennen wir uns von rechts bis ganz links in allen Lagern und Ländern.“106

3.  Schluss Das Wissen über den homo europaeus innerhalb der ausgewählten Literatur und in bevölkerungswissenschaftlichen Feldern spiegelt die Instabilität der Figur des „Europäers“ wider, über die europäische Selbstverständnisse ausgehandelt wurden. Der homo europaeus war eine indikatorische Figuration verschiedener Wissensordnungen, über die Bedeutungselemente aus unterschiedlichen Wissensbereichen aufgenommen und verändert wurden. Grundsätzlich setzten die Akteure aus beiden Feldern den Europäer als selbstverständliche Kategorie und als Evidenz voraus, auch wenn sie gleichzeitig über seine konkrete Bestimmung diskutierten. In den Bevölkerungswissenschaften der Zwischenkriegszeit konnte der homo europaeus als rhetorische Figur und als Vehikel zur Politikberatung dienen. Spezifisch für Deutschland und die Zwischenkriegszeit war vor allem die Tatsache, dass Europa immer weniger als kulturelle oder geografische Größe, sondern zunehmend als ein Ensemble von hierarchisierten Volksgruppen oder Rassen konzipiert wurde.107 Es fand damit eine Demografisierung macht- und geopolitischer Ansprüche statt, die radikale weltanschauliche Ideen wissenschaftlich plausibilisierten. Die literarischen Texte wiederum standen in einem eigenartigen Spannungsfeld zwischen einer Übernahme der wissenschaftlichen Argumentationen und ihrer gleichzeitigen Differenzierung. Zentral ist in den angeführten Texten aber eine Rückführung der Erfahrungswelt auf individuelle Subjektpositionen, die

106 Klaus Mann, Heute und Morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas, Hamburg: Enoch 1927, S. 16. 107 Michael Wildt, Völkische Neuordnung Europas. In: Themenportal Europäische Geschichte, 20.4.2007, S. 1–6, S. 5.

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in ihrem Handeln immer wieder mit kollektiv-wissenschaftlichen Gewissheiten konfrontiert wurden und diese hinterfragten. Grundsätzlich lassen sich in beiden Feldern ähnliche Themen festmachen: die – wenn auch umstrittene – Bestimmung des „Europäers“ auf der Grundlage biologischer und rassischer Überlegungen einerseits, die Stilisierung des Kollektivs vor dem Hintergrund diffuser, die Gesamtheit betreffender Gefahren von innen und außen andererseits. Der Europäer wird sowohl in der demografischen Forschung als auch in den literarischen Texten in einer ihm eigenen Ambivalenz als Träger des Fortschritts und als pathologisierte Figur des Verfalls zugleich ausgewiesen. Ungeachtet der gemeinsamen Narrative sind die Darstellungsformen genuin verschieden: Während die demografischen Forschungen sich dem Europäer über eine statistische Darstellung nähern und die Europäer als Kollektiv betrachten, inszenieren die literarischen Texte den individualisierten und einzelnen Europäer. Gleichwohl gibt es bemerkenswerte Verschränkungen. In den Interpretationen des bedrohten Europäers in demografischen Wissensfeldern spielte auf mehreren Ebenen auch die individuelle Verantwortung eine zentrale Rolle. Die literarischen Texte spielten ihrerseits neben der subjektiven Ebene auch die Gefahren für das Kollektiv durch. Es gab demnach Verschränkungen und Berührungspunkte beider Wissensordnungen, die den homo europaeus zu einer in sich heterogenen, aber gemeinsamen Wissensfigur machten. Der bedrohte Europäer schien höchst unterschiedlichen Gefahren ausgesetzt: neben der „gelben“ und „slawischen Gefahr“ reflektiert selbst die ironische Wendung der Gefährdung durch die Eurokokke das allgegenwärtige Bedrohungsszenario. Gerade deswegen konnte er zu einer allgemein „verständlichen“ Krisenfigur in den untersuchten Wissensfeldern und darüber hinaus werden.

Ian Innerhofer

Die wissenschaftliche Konstruktion der „agrarischen Übervölkerung“ in Südosteuropa vor und während des Zweiten Weltkriegs I.  Einleitung1 Für den Nationalökonomen und Statistiker Ernst Wagemann2 befand sich der Balkan3 1939 wirtschaftlich auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe wie England in der Zeit, als Malthus 1798 seinen berühmten „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ veröffentlichte.4 Genau wie gegenwärtig auf dem Balkan hätte es damals in England einen „Bevölkerungsüberschuß“ gegeben. Sogar die Bevölkerungsdichtezahlen für England und Wales von 1800, und zwar ziemlich genau 60 Einwohnern pro km², wären jenen der Balkanländer von 1937 sehr ähnlich.5

1 Übersetzungen im Text sind die des Autors. In Zitaten stammen die Hervorhebungen aus dem Original, wobei Sperrschrift hier in Kursivschrift wiedergegeben wird. 2 Ernst Wagemann (1884–1956) war von 1921 bis 1933 Präsident des Statistischen Reichsamts. Er gründete 1925 das Institut für Konjunkturforschung in Berlin (seit 1941 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) und war bis 1945 dessen erster Präsident; Adam Tooze, Weimar’s Statistical Economics: Ernst Wagemann, the Reich’s Statistical Office, and the Institute for Business-Cycle Research, 1925–1933, in: The Economic History Review 52 (1999), S. 523–543. 3 Zu den Raumkonstruktionen „Balkan“, „Südosteuropa“ und „Mitteleuropa“ siehe stellvertretend für die umfangreiche Literatur Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York: Oxford Univesity Press 1997. Den Quellentexten folgend umfassen die Begriffe „Balkan“ und „Südosteuropa“ in diesem Aufsatz die „Donau-Balkanländer“ Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Begriffe politisch und ideologisch höchst aufgeladen waren (und im Übrigen immer noch sind). 4 Zuspitzend und vereinfachend sah Thomas Etzemüller in Malthus’ Essay Teile einer Matrix angelegt, welche den Bevölkerungsdiskurs seit Ende des 19. Jahrhunderts strukturieren sollte: den katastrophischen Charakter (im Grunde läuft man dem Problem immer hinterher); die Relation von Bevölkerung, Ressourcen und Raum als Maßstab für „Überbevölkerung“; die Anwendung dieses Maßstabs als relativen Maßstab (auch „leere Räume“ können verhältnismäßig „überbevölkert“ sein); die differenzierte Betrachtung von Fertilität (Unterschichten bekommen zu viele Kinder); etc.; Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang: der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld: Transcript 2007, S. 26. 5 Ernst Wagemann, Der neue Balkan: altes Land – neue Wirtschaft, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1939, S. 57–58.

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Der folgende Aufsatz untersucht die wissenschaftliche Konstruktion eines südosteuropäischen „Bevölkerungsproblems“. Der Fokus liegt auf transnationalen Interaktionen von Wissenschaftlern, Wissenstransferprozessen sowie der Zirkulation und Diskussion von zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkmodellen. Die wirtschaftliche und politische Situation der 1930er Jahre und die Bestrebungen Deutschlands, Südosteuropa in einen „Großwirtschaftsraum“ unter seiner Führung zu integrieren,6 eignen sich darüber hinaus, die engen Verbindungen der wissenschaftlichen Arbeiten über „landwirtschaftliche Übervölkerung“7 in Südosteuropa mit zeitgenössischen politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen aufzuzeigen. Die Verflechtung von Wissen und Macht bzw. Bevölkerungswissenschaft und Politik ist konstituierend für den Bevölkerungsdiskurs. Wissenschaftler orientieren sich an politischen Zielvorstellungen, um die Bedeutung ihrer Arbeiten hervorzuheben, oder setzen als „Experten“ in staatlich-administrativen Positionen politische oder wirtschaftliche „Lösungen“ für die zuvor festgestellten „Bevölkerungsprobleme“ um.8 Bevölkerungsdichte und die normativen Begriffe „Übervölkerung“ und „Untervölkerung“ dienten der politischen Legitimierung wirtschafts- und bevölkerungspolitischer Planung.9 In den Planungen zur Strukturwandlung und Neuorganisierung der europäischen Wirtschaft wurden z.B. anhand der Diskussion über die „agrarische Übervölkerung“ oder der Debatte 6 Als „Ergänzungswirtschaftsraum“ für Deutschland sollte Südosteuropa Agrarprodukte liefern und Industrieprodukte abnehmen. Aus einer Fülle von Literatur zur „Großraumwirtschaft“ siehe Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930–1939: außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München: Steiner 1984; Götz Aly [u.a.] (Hrsg.), Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum, Berlin: Rotbuch 1992; Birgit Kletzin, Europa aus Rasse und Raum: die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster: LIT 2000. 7 In der Literatur vor 1945 wurde bis auf wenige Ausnahmen der Begriff „Übervölkerung“ gebraucht, nach 1945 verschob sich die Anwendung zugunsten des synonym verwendeten und heute üblicheren Terminus „Überbevölkerung“; vgl. Susanne Heim/Ulrike Schaz, Berechnung und Beschwörung: Überbevölkerung – Kritik einer Debatte, Berlin: Verlag der Buchläden Schwarze Risse, Rote Strasse 1996, S. 203. 8 Diana Hummel, Der Bevölkerungsdiskurs: demographisches Wissen und politische Macht, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 12; Werner Lausecker, „Übervölkerungs“konstruktionen in der deutschen Bevölkerungsgeschichte und Paul Momberts Kritik 1933, Eine Fallstudie zur Produktion und Dekonstruktion wissenschaftlicher Mythen 1929–1976, in: Josef Ehmer/Werner Lausecker/Alexander Pinwinkler (Hrsg.), Bevölkerungskonstruktionen in Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des 20. Jahrhunderts, Transdisziplinäre und internationale Perspektiven, Köln: Zentrum für Historische Sozialforschung 2006, S. 131–147, hier S. 134. 9 Joachim Drews: Die „Nazi-Bohne“: Anbau, Verwendung und Auswirkung der Sojabohne im Deutschen Reich und Südosteuropa (1933–1945), Münster: LIT 2004, S. 220.

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„Agrar- vs. Industriestaat“10 im Sinn eines „Stellvertreterdiskurses“11 makroökonomische Weichenstellungen von höchster politischer und wirtschaftlicher Bedeutung verhandelt. Um dies zu veranschaulichen werden in diesem Artikel die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten einflussreicher Ökonomen aus den 1930er und 1940er Jahre in den damaligen wirtschaftlichen und politischen Kontext gestellt. 1.  Der Bevölkerungsdiskurs in Osteuropa Der Bevölkerungsdiskurs in Osteuropa wurde ab dem 19. Jahrhundert von der Diskussion über den Gegensatz zwischen einem industrialisierten und wohlhabenden Westeuropas und einem landwirtschaftlich geprägten, armen Osteuropa geleitet.12 So wurde der Begriff der „agrarischen Übervölkerung“ 1891 vom russischen Vermessungsbeamten Vladimir Postnikov (1844–1908) gebraucht, als dieser die niedrige Produktivität kleinerer landwirtschaftlicher Betriebe auf eben diese zurückführte.13 Spätere russische Arbeiten14 wiesen auf das Bevölkerungswachstum als Grund für die „Übervölkerung“ in der russischen Landwirtschaft hin und machten somit in malthusischer Tradition wirtschaftliche Probleme an der Bevölkerung fest. Letzten Endes lässt sich jede politische oder ökonomische Krise in ein Bevölkerungsproblem umdefinieren.15 Beeinflusst von der in Westeuropa und den USA intensiv geführten Diskussion über das „Bevölkerungsoptimum“16 und auf den russischen Überlegungen 10 Zum Bevölkerungsargument in der deutschen Debatte siehe Ursula Ferdinand, Die Debatte „Agrar- versus Industriestaat“ und die Bevölkerungsfrage, in: Rainer Mackensen/ Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS 2005, S. 111–149. 11 Hinter der Dramatik des Sprechens über „Bevölkerung“ verbergen sich ganz klare politische und wirtschaftliche Zielvorstellungen, vgl. Kurt Lüscher/Ludwig Liegle, Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, Konstanz: UVK 2003, S. 48. 12 Zu den Wurzeln und zur Ambivalenz dieser Selbstdarstellung siehe Dietrich Beyrau, Russland und Europa, in: Dietrich Beyrau/Igor’ Čičurov/Michael Stolleis (Hrsg.), Reformen im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, Westliche Modelle und russische Erfahrungen, Frankfurt a.M.: Klostermann 1996, S. 1–23. 13 Vladimir Postnikov, Južnorusskoe krest’janskoe chozjajstvo, Moskau: Kušnerev 1891. 14 Peter Ma ßlow, Die Agrarfrage in Russland, Die bäuerliche Wirtschaftsform und die ländlichen Arbeiter, Stuttgart: Dietz 1907, S. 56–57; G. Nefedov, Zakon narodonaselenija i Rossija, Moršansk 1910. 15 Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 10. Für den Fortgang der Diskussion über die „Übervölkerung“ in der Sowjetunion siehe ibid., S. 71–89. 16 Die auf wirtschaftliche Faktoren bezogene optimale Bevölkerungszahl eines Gebiets war eines der meist diskutiertesten Themen auf der ersten Weltbevölkerungskonferenz in Genf vom 29. August bis 3. September 1927; Alison Bashford, Nation, Empire, Globe: The

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aufbauend, begannen deutsche Autoren in den 1930er Jahren, sich den wirtschaftlichen Problemen in Osteuropa von der Bevölkerungsseite her zu nähern.17 Das wissenschaftliche Interesse an der „agrarischen Übervölkerung“ Ost- und Südosteuropas beruhte nicht zuletzt auf den wirtschaftspolitischen Interessen Deutschlands, denn es existierten handfeste deutsche Expansions- und Herrschaftsziele in der Region. So wurden die unterschiedlichen Zielsetzungen deutscher Autoren im Vergleich mit Arbeiten aus Südosteuropa bzw. aus dem angloamerikanischen Raum insbesondere bei den vorgeschlagenen Lösungsansätzen für das „Problem der agrarischen Überbevölkerung“ sichtbar. Von deutscher Seite wurde die „Übervölkerung“ der osteuropäischen Agrargesellschaften einerseits als Ausdruck eines Entwicklungsdefizits, andererseits als Bedrohung angesehen.18 Anhand von Arbeits- und Landnutzungsnormen berechneten deutsche Experten die „überschüssigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft“. Für den Nationalökonomen und Siedlungswissenschaftler Hans-Jürgen Seraphim19 bedeutete „agrarische Übervölkerung“ die durch starkes Bevölkerungswachstum hervorgerufene „Unverhältnismäßigkeit zwischen der landwirtschaftlichen Bevölkerung und der ihr zur Verfügung stehenden Unterhalts- und Erwerbsmittel,“20 kurz gesagt entfielen „auf den landwirtschaftlich nutzbaren Boden mehr Menschen als dort rationell Beschäftigung finden und ernährt werden können.“21 Neben dem normativen Charakter des Überbevölkerungskonzepts – in diesem lag nach Josef Ehmer auch dessen

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Spaces of Population Debate in the Interwar Years, in: Comparative Studies in Society and History 49 (2007), S. 170–201, hier S. 180–183. Z.B. Hans-Jürgen Seraphim, Die statistische Erfassung der landwirtschaftlichen Übervölkerung und Untervölkerung, in: Berichte für Landwirtschaft 13 (1930), S. 193–244; Michael Hoffmann, Die agrarische Uebervölkerung Russlands, Berlin 1932; Theodor Oberländer, Die agrarische Überbevölkerung Polens, Berlin: Volk und Reich 1935. Dazu siehe Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 44–49; für die Diskussion innerhalb Polens siehe Michael Esch, Überbevölkerung und ethnische Bereinigung, Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik im „Komplex Vertreibung“ in Polen, in: Isabel Heinemann/ Patrick Wagner (Hrsg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung: Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2006, S. 119–144. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800 – 2000, München: Oldenbourg 2004, S. 72. Hans-Jürgen Seraphim (1899–1962) war von 1936 bis 1941 Direktor des „Instituts für Mittel- und Südosteuropäische Wirtschaftsforschung“ der Universität Leipzig und anschließend bis 1944 Leiter des Osteuropa-Instituts in Breslau; Markus Gloe, Planung für die deutsche Einheit: der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands 1952–1975, Wiesbaden: VS 2005, S. 87. Hans-Jürgen Seraphim, Die statistische Erfassung, S. 199. Hermann Gross, Die Slowakei in der Grossraumwirtschaft Europas, Pressburg: Roland-Verlag 1943, S. 27. Der auf die Wirtschaft Mittel- und Südosteuropas spezialisierte Hermann Gross (1903–2002) war von 1939 bis 1945 Leiter der Wiener Zweigstelle der

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wissenschaftsgeschichtlicher Erfolg22 – wird hier auch die Reformulierung der Bevölkerungsfrage deutlich: Es wurde nicht mehr (nur) danach gefragt, wie viele Menschen sich in einem Land ernähren können, sondern wie viele Menschen sich gewinnbringend beschäftigen lassen. Der Begriff „Übervölkerung“ bezog sich hier auf behauptete „Ballastexistenzen“, die lediglich von der Landwirtschaft lebten ohne nennenswerte Überschüsse zu erzeugen.23 2.  Die „agrarische Übervölkerung“ kommt nach Südosteuropa Von den Überbevölkerungstheoretikern wurde Südosteuropa aufgrund seiner niedrigen Bevölkerungsdichte24 lange Zeit nicht beachtet. Doch bereits Mitte der 1920er Jahre gab es Ansätze, wirtschaftliche und soziale Missstände in Südosteuropa in ein Bevölkerungsproblem umzudeuten. So führte der führende österreichische Statistiker und Demograf Wilhelm Winkler25 1926 aus, dass es auf „deutschem Volksboden“ vor dem Ersten Weltkrieg nur eine Art „übervölkerter Gebiete“ gegeben hätte: die deutschen Kolonistengebiete im Osten und Südosten, als Folge der dort noch herrschenden „primitiven wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse.“26 Als einer der ersten beschäftigte sich Anton Hollmann (1879–1936), Referent für die Landwirtschaft Ost- und Südosteuropas im Auswärtigen Amt, in einer

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volkswirtschaftlichen Abteilung der IG-Farben; Wolfgang Schumann, Griff nach Südosteuropa, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1973, S. 44. Das Konzept der „Überbevölkerung“ diente nicht dazu, tatsächliche gesellschaftliche Zustände zu erhellen, sondern vermittelte ein Bild davon, wie die Gesellschaft beschaffen sein sollte; Josef Ehmer, Migration und Bevölkerung – Zur Kritik eines Erklärungsmodells, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998), S. 5–29, hier S. 23. Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 48. Die Bevölkerungsdichtezahlen von 1937 im Vergleich: 273,1 Einwohner pro km² in Belgien, 270,3 in England und Wales, 143,6 im Deutschen Reich, 65,8 in Rumänien, 61,3 in Jugoslawien, 60,6 in Bulgarien; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1936, Berlin: 1937, S. 626:7. Zu Leben und Werk von Winkler siehe Alexander Pinwinkler, Wilhelm Winkler (1884–1984) – eine Biographie: zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot 2003. Wilhelm Winkler, Schlusswort, in: Franz Boese (Hrsg.), Krisis der Weltwirtschaft, Übervölkerung Westeuropa, Steuerüberwälzung (Verhandlungen der Vereins für Sozialpolitik in Wien 1926), München/Leipzig: Duncker & Humblot 1926, S. 263–265, hier S. 263–264. Zur Konstruktion des Begriffs „deutscher Volksboden“ in der deutschen Historiographie und seiner Benutzung für deutsche Bevölkerungspolitik und -planung in Osteuropa siehe Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf “ im Osten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, u.a. S. 44–46, 91 und 157–158.

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Monographie aus dem Jahr 1931 eingehender mit der Thematik. Hollmann wies darauf hin, dass in Dänemark 36,61 Personen landwirtschaftliche Bevölkerung auf 100 ha Ackerfläche kamen, während es in Jugoslawien 120,6 waren.27 Dieser später noch häufig praktizierte Vergleich der südosteuropäischen Landwirtschaft mit dem industrialisierten Agrarsektor West- oder Nordeuropas lieferte den Wissenschaftlern die von der festgesetzten „Norm“ abweichenden Zahlen, um aus dem Erbe einer traditionellen Wirtschaftsform bei langsamer Industrialisierung ein „Bevölkerungsproblem“ zu konstruieren. Darüber hinaus war für Hollmann die „permanente Auswanderung“ der Landbevölkerung der beste Beweis für den Zustand der „agrarischen Übervölkerung“ in Jugoslawien.28 Während in Rumänien der Agrarexperte Mihail Şerban29 bereits 1933 Schätzungen über den Anteil der „Überflüssigen“ in der Landwirtschaft anstellte,30 kam die wissenschaftliche Diskussion über die „landwirtschaftliche Übervölkerung“ in Jugoslawien erst nach der Veröffentlichung der detaillierten Ergebnisse der Volkszählung von 1931 im Jahr 1937 ins Rollen.31 Von herausragender Bedeutung war die 1939 in Folge eines am Institut für Weltwirtschaft in Kiel32 gehaltenen Vortrags veröffentlichte Schrift „Die Bevölkerungsdichte als Triebkraft der Wirtschaftspolitik der südosteuropäischen Bauernstaaten“ des Zagreber Agronomen Otto Frangeš.33 Der aus einer adeligen Großgrundbesitzerfamilie stammende 27 Anton Hollmann, Agrarverfassung und Landwirtschaft Jugoslawiens, Berlin: Parey 1931, S. 67. Dänemark galt unter den damaligen Wissenschaftlern gemeinhin als der „fortschrittlichste Bauernstaat der Welt“, siehe auch Otto Frangeš, Die Bevölkerungsdichte als Triebkraft der Wirtschaftspolitik der südosteuropäischen Bauernstaaten, Jena: Fischer 1939, S. 6. 28 Ibid, S. 69. Zur Kritik dieses Zusammenhangs siehe Josef Ehmer, Migration und Bevölkerung, S. 5–29. 29 Şerban (1887–1947) war in den 1930er Jahren Rektor der Akademie für agronomische Studien in Cluj und Unterstaatssekretär im Landwirtschaftsministerium. 30 Mihail Şerban, Suprapopulaţia agricolă şi viitorul economiei româneşti, Bukarest: Bucovina 1933, S. 10. 31 Statistički godišnjak Kraljevine Jugoslavije, Belgrad 1937, S. 98f. 32 Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel gab neben zahlreichen anderen wissenschaftlichen Aktivitäten das Weltwirtschaftliche Archiv, eines der zentralen Publikationsorgane für (südosteuropäische) Wirtschaftsfragen, heraus und versorgte die nationalsozialistischen Großraumplaner mit Gutachten über die Wirtschafts- und Rohstofflage der südosteuropäischen Staaten. Siehe dazu Christoph Dieckmannn, Wirtschaftsforschung für den Großraum, Zur Theorie und Praxis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs im „Dritten Reich“, in: Götz Aly, Modelle für ein deutsches Europa, S. 146–198. 33 Die Schrift wurde von deutschen Wissenschaftlern stark rezipiert, siehe Siegfried Fassbender, Probleme des wirtschaftlichen Neubaus in Südosteuropa, in: Zeitschrift für Geopolitik 18 (1941), S. 612–622, und Theodor Oberländer, Die agrarische Überbevöl-

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Frangeš (1870–1945) hatte in Wien und Leipzig studiert und unterhielt gute Kontakte zu deutschen Wissenschaftlern. Von 1929 bis 1930 war Frangeš jugoslawischer Landwirtschaftsminister. In der Zwischenkriegszeit trat er durch rege Publikationstätigkeit im In- und Ausland (hier in erster Linie in Deutschland) und durch häufige Teilnahme an internationalen Konferenzen hervor.34 In Bezugnahme auf Hollmann verwies Frangeš auf die mehr als doppelt so hohe Dichte der Landbevölkerung in Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien im Vergleich zu Dänemark. Die südöstlichen Länder sollten ihm zufolge als die relativ am dichtesten bevölkerten Gebiete Europas betrachtet werden.35 Tabelle 1  „Auf die kultivierbare Fläche bezogene relative Bevölkerungsdichte in einigen Ländern Europas“ Land Estland Frankreich Lettland Dänemark Schweden Schweiz Deutsches Reich Ungarn Finnland Polen Norwegen Rumänien Jugoslawien Bulgarien Italien

Landwirtschaftliche Bevölkerung je qkm kultivierbare Fläche v.H. der Gesamtbevölkerung 22,14 56,08 – 20,21 30,69 60,99 33,97 31,10 40,63 34,94 44,75 25,29 47,63 22,10 59,24 55,75 62,49 59,22 65,66 61,57 79,75 30,26 81,59 79,88 81,60 76,20 89,62 74,77 133,80 51,92

Quelle: Frangeš, Die Bevölkerungsdichte als Triebkraft, S. 5.

kerung Ostmitteleuropas, in: Hermann Aubin/Otto Brunner/Wolfgang Kohte/Johannes Papritz (Hrsg.), Deutsche Ostforschung, Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Zweiter Band, Leipzig: Hirzel 1943, S. 416–427. 34 Zu Frangeš und seinen Arbeiten zur „agrarischen Übervölkerung“ siehe Ian Innerhofer, „Agrarische Übervölkerung“ in Südosteuropa, Zur Konstruktion eines Problems bei Otto Frangeš und Rudolf Bićanić (1931–1941), in: Carola Sachse (Hrsg.), „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum, Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen: Wallstein 2010, S. 262–289. 35 Frangeš, Die Bevölkerungsdichte als Triebkraft, S. 6.

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Aussagekräftig sei ebenso das Verhältnis zwischen den in der Landwirtschaft „aktiv“ und „passiv“ Beteiligten: Auf einen „Arbeitstätigen“ kämen Frangeš zufolge in Bulgarien 0,7, in Jugoslawien 1,09 und in Rumänien 0,6 „bloße Mitesser“.36 Von einer festgelegten Arbeitsnorm in der Landwirtschaft,37 einer optimalen Betriebsgröße38 oder optimalen landwirtschaftlichen Bevölkerungszahl auf 1 km² abweichende Zahlen waren für die Experten genauso ein „Symptom“ des Zustandes einer „agrarischen Übervölkerung“ wie niedrige Produktivität39 oder sinkender Lebensstandard.40 Anton Reithinger, Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung der IG Farben, betrachtete eine Bevölkerungsdichte von 65 in der Landwirtschaft Beschäftigten je km² kultivierbarer Fläche als „Übervölkerung.“41

36 Ibid., S. 15–16. 37 Wagemann ging von einem „zehnstündigen Tag an Männerarbeit“ in der bulgarischen Landwirtschaft als Arbeitsnorm aus. Für die gesamte landwirtschaftliche Produktion, Feldwirtschaft, Tierzucht, Rosenzucht, Obst- und Gartenbau usw., würden in Bulgarien rund 355 Mio. „zehnstündiger Tage an Männerarbeit“ aufgewendet. Verfügbar aber seien mindestens 565 Mio. Arbeitstage. Somit würden nur 63 % der verfügbaren Arbeitskraft wirklich verwendet und gut ein Drittel der Arbeitskräfte wäre überflüssig; Wagemann, Der neue Balkan, S. 59. 38 Die Dominanz der als unrentabel geltenden Kleinst- und Zwergbetriebe in Jugoslawien würden nach Frangeš für sich selbst sprechen (67,8 % seien Betriebsgrößen unter 5 ha). Zu einer ähnlichen Feststellung gelang er auch für Rumänien und Bulgarien; Otto Frangeš, Problem relativne prenapučenosti u Jugoslaviji, in: Arhiv Ministarstva poljoprivrede 5 (1938), S. 3–46, hier S. 11–13. Zur selben Zeit wurden im industrialisierten Agrarsektors West- und Nordeuropas Betriebsgrößen unter 5 ha als nicht lebensfähig angesehen; Ljubodrag Dimić, Kulturna politika i modernizacija jugoslovenskog društva 1918–1941, in: Latinka Perović/Marija Obradović/Dubravka Stojanović (Hrsg.), Srbija u modernizacijskim procesima XX veka, Belgrad: Institut za noviju istoriju Srbije 1994, S. 181–209, hier S. 204. 39 Der Vergleich der Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten zu der Menge der erzeugten Agrarprodukte, z.B. bei Franz Ahlgrimm, Die Landwirtschaft des südosteuropäischen Raumes, Wien: Stickstoff-Syndikat 1939, S. 21. 40 Rudolf Bićanić, Agrarna prenapučenost, Zagreb: Gospodarska sloga 1940, S. 11. Der Nationalökonom Paul Mombert (1876–1938) verstand unter dem Terminus „Übervölkerung“ in erster Linie einen Rückgang des Lebensstandards; Paul Mombert, Die Gefahr einer Uebervölkerung für Deutschland, Tübingen: Mohr 1919, S. 1–7. Zu Mombert und seiner Konstruktion von „Übervölkerung“ siehe u.a. Werner Lausecker, Paul Mombert und die „Vordenker der Vernichtung“, Eine Skizze zu Frage nach Zusammenhängen von „Bevölkerungs“konstruktionen und Social Engineering im Nationalsozialismus, in: Josef Ehmer/Ursula Ferdinand/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Herausforderung Bevölkerung, Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS 2007, S. 333–340. 41 Anton Reithinger, Das wirtschaftliche Gesicht Europas, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1936, S. 23.

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Dennoch kämpften die Wissenschaftler nach eigenen Aussagen mit dem Problem, dass man „agrarische Übervölkerung“ schwer beobachten könne, da sie eine „versteckte Erscheinung“ sei.42 So mache sich der Arbeitsmangel nur zum Teil darin bemerkbar, dass nicht gearbeitet werde. Es sei nicht so, dass der eine arbeitslos und der zweite voll beschäftigt wäre, in der Regel würden alle weniger arbeiten.43 Die „Verschwendung von Arbeitskraft“ ist ein zentrales Merkmal in den Untersuchungen zum Thema.

II.  Die Diskussion über die „agrarische Übervölkerung“ in Südosteuropa An unterschiedlichen Stellen wurde das Phänomen „agrarische Übervölkerung“ mal als Ursache, mal als Folge der ungünstigen wirtschaftlichen Lage in den Ländern Südosteuropas angesehen.44 In einem Punkt waren sich jedoch die Übervölkerungstheoretiker einig: der Zustand war durch die schnelle Bevölkerungszunahme hervorgerufen worden, denn diese hatte in Südosteuropa Ausmaße erreicht, welche „die westeuropäischen Verhältnisse völlig in den Schatten stellten.“45 Wegen der hohen Geburtenrate würde sich dem Ökonomen und ehemaligen bulgarischen Minister für öffentliche Arbeiten Georgi Danailov (1872–1939) zufolge der bulgarische Bauer auch mehr um sein Vieh sorgen, als um seine eigenen Kinder. Der bulgarische Bauer „schläft nicht ruhig, wenn dem Vieh etwas fehlt. Sein krankes Kind kümmert ihn nicht so sehr, er kann ja ein anderes Kind bekommen (hohe Geburtenziffer!); aber vom kran-

42 Bićanić, Agrarna prenapučenost, S. 9. 43 Institut für Weltwirtschaft, Zur Frage des Übersatzes Südosteuropas mit Arbeitskräften (1940), Ehemaliges Sonderarchiv Moskau, Reichswirtschaftsministerium RGVA 1458/29/140, Bl. 26–27. 44 Holm Sundhaussen, Die verpasste Agrarrevolution, Aspekte der Entwicklungsblockade in den Balkanländern vor 1945, in: Roland Schönfeld (Hrsg.), Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel in Südosteuropa, München: Südosteuropa-Gesellschaft 1989, S. 45–60, hier S. 51 und Ehmer, Migration und Bevölkerung, S. 22. 45 Oberländer, Überbevölkerung Ostmitteleuropas, S. 420. Erschwerend kam in den Augen der Ökonomen hinzu, dass die Emigration nach Übersee, ein bis dahin „wirksames Ventil für Bevölkerungsdruck“ durch restriktive Einwanderungsgesetze der Immigrationsländer fast unmöglich geworden war; Frangeš, Bevölkerungsdichte als Triebkraft, S.  28–29. In Deutschland wurde unterdessen der Geburtenrückgang auf die ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse (Wirtschaftsnot) des Bauerntums zurückgeführt; Josef Müller, Die biologische Lage des deutschen Bauerntums: ein Beitrag zur Ergründung des Geburtenrückganges im Bauerntum, Leipzig: Hirzel 1938, S. 34–38.

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ken Vieh spricht er mit den Nachbarn, erzählt er im Wirtshaus und betrauert das eingegangene Vieh länger als sein Kind.“46

Durch diesen drastischen Vergleich wollte Danailov vor deutschem Publikum auch die Aufopferungsbereitschaft und die Hingabe des bulgarischen Bauern zur Landwirtschaft veranschaulichen.47 Erschwerend kam in den Augen der Experten hinzu, dass von einem „Bevölkerungsstillstand“ in Ost- und Südosteuropa auf lange Sicht keine Rede sein könne.48 1934 rechnete Reithinger für Polen und die Balkanstaaten noch im Laufe der damaligen Generation mit einem Zuwachs von 25  Mio. Menschen, während die Bevölkerung West- und Mitteleuropas schon beinahe stagniere. Wenn sich für diese neuen Menschenmassen keine Abwanderungsmöglichkeiten in das industrielle Erwerbsleben im In- oder Ausland schaffen ließen, würde die agrarische Siedlungsdichte in Osteuropa kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts dreimal so groß sein als in Westeuropa. Das Problem des europäischen Ostens in den darauf folgenden 30 Jahren werde der gewaltige Druck zur Verstädterung und Industrialisierung oder zur politischen Expansion sein.49 Derartige demografische Voraussagen spiegeln weniger zukünftige Entwicklungen, sondern eher damals aktuelle Denkweisen wider. Sie basieren auf den jüngsten Trends der Geburten- und Sterberaten, die sich ihrerseits kurzfristig und unerwartet ändern können.50 Nichtsdestotrotz prognostizierte Reithinger 1936 eine „ungewöhnlich starke Bevölkerungsvermehrung“ in den nächsten 25 Jahren in den Ländern Südosteuropas.51 Frangeš zitierte Reithingers Prognose zur Betonung der Dringlichkeit des „Problems“:

46 G[eorgi] Danaillow, Die soziale und wirtschaftliche Struktur Bulgariens, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 145 (1937), S. 322–339, hier S. 323. 47 Während in den Augen Hitlers der rumänische Bauer nur ein „armseliges Stück Vieh“ darstellte, genossen die Bulgaren in Deutschland einen guten Ruf als „Preußen des Balkans“. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, Stuttgart: Seewald 1963 [1951], S. 183; zur historischen Entwicklung des deutschen BulgarienBildes siehe Stefan Troebst, Von den „Preußen des Balkans“ zum „vergessenen Volk“, Das deutsche Bulgarien-Bild, in: Études Balkaniques 40 (2004), S. 62–72. 48 Karl Thalheim, Die Bevölkerungsbewegung in Europa, in: Wirtschaftsdienst 18 (1931), S. 759–763, hier S. 763. 49 Anton Reithinger, Das europäische Agrarproblem, in: Europäische Revue 8 (1934), S. 551–554, hier S. 553–554. 50 Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben, Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition 2005 [2004], S. 61. 51 1960 werde die Bevölkerungszahl Jugoslawiens 18,5 Mio. (1931: knapp 14 Mio.), Rumäniens 23,9 Mio. (1930: knapp über 18 Mio.) und Bulgariens 7,8 Mio. (1934: knapp über 6 Mio.) erreichen; Reithinger, Das wirtschaftliche Gesicht, S. 146; die Zahlen in Klammer sind Volkszählungsergebnisse, Statistisches Jahrbuch, S. 626:7.

Die wissenschaftliche Konstruktion der „agrarischen Übervölkerung“

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Tabelle 2  „Voraussichtliche Zunahme der Bevölkerung in einigen Ländern Europas in den Jahren 1930–1960“ Land Jugoslawien Rumänien Bulgarien Niederlande Deutsches Reich Großbritannien Frankreich

Steigerung der Bevölkerungsdichte in % + 32,5 + 32,2 + 31,3 + 20,7 + 5,6 + 3,9 – 9,9

Quelle: Frangeš, Problem relativne prenapučenosti, S. 4 und Bevölkerungsdichte als Triebkraft, S. 6; siehe auch Reithinger, Das wirtschaftliche Gesicht, S. 19 und 146.

Bedauerlich erschien den Wirtschaftsexperten, dass sich die nicht ausreichend genutzten Arbeitskräfte auf dem Land infolge der kleinbäuerlichen Agrarstruktur mit familienhafter Arbeitsverfassung nicht in eine zahlenmäßig fassbare Arbeitslosigkeit umsetzen ließen.52 So zielten die empfohlenen Maßnahmen entweder auf die Reduzierung der landwirtschaftlichen Bevölkerung oder auf die Transformation der „versteckten Arbeitslosigkeit“ in eine offene Arbeitslosigkeit (z.B. durch Rationalisierung und Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion), um mit neu geschaffenen, eindeutigen Tatsachen weitere Planungsschritte unternehmen zu können. Nationalsozialistische Wissenschaftler und Wirtschaftsplaner sahen in der Intensivierung der südosteuropäischen Landwirtschaft die Lösung des „Bevölkerungsproblems“. Ihre südosteuropäischen Fachkollegen traten dagegen für eine Industrialisierung Südosteuropas zur „Absorbierung der ländlichen Überschussbevölkerung“ ein, und dies über politische Unterschiede hinweg: So setzten sich sowohl linksgerichtete Vertreter der Bauernparteien in Jugoslawien (Rudolf Bićanić)53 und Rumänien (Virgil Madgearu)54 als auch Deutschland52 Karl Thalheim, Industrialisierung, Wirtschaftsstruktur und Volksordnung in Südosteuropa, in: Ostraumberichte NF (1942), S. 259–281, hier S. 263. 53 Bićanić, Agrarna prenapučenost, S. 25. Zum kroatischen Ökonomen und Politiker Bićanić (1905–1968) und seinen Ansichten zur „agrarischen Übervölkerung“ siehe Innerhofer, „Agrarische Übervölkerung“ in Südosteuropa, S. 268–286. 54 Virgil Madgearu, Evoluţia economiei româneşti după războiul mondial, Bukarest: Editura Ştiinţifică 1940, S. 150. Der Ökonom und Politiker Madgearu (1887–1940) war der führende Theoretiker des Agrarismus in Rumänien und wurde 1940 wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten von der Eisernen Garde ermordet; Keith Hitchins, Rumania 1866–1947, Oxford: Clarendon Press 1994, S. 320. Zum Agrarismus in Rumänien siehe Dietmar Müller, Agrarpopulismus in Rumänien, Programmatik und Regierungspraxis

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freundliche, konservative Wissenschaftler und Politiker (Otto Frangeš55 und sein rumänischer Fachkollege und Freund Mihail Manoilescu)56 für den Aufbau einer eigenen Industrie (in ländlichen, „übervölkerten“ Gegenden) ein. Auch für den nationalistisch eingestellten Ökonomen Stojan Stojanov stellte die Industrialisierung seines Landes Bulgarien die einzige Lösung der „Arbeitslosenfrage in der Landwirtschaft“ dar.57 Wissenschaftler in Südosteuropa nahmen Berechnungsmethoden und Denkmodelle aus Deutschland als Grundlage für ihre Arbeiten, ihre deutschen Kollegen wiederum übernahmen die Daten ihrer südosteuropäischen Kollegen, zogen aus ihnen in den meisten Fällen jedoch ihre eigenen Schlussfolgerungen. Wagemann merkte 1939 an, dass der Pessimismus eines Malthus’ von den Bevölkerungspolitikern des Balkans nicht geteilt wurde. Malthus hatte nicht voraussehen können, welche ungeheuren Fortschritte die Technik machen würde. So fand es Wagemann begreiflich, wenn für den Balkan ähnliche Entwicklungen vorausgesagt würden, wie Mittel- und Westeuropa sie im 19. Jahrhundert erfahren hatten, und wenn man aus südosteuropäischer Sicht in der Industrialisierung das beste Mittel zur Bekämpfung der „Übervölkerung“ sah.58 Wagemann hatte also durchaus Verständnis für die südosteuropäischen Industrialisierungsbestrebungen und für den von Manoilescu thematisierten ungleichen Tausch zwischen Agrar- und Industriestaaten – lehnte eine solche Wirtschaftspolitik aus scheinbar „unpolitischen“ Gründen als unwirtschaftlich ab.59 Stattdessen traten er und zahlreiche seiner deutschen Fachkollegen für eine Intensivierung und Rationalisierung der Landwirtschaft ein.60

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der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin: Gardez 2001 Frangeš, Problem relativne prenapučenosti, S. 28–40 und Bevölkerungsdichte als Triebkraft, S. 22–32. Mihail Manoilescu, Die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Westund Südosteuropa und die Wege der Eingliederung des Südostens in den europäischen Großwirtschaftsraum, in: Ostraumberichte NF (1943/44), S. 1–17, hier S. 16–17. Der einflussreiche, korporatistisch eingestellte Politiker und Ökonom (1891–1950) hatte in der Zwischenkriegszeit häufig in Deutschland publiziert, u.a. im Weltwirtschaftlichen Archiv. Er und Frangeš planten seit 1942 ein Gemeinschaftswerk mit dem Titel „Südosteuropa im europäischen Großwirtschaftsraum“; Ibid., S. 1. Stojan Stojanov, Novijat stopanski red i Bălgarija, in: Spisanie na Bălgarskoto ikonomičesko Družestvo 40 (1942), S. 137–158, hier S. 154–158. Wagemann, Der neue Balkan, S. 62. Ibid., S. 65–70. Ibid., S. 74–75; Ahlgrimm, Die Landwirtschaft des südosteuropäischen Raumes, S. 22 und 26; Thalheim, Industrialisierung, S. 263–264; Hans-Jürgen Seraphim, Die Eingliederung der Landwirtschaft des Donau- und Schwarzmeerraumes in die werdende

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1.  Die „agrarische Übervölkerung“ Südosteuropas in verwandten Diskursen Zentral in der wissenschaftlichen Debatte über die „landwirtschaftliche Übervölkerung“ waren der Einteilung von Francis Delaisi61 folgend die Konstruktion des Gegensatzes zwischen den modernen europäischen Industriestaaten (West-, Nord- und Teile Zentraleuropas) und den südosteuropäischen „Bauernstaaten“. Aus Vergleichen statistischer Daten zu wirtschaftlichen Faktoren der beiden Gruppen folgerten die Wissenschaftler die „Rückständigkeit“ des europäischen Südostens. Anton Reithinger sprach 1934 in seinem Aufsatz „Das europäische Agrarproblem“ von „europäischen Industrieländern“, „randeuropäischen Agrargebieten“ und vom „Problem der landwirtschaftlichen Übervölkerung der gesamten östlichen Hälfte Europas.“62 Er sah die „demographischen Spannungen“ zwischen dem agrarischen Osten und Südosten und der größtenteils industrialisierten Mitte und dem Norden und Westen Europas rasch anwachsen.63 Die Angst vor der „Bedrohung einer Überflutung durch geburtenstarke Fremdvölker aus dem Osten“ entwickelte sich in Deutschland bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Obsession in den Wissenschaften in Deutschland64 und fand auch ihren Eingang in die Diskussion über die „landwirtschaftliche Übervölkerung“ in Südosteuropa. Dabei traf die Verachtung von Armut und „Rückständigkeit“ mit den traditionellen antislawischen Ressentiments vieler deutscher Intellektueller zusammen.65 1931 schrieb der Wirtschaftssoziologe Karl Thalheim,66 dass sich die Geburtenziffern am Balkan, in Polen und besonders in

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kontinentaleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft, in: Donaueuropa 2 (1942), S. 403–418, hier S. 406–407. Der französische Ökonom und Journalist (1873–1947) teilte Europa 1929 in ein Europa A (Industriestaaten/Westen) und ein Europa B (Agrarstaaten/Osten) ein; Francis Delaisi, Les deux Europes, Paris: Payot 1929, S. 225. Mihail Manoilescu sah 10 Jahre später wiederum den „biologischen Gegensatz“ zwischen einem „stagnierenden“ West- und Nordeuropa und einem geburtenreichen Zentral- und Osteuropa als unüberbrückbar an; Mihail Manoilescu, Die drei Europa, in: Europäische Revue 15 (1939), S. 191–198, hier S. 196. Reithinger, Das europäische Agrarproblem, S. 551. Anton Reithinger, Das europäische Bevölkerungsproblem, in: Europäische Revue 10 (1934), S. 607–611, hier S. 610. Josef Ehmer, „Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik“ in der neuen historischen Forschung, in: Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“, Opladen: Leske + Budrich 2004, S. 21–44, hier S. 26–27. Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 63. Karl Thalheim (1900–1993) habilitierte 1928 an der Handelshochschule in Leipzig und erhielt 1932 einen Lehrauftrag für „Wirtschaftssoziologie und Sozialpolitik“ an deren Weltwirtschaftsinstitut, dessen Direktor er 1940 wurde. Ab 1941 gehörte er dem wissenschaftlichen Beirat des „Zentralforschungsinstituts für nationale Wirtschaftsordnung und Großraumwirtschaft“ an, welches aus der von Werner Daitz gegründeten „Gesellschaft

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der Sowjetunion noch immer auf einer Höhe hielten, die keinerlei „Rationalisierung des Sexuallebens”67 erkennen ließen. Thalheim befürchtete eine „Infiltration Angehöriger fremden Volkstums.“68 Allerdings könne man Thalheim zufolge (anhand der Tschechoslowakei) „mit völliger Sicherheit den Nachweis führen, dass das Slawentum an sich nicht gegen den Geburtenrückgang immun ist.“69 Wenn sich die augenblickliche Geburtenziffer nicht wesentlich erhöhe, sah Reithinger die germanische Gruppe in Zukunft stärker „an Boden verlieren“, während die „slawische Völkergruppe“ um die Mitte des 20. Jahrhunderts bereits etwa die Hälfte der Bevölkerung Europas ausmachen werde.70 Hier kommt unter dem Deckmantel der „Übervölkerung“ der diskriminierende Charakter von Fertilitätspolitik zum Vorschein. Noch „gefährlicher“ gestaltete sich in den Augen der Bevölkerungsexperten die Lage für die „Hauptsiedlungsgebiete des Deutschtums“ in Südosteuropa. In einem Artikel im Weltwirtschaftlichen Archiv aus dem Jahr 1935 erinnerte der Ökonom Peter-Heinz Seraphim an die Maßnahmen Österreichs gegen die Zuwanderung aus dem Königreich Serbiens und verwies zugleich auf das „Problem“ der Binnenwanderung in den nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Staaten „Zwischeneuropas“: „kulturell primitive“, aber besonders geburtenreiche und unter starkem „Bevölkerungsdruck“ stehende Bevölkerungsteile aus den Randgebieten der neuen Staaten hätten nun die Möglichkeit gehabt, ihren „Lebensspielraum“ auf Kosten höher entwickelter Bevölkerungsteile (hier wird Seraphim nicht zuletzt die Deutschen meinen) auszuweiten.71

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für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft“ in Dresden entstanden war; Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur: Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster: LIT 1996, S. 522. Dazu siehe Julius Wolf, Der Geburtenrückgang: die Rationalisierung des Sexuallebens unserer Zeit, Jena: Fischer 1912. Zu Leben und Werk von Wolf siehe Hubert Kiesewetter, Julius Wolf 1862–1937 – zwischen Judentum und Nationalsozialismus: eine wissenschaftliche Biographie, Stuttgart: Steiner 2008. Thalheim, Die Bevölkerungsbewegung in Europa, S. 760. Ibid., S. 763. Zu den zu dieser Zeit im Aufschwung befindenden Geburtenrückgangstheorien siehe u.a. von Ursula Ferdinand, Der Geburtenrückgang als Herausforderung für die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“: zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden: VS 2009, S. 229–290. Reithinger, Das europäische Bevölkerungsproblem, S. 609–610; vgl. auch Tabelle 2. Peter-Heinz Seraphim, Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau, in: Weltwirtschaftliches Archiv 41 (1935), S. 385–402, hier S. 388. Auch die Verwendung des Begriffs der „agrarischen Übervölkerung“ zu antisemitischen Zwecken ist in erster Linie mit dem Namen Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Dozent am Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg,

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Konkret sorgte sich Johann Wüscht (1897–1976), Gründer der volksdeutschen Genossenschaften und Leiter der statistischen Arbeitsstelle der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien,72 über die demografischen Entwicklungen in der Vojvodina. Diese verfügte über die niedrigste agrarische Bevölkerungsdichte in Jugoslawien. Trotz der „großen innenbedingten Aufnahmefähigkeit des Gebietes“73 hätte der dortige Bevölkerungszuwachs nur 6  % erreicht. Die Vojvodina sei einem von Süden kommenden „dynamischen Bevölkerungsdruck“ ausgesetzt. Bedenklich erschien Wüscht die „erhebliche Vergrößerung“ des slawischen Bevölkerungsanteils nach dem Ersten Weltkrieg. Alarmiert zeigte er sich darüber, dass im Jahrzehnt 1921–1931 die durchschnittliche Zuwachsrate der Slawen mit 15,3 % sogar fast die des Staates erreicht hätte – trotz der „unzulänglichen natürlichen Vermehrung“ der in der Vojvodina „bodenständigen slawischen Wohnbevölkerung.“74 Dafür würden die (den Bevölkerungsdruck durch Migration ausübenden) Menschen in den südlichen Regionen Jugoslawiens oft schreibunkundig auf niedrigem Niveau leben und hätten in ihrer „Armseligkeit“ außer einer „großen generativen Frische“ auch eine starke Neigung für „sozialen Radikalismus“.75

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verbunden. Der Bruder von Hans-Jürgen Seraphim sah einen Grund für den „bevölkerungsmäßigen Überdruck auf dem Land“ darin, dass die Nachkommen der landwirtschaftlichen Bevölkerung durch das jüdische Element in den Städten des Ostens daran gehindert wurde, in den Städten ihren Lebensunterhalt zu finden. Die Städte seien gleichsam durch die Juden „blockiert“ worden; Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungsund wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: Weltkampf 18 (1941), S.  43–51, hier S. 45. Zu Leben und Werk von Peter-Heinz Seraphim siehe Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie, Ostforschung, Politik: eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Osnabrück: fibre 2007. Thomas Casagrande, Die volksdeutsche SS-Division „Prinz Eugen“: die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, Frankfurt a.M.: Campus 2003, S.  23; Christian Promitzer, Täterwissenschaft: Das Südostdeutsche Institut in Graz, in: Mathias Beer/Gerhard Seewann (Hrsg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches, Institutionen – Inhalte – Personen, München: Oldenbourg 2004, S. 93–113, hier S. 108. Zur zeitgenössischen Diskussion über die „Aufnahmefähigkeit“ oder „Tragfähigkeit“ eines Gebietes siehe Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 29–32. Johann Wüscht, Wesen und Grundlagen der natürlichen Bevölkerungsbewegung in Jugoslawien, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 8 (1938), S. 164–180, hier S. 167. Ibid., S. 179.

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Karte 1  „Bevölkerungsdichte Jugoslawiens“

Quelle: Wüscht, Bevölkerungsbewegung in Jugoslawien, S. 176.

Die Gefahr sozialer Unruhen war auch für Frangeš eine ernste Folge der „Übervölkerung“: Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit für die Kinder, Unzureichende Beschäftigung und Unzufriedenheit würden eine „proletarische Stimmung“ schaffen und die Bauern dazu veranlassen, jede Bestrebung zu unterstützen, welche irgendeine Verbesserung der Lage verspräche.76 Manoilescu beschrieb die Situation folgendermaßen: „Die Arbeiter, deren Arbeitskraft in der Landwirtschaft weniger und weniger benötigt wird und deren persönlicher Verbrauch den Wert ihrer Arbeitserzeugung zu überschreiten droht, stellen vom wirtschaftlichen Standpunkt aus eine überzählige und vom sozialen Standpunkt aus eine unglückliche Schicht dar. Sie bilden die Klasse der Un76 Frangeš, Problem relativne prenapučenosti, S. 26–27; Oberländer teilte diese Meinung mit Frangeš; Oberländer, Überbevölkerung Ostmitteleuropas, S. 422.

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terbeschäftigten, und ihr überflüssiges Leben bringt sie der Verzweiflung nahe und lässt sie zu einer großen Gefahr für die soziale Ordnung werden.“77

Auch Danailov sah durch den Zuwachs der Landbevölkerung und die mangelnde Aufnahmefähigkeit des Agrarsektors „soziale Störungen und Übel“ auf Bulgarien zukommen.78 Hier tritt ein spätestens seit dem 19. Jahrhundert präsentes Kernmerkmal von Überbevölkerungsdiskursen zum Vorschein, welches den armen Bevölkerungsteil als revolutionäre Bedrohung deutete.79 Die Attraktivität des Überbevölkerungskonzepts lag Josef Ehmer zufolge gerade darin, komplexe gesellschaftliche Probleme wie Armut, Hunger oder soziale Unruhen und Revolutionen auf quasi naturgesetzliche Weise zu erklären.80 Aber auch aus eugenischer Sicht meinten viele Wissenschaftler ein äußerst negatives Bild der Landbevölkerung Südosteuropas zeichnen zu müssen.81 In der Absicht, westeuropäischen Agrarpolitikern zu widersprechen, die glauben würden, es sei ein Idealzustand, wenn möglichst viele Menschen auf dem Lande und von der Landwirtschaft lebten, hielt Hollmann fest, dass Menschen, die wie in Südosteuropa auf dem Land „lediglich vegetieren“, in „eugenetischer Hinsicht“ das „denkbar schlechteste Menschenmaterial darstellen“ würden. Wertvoll für die Gesellschaft und den Staat seien nur „kämpfend voranschreitende wirkliche Bauern.“82 In Deutschland propagierte der Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer (1890–1967) eine gesunde und kinderreiche Bauernschaft als biologische Grundlage des deutschen Volkes.83 77 Mihail Manoilesco, Das wirtschaftliche und soziale Dreieck der Agrarstaaten: die Stadt, das Dorf, das Ausland, in: Internationale Agrar-Rundschau 6 (1940), S. 3–15, hier S. 14. 78 Danaillow, Struktur Bulgariens 1937, S. 335. Thalheim ortete zwar durch die „ländliche Uebervölkerung“ hervorgerufenen „Strömungen agrarkommunistischer Natur“, hielt jedoch die Folgen der angestrebten Industrialisierung (soziale Nöte und Spannungen, Klassenkampf, „Erschütterung der lebenswichtigen Grundlagen völkischer Existenz“) für weitaus gefährlicher; Thalheim, Industrialisierung, S. 274. 79 Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, S. 159. 80 Ehmer, Migration und Bevölkerung, S. 23. 81 Zum internationalen eugenischen Diskurs siehe u.a. Peter Weingart/Jürgen Kroll/ Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 und Marius Turda/Paul Weindling, Blood and Homeland: Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe, 1900–1940, Budapest/New York: Central European Univ. Press 2007. 82 Hollmann, Agrarverfassung und Landwirtschaft, S. 68–69. 83 Friedrich Burgdörfer, Land ohne Bauern – Volk ohne Jugend, in: Odal 8 (1939), S. 635– 648, hier S. 647. Zu Leben und Werk von Burgdörfer siehe Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967), Eine diskursbiographische Studie zur Geschichte der deutschen Demographie im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2010. Zu den nationalsozialistischen Plänen zur „Erhaltung des Bauerntums“ siehe Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung,

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Die Geburtenkontrolle wurde bereits von Malthus’ Nachfolgern als die Lösung der „Übervölkerungsfrage“ angesehen und war auch im Deutschland der Zwischenkriegszeit ein heftig diskutiertes Thema.84 Obwohl die Übervölkerungstheoretiker die Bevölkerungszunahme als Hauptursache für den Zustand der „agrarischen Übervölkerung“ in Südosteuropa identifiziert hatten, rieten sie doch selten zur Geburtenbeschränkung. Der Bevölkerungssoziologe und Volkstumshistoriker Helmut Haufe (1906–1943) sprach 1939 von der Möglichkeit des rumänischen Bauern, dem „Übervölkerungsdruck“ durch eine Einschränkung des Nachwuchses auszuweichen.85 Aus der Sicht von Frangeš konnte die Beschränkung der Geburten das „Problem“ zwar lösen, jedoch lasse sich diese kaum auf eine humane Art durchführen.86 Darüber hinaus waren die Machthabenden in Südosteuropa im Sinne der Nationsbildung an einem zahlenmäßigen Anstieg der Bevölkerung der jeweils eigenen Nation interessiert. Einer der Gründe für die Zurückhaltung auf deutscher Seite ist zunächst darauf zurückzuführen, dass es sich bei den südöstlichen Donaustaaten größtenteils um Verbündete handelte – in wehrwirtschaftlichen Überlegungen während des Zweiten Weltkriegs sprachen nationalsozialistische Experten sogar von einem infolge der hohen Geburtenzahlen „überaus günstigen“ Altersaufbau und der daher zahlreicheren wehrfähigen Jahrgänge in Südosteuropa.87 Der andere hängt mit der Südosteuropa zugedachten Rolle als Arbeitskräftequelle und Absatzmarkt für Industrieerzeugnisse aus Deutschland in der deutschen wirtschaftlichen Neuordnung Europas nach gewonnenem Krieg zusammen.

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Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München: Siedler 2007 [2006], S. 201–239. Zur Debatte über Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik siehe Cornelie Usborne, Frauenkörper – Volkskörper: Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster: Westfälisches Dampf boot 1994 [1992]. Helmut Haufe, Die Wandlung der Volksordnung im rumänischen Altreich, Agrarverfassung und Bevölkerungsentwicklung im 19. u. 20. Jahrhundert, Stuttgart: Kohlhammer 1939, S. 209. Otto Frangeš, Die sozialökonomische Struktur der jugoslawischen Landwirtschaft, Berlin: Weidmann 1937, S. 117. Südosteuropa-Gesellschaft, Industrieplanung und das Wehrproblem (1942), BA R63/302, Bl. 103–104.

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2.  Die Verzahnung von wissenschaftlichem Konzept und wirtschaftspolitischen Zielen88 Das deutsche Großwirtschaftsraumkonzept war geprägt von der Verknüpfung antisemitischer und rassistischer Weltbilder mit massiven staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben und gab unter dem Schlagwort „Mitteleuropa“ die Richtung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Expansion an. Innerhalb des Wirtschaftsblocks sollte die Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen sichergestellt werden. Einer hierarchischen Ordnung folgend sollten die Länder Südosteuropas ihre Produktionsstruktur auf die Bedürfnisse Deutschlands ausrichten und diese „ergänzungswirtschaftlich“ mit Rohstoffen und Lebensmittel beliefern. Gleichzeitig sollten sie als Absatzmarkt für die Industrieexporte der Führungsmacht dienen. Eine eigenständige Entwicklung der südöstlichen Staaten in Richtung Industrialisierung sollte zugunsten einer hierarchisch geordneten Arbeitsteilung im Großraum verhindert werden.89 So spielte in fast allen sozialökonomischen Betrachtungen der südosteuropäischen Staaten die Kritik an der geringen landwirtschaftlichen Produktivität – wurzelnd in der vorherrschenden bäuerlichen Selbstversorgungswirtschaft, den extensiven Anbaumethoden, der geringen Mechanisierung der Landwirtschaft und der Bodenzersplitterung (alles wirtschaftliche Gegebenheiten, welche in ein „Bevölkerungsproblem“ umgedeutet wurden)90 – eine bedeutende Rolle, da die Südost-Ökonomien in ihren bestehenden Formen nur unzureichend in den geplanten Großwirtschaftsraum hätten integriert werden können.91 Die Befürchtung, Deutschland werde wegen des südosteuropäischen Bevölkerungswachstums in Zukunft keine landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Region einführen können, war in vielen Arbeiten präsent: „Wenn wir dann weiter den jährlichen Bevölkerungszuwachs von rund 200 000 Menschen rechnen und den immer größer werdenden Bedarf an Weizen für die Ernährung der Städte und auch der Landbevölkerung, so müssen wir auch damit einmal rech88 Im Folgenden können anhand der bearbeiteten Quellentexte nur einige Zusammenhänge angedeutet werden. Eine umfassende Kontextualisierung ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. 89 Drews, Die „Nazi-Bohne“, S. 193–197. Ausführlich siehe Klaus Thörner, „Der ganze Südosten ist unser Hinterland“: deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Freiburg: ça ira 2008, S. 315–546. 90 Dieser Vorgang lässt sich als „Demografisierung“ wirtschaftlicher und sozialer Probleme kennzeichnen; Eva Barlösius, Die Demographisierung des Gesellschaftlichen, Zur Bedeutung einer Repräsentationspraxis, in: Dies/Daniela Schiek (Hrsg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen, Wiesbaden: VS 2007, S. 9–36. 91 Gutberger, Raum und Sozialstruktur, S. 422; siehe Oberländer, Überbevölkerung Ostmitteleuropas, S. 420.

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nen, daß das im Inland produzierte Getreide ganz im Inland verbraucht wird und daß schließlich ein Fehlbetrag in der Versorgung des Landes mit Weizen entsteht, wenn nicht an eine Intensivierung der Landwirtschaft geschritten wird.“92

Getreideüberschüsse würden nicht durch die Höhe der Ernte, sondern durch die Höhe des Selbstverbrauchs bestimmt. Nationalsozialistische Wirtschaftsplaner hatten diese Feststellung als Schlüsselpunkt, auf welchen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion aufbauen sollten, hervorgehoben. Da Deutschland unter allen Umständen Überschüsse brauche, müsse der Konsum der Bevölkerung herabgedrückt werden. Die dabei „zweifellos eintretende Hungersnot“ gehörte zum festen Bestandteil der deutschen Wirtschaftsplanung, welche sich dabei mit der Vernichtungspolitik verschränkte.93 Deutsche Experten untermauerten auch den Anspruch Deutschlands auf die Einbeziehung Südosteuropas in seinen „Großwirtschaftsraum“ mit demografischen Argumenten. Anton Reithinger deutete 1934 auf das Problem hin, dass die Bevölkerung Italiens kaum weniger stark wachse als die der südosteuropäischen Agrargebiete. Dass Italien diese Gebiete in seine wirtschaftspolitische Interessenssphäre einbeziehe, gebe eine Vorstellung von der Problematik und den künftigen Schwierigkeiten der italienischen Balkanpolitik.94 Die Andeutung, dass Deutschland aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur einen legitimeren Anspruch auf die Einbeziehung Südosteuropas in seine wirtschaftspolitischen Interessen habe, lässt sich hier schwer wegdenken. Die Rationalisierung und Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion war eines der wichtigsten deutschen Ziele in Südosteuropa. So war der Mitteleuropäische Wirtschaftstag (MWT) davon überzeugt, dass die Region in den nachfolgenden Jahrzehnten „der grösste und sogar fast der ausschliessliche Lebensmittellieferant Grossdeutschlands“ werden könne.95 Der MWT, in welchem die wichtigsten deutschen Banken, die Vorsitzenden des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und Handelskammer sowie hochrangige Vertreter von Siemens, der IG Farben und der nordwestdeutschen Schwerindustrie vertreten waren, beteiligte sich an der „Erschließung des Südostens“ nicht nur mit wirtschaftskonzeptionellen Überlegungen, sondern setzte vor Ort praktische Projekte um (z.B.

92 Michael Rothmann, Die Getreidewirtschaft Rumäniens, Berlin: Reichsnährstand 1940, S. 39. 93 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg: Hamburger Edition 1999, S. 49. 94 Reithinger, Das europäische Agrarproblem, S. 554. 95 Mwt (v. Wilmowsky, Jacob, Dietrich), Südosteuropa als wirtschaftlicher Ergänzungsraum für Deutschland 1939, BA R63/294a und 294b, Bl. 169.

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die Errichtung landwirtschaftlicher Beispielsdörfer und Stipendienprogramme für südosteuropäischen Studenten).96 Aus der Sicht des Agronomen Theodor Oberländers97 war die enge wirtschaftliche Anlehnung der Südostländer an Deutschland ein wichtiger Anfang für die „Linderung der Folgen der agrarischen Übervölkerung“. Deutschland hätte dazu in erster Linie mit Projekten zum intensiven Anbau von Futter- und Industriepflanzen wie dem von der IG Farben initiierten Anbau von Sojabohnen beigetragen. Die Belieferung der Südoststaaten mit deutschen Industrieprodukten könne künftig demgegenüber zu einer weitgehenden „Entlastung“ führen.98 Eine Intensivierung der Landwirtschaft in Form einer Umstellung der Agrarproduktion vom Getreideanbau auf arbeitsintensive Industriepflanzen würde den Experten in Deutschland zufolge bislang „unproduktive Esser“ in den Arbeitsprozess einbinden und zur „Beseitigung“ der „Übervölkerung“ beitragen.99 In einem Teilgutachten zum geplanten „Generalgutachten Südosteuropa“ der Südosteuropa-Gesellschaft (SOEG)100 von Mai 1942 wurde ganz offen über die Bewahrung der Agrarstruktur der Balkanländer in der deutschen Großraumwirtschaft gesprochen: „Wenn man sich über die eigenen Ansichten der Südostländer hinwegsetzen will, ist mit deren Widerstand zu rechnen, besonders dann, wenn sie befürchten müssen, dass die Einfügung in den Grossraum auf die Verewigung ihres Agrarstaatcharakters hinausläuft. Die ursprünglichen politischen Kräfte dieses Landes bilden sich nun einmal

96 Martin Seckendorf, Entwicklungshilfeorganisation oder Generalstab des deutschen Kapitals? Bedeutung und Grenzen des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages, in: 1999 8 (1993), S. 10–33. 97 Oberländer (1905–1998) war als Direktor des Königsberger Instituts für Ostdeutsche (ab 1934 Osteuropäische) Wirtschaft seit 1933 Peter-Heinz Seraphims Vorgesetzter; Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), Frankfurt a.M.: Campus 2000, S. 35–38. 98 Oberländer, Überbevölkerung Ostmitteleuropas, S. 422–423, siehe auch Fassbender, Probleme des wirtschaftlichen Neubaus, S. 619 und Hans-Jürgen Seraphim, Die Eingliederung der Landwirtschaft, S. 406. 99 Drews, Die „Nazi-Bohne“, S. 225–226. 100 Die SOEG mit Sitz in Wien wurde Anfang 1940 offiziell von Reichwirtschaftsminister und Präsident der Reichsbank Walther Funk mit dem Ziele gegründet, die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu den Südostländern zu festigen und auszubauen. Zwischen MWT und SOEG entwickelte sich ein Rivalitätskampf um die Frage, wer den meisten und entscheidenden Einfluss auf die Steuerung der deutschen Südosteuropa-Politik zu beanspruchen habe; Schumann, Griff nach Südosteuropa, S. 54–58. Zum Generalgutachten auch Michael Riemenschneider, Die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber Ungarn 1933–1944, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1987, S. 214–217.

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ein, ideologisch und tatsächlich auf Grund der agrarischen Übervölkerung auf Industrialisierung drängen zu müssen.“101

Dabei müsse Industrialisierung gar nicht zum Credo der Südostländer gehören, so ging der Gedankengang im Gutachten weiter, vielleicht werde der Großraum andere Möglichkeiten haben, „die agrarische Übervölkerung zu absorbieren“, z.B. durch Wanderarbeiter, Umsiedlung Richtung Osten usw.102 Die Idee, größere Arbeitermengen aus dem Südosten nach Deutschland zu holen, hatte Otto Donner, Leiter der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft,103 in einem Bericht im Dezember 1941 ausgeführt. Die Ausbeutung südosteuropäischer Arbeitskräfte für deutsche Zwecke beschrieb er euphemistisch als „Erleichterung des Bevölkerungsüberdruckes“ in Südosteuropa. Ihm zufolge würde sich bei der „agrarischen Übervölkerung“ jener Gebiete ein solcher Menschenentzug wahrscheinlich nur als Verminderung „der Esser“, nicht aber als Verminderung der Arbeitsleistungen bemerkbar machen.104 Die Ansichten Donners teilte auch Staatssekretär Erich Neumann, Chef des Stabsamtes des Vierjahresplans, welcher sich Ende Jänner 1941 sehr viel von der Übernahme großer Wanderarbeiterkontingente aus Südosteuropa versprach.105 Unterdessen diente der Verweis auf eine nötige „Absorbierung“ des „ländlichen Bevölkerungsüberschusses“ den nach Modernisierung und Autarkie stre101 SOEG, 30. Mai 1942 zum Generalgutachten (1942), BA R63/302, Bl. 126. 102 Ibid. Auf dem Gebiet der Sowjetunion diente das Überbevölkerungskonzept den nationalsozialistischen Raum- und Wirtschaftsplanern zur Legitimation des Hungertodes „vieler 10 Millionen Überflüssiger“, welche auf Kosten der Versorgung Europas mit Lebensmittel leben würden; Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung: Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg: Hoffmann und Campe 1991, S. 372–373. 103 Die Forschungsstelle für Wehrwirtschaft war eine Einrichtung der Vierjahresplanbehörde und konzentrierte sich auf die bevölkerungspolitischen Aspekte der Wirtschaftspolitik im europäischen Großraum unter deutscher Führung; Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 54–57 und 347–350. 104 Otto Donner, Betr.: Südosteuropa (1940), RGVA 1458/29/140, Bl. 21. Siehe dazu Milan Ristović, Südosteuropa als Ergänzungsquelle für Arbeitskräfte der deutschen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg, in: Ulf Brunnbauer/Andreas Helmedach/ Stefan Troebst (Hrsg.), Schnittstellen, Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa, München: Oldenbourg 2007, S. 285–300. 105 Der Chef des Stabsamtes des Vierjahresplans an das Auswärtige Amt (1941), BA R2/10382, Bl. 26. Zu den wirtschaftspolitischen Zielen Deutschlands in Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs siehe auch Holm Sundhaussen, Wirtschaftsgeschichte Kroatiens im nationalsozialistischen Großraum 1941–1945, Das Scheitern einer Ausbeutungsstrategie, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983 und Karl-Heinz Schlarp, Wirtschaft und Besatzung in Serbien 1941–1944, Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik in Südosteuropa, Stuttgart: Steiner 1986.

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benden südosteuropäischen Eliten als Argument für die Industrialisierung ihrer Länder. Der Umstand, dass sich mit staatlich subventionierten Industriebetrieben schneller Gewinne erzielen ließen als mit Investitionen in die Landwirtschaft, in welcher man nicht mit schnellen Erfolgen rechnen konnte, war vermutlich auch ein Grund dafür, dass sich die meisten Befürworter der Industrialisierung unter den südosteuropäischen Eliten befanden.106 Eine oft gehörte Formulierung war, dass das südosteuropäische Bauerntum erst an marktwirtschaftliches Denken „gewöhnt werden“ müsse.107 Hier wird auch die Gemeinsamkeit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und den Modernisierungsbestrebungen der südosteuropäischen Eliten deutlich: die Überbevölkerungskonstruktion wurde von den Wirtschaftsplanern benutzt, um einen Strukturwandel der Landwirtschaft herbeizuführen, welcher auf die Zerstörung der Subsistenzwirtschaft abzielte.108 Während für die südosteuropäischen Eliten die bäuerliche Bevölkerung dadurch zu Abnehmern der heimischen Industrie werden sollte, verfolgte Deutschland in Südosteuropa durch die Zerstörung der Subsistenzproduktion das Ziel der Steigerung der Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach Deutschland und des Aufbaus neuer Absatzmärkte für Industriewaren. Dazu sollten die Einführung nicht essbarer Industrie- und Nutzpflanzen und der Aufbau handelspolitischer Abhängigkeiten durch Lieferung von aufeinander abgestimmten Paketen von Saatgut, Pestiziden und Dünger dienen. Ähnlich gingen in den 1950er und 1960er Jahren international agierende Chemiekonzerne bei der Umstrukturierung des landwirtschaftlichen Sektors in den Ländern der „Dritten Welt“ vor, während sich die UNO und die FAO bei ihrer Entwicklungshilfe an den Beispieldörfer des MWT orientierten.109 Eugene M. Kulischer berichtete in einer 1943 während seiner Arbeit für die ILO entstandenen Studie über Bevölkerungsverschiebungen in Europa im Zuge 106 Zur Vernachlässigung des landwirtschaftlichen Sektors von Seiten der Politiker in Südosteuropa siehe Sundhaussen, Die verpasste Agrarrevolution, S. 45–60 und Marie-Janine Calic, Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941: der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung, München: Oldenbourg 1994, S. 218–440. 107 Z.B. bei Otto Schulmeister, Werdende Großraumwirtschaft, Die Phasen ihrer Entwicklung in Südosteuropa, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1942, S. 159. 108 In dieser Hinsicht nahm Bulgarien innerhalb der Balkanstaaten eine gewisse Sonderstellung ein, hier zielten die Wirtschaftsplanungen nicht primär auf die Beseitigung der Selbstversorgungswirtschaft. Thomas M. Bohn, Bulgariens Rolle im „wirtschaftlichen“ Ergänzungsraum, Hintergründe für den Beitritt zum Dreimächtepakt am 1. März 1941, in: Christoph Dieckmann [u.a.] (Hrsg.), Besatzung und Bündnis, Deutsche Herrschaftsstrategien in Ost- und Südosteuropa, Berlin: Verlag der Buchläden Schwarze Risse, Rote Strasse 1995, S. 111–138, hier, S. 127. 109 Drews, Die „Nazi-Bohne“, S. 99; Thörner, „Der ganze Südosten ist unser Hinterland“, S. 453.

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des Zweiten Weltkriegs, dass in Südosteuropa Achsen-freundliche Staaten wie Ungarn und Bulgarien die Gelegenheit genutzt hatten, ihre wirtschaftliche und demografische Lage auf Kosten der besiegten Länder zu verbessern. Der stark von der Theorie Malthus’ beeinflusste Kulischer führte die Motivation hinter den Aussiedlungen auf die „Übervölkerung“ in den Ländern Südosteuropas zurück.110 In den von Bulgarien besetzten Gebieten Südserbiens und Vardar-Mazedoniens wurde Land von getöteten oder nach Serbien deportierten Serben von der bulgarischen Regierung unter bulgarischen Bauern aufgeteilt. Im Frühling 1942 plante die bulgarische Regierung die Ansiedelung von bulgarischen Bauern in den bisher von Griechenland annektierten „ägäischen Provinzen“.111 Tatsächlich boten die Grenzverschiebungen in Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs den Experten ein neues Betätigungsfeld, so untersuchten bulgarische Ökonomen die Möglichkeiten, welche die territorialen Zuwächse Bulgariens bei der Lösung des „Übervölkerungsproblems“ des Landes bieten könnten. Aus einer Selbstverständlichkeit heraus schrieb 1942 Stojan Stojanov über die Vertreibung anderer Nationalitäten aus Bulgarien: „Die Anzahl der latenten Arbeitslosen in der Landwirtschaft wird mit etwa 800.000 angegeben. Die neubefreiten Gebiete werden keine Lösung der Arbeitslosenfrage bringen, da sie meist mit Bulgaren besiedelt sind, so dass hierin bloss die ägäische Provinz in Frage käme, deren Besiedlung jedoch von der Aussiedlung der dorthin 1918 eingewanderten Griechen abhängig ist.“112

Mit dem Verweis auf die „Übervölkerung“ wurden im Unabhängigen Staat Kroatien die Bemühungen, „das kroatische Land von den serbischen ‚Kriegsfreiwilligen’ zu säubern, die durch die serbische Agrarreform 1921 in Kroatien angesiedelt worden waren“, mit wirtschaftlichen Argumenten untermauert. Ihre Vertreibung und die Enteignung ihrer Landbesitze durch eine bereits am 18. April 1941 erlassene Gesetzesverordnung und die darauf folgende Ansiedlung von über 50.000 Kroa110 Eugene M. Kulischer, The displacement of population in Europe, Montreal: ILO 1943, S.  77. Kulischer (1881–1956) war Demograf und Migrationsexperte russisch-jüdischer Herkunft. Er prägte den Begriff „displaced persons“ und hatte während seines Lebens Zwangsmigrationen am eigenen Leib erfahren. Zu seiner Person und seiner Bevölkerungsforschung siehe Mathias Beer, Bevölkerungsumsiedelungen als Thema der westeuropäischen und amerikanischen Forschung des 20. Jahrhunderts, Entwicklungslinien, Phasen, Spezifika, in: Ralph Melville/Jiří Pešek/Claus Scharf (Hrsg.), Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa, Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950), Mainz: von Zabern 2007, S. 141–177, hier S. 150–156. 111 Ibid., S. 80–82. 112 Stojanov, Novijat stopanski red, S. 158. Zu den Migrationen zwischen Bulgarien und Griechenland in der Zwischenkriegszeit siehe Theodora Dragostinova, Navigating Nationality in the Emigration of Minorities between Bulgaria and Greece 1919–1941, in: East European Politics and Societies 23 (2009), S. 185–212.

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ten bzw. 7.500 „meist sehr kinderreichen Familien“ aus den „übervölkerten, passiven Gegenden Kroatiens“ bezeichnete der den Ustaša nahe stehende Ökonom Bogumil Andrašević als „eine in der Tat große Leistung“.113 Die damals übliche Tarnsprache der „Aussiedelung“ begriff im Rahmen dieser demografischen Neuordnung Kroatiens auch die Ermordung Hunderttausender serbischer Männer, Frauen und Kinder mit ein. Die Volkswirtschaftliche Abteilung der IG Farben erblickte in den Massakern der Ustaša einen „konstruktiven Beitrag“ zur Lösung des Problems der starken „agrarischen Übervölkerung“ in Teilen Kroatiens.114

III.  Schlussbetrachtung Letztere Ausführungen zeigten, dass der Terminus „agrarische Übervölkerung“ immer wieder vorgeschoben wurde, um politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, während strukturelle Schwächen der südosteuropäischen Wirtschaften und die Kritik an der geringen Produktivität der Landwirtschaft unter dem Deckmantel des Konzepts auf die Bevölkerung abgewälzt wurden. Die Bevölkerung wurde von den Übervölkerungstheoretikern nicht mehr als Ressource, sondern als Problem und/oder Bedrohung wahrgenommen.115 Für die Wissenschaftler waren „Unterproduktivität“ und „Unterbeschäftigung“ die Symptome des „Bevölkerungsdrucks“. Während die Armut in den südosteuropäischen Dörfern erkennbare politische Hintergründe hatte, wurde sie in einer Vielzahl ökonomischer Analysen als eine Folge der „Krankheitserscheinung Übervölkerung“ dargestellt.116 Die wissenschaftliche Diskussion über „agrarische Übervölkerung“ in Südosteuropa machte die Menschen zu Objekten, deren „unproduktive Existenz“ durch ihre Vermehrung und Bodenhaftung selbstverschuldet sei und die „produktiv“ in einer neuen Wirtschaftsordnung eingesetzt werden sollten. Wie viele Menschen in einem Land oder Wirtschaftssektor als „überflüssig“ galten, war definitionsab113 Bogumil Andrašević, Die Wirtschaftspolitik des Unabhängigen Staates Kroatien, in: Ostraum-Berichte NF (1942), S. 317–339, hier S. 323. Zur Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus dem Unabhängigen Staat Kroatien siehe Milan Ristović, Zwangsmigrationen in den Territorien Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg: Pläne, Realisierung, Improvisation, Folgen, in: Melville [u.a.] (Hrsg.), Zwangsmigrationen, S. 309–330, hier S. 311–316. 114 Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 362–363. Zu den Zusammenhängen zwischen Wissenschaft und Vertreibung im 20. Jahrhundert siehe ibid. und Heinemann/ Wagner (Hrsg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. 115 Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, S. 23 und 29. 116 Vgl. Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung, S. 46.

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hängig und hing von der Absicht des Autors bzw. von seiner Ansicht über ihre „Nützlichkeit“ in der jeweiligen Volkswirtschaft ab. „Nützlich“ sein bedeutet dabei fast immer „rentabel“ sein, d.h. für den Profit „verwendbar“/„verwertbar“.117 Die wissenschaftlichen Arbeiten zu „agrarischer Übervölkerung“ schienen blind für die Bedürfnisse und Interessen der einzelnen betroffenen Personen zu sein. Während auf wissenschaftlicher Seite großzügige wirtschaftliche Planung auf der Makro-Ebene mit dem Ziel durchgeführt wurde, die „überschüssigen Arbeitskräfte“ aus der Landwirtschaft „abzusaugen“, zogen es die Betroffenen häufig vor, trotz aller Armut mit niedrigen Einkünften zu Hause auf dem Land zu bleiben, als mit keiner oder unsicherer Arbeit in der Stadt zu leben.118 Dieser Umstand wurde in zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer wahrgenommen. Die Bevölkerungsexperten vermissten mancherorts „erhebliche Zwänge“, welche den Bauern zur Abwanderung in andere Berufe bewegen sollten.119 Die eigene Handlungslogik der betroffenen bäuerlichen Bevölkerung war für sie schwer nachzuvollziehen oder wurde als Problem gesehen. Während sie z.B. im Nachwuchs der ländlichen Bevölkerung eine Last oder Gefahr sahen, betrachteten die Bauern ihre Kinder als Reichtum und Gewinn.120 Die betroffene Bevölkerung wusste größtenteils gar nicht, dass sie von „Experten“ als „überflüssig“ erklärt wurde und hatte wahrscheinlich noch weniger das Bewusstsein, zu einer Gruppe „unnützer Esser“ zu gehören.121

117 Vgl. Viviane Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien: Zsolnay 1997 [1996]. 118 Vgl. J[ohn] Black, The Problem of Surplus Agricultural Population, in: International Journal of Agrarian Affairs 1 (1939), S. 7–24, hier S. 12. 119 Institut für Weltwirtschaft, Zur Frage des Übersatzes, Bl. 28. 120 Raymond Christ, The Peasant Problem in Yugoslavia, in: The Scientific Monthly 50 (1940), S. 385–402, hier S. 390. 121 Zur aktuellen Debatte über die „Überflüssigen“ siehe Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.), Exklusion: die Debatte über die „Überflüssigen“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

Martine Mespoulet

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren Die demografischen Volkszählungen in der UdSSR (1920–1989)1 Übersetzung Oliver Ilan Schulz Eine demografische Volkszählung ist für einen Staat ein symbolträchtiger Moment. Die vollständige Zählung einer Bevölkerung auf der Gesamtheit eines gegebenen Territoriums bietet die einmalige Gelegenheit, die Einwohner in ihrer ganzen Diversität zu erfassen.2 Eine solche Erhebung kann den Anschein erwecken, als ziehe man eine Bilanz der demografischen Stärke eines Landes. Deshalb ruft die Vorbereitung einer Volkszählung lebhafte Diskussionen zwischen Statistikern und Regierenden hervor. Welche Fragen gestellt und welche Kategorien zur Zählung der Bevölkerung verwendet werden, aber auch die Untersuchungsmethoden geben Anlass zu Diskussionen und Verhandlungen zwischen den Statistikern und den für sie zuständigen Regierungsbeamten, deren jeweilige wissenschaftliche und politische Vorstellungen miteinander konfrontiert werden. Diese Auseinandersetzung war in der UdSSR der 1920er und 1930er Jahre umso heftiger, als die Statistiker einen Forschungsansatz vertraten, der aus den internationalen Kongressen des 19. Jahrhunderts hervorgegangen war, während die neuen politischen Führungskräfte sich die unmittelbare Verwertung der Volkszählungsdaten zum Ziel gesetzt hatten, um schnell ein neues Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufzubauen. Wie also hat sich bis zum Ende der 1930er Jahre der Übergang vollzogen von einer Volkszählung, die nach dem Vorbild der europäischen Volkszählungen des 19. Jahrhunderts konzipiert war, hin zu einer anderen Form, die wir als sowjetische Volkszählung bezeichnen wollen? Die 1920er und 1930er Jahre können als eine Übergangsperiode zwischen der auf dem Modell der europäischen Volkszählungen des 19. Jahrhunderts beruhenden demografischen Volkszählungen und den Volkszählungen des sowjetischen Staats betrachtet werden. In den 1920er Jahren befand sich die Organisation demografischer Volkszählungen an der Schnittstelle zwischen einer 1 Dieser Text ist die überarbeitete Version des 3. Kapitels des Buchs von Martine Mespoulet, Construire le socialisme par les chiffres, Enquêtes et recensements en URSS de 1917 à 1991, Paris: Editions de l’INED, 2008. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung zum Abdruck in diesem Band. 2 Alain Blum/Alain Desrosieres/Catherine Gousseff/Jacques Magaud (Hrsg.), Compter l’autre, Histoire & Mesure 13/1–2 (1997).

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wissenschaftlichen Methode und einer Regierungspraxis. Das alles beherrschende Spannungsverhältnis entstand dabei aus der Suche eines Berufsstands nach einer Perfektionierung seiner Datensammel- und Verarbeitungstechniken einerseits, und andererseits aus einem politischen Willen, die verschiedenen Prozesse in die Verantwortung von sozialen Akteuren zu legen. So sollten unter der Führung und Kontrolle der Partei und ihrer Verbindungsorganisationen die Organisations- und Sammelaufgaben immer mehr vom Kollektiv übernommen werden. Diese Spannungen erreichten ihren Höhepunkt mit der Vorbereitung und Durchführung der Volkszählung von 1937. Die Ergebnisse dieser Erhebung wurden auf Anordnung von Stalin nicht veröffentlicht,3 1939 wurde eine neue Volkszählung organisiert. Die zwischen 1959 und 1989 vorgenommenen Volkszählungen waren nachhaltig von den Prinzipien geprägt, die sich anlässlich der Erhebung von 1939 etabliert hatten.

1.  Die 1920er und 1930er Jahre: die ersten sowjetischen Volkszählungen 1.1 Ein Kontext des „statistischen Enthusiasmus“ Die Periode unmittelbar nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 war durch eine rege statistische Produktion geprägt. Die neuen Führungskräfte hatten einen starken Bedarf an numerischen Informationen und trafen auf „den Enthusiasmus“ der Statistiker, im Namen des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts4 Befragungen und Volkszählungen zu organisieren. Die zahlreichen, von den Statistikern der zemstva5 seit den 1880er Jahren erprobten und angepassten Datensammel- und Datenverarbeitungsmethoden hatten großen Einfluss auf die Organisation und Durchführung der ersten Volkszählungen des bolschewistischen Staats zu Beginn 3 Über die demografischen Volkszählungen in den 1930er Jahren, siehe Aleksandr G. Volkov, Le recensement de la population de 1937, in: Annales de Démographie historique (1992), S. 23–59; Alain Blum, Naître, vivre et mourir en URSS, 1917–1991, Paris: Plon 1994; Alain Blum/Martine Mespoulet, L’anarchie bureaucratique, Statistique et pouvoir sous Staline, Paris: La Découverte 2003. 4 Martine Mespoulet, Statistique et révolution en Russie. Un compromis impossible (1880–1930), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2001. 5 Die zemstva waren 1864 ins Leben gerufene Versammlungen zur lokalen Verwaltung gewisser Bereiche, insbesondere Gesundheit, Erziehung und Instandhaltung der Straßen. Sie wurden nach der Oktoberrevolution 1917 abgeschafft. Siehe Terence Emmons/ Wayne. S. Vucinih, The Zemstvo in Russia, An experiment of local self-government, Cambridge: Cambridge University Press 1982.

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der 1920er Jahre und sicherten in den Fragestellungen und den verwendeten Mitteln eine gewisse Kontinuität. Schon kurz nach seiner Gründung setzte das Zentrale Statistikamt des bolschewistischen Staats einen Zensus der Industrie und der Berufe für Ende 1918 und einen landwirtschaftlichen Zensus für 1919 an und plante für 1920 eine demografische und berufsbezogene Volkszählung sowie einen landwirtschaftlichen Zensus. Schon vorher, im Juni 1918, war auf Initiative des Kommissariats für Versorgung eine Volkszählung der Bevölkerung von Petrograd organisiert worden, um die Lebensmittelversorgung der dort lebenden Familien zu untersuchen. An ihrer Durchführung waren auch andere Institutionen des neuen Staats interessiert, insbesondere der Oberste Wirtschaftsrat, das Kommissariat für Arbeit und die mit der Wirtschaftsverwaltung der Stadt beauftragten Organe. Die Volkszählungskommission wurde daraufhin um zwei Vertreter aus diesen Institutionen erweitert, G. S. Poliak und Stanislas G. Strumilin, beide ehemalige Schüler von Aleksandr A. Chuprov, der bis zum März 1917 Professor für Statistik am Polytechnischen Institut von Sankt Petersburg bzw. Petrograd war.6 Zu Beginn der 1920er Jahre nahmen die Statistiker des Zentralen Statistikamts häufig auf die Erfahrungen Bezug, die während dieser stark von der Praxis der europäischen Volkszählungen beeinflussten Volkszählung gemacht worden waren. Das trifft insbesondere auf Poliak zu, der Abteilungsleiter der Statistik für den Bereich Arbeit wurde und mit der Erstellung der Terminologie für Beschäftigungsarten bei den Volkszählungen von 1920 beauftragt wurde. Die Beteiligung des Statistikers Aleksandr A. Kaufman, einem ehemaligen Studenten von Iouri E. Ianson7 und Professor für Statistik an der Universität von Sankt Petersburg, an der Leitung der Volkszählungskommission von Petrograd trug entscheidend dazu bei, dass die Ausarbeitung der Fragebögen und Anweisungen weiterhin im Sinne der Praxis der europäischen Volkszählungen sowie der Empfehlungen des Internationalen Statistischen Instituts (ISI) vorgenommen wurde. Die Bildung einer neuen Kommission veränderte diesen Kurs nicht im Geringsten. Dort fungierte nämlich neben Poliak und Strumilin Viktor V. Stepa6 Boris I. Karpenko, Perepis’ naseleniia g. petrograda 2 iiunia 1918 goda, in: Voprosy statistiki 6 (1998), S. 84–93. Die Stadt Sankt Petersburg wurde 1914 in Petrograd umbenannt und erhielt nach Lenins Tod 1924 den Namen Leningrad. 7 Aleksandr A. Kaufman (1864–1919) war während seines Studiums an der Universität von Sankt Petersburg Schüler von Iuri E. Ianson (1835–1893). Ianson war an dieser Hochschule ab 1873 Professor, bevor er in den Jahren 1881 bis 1893 zum Direktor des Statistikbüros der Stadt Sankt Petersburg berufen wurde. Er hat 1872 am Internationalen Statistikkongress von Sankt Petersburg teilgenommen und war ab 1885 aktives Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts.

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nov, der ebenfalls ein ehemaliger Student von Ianson und von 1906 bis 1917 Direktor des Statistischen Büros der Stadt Sankt Petersburg war, und der an diversen Sitzungen des Internationalen Statistischen Instituts teilgenommen hatte und an diversen Vorgängen der Volkszählung von 1897 beteiligt gewesen war. Auch Boris I. Karpenko,8 Schüler von A. A. Chuprov und ebenfalls Professor für Statistik am Polytechnischen Institut von Petrograd, nahm an dieser Kommission teil. Es kann also kaum verwundern, dass diese Volkszählung von Petrograd im Sinne der europäischen Volkszählungen konzipiert wurde. Als Datum der ersten allgemeinen Volkszählung der Bevölkerung des bolschewistischen Staates wurde der 28. August 1920 festgelegt. Ihre Konzeption war von den Statistikern des Zentralen Statistikamts klar in der Kontinuität der Empfehlungen des Internationalen Instituts der Statistik angesiedelt.9 Diese Volkszählung beeindruckt durch den Umfang ihres Programms. Sie besteht aus vier Teilbereichen: einer demografischen und berufsbezogenen Volkszählung, einem landwirtschaftlichem Zensus, einer Zählung der industriellen Unternehmen und einem Bildungszensus.10 Das breite Feld der Untersuchungen der Volkszählung von 1920 erklärt sich aus dem Willen der neuen Machthaber, rasch neue wirtschaftliche und soziale Maßnahmen zu beschließen und umzusetzen. Da sie aber am Ende der Bürgerkriegsperiode durchgeführt wurde, traten bei ihrer Organisation und Abwicklung Schwierigkeiten auf. Manche Provinzen konnten nicht vollständig erfasst werden, andere überhaupt nicht, davon waren etwa Weißrussland, Wolynskyj und Podolsk, und Regionen im Süden Russlands, insbesondere im Kaukasus und in der Krim betroffen. Insgesamt konnten 28% der Bevölkerung nicht berücksichtigt werden.11 Den Fragen zur Beschäftigung wurde große Bedeutung zugemessen. Die Zielsetzung war, eine bessere Kenntnis über die Verteilung der Bevölkerung hinsichtlich der Beschäftigung und des Status – selbständig oder angestellt – zu erlangen, aber auch, mehr über ihre diesbezügliche Entwicklung seit 1897 zu erfahren, und insbesondere über die vom Ersten Weltkrieg verursachten Veränderungen. Es wurden auch Fragen über das Alphabetisierungs- und Ausbildungsniveau gestellt. Wie schon 1897 wurde die am Tag der Volkszählung anwesende Bevölkerung gezählt, wobei zwei Fälle möglich waren: dauernde oder temporäre Anwesenheit. 8 Boris I. Karpenko (1892–1976). 9 Vestnik Statistiki, Postanovleniia Mezhdunarodnogo Statisticheskogo Instituta, 4–7, 1919, S. 33–42. 10 Lee Schwartz, A History of Russian and Soviet Censuses, in: Ralph S. Clem, Research Guide to the Russian and Soviet Censuses, Ithaca–New York: Cornell University Press 1986, S. 48–69. 11 Nikolai I. Vorob’ev, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia 1926g., Moskau: Gosstatizdat 1957.

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Im Folgenden stellte die Volkszählung von 1926 einen Wendepunkt in der Geschichte der russischen Volkszählungen dar. Sie war auf den 17. Dezember festgelegt und wurde in einem stabileren politischen und wirtschaftlichen Kontext realisiert als 1920, und das Unternehmen konnte ohne größere Schwierigkeiten durchgeführt werden.12 Sie war auch bemerkenswert aufgrund der Fülle der gesammelten Informationen, insbesondere über die soziale und ethnische Diversität der Bevölkerung.13 Diese Fülle kann man dem wissenschaftlichen Ehrgeiz der Statistiker zuschreiben, sie ist aber auch eine Folge der Nachfrage sehr vielfältiger Informationen von Seiten der diversen Kommissariate. So verlangte beispielsweise das Kommissariat für staatliches Bildungswesen, dass die Personenbögen Fragen über ausgesetzte Kinder, körperliche Behinderungen von Kindern im Schul- und Vorschulalter und das Niveau der Alphabetisierung in der Gesamtbevölkerung enthielten.14 Das Kommissariat für Sozial- und Krankenversicherung forderte, Fragen über die Art der Invalidität der betroffenen Personen einzufügen (Invalide des Bürgerkriegs, des Ersten Weltkriegs, Arbeitsinvalide). Der wissenschaftliche Ehrgeiz der Statistiker zeigte sich vor allem in den Diskussionen über die Art, wie die Frage der Nationalität zu stellen sei. Viele Wissenschaftler bevorzugten die Konzepte und Klassifikationskategorien, die von den russischen Ethnographen benutzt wurden. Es setzte sich das Prinzip der Selbstbestimmung der ethnischen Zugehörigkeit durch die erfasste Person durch, das heißt, man gab dem Begriff narodnost’ (ethnische Zugehörigkeit) den Vorzug gegenüber Terminus nacional’nost’ (Nationalität), den man 1920 verwendet hatte, der aber eher verwaltungstechnisch geprägt war.15 Das für die Verarbeitung der Daten zusammengestellte Lexikon der Nationalitäten stellte eine sehr lange Liste ethnischer Kategorien auf. Wie die Statistikerstäbe der Volkszählungen von 1897 und 1920 nahm das mit der Organisation der Volkszählung von 1926 beauftragte Team in vielerlei Hinsicht Bezug auf die demografische Statistik Europas. Vasilii G. Mikhailovskii, der die Vorbereitung leitete, hatte die Volkszählung von 1920 und die in der Stadt Moskau 1912 verantwortet.16 Olimpii A. Kvitkin, der die Volkszählungen in den 12 RGAE, f. 1562, op. 336, Band 1, d. 44, 45, 46, 47, 48, 49. (RGAE: Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft) 13 Vorob’ev, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia 1926g.,; Blum, Naître. 14 Vorob’ev, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia 1926g., S. 19. 15 Juliette Cadiot, Les relations entre le centre et les régions en URSS à travers les débats sur les nationalités dans le recensement de 1926, in: Cahiers du monde russe 38 (1997), S. 601–616. 16 V.G. Mikhailovskii (1871–1926) hatte von 1911 bis 1918 das Statistikbüro der Stadt Moskau geleitet. Im Oktober 1926 erkrankte er schwer und konnte die Aktivitäten der

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Städten 1923 durchgeführt und im Oktober und November 1925 auf Dienstreise in Deutschland war, um sich dort mit der im Juni durchgeführten Volkszählung auseinanderzusetzen, leitete die Verarbeitung der Daten und die Veröffentlichung der Ergebnisse17. Poliak erstellte wie schon im Jahr 1920 die Terminologie für die unterschiedlichen Arten von Beschäftigungen. 1.2.  Die Wende von 1937 Die Planung der Volkszählungen während der 1930er Jahre war geprägt von den politischen Verzögerungen. Sie begleiteten die Vorbereitung des Zensus, der auf die Volkszählung von 1926 folgen sollte, und der schließlich auf den 6. Januar 1937 festgelegt wurde. Die zu trauriger Berühmtheit gelangte Geschichte dieser Volkszählung zeigt ihre herausragende politische Dimension in einer Zeit, die von den demografischen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Hungersnot von 1932–1933 gezeichnet war. Sie sollte die erste umfassende demografische Bilanz liefern, seitdem die Neue Ökonomische Politik (NEP) der 1920er Jahre beendet war, und vor allem seit dem Beginn der Kollektivierungskampagne der Landwirtschaft und der Industrialisierungsanstrengung der „Großen Wende“, die in der Bevölkerung zu riesigen Mobilitätsströmen geführt hatten.18 Da die Zahlen der Volkszählung weit hinter den Erwartungen Stalins zurückblieben, wurden die Ergebnisse nicht veröffentlicht und die Hauptverantwortlichen festgenommen, deportiert oder erschossen.19 Für den Januar 1939 wurde per Verordnung eine neue Volkszählung festgelegt. Das Zentrale Statistikamt hatte schon kurz nach der Volkszählung von 1926 eine neue Erhebung gefordert. Sein Leiter, Sergei V. Minaev, soll sie gleich bei seinem Amtsantritt 193020 vorgeschlagen haben, ernsthaft wurde das Projekt aber 1932 erwogen und am 20. April auf die Tagesordnung des Politbüros der Kommunistischen Partei gesetzt. Auf Antrag von Molotov beschloss das Gremium eine Volkszählung für den Dezember 1933. Schon am 13. August 1932 wurde

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Datensammlung der Volkszählung von 1926 nicht beaufsichtigen. Diese Aufgabe wurde Olimpii A. Kvitkin übertragen. O. A. Kvitkin (1874–1937) wurde 1937 hingerichtet. V. B. Zhiromskaia, Demograficheskaia istoriia Rossii v 1930-e gody, Vzgliad v neisvestno, Moscow: Rosspen 2001. Volkov, Le recensement; V. B. Zhiromskaia/V. B. Kiselev, Iu. A. Poliakov, Polveka pod grifom sekretno, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia, Moscow:_Verlag unbekannt 1996, Alain Blum, A l’origine des purges de 1937, L’exemple de l’administration statistique démographique, in: Cahiers du monde russe 39 (1998), S. 169–196. Blum/Mespoulet, L’anarchie bureaucratique.

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eine Pilotvolkszählung durchgeführt. Im April 1933 wurde die für Dezember vorgesehene Volkszählung auf das Jahr 1934 verschoben. Im Juni 1934 wurde sie erneut vertagt und die Durchführung nun auf den Januar 1936 festgelegt. Tatsächlich begannen sich die höchsten Führungskräfte aus Partei und Staat ab Ende des Jahres 1935 ernsthaft für das Thema zu interessieren. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie groß die Herausforderung war, in den 1930er Jahren eine demografische Volkszählung durchzuführen. Die letzte Volkszählung hatte im Jahr 1926 stattgefunden, so dass es unabdingbar war, für die Erstellung der Fünfjahrespläne über aktualisierte Schätzungen der Bevölkerung zu verfügen, wie etwa die Anzahl der Beschäftigten je Erwerbszweig, die Land- und Stadtbevölkerung, die Landwirtschaft betreibende Bevölkerung, die in der Industrie tätige Bevölkerung, die Anzahl der Kinder im Schulalter und die der alten Leute, um nur einige Beispiele zu nennen. Indessen machte die politische Bedeutung und öffentliche Dimension einer demografischen Volkszählung sie zu einem zweischneidigen Instrument. Einerseits mussten die Zahlen den Beweis erbringen für den Triumph des Sozialismus in der UdSSR sowie für die Homogenität ihres Territoriums, sie mussten die Existenz dieser neuen Staatsform ebenso wie ihren Fortbestand legitimieren, und darüber hinaus die großen sozialen Veränderungen eines Landes zum Ausdruck bringen, das an der Schwelle zum Kommunismus steht. Andererseits durfte das Scheitern der politischen Entscheidungen Stalins nicht offenbar werden: Insbesondere galt es das immense Trauma der Deportationen und die Verluste an Menschenleben durch die Zwangskollektivierung zu verbergen. Auf dem XVII. Parteitag hatte Stalin 1934 unter Berufung auf die Schätzungen der Planungsbehörde Gosplan verkündet, dass „die Bevölkerung der Sowjetunion von 160,5 Millionen Menschen Ende 1930 auf 168 Millionen Ende des Jahres 1933 gewachsen“ sei.21 Der Gebrauch dieser Zahl war symbolträchtig. Die Stärke der UdSSR wurde durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Sowjetbürger bewiesen. In diesem Szenario waren die Folgen der Kollektivierung und die Hungersnot von 1933 aus den Zahlen gelöscht. Das Zentrale Statistikamt verfügte dagegen über Schätzungen des Personenstandsregisters und sah niedrigere Werte voraus, die sehr stark von denen des Gosplan abwichen. Es wurde eine Reihe von Fragebögen entworfen. Von den drei erhaltenen Fragebögen sind die beiden ersten als Formularentwürfe der Volkszählung 21 „Bericht des Genossen Stalin – zusammenfassender Bericht des Gen. St. über die Arbeit des ZK der Partei, Punkt 3: Verbesserung der materiellen Situation und der Kultur der Arbeiter“, erste Sitzung (Abend des 26/0101934), 17. Kongress der Partei – stenographischer Bericht (26. Januar – 10. Februar 1934), Moskau (3. Auflage), Partizdat, S. 24–25; Pravda, 28. Januar 1934.

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von 193622 archiviert, und nur der dritte trägt den Vermerk des Jahres 1937.23 Die Veränderungen in der Formulierung der Fragen, insbesondere die Hinzufügungen und Streichungen, machen deutlich, dass es bei ihrer Ausarbeitung Verhandlungen und Spannungen zwischen einer politischen bzw. statistischen Sichtweise gab. Ein Vergleich zwischen dem von Statistikern erarbeiteten Entwurf von 1935 und dem endgültigen Fragebogen der Volkszählung zeigt eindeutig, dass das europäische Modell der Volkszählungen in der UdSSR aufgegeben wurde.24 Volkszählung von 1937 Fragen des 1935 erarbeiteten Entwurfs und des endgültigen Personenbogens von 1937 Entwurf von 1935 1. In welchem Verwandschaftsverhältnis steht er zu der Person, die die wichtigste Erwerbsquelle der Familie bereitstellt? (Ehefrau, Sohn, Tante, Adoptivkind, usw.) 2. Wenn er vorübergehend abwesend ist: „vorübergehend abwesend“ eintragen Den Grund für seine Abwesenheit angeben (Urlaub, Dienstreise, Einladung, usw.) 3. Wenn er vorübergehend anwesend ist, „vorübergehend anwesend“ eintragen 4. Geschlecht (männlich – 1, weiblich – 2) 5. Wie viel Zeit ist seit der Geburt vergangen? Für Kinder, die jünger sind als ein Jahr: wie viele Monate? Für Kinder, die jünger sind als einen Monat: wie viele Tage? 6. Nationalität (narodnost’) 7. Muttersprache

Personenbogen von 1937 Frage gestrichen

Frage gestrichen

Frage gestrichen 1. Geschlecht (männlich, weiblich) 2. Wie viele Jahre oder Monate sind seit der Geburt vergangen? 3. Nationalität (nacional’nost’) 4. Muttersprache 5. Religion

8. Bei Ausländern: Aus welchem Staat kommt er?

7. Staatsbürgerschaft?

9. Wo ist er geboren: Hier oder nicht hier?

Frage gestrichen

22 RGAE, f. 1562, op. 336, d. 106, ll. 2–3. 23 Ibid. l. 4. 24 Der Entwurf von 1935 kann in den Archiven des RGAE eingesehen werden, RGAE, f. 1562, op. 1, d. 845, ll. 43–46. Er wurde publiziert in: A. G. Volkov, Iz istorii perepisi naseleniia 1937 goda, in: Vestnik statistiki 8 (1990), S. 45–56.

277

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren Entwurf von 1935 10. Wenn er nicht hier geboren ist, angeben: Geburtsort: Republik, kraï, oblast’ (guberniia) okrug, uezd25 raion (volost’) Stadt, Dorf B. Seit wann lebt er hier (in dieser Stadt, in diesem Dorf)? 11. a) Kann er lesen und schreiben, oder nur lesen, oder ist er Analphabet? b) Wenn er alphabetisiert ist, bitte genau angeben in welchen Sprachen. 12. Welche Bildungsstätte besucht er? Name der Einrichtung, Bezeichnung des Unterrichts, usw. Jahr oder Gruppe angeben. Bei Kindern in der Krippe oder im Kindergarten, „Krippe“, „Heim“, „Kindergarten“ usw. angeben 13. Wo hat er studiert? Name der Hochschule (wer das Studium abgeschlossen hat, schreibt „abgeschlossen“ davor, wer nicht abgeschlossen hat, gibt die Gruppe, das Jahr oder die Klasse an, in der er abgegangen ist). 14. Hauptbeschäftigung Art der Beschäftigung oder der geleisteten Arbeit, Funktion, Beruf, nicht-landwirtschaftliche Produktionstätigkeit, und Spezialisierung Qualifikationsgruppe (für Arbeiter) Position in der Beschäftigung: Arbeiter, Angestellter, Lehrling; Mitglied einer Kolchose, einer Gemeinde, eines Artels, selbständiger Kleinunternehmer (Handwerker in Heimarbeit, Bauer mit eigenem Land, usw.); Haushaltshilfe Name der Verwaltung oder des Unternehmens (Kolchose, Sowchose, Gemeinde, Fabrik, Werk, Atelier, Geschäft, usw.) und Angabe der Art der Produktion, des Berufsstands oder der Branche, und Adresse

Personenbogen von 1937 Frage gestrichen

8. Ist er alphabetisiert? – Frage gestrichen 9. Welche Schule besucht er: Grundschule, Sekundarschule oder höhere Schule? 10. Welche Klasse oder welches Jahr? 11. Hat er die Sekundarschule oder ein Studium abgeschlossen?

12. Art der gegenwärtigen Beschäftigung26

– Frage gestrichen – Zu welcher sozialen Gruppe gehört er: Gruppe der Arbeiter, Angestellten, Kolchosbauern, isolierte Arbeiter, Handwerker in Heimarbeit, Freiberuflern oder den Kirchendienern und den Leuten, die nicht arbeiten? 13. Arbeitsstätte27 (Name des Unternehmens, der Kolchose, der Institution)

25 Mit der Neuorganisation der Gebietsverwaltungen wurde eine Neueinteilung der Verwaltungsbezirke eingeführt, dabei wurden die alten, aus dem tsaristischen Staat stammenden Bezeichnungen durch neue ersetzt. Daraus erklärt sich, dass es zwei Worte gibt für a) das Verwaltungsgebiet, b) den früheren Bezirk, c) den früheren Landkreis. 26 Für Schüler und Studenten musste „studiert“ und für Rentner „Rentner“ eingetragen werden. 27 Für die Unterhaltsberechtigten musste die soziale Gruppe der Person angegeben werden, die für deren Bedürfnisse aufkam. Rentner und Stipendiaten mussten erklären, welcher sozialen Gruppe sie angehörten, bevor sie ihre Rente oder ihr Stipendium bezogen.

278 Entwurf von 1935 15. Nebenbeschäftigung Art der Beschäftigung Qualifikationsgruppe (für Arbeiter) Position in der Beschäftigung Name der Institution oder des Unternehmens und Adresse 16. Wenn er eine andere Einkommensquelle hat als seine Beschäftigung, angeben welche: Rente, Stipendium (für Schüler und Studenten), Mieteinnahmen eines Hauses, einer Wohnung, eines vermieteten Zimmers, usw. 17. Wenn er keine persönlichen Einkünfte hat, angeben, wer für seinen Unterhalt aufkommt (die Nummer dieser Person auf dieser Liste notieren und, wenn sie nicht auf dieser Liste steht, ihre Beschäftigung, ihre Position in dieser Beschäftigung und die Art der Produktion notieren, in der sie arbeitet). 18. Wenn er verheiratet ist, angeben seit wie vielen Jahren.

Martine Mespoulet Personenbogen von 1937 Frage gestrichen

Frage gestrichen

Frage gestrichen

6. Ist er verheiratet?

Wie man sieht, war die Liste der Fragen, die nach ihrer Überprüfung durch die ad hoc zusammengestellte Kommission und Stalin beibehalten wurden, deutlich kürzer als die von den Statistikern in ihrem Entwurf von 1935 ausgearbeitete Liste. Sie war auf die Sammlung einiger Grundinformationen beschränkt und verfolgte nicht mehr das Ziel, die Diversität der sowjetischen Bevölkerung zu erfassen. Im Gegenteil: Die Phänomene, die die Machthaber im Dunkeln lassen wollten, blieben es auch. So war zum Beispiel keine Frage zur Untersuchung der Migrationsbewegungen mehr vorhanden. Die Fragen 2, 3, 9, und 10 des Entwurfs von 1935 wurden gestrichen. Die neu eingeführte Unterscheidung zwischen dauerhafter und am Tag der Volkszählung anwesender Bevölkerung wurde also nicht übernommen. Die Fragen zur Beschäftigung wurden auf eine einzige zusammengestrichen, und selbst diese wurde noch stark verkürzt (Frage 12). So wurde die Diversität der beruflichen Stellungen eingeebnet. Der Fragebogen von 1937 konnte folglich keine detaillierte Untersuchung der sozioprofessionellen Struktur der Bevölkerung gewährleisten. Die Frage 14 war so formuliert, dass sie der von Machthabern offiziell anerkannten sozialen Klassifizierung als Grundlage dienen konnte. Die Frage zum Ehestand wurde ebenfalls auf das Minimum reduziert und schloss alle außerehelichen Bindungen aus. Angesichts der starken Einschränkun-

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

279

gen durch das Scheidungsgesetz von 1936 und einem politischen Diskurs, der die Mutterschaft und die soziale Rolle der Familie als Keimzelle der sozialistischen Gesellschaft pries,28 zählte einzig und allein die Kategorie der Verheirateten. Diese Frage blieb bis zur Volkszählung von 1979 unverändert. Auch die Frage zur Nationalität wurde verändert. Der Nationalitätsdefinition durch die ethnische Zugehörigkeit (narodnost’) zog man die Definition durch die Staatsbürgerschaft (nacional’nost’) vor. Die Frage der Alphabetisierung wurde reduziert und vereinfacht, so dass nur noch die Alternative zwischen „Ja“ und „Nein“ bestehen blieb. Das Niveau der Alphabetisierung konnte deshalb nicht mehr genau erfasst werden. Eine derartige Formulierung verleitete zu einer größeren Anzahl positiver Antworten und diente als Bestätigung für den Erfolg der aktiven Alphabetisierungskampagne, die der Staat Ende der 1920er Jahre angestoßen hatte. Stalin selbst bestand darauf, dass dem Personenbogen von 1935 eine Frage zur Religion hinzugefügt wurde.29 Diese Frage war in der Volkszählung von 1920 auf Anweisung Lenins gestrichen und 1926 nicht wieder eingeführt worden. Ihre knappe Formulierung machte es den Zählern von 1937 nicht leicht. In der Tat war der Umgang mit dieser Frage besonders schwierig, nachdem seit den 1920er Jahren Kampagnen gegen die Religion geführt worden waren. Die Veränderungen der Volkszählungskommission betrafen nicht nur die Formulierung des Personenbogens, sondern auch die Anweisungen an die Zähler. Sie brach mit der bis dahin üblichen Praxis der Statistiker, in einem Zählerhandbuch sehr detaillierte Anweisungen zu geben. Die Kommission verteilte zu diesem Thema nur vier Seiten Text, so dass sogar die Zähler bei einigen Fragen Verständnisschwierigkeiten hatten.30 Um diesem Problem entgegenzuwirken, bemühten sich Kvitkin und Brangendler als die Verantwortlichen der Volkszählung, diese Mängel zu kompensieren, indem sie verschiedene Informationsbroschüren über die Volkszählung verfassten und in den Städten und den ländlichen Gebieten verteilten. Die Publikation der offiziellen Standarddokumente wurde von ergänzenden Kommentaren begleitet, wie die Personenbogen auszufüllen seien. In der Zeitung Pravda vom 29. April 1936 erschien ein Artikel über „Die Volkszählung in einem sozialistischen Staat“, der vor allem die Arbeit des Zählers erläuterte.

28 Wendy Goldman, Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917–1936, Cambridge: Cambridge University Press 1997. 29 Volkov, 1990, Ibid., S. 51. 30 Ibid.

280

Martine Mespoulet

1.3. Normalisierung Die Planung der Volkszählung von 1939 war bei weitem keine reine Formsache und löste erneut die Gesamtheit der Entwicklungen aus, die dem Zensus von 1937 vorausgegangen waren. Die Vorbereitung und Durchführung fand in der Zeit der großen Säuberungsaktionen statt, und sie waren geprägt von einem fortwährenden Anpassungsprozess, der zwischen Statistikern und Politikern verhandelt wurde. Die Art der Durchführung dieser neuen Volkszählung, der Prozess der Einschätzung der Ergebnisse, ihre Verbreitung und die diesbezüglichen Kommentare zeugen von einer entscheidenden Veränderung, die sich in diesem Moment in der Beziehung zwischen den Statistikbehörden und den Machthabern vollzog. Auf die Statistiker wurde auf verschiedene Weise Druck ausgeübt.31 Ihre Reaktionen zeigten zwar die Grenzen dieses Drucks, sie offenbarten aber auch den Einfluss dieser Interventionen auf ihre Entscheidungen. Die Formulierung des neuen Fragebogens ist ein Beispiel dafür, welche Auswirkungen diese Interaktion zwischen politischen Führungskräften und Statistikern auf die Vorbereitung der Volkszählung hatte. Der herausgearbeitete Kompromiss ist für eine Analyse umso interessanter, als er dazu beitrug, die Grundprinzipien für die nachfolgenden Volkszählungen bis 1989 festzulegen. Später wurden nur noch einige leichte Veränderungen und Anpassungen vorgenommen. Der Großteil der Befragung hat sich 1939 stabilisiert. Vergleicht man den Fragebogen von 1939 (siehe nächste Seite) mit dem von 1937, so stellt man zunächst die Beibehaltung der – zugegebenermaßen wenigen – Fragen von letzterem fest, mit Ausnahme der Frage zur Religion. Die Volkszählung von 1937 hatte den partiellen Misserfolg des Kampfs gegen die Ausübung einer Religion gezeigt. Des Weiteren hat die Wiedereinführung von Fragen, die im Entwurf von 1935 vorgesehen waren, den seit 1937 bestehenden Wunsch nach einer Vereinfachung der Befragung nicht beeinträchtigt. So berücksichtigt die Frage 1 nach dem Verwandtschaftsverhältnis nur die biologische Familienbeziehung und nicht die Beziehung, die durch ein gemeinsames Budget entsteht. Dieser Verzicht auf die Bezugnahme auf die Erwerbsquellen einer Familie wurde nach 1950 überdacht. Die Frage 3 nach der vorübergehenden Anwesenheit eines Individuums am Ort der Volkszählung bekommt im Vergleich zu 1935 eine neue Ausrichtung, denn sie zielt nun darauf ab, seinen dauerhaften Aufenthaltsort herauszufinden und die Person nicht nur als „vorübergehend anwesend“ zu zählen. Nach einem Jahrzehnt großer geographischer Mobilität der Bevölkerung, ist die Zielsetzung nun, Informationen zu sammeln, um – die Verwaltungslogik

31 Blum/Mespoulet, L’anarchie bureau cratigne.

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

281

des 1932 eingeführten Passes für das Landesinnere weiterverfolgend32 – die Migrationen besser zu steuern und die Bevölkerung fest anzusiedeln. Zur Bestimmung der Nationalität wird der Gebrauch des Begriffs nacional’nost’ anstelle des Begriffs narodnost’ bestätigt. Zwar bevorzugt man eine administrative Definition der Nationalität, zugleich wird jedoch das Nationalitätenraster zur Verarbeitung der Daten beträchtlich vereinfacht. Die Frage der Alphabetisierung ist genauer als 1937, verzichtet aber auf jegliche Unterscheidung zwischen dem Russischen und einer anderen Sprache, was unvermeidlich zu einer höheren Zahl an Personen führt, die als alphabetisiert gezählt werden. Schließlich werden in der Frage 16 zur sozialen Zugehörigkeit im Vergleich zu 1937 zwei Veränderungen eingeführt, um die selbständigen Arbeiter einer Kategorie zuzuordnen. Einerseits unterscheidet sie die in Genossenschaften organisierten Arbeiter und die selbständigen, die außerhalb der Genossenschaften arbeiten; andererseits ersetzt sie die aus den europäischen Volkszählungen stammende Kategorie der „isolierten Arbeiter“ durch die der „Kleinbauern“, was demzufolge jede andere Form der selbständigen Arbeit als die landwirtschaftliche ausschloss.33 Personenbogen der demografischen Volkszählung von 1939 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Verwandtschaftsverhältnis mit dem Familienvorstand (Ehefrau, Sohn, Mutter, Schwester, Neffe, usw.) Wohnt er dauerhaft oder vorübergehend hier? Wer vorübergehend hier wohnt, bitte angeben: a.) Dauerhafter Aufenthaltsort; b.) Für wie lange ist er von seinem dauerhaften Aufenthaltsort abwesend. Für den, der hier dauerhaft lebt, aber vorübergehend abwesend ist, „ist vorübergehend abwesend“ eintragen und angeben, wie lange er abwesend ist. Geschlecht (männlich, weiblich) Wie viele Jahre sind seit der Geburt vergangen, für Kinder unter einem Jahr: wie viele Monate?

32 Nathalie Moine, Passeportisation, statistique des migrations et contrôle de l’identité sociale, in: Cahiers du monde russe 38 (1997), S. 587–599. 33 Zur Kategorie der selbständigen oder „isolierten Arbeiter“ (travailleurs isolés) in den französischen Volkszählungen von 1896 bis 1936, siehe Alain Desrosieres, Eléments pour l’histoire des nomenclatures professionnelles, in: Insee, Pour une histoire de la statistique, Paris: Insee-Economica 1977, S. 155–231; Alain Desrosieres/Laurent Thevenot, Les catégories socio-professionnelles, Paris: La Découverte, 1988, S. 12–15. Die Kategorie der „Isolierten“ grenzt sich ab von den Unternehmern und den Arbeitern und umfasst die sehr kleinen selbsterzeugenden Händler sowie die Erzeuger aus dem landwirtschaftlichen und handwerklichen Bereich, die fliegenden Händler und Heimarbeiter.

282

Martine Mespoulet

7. Nationalität (natsional’nost ‘) 8. Muttersprache 9. Ist er verheiratet? 10. Staatsbürgerschaft? 11. Alphabetisierung: a) Er liest oder schreibt oder liest nur in einer Sprache, ganz gleich welcher b) oder er ist kompletter Analphabet 12. Für Schüler oder Studenten, angeben: a) Den vollständigen Namen der Lehranstalt, der Schule oder der Kurse; b) In welcher Klasse oder im wievielten Jahr seiner Studien ist er (für die Kurse, die weniger als ein Jahr dauern, „von kurzer Dauer“ eintragen). 13. Hat er eine Sekundar- oder Hochschule abgeschlossen („Sekund.“ oder „Hoch.“ eintragen)? 14. Art der gegenwärtigen Beschäftigung oder andere Einkommensquelle. 15. Arbeitsstätte (Name des Unternehmens, der Kolchose, der Institution). 16. Zu welcher sozialen Gruppe gehört er: Gruppe der Arbeiter, der Angestellten, der Kolchosebauern, der Handwerker in Genossenschaften, der Kleinbauern, der nicht in Genossenschaften organisierten Handwerker, der Freiberufler oder der Kirchendienern und der Leute, die nicht arbeiten? Trotz ihrer politischen Bedeutung waren die Vorbereitungen der Volkszählung von 1939 durch zahlreiche Schwierigkeiten gekennzeichnet. Diese wurden noch verstärkt, weil das nationale Statistikamt sowie die regionalen Statistikämter durch die Säuberungsaktionen von 1937 desorganisiert waren. Um die Folgen einer tief greifenden Erneuerung des Personals sowie der in aller Eile und auf allen Ebenen vorgenommenen Einstellungen zu kompensieren, versuchten die leitenden Statistiker der Volkszählung vorrangig Zähler und Betreuungspersonal früherer Volkszählungen zu verpflichten. An mehrere Regionaldirektoren wurde eine Dienstanweisung geschickt, in der sie aufgefordert wurden, „sich besonders auf die Personen zu konzentrieren, die an der Durchführung der Volkszählung von 1937 beteiligt waren und nach Ansicht der sozialen Organisationen gute Arbeit geleistet haben“.34 Es wird deutlich, dass der Auswahlprozess für das Volkszählungspersonal durch die Statistiker, wie schon 1937, unter der Kontrolle der Partei und ihrer sozialen Verbindungsorganisationen stattfindet. Diese Vorgehensweise blieb bis 1989 ein zentrales Element der Vorbereitungsmaßnahmen für die demografischen Volkszählungen. Allerdings entsprachen nicht alle lokalen Parteiapparate den Erwar34 Brief von Pisarev, Chef des Volkszählungsbüros, datiert vom 17/4/1938: RGAE, f. 1562, op. 1, d. 1032, ll. 1–2.

283

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

tungen ihrer Führung und gaben damit den Statistikern eine Möglichkeit, ihre Rolle beizubehalten. So weisen die ersten Zeilen eines am 29. November 1938 in der Zeitung Pravda erschienen Artikels darauf hin, dass „noch nicht alle lokalen Organisationen der Partei die Bedeutung der Volkszählung verstanden haben“.35 Außerdem sehen sich die Zähler bei einem Teil der Bevölkerung mit denselben Schwierigkeiten wie 1937 konfrontiert. Insbesondere mussten sie sich Widerstandsbekundungen stellen. Einige Personen erklärten, sie seien „orthodoxer Nationalität“ oder antworteten, sie seien „Untertanen des Zaren“;36 andere simulierten, sie seien stumm, weil sie sich, wie schon 1937, vor einer Festnahme fürchteten. 2.  Beständigkeit der Formen bei den sowjetischen Volkszählungen Zwischen der ersten Volkszählung nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1959 und der letzten Volkszählung des sowjetischen Staats 1989 veränderten sich die Formen und Gepflogenheiten der demografischen Volkszählungen nur wenig. 2.1  Hauptmerkmale In der folgenden Tabelle werden die bei den demografischen Volkszählungen zwischen 1939 und 1989 gestellten Fragen zusammenfassend dargestellt: Fragen Verwandschaftsverhältnis mit dem Familienvorstand Dauerhafter Aufenthaltsort

1939

1959

1970

1979

1989

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Dauer der vorübergehenden Abwesenheit Grund der vorübergehenden Abwesenheit Geschlecht

x

x

x

x

x

Alter

x

x

x

x

x

Verheiratet oder nicht

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Witwe(r)/ geschieden oder getrennt Nationalität (nacional’nost’)

x x

x

x

x

35 Pravda, 29/11/1938. 36 RGAE, f. 1562, op. 329, d. 285, ll. 57–111.

x

284 Fragen Muttersprache

Martine Mespoulet 1939

1959

1970

1979

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Andere Sprache der Völker der UdSSR Staatsbürgerschaft

x

x

Alphabetisierung

x

x

1989

x

Ausbildungsniveau

x

x

x

x

x

Schüler oder Student: Art der besuchten Einrichtung Einkommensquelle

x

x

x

x

x

x

x

Arbeitsstätte Art der Beschäftigung

x x

x x

Soziale Gruppe Dauer des Aufenthalts am Aufenthaltsort Anzahl der Kinder/Frau

x

x Befragung

x Befragung

x Befragung

Befragung Befragung Befragung

Befragung Befragung Befragung

Befragung Befragung Befragung

Befragung

Befragung

Auf der Grundlage dieses Vergleichs kann man die Hauptmerkmale der zwischen 1959 und 1989 durchgeführten sowjetischen Volkszählungen herausarbeiten. Diese Übung ist umso lehrreicher, als dieser Fragenkomplex als Referenz für die Fragebogenerstellung von Volkszählungen diente, die während dieser Zeit in allen sozialistischen Staaten des sowjetischen Blocks durchgeführt wurden.37 Der Grundstock der Fragen wahrt die Kontinuität des Fragebogens von 1939. Die wesentlichen Befragungs- und Organisationsverfahren der Volkszählungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden anlässlich der Volkszählung von 1959 festgelegt. Danach wurden nur noch einige kleine Veränderungen und Anpassungen in der Formulierung der Fragen oder in den Bezeichnungen der Stellungen vorgenommen, die zur Einordnung der Individuen dienten. Es wurden auch detaillierte Anweisungen herausgegeben, um die notwendigen Anpassungen bei der Befragung der einzelnen Personen sicherzustellen. Die Frage der Alphabetisierung wurde 1970 und 1979 gestrichen, wurde aber 1989, zu Zeiten der Perestroika, erneut eingeführt. Dieser harte Kern an Fragen trägt dazu bei, dass man sich für die Periode der 1950er bis 1980er Jahre ein relativ genaues Bild von der Zusammensetzung der sowjetischen Gesellschaft machen kann. Hier können einige Besonderheiten herausgearbeitet werden.

37 L. L. Kozlova, Organizacionno-metodologicheskie osobennosti vsesoiuznoi perepisi naseleniia 1989 goda, Moscow: MESI 1990.

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

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a. Dauerhaft ansässige Bevölkerung, anwesende Bevölkerung Diese Bezeichnungen erinnern an die Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und tatsächlicher Bevölkerung, wie sie in den europäischen Volkszählungen Mitte des 19. Jahrhunderts gemacht wurde. Die 1897 eingeführte Unterscheidung zwischen dauerhaft ansässiger und am Tag der Volkszählung anwesender Bevölkerung wurde 1920 wieder aufgegriffen, 1937 aufgegeben und von 1939 bis 1989 erneut verwendet, wenn auch die diesbezüglichen Fragen ab 1979 vereinfacht wurden. Vor dem Hintergrund einer großen Mobilität der Bevölkerung war die Zielsetzung, die Größe der sowjetischen Bevölkerung so genau wie möglich zu berechnen und deshalb niemand doppelt zu zählen. Doch anscheinend war die Zählung der Bevölkerung nicht die einzige Zielsetzung dieser Unterscheidung. Es ging auch darum, die Daten zu liefern, die für die Planung der Produktion von Konsumgütern benötigt wurden: „Darüber hinaus spielt jede der beiden Kategorien (die anwesende Bevölkerung und die dauerhaft ansässige Bevölkerung) bei der Produktion von Informationen eine eigene Rolle. Zum Beispiel sind Daten über die Zahl und die Zusammensetzung der anwesenden Bevölkerung notwendig, um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Industriegütern zu organisieren, um die Handelsinfrastruktur und die Lebensmittelunternehmen für die Bevölkerung zu entwickeln, um den Bau von Kultureinrichtungen und deren Darbietungen zu planen usw. Für die Planungen im Wohnungsbau und bei der Errichtung von Schul- und Vorschuleinrichtungen usw. verwendet man hingegen die Daten über die Zahl und die Zusammensetzung der dauerhaft ansässigen Bevölkerung.“38

Dennoch war die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bevölkerungskategorien nicht immer einfach zu bewerkstelligen, weil die Volkszählungsregeln für Einzelpersonen nicht mit denen des behördlichen Anmeldesystems ihres Wohnorts, der propiska, übereinstimmten. Die Schwierigkeiten, manche Fälle vorübergehender Ab- oder Anwesenheit zu definieren, bewog die Statistiker, die Dauer der vorübergehenden Abwesenheit von ihrem gewöhnlichen Wohnort auf maximal 6 Monate zu beschränken (ibid.). Deshalb wurden ab 1959 Personen, die mehr als 6 Monate vor der Volkszählung aufgrund ihrer Arbeit oder ihrer Ausbildung umgezogen waren, zu den dauerhaft Ansässigen ihres neuen Wohnorts gezählt, selbst wenn sie mit ihrer an ihrem früheren Wohnort ansässigen Familie materielle Verbindungen bewahrt hatten. Diese neue Bestimmung verhinderte aber dennoch nicht gewisse Schwierigkeiten, diese Bevölkerung zuzuordnen und im Folgenden ihre diesbezüglichen Daten zu verwenden39. 38 Ibid., S. 6. 39 Barbara Anderson/Brian Silver, “Permanent” and “Present” Populations in Soviet Statistics, in: Soviet Studies 37 (1985), S. 386–402.

286

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Erst im Jahr 1970 wurde diese Unterscheidung durch Fragen über die Migrationen ergänzt, aber auch das nur im Rahmen der neu eingeführten ergänzenden Untersuchung durch Befragung. b. Die Familie als Basiseinheit Im Gegensatz zur Volkszählungspraxis in den Ländern Westeuropas und in den Vereinigten Staaten greifen die Volkszählungen in Russland und der UdSSR seit 1918 nicht auf den Haushalt, sondern auf die Familie als Volkszählungseinheit zurück40. Anlässlich des Zensus in der Stadt Petrograd im Jahr 1918 rechtfertigte G. S. Poliak, der danach aktiv an der Vorbereitung der demografischen Volkszählungen von 1920, 1926 und 1937 mitwirkte, diese Entscheidung für das postrevolutionäre Russland wie folgt: „Die Untersuchung der Familie ist einer der wichtigsten und bisher wenig erforschten Faktoren des sozialen Lebens. Sie auf der Ebene einer Volkszählung zum Thema zu machen stellt eine Neuerung dar, die man nur gutheißen kann. Eine der größten Schwächen der Volkszählungen, wie sie in Westeuropa durchgeführt werden, ist in unseren Augen dieses eingeschränkte, „atomistische“ Prinzip, das als Grundlage für ihre Auswertung eingesetzt wird. Gegenstand der unterschiedlichen Klassifizierungen, die in dieser Datenauswertung verwendet werden, ist unweigerlich eine Einzelperson und nicht die natürliche soziale Zelle, zu der dieses Individuum durch seine Geburt und Erziehung gehört. Die inneren Verbindungen, die einen Menschen kraft seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie in dieser oder jenen sozialen Gruppe in Richtung einer Stellung ziehen, bleiben bei diesem System der Datenauswertung außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Forschers. Beispielsweise kann man nicht abstreiten, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen der sozialen Position eines Arbeiters oder eines Lehrlings, der zur Familie eines selbständigen Unternehmers gehört, und der Position eines Arbeiters, der selbst aus dem Arbeitermilieu stammt.“41

Die Entscheidung für die Familie als grundlegende Beobachtungseinheit war durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, eine Analyse innerhalb der Begrifflichkeiten der sozialen Klassen durchzuführen. Deshalb brach man mit einer Konzeption von Statistik, die man als zu sehr auf das Individuum und zu wenig auf die sozialen Gruppen konzentriert beurteilte. 40 Für eine weiterführende Betrachtung der Begriffe Haushalt und Familie in den französischen Volkszählungen siehe Thibaut de Saint Pol/Aurélie Deney/Olivier Monso, „Ménage et chef de ménage: deux notions bien ancrées“, in: Travail, Genre et Sociétés 11 (2004), S. 63–77. 41 Grigorii S. Poliak, Metody ucheta naseleniia v petrogradskoi gorodskoi perepisi 1918 goda, in: Vestnik statistiki (4–7) 1919, S. 19–32.

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In einem anlässlich der Volkszählung von 1959 publizierten Artikel über den Begriff der Familie betonte Boris Urlanis, Forscher an der Akademie der Wissenschaften,42 dass „eine Gruppe von Personen nur dann eine Familie bildet, wenn diese Personen die drei folgenden Bedingungen erfüllen: sie wohnen zusammen, müssen blutsverwandt (oder verheiratet) sein und (ganz oder teilweise) ein gemeinsames Budget haben.“43 Obwohl die Definition von 1959 den Familienbegriff der ersten Volkszählungen aus den 1920er Jahre wieder aufgreift, verwendet sie doch eine etwas restriktivere als 1926, denn damals zählte auch ein getrennt lebendes Mitglied zur Familie, wenn es nur für Verwandte aufkam. Die Tendenz war, dass die Vorstellung der städtischen, auf einen kleinen Kern konzentrierten Familie über die Vorstellung der ländlichen Familie dominierte. Daneben war 1939 die Kategorie der „allein stehenden Personen“ eingeführt worden, um Personen zu benennen, die keinerlei Verbindung mit Verwandten hatten: „In der Volkszählung von 1959 ebenso wie in der von 1939 gehören die von ihrer Familie getrennt lebenden Personen zur Kategorie der „allein stehenden Personen“, wenn sie mit ihrer Familie kein gemeinsames Budget oder keine regelmäßige materielle Verbindung haben. Wenn sie ein gemeinsames Budget oder eine regelmäßige materielle Verbindung haben, gehören diese Personen nicht zu den „allein stehenden Personen“, sondern werden als getrennt lebende Familienmitglieder gezählt. In die Kategorie der allein lebenden Personen fallen auch die Personen ohne Familie. Vom Standpunkt der Statistik aus gesehen gibt es keine „allein stehende Mutter“. Sie bildet mit ihrem Kind eine Familie. Eine Hausangestellte zählt nicht als Bestandteil der Familie, in der sie arbeitet, und wird als allein stehende Person gezählt.“44

Gemeinsames Wohnen, Verwandtschaftsverhältnis, zumindest teilweise gemeinsames Budget: Diese Kombination von drei Kriterien wurde für die Volkszählung 1989 erneut verwendet. Trotz dieser vordergründigen Stabilität verschob sich in der Realität der Gebrauch des Terminus Familie ab 1970 allmählich in Richtung des Begriffs Haushalt, wie die Statistiker anlässlich der Volkszählung von 1989 selbst betonten: „In den Empfehlungen wird vorgeschrieben, bevorzugt eine Zählung von Familien

42 Boris Urlanis (1906–1981) war Professor für Statistik und wurde 1959 Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg leistete er einen großen Beitrag zur Erneuerung der Demografie der UdSSR. 43 Boris Urlanis, Poniatie sem’i v perepisiakh naseleniia, in: Vestnik statistiki 7 (1958), S. 80. 44 Ibid, S. 81.

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und nicht etwa eine Zählung von Familienhaushalten durchzuführen. Methodologisch entsprechen sich diese Begriffe praktisch vollkommen.“45 Die seit 1979 gestellte Frage nach dem Familienstand – mit der Einführung der Kategorien verwitwet, ledig, geschieden oder getrennt – entsprach dem Willen, die Auswirkungen der Liberalisierung des Scheidungsrechts im Januar 1966 zu erfassen. Es galt, die Erhöhung der Scheidungen in den 1970er Jahren zu untersuchen, nachdem die Komplexität des 1936 erlassenen und 1944 verschärften Scheidungsrechts Scheidungen bis dahin schwierig gemacht hatte.46 In den vorangehenden Volkszählungen betraf die Frage des Ehestands nur die Tatsache, ob man verheiratet war oder nicht. Die ethnische Zugehörigkeit der Individuen wurde auf der Basis der Selbstauskunft jeder gezählten Person zu ihrer Muttersprache und zu der zweiten „Sprache der Völker der UdSSR“, die sie sprach, festgestellt. Wenn diese Frage auch bis 1989 praktisch unverändert blieb, so führte ihre Formulierung unter den Statistikern doch regelmäßig zu Diskussionen, insbesondere anlässlich der Vorbereitung der Volkszählung von 1979. Einige Statistiker setzen sich dafür ein, den Ausdruck „Muttersprache“ (rodnoi) durch „Konversationssprache“ (razgovornyii) zu ersetzen, und das Adverb „fließend“ in der Frage zur zweiten gesprochenen Sprache zu streichen. Die Notwendigkeit, das Feld der gesammelten Informationen zu erweitern, um die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft besser zu verstehen, veranlasste die Statistiker, 1970 eine zusätzliche Erhebung mittels einer Befragung durchzuführen. Ihre Einführung erfolgte auf Vorschlag des Statistikerkongresses vom April 1968 und auf der Basis eines Versuchs, der im März 1967 in neun Regionen vorgenommen worden war. Auf diesem Kongress hatten Demografen und Statistiker kontrovers darüber diskutiert, wie viele Daten zu sammeln seien. Während die Statistiker auf der Notwendigkeit einer Vereinheitlichung eines Standardfragebogens beharrten, verlangten die Demografen einen längeren Fragebogen, um mehr Informationen über die Bevölkerung zu bekommen. Während der Vorbereitung der Volkszählung von 1979 flammte diese Diskussion erneut auf.47 Die ergänzende Untersuchung durch Befragung stellte einen Kompromiss zwischen den Forderungen dar, die in der Debatte zum Ausdruck gebracht worden waren. Sie widmete sich vor allem Fragen bezüglich der Beschäftigung, der sozialen Zuge45 Kozlova, Organizacionno-metodologicheskie, S. 32. Das rechtfertigte die offizielle Anerkennung des Begriffs Haushalt im Mikrozensus von 1994. 46 Alexandre Avdeev/Alain Monnier, La nuptialité russe: une complexité méconnue, in: Population 54 (1999), S. 635–676. 47 A. Isupov, O predstoiashchei Vsesoiuznoi perepisi naseleniia, in: Vestnik statistiki 9 (1975), S. 3–9.

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hörigkeit und der Aufenthaltsdauer am Ort der Volkszählung. Seit 1970 wurden Informationen über Migrationen gesammelt, und seit 1979 über Geburten. c. Eine stärkere Zentralisierung Von 1959 an gingen die Organisationsverfahren der Volkszählungen durch eine weitere Phase der Standardisierung, zugleich wurde ihre Zentralisierung verstärkt. Die meisten der 1959 angewandten Methoden blieben bis 1989 unverändert. Bis Ende der 1930er Jahre wurden die Fragebögen der Volkszählungen und die Anweisungen vom Zentralen Statistikamt des Staats an die Büros der Republiken der Union geschickt, die sie wiederum an die regionalen und lokalen Büros weitergaben, wo sie an die Bezirksinspektoren der Volkszählung verteilt wurden. In jeder Republik oder Region und in den größten Städten der Union war ein Volkszählungsbüro eingerichtet. Die in den verschiedenen Bezirken gesammelten Daten wurden von diesem lokalen Büro in Tabellen zusammengeführt und dann an das Zentrale Statistikamt übermittelt. Ab 1959 wurde dieses System der Datenübermittlung zentralisiert. Zunächst beschloss der Ministerrat, innerhalb der zentralen Statistikbehörde eine Abteilung zur Beaufsichtigung der landesweiten Volkszählungen zu schaffen, die zwischen zwei Volkszählungen bestehen blieb. Des Weiteren schickten alle Sammelstellen – Unternehmen, Büros und Bezirksinspektoren – ihre gebündelten Daten direkt an die Zentralverwaltung und übermittelten sie nicht mehr über ein lokales Volkszählungsbüro – diese waren abgeschafft worden. Das neue Datenübermittlungsverfahren wurde häufig per Telegraph und nicht per Post ausgeführt und trug somit dazu bei, dass die Daten schneller ausgewertet wurden. Die vorläufigen Ergebnisse wurden weniger als vier Monate nach Abschluss der Volkszählung veröffentlicht. Zur gleichen Zeit wurden Ende der 1930er Jahre viele der während der Volkszählungen von 1920 und 1926 erprobten Prinzipien wieder aufgegriffen und systematisiert, dabei aber auch an eine von der Partei ausgeübte Kontrolle angepasst. Zu den wichtigsten Bestandteilen zählte das Prinzip der Befragung von Personen im Einzelgespräch. Sie wurde von einem Zähler vorgenommen, der Anweisung hatte, die Antworten genau aufzuschreiben, ohne die von der befragten Person verwendeten Begriffe zu verändern.48 Seit 1920 waren alle Volkszählungen nach diesem Prinzip durchgeführt worden, obwohl während der Testvolkszählung von 1967 Versuche unternommen worden waren, um zur Methode des eigenständigen Ausfüllens des Fragebogens durch jede gezählte Person überzugehen. Im Laufe dieses Versuchs wurden 25% der nach den vorläufigen Prüfungsrunden 48 Kozlova, Organizacionno-metodologicheskie, S. 4–6.

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Martine Mespoulet

ausgewählten Wohnungen nach der Methode der Befragung im Einzelgespräch gezählt und die restlichen Wohnungen nach der Methode des eigenständigen Ausfüllens des Fragebogens. Die Testergebnisse gaben den Ausschlag, letztere Methode bei der Volkszählung von 1970 nicht anzuwenden.49 Die aus diesem Anlass versammelte Konferenz der sowjetischen Statistiker zog folgendes Fazit: „Die Methode des eigenständigen Ausfüllens des Fragebogens hat nicht nur nicht zur Einsparung von Arbeitskräften und Mitteln geführt, sondern auch noch die Organisation der Volkszählung komplizierter gemacht... Von den regionalen Statistikämtern, die an der Durchführung der Testvolkszählung beteiligt waren, hat sich eine erdrückende Mehrheit gegen die Methode des eigenständigen Ausfüllens ausgesprochen“.50

Ein wesentlicher Punkt der Organisation einer Volkszählung war immer, welche Aufmerksamkeit man der Informationskampagne widmete. Die Propagandaformen der 1920er und 1930er Jahre wurden fortgesetzt, ebenso wie die Informationsveranstaltungen und Diskussionen, die am Arbeitsplatz – zum Beispiel in Unternehmen oder in kollektiven Landwirtschaftsbetrieben – und in den Schulen organisiert wurden.51 Zu den Zeitungen und dem Rundfunk kam das Fernsehen, um den Botschaften noch größeren Einfluss zu verschaffen. Darüber hinaus wurden weiterhin diverse Broschüren verteilt. Die 1920 definierten unterschiedlichen Etappen zur Vorbereitung der Volkszählung blieben unverändert. Nach der Zusammenkunft einer Statistikerkonferenz, um über das Programm der Volkszählung sowie die Fragebögen zu diskutieren und zu entscheiden, fand eine Überprüfung der Orte und Gebäude statt, in denen gezählt werden sollte. Das Personal wurde rekrutiert und ausgebildet. Den größten Teil des Personals stellten stets Lehrer und Studenten, da die Teilnahme an der Volkszählungsdurchführung als staatsbürgerliches Engagement galt. 2.2  Volkszählungen unter der Kontrolle der Partei Die Entwicklung der Rolle, die den Statistikern bei der Durchführung der Datensammelvorgänge einer Volkszählung überlassen wurde, gibt Aufschluss darüber, wie Spezialisten ihres Fachs die Kontrolle über ein Schlüsselelement dieses Apparats entzogen werden kann: in diesem Fall waren es die Zähler. Bis 1926 wurden sie von den Statistikern rekrutiert und ausgebildet, um dann schrittweise von

49 Ibid. 1997 wurde eine Testvolkszählung auf dem Postweg durchgeführt, aber auch diese Methode konnte sich nicht durchsetzen. 50 Ibid., S. 7. 51 Zu den 1920er und 1930er Jahren siehe Mespoulet, Statistique et révolution.

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

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Mitgliedern der Sozialorganisationen und von der Partei ausgewählten Personen abgelöst zu werden. a. Wie den Statistikern ein Teil ihrer Kompetenzen entzogen wurde Im Gegensatz zur demografischen Volkszählung von 1920 bediente man sich 1926 nicht der obligatorischen Mobilisierung, um Zähler zu rekrutieren. Die Gesamtheit des vorübergehend benötigten Personals wurde „ausschließlich nach dem Prinzip der Freiwilligkeit“ angefordert52. Es gab in allen Regionen ernsthafte Schwierigkeiten, genügend Freiwillige zu finden. Diese Schwierigkeit ermöglichte die Einmischung von Mitgliedern der sozialen und staatsbürgerlichen Organisationen bei der Teilnahme am Datensammlungsprozess und an der Betreuung vor Ort in den sowjetischen Regionen und Republiken. Dadurch geriet die Arbeit als Zähler plötzlich in das Tätigkeitsgebiet der obshchestvennaia rabota, einer Mischung aus staatsbürgerlichem Engagement und politischem Aktivismus, die direkt oder indirekt von der Partei kontrolliert wurde. In einem solchen Kontext begann sich der Status der Aufgabe als Zähler zu verändern und war nun einer anderen Kontrolle unterworfen als der, die von einer Gruppe von Fachleuten ausgeübt wurde, der es vor allem um die Einhaltung einer von ihnen als wissenschaftlich definierten Vorgehensweise ging. Zwischen den Statistikern und den sozialen Organisationen, insbesondere dem Kommunistischen Jugendverband, stellte sich eine Arbeitsteilung ein. Letztere waren besonders in den Kampagnen aktiv. In manchen Fällen griffen Mitglieder der Partei auch direkt ein. Obwohl 1926 nur sehr wenige Parteimitglieder zum Personal des Zentralen Statistikamts zählten (etwas mehr als 2%)53, war ihr Anteil unter den Zählern größer:

52 Vorob’ev, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia 1926g., S. 18. 53 Im November 1924 waren von insgesamt 681 Angestellten des Zentralen Statistikamts nur 15 Parteimitglieder und 5 Kandidaten, und keiner von ihnen bekleidete unter den Statistikern einen leitenden Posten. Siehe GARF, f. 374, op. 28, d. 603, ll. 34–37 (GARF: Staatsarchiv der russischen Föderation).

292

Martine Mespoulet

Anteil der Parteimitglieder und der Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands unter den Zählern in den verschiedenen Sowjetrepubliken Russland Ukraine Weißrussland Parteimitglieder und -kandidaten Mitglieder der Kommunistischen Jugend

Transkaukasien Usbekistan Turkmenistan

5%

4%

4%

9%

6%

5%

16%

11%

15%

25%

19%

31%

Quelle: Vorob’ev, 1957, ibid., S. 44.

Wenn die Mitglieder und Kandidaten der Partei in der Republik Transkaukasien und in Usbekistan auch aktiver waren als in Russland, so zeichnet sich bei der Beteiligung des Kommunistischen Jugendverbands in diesen Republiken und in Turkmenistan dagegen ein deutlich größerer Sprung ab. Diese Beteiligung kompensiert die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Zählern in der lokalen Bevölkerung. Im Gegensatz dazu war der Anteil des Jugendverbands unter den Ausbildern für die Zähler in der gesamten UdSSR geringer (4,9%) als unter den Zählern (15%), während der Anteil der Mitglieder und Kandidaten der Partei unter den Ausbildern höher war (7,2% gegenüber 5%).54 Der direkte Einfluss der Partei schien hier umso stärker zu sein, da man mit den Betreuungsaufgaben größere Verantwortung übernahm. Der Appell an die Lehrer und Studenten vervollständigte diese Maßnahmen. Er ließ eine neue Form der Beteiligung an den Erhebungsvorgängen der Volkszählung erahnen, die sich später immer stärker an den von der Partei gepredigten sozialen Aktivismus angleichen sollte. Der Volkszählungstag von 1926 wurde auf den 17. Dezember gelegt, einem Tag in den Winterferien, an dem Lehrer, Schüler der Sekundarstufe und Studenten verfügbar waren. Die Lehrer und Sekundarschüler stellten 58,6% aller Zähler der UdSSR; die Studenten, die ihr Studium abgeschlossen hatten, aber noch nicht arbeiteten, bildeten fast 37% der gesamten Zählerschaft.55 In der Provinz Saratow stellte ein Kontingent von 1200 Studenten die Hälfte der Zählerbelegschaft.56 Sie wurden vor allem in die ländlichen Bezirke entsandt, wo es an Freiwilligen fehlte, und vor Ort vom Kommunistischen Jugendverband betreut.57

54 55 56 57

Vorob’ev, Vsesoiuznaia perepis’ naseleniia 1926g., S. 46. Ibid., S. 43. Rgae, f. 1562, op. 336, d. 45, l. 65. Ibid., l. 52.

Die Bevölkerung zählen und klassifizieren

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b. Wie die Rolle der Statistiker auf die Ausübung ihrer technischen Fähigkeiten beschränkt wurde Am Beispiel eines lokalen Falls von Saratow kann man die Entwicklung verfolgen, aufgrund derer sich 1926 zwischen Statistikern und sozialen Organisationen eine neue Arbeitsteilung etabliert hat. Die lokalen Formen des Eingreifens durch die Partei bei der Leitung einer allgemeinen Volkszählung, wie sie in diesem Jahr eingeführt wurden, behaupteten sich im Folgenden bei diversen lokalen Volkszählungen und kündigten schon die Eingriffe der 1930er Jahre an. Diese neue Abgrenzung der sozialen Rolle der statistischen Arbeit sowie der fachlichen und sozialen Funktion des Statistikers wurde während der 1930er Jahre auf die Durchführung der landesweiten Volkszählungen ausgedehnt. Als Beispiel kann die Zählung der Bevölkerung in der Stadt Saratow dienen, die im März 1931 nach den zentralen Richtlinien des Gosplan und der Zentralen Union der Kooperativen, der Centrosoiuz, durchgeführt wurde, um anschließend die Versorgungsmaßnahmen für Städte festzulegen. Die Erhebungsverfahren vor Ort wurden nach den Prinzipien der obshchestvennaia rabota vorgenommen: Die Zähler wurden unter den Angestellten der Konsumgenossenschaften und den Hochschulstudenten rekrutiert. Damit war ein weiterer Schritt zur Aneignung der Volkszählungen durch den Bereich der sozialen Organisationen gemacht. Die Institutionen, die die Volkszählung in Auftrag gaben, nahmen die Aufgabe der Befragung selbst in die Hand. Indem die Volkszählung zu einer Zählung – also zu einem einfachen Recheninstrument – geworden war, verlor sie jeglichen Analyseanspruch und konnte folglich auch von Leuten organisiert und durchgeführt werden, die keine Statistiker waren. Ihre Organisation entzog sich den Fachleuten, die aus ihr eine vollendete Ausdrucksform ihres Berufs gemacht hatten, ein Symbol ihres Metiers. Die Einschränkung des Betätigungsfelds der Statistiker war die Gegenleistung dafür, dass die Volkszählung in den Bereich der staatsbürgerlichen und kollektiven Aktivitäten einzog. c. Zähler unter der Kontrolle der Partei Das Beispiel der Volkszählung von 1937 zeigt Höhepunkt und Abschluss von diesem Prozess. Wegen ihrer großen Bedeutung widmeten die lokalen Parteiorgane der Vorbereitung der Volkszählung besondere Aufmerksamkeit. So wachte das Parteikomitee der Region Saratow (obkom) über die Rekrutierung des Betreuungspersonals und der Zähler, wie der Bericht erläutert, den es am 29. Januar 1937 ans Zentralkomitee nach Moskau schickt:

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„In Zusammenhang mit der Vorbereitung und der Leitung der Volkszählung hat das obkom der VKP(b) eine große Aufgabe bewältigt. (...) Sämtliche Parteiorganisationen des oblast wurden herangezogen, um ihre Vorbereitung und Leitung zu steuern. In der Vorbereitungsphase wurde das Hauptaugenmerk auf die Auswahl der Volkszählungskader, ihre Ausbildung und die Aufgabe der Massenpropaganda für die Bevölkerung gelegt.“58

In den ländlichen und städtischen Bezirken wurde das Betreuungspersonal bevorzugt unter den aktiven Parteimitgliedern und insbesondere in den Bezirkskomitees rekrutiert, aber auch unter den Plenumsmitgliedern eines ländlichen Sowjets oder im Präsidium des Exekutivausschusses eines Bezirks.59 Die sozialen Organisationen dienten bei dieser Tätigkeit als Vermittler.60 Während der eigentlichen Volkszählungsdurchführung „verpflichtete der obkom alle Parteiorganisationen und alle ersten Sekretäre der Parteikomitees in den Städten und Bezirken, jeden Tag persönlich den Ablauf sämtlicher Arbeiten der allgemeinen Volkszählung zu überprüfen und die Mängel in der Durchführung der Arbeiten sofort zu beseitigen“.61 Die Volkszählung von 1937 wurde, in den Regionen ebenso wie im Zentrum, unter Oberaufsicht der Partei durchgeführt. Im Vergleich zum Beginn der 1930er Jahre war es ein neues Phänomen, dass eine weitere Kompetenzübertragung in der Kontrolle der Prozesse vor Ort stattgefunden hatte, die diesmal von den sozialen Organisationen hin zur Partei ging. Sie behielt die Kontrolle bis 1989. Wie man sieht, betraf die Veränderung der institutionellen Formen und der Inhalte der Produktion von Zahlenangaben des sowjetischen Staats ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch die Instrumente und Beobachtungsapparate der Statistikbehörden. Die Unterwerfung der Arbeiten der Statistiker des Zentralen Statistikamts unter die Planungslogik wurde institutionell durch die Übernahme des Zentralen Statistikamts durch das Gosplan im Januar 1930 versinnbildlicht, sowie auch durch die Absetzung seines Direktors im Januar 1926. Zugleich traten neue Führungskräfte in Erscheinung, die an den neuen Hochschuleinrichtungen des sowjetischen Staats wie etwa dem 1924 gegründeten Nationalen Wirtschaftsinstitut Plechanow ausgebildet waren, die dazu beitrugen, ab dem Ende der 1920er Jahre die inhaltliche Veränderung der statistischen Analyse und der verwendeten Instrumente zu beschleunigen. Trotzdem war damit für die russische Statistik noch nicht das Ende der Anpassung an den sowjetischen Staat erreicht. 58 Bericht an das Zentralkomitee in Moskau, geschickt am 29. Januar 1937, CKhDNISO (Zentrum für die Erhaltung von zeitgeschichtlichen Dokumenten der Region Saratow), f. 594, op. 1, d. 946, l. 97. 59 Ibid. 60 CKhDNISO, f. 342, op. 1, d. 3, l. 23. 61 CKhDNISO, f. 594, op. 1, d. 946, l. 100.

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Durch die Eingliederung der Volkszählungsproduktion in den Tätigkeitsbereich der sozialen Organisationen glitt eine wissenschaftliche Praxis in die Domäne der kollektiven sozialen und staatsbürgerlichen Tätigkeiten ab und beschränkte die Volkszählungen damit auf ein reines Zählinstrument. In Reaktion auf eine neue politische Nutzung spiegelte die Volkszählung die sozialen Ausdrucks- und Aktionsformen des im Aufbau befindlichen Staates wider und war Gegenstand einer Neudefinition ihrer Zielsetzungen und Produktionsformen. Das konnte nicht geschehen, ohne dass den Statistikern teilweise die Kontrolle über ihre Organisation entzogen wurde, insbesondere über die Leitung der Befragungsarbeit vor Ort. Die Übertragung der Leitung auf die sozialen Organisationen ebnete den Weg für eine Kontrolle durch die Partei in den 1930er Jahren. Der Statistiker wurde auf die Rolle eines Technikers im Dienste eines politischen Projekts reduziert. In den Säuberungsaktionen nach der Volkszählung von 1937 wurden die Erben der europäischen Statistik des 19. Jahrhunderts verurteilt, die sich weigerten, die Prinzipien aufzugeben, die sie für das eigentliche Wesen der statistischen Arbeit hielten: nämlich über eine Gesellschaft und eine Wirtschaft Kenntnisse zu wissenschaftlichen Zwecken zu produzieren, die keinerlei politischer Kontrolle unterworfen sind. Die Vergesellschaftung der Leitung der Erhebungsvorgänge vor Ort bei demografischen Volkszählungen stellte das Prinzip der wissenschaftlichen Unabhängigkeit der Statistiker in Frage, weil es sie im Zentrum ihrer Berufspraxis traf. Die Ausarbeitung von Terminologien und Kategorien für die Bevölkerung hatte auch eine große politische Bedeutung, um die „sozialistische Realität“ der UdSSR zu schaffen.

Annett Steinführer

Konstruktionen des demografischen Wandels in der Tschechischen Republik 1990–2008. Oder: Von der Unmöglichkeit eines neutralen Konzepts Wie in vielen europäischen Ländern, so wird seit einiger Zeit auch in der Tschechischen Republik in einer Reihe von Foren und unter Beteiligung verschiedener Akteure lebhaft und teils emotional über demografische Prozesse, ihre Erscheinungsformen und Ursachen sowie über ihre bereits eingetretenen und erwarteten Folgen gestritten. Der demografische Wandel gilt dabei als eine von zahlreichen Facetten der gesellschaftlichen Transformation, die das Land nach dem politischen Umbruch 1989 erfahren hat, aber auch als besonders dynamischer Prozess mit Auswirkungen auf andere Gesellschaftsbereiche. In diesem Beitrag wird gezeigt, dass demografischer Wandel nicht eindeutig oder „objektiv“ darstellbar ist, sondern kontinuierlich neu verhandelt und interpretiert wird. Stets werden bestimmte Entwicklungen vor anderen als besonders einflussreich herausgestellt und Folgerungen für die Verfasstheit von Gesellschaft im Allgemeinen gezogen. Der Aufsatz ist wie folgt gegliedert: Nach einer Vorstellung der tschechischen Forschungslandschaft und einem Kurzüberblick über die Bevölkerungsentwicklung seit 1990 werde ich demografischen Wandel im Hauptteil des Beitrags als Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen diskutieren. Dabei interessieren mich im ersten Untersuchungsschritt die Deutungen („Konstruktionen“) der Bevölkerungswissenschaft1 selbst, also von Forscherinnen und Forschern, die sich mit Geburtenverhalten, Veränderungen von Familienstrukturen oder Alterungsprozessen sowie deren Ursachen und Folgen beschäftigen. Im zweiten Schritt wende ich mich der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung und damit einem Themenfeld zu, das sich der Demografie als einer Hilfswissenschaft bedient und ausgewählte Befunde und Prognosen für eigene Forschungsfragen verwendet. Auf diese Weise, so mein Argument, werden die tatsächlich nachweisbaren Veränderungen im Reproduktionsverhalten der Bevölkerung als so genannter demografischer Wandel ebenfalls auf spezifische Weise konstruiert. In 1 Ich verwende die Begriffe „Bevölkerungswissenschaft“ und „Demografie“ im Folgenden weitgehend synonym, bin mir aber bewusst, dass „Bevölkerungswissenschaft“ im Deutschen breiter verstanden werden kann als „Demografie“, nämlich auch multi- und sogar interdisziplinär (vgl. z. B. die Ausführungen bei Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 35–37).

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und für Tschechien gibt es für diesen Zugang einige (wenige) Beispiele, die ich diskutieren werde. Ziel des Beitrags ist eine kritische Reflexion der Interpretationen von veränderten demografischen Verhaltensmustern in wissenschaftlichen Diskursen.

Demografischer Wandel als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess Demografischer Wandel wird in unterschiedlichen fachlichen und medialen Kontexten debattiert und konstruiert – in der Demografie selbst, aber auch in Nachbardisziplinen, wie der Soziologie, Geschichtswissenschaft, Public Health oder Geographie, und ihren jeweiligen Zeitschriften, darüber hinaus in politischen Arenen und in der medialen Öffentlichkeit. Insbesondere in Ländern, die von Bevölkerungsrückgang und/oder fortschreitender Alterung der Gesellschaft – d. h. von als vorwiegend „negativ“ wahrgenommenen demografischen Entwicklungen – charakterisiert sind, lässt sich eine wachsende Bedeutung dieser Debatten ebenso wie ihr Eingehen in allgemeine Diskussionen über den Sozialstaat und seine Zukunft feststellen. Eva Barlösius hat für diese Thematisierung gesellschaftlicher Phänomene unter dem Schlagwort des „demografischen Wandels“ in Deutschland den Begriff der „Demografisierung des Gesellschaftlichen“ geprägt. Bevölkerungszahl und -struktur werden, so ihre Argumentation, als Indikatoren für gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit genommen – und nicht mehr ökonomische, soziale, politische oder kulturelle Faktoren.2 Nach Barlösius ersetzen dabei Diskurse um Bevölkerung und demografischen Wandel regelmäßig Debatten um Gesellschaft und soziale Veränderungen. Zugleich werden Bevölkerungsentwicklungen gern als zwangsläufig, unausweichlich und nur begrenzt gestaltbar charakterisiert.3 Auch in der Tschechischen Republik sind seit den 1990er Jahren demografische Krisendiskurse an der Tagesordnung. Meine Analyse, wie dort Vorstellungen über demografischen Wandel konstruiert werden, wird sich im ersten Schritt auf den bevölkerungswissenschaftlichen Fachdiskurs beschränken, und dies aus mehreren Gründen: Erstens ist anzunehmen, dass dieser durch seine Eingebundenheit in das gesellschaftliche Teilsystem Wissenschaft – anders als in zuspitzenden 2 Eva Barlösius, Die Demographisierung des Gesellschaftlichen. Zur Bedeutung der Repräsentationspraxis, in: Dies./Daniela Schiek (Hrsg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, S. 9–34, hier insbesondere S. 11f. 3 Vgl. auch dies., Bilder des demografischen Wandels, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2010, S. 231–251.

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Darstellungen durch Massenmedien oder bei zweckorientierter Auswahl durch die Politik – vergleichsweise von Ausgewogenheit und einem historisch-kontextualisierenden Zugang charakterisiert ist, der nicht nur Negativaspekte und Momentaufnahmen diskutiert. Zweitens sind die in dieser Arena aktiven Diskutanten zugleich als Experten in der öffentlichen Debatte tätig und treten als Gutachter oder Berater für unterschiedliche Auftraggeber auf – tragen also zur Meinungsbildung über das fachinterne Feld der Demografie hinaus bei.4 Drittens ist diese Debatte genau jene, auf deren Daten, Interpretationen und Modelle sich andere Disziplinen stützen und die Demografie als „Hilfswissenschaft“ verwenden. Nicht zuletzt sind die Darstellungen kontinuierlich archiviert und damit zugänglich. Hauptquelle der Ausführungen sind die Jahrgänge 1990–2008 der Fachzeitschrift „Demografie“, der zentralen bevölkerungswissenschaftlichen Zeitschrift der Tschechischen Republik. Vereinzelt werden weitere Aufsätze tschechischer Demografen aus anderen, auch englischsprachigen, Fachzeitschriften einbezogen.

Die bevölkerungswissenschaftliche Forschungslandschaft in der Tschechischen Republik Die Tschechische Republik, gemeinhin dem Osten Europas zugerechnet, im eigenen Selbstverständnis aber in dessen Mitte liegend, verfügt über etablierte bevölkerungswissenschaftliche Einrichtungen. So gibt es zwei entsprechende Lehrstühle: einen mit der Denomination Demografie und Geodemografie an der Prager Karlsuniversität, der mit Jitka Rychtaříková besetzt ist, auf deren Beiträge später noch eingegangen wird, sowie einen für Demografie an der Prager Wirtschaftswissenschaftlichen Hochschule VŠE, dessen Leitung Jitka Langhamrová inne hat.5 Darüber hinaus sind am Institut für Soziologie der Masaryk-Universität Brno (Brünn) zwei Professoren mit einem bevölkerungswissenschaftlichen bzw. familiensoziologischen Arbeitsschwerpunkt tätig (der unten im Text mehrfach erwähnte Ladislav Rabušic sowie der Familiensoziologe Ivo Možný). Keiner der Genannten 4 Verfasser von Artikeln der Fachzeitschrift „Demografie“ tauchen beispielsweise als Autoren von Gutachten und Bevölkerungsprojektionen im Auftrag von Stadt- und Stadtteilverwaltungen (so in Prag, Ostrava oder Brno) auf. Hier spielt das Argument des „kleinen“ Lands mit einer begrenzten Zahl an Fachexperten sicherlich eine Rolle. Über eine Anhörung in der Senatskammer des tschechischen Parlaments berichtet: Věra Hrušková, Demografové o populační politice v Senátu Parlamentu ČR [Demografen über die Bevölkerungspolitik im Senat des Parlaments der Tschechischen Republik], in: Demografie 43 (2001), S. 320–321. 5 Langhamrová hat sich im Jahr 2009 habilitiert und leitet als Dozentin ebenfalls seit 2009 den genannten Lehrstuhl, ohne berufene Professorin zu sein, was in Tschechien nicht ungewöhnlich ist.

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hat Demografie als Erstfach studiert,6 und mit Ausnahme von Možný gehören sie nach 1945 geborenen Generationen an. Die Prager Lehrstühle wurden nach 1990 neu eingerichtet (allerdings gab es an beiden Instituten bereits zuvor entsprechende Lehrmodule), Možný ist 1992 als erster der vier genannten Wissenschaftler zum Professor berufen worden (Rabušic im Jahr 2002, Rychtaříková 2005). Daneben sind zwei Fachzeitschriften zu nennen: Seit 1959 erscheint viermal jährlich die bereits erwähnte „Demografie. Revue pro výzkum populačního vývoje“ (Demografie. Zeitschrift für Bevölkerungsentwicklungsforschung) in der Redaktion des staatlichen Statistikamtes (Tschechisches Statistisches Amt; nachfolgend ČSÚ).7 Des Weiteren wird seit 1991 vom Soziologischen Institut (zuvor ab 1967 vom Historischen Institut) der Akademie der Wissenschaften einmal jährlich die Zeitschrift „Historická demografie“ herausgegeben, die sich der historischen Demografie und Soziologie verschrieben hat. Ferner gibt es eine wissenschaftliche Gesellschaft (Česká demografická společnost; seit 1964, gegründet als Československá demografická společnost),8 mindestens zwei seriöse Internetportals (Demografický informační portál sowie POPIN Czech Republic)9 sowie eine bis in die Habsburgermonarchie zurückreichende, nahezu ungebrochene Zensustradition in der Hoheit des ČSÚ. Einmal im Jahrzehnt durchgeführt, bestimmen die Volkszählungen wiederkehrende Konjunkturen ausgewählter demografischer Themen ebenso wie das Methoden-Know-How und die Datenbasis des Fachdiskurses. Vor dem Zensus werden in der „Demografie“ methodische und konzeptionelle Veränderungen dargelegt, nach der Zählung sobald wie möglich Ergebnisse dargestellt und interpretiert. Auch sind die Wissenschaftler an der Veränderung von Zensuskategorien und methodischen Weiterentwicklung beteiligt.10 Gene6 Die Studienfächer waren Geografie und Französisch (Rychtaříková), Wirtschaftsstatistik (Langhamrová), Soziologie und Anglistik/Amerikanistik (Rabušic) sowie Philologie (Možný). Rychtaříková hat als Zweitstudium in den 1970er Jahren in Frankreich Allgemeine Demografie studiert (Quelle: persönliche Webseiten; Zugriff 2.12.2009). Die Biografien weiterer Fachvertreter verweisen auf die große Bedeutung der Geografie als ursprüngliche fachliche Heimat. Vgl. https://www.natur.cuni.cz/geografie/demografie-ageodemografie/ceska-demograficka-spolecnost/ (letzter Zugriff: 18.1.2010). 7 Laut Selbstdarstellung handelt es sich bei ihr um die einzige bevölkerungswissenschaftliche Zeitschrift im östlichen Europa, die bereits vor 1990 existierte. Vgl. Editorial, in: Demografie 35 (1993), S. 1. Seit 2007 gibt es jährlich eine englische Internet-Ausgabe, für die einzelne Artikel der tschechischen Version übersetzt werden (http://www.czso.cz/eng/ redakce.nsf/i/journal_demography; Zugriff 25.11.2009). 8 Ihren Vorsitz hat 2010 (und seit dem Jahr 2000) die erwähnte Jitka Rychtaříková inne. 9 Siehe: www.demografie.info sowie http://popin.natur.cuni.cz (Zugriff jeweils 24.11.2009). Die letztgenannte Seite wird dem Augenschein nach nicht mehr gepflegt (letzte Aktualisierung 2003). 10 Ihr Engagement geht teilweise noch weiter: So war der unten mehrfach erwähnte Milan Kučera in leitender Funktion für die Organisation der Volkszählungen 1980 und 1991

Konstruktionen des demografischen Wandels

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rell können die Verbindungen zwischen ČSÚ und bevölkerungswissenschaftlicher Community als sehr eng bezeichnet werden, weshalb das Amt in eine Darstellung der Forschungslandschaft zwingend hineingehört. Aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass Bevölkerungswissenschaft – tschechisch demografie (Demografie), populační studie (Bevölkerungsstudien), zkoumání reprodukce lidských populací (Erforschung der Bevölkerungsreproduktion) oder výzkum populačního vývoje (Bevölkerungsentwicklungsforschung) – in unserem Nachbarland in unterschiedlichen institutionellen und fachlichen Zusammenhängen verankert ist. An den Universitäten wird sie sowohl eigenständig (als Bachelorstudiengang Sozio-ökonomische Demografie an der Prager VŠE bzw. als Masterstudiengang Demografie an der Karlsuniversität) als auch im Rahmen soziologischer und geographischer Studiengänge gelehrt. Es gibt jedoch kein dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung vergleichbares spezialisiertes Institut (etwa an der Akademie der Wissenschaften). Im deutsch-tschechischen Vergleich ist aber auch festzuhalten, dass es sich bei den bevölkerungswissenschaftlich orientierten Forschungszweigen in Tschechien um etablierte und anerkannte Disziplinen handelt.

Kennziffern der Bevölkerungsentwicklung der Tschechischen Republik 1989–2008 Die Tschechische Republik hat etwa zehn Millionen Einwohner und ein seit Beginn der 1990er Jahre (bis einschließlich 2005) anhaltend negatives Vorzeichen bei der Bevölkerungsentwicklung (vgl. Tabelle 1), weshalb die Zahl „zehn Millionen“ in Diskursen unterschiedlicher Provenienz gern als nicht zu unterschreitende Grenze thematisiert wird. Wie in anderen Transformationsländern auch, haben sich individuelle demografische Entscheidungen ebenso wie institutionelle Rahmensetzungen nach 1989 grundlegend gewandelt und weit über das Fachpublikum hinausreichende Debatten nicht nur über die demografische Zukunft des Landes hervorgerufen. Die zeitliche, politische, soziale und ökonomische Grenze 1989/90 wird im demografischen Fachdiskurs zugleich als ein Bruch der „demografischen Regimes“

verantwortlich. Vgl. Ludmila Fialová/Milan Kučera, The Main Features of Population Development in the Czech Republic during the Transformation of Society, in: Czech Sociological Review 5 (1997), S. 93–111, hier S. 93. Auch weitere Beispiele für personelle Verbindungen lassen sich finden, z. B. Demografen, die erst beim ČSÚ, dann an einem universitären Lehrstuhl gearbeitet haben (so z. B. Dagmar Bartoňová).

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beschrieben.11 Bevor dies näher ausgeführt und diskutiert wird, gibt Tabelle  1 einen Überblick über die Entwicklung zentraler demografischer Kennziffern des Landes zwischen 1980 und 2005. Tabelle 1  Ausgewählte demografische Kennziffern der Tschechischen Republik, 1980–2005 1980 Mittlerer Bevölkerungsstand in Tsd. 10.326,8 18.264 Natürlicher Bevölkerungssaldo 1.856 Wanderungssaldo 14,9 Lebendgeburten auf 1.000 Einwohner Zusammengefasste Geburtenziffer 2,10 (TFR)* 13,1 Todesfälle auf 1.000 Einwohner 16,9 Kindersterblichkeitsrate (auf 1.000 Lebendgeborene) 66,8 Lebenserwartung bei Geburt (Männer) in Jahren 73,9 Lebenserwartung bei Geburt (Frauen) in Jahren Heiraten auf 1.000 Einwohner 7,6 Scheidungen auf 1.000 Einwohner 2,6 22,4 Durchschnittliches Alter der Frau bei Geburt des ersten Kindes in Jahren 21,7 Durchschnittliches Erstheiratsalter Frauen in Jahren 5,6 Außerehelich geborene Kinder in Prozent Abtreibungen auf 1.000 Einwohner 8,4 Altersindex (Bevölkerung 65+ auf 56,9 100 Kinder 0–14)

1985

1990

1995

2000

2005

10.336,7 4.240 2.195 13,1

10.362,7 1.398 624 12,6

10.330,8 -21.816 9.999 9,3

10.272,5 -18.091 6.539 8,8

10.234,1 -5.727 36.229 10,0

1,96

1,89

1,28

1,14

1,28

12,7 12,5

12,5 10,8

11,4 7,7

10,6 4,1

10,5 3,4

67,5

67,6

69,7

71,7

72,9

74,7

75,4

76,6

78,4

79,1

7,8 2,9 22,3

8,8 3,1 22,5

5,3 3,0 23,3

5,4 2,9 24,9

5,1 3,1 26,6

21,8

21,4

24,6

26,4

28,1

7,3

8,6

15,6

21,8

31,7

9,6 k.A.

12,2 58,3

6,0 72,5

4,6 85,5

3,9 97,0

* Die zusammengefasste Geburtenziffer (total fertility rate; TFR) eines bestimmten Jahres fasst die Fertilität aller Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren in jenem Jahr zusammen. Auf dieser Basis gilt sie als (hypothetisches) Maß für die Kinderzahl, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekäme, entspräche ihr Reproduktionsverhalten exakt dem berechneten Durchschnitt jenes Stichjahres. Quellen: ČSÚ (2009): Obyvatelstvo – roční časové řady [Bevölkerung – jährliche Zeitreihen], online verfügbar unter http://www.czso.cz/csu/redakce.nsf/i/obyvatelstvo_hu sowie Internetdatenbank des ČSÚ: http://vdb.czso.cz/vdb/ (letzter Zugriff jeweils: 15.8.2009) 11 Mit diesem Vokabular: Jiřina Kocourková, Současný „Baby-Boom“ v České republice a rodinná politika [Der gegenwärtige „Baby-Boom“ in der Tschechischen Republik und die Familienpolitik], in: Demografie 50 (2008), S. 240–249, hier S. 242. Alle im Text zitierten Übersetzungen tschechischer Originalquellen und Zitate stammen von der Autorin.

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Der Schwerpunkt der Darstellung in Tabelle 1 liegt auf Indikatoren der so genannten natürlichen Bevölkerungsentwicklung, stellen diese doch – wie zu zeigen sein wird – den Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen (wie auch der öffentlichen Debatte) dar. Für die Darstellung werden Standardindikatoren nicht nur der tschechischen Demografie verwendet, mit ihren üblichen Bezeichnungen und spezifischen Rationalitäten. Beim Vergleich der einzelnen Zeitabschnitte fallen für die Jahre nach 1990 folgende starke Veränderungen auf: – der Bevölkerungsrückgang, hervorgerufen zunächst durch die verringerte Zuwanderung, ab Mitte der 1990er Jahre aber vor allem aufgrund des Geburtenrückgangs,12 – der Altersanstieg bei Eheschließung und Erstgeburt, – die sehr starke Zunahme außerehelicher Geburten, – der signifikante Rückgang der Kindersterblichkeit und der Abtreibungen, – der Anstieg der Lebenserwartung, – die Alterung (gemessen über den Altersindex, der aussagt, wie viele Personen im Alter von 65 Jahren und älter rein statistisch auf 100 Kinder bis 14 Jahre kommen). Die Entwicklung dieser Indikatoren verlief nach 1990 teils mit deutlich größerer Dynamik (so bei den Wanderungen), teils verkehrten sich ihre Vorzeichen über einen gewissen Zeitraum ins Gegenteil (wie beim so genannten natürlichen Bevölkerungssaldo). Nur in Ansätzen lässt Tabelle 1 die jüngsten demografischen Entwicklungen des Landes (nach 2005) erkennen, die für die Geburten- und Bevölkerungszahlen eine wenigstens vorläufige Trendumkehr bedeuten. Bis zum Sommer 2009 stieg die Bevölkerungszahl erneut, zurückzuführen auf Wanderungsgewinne aus dem Ausland und einen Geburtenzuwachs, der im medialen Diskurs als „BabyBoom“ bezeichnet und von zahlreichen Berichten über mangelnde Kapazitäten in Geburtskliniken und Kindergärten begleitet wird. Die Bevölkerungswissenschaftlerin Jitka Kocourková schlug 2008 vor, die Tschechische Republik nun den Län-

12 Anders als von Tabelle 1 suggeriert, fiel die Bevölkerungszahl zwischen 2000 und 2005 nicht beständig. Vielmehr war der Tiefpunkt im Jahr 2002 (mit 10,20 Millionen Einwohnern) erreicht. Seitdem stieg die Bevölkerungszahl allmählich an, und zwar bis Ende 2005 ausschließlich durch Wanderungsgewinne. Zwischen 2006 und 2008 waren auf nationalstaatlicher Ebene sowohl Wanderungs- als auch natürlicher Saldo positiv (Quelle: Tschechisches Statistisches Amt).

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dern mit dem demografischen Regime der „späten Fertilität“ zuzurechnen.13 Diese Entwicklungen bleiben bei den folgenden Betrachtungen außen vor.

Konstruktionen I: Der bevölkerungswissenschaftliche Diskurs um den demografischen Wandel in der Tschechischen Republik Die eben kurz dargestellten Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung und -struktur der Tschechischen Republik seit 1990 werden im Deutschen – wie beispielsweise auch im Italienischen oder Spanischen – gemeinhin als „demografischer Wandel“ bezeichnet. Hier ist ein bemerkenswerter Unterschied zum tschechischen Sprachgebrauch festzustellen: „Den“ demografischen Wandel gibt es auf Tschechisch nicht, stattdessen wird dieser mit verschiedenen Umschreibungen, wie dem Pluralwort demografické změny (demografische Veränderungen), změny charakteru reprodukce (Veränderungen des Charakters der Bevölkerungsreproduktion) oder změny v demografickém chování populace (Veränderungen des demografischen Verhaltens der Bevölkerung) gefasst. Auch in englischen Texten verwenden tschechische Bevölkerungswissenschaftler eher Pluralformen wie demographic changes oder demographic shifts. Die Assoziation des Eindeutigen und allgemein Geteilten, die der deutsche Terminus des (einen) „demografischen Wandels“ suggeriert – wobei oft ungeklärt bleibt, auf welche Teilprozesse konkret Bezug genommen wird – ist im Tschechischen somit zumindest aus linguistischer Sicht nicht gegeben. Veränderungen waren es auch, die am Beginn der betrachteten Epoche durch die Fachdebatte vorweggenommen wurden. 1991 ging Pavel Vereš in einem Aufsatz davon aus, dass nach einer „langjährigen Starre der wesentlichen demografischen Prozesse“ in der Folgezeit „ein dynamisches Moment in die demografische Reproduktion“ des Landes hineingetragen werden würde.14 Diese Annahme bestätigte sich rasch, doch wurde aus dem Optimismus ein überwiegender Pessimismus: Viele der in Tabelle 1 dokumentierten demografischen Veränderungen der Transformationsphase werden durch die Mehrzahl der sich öffentlich zu Wort meldenden tschechischen Demografinnen und Demografen kritisch gesehen.15 Konkret erfahren vor allem der Geburtenrückgang, die Steigerung der außerehe13 Kocourková, Současný „Baby-Boom“, S. 242; LP [Ladislav Pištora], Baby boom – realita nebo fikce [Babyboom – Realität oder Fiktion]?, in: Demografie 48 (2008), S. 283–284. 14 Pavel Vereš, Několik úvah o současném a budoucím populačním vývoji [Einige Überlegungen zur gegenwärtigen und künftigen Bevölkerungsentwicklung], in: Demografie 33 (1991), S. 97–105, hier S. 104. 15 So auch die Einschätzung von Vladimír Srb: ders., Exkurs Felixe Koschine do populační politiku [Felix Koschins Exkurs in die Bevölkerungspolitik], in: Demografie 42 (2000),

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lichen Geburten und der Rückgang der Eheschließungen negative Bewertungen. Der Alterung werden zwar positive Aspekte abgewonnen (z. B. das Plus an Lebenszeit), in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen aber gilt sie ebenso als negativer Trend wie die gesunkene Geburtenrate. Der Rückgang der Abtreibungen, die niedrigere Kindersterblichkeit und die erhöhte Lebenserwartung schließlich werden zwar positiv beurteilt,16 allerdings erhalten sie in der Debatte auch deutlich weniger Aufmerksamkeit. Relativ neutral und ausgewogen klingen bevölkerungswissenschaftliche Überblicksdarstellungen der gesellschaftlichen Transformationsphase wie folgt: „Der Wandel des politischen Systems 1989 und die ökonomische und soziale Transformation zogen erhebliche Veränderungen des reproduktiven Verhaltens der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Altersgruppen, nach sich. Neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung eröffneten sich, Heirat und Familiengründung wurden auf später vertagt. Schrittweise Verbesserungen in Bezug auf die Sterblichkeit von Männern und Frauen ebenso wie ein starker Rückgang der Abtreibungsrate gehören zu den positiven Merkmalen.“17

Deutlich werturteilsbehaftet, mit dem Verweis auf einen vermeintlichen Werteverfall und Schuldzuweisungen versehen, ist folgende Äußerung aus einem Aufsatz von Milan Kučera: „Jede Generation übergibt der nachfolgenden in Form der Altersstruktur der Bevölkerung ein bestimmtes Vermächtnis, bildlich lässt sich von einem fertig gebauten Haus sprechen. Mit Bedauern müssen wir bekennen, dass unsere heutige Elterngeneration – auch durch die Schuld der Großeltern – das Haus durch die deutlich gesunkenen Zahlen ihrer Kinder in einem wenig bewohnbaren Zustand, anders gesagt mit einer enorm hohen demografischen Verschuldung, hinterlässt. Jede Gesellschaft mit einer durch das niedrige Fertilitätsniveau verursachten unbewältigten Alterung ihrer Bevölkerung wird zwangsläufig verarmen – anfänglich vor allem in moralischer Hinsicht, später zunehmend auch materiell. In diesem Sinne müssen wir die Phase ab 1989 also als eine EpoS. 124–125, hier S. 124 (unter Bezugnahme auf: Felix Koschin, Jsme v pubertě anebo v přechodu [Sind wir in der Pubertät oder im Übergang]?, in: Demografie 42 (2000), S. 55). 16 Vgl. auch Ladislav Rabušic, O současném vývoji manželského a rodinného chování v České republice [Zur aktuellen Entwicklung des ehelichen und familialen Verhaltens in der Tschechischen Republik], in: Demografie 38 (1996), S. 173–180, hier S. 174. 17 Terezie Kretschmerová, Vývoj obyvatelstva České republiky v roce 2001 (ze Zprávy ČSÚ) [Die Bevölkerungsentwicklung der Tschechischen Republik 2001 (aus dem Bericht des Tschechischen Statistischen Amtes)], in: Demografie 43 (2002), S. 157–170, hier S. 157 (hier: Übersetzung aus der englischen Zusammenfassung des Artikels). Für ein anderes Beispiel einer eher neutralen Darstellung vgl.: Boris Burcin/Tomáš Kučera, Nová kmenová prognóza populačního vývoje České republiky (2003–2065) [Eine neue grundlegende Bevölkerungsprognose für die Tschechische Republik (2003–2065)], in: Demografie 46 (2004), S. 100–111, besonders S. 110f.

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che der verlorenen Gelegenheiten der Bevölkerungsentwicklung der Tschechischen Republik auf höherem Niveau bewerten.“18

Weitere Beispiele ließen sich anführen.19 Nach Begründungen solcher Werturteile sucht man vergebens, und so erscheint stetiges Bevölkerungswachstum, mindestens aber demografische Stabilität – gemessen mit Indikatoren wie dem „Bestandserhaltungsniveau“ – als Wert an sich.20 Diese Haltung ist hinlänglich aus dem deutschen, aber auch aus dem Diskurs anderer Länder bekannt. In einer transnationalen Perspektive wäre es eine interessante Forschungsfrage, ob es Analysen bzw. Konstruktionen demografischer „Schrumpfungs“-Vorgänge gibt, die ohne solche Referenzen auskommen.21 Ein in den verschiedenen Darstellungen der tschechischen Fachdebatte nicht immer explizit benannter, aber sich doch durch die zwei Untersuchungsjahrzehnte ziehender roter Faden der zahlreichen Beschreibungen und Interpretationen der demografischen Veränderungen ist die Diskussion um die Stellung des Landes in Europa. Dabei werden zwei, einander partiell überlappende Aspekte berührt: erstens die Frage, ob die demografischen Veränderungen der Transformationsphase als Anpassung an das westliche Modell (auch im Sinne einer „Rückkehr“ nach Europa) oder als eigener Weg zu verstehen sind, sowie zweitens, ob es sich bei ihnen – insbesondere dem starken Geburtenrückgang – um eine Schockreaktion auf den postsozialistischen Wandel und die durch ihn verursachte Gegenwarts- und 18 Milan Kučera, Padesát let hodnocení populačního vývoje České republiky [50 Jahre Bewertungen der Bevölkerungsentwicklung der Tschechischen Republik], in: Demografie 50 (2008), S. 230–239, hier S. 238. Deutlich ausgewogener argumentiert hingegen ein gemeinsamer Beitrag des gleichen Autors mit Ludmila Fialová aus dem Jahr 1997: Fialová/ Kučera, The Main Features. 19 Vgl. z. B. Kučera, M., Padesát let, S. 238 oder den Bericht über die Stellungnahme „führender Demografen“ der Tschechischen Republik 2001 im Parlament. Diese hatten dort auf „den Ernst der Problematik bzw. die fatalen [neblahé] Konsequenzen, die aus der demografischen Entwicklung der Tschechischen Republik für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes folgen“, hingewiesen. Vgl. Hrušková, Demografové o populační politice, S. 320. 20 Vgl. z. B. Ivo Patta, Komplexní řešení demografického problému [Die komplexe Lösung des demografischen Problems], in: Demografie 49 (2007), S. 117–120. Patta scheint allerdings kein Wissenschaftler, sondern ein politischer Aktivist zu sein, doch bietet ihm die wissenschaftliche Fachzeitschrift mit dem Abdruck seines Diskussionsbeitrags ein begrenztes, nämlich vor allem von Vertretern des Faches Demografie/Bevölkerungswissenschaften genutztes Forum. 21 Auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen – zuvorderst der Wirtschaft – sind ähnliche Probleme (sprachlicher wie genereller Art) im Umgang mit Schrumpfungsprozessen bekannt. Als Beispiel sei das gern verwendete Wort des „Negativwachstums“ für wirtschaftlichen Misserfolg benannt. Auf „Schrumpfung“ im Kontext von Stadtentwicklung wird später noch eingegangen.

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Zukunftsunsicherheit oder aber um eine allgemeine Modernisierung der tschechischen Gesellschaft handelt. Beiden Punkten wird im Folgenden nachgegangen. Die Annahme, dass demografische Mustern in ganz Europa auf lange Sicht konvergent verlaufen werden, ist Teil des Modells vom „Zweiten Demografischen Übergang“.22 Mit diesem bis heute nicht einhellig von der Fachwelt geteilten Konzept wurde ursprünglich eine Fülle von etwa seit den 1960er Jahren in West- und Nordeuropa beobachteten Mustern des demografischen Verhaltens – in erster Linie das dauerhafte Sinken der Geburtenrate unter das so genannte Bestandserhaltungsniveau – beschrieben und an andere gesellschaftliche Prozesse rückgebunden. Im Zusammenspiel mit der signifikanten Steigerung der Lebenserwartung und trotz Wanderungen kommt es zu einem Rückgang und zur Alterung der Bevölkerung.23 Darüber hinaus finden tief greifende Veränderungen auf der Ebene der privaten Haushalte statt – bester Indikator dafür ist ihre seit Jahrzehnten steigende Anzahl. Diese Zunahme ist durch die größere Vielfalt von im Lebensverlauf mehrfach veränderten privaten Lebens- und Wohnarrangements sowie die Verbreitung neuer Haushaltstypen zu erklären. Diese werden auch als „nicht-traditionelle“ Haushalte bezeichnet, da sie vom Modell des durch Heirat verbundenen heterosexuellen Ehepaares in einer geschlechterspezifisch arbeitsteiligen Einheit (Alleinverdienermodell) mit eigenen Kindern abweichen. Dazu werden in der Literatur beispielsweise dauerhaft oder zeitweilig Alleinlebende unterschiedlicher Altersgruppen (darunter auch Singles), kinderlose Paare oder Wohngemeinschaften gezählt. Neu an diesen „neuen“ Haushaltstypen ist ihre gesellschaftliche Anerkennung bzw. weit geringere juristische Benachteiligung und symbolische Stigmatisierung als noch vor wenigen Jahrzehnten, sowie ihre quantitative Bedeutung unter allen Haushaltsformen.24 Der von Sozialwissenschaftlern 22 Vgl. Dirk J. van de Kaa, Is the Second Demographic Transition a useful research concept. Questions and answers, in: Vienna Yearbook of Population Research (2004) S. 4–10, hier S. 8f. 23 Vgl. grundlegend Dirk J. van de Kaa, Europe’s second demographic transition, in: Population Bulletin 42 (1987) 1–47; R[on J.] Lesthaeghe, The Second Demographic Transition in Western Countries: An Interpretation, in: Karen Oppenheim Mason/An-Magritt Jensen (Hrsg.), Gender and Family Change in Industrialized Countries. Oxford 1995, S. 17–62 (International Studies in Demography); van de Kaa, Is the Second Demographic Transition a useful research concept; David Coleman, Why we don’t have to believe without doubting in the „Second Demographic Transition“ – some agnostic comments, in: Vienna Yearbook of Population Research (2004), S. 11–24. 24 Vgl. Norbert F. Schneider/Doris Rosenkranz/Ruth Limmer, Nichtkonventionelle Lebensformen. Entstehung, Entwicklung, Konsequenzen. Opladen: Leske + Budrich, 1998; Erika Spiegel, Neue Haushaltstypen. Entstehungsbedingungen, Lebenssituation, Wohnund Standortverhältnisse. Frankfurt a.M., New York: Campus 1986 (Campus-Forschung 503); Annett Steinführer/Annegret Haase, Flexible-inflexible: Socio-demographic,

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als Individualisierung bezeichnete makrogesellschaftliche Prozess spiegelt sich hier in doppelter Hinsicht wider: in der Zunahme von Einpersonenhaushalten, die ebenso als gewählte wie als ungewollte Lebensform auftreten, und in einer größeren Vielfalt von Haushaltstypen, die auf konkrete Lebenssituationen abgestimmt sind. Das Konzept des „Zweiten Demografischen Übergangs“ entwickelte sich auch im östlichen Europa nach 1990 zu einem wichtigen Referenzmodell der bevölkerungswissenschaftlichen Debatte. Einige darunter typischerweise subsumierten Prozesse setzten in manchen Ländern des europäischen Ostens historisch etwa zur selben Zeit wie in Westeuropa, also weit vor dem Bruch des Jahres 1989 ein. Dazu zählen beispielsweise die Zunahme außerehelicher Geburten und nichtehelicher Lebensgemeinschaften oder eine höhere Scheidungsrate.25 Andere aber fallen tatsächlich erst in die Phase ab 1990 und erfolgten dann rapider und dramatischer. Dies gilt insbesondere für den starken Geburtenrückgang. Aufgrund der Geschwindigkeit und des Ausmaßes der Veränderungen spricht die tschechische Demografin Jitka Rychtaříková von einem demografischen „Schock“.26 In mehreren Aufsätzen der 1990er Jahre weist sie die Hypothese, dass die Tschechische Republik in der Phase des Zweiten demografischen Übergangs „angekommen“ wäre, zurück. Viel eher sei der Wandel des Fertilitätsverhaltens als Symptom einer postsozialistischen „Krise“ und nicht als Anpassung an westliche Modelle rationaler Wahl zu interpretieren.27 Als Erklärungsfaktoren bemüht sie die verschlechterte materielle Situation potentieller Familiengründer (einschließlich der Wohnungsnot bzw. der hohen Wohnpreise) sowie die Unsicherheit über die weitere ökonomische Entwicklung. Andere tschechische Wissenschaftler, z. B. der spatial and temporal dimensions of flat sharing in Leipzig (Germany), in: GeoJournal 74 (2009), S. 567–587. 25 Vgl. z. B. Ivo Možný, K některým novým jevům v kulturně legitimních vzorcích rodiných startů [Zu einigen neuen Phänomenen kulturell legitimer Muster der Familiengründung], in: Demografie 29 (1987), S. 114–124; Jitka Tutterová/Jitka Rychtaříková, Vývojové trendy rozvodovosti po roce 1950 v ČSR a SSR v kontextu legislativních změn [Entwicklungstrends bei der Scheidungshäufigkeit in der ČSR und der UdSSR nach 1950 im Kontext rechtlicher Änderungen], in: Demografie 31 (1989), S. 200–219; Jitka Rychtaříková, Dvacet let svobodného mateřství v České republice (1986–2005) [20 Jahre ledige Mutterschaft in der Tschechischen Republik (1986–2005)], in: Demografie 49 (2007), S. 1–12; allgemein: Coleman, Why we don’t have to believe, S. 20f. 26 Jitka Rychtaříková, Demographic transition or demographic shock in recent population development in the Czech Republic?, in: Acta Universitatis Carolinae – Geographica 35 (2000), S. 89–102; Tomáš Sobotka/Kryštof Zeman/Vladimíra Kantorová, Demographic Shifts in the Czech Republic after 1989: A Second Demographic Transition View, in: European Journal of Population 19 (2003), S. 249–277, hier S. 259. 27 Vgl. z. B. Jitka Rychtaříková, Is Eastern Europe experiencing a second demographic transition?, in: Acta Universitatis Carolinae – Geographica 34 (1999), S. 19–44, hier S. 28.

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in Wien wirkende tschechische Demograf Tomáš Sobotka und seine Kollegen oder der Brünner Soziologe Ladislav Rabušic, gehen hingegen davon aus, dass das Modell des „Zweiten Demografischen Übergangs“ auf die Tschechische Republik der postsozialistischen Phase anzuwenden sei: „Despite some ambiguity, the concept of the second demographic transition provides a suitable framework for understanding the profound demographic changes in the Czech Republic. [...] All the major features of the transition have taken place in the Czech Republic over the 1990s.“28

Sehr wahrscheinlich ist dieser Streit, ob nun Krise und Schockreaktion oder einfach „nachholende“ Entwicklung, gar nicht entscheidbar – und so beziehen sich die Erklärungen auf verschiedene gesellschaftliche Prozesse (ökonomisch-politische bei den Einen, Wertewandel bei den Anderen). Der eben bereits genannte Ladislav Rabušic geht in seiner Argumentation jedoch weiter. Kontinuierlich setzt er den bisher dargestellten Deutungen eine dezidierte Wertewandels- und Modernisierungsthese entgegen und argumentiert zugleich gegen die vermeintliche Krisenhaftigkeit der beobachteten Prozesse. Er betont, „(...) dass die gegenwärtigen Bevölkerungstrends [in der Tschechischen Republik] – so wie in anderen Lebensbereichen des Landes – eine Verschiebung hin zu den typischen Standards einer modernen demokratischen Gesellschaft sind, dass die tschechische Familie nicht in der Krise ist und dass, allgemein gesagt, die eingeschlagene Entwicklung nicht nur logisch, sondern aus einem bestimmten Blickwinkel auch ein gesunder Bestandteil der Gesamtentwicklung dieser Gesellschaft ist.“29

Seiner Meinung nach ist der Rückgang der Fertilität ein „normales Merkmal“ einer modernen Gesellschaft, auch könnten die meisten anderen Charakteristika des demografischen Wandels nach 1989 als Beleg dafür gelten, „dass sich die tschechische Gesellschaft tatsächlich ändert und sich in die Familie der modernen europäischen Gesellschaften einzureihen beginnt“.30 An diesem Diskurs, der über Jahre – teils als Polemik zwischen den zwei Protagonisten Rychtaříková und Rabušic – geführt wurde und im Kern die Frage nach der „richtigen“ Interpretation der demografischen und (darüber hinaus) der gesellschaftlichen Veränderungen der jüngsten tschechischen Vergangenheit in sich trägt, halte ich verschiedene Aspekte für bemerkenswert: Erstens finden sich 28 Sobotka u. a., Demographic Shifts, S. 270; Rabušic, O současném vývoji. – Ein Großteil der Debatte um die Anwendbarkeit des Modells vom Zweiten demografischen Übergang bis Ende 2008 fand bislang außerhalb der Zeitschrift „Demografie“ und fast ausschließlich auf Englisch statt – sicher auch im Bemühen, im internationalen Diskurs wahrgenommen zu werden. 29 Rabušic, O současném vývoji, S. 176. 30 Ibid., S. 176 bzw. 178.

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auf beiden Seiten Werturteile. Nicht nur die Demografin Rychtaříková verwendet solche, sondern auch der Soziologe Rabušic arbeitet offen mit wenig oder gar nicht begründeten normativen Setzungen. So beachte man in den zuletzt angeführten Zitaten Attribute wie „modern“, „gesund“ oder „normal“, die der „Krise“ gegenübergestellt werden. Wären andere Verläufe dann „unmodern“, „krank“ oder „anormal“? Zweitens findet sich in der Diskussion die Frage nach dem Modernisierungsgrad der tschechischen Gesellschaft, die vor allem Rabušic immer wieder erörtert. Er konstruiert den Realsozialismus als „traditionelle“ Gesellschaft und stellt ihr das nach-1989er System als eines der Rationalität und Wahlentscheidung gegenüber. In diesem könne man sich für oder gegen Kinder wie auch für oder gegen andere Lebensmodelle jenseits von Ehe, Familie oder Kindern entscheiden.31 So findet sich beispielsweise die Feststellung, dass der hohe Stellenwert der Familie während des Realsozialismus kein „Ausdruck der Authentizität der tschechischen Bevölkerung“ gewesen sei.32 Die Frage nach der Modernität der Gesellschaft vor 1990 ist im Übrigen für einen Großteil der Transformationsforschung konstitutiv – man denke nur an das Diktum der „nachholenden Modernisierung“, das zumindest anfänglich das Hauptmodell der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung darstellte und auch in Untersuchungen des demografischen Wandels nicht fehlt.33 Drittens wird – und das macht der letzte Satz des obigen Zitats von Rabušic deutlich – um die Position der Tschechischen Republik in Europa gestritten. So betont Rychtaříková, dass trotz der Blockzugehörigkeiten nach 1945 die „demografischen Trends in beiden geopolitischen Blöcken“ zunächst vor allem in Bezug auf Merkmale der Reproduktion (z. B. die Reduzierung der individuellen Kinderzahl, die gestiegene „Heiratsintensität“ und der Rückgang der Zahl kinderloser Frauen) sehr ähnlich gewesen seien, doch hätten sich die demografischen Regimes 31 Vgl. z. B. ders., Polemicky k současným změnám charakteru reprodukce v ČR (sociologická perspektiva v demografii) [Polemisch zu den aktuellen Veränderungen des Charakters der Reproduktion in der Tschechischen Republik (eine soziologische Perspektive in der Demografie)], in: Demografie 39 (1997), S. 114–119, hier S. 117; ders., Value change and Demographic Behaviour in the Czech Republic, in: Czech Sociological Review 9 (2001), S. 99–122, besonders S. 117–119. 32 Ders., Polemicky k současným změnám, S. 117. 33 Vgl. allgemein Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorien in der Transformationsforschung, in: Klaus von Beyme/Claus Offe (Hrsg.), Politische Theorien in der Ära der Transformation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996 (Politische Vierteljahresschrift; Sonderheft 26), S. 169–181; für die Bevölkerungsentwicklung (am Beispiel von Polen): Olaf Kühne, Die demographische Struktur Polens im Transformationsprozeß. Entwicklung und räumliche Gliederung, in: Osteuropa 50 (2000), S. 872–884, hier S. 875.

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später auseinanderentwickelt.34 Für die 1990er Jahre besteht sie auf der erneuten Herausbildung eines spezifisch „osteuropäischen“ Reproduktionsmodells und sieht stärkere Parallelen zum süd- als zum westeuropäischen Weg.35 Ihr Gegenpart Rabušic, aber auch weitere tschechische Demografen (z. B. Sobotka) ziehen die innereuropäischen Grenzen anders: Rabušic argumentiert, dass die Tschechoslowakei vor dem 2. Weltkrieg zum „westeuropäischen“ demografischen Regime gehört habe und nach 1945 in das „osteuropäische“ übergewechselt sei.36 Dies sei nun mit dem Fall des Eisernen Vorhangs beendet. Damit wird eine lineare Kontinuitätslinie zur im tschechischen kollektiven Gedächtnis fast uneingeschränkt positiv konnotierten Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–1938) hergestellt. Eine andere Autorin spricht für die Transformationsphase in Bezug auf die Bevölkerungsreproduktion gar von der „Auslöschung des osteuropäischen Modells und einem schrittweisen Übergang zum Modell des westlichen Europas“.37 Im Diskurs finden sich im übrigen weitere historisierende Argumentationen – in einer Polemik Vladimír Srbs aus dem Jahr 2000 wird die Notwendigkeit aktiver Bevölkerungspolitik des 21. Jahrhunderts mit Debatten der tschechischen Nationalbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das Überleben des tschechischen Volkes, die nationale (bzw. ethnische) Identität und ihren Bezug zur damaligen deutschen Mehrheitskultur assoziiert. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass für die historische Phase der Nationalbewegungen der „kleinen Nationen“ (wie der Sozialhistoriker Miroslav Hroch die Tschechen, aber auch andere europäische Ethnien und Gruppen bezeichnet hat) die naturalistische Metapher der „Wiedergeburt“ (obrození) üblich ist.38 Zurückkehrend zur disziplinären Debatte um die Bevölkerungsentwicklung seit 1990 kann festgehalten werden, dass hier – neben dem Austausch sachlicher und wissenschaftlich begründeter Argumente – mittels demografischer Kennziffern und Argumente auch gesellschaftliche (und partiell nationale) Selbstvergewis34 Jitka Rychtaříková, Současné změny charakteru reprodukce v České republice a mezinárodní situace [Aktuelle Veränderungen des generativen Verhaltens in der Tschechischen Republik und im internationalen Kontext], in: Demografie 38 (1996), S. 77–89, hier S. 77. 35 Vgl. dies., Nechci této společnosti namlouvat, že se nic neděje [Ich will dieser Gesellschaft nicht einreden, dass sich nichts täte], in: Demografie 39 (1997), S. 267–271, hier S. 268 bzw. Dies., Současné změny, S. 88. 36 Rabušic, O současném vývoji, S. 174. 37 Kretschmerová, Vývoj obyvatelstva, S. 173. 38 Vgl. Srb, Exkurs Felixe Koschine, S. 124. Zur (nicht nur tschechischen) Nationalbewegung vgl. noch immer: Miroslav Hroch, Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen sozialgeschichtlichen Forschung, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen. München: Oldenbourg, 1971, S. 121–139.

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serungsdebatten geführt werden. Dabei geht es nicht nur um die „kleine Nation“, sondern auch um die symbolische Lage der Tschechischen Republik in Europa, ob diese nun ein „ost-“ oder „westeuropäisches“ Land sei. Auch dies sind Konstrukte und keine Beschreibungen empirischer Realität, denn für Länder beider „Lager“ gibt es zahlreiche Divergenzen, kulturelle Persistenzen und landesspezifische Pfadabhängigkeiten. Dass wissenschaftliche Modelle von diesen abstrahieren, ist berechtigt, dass damit aber politische und symbolische Grenzen innerhalb Europas (um-)definiert werden, ist ein anschaulicher Beleg für den Bedeutungsüberschuss, welcher der Bevölkerungsentwicklung auf Kosten gesellschaftlicher Fragen zugeschrieben wird. Dem Diskurs immanent ist schließlich auch das Streiten um die Rolle der Demografie als Wissenschaft, ihren Selbstanspruch, aber auch die an sie von außen herangetragenen Erwartungen. So betont Jitka Rychtaříková: „Als Demograf [sic!] gehe ich von Zahlen aus, keinesfalls von Spekulationen.“39 Denn die Diskussion ist zugleich eine zwischen einer Demografin und einem Soziologen – der sich dezidiert so positioniert – und damit zwischen dem im Wesentlichen auf quantitativen Indikatoren der Massenstatistik basierenden Zugang Rychtaříkovás einerseits und einem auch andere Datenquellen und Theorien einbeziehenden Verständnis von interdisziplinärer Bevölkerungswissenschaft andererseits. Letzteres bezeichnet Rychtaříková als „unkonventionell“ und eben als „Spekulationen“. Rabušic steht dagegen für eine soziologische Bevölkerungswissenschaft („eine soziologische Perspektive in der Demografie“)40 und ordnet demografische in gesellschaftliche Prozesse ein. Bei aller Vielfalt und Breite des tschechischen bevölkerungswissenschaftlichen Diskurses (der hier nur in Auszügen dargestellt werden konnte) ist festzuhalten, dass dieser bis etwa zum Jahr 2007 vor allem ein Krisendiskurs um die im Vergleich zum Realsozialismus stark gesunkene Fertilität („lowest-low fertility“)41 war. Von dieser wurde die „Zukunft“ anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, besonders des wirtschaftlichen und sozialen, partiell sogar des ganzen Landes und 39 Rychtaříková, Nechci této společnosti, S. 268. 40 Rabušic, Polemicky k současným změnám. Zu deutschen Forderungen nach einer „Sozialdemografie“ vgl. auch Rainer Mackensen, Vergangenheit und Zukunft der Demographie als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 25 (2000), S.  399–429, besonders S. 414; sowie Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, S. 36. 41 In der tschechischen Debatte findet sich dieses Konzept meines Wissens erstmals bei Kryštof Zeman, Vývoj obyvatelstva České republiky v roce 2005 [Die Bevölkerungsentwicklung der Tschechischen Republik 2005], in: Demografie 48 (2006), S. 153–165; zum Konzept selbst: Hans-Peter Kohler/Francesco C. Billari/José Antonio Ortega, The Emergence of Lowest-Low Fertility in Europe during the 1990s, in: Population and Development Review 28 (2002), S. 641–680.

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der „Nation“ abhängig gemacht. Nicht selten finden sich dabei auch Verweise auf vermeintliche politische Interventionsnotwendigkeiten.42

Konstruktionen II: „Demografischer Wandel“ und städtische Transformation „Demografischer Wandel“ wird nicht nur in den Bevölkerungswissenschaften konstruiert, sondern auch von Disziplinen, die sich der Demografie als einer Hilfswissenschaft bedienen, d. h. demografische Indikatoren, Daten und Befunde nutzen, um Entwicklungen anderer gesellschaftlicher Bereiche zu untersuchen und zu interpretieren.43 In der Gegenwart ist dies vor allem charakteristisch für die Stadt- und Regionalforschung, insbesondere in Deutschland, wo Ende der 1990er Jahre unter den Stichworten „Schrumpfung“ und „Alterung“ eine (in ihren westdeutschen Ursprüngen in die 1970er Jahre zurückreichende) Diskussion über die Folgen des demografischen Wandels für die Stadt- und Raumentwicklung eingesetzt hatte.44 Ausgangspunkt bildete der in einzelnen ostdeutschen Städten und Regionen teils gravierende Bevölkerungsrückgang, der insbesondere durch den ökonomischen Strukturbruch im Zuge der Wiedervereinigung verursacht worden war. Dieser schlug sich als Abwanderung, Geburtenrückgang und Alterung auch demografisch nieder. Es würde allerdings zu kurz greifen, diese Prozesse allein auf den demografischen Wandel zurückzuführen, denn zum Bevölkerungsrückgang

42 Es gibt seit Beginn der 1990er Jahre lebhafte und kontroverse Debatten um eine staatliche Familienpolitik und deren Ausgestaltung, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Vgl. z. B. Ladislav Rabušic, Několik poznámek k české rodinné politice [Einige Bemerkungen zur tschechischen Familienpolitik], in: Demografie 38 (1996), S. 173–180; Věra Kuchařová, Rodinná politika v ČR – proč a o čem [Familienpolitik in der Tschechischen Republik – warum und worüber]?, in: Demografie 48 (2006), S. 229–240; Kocourková, Současný „Baby-Boom“; Srb, Exkurs Felixe Koschina. 43 Vgl. auch Mackensen, Vergangenheit und Zukunft, S. 414. 44 Vgl. z. B. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Neue Entwicklungstypen von Großstädten, in: Frithjof Hager/Werner Schenkel (Hrsg.), Schrumpfungen. Chancen für ein anderes Wachstum. Ein Diskurs der Natur- und Sozialwissenschaften. Berlin u. a.: Springer, 2000, S. 75–85 (überarbeitete Fassung eines erstmals 1986 erschienenen Beitrags); Christine Hannemann/Sigrun Kabisch/Christine Weiske (Hrsg.), Neue Länder – Neue Sitten? Berlin: Schelzky & Jeep; Christine Hannemann, Schrumpfende Städte in Ostdeutschland – Ursachen und Folgen einer Stadtentwicklung ohne Wirtschaftswachstum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28 (7. Juli 2003), S. 16–23; Katrin Großmann, Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz. Bielefeld: Transcript, 2007.

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zumindest der Großstädte trug ab ca. 1993/94 in starkem Maße die Verlagerung von Wohnstandorten in das Umland (Suburbanisierung) bei.45 Interessanterweise bezieht sich die häufig verwendete Metapher der „Schrumpfung“ zuallererst auf die Quantität der Bevölkerung und erst in zweiter Linie z. B. auf wirtschaftlichen Niedergang oder andere Stadtentwicklungsprozesse. Doch stimmt das Bild des Zusammenziehens, des Schrumpfens in aller Regel nicht – viele Städte wuchsen trotz Einwohnerrückgangs weiterhin in der Fläche. Doch haben sich angemessenere Metaphern, welche auf den Wohnungs- und Gebäudeleerstand sowie die unterausgelastete Infrastruktur Bezug nehmen (die „perforierte Stadt“ oder das „zu groß gewordene“ Kleid der Städte)46 nicht durchsetzen können. Vielmehr bleibt die Gleichsetzung von Bevölkerungs- und Stadtentwicklung mit dem Begriff der „Schrumpfung“ vordergründig – und wirft ein Schlaglicht auf die Demografisierung auch des raumwissenschaftlichen Diskurses. Was hat dies alles mit demografischen Veränderungen in der Tschechischen Republik seit 1990 und ihren Deutungen zu tun? Auf den ersten Blick wenig, denn einen ausgeprägten „Schrumpfungs“-Diskurs gibt es in unserem Nachbarland nicht. Und dies, obwohl gesunkene Geburtenraten und Suburbanisierung in der Transformationsphase zu Bevölkerungsverlusten insbesondere der Großstädte führten.47 Nur vereinzelt finden sich in der tschechischen Stadt- und Regionalforschung Stimmen, die von „demografischer Stagnation“ (demografická stagnace), „Entvölkerungstrend“ (depopulační trend, proces vylidňování) oder „Städten im Zeitalter der Reduktion“ (éra redukce) sprechen.48 Eine Ausnahme stellt ein Beitrag des grand seigneur der tschechischen Stadtsoziologie, Jiří Musil, aus dem Jahr 2002 dar. Darin weist er dem Zweiten demografischen Übergang und speziell dem nachweisbaren und dem aus seiner Sicht weiter zu erwartenden Bevölkerungs45 Demografen würden hier möglicherweise argumentieren, dass Wanderungen ja auch in ihr Forschungsfeld fallen. Ich halte Suburbanisierung jedoch nicht für einen Ausdruck „demografischen“ Wandels, sondern für eine Veränderung der Beziehungen zwischen Städten und ihrem Umland. 46 Engelbert Lütke Daldrup, Die perforierte Stadt. Eine Versuchsanordnung, in: StadtBauwelt 150 (Bauwelt H. 24) (2001), S. 40–45; Sigrun Kabisch, Wenn das Kleid der Stadt nicht mehr passt – Strategien im Umgang mit dem Wohnungsleerstand in ostdeutschen Städten, in: Hannemann u. a. (Hrsg.), Neue Länder – Neue Sitten?, S. 29–54. 47 Ein Überblick sowie eine kritische Diskussion widersprüchlicher Angaben findet sich in: Annett Steinführer u. a., Population decline in Polish and Czech cities during post-socialism? Looking behind the official statistics, in: Urban Studies 47 (2010), S. 2325–2346. 48 Andrle, Demografická stagnace, hier S. 19; Jiří Musil/Jan Müller, Vnitřní periferie v České republice jako mechanismus sociální exkluze [Innere Peripherien in der Tschechischen Republik als Mechanismus der sozialen Exklusion], in: Sociologický časopis 44 (2008), S. 321–348; Tvrdík, Daniel, Města v éře redukce [Städte im Zeitalter der Reduktion], in: ERA 21 (Nr. 3/2007), S. 58–60.

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rückgang auf nationaler Ebene eine zentrale Bedeutung für die künftige Entwicklung der Städte zu und bezeichnet die „gesunkene Bevölkerungsreproduktion“ als „Bremse“ für die weitere Urbanisierung.49 Auch bei ihm findet sich sowohl für die Bevölkerungsentwicklung als auch für die Städte der Begriff der Stagnation. Allerdings ist Musil ein Stadtsoziologe, der Bevölkerungsprozesse seit Jahrzehnten sehr aufmerksam beobachtet.50 Auf einen zweiten Blick hingegen lässt sich aufgrund der Ähnlichkeit verschiedener gesellschaftlicher Prozesse – darunter eben auch demografischer und stadtbezogener Entwicklungen – in Ostdeutschland und in Tschechien in der Phase der postsozialistischen Transformation51 davon ausgehen, dass es aufgrund der Veränderung von Bevölkerungsstrukturen, die (auf Deutsch) gemeinhin als „demografischer Wandel“ bezeichnet werden, in Tschechien zu ähnlichen Folgen kommt wie in Ostdeutschland. Diese Annahme prüfte zwischen 2006 und 2009 das interdisziplinäre Forschungsprojekt conDENSE, in dem sozialräumliche Folgen des demografischen Wandels für ostmitteleuropäische Städte untersucht wurden.52 Darin ging es am Beispiel von zwei tschechischen und zwei polnischen Großstädten (Brno, Ostrava, Łódź und Gdańsk) darum, die Übertragbarkeit ost49 Jiří Musil, Co se děje s českými městy dnes [Was heute mit den tschechischen Städten geschieht], in: Pavla Horská/Eduard Maur/Jiří Musil, Zrod velkoměsta. Urbanizace českých zemí a Evropa [Die Geburt der Großstadt. Die Urbanisierung der böhmischen Länder und Europa]. Praha, Litomyšl: Paseka, 2002, S. 298–331, hier S. 318 (vgl. auch S. 320, 326). Allerdings ist Musil generell skeptisch gegenüber solch weit reichenden Prognosen für die Stadtentwicklung (vgl. ebd., S. 331). 50 Bereits seine Dissertation 1959 widmete sich diesen Fragen. Vgl. ders., Demografická a sociálně hygienická struktura Prahy a některých jiných českých měst [Die demografische und sozialhygienische Struktur Prags und anderer tschechischer Städte]. Phil. Diss., Praha 1959; ders., Demografická struktura a vývoj Prahy [Demografische Struktur und die Entwicklung von Prag], in: Sociologický časopis 13 (1977), S. 28–38. Musil steht damit in einer tschechischen Forschungstradition, die der Prager Demograf Antonín Boháč (1882–1950) in den 1920er Jahren begründete. Boháč war als Mitarbeiter des nationalen Statistikamtes Organisator der Volkszählungen 1921 und 1930. Eine bis heute grundlegende sozialgeographische und zugleich bevölkerungswissenschaftliche Arbeit zu Prag stammt aus seiner Feder. Vgl.: Antonín Boháč, Hlavní město Praha. Studie o obyvatelstvu [Die Hauptstadt Prag. Eine bevölkerungswissenschaftliche Studie]. Praha: Nákladem Státního úřadu statistického, 1923 (Knihovna Statistického věstníku; 3). 51 Dazu: Annett Steinführer, Wohnstandortentscheidungen und städtische Transformation. Vergleichende Fallstudien in Ostdeutschland und Tschechien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, besonders S. 297–306. 52 Das Projekt „Soziale und räumliche Konsequenzen des demographischen Wandels für ostmitteleuropäische Großstädte. Potentiale und Grenzen eines Erfahrungstransfers aus Westeuropa und Ostdeutschland“ wurde von der VolkswagenStiftung finanziert (Az II/81 150, www.condense-project.org). Die Projektleitung lag in den Händen von Annegret Haase, Sigrun Kabisch und mir.

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deutscher „Schrumpfungs-“ und Alterungserfahrungen auf ostmitteleuropäische Länder zu überprüfen. Im Kern lautete die Hypothese, dass Geburtenrückgang und veränderte Haushalts- und Lebensformen nachhaltige Auswirkungen auf die Auslastung städtischer Infrastrukturen, insbesondere die Wohnungsmärkte, haben. Ohne hier in die Tiefe gehen zu können, ist festzuhalten, dass städtische „Schrumpfung“ in den beiden untersuchten Ländern vor allem in Polen ein Thema ist. Dort verloren die Großstädte zwischen 1988 und 2006 bis zu 18% an Bevölkerung oder, in absoluten Zahlen, bis zu 94.000 Einwohner (11%; Łódź). Überregionale, auch internationale arbeitsbedingte Abwanderungen, Sterbeüberschüsse sowie Suburbanisierung waren wesentliche Ursachen. Doch auch tschechische Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern hatten in diesem Zeitraum Verluste in Höhe von etwa 7–8% zu verkraften. Hier spielten anfänglich Sterbeüberschüsse und der Rückgang der Land-Stadt-Wanderung sowie, ab Ende der 1990er Jahre, dann die Suburbanisierung eine entscheidende Rolle.53 Die Annahme der Übertragbarkeit ostdeutscher Stadtentwicklungsmuster unter dem Einfluss des demografischen Wandels musste für beide Länder im Forschungsverlauf korrigiert werden: Weiterhin nämlich spielen Wohnungsleerstände, ungenutzte Infrastrukturen oder billige Flächen in polnischen und tschechischen Großstädten überwiegend keine Rolle. Selbst im genannten Extremfall Łódź äußert sich dieser nicht als ein Überschuss an nutzbarem Wohnraum – einfach, weil die Bausubstanz insbesondere der alten Stadt zu sehr verschlissen ist. So gibt es zwar gerade in Łódź einen auch sichtbaren Wohnungsleerstand, doch wird nicht dieser, sondern generell der Verfall der alten Stadt problematisiert. In anderer Hinsicht aber war die „ostdeutsche Brille“ für die Untersuchung möglicher Folgen des demografischen Wandels für die Stadtentwicklung aufschlussreich: in Bezug auf die Frage der Wohn- und Lebensformen. Die Veränderungen der Haushaltsstrukturen, ihre Diversifizierung in Form der Zunahme kleiner und kleinster Haushalte (vor allem von Einpersonenhaushalten Jüngerer und Älterer) sowie die Bedeutungszunahme nicht-familialer Haushalte (wie kinderlosen Paaren) sind in der tschechischen (und polnischen) Demografie bislang kaum aufgearbeitet.54 Aus Sicht der Stadtforschung aber sind Haushalte – und 53 Vgl. Annegret Haase/Andreas Maas/Annett Steinführer/Sigrun Kabisch, From long-term decline to new diversity: Socio-demographic change in Polish and Czech inner cities, in: Journal of Urban Regeneration and Renewal 3 (2009), S. 31–45, hier S. 32–34. 54 Für Tschechien finden sich einige Hinweise bei Sobotka u. a., Demographic Shifts, S. 260–263. Vgl. auch: Marcel Tomášek, Singles a jejich vztahy; kvalitativní pohled na nesezdané a nekohabitující jednotlivce v České republice [Singles und ihre Beziehungen: Ein qualitativer Blick auf unverheiratete und nicht-zusammenlebende Personen in der Tschechischen Republik], in: Sociologický časopis 42 (2006), S. 81–105.

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nicht Einzelpersonen – für Wohnungsmarktprozesse wie auch für Veränderungen von Wohnquartieren die entscheidenden Akteure, und so braucht eine empirische Stadtforschung immer auch Wissen über Haushaltsstrukturen und deren Veränderungen. Nun verfügt gerade die tschechische amtliche Statistik über eine ausgefeilte Haushaltsstatistik, doch weist diese – aus Sicht der Stadtforschung – drei zentrale Mängel auf: Erstens werden Daten über die Haushalte nur einmal im Jahrzehnt, nämlich im Rahmen der Volkszählungen, erhoben. Zweitens verwendet die amtliche Statistik Konzeptualisierungen, die für Stadtforscher inhaltlich problematisch sind. So zählen als „Familienhaushalte“ beispielsweise auch kinderlose Partner, doch unterscheiden sich Paare mit Kindern ganz wesentlich in ihren Wohnstandortentscheidungen von jenen ohne Kinder. Drittens wird die Erhebung – wie so oft bei Massendaten der amtlichen Statistik – der sozialen Realität der Haushalte, der Lebens- und Wohnformen, ihrer Dynamik, ihren Selbstwahrnehmungen und -definitionen wie auch ihren Widersprüchen nicht gerecht. Als übergreifendes Problem erweist sich hier die nahezu ausschließlich quantitative Orientierung, wenngleich dies keineswegs nur ein Problem der tschechischen Bevölkerungswissenschaft und demografiebezogenen Statistik ist. Aus diesen Gründen wurden in dem genannten Projekt auch qualitative Methoden – vor allem leitfadengestützte Interviews mit Angehörigen verschiedener Haushaltstypen (Wohngemeinschaften, unverheiratete Paare, junge Kernfamilien) – eingesetzt. Damit konnten die Ergebnisse der amtlichen Statistik nicht nur ergänzt, sondern in mancher Hinsicht auch korrigiert werden: So lässt ein rein quantitativer Blick die Städte in Tschechien (wie auch in Polen) stärker „schrumpfen“, als es tatsächlich der Fall ist. Denn viele Angehörige der neuen Haushalte sind an ihren Wohnorten nicht gemeldet, haben fluktuierende Wohnarrangements und sind sehr mobil. So tragen sie, obwohl in keiner städtischen Statistik vorkommend, zu Quartiers- und städtischem Wandel bei – auch dies also sind Konsequenzen des so genannten demografischen Wandels. 55 Soweit ein kurzer Einblick, warum sich die Stadtforschung mit demografischem Wandel in Ostmitteleuropa beschäftigt: Im genannten Projekt legitimierte dieser in einer spezifischen Konstruktion das gesamte Forschungsvorhaben, indem er einerseits als „Problem“ vor allem der künftigen Stadtentwicklung definiert wurde. Dies erfolgte insbesondere unter Verweis auf zu erwartende Auswirkungen städtischer „Schrumpfung“. Andererseits interessierte der demografische Wandel in 55 Vgl. Steinführer u.a., Population decline? sowie: Annegret Haase/Annett Steinführer/Sigrun Kabisch/Katrin Grossmann/Ray Hall (Hrsg.), Residential change and demographic challenge. The inner city of East Central Europe in the 21st century. Farnham/Aldershot: Ashgate 2011.

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Bezug auf die Haushaltsstrukturen, wurde hier aber differenzierend konzeptualisiert: einmal als „Chance“ (vor allem für die Wohngebiete der inneren Stadt, die jahrzehntelang von Ausdünnung und Alterung sowie symbolischer Abwertung und baulichem Verfall gekennzeichnet war, und die mit den neuen Haushalten eine Umwertung und einen Bedeutungszuwachs erfährt), aber auch als „Problem“ (denn verkleinerte Haushalte und ihre zwangsläufige quantitative Zunahme verschärfen die Wohnungsmarktlage und führen zur Verstärkung sozialräumlicher Ungleichheiten).

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Konstruktion von Forschungsgegenständen ist ein zentraler Vorgang jedes wissenschaftlichen Arbeitens. Das ist bei der Untersuchung von Bevölkerungsentwicklungen nicht anders als bei anderen wissenschaftlichen Themen. In diesem Aufsatz wurden solche Konstruktionen aus zwei Perspektiven betrachtet und ihre oft auf das „Krisenhafte“ zielenden Argumentationslogiken dargestellt. Der Großteil des Beitrags widmete sich dem fachinternen Diskurs um demografische Veränderungen in Tschechien seit 1990. Von diesem war eingangs angenommen worden, dass er vergleichsweise von Ausgewogenheit und einem historisch-kontextualisierenden Zugang gekennzeichnet sei. Für viele Artikel in der untersuchten Zeitschrift „Demografie“ trifft dies zu, ohne dass dies hier im Detail nachvollzogen werden konnte. Die Aushandlung und mithin Konstruktion von demografischem Wandel ließ sich vor allem am Beispiel dreier Extrempositionen darlegen. Dabei wurde gezeigt, dass die demografischen Veränderungen in Tschechien nicht nur als Folie für einen Krisen-, sondern darüber hinaus einen nationalen Selbstvergewisserungsdiskurs eines auch in der Selbstbeschreibung „kleinen“ Landes zwischen Ost- und Westeuropa dienen. Schließlich aber konnte die Debatte auch als eine um die methodologischen und konzeptionellen Grundlagen der Fachdisziplin als solche charakterisiert werden. Zentrales Thema der bevölkerungswissenschaftlichen Fachdebatte in der Tschechischen Republik in den 1990er und 2000er Jahren waren die demografischen Veränderungen im Zuge der postsozialistischen Transformation, insbesondere die stark gesunkene Fertilität, die als Problem der langfristigen Bevölkerungsentwicklung, aber auch weiterer gesellschaftlicher Sektoren und Bereiche verstanden wird. Anschlussfähig ist dieser Krisendiskurs in der Stadt- und Regionalforschung, der hier kurz für das Beispiel der Entwicklung nicht-wachsender Großstädte dargestellt wurde. Auch in diesem Zusammenhang findet keine

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Untersuchung demografischer Veränderungen in ihrer Breite und Gänze statt, sondern bestimmte bevölkerungsbezogene Prozesse werden vor anderen herausgestellt, um den demografischen Wandel bzw. seine Folgen vorrangig als „Problem“ zu konstruieren. Doch in der Anwendung bzw. Übertragung demografischer Fragestellungen auf die Stadtentwicklung werden, wie gezeigt, ebenfalls normative Setzungen vorgenommen, um ein Forschungsfeld überhaupt erst zu etablieren bzw. zu legitimieren. Verkürzt gesagt: Auch Schrumpfung gilt – allen gegenläufigen Versuchen zum Trotz56 – vorrangig als Problem. „Demografischer Wandel“ stellt somit nicht nur in den Medien oder in politischen Verlautbarungen, sondern auch in den Sozialwissenschaften grundsätzlich ein Konstrukt dar, das als solches zu benennen und – wichtiger noch – dessen zugrundeliegende Rationalitäten und Begründungszusammenhänge kritisch zu reflektieren und zu benennen sind. In dem mich besonders interessierenden Fall Tschechien erachte ich nach mehrjähriger Forschung insbesondere den etablierten Methoden- und Datenkanon großer Teile der Bevölkerungswissenschaft als problematisch – denn auch dieser konstruiert durch die gesetzten (wie auch die nicht-bearbeiteten) Themen gleichermaßen ein bestimmtes Verständnis von demografischem Wandel. Das Beispiel der fehlenden Beschäftigung mit den „realen Haushaltsstrukturen“, die um Alternativen zu rein quantitativen Verfahren nicht umhin käme, konnte hier nur angerissen werden. Zugleich aber ging es in diesem Beitrag auch darum, die Rolle der Wissenschaftler – und zwar nicht nur der Demografen – zu reflektieren und kritisch in ihren Konstruktionen demografischer und anderer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu hinterfragen.

56 Z. B. Grossmann, Am Ende des Wachstumsparadigmas.

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Das „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“: oder von der Grammatik der DDR-Sozialpolitik Die Demografie und die Bevölkerungspolitik der DDR sind in den vergangenen zwanzig Jahren mehrfach in Erinnerung gerufen, thematisiert und analysiert worden. Anfang der 1990er Jahre brachten ehemalige DDR-Demografen ihre Disziplin selbst ins Gespräch, indem sie die eigenen Forschungsarbeiten diskutierten und nach etwaigen Anschlussmöglichkeiten in einer gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft fragten.1 Jene Diskussionen, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Debatte um die Bewertung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung der DDR stattfanden, waren Mitte der 1990er Jahre abgeschlossen.2 Dies war nicht zuletzt auf die Personalsituation der DDR-Demografie zurückzuführen: Einerseits wurden jene Wissenschaftler pensioniert, andererseits in entsprechende bundesdeutsche Institutionen integriert. Seither ist die DDR-Demografie zu einem Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte geworden. Aus dieser Perspektive wurde zunächst nach ihren Gründungsvätern gefragt.3 Daran anschließend konnte die Institutionalisierung der DDR-Demografie rekonstruiert, sowie erste Fragen zu den theoretischen Implikationen dieser Wissenschaftsdisziplin formuliert werden.4 1 Vgl. hierzu u.a.: Parviz Khalatbari [u.a.], Zur Entwicklung der Demographie in der DDR, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Demographie e.V., Heft 28 (1991); Jürgen Dorbritz, Die Situation der Bevölkerungswissenschaft in der ehemaligen DDR und die Probleme der Prognose demographischer Prozesse, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/4 (1992), S. 431–444. 2 Vgl. hierzu u.a.: Dagmar Simon/Vera Sparschuh, Der Nachlass der DDR-Soziologie – bloßes Archivmaterial oder soziologisches Forschungsfeld?, in: WZB-papers, P 92, 001, Berlin: WZB für Sozialforschung 1992; Jürgen Kocka, Die Auswirkungen der deutschen Einigung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 29. Januar 1992, Bonn: Zentrum für Sozial- und Zeitgeschichtliche Forschung der Friedrich-Ebert-Stiftung 1992. 3 Eva Müller/Horst Richter/Joachim Tesch, Ein Leben für die Wissenschaft der Statistik. Werk und Wirken von Felix Burkhardt. Beiträge des Kolloquiums in Leipzig am 31.  Oktober 1998, Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2000; Hans-Joachim Girlich, Felix Burkhardt (1888 bis 1973) – ein sächsischer Pionier der Statistik in Deutschland, in: Statistik in Sachsen, Heft 3–4 (2006), S. 51–58. 4 Vgl. Rainer Karlsch, Die Etablierung der Demographie in der DDR als eigenständige Wissenschaftsdisziplin 1966–1978, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VSVerlag 2005, S. 551–578; Rainer Karlsch, Demographie in der DDR. Sozial- und theo-

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Im Gegensatz zur Demografie ist die DDR-Bevölkerungspolitik als Topos eigenständiger sozialwissenschaftlicher oder historischer Studien kaum zu finden, obwohl sie als Thema präsent ist und vielfältig bearbeitet wird. Dieses Paradoxon lässt sich jedoch auflösen: Die DDR-Bevölkerungspolitik wird fast ausschließlich im Kontext von Politikfeldanalysen thematisiert, welche die Familien-, Frauenoder Wohnungspolitik der DDR untersuchen.5 Und zwar genau dann, wenn einzelne gesetzliche Regelungen in diesen Politikfeldern die Bevölkerungszahl oder -struktur direkt beeinflussen soll(t)en. Diese Regelungen werden nachträglich als bevölkerungspolitische Maßnahmen gelesen und als solche bezeichnet.6 In dieser Lesart wird die DDR-Bevölkerungspolitik also aus der Perspektive der Interventionsbereiche/-objekte – Familien, Frauen oder Wohnungsbau – interpretiert, auf welche die Bevölkerungspolitik unter anderem ausgerichtet war.7 In jüngerer Zeit ist auf das Zusammenspiel von Demografie und Bevölkerungspolitik in der DDR bzw. auf die Wechselwirkungen von demografischen Veränderungen, bevölkerungswissenschaftlichen Expertisen und bevölkerungs-

riegeschichtliche Aspekte der Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin, herausgegeben vom Institut für Angewandte Demographie, Berlin: IFAD 2007; Rainer Karlsch, Gab es eine demographische Theorie in der DDR?, in: Josef Ehmer/Ursula Ferdinand/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Herausforderung Bevölkerung. Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VSVerlag 2007, S. 307–319. 5 Vgl. zur DDR-Familienpolitik [u.a.]: Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945–1980, Opladen: Leske & Budrich 1986; vgl. zur DDR-Frauenpolitik [u.a.]: Ingrid N. Sommerkorn/Katharina Liebsch, Erwerbstätige Mütter zwischen Beruf und Karriere: Mehr Kontinuität als Wandel, in: Rosemarie Nave-Herz (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Eine zeitgeschichtliche Analyse, Stuttgart: Lucius und Lucius 2002, S. 99–130; vgl. zur Wohnungspolitik [u.a.]: Hartmut Häussermann, Wohnen, in: Jutta Allmendinger/Wolfgang Ludwig-Mayerhofer (Hrsg.), Soziologie des Sozialstaats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim/München: Juventa-Verlag 2000, S. 167–200. 6 Bei Michael Schwartz heißt es: „Obwohl die DDR-Bevölkerungspolitik ihren Förderschwerpunkt eindeutig in den 1970er und 1980er Jahren hatte, gehörte ‚ein pronatalistischer Zug‘ bereits seit Gründung der DDR zum Inventar dortiger Frauen- und Familienpolitik.“ Michael Schwartz, Emanzipation zur sozialen Nützlichkeit: Bedingungen und Grenzen von Frauenpolitik in der DDR, in: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989, München: Oldenbourg 2005, S. 47–88, S. 68. 7 Vgl. hierzu u.a.: Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin: Akademie-Verlag 1995; Katrin Schäfgen, Die Verdopplung der Ungleichheit. Sozialstruktur und Geschlechterverhältnisse in der Bundesrepublik und in der DDR, Opladen: Leske & Budrich 2000.

Das „Bevölkerungsgesetz“ des Sozialismus

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politischen Maßnahmen hingewiesen worden.8 Zum einen werden die Wanderungsbewegungen von der SBZ/DDR in die Bundesrepublik in den Jahren 1945 bis 1961 hervorgehoben und jene Teile der DDR-Bevölkerungspolitik betont, die vonseiten der SED-Führung als Reaktion auf den Wanderungssaldo eingeleitet wurden.9 Zum anderen sind die reziproken Wirkungen von demografischen Diskursen und Maßnahmen zur Regulierung der DDR-Bevölkerung aufgezeigt sowie die sich daran anschließenden semantischen und bevölkerungspolitischen Verschiebungen untersucht worden.10 Darüber hinaus standen Subjektivierungsprozesse im Fokus der Analyse, die als Effekte demografischer Wissensbestände und bevölkerungspolitischer Maßnahmen der DDR rekonstruiert werden konnten.11 Die folgenden Ausführungen schließen an die letztgenannten Ansätze an und fassen Demografie und Bevölkerungspolitik der DDR nicht als zwei voneinander isolierte Gegenstände, sondern als ein interdependentes Geflecht von demografischen Diskursen und bevölkerungspolitischen Praktiken auf.12 Demnach wird hier die Bevölkerungspolitik der DDR nicht von den bevölkerungspolitischen Interventionsbereichen/-objekten her betrachtet, sondern von den demografischen Wissensbeständen aus analysiert. Unter dieser Maßgabe sollen zwei Fragen untersucht werden: (1.) Welche Kontinuitäten und Brüche lassen sich innerhalb der demografischen Diskurse und den bevölkerungspolitischen Maßnahmen aufzeigen? Wie haben sich (2.) die DDR-Demografie als Wissensbestand und die DDR-Bevölkerungspolitik als deren Praktik wechselseitig beeinflusst? Diesen Fragen soll am Beispiel des „Bevölkerungsgesetzes des Sozialismus“ nachgegangen werden, da dessen Narrationen seit den 1950er und bis weit in die 1980er Jahre hinein in bevölkerungswissenschaftlichen/-politischen Traktaten der DDR in unterschied8 Jürgen Cromm, Familienbildung in Deutschland. Soziodemographische Prozesse, Theorie, Recht und Politik unter besonderer Berücksichtigung der DDR, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998. 9 Christian Saehrendt, Der Horror vacui der Demographie – 100 Jahre Abwanderung aus dem deutschen Osten, in: José Brunner (Hrsg.), Demographie – Demokratie – Geschichte. Deutschland und Israel, Göttingen: Wallstein 2007, S. 237–251. 10 Dieter Koop, Zur Verbesserung des „demographischen Klimas“. Volk zwischen Repräsentation und Reproduktion, in: Petra Overath/Daniel Schmidt (Hrsg.), Volks-(An) Ordnung. Einschließen, ausschließen, einteilen, aufteilen!, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag (= Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung), 3 (2003), S. 114–132. 11 Maximilian Schochow, Der „Familienvater“. Von der Produktion einer DDR-Männlichkeit im Kontext demographischer Wissensbestände und sozialpolitischer Praktiken, in: Ilse Nagelschmidt/Kristin Wojke (Hrsg.), Typisch männlich!?, Berlin [u.a.]: Peter Lang Verlag 2009, S. 77–98. 12 Vgl. hierzu: Daniel Schmidt, Statistik und Staatlichkeit, Wiesbaden: VS-Verlag 2005.

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lichen Facetten sehr prominent auftauchen. Diese Diskurse eignen sich für die folgende Analyse aber auch, da das Bevölkerungsgesetz und dessen Derivate als Ausgangspunkt für diverse bevölkerungswissenschaftliche Forschungsarbeiten genommen wurden, die der Legitimation wesentlicher sozial- bzw. bevölkerungspolitischer Maßnahmen in der DDR dienten.

I.  Von der Konstruktion des „Bevölkerungsgesetzes des Sozialismus“ und dem Wachsen der DDR-Bevölkerung Die überwiegende Mehrheit jener Statistiker und Demografen, die sich mit dem ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ beschäftigt haben, verweisen auf die Analysen von Karl Marx, wenn sie auf den Ursprung desselben zu sprechen kommen. Dabei sind es im Wesentlichen zwei Überlegungen von Marx, die als Quelle zitiert werden und den Referenzpunkt für jene Ausführungen bilden, die sich mit dem ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetz‘ beschäftigen.13 Die erste, stets zitierte, Überlegung findet sich in „Das Kapital“ und beschreibt die Wirkungsweise des „kapitalistischen Populationsgesetzes“: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondere historische Produktionsweise ihre besonderen, historisch gültigen Populationsgesetze hat.“14

Die zweite, in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ veröffentlicht, konkretisiert noch einmal seine Überlegungen zu den ‚Populationsgesetzen‘: „In verschiedenen gesellschaftlichen Produktionsweisen existieren verschiedene Gesetze der Vermehrung der Population und der Überpopulation; letztere [ist] identisch mit Pauperismus“.15

In ihrer Zielsetzung ist die letzte Anmerkung jedoch von Marx vornehmlich als Kritik an der Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus bzw. an dessen Ausführungen zur Überbevölkerung im 19. Jahrhundert formuliert worden.16 Im 13 Vgl. zum Populationsgesetz bei Marx: Patrick Henssler/Josef Schmid, Bevölkerungswissenschaft im Werden. Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie, Wiesbaden: VS-Verlag 2007, S. 61ff. 14 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: MEGA, Bd. 23, Berlin: Dietz-Verlag 1979, S. 660. 15 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin: Dietz-Verlag 1974, S. 498. 16 Im Jahr 1798 veröffentlichte Thomas Robert Malthus sein Buch „Essay on the Principle of Population“. Hierin formulierte er seine Bevölkerungstheorie und stellte die Überbevölke-

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20. Jahrhundert wiederum bildeten diese beiden Überlegungen zusammengenommen den Nukleus für die Forschungsansätze zum ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Wirkungen und Funktionen eines ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetzes‘ in Deutschland diskutiert.17 Dessen ungeachtet tauchte es im Nachkriegsdeutschland respektive in der DDR als eine Art Import aus der UdSSR auf: In der Zeitschrift „Sowjetwissenschaft“ wurde es im Jahr 1950 unter der Rubrik „Vorschläge zu Dissertationsthemen auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaft“ aufgeführt.18 In der gleichen Zeitschrift beschäftigte sich der Artikel „Die sozialistische Reproduktion in der UdSSR“19 ausführlich mit dem ‚Populationsgesetz‘ und in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift“ wurden angehende Dozenten der Politischen Ökonomie verpflichtet, ihre Kenntnisse über das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ auf den aktuellen Diskussionsstand zu bringen.20 Letztgenannter Artikel ist eine Rezension, die das 1955 vom Institut für Ökonomie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebene Lehrbuch „Politische Ökonomie“ bespricht.21 In diesem Kompendium zur sozialistischen Wirtschaftswissenschaft findet sich das ‚sozialistische Bevölkerungsgesetz‘ wie folgt ausformuliert:

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rung als Problem einer sich entwickelnden Ökonomie und Gesellschaft ins Zentrum seiner Argumentation. Vgl. zur Marx-Malthus-Debatte [u.a.]: Josef Schmid, Themenwechsel in der Bevölkerungstheorie. Aufstieg und Fall des Vulgärmalthusianismus im Lichte der Wissenschaftssoziologie, in: Sabine Rupp/Karl Schwarz (Hrsg.), Beiträge aus der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung. Festschrift für Hermann Schubnell. Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden. Band 11. Boppard am Rhein: Boldt Verlag 1983, S. 75-87. Vgl. hierzu u.a.: Erich Unshelm, Geburtenbeschränkung und Sozialismus. Versuch einer Dogmengeschichte der sozialistischen Bevölkerungslehre, Leipzig: Verlag von Curt Kabitzsch 1924. Die Dissertationsvorschläge wurden „vom Wirtschaftsinstitut der A. d. W. d. UdSSR [zusammengestellt] und empfohlen von der Abteilung Gesellschaftswissenschaften des Ministeriums für Höhere Bildung der UdSSR.“ Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Abteilung, Vierteljahrschrift der Gesellschaft für Deutsch–Sowjetische Freundschaft, Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt, 2 (1950), S. 142. K. Schafijew, Die sozialistische Reproduktion in der UdSSR, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Zeitschrift der Gesellschaft für Deutsch–Sowjetische Freundschaft., Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt, 1 (1956), S. 5–21, S. 19. Otto Beuer, Über die Bedeutung des Lehrbuchs „Politische Ökonomie“ für die Wirtschaftstheorie und Praxis, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe, 4 (1955), S. 343–353, S. 350f. Autorenkollektiv, Politische Ökonomie. Lehrbuch, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Institut für Ökonomie, Berlin: Dietz-Verlag 1955.

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„Voll und ganz seine Wirksamkeit verloren hat im Sozialismus das kapitalistische Bevölkerungsgesetz, wonach sich parallel zum Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums ein immer größerer Teil der Arbeiterbevölkerung als überflüssig erweist, aus der Produktion hinausgeworfen wird und die Armee der Arbeitslosen auffüllt. Die sozialistische Ordnung gewährleistet die Vollbeschäftigung der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung. Deshalb gibt es im Sozialismus keine Überbevölkerung und kann es diese auch nicht geben. Ständiges und rasches Wachstum der Bevölkerung, hohes Niveau des materiellen Wohlstands des Volkes, niedriger Krankenstand und niedrige Sterblichkeit der Bevölkerung bei voller und rationeller Beschäftigung seines arbeitsfähigen Teils – das ist das Wesen des sozialistischen Bevölkerungsgesetzes.“22

In den folgenden Jahren wurden jedoch weder der Vorschlag, sich zum Thema promovieren zu lassen, noch eine Analyse der DDR-Bevölkerungsentwicklung hinsichtlich der Prognosen des ‚Populationsgesetzes‘ durchzuführen, umgesetzt. Statt die theoretischen Implikationen des Gesetzes weiter auszudifferenzieren, wurde es in der DDR zu einem Phänomen der Lexika und Lehrbücher. Seit Ende der 1950er Jahre ist es in verschiedenen Nachschlagewerken zur „Ökonomie“, beispielsweise in dem in mehreren Auflagen erschienenen „Ökonomischen Wörterbuch“ sowie in dessen Nachfolgeausgabe, dem „Ökonomischen Lexikon“, zu finden.23 Im benannten Lehrbuch für „Politische Ökonomie“, das bis zum Jahr 1965 in sieben weiteren Auflagen erscheint, finden sich kaum weitere theoretische Impulse, sondern ausschließlich Nuancierungen in den Formulierungen: Weiterhin wurde auf die „Vollbeschäftigung der arbeitsfähigen Bevölkerung“ verwiesen, die in Kombination mit dem ständigen Wachstum „des Volkswohlstandes [...] im Sozialismus einen Rückgang der Sterblichkeit und des Krankenstandes sowie einen schnellen Zuwachs der gesamten Bevölkerung [bedingen].“24 Neuerungen lassen sich zwischen den Zeilen erkennen und beziehen sich auf die Begründung für die Vollbeschäftigung im Sozialismus: „Mit dem Wachstum der Arbeitsproduktivität und der gesamten gesellschaftlichen Produktion parallel zu dem Wachstum der sozialistischen Akkumulation nimmt die Nachfrage nach Arbeitskräften zu, wächst unentwegt die Anzahl der Beschäftigten, ohne daß es Arbeitslose gibt und bei rationellem Einsatz der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung“.25

22 Ibid., S. 625. 23 Autorenkollektiv, Ökonomisches Wörterbuch. Übersetzung aus dem Russischen, Berlin: Verlag Die Wirtschaft 1960, S. 52; Autorenkollektiv, Ökonomisches Lexikon, Bd. A–G, Berlin: Verlag Die Wirtschaft 1979, S. 346f. 24 Autorenkollektiv, Politische Ökonomie. Lehrbuch, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Institut für Ökonomie, Berlin: Dietz-Verlag 71965, S. 729. 25 Ibid.

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Erst Anfang der 1960er Jahre wurde das ‚Bevölkerungsgesetz‘ in der DDR zum Gegenstand demografischer Debatten. So evaluierte der Demograf Kurt Lungwitz 1962 die sozialpolitischen Maßnahmen seit der Gründung der DDR als Ergebnisse einer erfolgreichen Bevölkerungspolitik und schrieb sie den Wirkungen des ‚sozialistischen Populationsgesetzes‘ zu.26 Die nicht zu verkennende ständige Verbesserung der Lebensbedingungen der DDR-Bevölkerung habe auf die Entwicklung wichtiger Kennziffern der Bevölkerungsstruktur Auswirkungen: „So sind ein Ansteigen der Geburtenziffern, die Verringerung des Heiratsalters und eine Senkung der Sterblichkeitsziffer zu verzeichnen.“27 Diese Veränderungen seien, so Lungwitz, ein deutlicher Hinweis dafür, dass sich die „Bevölkerungsentwicklung in unserer Republik“ auf der Grundlage des „sozialistischen Bevölkerungsgesetzes vollzieht“.28 Zwar gäbe es bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Untersuchungen, die seine Wirkungen im Einzelnen nachweisen, doch sei das Fehlen solcher Untersuchungen mit der Tatsache zu begründen, „daß sich die Gesetzmäßigkeiten der Bevölkerungsentwicklung einer neuen Gesellschaftsordnung nicht sofort durchsetzen und erkennbar sind, sondern erst im Verlaufe eines längeren Zeitraumes.“29 Ähnlich argumentierte Lungwitz in einer Untersuchung „Zur unterschiedlichen Geborenenentwicklung in Stadt und Land“, die im selben Jahr erschien.30 Zwar würden die „Bevölkerungsgesetzmäßigkeiten [...] grundsätzlich durch den Charakter der herrschenden Produktionsverhältnisse bestimmt.“ Doch erste Analysen von Geburtsstatistiken zeigten eine deutliche Abhängigkeit von sozial-ökonomischen und kulturell-historischen Gegebenheiten. „Deshalb vollzieht die Geborenenentwicklung im Sozialismus trotz des Vorhandenseins gleicher allgemeiner gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten in Abhängigkeit von einer Vielfalt konkreter Erscheinungen und Bedingungen. Unterschiedliches kulturelles Niveau, unterschiedliche Lebensweise und Lebensbedingungen zwischen Teilen der Bevölkerung bringen auch eine unterschiedliche Einstellung zu den Fragen der Fortpflanzung hervor.“31 26 Kurt Lungwitz, Über die Klassenstruktur in der Deutschen Demokratischen Republik. Eine sozialökonomisch-statistische Untersuchung, Berlin: Verlag der Wirtschaft 1962. Lungwitz zählte zu den sozialpolitischen Maßnahmen unter anderem das im Jahr 1950 in Kraft getretene „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“. 27 Ibid., S. 14. 28 Ibid., S. 16. 29 Ibid. 30 Kurt Lungwitz, Zur unterschiedlichen Geborenenentwicklung in Stadt und Land und zur Problematik ihrer Analyse [II], in: Statistische Praxis, herausgegeben von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, 17/3 (1962), S. 65–70. 31 Ibid., S. 70.

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Weil diese Unterschiede gesellschaftlich und historisch bedingt seien, könnten sie nur in dem Maße überwunden werden, „wie sich mit der weiteren sozialistischen Entwicklung kulturelles Niveau, Lebensbedingungen, Lebensweise und Bewußtsein der Stadt- und Landbevölkerung einander angleichen“, um schließlich vollkommen zu verschwinden.32 Für Lungwitz ergab sich ein doppeltes Dilemma: Die vorhergesagten Wirkungen des ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetzes‘ waren noch nicht messbar, da ihre Realisierung mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung korrespondierte. Gleichzeitig sah er sich mit regionalen und kulturellen Differenzen hinsichtlich der Lebensweisen und -bedingungen konfrontiert. Beide Aspekte zusammengenommen unterminierten ein baldiges Wirklichwerden sozialistischer Reproduktionsmechanismen und verwiesen auf Grund der vergangenen auf eine ferne Zukunft.

II.  Von der Ableitung und Vervielfältigung des „Bevölkerungsgesetzes des Sozialismus“ Waren in den 1950er und bis in die 1960er Jahre hinein die bevölkerungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetz‘ durch die Kompilation von Marx-Zitaten,33 dem Verbreiten seines wissenschaftlichen Gehalts und dem Suchen nach dessen etwaigen Wirkungen in der DDR gekennzeichnet, setzte Mitte der 1960er Jahre eine Debatte um seine theoretische Weiterentwicklung ein, die durch mindestens drei Faktoren begünstigt wurde: (1) die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Demografie im Jahr 1966, (2) die Berufung von Parviz Khalatbari zum Professor 1969 und (3) einen Zeitschriftartikel in „Die Weltbühne“ von Jürgen Kuczynski aus dem Jahr 1972. Mit der Gründung des ersten Lehrstuhls für „Demographie“ am Institut für Arbeitsökonomie der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) „Bruno Leuschner“ 1966 in Berlin war einerseits der Wunsch nach einer vertiefenden Ausbildungsstätte für Bevölkerungsstatistik verbunden, andererseits sollte die Denomination den Unterschied zum bereits existierenden Lehrstuhl für Statistik an der Hochschule markieren.34 Entsprechend wurde die Professur mit einem Bevölkerungsstatistiker 32 Ibid. 33 Im Jahr 1956 wurde unter anderem eine Kompilation veröffentlicht, die Werk- und Briefauszüge von Marx und Engels zusammenstellte, in denen sie sich mit den Theorien von Thomas Robert Malthus auseinandersetzen. Vgl. Ronald L. Meek, Marx und Engels über Malthus. Werk- u. Briefauszüge gegen die Theorien von Thomas Robert Malthus, Berlin: Dietz-Verlag 1956. 34 Vgl. zur Gründung des Lehrstuhls: Karlsch, Etablierung der Demographie, S.  553; Karlsch, Demographie in der DDR, S. 78ff.

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besetzt, Gerhard Nultsch, der sich seit einigen Jahren mit dem Ausbau der demografischen Forschung beschäftigt hatte und dies vornehmlich in Hinblick auf die Erstellung von Bevölkerungsprognosen tat.35 Zwar blieb Nultschs Berufung für die demografische Forschung nahezu folgenlos, da er bis zu seinem Rentenantritt im Jahr 1968 krankheitsbedingt und ohne weitere Mitarbeiter nur eingeschränkt tätig war. Dennoch war mit der Einrichtung und Besetzung des Lehrstuhls für „Demographie“ die Wiederentdeckung einer bis dahin „vergessenen Wissenschaft“ in der DDR verbunden.36 Nachfolger von Nultsch wurde der Ökonom Parviz Khalatbari, der im Sommersemester 1969 zum Professor für „Sozialistische Volkswirtschaft (Demographie)“ berufen wurde. Bereits die Denomination fängt die Stellung der Demografie an der HfÖ ein – sie wurde als Nebenfach der Volkswirtschaft positioniert. Weitere Vorgaben vonseiten der Hochschulleitung, infolge einer Hochschulstrukturdebatte, richteten das künftige Aufgabenfeld des Lehrstuhls auf die Bevölkerungsstatistik der DDR aus und engten das Forschungsfeld ein.37 Vor diesem Hintergrund trat Khalatbari seine Professur an und entwarf mit seinen Mitarbeitern, dem Demografen Klaus Müller und Erich Strohbach, dem späteren Nachfolger auf Khalatbaris Lehrstuhl, eine Lehrstuhlkonzeption, die über die Vorstellungen der Hochschulleitung hinausging und auf folgenden Prämissen basierte: „Wir gehen von dem marxistischen Grundsatz aus, wonach die Vermehrung der Menschen als ein Prozess gilt, der in bestimmten historisch gegebenen Gesellschaften zu sehen ist. Die Gesellschaft, das Milieu und die Produktionsweise, die das Verhalten der Menschen determinieren, üben einen determinierenden Einfluß auf den oben genannten Prozeß der Bevölkerungsbewegung aus.“38

Hiermit knüpften sie explizit an die Überlegungen von Marx an, betonten die kausale Beziehung zwischen sozioökonomischen und demografischen Entwicklungen und kamen zu dem Fazit, „dass jede Produktionsweise ihre eigenen Bevölkerungsgesetze hat.“39 Diese Schlussfolgerung gab auch die Richtung für die künftige Forschungstätigkeit des Lehrstuhls vor. Um die eigentliche Aufgabenstellung des Lehrstuhls erfüllen zu können, belastbare Bevölkerungsstatistiken der DDR vorzulegen, sollte sich die Forschung auf eine differenzierte Beschreibung des ‚so35 36 37 38

Vgl. Karlsch, Demographie in der DDR, S. 81. Vgl. Ibid., S. 82. Vgl. Ibid., S. 86f. Parviz Khalatbari/Erich Strohbach/Klaus Müller, Wissenschaftsbereich Arbeitsökonomie, Lehrstuhl Demographie. Zur Begründung der Forschungskonzeption des Lehrstuhls (Erster Entwurf vom November 1969), Hochschularchiv (HA), Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW Berlin), Nr. 11465/1, 1969, zitiert nach Karlsch, Demographie in der DDR, S. 91. 39 Ibid.

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zialistischen Bevölkerungsgesetzes‘ konzentrieren. Denn nur unter Anwendung desselben, so die Argumentation des Lehrstuhls, konnte das Ziel erfüllt werden, langfristige Prognosen für die DDR-Bevölkerungsstruktur bereitzustellen. Schließlich veröffentlichte im Jahr 1972 der wissenschaftspolitisch einflussreiche Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski einen Artikel in „Die Weltbühne“ und fragte darin: „Wozu braucht man Demographie?“40 Der Sohn des Statistikers Robert René Kuczynski, der sich bereits für die eigenständige demografische Forschung an der HfÖ eingesetzt und ein Gutachten für die Berufung von Khalatbari zum ordentlichen Professor an der Hochschule geschrieben hatte, forderte in seinem Aufsatz die Entwicklung eines Systems von Bevölkerungsgesetzen.41 Zu den bisherigen Formulierungen des ‚Bevölkerungsgesetzes des Kapitalismus‘ und des ‚Sozialismus‘ merkte Kuczynski kritisch an, dass das „zweite Gesetz einfach eine mechanische Umkehrung des ersten“ sei, wenn es heißt, „daß mit der Akkumulation von Kapital eine Arbeitslosenarmee entsteht, beziehungsweise daß im Sozialismus ein ständig steigender Bedarf nach Arbeitskräften besteht und der Beschäftigungsgrad steigt.“42 Darüber hinaus schlussfolgerte er, dass es sich bei diesen Grundsätzen nicht um allgemeine Gesetze der Demografie handele, sondern „um die spezifische Bewegung der Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt im Rahmen des materiellen Reproduktionsprozesses.“43 Demnach seien die bisherigen Bestimmungen zum kapitalistischen und sozialistischen Bevölkerungsgesetz keine demografischen Gesetze, „die etwas [...] über notwendige Zusammenhänge der Entwicklung der Geburtlichkeit, der Fruchtbarkeit, der Reproduktion der Bevölkerung [aussagen würden].“44 Mit dieser Bestandsaufnahme wendet sich Kuczynski an die Demografen: „Es ist offenbar, daß heute nur noch Marxisten in der Lage sind, ein solches System von Bevölkerungsgesetzen zu entwickeln. Es ist offenbar, daß ihnen hier eine große und wichtige Aufgabe gestellt ist, die sie schnell erfüllen müssen.“45 40 Jürgen Kuczynski, Wozu braucht man Demographie?, in: Die Weltbühne, Wochenzeitschrift für Politik – Kunst – Wirtschaft, herausgegeben von Maud von Ossietzky und Hermann Budzislawski, 51/67 (1972), S. 1617–1618. 41 Mit Cromm ließe sich vermuten, dass Kuczynski auf das Einbrechen der Nettoreproduktionsrate, die Mitte der 1960er Jahre noch bei 1,2 lag und bis 1973 auf unter 0,8 fiel, reagierte. Vgl. Cromm, Familienbildung in Deutschland, S. 448f. Vgl. zu Robert René Kuczynski: Ursula Ferdinand, „Zukunftswissen“: Die Kritik Robert René Kuczynskis an der englischen statistischen Registrierungspraxis, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt a.M./New York: Campus-Verlag 2010, S. 153–174. 42 Kuczynski, Wozu braucht man Demographie, S. 1617. 43 Ibid. 44 Ibid. 45 Ibid., S. 1618.

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Die Analyse und die sich hieran anschließenden Forderungen von Kuczynski sind deutlich: Ein ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ könne von den DDR-Demografen nicht entwickelt werden, indem sie demografisch relevante Grundsätze zur kapitalistischen Reproduktion in den Klassikern des Marxismus ausfindig machen, aus denen sie anschließend das ‚sozialistische Populationsgesetz‘ in Form eines negativen Abgleichs herleiten. Weil die bisherigen Theorien zum ‚Bevölkerungsgesetz des Kapitalismus‘ und des ‚Sozialismus‘ nur mechanische Umkehrungen des jeweils anderen seien und sie lediglich Aussagen über die jeweiligen Bevölkerungsbewegungen im Rahmen materieller Reproduktionsprozesse erlauben, seien es keine demografischen Gesetze. Unter solchen versteht Kuczynski Theoreme, die Aussagen über die notwendigen Zusammenhänge der Geburtenentwicklung, der Fruchtbarkeit und der Reproduktion der Bevölkerung zulassen. Nur jene Theoreme, die derartige Verbindungen herstellen, können als ein System von Bevölkerungsgesetzen bezeichnet werden. Demnach lautete die Forderung Kuczynskis an die DDR-Demografen, sie sollen die Theoriebildung auf Basis marxistischer Grundsätze vorantreiben und dabei nach spezifischen Determinanten der Bevölkerungsbewegung suchen, welche die Geburtenentwicklung, Fruchtbarkeit und die Reproduktion der Bevölkerung berücksichtigen. Bereits einige Jahre vor Kuczynskis Aufruf hatte der Ökonom Rudolf Lorenz seine Dissertation mit dem Titel „Demografische Analyse der Entwicklung der Geburten, der Fruchtbarkeit und der Reproduktion der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten, über ihre Beeinflussung durch gesellschaftliche Maßnahmen mit bevölkerungspolitischem Aspekt und zur Frage des Wirkens sozialistischer Populationsgesetze“ an der HfÖ eingereicht.46 Damit nahm Lorenz, wie der Titel seiner Arbeit andeutet, wesentliche Punkte von Kuczynskis Forderung an die DDR-Demografen vorweg, indem er die Wirkung der ‚sozialistischen Populationsgesetze‘ hinsichtlich der Geburtenentwicklung, der Fruchtbarkeit und der Reproduktion der Bevölkerung untersuchte. Inwieweit Kuczynski diese Arbeit gelesen hatte, ist nicht bekannt. Dennoch spricht einiges dafür, dass er die Dissertation kannte. Lorenz nahm nicht nur Kuczynskis Vorschläge vorweg, er kam mit seiner Arbeit der erwähnten Aufforderung von Lungwitz aus dem Jahr 1962 nach, Untersuchungen zu den Wirkungen des ‚Bevölkerungsgesetzes des Sozialismus‘ durchzuführen.47 Begründete dieser das Fehlen solcher Studien noch mit dem Hinweis 46 Rudolf Lorenz, Demografische Analyse der Entwicklung der Geburten, der Fruchtbarkeit und der Reproduktion der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten, über ihre Beeinflussung durch gesellschaftliche Maßnahmen mit bevölkerungspolitischem Aspekt und zur Frage des Wirkens sozialistischer Populationsgesetze. Inaugural-Dissertation, eingereicht an der Hochschule für Ökonomie in Berlin 1965. 47 Lungwitz, Über die Klassenstruktur, S. 16.

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darauf, dass die Ausprägung demografischer Gesetze nicht sofort, sondern erst im Verlauf eines längeren Zeitraumes erkennbar seien, lieferte Lorenz nun eine differenzierte Analyse hinsichtlich der Bevölkerungsreproduktion in der DDR. Aus drei Gründen, so sein Ergebnis, steige die Bevölkerungszahl in der DDR seit Ende der 1950er Jahre: (1) Die Zahl der Lebendgeborenen in der DDR sei zwar bis 1958 gesunken, würde seitdem aber ständig ansteigen. (2) Die Fruchtbarkeit der Frauen in der DDR sei bis 1958 gesunken, „während sie in den nachfolgenden Jahren“ anstieg. (3) Die Fruchtbarkeit reichte in den vergangenen Jahren „stets für die Reproduktion der Bevölkerung aus“ und sei seit 1959 sogar angestiegen.48 Diese Arbeit verdeutlichte zum einen, dass Lungwitz mit seiner Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung recht hatte – bezogen auf den Gesamtzeitraum wuchs die Bevölkerung seit Gründung der DDR. Zum anderen aber zeigte sie auch, dass dieses Wachstum nicht ursächlich auf ein ‚sozialistisches Populationsgesetz‘ zurückzuführen sei.49 Neben der DDR hatte Lorenz auch die Geburtenentwicklungen in der CSSR, der VR Ungarn und der UdSSR evaluiert und festgestellt, dass die Fruchtbarkeitsraten in den sozialistischen Ländern entweder konstant oder sogar gesunken waren. Lorenz Schlussfolgerung: Die Bevölkerungsreproduktion in den angeführten Ländern entspricht nicht den Prognosen der ‚sozialistischen Populationsgesetze‘. Dies führte ihn jedoch nicht zu einer Infragestellung derselben, sondern zur Erarbeitung weiterer Vorschläge, wie das in den demografischen Gesetzen prognostizierte Bevölkerungswachstum Realität werden könnte: „[D]as Wirksamwerden sozialistischer Bevölkerungsgesetze [ist] untrennbar mit der Herausbildung eines Familientyps verbunden [...], der von der Familiengröße her sowohl die ökonomische Gleichberechtigung der Mutter ermöglicht als auch die Reproduktion der Bevölkerung gewährleistet. Das erheischt ein gesellschaftliches Bewußtsein der Ehepartner, was durch gezielte materielle Unterstützungen sowie durch andere Maßnahmen – wozu die sozialistischen Produktionsverhältnisse alle Voraussetzung bieten – zu fördern ist.“50

Zwei Variablen hob Lorenz hier hervor, die es künftig stärker zu berücksichtigen gelte: die Familiengröße und die ökonomische Gleichberechtigung der Mutter. Beide müssten mithilfe sozialpolitischer Maßnahmen so beeinflusst werden, dass im Effekt eine Reproduktionssteigerung der Bevölkerung zu verzeichnen sei. Doch wie sollten die Variablen beeinflusst werden und welche Maßnahmen wür48 Vgl. Lorenz, Demografische Analyse, S. 133ff. 49 Lungwitz hatte die Entwicklung der DDR-Bevölkerung mit dem Wirksamwerden des ‚Bevölkerungsgesetzes des Sozialismus‘ begründet. Vgl. Lungwitz, Über die Klassenstruktur, S. 16. 50 Lorenz, Demografische Analyse, S. 120.

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den sich als wirksam erweisen? Als Antwort führte Lorenz folgendes Beispiel an: Das 1950 in der DDR in Kraft getretene „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ gewährte ab dem 3. Kind Geburtsbeihilfen und Kindergeld.51 „Diesen sozialen Fortschritt nicht verkennend, waren diese Maßnahmen jedoch vor allem auf die Förderung kinderreicher Familien abgestellt. Es ist durchaus möglich, daß damit die Reproduktion der Bevölkerung gesichert blieb. Dennoch ist die Fruchtbarkeit gesunken. Ein stabilisierender Einfluß, der dynamisch der gesellschaftlichen Entwicklung hätte hingegen entgegen wirken müssen, blieb also aus. Diese Wirkung zeigte sich erst im Jahr 1959, als Geburtsbeihilfen und Kindergeld auf Grund der im Mai 1958 erlassenen gesetzlichen Bestimmungen für jedes Kind gezahlt wurden.“52

Mit seinem Beispiel, der Gegenüberstellung zweier sozialpolitischer Maßnahmen, konnte er einerseits das Wirken von Bevölkerungspolitiken nachweisen: Vom Inkrafttreten des „Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ bis zu dessen Neuausrichtung im Jahr 1958, stagnierte die Bevölkerungsreproduktion. Dies begründete Lorenz damit, dass das Gesetz in diesem Zeitraum ausschließlich auf Mehr-Kind-Familien ausgerichtet war und die staatlichen Unterstützungen – Geburtsbeihilfen, Kindergeld oder Kindertagesstätten – erst ab dem 3. Kind gewährt wurden. Dahingehen wuchs die DDR-Bevölkerung seit dem Ende der 1950er Jahre – Steigerung der Zahl der Lebendgeborenen, Fruchtbarkeit der Frauen und Reproduktion der Bevölkerung –, da die benannten sozialpolitischen Maßnahmen seither auf sämtliche Kinder ausgeweitet wurden.53 Andererseits verdeutlicht sein Beispiel, wie die Variablen – Familiengröße und ökonomische Gleichberechtigung der Mutter – beeinflusst werden können. Seit Inkrafttreten der Änderungen im „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ im Jahr 1958 wurde die Unterstützung nicht mehr an die Familiengröße gekoppelt. Vielmehr wurden die Unterstützungen nun an die Geburt des ersten Kindes gebunden, was zumindest im Ansatz eine ökonomische Gleichberechtigung aller Mütter untereinander gewährleistete. Weil die Wirkungen hinsichtlich der Bevölkerungsreproduktion evident seien, wollte Lorenz dieses Steuerungsprinzip ausbauen und schlug die Erhöhung des Kindergeldes sowie der Geburtsbeihilfe vor. Zur Gegenfinanzierung entwickelte er zwei Modelle: Das erste beinhaltete eine Steuerreform, die in Form eines Familienlastenausgleiches keine Mehrbelastungen für den Staat entstehen lassen 51 Vgl. hierzu: Gesetzblatt vom 3. November 1950: Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27. September 1950, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Nr. 11, S. 1037. Weitere Unterstützung erhielten Mehr-KindFamilien durch den Auf- und Ausbau von Kindertagesstätten. 52 Lorenz, Demografische Analyse, S. 137. 53 Ibid., S. 133ff.

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würde. Das zweite Modell stellte das Verbot einer künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft zur Disposition, da die „Möglichkeit der Schwangerschaftsunterbrechung die Entstehung kinderreicher Familien weitestgehend unterbinden [würde], womit eine Mehrbelastung des Staatshaushaltes auch nach dieser Seite hin entfällt.“54 Während das Steuerreform-Modell kinderlose Familien stärker finanziell belastet und diese Mehreinnahmen an Familien mit Kindern transferiert, ist die Taktik des letztgenannten Modells wesentlich effizienter. Hier wird über ein monetäres Argument – keine Mehrbelastung des Staatshaushaltes – eine Revision von Teilen des „Gesetz[es] über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ vorgeschlagen, das die Schwangerschaftsunterbrechung unter Strafe stellte.55 Die Aussetzung des Abortverbots ist jedoch nur die Voraussetzung für das eigentliche Kalkül, das mit der individuellen Selbstbestimmung der Frau rechnet und hierüber versucht, effektive Steuerungs- und Regulierungsmechanismen für die Bevölkerungsreproduktion zu etablieren. Lorenz’ Vorschlag, die Vermeidung einer ungewollten Geburt durch die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bzw. die geplante und/oder gewünschte Schwangerschaft stärker in die Kalküle von Bevölkerungspolitiken einzubeziehen, war mit dem Ziel verbunden, die Entwicklung der Fruchtbarkeit zu stimulieren und im Effekt die Bevölkerungsreproduktion zu erhöhen. Denn erst wenn „die Menschen die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, voller Sachkenntnis anwenden und damit beherrschen“ würden, dann könne das „Wirksamwerden sozialistischer Populationsgesetze“ real werden.56

54 Ibid., S. 123. 55 „Im Interesse des Gesundheitsschutzes der Frau und der Förderung der Geburtenzunahme ist eine künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft [...] verboten und wird nach den bestehenden Gesetzen bestraft [...]. Eine Schwangerschaftsunterbrechung ist nur zulässig, wenn die Austragung des Kindes das Leben der die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist.“ GMKRF, Paragraf 11, Absatz 1. Diese pronatalistische Bestimmung trägt noch deutlich die Züge der eugenischen NS-Gesetzgebung. Vgl. hierzu u.a.: Schwartz, Emanzipation zur sozialen Nützlichkeit, S. 72. 56 Lorenz, Demografische Analyse, S. 139.

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III.  Von den Bevölkerungsgesetzen und dem „sozialistischen Reproduktionstyp der Bevölkerung“ Im selben Jahr, als Kuczynski seinen Aufruf an die DDR-Demografen richtete, wurde der „Wissenschaftliche Rat für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR“ gegründet, dem 1974 der „Wissenschaftliche Rat für Fragen der Sozialpolitik und Demografie“ zugeordnet wurde. Beide Räte verdankten ihre Entstehung dem VIII. Parteitag der SED 1971 und der dort proklamierten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, da die SED-Führung für ihren neuen politischen Ansatz eine wissenschaftliche Fundierung benötigte.57 Entsprechend verwies Ingeburg Lange, Kandidatin des Politbüros der SED und Sekretärin des ZK für Frauenfragen, auf der konstituierenden Sitzung des Rates für „Sozialpolitik und Demographie“ auf die Beschlüsse des VIII. Parteitags der SED und begründete die Koppelung von sozialpolitischer und demografischer Forschung damit, dass „eine optimale Wirkung der demographischen Forschung zur Bevölkerungsentwicklung nur im Rahmen der gesamten Sozialpolitik unseres sozialistischen Staates zu erwarten“ wäre.58 Und weiter heißt es bei Lange: „[W]ir fühlten und wir fühlen die Lücken in der Forschung sehr deutlich, insbesondere was die vielfältigen Auswirkungen betrifft, die im Ergebnis ganz bestimmter sozialpolitischer Maßnahmen zu erwarten sind.“59 Diese Lücken galt es, so die Hauptaufgabe des Rates, durch die Koordination der bisher verstreut arbeitenden Forschungszentren – an der HfÖ oder an der Humboldt Universität, wo Khalatbari seit 1972 die Professur für „Demographie“ innehatte –, zu schließen. Vorsitzender des neuen Rates für „Sozialpolitik und Demographie“ wurde Gunnar Winkler, Professor für sozialistische Betriebswirtschaft an der Berliner Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“. Winkler nahm die Diagnose von Lange sofort zum Anlass, um weitere Forschungslücken zu benennen und Abhilfe zu fordern: Weil die Kenntnis der Bevölkerungsgröße und -struktur sowie die Einschätzung ihrer künftigen Entwicklung als entscheidend für die Entwicklung der Produktionsweise und die Planung der sozialistischen Gesellschaft seien und sich die „Wechselbeziehung zwischen sozialökonomischer und Bevölkerungsentwicklung [gesetzmäßig] vollzieht“, müssten die „historisch gültigen Populati57 Vgl. Karlsch, Demographie in der DDR, S. 96f. 58 Ingeburg Lange, Zur Notwendigkeit der sozialpolitischen Forschung bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Konstituierende Tagung des Wissenschaftlichen Rates für Fragen der Sozialpolitik und Demographie am 22. Februar 1974. Sozialpolitik und Demographie, Berlin: Akademie-Verlag 1975, S. 7–24, S. 8. 59 Ibid., S. 10.

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onsgesetze“ entdeckt werden.60 Doch die Forschung, so Winkler weiter, „zu den Gesetzmäßigkeiten der Bevölkerungsentwicklung und der Wirkungsweise des sozialistischen Bevölkerungsgesetzes in der DDR sind gegenwärtig noch nicht ausreichend.“61 Während Winkler die Forschungslücken problematisierte, deuteten sich bereits zwei mögliche Lösungen an. Grundsätzlich herrschte an der HfÖ und an der HU Einigkeit darüber, „daß sich in den letzten Jahren die Diskussion um die Bevölkerungsgesetze zusehends belebt hat, ohne daß allerdings wesentliche Fortschritte erzielt werden konnten“, so zumindest der Mitarbeiter von Strohbach an der HfÖ, Wolfram Ledenig, und der Mitarbeiter von Khalatbari an der HU, Dieter Vogley.62 Die sich hieran anschließenden Schlussfolgerungen vonseiten Strohbachs und Khalatbari waren jedoch unterschiedlich. Sich auf Kuczynskis Aufsatz in „Die Weltbühne“ berufend, führt Khalatbari während des Demografischen Symposiums über die „Gesetzmäßigkeiten der Bevölkerungsentwicklung, theoretische Grundlagen und Erfahrungen der Bevölkerungspolitik und Familienplanung“ aus: „Wir haben die einfache Umkehrung dieses von Marx formulierten Gesetzes für den Kapitalismus als Bevölkerungsgesetz des Sozialismus deklariert.“63 Diesen eiligen Schlussfolgerungen stellt Khalatbari die These entgegen, dass „die Gesetze der Reproduktion der Menschen nur durch die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Produktion, Selbsterhaltung und Fortpflanzung erkannt werden können“ sowie, dass „die allgemeinen Gesetze der Vermehrung in der Natur einen Ausgangspunkt für die Untersuchung des Reproduktionsprozesses des Menschen bilden“.64 Damit formulierte er erste

60 Gunnar Winkler, Thesen. Aufgaben und Probleme der Sozialpolitik in der DDR, in: Helmut Koziolek (Hrsg.), Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. 11. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR am 29. 10. 1974. Aufgaben und Probleme der Sozialpolitik und Demographie in der DDR. Grundfragen der sozialen und demographischen Entwicklung bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR, Berlin: Akademie-Verlag 1975, S. 9–42, S. 18. 61 Ibid. 62 Wolfram Ledenig/Dieter Vogley, Zu einigen Problemen demografischer Forschung in der DDR, in: Wirtschaftswissenschaft, Berlin: Die Wirtschaft, Heft 22/11 (1974), S. 1601–1615, S. 1606. 63 Parviz Khalatbari, Zu einigen Problemen der Methodologie der Bevölkerungsforschung, in: Ders. (Hrsg.), Zu Problemen der Demographie. Materialien des Internationalen Demographischen Symposiums, vom 16. – 18. Dezember 1974, Berlin: AkademieVerlag 1975, S. 15. 64 Ibid., S. 28.

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Elemente für eine Theorie der demographischen Transition.65 Gleichzeitig verabschiedete er sich von seinen bisherigen Forschungsansätzen zum „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“.66 Strohbach seinerseits, der einen Vortrag während derselben Ratstagung hielt, brachte eine etwas anders gelagerte Lösung ins Spiel. Für ihn, der in den vergangenen Jahren an der HfÖ gemeinsam mit Khalatbari und Müller zu den demografischen Gesetzmäßigkeiten geforscht hatte, ging es bei der künftigen „Formulierung der Bevölkerungsgesetze des Sozialismus“ um die Frage, „inwieweit von einem einheitlichen sozialistischen Bevölkerungsgesetz gesprochen werden muß […], oder ob nicht besser zu unterscheiden ist zwischen einem ‚ökonomischen Bevölkerungsgesetz‘ [...] und den demographischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die natürliche Bevölkerungsbewegung, die natürliche Bevölkerungsreproduktion vollzieht.“67

Unter dem ‚ökonomischen Bevölkerungsgesetz‘ verstand Strohbach jene Formulierungen, die seit Mitte der 1950er Jahre unter dem Begriff ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ in den auflagenreichen Lehrbüchern für „Politische Ökonomie“ firmierten, auf die sich auch Winkler in seinem Vortrag bezogen hatte. Somit folgte auch Strohbach den Schlussfolgerungen von Kuczynski und schlug die frühen Überlegungen zum ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ dem Bereich der Ökonomie zu. Er steckte aber auch ein neues Forschungsfeld im Bereich der Demografie ab, das sich weiterhin mit den Zusammenhängen zwischen Produktionsund Reproduktionsbedingungen im Sozialismus beschäftigen sollte. Strohbachs Überlegungen zur natürlichen Bevölkerungsbewegung und -reproduktion folgend, griff der Demograf Thomas Büttner diese in seiner Studie zum Thema „Marxistisch-leninistische Grundlagen der Bevölkerungsbewegung“ 1977 auf und entwickelte diese weiter.68 Büttner, selbst Mitarbeiter an der HfÖ, bestimmte in seiner Arbeit den „historischen Verlauf der natürlichen Bevölkerungs65 Vgl. zur Transitionstheorie, zu Stellung derselben innerhalb der demographischen Forschung in der DDR und zu den Auseinandersetzungen um die Theorie: Karlsch, Gab es eine demographische Theorie, S. 311f. 66 Vgl. Khalatbari/Strohbach/Müller, Wissenschaftsbereich Arbeitsökonomie. 67 Erich Strohbach, Zu einigen Beziehungen zwischen Sozialpolitik und Demographie, in: Helmut Koziolek (Hrsg.), Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. 11. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR am 29. 10. 1974. Aufgaben und Probleme der Sozialpolitik und Demographie in der DDR. Grundfragen der sozialen und demographischen Entwicklung bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR, Berlin: Akademie-Verlag 1975, S. 136–141, S. 141. 68 Thomas Büttner, Marxistisch-leninistische Grundlagen der Bevölkerungsbewegung (Problemanalyse), Berlin: Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, Sektion Sozialistische Volkswirtschaft, Wissenschaftsbereich Arbeitsökonomie 1977.

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reproduktion“ und unterteilte diesen in vier Typen: den „Archetyp“, den „primitiven Typ“ und den „modernen Typ“ der Bevölkerungsreproduktion.69 Letzterer existierte jedoch nicht abstrakt, sondern im konkreten gesellschaftlichen Kontext und wurde von Büttner ein weiteres Mal in die „natürliche Bevölkerungsreproduktion im Kapitalismus und Sozialismus“ differenziert.70 Für die demografischen Gesetze des Sozialismus bedeutete dies, dass sie „spezifische gesellschaftliche Gesetze der sozialistischen Produktionsweise [sind]. Demzufolge sind die bestimmenden Gesetze der sozialistischen Produktionsweise auch für die demografischen Gesetze wesentlich und determinieren ihren Inhalt und Charakter. Diese Rolle kommt ganz allgemein dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus zu. Allerdings ist es prinzipiell nicht möglich, die demografischen Gesetze deduktiv, nach logischen Schlußregeln aus dem ökonomischen Grundgesetz direkt abzuleiten.“71

Ähnlich hatte es Strohbach auf der Ratstagung im Jahr 1974 formuliert, doch Büttner ging über ihn hinaus, wenn er drei „Kriterien der sozialistischen Bevölkerungsreproduktion“ aus seinen Ausführungen ableitete: Bewusstheit, Rationalität und Homogenität. (1) Die sozialistische Entwicklung ist eine planmäßige, der auf demografischem Gebiet durch eine „bewußte und umfassende Familienplanung“ und „durch eine wissenschaftlich begründete Bevölkerungspolitik“ entsprochen wird. (2) „Wie für die entwickelte sozialistische Gesellschaft der Übergang zur intensiv erweiterten Reproduktion, so ist für die natürliche Bevölkerungsreproduktion ein rationaler [...] Reproduktionstyp wesenseigen.“ (3) Sowohl in der sozialistischen Gesellschaft als auch in den demografischen Verhaltensweisen vollzieht sich ein Prozess der Angleichung der verschiedenen Klassen und Schichten. „Der Prozeß der natürlichen Bevölkerungsreproduktion verläuft gleichmäßig, der ‚Lebensbaum‘ erhält eine gleichmäßige Gestalt.“72 Hatte Lorenz in seiner Analyse der 1950er und 1960er Jahre zwei Variablen – Familiengröße und ökonomische Gleichberechtigung der Mutter – herausgestellt, die durch gezielte sozialpolitische Steuerung zu einem Wachsen der Bevölkerungsreproduktion beitragen konnten, entwickelte Büttner seinerseits drei Kriterien – Bewusstheit, Rationalität und Homogenität –, die für die Charakterisierung der sozialistischen Bevölkerungsreproduktion stehen würden. Ähnliche Überlegungen finden sich in einem Katalog aus dem Jahr 1976, der die „Grundsätze und Maßnahmen der Bevölkerungspolitik sowie Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik“ re69 70 71 72

Ibid., S. 45ff. Ibid., S. 56. Ibid., S. 60. Büttner, Grundlagen der Bevölkerungsbewegung, S. 60f.

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feriert.73 Die Autoren, Kurt Lungwitz, seit 1975 Professor an der HfÖ und sein Kollege Wolfram Ledenig stellen im Vorwort den theoretischen Bezugrahmen ihren folgenden Ausführungen voran: „Die spezifische Aufgabe der Bevölkerungspolitik [...] [ist es], ein System von Maßnahmen zu entwickeln, das auf die planmäßige Gestaltung der Bevölkerungs- und Familienentwicklung gerichtet ist. Diese Maßnahmen sollen die natürliche Reproduktion der Bevölkerung im Sinne der gesellschaftlichen Zielsetzungen des Sozialismus, insbesondere der effektiven und schnellstmöglichen Verwirklichung der Erfordernisse des ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus, planmäßig beeinflussen und die Herausbildung eines der kommunistischen Gesellschaft gemäßen Reproduktionstyps der Bevölkerung unterstützen.“74

Unter diesen Maßnahmen verstanden sie zunächst die 1965 erfolgte Kodifizierung des „Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik“.75 In den Paragrafen 9 und 10 des Familiengesetzbuches wurde ein Familientypus entworfen, dessen Konturen bereits in der Studie von Lorenz theoretisch angedacht waren. Dieser sollte sowohl die ökonomische Gleichberechtigung der Mutter ermöglichen, ein gesellschaftliches Bewusstsein bei den Ehepartnern stiften und die Reproduktion der Bevölkerung gewährleisten.76 Unter der Überschrift „Die eheliche Gemeinschaft“ wurden die Grundsätze jener Zweisamkeit im Familiengesetzbuch auflistet: „Die Ehegatten sind gleichberechtigt“ und „führen einen gemeinsamen Haushalt.“77 Und weiter heißt es: „Die eheliche Gemeinschaft erfährt ihre volle Entfaltung und findet ihre Erfüllung durch die Geburt und die Erziehung der Kinder.“78 Dabei sei schließlich die „Beziehung der Ehegatten zueinander so zu gestalten, daß die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann.“79 Unter einer sozialistischen Bevölkerungspolitik verstanden Lungwitz und Ledenig aber auch die Einführung der kostenlo73 Wolfram Ledenig/Kurt Lungwitz, Grundsätze und Maßnahmen der Bevölkerungspolitik sowie Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, Sektion Sozialistische Volkswirtschaft, Wissenschaftsbereich Arbeitsökonomie, Lehrstuhl Demographie 1976. 74 Ibid., S. 1f. 75 Vgl. Ibid. Das „Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik“ trat am 20. Dezember 1965 in Kraft. Vgl. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1966, Teil I. 76 Vgl. zum Familienbild im Familiengesetzbuch u.a.: Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945 – 1980, Opladen: Leske & Budrich 1986, S. 247f., Trappe, Emanzipation oder Zwang, S. 62f. 77 Familiengesetzbuch, § 9, Absatz 1. 78 Ibid. 79 Ibid., § 10, Absatz 1.

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sen Abgabe oraler Kontrazeptiva, der sogenannten Antibabypille. Diese erhielten Frauen, wenn sie sozialversichert waren und das 16. Lebensjahr erreicht hatten.80 Wichtiger jedoch erschienen Lungwitz und Ledenig jene bevölkerungspolitischen Maßnahmen, die 1972 eingeführt und von den Autoren in den Kontext des VIII. Parteitags der SED gestellt wurden. Generell zielten diese gesetzlichen Regelungen auf die weitere Verzahnung der Familien- mit der Frauenpolitik, um hierüber die Bevölkerungsreproduktion zu beeinflussen. Oder in den Worten von Lungwitz und Ledenig: „Um es den Frauen zu ermöglichen, Berufstätigkeit, berufliche Entwicklung, Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sowie Mutterschaft in Übereinstimmung zu bringen, wurde ihnen das Recht übertragen, Zahl, Zeitpunkt und zeitliche Aufeinanderfolge der Geburt von Kindern selbst zu bestimmen.“81

Hierunter subsumierten sie einerseits die seit 1965 erhältliche Antibabypille, die seit 1972 geltende Möglichkeit zur Sexualerziehung durch staatliche Ehe- und Familienberatungsstellen und vor allem das bereits von Lorenz in die Debatte eingeführte Recht auf künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft: „Seit 1972 darf die Frau bis zur 12. Woche über den Abbruch der Schwangerschaft entscheiden – ärztliche Betreuung/Beratung inklusive [...]. Die Regierung hält den Schwangerschaftsabbruch für die wesentliche Grundlage der Durchsetzung der vollen Gleichberechtigung der Frau – nicht das ungewollte, sondern das gewünschte Kind ist das erstrebenswerte Ziel der sozialistischen Familie.“82

Darüber hinaus gingen sie auf die Erhöhung der Geburtenbeihilfe, die seit 1972 als eine einheitliche staatliche Geburtenbeihilfe für jedes Kind in Höhe von 1000 Mark gewährt wurde, die Erhöhung des monatlich gezahlten staatlichen Kindergeldes, die weitere Erhöhung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubes, die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnabzug, die Einführung der 40 Stunden-Woche oder die Erhöhung des Mindesturlaubs für berufstätige Mütter mit mehreren Kindern ein. Diese sozial- bzw. bevölkerungspolitischen Maßnahmen, die ausschließlich auf die Frau gerichtet waren, wurden durch die seit diesem Zeitpunkt gültigen Regelungen zum Ehekredit ergänzt. Danach konnten Eheleute bis zum Alter von 26 Jahren, wenn sie eine Erstehe schlossen und zum Zeitpunkt der Eheschließung gemeinsam ein monatliches Bruttoeinkommen von 1400 Mark nicht überschritten, einen Ehekredit in Höhe von 5000 Mark aufnehmen.83 80 81 82 83

Vgl. Ledenig [u.a.], Grundsätze und Maßnahmen, S. 6. Ibid. Ibid., S. 7. Ibid., S. 8f.

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Ganz im Sinne von Lorenz und Büttner interpretierten Lungwitz und Ledenig den Maßnahmenkatalog dahin gehend, dass die „Regelungen und Möglichkeiten zur Familienplanung auf der einen und die bevölkerungspolitischen Maßnamen zur Förderung von Familien mit Kindern sowie zur Geburtenstimulierung auf der anderen Seite“ eine Einheit im Sinne der sozialistischen Bevölkerungsreproduktion bilden.84 Familien konnten ihre Familiengröße selbst/-bewusst planen, die ökonomische Gleichberechtigung der Mutter und ihre Integration in den Produktionsprozess seien erreicht und die Homogenität der demografischen Verhaltensweisen aller Bevölkerungsschichten und -klassen werde durch die Egalität in der materiellen und ideellen Förderung erreicht.

IV.  Vom „sozialistischen Reproduktionstyp der Bevölkerung“ im Spiegel der Bevölkerungspolitik Die Mitte der 1970er Jahre formulierten Thesen Büttners tauchten Anfang der 1980er Jahre in einem von Büttner, Ledenig, Lungwitz und Strohbach veröffentlichten Artikel zum Thema „Typisierung der demografischen Reproduktion“ wieder auf und wurden ein weiteres Mal konkretisiert.85 Die Autoren gingen von der Annahme aus, dass sich aus der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge von ökonomischen Gesellschaftsformen und den hiermit korrespondierenden spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen die jeweils typischen Systeme der Bevölkerungsreproduktion ableiten und aufzeigen lassen: „Jede Gesellschaftsformation erzeugt auf Grundlage der für sie spezifischen Produktionsweise und der dieser eignen materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse adäquate demografische Verhältnisse; d.h. eine geschichtlich bestimmte Bevölkerung mit einer bestimmten Art und Weise ihrer Reproduktion, mit bestimmten Reproduktionsbedingungen und -erfordernissen, einem bestimmten Reproduktionsverhalten und ähnlichem.“86

Demnach folgte im historischen Verlauf auf den Archetyp der primitive Typ der natürlichen Bevölkerungsreproduktion. Hieran schließen sich, so die Autoren weiter, der kapitalistische und darauf folgend der sozialistische Typ der Bevölkerungsreproduktion an.87 Vor allem die letzte Annahme war unter den DDR84 Ibid. 85 Thomas Büttner/Wolfgang Ledenig/Kurt Lungwitz/Erich Strohbach, Zur historischen Typisierung der demografischen Reproduktion, in: Wirtschaftswissenschaft, Berlin: Die Wirtschaft 29/10 (1981), S. 1191–1205. 86 Ibid., S. 1192. 87 Ibid., S. 1195.

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Demografen umstritten. Im selben Jahr hatte Khalatbari einen Aufsatz zur „demographischen Transition“ veröffentlicht.88 Die von ihm weiterentwickelte Transitionstheorie sah jedoch eine Differenzierung des modernen Typs der Bevölkerungsreproduktion, wie es Büttner 1977 und nun ein weiteres Mal vorgeschlagen hatte, in einen kapitalistischen und einen sozialistischen Typ nicht vor.89 Es bedurfte also weiterer Ausführungen von Büttner, Ledenig, Lungwitz und Strohbach, wollten sie die Existenz des sozialistischen Reproduktionstyps nachweisen. Hierzu charakterisierten sie den kapitalistischen und leiteten davon den sozialistischen Reproduktionstyp ab. Der kapitalistische Typ sei (1) ein spontaner Prozess, in dem die Gesetze der demografischen Reproduktion als „blindwirkender Durchschnitt, als die Gesellschaft beherrschende und nicht von ihr beherrschte Gesetze“ wirken.90 (2) Sei er durch Krisenhaftigkeit gekennzeichnet, dessen ständig „schwankende Reproduktionsparameter [...] weder für den ökonomischen Reproduktionsprozeß noch für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt rationell sein [können].“91 Schließlich sei er (3) durch eine soziale Differenzierung der demografischen Verhältnisse gekennzeichnet, da sich die „demografischen Verhaltensweisen der Klassen und Schichten, der Stadt- und Landbevölkerung [...] in unterschiedlichen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsverhältnissen [...] ausdrücken.“92 Die Merkmale des kapitalistischen und sozialistischen Reproduktionstyps erscheinen quasi als Gegensatzpaar. Entsprechend hatte Büttner bereits 1977 Bewusstheit, Rationalität und Homogenität als Merkmale des sozialistischen Reproduktionstyps bestimmt.93 Doch während die Autoren die Beschreibung des kapitalistischen Reproduktionstyps als hinreichend verifiziert betrachteten, hielten sie hinsichtlich des sozialistischen Typs fest: „Wie bereits angedeutet, ermöglicht es der gegenwärtige Entwicklungstand der sozialistischen Gesellschaft und der Bevölkerungswissenschaft noch nicht, alle mit dem Typ der Bevölkerungsreproduktion im Zusammenhang stehenden Fragen befriedigend und umfassend zu beantworten.“94

88 Parviz Khalatbari, Die demographische Transition – der Prozeß der Unterbrechung der Kontinuität in der Bevölkerungsbewegung, in: Wirtschaftswissenschaft, Berlin: Die Wirtschaft, 29/2 (1981), S. 153–166. 89 Vgl. Karlsch, Gab es eine demographische Theorie, S. 311f. 90 Büttner [u.a.], Zur historischen Typisierung, S. 1195. 91 Ibid., S. 1196. 92 Ibid. 93 Büttner, Marxistisch-leninistische Grundlagen, S. 60f. 94 Büttner [u.a.], Zur historischen Typisierung, S. 1198.

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Und weiterhin räumten sie ein, dass vielfach anstelle wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse noch Hypothesen stehen würden, deren Gültigkeit durch Wissenschaft und Praxis weiter überprüft werden müssten. Den Hinweis auf den hypothetischen Charakter der getroffenen Aussagen unterfütterten sie mit einem Argument, das bereits am Anfang der 1960er Jahre von Lungwitz verwendet wurde: „Erst im Verlauf eines langen Zeitraums entstehen die Bedingungen, neuen Strukturen und territoriale Verteilungen der Bevölkerung, die den demografischen Gesetzen der neuen Gesellschaftsformation zur vollen Wirksamkeit verhelfen und ihre volle Ausnutzung ermöglichen.“95

Die Erkenntnis, dass die demografischen Verhaltensweisen und Erscheinungen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Reproduktionsprozesse oder die sozialen Veränderungen bzw. die Homogenisierung in der DDR, bezogen auf einen längeren Zeitraum, statistisch nicht erfassbar waren, weil es sich teilweise um noch nichtqualifizierbare Sachverhalte handelte, führte in den 1980er Jahren zur Suche nach empirischen Belegen für die Existenz des sozialistischen Reproduktionstyps. Obwohl bereits Anfang der 1980er Jahre einige DDR-Demografen Zweifel äußerten, ob der sozialistische Reproduktionstyp jemals gefunden werden würde, wurde an der Suche nach demselben bis zum Ende der 1980er Jahre festgehalten. Dabei entstanden einzelne Aufsätze, die sich der vergleichenden Analyse einzelner RGW-Staaten widmeten und die Unterschiede und Übereinstimmungen in der Durchsetzung des sozialistischen Reproduktionstyps herausarbeiteten.96 Es wurden Artikel veröffentlicht, die mit einer spezifischen Transformation vom kapitalistischen zum sozialistischen Typ der Bevölkerungsreproduktion in der DDR beschäftig waren und hierfür beispielsweise den Umbau der Familienstrukturen analysierten.97 Schließlich finden sich Studien, die den Reproduktionsprozess der sozialistischen Volkswirtschaft und die hiermit korrespondierende Entwicklung der Bevölkerungsstruktur untersuchen und dabei mit den Auswirkungen bestimmter sozialpolitischer Maßnahmen in Bezug auf die demografischen Entwicklungstendenzen in der DDR beschäftigten.98Dabei scheint sich letztlich eine Argumentationsfigur durchzusetzen, die bereits 1982 in dem Aufsatz „Vom ka95 Ibid., S. 1199; vgl. Lungwitz, Über die Klassenstruktur, S. 16. 96 Vgl. hierzu u.a.: Thomas Büttner, Zu einigen Grundzügen der demographischen Reproduktion im Sozialismus, in: Parviz Khalatbari (Hrsg.), Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik, Berlin: Akademie-Verlag 1981, S. 87–101. 97 Vgl. hierzu u.a.: Wulfram Speigner, Vom kapitalistischen zum sozialistischen Typ der Bevölkerungsreproduktion, in: Wirtschaftswissenschaft 30/10 (1982), S. 1480–1492. 98 Vgl. hierzu u.a.: Thomas Büttner/Wolfram Ledenig/Martina Schuster/Erich Strohbach, Forschungsinformationen, Bevölkerungsreproduktion in der Deutschen Demokratischen Republik, Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, Sektion SVW, WB Arbeitsökonomie 1985.

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pitalistischen zum sozialistischen Typ der Bevölkerungsreproduktion“ von Wulfram Speigner auftaucht.99 Speigner, Bevölkerungssoziologe am 1978 gebildeten Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) der Akademie der Wissenschaften, stellte folgende Behauptung auf: „Die Herausbildung des ihr entsprechenden Reproduktionstypus überläßt die sozialistische Gesellschaft nicht dem Selbstlauf. So wie die sozialistische Lebensweise ausgeprägt wird, werden auch die spezifischen Bedingungen des sozialistischen Reproduktionstyps geschaffen. Mit der Bevölkerungspolitik wird dieser Prozeß stimuliert: Die Gesellschaft nimmt mit dem Ziel Einfluß auf die Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsverhältnisse, daß sich Größe und Struktur der Bevölkerung aus den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen ergeben und den Erfordernissen der Produktionsweise der materiellen Güter entsprechen.“100

Drei weitere Jahre später konnte Speigner die entsprechenden Zahlen in seinem Aufsatz „Die Bevölkerungsreproduktion – Bestandteil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses“ präsentieren, verbunden mit der Feststellung: „Ähnlich wie in anderen sozialistischen Ländern bildet sich in der DDR ein Reproduktionstyp heraus, der sich aus den Merkmalen der Lebensweise im Sozialismus ergibt.“101 Dies begründete er mit der Entwicklung der Geburtenrate im Kontext jener bevölkerungspolitischen Maßnahmen, die auf die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft zielten sowie mit der zunehmenden Gleichartigkeit des demografischen Verhaltens unterschiedlicher Klassen und Schichten.102 Speigner, der sich hierzu in weiteren Veröffentlichungen äußerte, bestimmte also den sozialistischen Typ der Bevölkerungsreproduktion als das, was in der Sozial- bzw. Bevölkerungspolitik der DDR seit Anfang der 1970er Jahre realisiert wurde.103 Damit fiel der sozialistische Reproduktionstyp, der als Nachfolger für das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ bzw. der ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetze‘ konzipiert war, mit den sozial- bzw. bevölkerungspolitischen Maßnahmen zusammen, um fortan eine Einheit zu bilden.

99 Speigner, Vom kapitalistischen zum sozialistischen Typ. 100 Ibid., S. 1487f. 101 Wulfram Speigner, Die Bevölkerungsreproduktion – Bestandteil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, in: Jahrbuch der Soziologie und Sozialpolitik, Berlin: Akademie-Verlag 1985, S. 233–256, S. 247. 102 Ibid., S. 246f. 103 Vgl. hierzu u.a.: Wulfram Speigner, Kind und Gesellschaft. Eine soziologische Studie über die Geburtenentwicklung in der DDR, Berlin: Akademie-Verlag 1987. Hier besonders: S. 56ff.

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Epilog Im Jahr 1992 hielt der ehemalige DDR-Demograf Jürgen Dorbritz in einem Artikel über die DDR-Bevölkerungswissenschaft rückblickend fest, dass die Existenz eines sozialistischen Typs der Bevölkerungsreproduktion „per Definition gesetzt [war] und damit auch der Zwang, Merkmale der sozialistischen Bevölkerungsweise empirisch aufzufinden. Das allerdings gelang kaum.“104 Weitere ehemalige DDR-Demografen äußerten sich ähnlich – sie gehen unisono von „Fehleinschätzungen“ aus, wenn sie retrospektiv auf die Suche nach einem „Bevölkerungsgesetz des Sozialismus“ und dessen Anwendungen zu sprechen kommen und konstatieren „ideologische Grenzen“ oder „starres Festhalten an irrtümlichen Traditionslinien“.105 Unlängst wurden diese (Be-)Wertungen vom Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch aufgegriffen, der vor allem methodologische Fehlschläge aufzählte. Dabei überführte er die demografische Forschung zur „sozialistischen Bevölkerungsreproduktion“ ins Reich der Fabeln: „Über kurz oder lang musste sich erweisen, dass die Theorie vom ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetz‘ substanzlos war und eher an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern als an einen ernsthaften Forschungsansatz erinnerte.“106 Diese eigentümliche Einigkeit in den Bewertungen basiert vornehmlich auf zwei Annahmen: Einerseits habe das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ bzw. die Bevölkerungsreproduktion des sozialistischen Typs im Sinne demografischer Theorie- und Praxisanforderungen nie funktioniert, andererseits seien diese stets in ideologisch aufgeladenen Feldern aufgetreten. Beide Annahmen sind zweifellos berechtigt, gleichwohl ein Jenseits der Demografie von Ideologie nur schwer vorstellbar scheint. Dennoch versperrt diese Sichtweise den Blick auf die Effekte jener Diskurse, die das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ und dessen Weiterentwicklungen hervorgebracht, stabilisiert und reproduziert haben. Daher scheint die Fokussierung auf die Wirkungen eben jener Diskursereignisse, die sie seit ihrem Auftauchen in den Wissensbeständen der DDR-Demo-

104 Dorbritz, Die Situation der Bevölkerungswissenschaft, S. 433. 105 Vgl. Ibid., S. 432; Parviz Khalatbari spricht in diesem Zusammenhang von einem „Mißerfolg“. „Siebzig Jahre haben [die DDR-Demografen, Anm. M.S.] fieberhaft nach dem spezifischen Bevölkerungsgesetz der sozialistischen Produktionsweise geforscht. Sie haben es zigmal gefunden, formuliert und widerlegt.“ Vgl. Parviz Khalatbari, Demographie – eine Wissenschaft mit unterentwickelter Theorie, in: UTOPIEkreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Heft 186 (2006), S. 23–35, S. 25. 106 Karlsch, Gab es eine demographische Theorie, S. 319.

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grafie gezeitigt haben, umso wichtiger.107 Denn jene Diskurse, die um das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ wucherten, zeigten ihre Konturen bereits in den 1950er Jahren in der DDR. Zu dieser Zeit betrat das Bevölkerungsgesetz das demografische Wissensfeld in Form einer Deduktion aus politökonomischen Klassikern des Marxismus. Es kam als eine Vorgabe sowjetischer Ökonomen und Bevölkerungswissenschaftler und sollte Anwendung und Bekanntheit in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft finden. In den 1960er Jahren wurde das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ für das künftige Profil des ersten Lehrstuhls für Demografie in der DDR bestimmend. Nicht nur das Bekenntnis zur Idee einer sozialistischen Bevölkerungsreproduktion, sondern vor allem die Suche nach deren Mechanismen erforderte die Aufmerksamkeit ostdeutscher Demografen an der HfÖ. In diesem Zusammenhang bildete sich ein eigentümliches Wechselverhältnis zwischen sozial- bzw. bevölkerungspolitischen Maßnahmen einerseits und der Bestimmung demografischer Gesetze andererseits. Die Merkmale der sozialistischen Bevölkerungsreproduktion wurden nicht mehr aus den theoretischen Beschreibungen von Marx deduziert, sondern über empirische Studien gewonnen. Gleichzeitig wurden die bevölkerungs- bzw. sozialpolitischen Maßnahmen, sofern diese umgesetzt wurden, wenn nicht abgeleitet, so doch überwiegend mit den Theorien zur sozialistischen Reproduktionsweise begründet bzw. in deren Kontext eingebettet. Obgleich seit Mitte der 1970er Jahre nicht mehr apodiktisch von den ursprünglichen Formulierungen des ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetzes‘ ausgegangen wurde, (re-)produzierten die meisten DDR-Demografen die Diskurse um sozialistische Reproduktionsweisen und hielten an der grundsätzlichen Überlegung fest, wonach jede Gesellschaftsformation auf Grundlage der für sie spezifischen Produktionsweise und der dieser eignen materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse adäquate demografische Verhältnisse erzeuge. Zwar tauchte der ungebrochene Wachstumsoptimismus in Bezug auf die Bevölkerung seit Ende der 1970er Jahre nicht mehr auf, da die monokausalen Zusammenhänge aus den frühen Formulierungen unhaltbar schien. Dennoch zieht sich die Verbindung von Gesellschaftsformation und spezifischer Bevölkerungsreproduktion wie ein roter Faden durch die Veröffentlichungen. Dabei entsteht ein Paradoxon: Die Ausgestaltung der Bevölkerungspolitik der 1960er und vor allem der 1970er Jahre 107 Die Überführung der Theorien zum ‚sozialistischen Bevölkerungsgesetz‘ ins Reich der Fabeln und damit zusammenhängend, das Ausblenden ihrer Wirkungen, birgt die Gefahr einer vorschnellen Bilanzierung der DDR-Demografie. Vgl. Rainer Karlsch, Demographische Forschung in der DDR – Versuch einer Bilanz, in: Ursula Ferdinand/ Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 383–391.

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entsprach in ihren wesentlichen Zügen den theoretischen Annahmen zu einer sozialistischen Reproduktionsweise. Die Bevölkerungsentwicklung sollte diesen Maßgaben entsprechend gestaltet werden. Gleichzeitig aber suchten die DDRDemografen spätestens seit den 1980er Jahren unablässig nach den spezifischen Determinanten eben jener Reproduktionsweise. Dies führte in den späten 1980er Jahren zu der Schlussfolgerung, dass die spezifischen Bedingungen des sozialistischen Reproduktionstyps mit der Bevölkerungspolitik der DDR geschaffen wurden. Anders formuliert: In dem im Vorfeld hergestellten oder geschaffenen Bevölkerungskörper wurde nach den spezifischen Konstruktionsregeln desselben geforscht. Am Ende fielen also der sozialistische Reproduktionstyp und die sozialpolitischen Maßnahmen zusammen. Das ‚Bevölkerungsgesetz des Sozialismus‘ und dessen Derivate waren der Ausgangspunkt für zahlreiche demografische Forschungsarbeiten, waren Legitimation für die ‚sozialistische Bevölkerungspolitik‘. Sie bildeten die Grundlage für die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen in der DDR und wurden schließlich mit ihnen deckungsgleich.

Arnaud Lechevalier

Konkurrierende Ansätze der Generationengerechtigkeit und Rentenreformen im gegenwärtigen Kontext1 Die intergenerationnelle Gerechtigkeit spielt eine immer größere Rolle in der öffentlichen Debatte über die Reformen der sozialen Sicherung, insbesondere bei den Rentenreformen. Strukturelle Entwicklungen und vor allem der demografische Wandel werden in den Vordergrund gestellt und als eine Bedrohung des Interesses zukünftiger Generationen betrachtet. In diesem Kontext wird der Generationenkonflikt immer häufiger thematisiert und im wissenschaftlichen Feld durch die „politische Ökonomie“ der Wahl eines Rentensystems konzeptualisiert. Angesichts der wachsenden finanziellen Lasten für die zukünftigen Generationen werden gleichzeitig Rentenreformen bzw. Rentenkürzungen im Namen der Generationengerechtigkeit gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund dieser Problematik wird hier die Frage der konkurrierenden Ansätze der Generationengerechtigkeit behandelt und ihre Tragweite für die Rentenreformen analysiert. Dieser Beitrag verfolgt also das Ziel, die Folgen von verschiedenen Ansätzen der Generationengerechtigkeit und die politische Empfehlungen, die im Bereich der Rentenreformen daraus gezogen werden können, zu bewerten. In jedem Fall wird es darum gehen, die Probleme, die von jedem Kriterium aufgeworfen werden, und die Auswirkungen ihrer Anwendung auf die intra- und intergenerationelle Einkommensverteilung zu analysieren. Es werden dabei im Folgenden vier Ansätze aufgegriffen: der Ansatz der gleichen Rendite und der impliziten Verschuldung, das von Myles überarbeitete Musgrave-Prinzip sowie zwei Maximin-Ansätze auf intergenerationeller Ebene. Damit werden folgende Fragen aufgeworfen: Wie kann die zeitliche Dimension der Gerechtigkeit aufgefasst werden? Wie ist es überhaupt möglich, die Gleichheit zwischen den Menschen im Zeitverlauf zu denken? Welche Rolle übernehmen die „Experten“ in der Vorstellung der Zukunft einer „älter werdenden Gesellschaft“ und welche Annahmen setzen sie in den Formulierungen der Gerechtigkeitsnormen voraus? Zunächst wollen wir die Besonderheiten der Problematik der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verdeutlichen.

1 Mein bester Dank an Johannes Vollmer für die Überarbeitung der deutschen Fassung.

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Das Besondere an der Problematik der Gerechtigkeit zwischen den Generationen Die Definition des Begriffs Generation ist in diesem Kontext zentral. In diesem Zusammenhang können drei Bedeutungen des Wortes Generation festgehalten werden2. Die demografische Generation steht als Synonym für eine Geburtskohorte. Die historische Generation ist „geprägt von spezifischen Interessen, sie hat ein starkes gemeinsames Bewusstsein (...), durch die Geschichte verbunden zu sein, und bildet eine Gruppe, die als kollektiver Akteur in Erscheinung tritt: eine Generation ‚an-und-für-sich‘“.3 Die soziale Generation, von der hier die Rede sein wird, steht genau zwischen den beiden erstgenannten Generationen: sie ist eine Ansammlung von Individuen, sie hat einen gemeinsamen historischen und institutionellen Kontext (hier insbesondere aufgrund des Alters und dem damit verbundenen Anspruch auf gewisse Sozialversicherungsleistungen), jedoch ohne, dass hierbei von einem kollektiven Bewusstsein gesprochen werden kann, von gemeinschaftlichen Willensbekundungen ganz zu schweigen. Die Fragestellung in Bezug auf intergenerationelle Gerechtigkeit erfordert die Verknüpfung einer Querschnittsichtweise, also von der Gerechtigkeit zwischen verschiedenen gegenwärtig lebenden Altersgruppen, mit einer langfristigen Sichtweise, d.h. zwischen sozialen Generationen im Verlauf der Zeit. Dabei wird man, stellt man sich die Frage nach Gerechtigkeit zwischen Generationen, unmittelbar mit der Frage nach dem Zeitbegriff konfrontiert, der mindestens drei Probleme aufwirft. Erstens führt das Aufeinanderfolgen von Generationen zu zwei kanonischen Formen der Unumkehrbarkeit4: – Die zukünftigen Generationen werden ihre Rechte weder im Nachhinein einfordern können, noch die gegenwärtig in ihrem Namen getroffenen Entscheidungen verändern, denn sie haben kein Mitspracherecht (disenfranchisement); das ist „die Macht der Vorgänger“. – Ebenso wenig können sie das Schicksal der vorherigen Generationen ändern, noch ein von dieser Generation erbrachtes Opfer ausgleichen – Rawls bezeichnet dies als „chronologische Ungerechtigkeit“5. 2 Louis Chauvel, Génération sociale et socialisation transitionnelle, Fluctuations cohortales et stratification en France et aux Etats-Unis au XXè siècle, Mémoire d’habilitation à diriger des recherches, Paris: Institut d’Etude Politiques 2003. 3 Ibid., S. 27. 4 André Masson, „Economie du débat intergénérationnel: points de vue normatif, comptable, politique», in: Jacques Véron/Sophie Pennec/Jacques Legaré (Hrsg.), Age, générations et contrat social, Cahiers de l’Ined, 153 (2004), S. 15–58. 5 John Rawls, A Theory of Justice, Oxford: Oxford University Press, 1971.

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Dabei werden eine Reihe von Gründen angeführt, die Rawls hindern, seine Theorie der Gerechtigkeit auf die Beziehungen der Generationen untereinander auszuweiten6. Damit verbunden ist eine zweite Besonderheit: der Frage nach dem Zeitbegriff. Sie liegt darin, dass verschiedene Perioden im Verlauf der Zeit hinsichtlich verschiedener Situationen der jeweiligen Generationen nicht als gleichwertig angesehen werden können. In den Wirtschaftswissenschaften wird das Problem traditionell aus dem Blickwinkel des Kapitalzuwachses betrachtet: sobald in einer produktiven Wirtschaft auf unmittelbaren Konsum verzichtet wird und ein Kapitalzuwachs erfolgt, ist die Zeit ein Faktor, bei der Ausstattung (endowment) und Lebenschancen Ungleichheiten zwischen den Generationen hervorruft. Umgekehrt zeigen die gegenwärtigen, durch „menschliches Handeln“ hervorgerufenen ökologischen Veränderungen und die daraus folgenden Überlegungen zur Nachhaltigkeit sowie zu großen Risiken, dass sich die Palette der Möglichkeiten für die nachfolgenden Generationen gefährlich verringern könnte. Kurz: Die historische Zeit schafft notwendigerweise Unterschiede zwischen den aufeinander folgenden Generationen hinsichtlich ihrer Ressourcen und Chancen. Sobald man die linear und kausal inerte, d.h. statische Zeitkonzeption aufgibt, kann es keine identische Behandlung von aufeinander folgenden Generationen geben. Die eigentliche Fragestellung behandelt demnach die legitimen Ungleichheiten auf intertemporeller Ebene, d.h. die Frage, welche Ungleichheiten als gerechtfertigt erscheinen und welche nicht. Die dritte Besonderheit betrifft eben die Vorhersagbarkeit dieser Unterschiede, das heißt der Unsicherheit darüber, was geschehen wird. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wie lässt sich eine Konzeptualisierung der Zeit bewerkstelligen? Wie kann die Unsicherheit an sich erfasst werden? Die erste Frage kann auf vereinfachte Weise ausgehend von der Gegenüberstellung von zwei Konzepten des Zeitbegriffs beantwortet werden. Beim ersten Konzept, vorherrschend in bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten zur Rente, wird die Zeit als linear und vorhersehbar, also nicht kausal gedacht. Beim zweiten Ansatz, der auf eine sozial konstruierte historische Auffassung von Zeit zurückgreift, wird Zeit – wie Historiker uns gelehrt haben – als heterogen, von der Vielfältigkeit der „sozialen Zeiten“ gekennzeichnet, somit als nicht durchgängig sondern vielmehr durch Kausalketten bedingt erachtet. Das bedeutet, dass demnach Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen der unterschiedlichen Zeiten existieren, die zur Unumkehrbarkeit führen können. Die zweite Fragestellung, wie Unsicherheit erfasst werden kann, greift nach einem Ansatz von Knight7 auf den Gegensatz zwischen dem Risiko, also einer 6 Über Rawls, siehe unten „Das Maximin-Prinzip auf intergenerationeller Ebene“. 7 Frank Knight, Risk, Uncertainty and profit, Boston, New-York: Hougthon Mifflin Compagny 1921.

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im Voraus berechenbaren Unsicherheit, und einer radikalen Unsicherheit zurück, bei der nichts darüber bekannt ist, inwiefern Ereignisse einer Wahrscheinlichkeit unterliegen. Das erste Konzept des Zeitbegriffs ist bei der Theorie des „Erwartungsnutzens“ aus der Arbeit von Oskar Morgenstern, John von Neumann und Leonard Savage von zentraler Bedeutung, bei welcher das Unsichere stets als im Voraus „berechenbar“ – im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie – vorausgesetzt wird, ob aus objektivem oder subjektivem Blickwinkel8. In diesem Rahmen, in den sich viele wissenschaftliche Arbeiten zur Wahl des Rentensystems einreihen, ist es stets möglich, die Problematik der Maximierung des Nutzens in einem Kontext der Unsicherheit mit der statischen Frage nach der Wahl einer bestmöglichen Strategie hinsichtlich der Zukunft zu verbinden, die vorhersehbar bleibt. Die Einbeziehung der „radikalen“ Unsicherheit hingegen greift auf das Konzept der begrenzten Rationalität (bounded rationality im Sinne von Herbert Simon) zurück und hebt die Notwendigkeit hervor, das Verhalten als Folge von Unsicherheit in den institutionellen Rahmen einzuordnen, in welchem es stattfindet und seine Koordination ermöglicht wird. Diese Sichtweise führt in erster Linie zu einer erhöhten Beachtung des Umstandes, dass die herrschenden Vorstellungen der jeweiligen Zeit, die sich die gesellschaftlichen Entscheidungsträger zu Eigen machen, von einer Gesamtheit aus Institutionen, Regeln und staatlicher Intervention bestimmt werden. Zweitens existiert das Phänomen der „path dependancy“ im Sinne einer „angesammelten“ Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinwirkt, aber gleichzeitig auch die Gegenwart hervortreten lässt. Es ist also unverzichtbar, zugleich den historischen Werdegang von Institutionen in diese Überlegung mit einzubeziehen, wobei einige Arbeiten aufgezeigt haben, dass dies in besonderem Maße für die Systeme der Alterssicherung zutrifft9. Allerdings ist es ebenso notwendig, dass das Mögliche nicht als logische und rationelle Fortsetzung der Vergangenheit gedacht wird, sondern vielmehr anerkannt wird, dass das Unvorhergesehene fortwährend geschieht und erst im Nachhinein zum Möglichen wird. Also stellt sich die grundsätzliche Frage folgendermaßen: Wie kann man die Gleichbehandlung der Menschen im Lauf der Geschichte begreifen, wenn die Zeit unumkehrbar ist, Ungleichheiten verursacht und der Ursprung von Unsicherheit ist?

8 Siehe z. B. Philippe Mongin, Expected utility theory, in: John Brian Davis/D. Wade Hands/Uskali Maki (Hrsg.), Handbook of Economic Methodology, London: Edward Elgar 1997, S. 342–350. 9 Guido Bonoli, Two Worlds of Pension Reform, in: Western Europe, Comparative Politics 35/4 (2002).

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Intergenerationelle Gerechtigkeit spielt eine grundlegende Rolle für das (Fort-)Bestehen eines umlagefinanzierten Rentensystems Die Besonderheit einer umlagefinanzierten Rentenversicherung mit gesetzlichem Zwangscharakter, d.h. eines Systems mit Transferleistungen von den Beschäftigten zu den Rentnern, liegt darin, dass die Vorstellung von Gerechtigkeit dabei eine grundlegende Rolle spielt. Für ein besseres Verständnis müssen wir die Funktionsweise eines umlagenfinanzierten Systems näher betrachten. Die Einführung eines Umlageverfahrens bedingt, dass eine erste Generation Renten bekommt, obwohl sie zuvor gar nicht oder wenig eingezahlt hat; deshalb spricht man von einem Gratisessen (free lunch), das an die ersten Rentner verteilt wird. Dieser „Einführungsgewinn“ (die ersten ausgezahlten Renten) kann mit einer Schuld gleichgesetzt werden, die auf die folgenden erwerbstätigen Generationen übertragen wird, die den Gewinn mit ihren Beiträgen finanzieren. Indem sie für die Renten der älteren Generationen Beiträge zahlen, erwerben die erwerbstätigen Generationen selbst ein Recht auf Rentenzahlungen und übertragen damit ihrerseits eine Schuld auf die ihnen nachfolgenden Generationen, und so fort. Aber dieses „Recht“ kann jeder Zeit in Frage gestellt werden. Aufgrund dieses Umverteilungsaspekts einer umlagefinanzierten Rentenversicherung mit Zwangscharakter stellt sich die Frage nach ihrer politischen Überlebensfähigkeit in einer Demokratie. Zu welchen Bedingungen werden die aufeinander folgenden Generationen akzeptieren, Beiträge zu leisten, um die Renten ihrer Vorfahren zu bezahlen, in der Zuversicht, dadurch später selbst Rentenleistungen zu erhalten? Auf diese Frage versuchen die wissenschaftlichen Arbeiten über die politische Ökonomie der Wahl eines Rentensystems Antworten zu finden. Dabei ist davon auszugehen, dass die Wähler in jeder Zeitspanne von der Dauer einer Generation von Neuem zu entscheiden haben zwischen einem System mit positiven intergenerationellen Transferleistungen (d.h. ein umlagenfinanziertes System) und einem System ohne jegliche intergenerationelle Transferleistungen (ein Kapitaldeckungsverfahren, bei dem jede Generation für sich selbst anspart), was einer Abschaffung des umlagenfinanzierten Systems gleichkommt. Darüber hinaus beschränken wir unsere Analyse auf die Kategorie von Modellen, in denen die Höhe des Beitragssatzes in direkter allgemeiner Abstimmung entschieden wird, weil sie die Logik der Modellierung bzw. der Argumentation am besten erscheinen lässt. Dabei ist daran zu erinnern, dass der von Wirtschaftswissenschaftlern genutzte theoretische Rahmen darin besteht, den Medianwähleransatz in das Modell der überlappenden Generationen einzufügen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass sich der Medianwähler, der die Entscheidung trifft, für dasjenige System entscheidet, von dem er sich den größtmöglichen Nutzen für sein Lebenszykluseinkommen erwartet. Er wird einem umlagenfinanzierten System dann den

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Vorzug geben, wenn die Rendite – d.h. das Verhältnis zwischen den zu erhaltenden Leistungen und den zu leistenden Beiträgen – bei einem umlagenfinanzierten System höher ist als die Rendite bei einem Kapitaldeckungsverfahren.10 Gemäß der Lebenszyklus-Überlegung achtet der Medianwähler sowohl auf die heutigen Beiträge als auf die künftig zu erwartenden Leistungen des Systems. Die Wahl des Rentensystems wird also wie ein (fiktives) sequentielles Spiel (im Sinne der Spieltheorie) behandelt, wobei der Medianwähler – der hierbei als älterer Erwerbstätiger vorausgesetzt wird – in einer beliebigen Zeitspanne t ein System mit intergenerationellen Transferleistungen (null oder positiv) wählt und dabei die Wahl des Medianwählers in einer Zeitspanne t+1 vorhersagen muss. Tatsächlich hängt der erwartete Nutzen des Medianwählers nicht allein von der von ihm in einer Zeitspanne t gewählten Transferleistungsquote ab, sondern auch von der Transferleistungsquote, die in der nachfolgenden Zeitspanne gewählt wird, dann, wenn er selbst Rentner geworden ist. Er würde niemals die Einführung eines Systems mit steigenden positiven intergenerationellen Transferleistungen befürworten, wenn er vorher wüsste, dass in einer Zeitspanne t+1, wenn er Rentner geworden ist, das umlagenfinanzierte System abgeschafft werden würde und er folglich, nachdem er in der Zeitspanne t Beiträge geleistet hat, dafür keine Rente erhalten würde. So ist es folgerichtig, dass im Falle periodisch wiederkehrender Abstimmungsverfahren der Medianwähler, um eine Wahl treffen zu können, die Entscheidung aller derjenigen Medianwähler erahnen muss, die nach ihm abstimmen, und somit den Wert der Parameter, die für alle späteren Zeiträume die Höhe der Rendite bestimmen. Aber weshalb sämtliche zukünftige Zeitspannen und nicht ausschließlich die Zeitspanne der Beschäftigung und Rente t+1, die ihn tatsächlich betreffen? Eine rekursive Argumentation im Sinne einer backward induction hilft beim Verständnis dieser Frage: Der Medianwähler wird für ein System ohne intergenerationelle Transferleistungen plädieren (die Abschaffung des umlagenfinanzierten Systems also), falls er vorhersagt, dass sein Alter Ego das gleiche für die nachfolgende Zeitspanne macht. Wovon wird also die Entscheidung des zukünftigen Medianwählers für die spätere Zeitspanne abhängen? Genau von denselben Bedingungen! Der Medianwähler in t+1 wird sich für ein umlagenfinanziertes System unter der Bedingung aussprechen, dass der Medianwähler in der Zeitspanne t+2 das Gleiche macht etc. Hier sieht man, dass dieser Ansatz, der Klarheit über die Dynamik von umlagenfinanzierten Systemen verschaffen will, indem er rationale, allein von dem von ihrem erwarteten Nutzen geleiteten Entscheidungs10 Die Rendite bei einem umlagenfinanzierten System hängt von der Wachstumsrate der Lohnsumme ab, während die Rendite bei einem Kapitaldeckungsverfahren den Zinsen bzw. den Erträgen entspricht, die beim Sparen anfallen.

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träger voraussetzt, in Wirklichkeit zur Unbestimmtheit führt, da die notwendigen Informationen unmöglich zu erlangen sind.11 So muss angenommen werden, dass sich die Abstimmungsergebnisse jeder Zeitspanne gegenseitig bedingen, dahingehend, dass die heutzutage getroffenen Entscheidungen diejenigen unserer Nachfahren beeinflussen können. Diese Beeinflussung kann nur mit dem Vorhandensein einer sozialen Übereinkunft erklärt werden, welche auf gerechte Weise Lasten und Vorteile der sozialen Kooperation zwischen Menschen im Laufe der Geschichte verteilt. Hierbei kann also der Gedanke festgehalten werden, dass die Wählerschaft zu einem beliebigen Zeitpunkt akzeptiert, die intergenerationelle Übereinkunft zu erneuern, auf der ein umlagenfinanziertes System beruht, wenn sie bei Berücksichtigung des veränderten Zusammenhangs befindet,12 dass sie von der ihr vorangegangenen Generation Gerechtigkeit erfahren hat und wenn sie vorhersehen glaubt zu können, dass sich spätere Generationen ebenso verhalten werden, da sie selbst auf gerechte Art und Weise behandelt wurden.

Gleiche Rendite und Minimierung der impliziten Schuld als faire Behandlung nacheinander folgender Kohorten? Im Kontext von Untersuchungen zur demografischen Alterung wurden verschiedene Ansätze entwickelt, um das Ungleichgewicht (imbalances) der Lastenverteilung unter den Generationen zu evaluieren. Man kann zwischen Ansätzen unterscheiden, die diese Auswirkungen entweder auf Aggregats- oder aber auf Individualebene analysieren, sowie zwischen Ansätzen, die sich entweder lediglich auf die Rentensysteme konzentrieren oder aber die gesamten Staatsausgaben einbeziehen.13 Alle diese Fälle weisen gemeinsame Eigenschaften auf. Ausgehend von einem Status-quo-Szenario oder gewissen Varianten staatlicher Politik 11 Um diesem Problem auszuweichen, werden durch die Modellierungen zusätzliche ad hoc Hypothesen eingeführt wie z.B. ein intergenerationeller „Altruismus“ (im Rahmen eines utilitaristischen Ansatzes(!)), eine intergenerationelle Heterogenität (indem ein Zusammenschluss von finanzschwachen Rentnern und finanzschwachen Erwerbstätigen zugelassen wird) usw. Für eine Übersicht siehe Georges Casamatta, L’économie politique de la protection sociale et de la redistribution, Thèse pour le doctorat en sciences économiques, Toulouse: Université des Sciences sociales de Toulouse, 1999; Gregory de Walque, Voting on pensions: a survey, National Bank of Belgium, Working Papers, Research Series, 2004. 12 Angesichts der Entwicklung von grundsätzlichen Variablen, die das finanzielle Gleichgewicht des Systems bestimmen (wirtschaftliche demografische und soziale Variablen). 13 Robert Fenge/Martin Wedding, Ageing and Fiscal Imbalances accross Genenations: Concepts of Measurement, in: CESifo Working Paper, 842 (2003).

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werden zunächst im Rahmen der Modelle überlappender Generationen stets die gezahlten Beiträge und die Leistungen oder die empfangenen oder zu empfangenden staatlichen Ausgaben für ein repräsentatives Individuum aktueller oder zukünftiger Geburtskohorten verglichen. Die Simulationen greifen meistens auf einen steady state zurück, das heißt auf einen fiktiven Kontext, in dem die Variablen mit konstanten Raten wachsen, dessen Werte man somit vorhersagen kann. Um die zu bezahlenden Beiträge und die bestehenden Ansprüche schließlich in den Barwert zu konvertieren, wendet man eine Diskontrate an, die es ermöglicht, die Gegenwart im Verhältnis zur Zukunft aufzuwerten14, die meistens auf Höhe der unterstellten Zinssätze angesetzt wird.15

Ungleiche Rendite und wachsende implizite Schuld als Indikatoren der Generationenungerechtigkeit Zunächst kann man einfach eine Rendite der im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) vorgenommenen Zahlungen errechnen, indem man diese gezahlten Beiträge mit dem Barwert der zu empfangenden Renten in Beziehung setzt. Diese Rendite können für verschiedene „repräsentative“ Individuen verschiedener Kohorten im Zeitverlauf errechnet werden und sie werden üblicherweise als Indikator verwendet, der es ermöglicht, die Rentabilität der Renteninvestitionen im Rahmen der staatlichen Systeme zu messen und sie mit der Rendite von privaten Altersvorsorgen zu vergleichen.16 Eine sinkende Rentabilität gilt der 14 Die Begründung der Diskontsrate beruht auf einer reinen Zeitpräferenz. Der Wert, den ein Individuum dem Konsum zum Zeitpunkt t 0 zumisst, hängt vom zeitlichen Abstand zwischen t 0 und der Gegenwart ab. Je weiter entfernt ein „Genuss“, desto geringer wird er aufgrund der Abzinsung mit der Diskontrate geschätzt. Das gleiche Prinzip gilt auf intergenerationeller Ebene: das Zurückgreifen auf eine Zukunftsdiskontrate bedeutet, dass gegenwärtigen Generationen ein Vorzug gegeben wird. Es gibt dafür mehrere Begründungen, die letztendlich mit dem Trade-off zwischen einem umgehenden Konsum und dem Verzicht auf diesen Konsum zugunsten eines langfristigem Investment in der Zukunft, dessen Ertrag mit einer Unsicherheit behaftet ist, zu tun haben. 15 Wir weisen darauf hin, ohne näher auf diesen Punkt eingehen zu können, dass die Frage, ob es legitim ist, auf eine Diskontrate zurückzugreifen seit Ramsay (1920), der ihn für „unmoralisch“ hielt, immer noch umstritten ist. Siehe Paul R. Portney/John P. Weyant (Hrsg.), Discounting and Intergenerational Equity, Washington: Resources of the Future, 1999. Je weiter sich der Zeithorizont entfernt, desto weniger Wert wird den Ereignissen in der Zukunft beigemessen. So hätte eine große ökologische Katastrophe, wenn sie erst langfristig eintritt, in der Gegenwart einen geringen Barwert. 16 Siehe Hans H. Glismann/Ernst-Jürgen Horn, Renditen in der deutschen gesetzlichen Alterssicherung, in: Wirtschaftsdienst, 8 (1998), S. 454–462; Reinhold Schnabel/

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GRV in vielen Arbeiten als Zeichen für eine wachsende Ungerechtigkeit zwischen den Generationen.17 Angesichts der höheren Rendite, die der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge zugeordnet ist, wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass nur durch eine Senkung des Beitragssatzes und des Rentenniveaus innerhalb der GRV und ein bedeutsames Ersetzen umlagefinanzierter durch kapitalfundierte Alterssicherung ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit geleistet werden kann. Die implicit debt des Umlageverfahrens ist seinerseits durch die Differenz zwischen den zu empfangenden Renten und den bezahlten Beiträgen gegeben, die zu einer beliebigen Zeitperiode in ihren Barwert konvertiert werden. In der Tat, wie oben gezeigt, bedingt die Einführung eines Umlageverfahrens einen „Einführungsgewinn“, der mit einer Schuld gleichgesetzt werden kann. Im Verhältnis zu einem Rentensystem mit Kapitaldeckungsverfahren, in dem jede Kohorte für sich selbst einzahlt und in dem es keine direkte Generationentransfers und folglich keine Schulden gibt, entspricht die Nettoschuld eines Rentensystems mit Umlageverfahren und konstanten Beiträgen zu einer beliebigen Zeitperiode dem Barwert dieses Einführungsgewinns plus der Summe aller „Effizienzgewinne (oder -verluste)“, die inzwischen von den nachfolgenden Generationen erreicht worden sind. Wenn man mit dem vereinfachten Rahmen eines steady state der Wirtschaft arbeitet und von einem konstanten Beitragssatz ausgeht, kann man aufzeigen, dass qua Konstruktion und unabhängig von den demografischen Variablen die Schwankungen der impliziten Schuld und des impliziten Besteuerungssatzes von der Differenz zwischen der Wachstumsrate der Lohnsumme – also der Rendite des Umlageverfahrens – und der Rendite der investierten Ersparnisse (der Zinssatz) abhängen, das heißt also von der Rendite eines Kapitaldeckungsverfahrens. In diesem Rahmen ist die implizite Schuld allein der Tatsache anzulasten, dass die Individuen „gezwungen“ sind, einen Teil ihres Lohns als Beiträge in das Systems des Umlageverfahrens einzuzahlen, dessen Rendite – qua Hypothese – niedriger ist als der Zinssatz, der als Diskontrate verwendet wird. Außerhalb des Rahmens eines steady state hängt die so definierte „implizite Steuer“ von den Schwankungen der ökonomischen (Lohnzuwachsrate, Zinssätze), (sozio-) demografischen (Entwicklung der Anzahl der Beitragszahlenden und der Rentner) und institutionellen (Beitragssatz und Bruttorentenniveau) Variablen ab. In einem Kontext demograAdrian Ottnad, Gesetzliche und private Altersvorsorge, Risiko und Rendite im Vergleich, Köln, Deutsches Institut für Altersvorsorge, 2008. 17 Siehe u. a. Stefan Eitenmüller/Winfried Hain/Siegrun Barth, Renditen im Umlageverfahren, Anmerkungen zu einem ‚einfachen Zusammenhang‘, in: Wirtschaftsdienst 78 (1998), S. 67–681; Sozialbeirat, Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht, 2004; Jörg Tremmel, Generationengerechte Rentenpolitik, Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, SRZB Studie 1, 2007.

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fischer Bevölkerungsalterung werden sich all diese Variablen in die Richtung einer Erhöhung der impliziten Steuer bewegen. Davon ausgehend kann man einen impliziten Besteuerungssatz definieren, der diese implizite Schuld auf das Erwerbseinkommen überträgt, von dem die Beiträge abgezogen werden, der somit die finanzielle Grundlage für diese Schuld ist. Die innerhalb dieses theoretischen Rahmens durchgeführten Simulationen zeigen erstens, dass der implizite Besteuerungssatz für die zukünftigen Generationen steigen wird, und zweitens, dass jede Verkleinerung des staatlichen Rentensystems (also des Rentenniveaus) zugunsten eines Rentensystems mit Kapitaldeckungsverfahren die Lage der erwerbstätigen Generationen heute und morgen verbessern würde, und zwar dahingehend, dass sie zu einer Senkung des impliziten Besteuerungssatzes führen würde18.

Ein Generationenkonzept, das die Geschichte ignoriert und eine lineare Konzeption von Zeit voraussetzt Diese Arbeiten interessieren sich qua Konstruktion nur für Individuen, die für Kohorten im demografischen Verständnis repräsentativ sein sollen. Jede Generation wird also mit einem Individuum gleichgesetzt, das sich nur durch sein Geburtsjahr von Anderen abhebt und dessen Lebenszyklus sich auf gewisse ökonomische und institutionelle Variablen beschränkt, die auf lineare Weise gebildet werden. Hier wird nur daran erinnert,19 dass eine Konzeption der Gerechtigkeit zwischen Generationen die ungleichen sozialen Schicksale der Generationen und der Individuen nicht außer Acht lassen kann. Diese Frage verweist auf die Definition des Begriffs Generation. Dieser kann nicht auf eine Kohorte reduziert werden und kann auch nicht die intragenerationellen sozialen Ungleichheiten außer Acht lassen. Ein zweites Problem muss also berücksichtigt werden: die Nicht-Linearität der Zeit. Die zuvor genannten wirtschaftswissenschaftlichen Theorieansätze verwenden eine lineare Konzeption von Zeit, die zu der Vorstellung führt, es gäbe zeitunabhängige (weil für alle Zeit gültige) Verteilungsprinzipien, wie etwa die Vorstellung, dass die Rendite der Renteninvestitionen für die aufeinander folgenden Generationen identisch sein müsse oder dass die durch das Umlagesystem geschaffene „implizite Steuer“ für alle aufeinander folgenden Generationen dieselbe sein müsse. Die Geschichte ist aber kein stationärer Prozess, wie er in den 18 Robert Fenge/Martin Wedding, Ageing and the Tax Implied in Public Pension Schemes: Simulations for Selected OECD Countries, in: CESifo Working Paper, 841, 2003. 19 Siehe oben.

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Wachstums- und Rentenmodellen überlappender Generationen zugrunde gelegt wird. Wie oben schon gezeigt, schafft die historische Zeit notwendigerweise Unterschiede zwischen den aufeinander folgenden Generationen in Bezug auf Ressourcen und Opportunitäten. Von daher ist, erstens, der Grundsatz einer gleichen Rendite für alle Generationen ungerechtfertigt20 – die identische Behandlung jeder Kohorte geht an diesem Problem vorbei – und, zweitens, sind umgekehrt Nettotransferleistungen zugunsten einer Generation gerechtfertigt, die durch geringfügige Ausstattung (endowment) oder andere ungünstige Umstände determiniert sind.

Die Grenzen eines ausgleichenden Ansatzes in der Generationsgerechtigkeit Die implizite Schuld (und damit die implizite Steuer) eines Umlageverfahrens ist gleich Null, wenn der Barwert der von allen Kohorten eingezahlten Beiträge gleich dem Barwert der von ihnen empfangenen oder zu empfangenden Leistungen ist. Diese Bedingung ist nur erfüllt, wenn im Rahmen eines Umlageverfahrens die intergenerative Umverteilung gleich Null ist. Anders ausgedrückt steht dieser Ansatz vom normativen Standpunkt aus gesehen für eine „ausgleichende Gerechtigkeit“ (im Sinne von Aristoteles). Der ausgleichende Ansatz entspricht dem Postulat, dass sich jede Generation so verhalten muss, dass sie so viele Ressourcen hinterlässt, wie die folgende Generation gehabt hätte, wenn sie selbst nicht da gewesen wäre. Dieser Ansatz stößt auf Aporien, an die wir hier kurz erinnern wollen. Er berücksichtigt zudem auch spezifische Haupteigenschaften der staatlichen Umlageverfahren nicht, obwohl diese deren Existenz und Effizienz rechtfertigen. Dieses Analyseraster ruft eine Vielzahl von Einwänden hervor: zwei von ihnen seien hier kurz ausgeführt.21 Kann die Entsprechung von Erbe, Vermächt20 Darüber hinaus wirft diese Art von Renditenvergleich zwischen Umlageverfahren und sicheren Anlageprodukten eine Reihe von Problemen hinsichtlich der Vergleichbarkeit auf, die wir hier nicht weiter behandeln können. Siehe Winfried Schmähl, Die Alterung der Bevölkerung – ein überzeugendes Argument für eine Umverteilung zugunsten Jüngerer?, in: Wirtschaftsdienst 3 (2007), S.146–150. 21 Siehe Axel Gosseries, What do we owe the next generation(s)?, Loyola of Los Angeles Law Review, 35 (2001) S. 293–354; Ders., La justice entre les générations. Faut-il renoncer au maximin intergénérationnel?, in: Revue de métaphysique et de morale 107/1 (2002), S. 61–81; ders. Penser la justice entre les générations. De l’affaire Péruche à la réforme des retraites, Paris: Aubier 2004, Pierre Concialdi/Arnaud Lechevalier, Pensions reform and intergenerational equity, in: Gerard Hughes/Jim Stewart (Hrsg.), Reforming Pensions in Europe: Evolution of Pension Financing and Sources of Retirement Income, Cheltenham: Edward Elgar, 2004, S.247–283.

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nis, Leistung und Beitrag auf der Generationenebene unproblematisch definiert werden? Ist nicht davon auszugehen, dass der eigene Beitrag jeder Generation wenigstens teilweise auf den Früchten der Arbeit und der Erbschaft der Generationenkette beruht? Wie soll man in diesem Kontext gegenseitiger Abhängigkeiten und externer Effekte zwischen den Generationen die Entsprechung der Beiträge jeder Generation definieren, umso mehr, wenn man die Phänomene der NichtLinearität und der Unumkehrbarkeit mit einbezieht? Auch wenn man einmal annimmt, „die Entsprechung“ könnte unproblematisch festgelegt werden, stößt der ausgleichende Ansatz auch noch auf eine andere ernsthafte Schwierigkeit: wenn unsere Vorgänger keine ausreichende Vorsorge getroffen haben, müssen wir dann mit unseren Nachfolgern ebenso verfahren? Man erkennt hier, dass sich aus der inneren Logik der indirekten Reziprozität die Notwendigkeit ergibt, auf ein noch grundlegenderes Prinzip zurückzugreifen, das man wie folgt formulieren könnte: wir sind gehalten, der nachfolgenden Generation mindestens so viel weiterzugeben, wie wir von der vorangehenden Generation hätten bekommen sollen.22 Damit geht jedoch jeglicher Bezug zum Begriff der ausgleichenden Gerechtigkeit verloren. Denn tatsächlich kann nur ein distributiver Ansatz behaupten, dass eine Generation, die so viel weitergegeben hat, wie sie bekommen hat, zu viel oder zu wenig an die folgende Generation weitergegeben hat. Nur ein verteilender Ansatz ermöglicht uns zu verstehen, warum ein Nettotransfer (der Differenzbetrag zwischen den Beiträgen und den Leistungen) von einer Generation auf die andere nicht zwangsläufig ungerecht sein muss. Damit zeigt der ausgleichende Ansatz den Beitrag der Umlageverfahren, die es eben gerade ermöglichen, die Risiken gleichmäßig auf intergenerationeller Ebene zu verteilen. Auf dem intergenerativen Niveau ergibt die Versicherungsidee nur dann einen Sinn, wenn zwischen den verschiedenen aufeinander folgenden Kohorten Transfers stattfinden, deren Betrag nicht gleich Null ist.23 Diese gleichmäßige Verteilung der Risiken ist nicht nur von einem intergenerationellen Standpunkt24 aus gerecht, sie macht die Systeme mit Umlageverfahren auch 22 Axel Gosseries, What do we owe the next generation(s)… 23 Siehe dahingehend Laurence Ball/N. Gregory Manki, Intergenerational Risk Sharing in the Spirit of Arrow, Debreu and Rawls, with Application to Social Security Design, in: NBER Working Paper Series 8270 (2001), die die Überlegenheit des von ihnen so genannten „Rawlsian“ Schadensverteilungsgleichgewichts auf intergenerativer Ebene gegenüber dem „Hobbesian“ Gleichgewicht aufzeigen, in dem jede Generation im Falle einer vereinzelten oder wiederholten Krise der Rendite ihres materiellen Schadens oder ihres Humankapitals seinem Schicksal überlassen wird. 24 Siehe Axel Gosseries, Penser la justice entre les générations, der aus einer egalitaristischen Sichtweise heraus Nicht-Null-Transfers auf intergenerativer Ebene zulässt, sofern

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bei demografischen oder produktivitätsbedingten Krisen effizient. Von einem demokratischen Standpunkt aus gesehen ist es übrigens einer der Hauptvorteile umlagefinanzierter gesetzlicher Rentensysteme, dass sie auf intergenerationeller Ebene politische Anpassungen ermöglichen. Die privaten Rentensysteme überlassen diese Korrekturen hingegen der Willkür der Finanzmärkte, mit den grausamen Folgen, die durch die aktuelle Finanzkrise noch einmal deutlich werden. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Korrekturen explizit zu machen und zu zeigen, inwiefern konkurrierende Konzeptionen intergenerativer Gerechtigkeit dazu führen, andere Rentenreformen anstelle des Kapitaldeckungsverfahren zu empfehlen.

Die Musgrave-Regel Das hier zu Grunde liegende Gerechtigkeitsprinzip ist dasjenige einer „fair burden sharing“ (gerechten Lastenteilung), im Sinne einer gerechten Aufteilung der zusätzlichen Kosten unter den Bürgern, die aus dem demografischen Wandel entstehen. Das Ziel in Hinblick auf die Verteilung der Lasten muss die Gesamtheit der Ausgaben für die Renten umfassen, und nicht ausschließlich die gesetzlichen Rentenausgaben. Wie kann man dabei vorgehen? Bei einem umlagenfinanzierten Altersrentensystem kann bei der Verteilung der zusätzlichen finanziellen Belastung von zwei Extremen ausgegangen werden. Der erste Fall ist ein Rentensystem mit einem festen Rentenniveau: die Rentner haben dabei Anspruch auf eine Rente, die einem Teil der von ihnen erhaltenen Löhne entspricht, und die dem Produktivitätszuwachs entsprechend angeglichen wird (dem eigentlich auch die Löhne angeglichen werden). Bei diesem System werden die aus dem gesellschaftlichen Wandel entstehenden Kosten von den Beitragszahlern oder aber, bei staatlichen Zuschüssen aus Steuermitteln in das Rentensystem, von der Gesamtheit der Steuerzahler getragen. Das andere Extrem ist ein System, bei dem der Beitragssatz gleich bleibt. Wenn der Rentnerquotient zunimmt, nehmen die Renten ab, sodass alle durch den demografischen Wandel verursachten Kosten von den Rentnern getragen werden. Da keine der beiden Lösungen zufrieden stellend erscheint, befürwortet Myles25, indem er dem Gedie exogenen Nachteile für zukünftige Generationen antizipiert werden können oder wenn sie das Produkt von „Zeitbomben“ sind, das heißt die Folge von Handlungen früherer Generationen, die heute außer Reichweite sind. 25 John Myles, A New Social Contract for the Elderly?, in: Gøsta Esping-Andersen, Why We Need a New Welfare State, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 130–172, Ders., What Justice Requires: Pension Reform in Ageing Societies, Journal of European Social Policy 13 (2003), S. 264–269.

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danken von Musgrave26 wieder Geltung verschafft, das Prinzip des festen Verhältnisses (fixed relative position). Dieses Prinzip besagt, dass im Lauf der Zeit ein „zufrieden stellendes“ Verhältnis R* zwischen dem Nettoeinkommen pro Kopf (also abzüglich der Beitragszahlungen) der Beschäftigten und der gesetzlichen und Zusatz- Nettorente pro Kopf der Rentner aufrecht erhalten werden muss.27 Der Beitragssatz sowie das Rentenniveau müssen folglich regelmäßig angeglichen werden, um dieses Verhältnis beizubehalten. Dieses Prinzip sagt nichts über das relative Rentenniveau aus, welches als zufrieden stellend erachtet werden kann. Es liefert lediglich ein Prinzip zur Zuordnung der Kosten des demografischen Wandels zwischen der Generation der Beitragszahler und den Rentnern, wenn im Laufe der Zeit dieses Niveau einmal erreicht ist. Dieses Prinzip ist nicht mit einem Konzept der Fairness vereinbar, nach dem jede Generation denselben Anteil ihres Einkommens bezahlen müsste, um dasselbe Rentenniveau zu erhalten. Dies führt zu einer Erhöhung der Beiträge für den Fall einer alternden Gesellschaft, allerdings dennoch in einem geringeren Maße als bei einem System mit konstantem Rentenniveau. Die Musgrave-Regel wirft mehrere Probleme auf. Wir lenken unser Augenmerk auf das Problem, dass die Musgrave-Regel, als eine Regel des relativen Lebensstandards, nichts über die absolute Gesamthöhe des Lebenszykluseinkommens aussagt. Als solche wirft sie zwei Probleme auf: das erste Problem besteht darin, dass ein Gerechtigkeitsbegriff, der sich auf ein festes Verhältnis (Parität) des Pro-Kopf-Einkommens von Individuen aufeinander folgender Generationen stützt, sich auf die Gesamtheit intergenerationeller Transferleistungen erstrecken muss. So kann, für den Fall eines Geburtenrückgangs, die Zunahme der Belastung zur Finanzierung der Renten durch die Zunahme des pro Kopf erhaltenen Erbes im Sinne von übertragenem Real- oder Humankapital, also von Lebensqualität, kompensiert werden.28 Das zweite Problem hängt, im Gegensatz zu dem ersten, mit dem Umstand zusammen, dass das Verhalten von Angehörigen einer Generation durch mangelnde Umsicht oder wegen Sorglosigkeit zu einer schwe26 Richard Musgrave, Public Finance in a Democratic Society. Vol. II: Fiscal Doctrine, Growth and Institutions, New York: New York University Press 1986. 27 Gøsta Esping-Andersen/John Myles, Sustainable and Equitable Retirement in a Life Course Perspective, in: Gordon L. Clark/Alicia. H. Munnell/J. Michael Orszag (Hrsg.), The Oxford Handbook of Pensions and Retirement Income, Oxford Handbooks in Business and Management Oxford: Oxford University Press, 2005, S. 839–858, stellen die Hypothese auf, dass das relative Rentenniveau in der heutigen Zeit als zufriedenstellend angesehen werden kann. Das relative verfügbare Einkommen der Rentner beträgt in Frankreich 89%, in Schweden 88% und 99% in den USA. Es geht also darum, dieses Niveau in Zukunft beizubehalten. 28 Axel Gosseries, Justice entre les générations et financement des retraites, in: Sécurité sociale, CHSS, n°5, 2005, S.300–305.

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ren Wirtschaftskrise oder einer Verknappung der natürliche Ressourcen führen kann. Das Musgrave-Prinzip führt demnach zu einer Art „Aufteilung der Verarmung“, bei der das Lebenszykluseinkommen aufeinander folgender Kohorten im gleichen Maß abnehmen müsste. Also ist es notwendig, die Musgrave-Regel mit einem Zusatz zu versehen, der den absoluten Lebensstandard berücksichtigt. Einer der am besten geeigneten Vorschläge besteht darin, dass jede Generation in jedem Lebensabschnitt über einen Lebensstandard verfügen soll, der mit dem Lebensstandard der vorangegangenen Generation im selben Alter zumindest gleichwertig ist.29 Indem das Musgrave-Prinzip auf intergenerationelle Gerechtigkeit beschränkt ist, hat es den Nachteil, die Problematik der intragenerationellen Ungleichheiten nicht in Betracht zu ziehen. Von einem intragenerationellen Standpunkt aus betrachtet ist das konstant bleibende Verhältnis zwischen dem Gesamtnettoeinkommen der Erwerbstätigen (nach Abzug der Beiträge) und dem Gesamtnettoeinkommen der Rentner problematisch. Nach Esping-Andersen und Myles30 erweist sich die Musgrave-Regel, so gut sie für eine Anwendung auf ein vorwiegend gesetzliches Rentensystem geeignet sein mag, als unzulänglich, sofern die einzelnen Möglichkeiten zur privaten Altersvorsorge in die Überlegungen mit einbezogen werden. Sie fordern, dass die private Vorsorge in einen allgemeinen Kontenplan integriert wird (an overall „accounting scheme“). Neben der schwer zu verwirklichenden Umsetzung eines solchen Vorschlages bleibt die Tatsache bestehen, dass mit Blick auf die ungleiche Verteilung der Einkommen aus Ersparnissen und Kapitalerträgen innerhalb jeder Generation die Miteinbeziehung des Gesamtnettoeinkommen der Beitragszahler und der Rentnerhaushalte dazu führen würde, die Einkommensunterschiede innerhalb jeder Generation zu verschärfen. In jedem Fall würde eine Ersetzung der gesetzlichen Rente durch eine private in erster Linie die finanzschwächsten Haushalte benachteiligen, die am wenigstens in der Lage sind, diesen Nachteil durch einen Überschuss an Ersparnissen zu kompensieren. Die Problematik nimmt eine noch weiterreichende Dimension an, wenn die zunehmende Vielfalt der Lebensverläufe mit beachtet wird, in Hinsicht auf den Rückgang stabiler Ehebündnisse, auf den unterschiedlichen Verlauf von Erwerbs- und Berufsbiografien, auf die Zunahme der Lohnunterschiede, auf die wachsende soziale Homogamie, die bei der Bildung von Paaren zunimmt, sowie die in jedem Fall sich daraus ergebenden Disparitäten zwischen Menschen im Rentenalter. Im Bewusstsein dieser 29 Marc Fleurbaey, Retraites, générations et catégories sociales: l’équité comme contrainte à l’équité comme objectif, in: Revue d’économie financière 68 (2003), S. 91–112. 30 Gøsta Esping-Andersen/John Myles, Sustainable and Equitable Retirement in a Life Course Perspective.

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Problematik fordert Esping-Andersen31 im Gegenzug eine Strategie der sozialen Investition in die frühe Kindheit, die darauf abzielt, dem Ursprung sozialer Ungleichheiten zu begegnen. Das Rentensystem betreffend empfiehlt er, eine über Steuern finanzierte Mindestrente zu garantieren und den Umverteilungscharakter des Beitragssystems zu stärken. Ohne diese Lösungsvorschläge außen vor lassen zu wollen, erscheint es künftig erstrebenswerter, um die Ungleichheiten innerhalb einer Generation in Hinblick auf die private Altersvorsorge zu zügeln, Musgraves Prinzip des „festen Verhältnisses“ ausschließlich auf die gesetzlichen Renten zu beschränken, wobei es nur wenig von einem Nettoanpassungsverfahren abweichen würde, d. h. von einer Indexbindung der Renten (nach Abzug der sozialen Abgaben) an die Löhne (nach Abzug der sozialen Abgaben). Das Nettoanpassungsverfahren scheint in der Tat zunächst eine befriedigende Lösung zu liefern, doch bringt es in der Realität den Nachteil mit sich, dass es die intergenerationellen Korrekturen auf der Grundlage der spezifischen Situation festschreibt, die im Moment ihrer Einführung vorherrschen. So kann eine ungleiche Aufteilung der Früchte des Wachstums zwischen den Generationen, die in der Vergangenheit stattgefunden hat, weiter bestehen. Stellen wir uns vor, dass sich aufeinander folgende Generationen auf Rolltreppen befinden. Die erste Generation hat während ihrer gesamten Beschäftigungsdauer ein starkes Wachstum ihres Einkommens und niedrige Arbeitslosigkeit erlebt. Ihre Rolltreppe hat sich mit schneller Geschwindigkeit fortbewegt. Die ihr nachfolgenden Generationen erfahren im Gegensatz dazu ein schwächeres Wachstum ihres Einkommens und höhere Arbeitslosigkeit: Ihre Rolltreppe kommt nur mühsam und langsamer voran. Die Koppelung der Renten an die Nettogehälter zu dem Zeitpunkt, zu dem die erste Generation in Rente geht, lässt sicherlich zu, dass sich die beiden Rolltreppen mit gleicher Geschwindigkeit fortbewegen, aber der „Vorsprung“ bleibt unverändert, den die erste Generation erhalten hat (in Hinsicht auf Lebenschancen und Einkommenszuwachs).32

31 Gøsta Esping-Andersen, A Child-Centred Social Investment Strategy, in: Ders. (Hrsg.), Why we need a New Welfare State, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 26– 67. 32 Deshalb haben wir für eine „differenzierte“ – weil nicht lineare – und im Lauf der Zeit veränderbare Klausel zur Beteiligung der Rentner am Wachstum der Nettolöhne plädiert. Siehe Arnaud Lechevalier/Louis-Paul Pelé, Mode d’indexation et inégalités intergénérationnelles dans les systèmes de retraite par répartition, in: Revue d’économie politique, 112/3 (2002), S. 437–460.

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Das Maximin-Prinzip auf intergenerationeller Ebene Die Maximin-Ansätze reihen sich in die Arbeit von Rawls ein. Bekanntlich betrachtet jedoch Letzterer das Zurückgreifen auf das Maximin-Prinzips, laut dem das Wohl der am wenigsten Begünstigten Vorrang genießt, auf intergenerationeller Ebene aus zwei Gründen für unmöglich.33 Ersterer hat mit der Notwendigkeit der Akkumulation von Kapital zu tun, wenn man einen durchgehenden Fortbestand der Armut nicht akzeptieren will. Denn übertragen auf die Beziehung zwischen den Generationen würde die Maximin-Regel jeden Konsumverzicht der früheren Generationen zugunsten eines umso höheren Konsums späterer Generationen verbieten. Der zweite Grund besteht in der Tatsache, dass die am wenigsten begünstigten Generationen, die in der Vergangenheit (zurück)liegen, auf jeden Fall unzugänglich geworden sind. Im Gegensatz zu Rawls versuchen andere, dem liberalen Egalitarismus zugewandte Autoren, aufzuzeigen, dass das Prinzip im intergenerationellen Kontext anwendbar ist. Dafür soll es sequentiell verwendet werden – aufgrund der Anwendung des Leximin – und auf die „erreichbaren“ Generationen beschränkt bleiben.34 Leximin bedeutet: wenn das Wohlergehen der am wenigsten Begünstigten, das im intergenerationellen Kontext unzugänglich ist, nicht verbessert werden kann, muss man sich vorrangig um das Wohlergehen des Zweitärmsten sorgen usw. Dieses Prinzip muss auf die am wenigsten Begünstigten der in der gegenwärtigen Generation Erreichbaren angewandt werden. Derart ausgelegt wird das Maximin-Prinzip unter intergenerationellen Gesichtspunkten wiederum verwendbar. Auf dieser Grundlage ist das Maximin-Prinzip, insoweit seine Verwirklichung in jeder Gesellschaft auf der intragenerationellen Ebene gewährleistet ist, aus dem intergenerationellen Blickwinkel nur mit einem Grundsatz vereinbar: nach diesem darf weder ein Sparen noch ein Entsparen stattfinden.35 In anderen Worten: wenn eine Generation einen Überschuss erwirtschaftet, soll sie diesen eher den Ärmsten 33 John Rawls, A Theory of Justice, Oxford: Oxford University Press 1971 und Ders., Political liberalism, New York: Columbia University Press 1993. Für eine Diskussion, siehe u. a. Andreas Tewinkel, Alterssicherung im Bevölkerungsrückgang. Eine theoretische und normative Analyse, Studien zur Bevölkerungsökonomie, München: Institut für Wirtschaftsforschung 1987, Axel Gosserries, La justice entre les générations. Faut-il renoncer au maximin intergénérationnel. 34 Axel Gosseries, Faut-il renoncer au maximin intergénérationnel. 35 „Es wird Ersparnisse geben, sofern der Reichtum, den eine Generation der nächsten überträgt bedeutender ist als derjenige, den sie selbst ursprünglich geerbt hat“, Axel. Gosseries, Penser la justice entre génération, S. 147. Ersparnis soll nicht im engen Sinne verstanden werden, denn das, was hiermit gemeint wird, umfasst den zusammengefassten Bestand an physischem, natürlichem, technologischem, humanem sowie institutionellem Kapital, das jede Kohorte von der vorherigen vererbt bekommen hat.

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unter sich zukommen lassen, als ihn an die nächste Generation weiterzugeben. Denn wenn sie dies nicht tut, würden die am wenigsten Begünstigten der gegenwärtigen Generation angehören. Diese „geschlossene Regel“ (weder Sparen noch Entsparen) bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass „es sehr wohl ein Verbot des Wachstums ist, das im Namen der Gerechtigkeit erforderlich ist“.36 Das Prinzip muss jedoch Ausnahmen zulassen, sobald die Unsicherheit für die zukünftigen Generationen berücksichtigt wird (durch Vorsicht motiviertes Sparen), oder auch die Hypothese von sich negativ auswirkenden exogenen „Schocks“, die als Nachteil für zukünftige Generationen vorausgesagt werden können (Sparen als Kompensation). In beiden Fällen wird eine positive Sparquote benötigt.37 Was bedeutet die geschlossene Regel der Generationengerechtigkeit (weder Sparen noch Entsparen) für die Renten? Von einem solchen Standpunkt aus müsste a priori ein Kapitaldeckungsverfahren bevorzugt werden, bei dem jede Kohorte für sich selbst vorsorgt – was jedoch keineswegs zugleich bedeutet, dass die Nettotransferleistungen zwischen Generationen ex post gleich Null sind. Um die geschlossene Regel anzuwenden, müssen dennoch die ungleichen sozialen Rahmenbedingungen der Generationen im Laufe der Zeit berücksichtigt werden und die Rentensysteme wiederum in den Gesamtbestand der intergenerationellen Transferleistungen aufgenommen werden. Was erschließt sich daraus für den vorliegenden Kontext? Gehen wir von der Annahme aus, dass die von den gegenwärtigen und zukünftigen Beitragszahlern getragene zusätzliche Pro-Kopf-Belastung zur Finanzierung der Renten geringfügiger ist als das, was sie pro Kopf von der Generation der Baby-Boomer erhalten haben.38 Davon ausgehend kann nicht nur zugunsten eines umlagenfinanzierten Verfahrens, sondern genauer gesagt zugunsten eines leistungsdefinierten Rentensystems argumentiert werden, welches das gegenwärtige und künftige Rentenniveau unverändert beibehält, weil es zu einer fairen intergenerationellen Umverteilung in dem eben bereits angeführten Kontext beiträgt.39 Dieser Ansatz trifft jedoch auf drei Arten von Einschränkungen. Die erste betrifft die Gültigkeit der Diagnose. Es ist nicht möglich, die Gesamtheit aller gegenwärtig Beschäftigten zusammenzufügen, um daraus abzuleiten, dass sie im Vergleich zu ihren Vorfahren in höherwertigen Verhältnissen leben, zumindest 36 Axel Gosseries, La justice entre générations, S. 238. 37 Ibid. 38 Bei ausbleibenden Reformen hätte in Ländern wie Deutschland und Frankreich der Rentenbeitragssatz jährlich zwischen 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte steigen müssen, was jedoch die Erhöhung des Lebensstandards der künftig Erwerbstätigen nicht verhindert hätte, selbst bei überaus vorsichtigen Schätzungen bezüglich künftiger Wachstumszuwächse. 39 Axel Gosseries, Penser la justice entre générations, S. 265ff und Ders., Justice entre les générations et financement des retraites, in: Sécurité sociale, CHSS 5 (2005), S. 300–305.

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in Bezug auf Lebensstandard und soziale Mobilität. Es ist notwendig, unter den heutigen Beschäftigten zwischen den ersten Kohorten des Baby-Booms, die einen sozialen Aufstieg erfahren haben, und denjenigen zu unterscheiden, die nach 1975 auf den Arbeitsmarkt eingetreten sind. Die letzteren haben im Schnitt eine weniger ertragreiche Erwerbsbiografie und nicht dieselben Aufstiegsmöglichkeiten gehabt, sodass ihr Einkommen im selben Alter geringfügiger war als das ihrer Eltern, so wie das z. B. in Frankreich der Fall war.40 Zweitens bieten die vorgeschlagenen Indikatoren zur Bewertung der Verhältnisse der jeweiligen Generationen (General Accounting, „wahrhaftiges Sparen“ etc.),41 insbesondere in Hinsicht auf das übertragene und erhaltene Kapital, jenseits ihrer eigenen Grenzen, keine Lösung für das Problem der Feststellung des Eigenbeitrags der jeweiligen Generation in Bezug auf die lange Abfolge der Abhängigkeiten untereinander, aus der die Menschheit besteht. Hier wird offensichtlich, dass es drittens problematisch ist, sich an eine geschlossene Regel zu halten, da die aufeinander folgenden Generationen unterschiedliche soziale Entwicklungen im Laufe ihrer Lebenszyklen durchmachen. Müsste das Vorhaben also nicht vielmehr darin bestehen, gerechte Prinzipien der Verteilung zu erarbeiten, die Nettotransfers zwischen den Generationen zulassen, um die intergenerationelle Solidarität im Geschichtsverlauf zur Geltung zu bringen? Die Aussicht auf intergenerationelle Transferleistungen, die nicht gleich Null sind, wurde in einem postrawls’schen Ansatz in den Arbeiten von Van Parijs und Schokkaert42 zur Rentenreform weiter entwickelt. Nach diesem Konzept erfordert die Gerechtigkeit, dass die Ansprüche so festgelegt und die Ressourcen derart aufgeteilt werden, dass die reelle Freiheit derjenigen so groß wie möglich ist, die am wenigstens besitzen. Individuen sollen dabei eine Kompensation für die Ungleichheiten aufgrund ihrer Grundausstattung (endowments) erhalten, während sie als verantwortlich für die Folgen ihrer Präferenzen betrachtet werden. Wie bereits zuvor ergibt dieser egalitaristisch – liberale Standpunkt ein „nachhaltiges“ Maximin-Kriterium. Werden die Unterschiede der Grundausstattung zwischen den Kohorten berücksichtigt, erfordert die Gerechtigkeit in der Tat eine Maximierung der Ausstattung der am wenigsten begünstigten Kohorte, in der Absicht, die Lage der innerhalb dieser Kohorte am meisten Benachteiligten so weit wie möglich zu verbessern. Dieses Prinzip schlägt eine Lösung für das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit vor: wir haben künftigen Generationen einen Bestand an physischem, humanem und natürlichem Kapital zu übergeben, von 40 Siehe Louis Chauvel, Génération sociale et socialisation transitionnelle. 41 Axel Gosseries, La justice entre generation, S. 265ff. 42 Erik Schokkaert/Philippe Van Parijs, Debate on social justice and pension reform, in: Journal of European Social Policy 13/3 (2003), S. 245–279.

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einem Wert, der mindestens so groß sein muss, wie der Bestand, der uns zugute kam. Das Prinzip wird auf die explizite und implizite Verschuldung angewandt. Eine Anhäufung von Schulden kann dabei durch eine Akkumulation von überschriebenem Kapital kompensiert werden. Auf die Rentenfrage bezogen ergibt sich aus diesem Analyseraster die Befürwortung eines Rentensystems mit einer auf höchstmöglichem Niveau veranschlagten Mindestrente, wobei Einschränkungen in Hinblick auf eine langfristige Nachhaltigkeit berücksichtigt werden müssen. Dieses Rentensystem müsste ein umlagenfinanziertes sein, weil nur ein solches Finanzierungssystem die (Paretoeffiziente) Aufteilung kollektiver Risiken zwischen den Generationen ermöglicht. Ein solches System müsste zudem die Form eines Rentensystems annehmen, in dem vorrangig das (relative) Äquivalenzprinzip zwischen dem ausgezahlten Betrag der Rente und den eingezahlten Beiträgen gilt. Ein derartiges System gestattet, dass auch die höchsten Einkommen von der Aufteilung der Risiken profitieren. Von daher begünstigt es die Akzeptanz einer hohen Mindestrente durch den Medianwähler und verringert Verzerrungen, die durch die sozialen Abgaben verursacht werden können – vor allem was das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt betrifft. In dem Maße, in dem Individuen nicht für Unvorhersehbarkeiten (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege von Angehörigen) verantwortlich gemacht werden können, muss das bismarcksche System durch nicht beitragsbezogene Leistungen vervollständigt werden, die über Steuern finanziert werden und dazu dienen, diese Unvorhersehbarkeiten auszugleichen. Wenn nun die Ungleichheiten in Bezug auf Ressourcen unter den Generationen bereits miteinbezogen sind, müsste die Aufteilung kollektiver exogener Risiken auf die Generationen (Wachstumseinbruch, Geburtenrückgang) nach dem Musgrave-Prinzip geregelt werden. Wenn die Umsetzung des Musgrave-Prinzips eine Senkung des Rentenniveaus zur Folge hat, müsste die Begünstigung der am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft durch eine differenzierte Anwendung des Prinzips auf die Empfänger von Mindestrenten sichtbar werden. Ist das erreicht, müsste das umlagenfinanzierte Rentensystem, angesichts der Tatsache, dass die Individuen frei und selbst verantwortlich über die Allokation ihrer Ressourcen im Laufe ihrer Lebenszyklen verfügen, durch eine zweite Säule vervollständigt werden, in Form von betrieblichen oder von den Branchen organisierten Pension Funds, die staatlich geregelt werden sollten, sowie einer dritten Säule (freiwilliges Sparen), die dennoch kein Grund für Steuerbegünstigungen ist. Aus denselben Gründen müssen Individuen imstande sein, Entscheidungen zwischen der Länge ihres Berufslebens und der Dauer des Rentenbezugs im Falle einer gestiegenen Lebenserwartung zu treffen; Entscheidungen, die nicht von der Berechnung der Renten verzerrt werden sollten. Aus Rücksicht auf die Freiheit derjenigen, die dabei am wenigsten erhalten, müssten jedoch die Unterschiede

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zwischen den Generationen in Hinblick auf Arbeitsbedingungen und Lebenserwartungen mit beachtet werden.43

Schlussfolgerung Die grundlegenden Reformen der gesetzlichen Rentenkassen, wie sie im Allgemeinen in Mitgliedsstaaten der OECD vorgenommen wurden, insbesondere in Deutschland, wurden vorwiegend im Namen der intergenerationellen Gerechtigkeit durchgeführt. Hierzu zählt, dass die Renditen für Investitionen in die Renten für die aufeinander folgenden Kohorten angeglichen werden und die übertragene, implizite Verschuldung reduziert wird. Diese Reformen der gesetzlichen Rentenkassen stellen sich, sobald sie einer Prüfung unterzogen werden, als fragwürdig heraus, auch wenn sie nicht völlig unbegründet sind. Die Reformen werden sich durch eine starke Abnahme des durchschnittlichen Rentenniveaus, durch eine für alle gültige Heraufsetzung des Rentenzugangsalters im selben Maße, wie die Lebenserwartung zunimmt, und durch die Auferlegung einer doppelten finanziellen Belastung bemerkbar machen (die Finanzierung der gegenwärtigen Renten sowie zusätzliche Sparmaßnahmen). Damit werden die Reformen gerade jene Generationen mit voller Wucht treffen, nämlich die Kinder und Enkelkinder der Baby-Boomer, die bisher im Lauf ihres Lebenszykluses ein geringeres Wachstum ihres Einkommens und weniger geradlinige Erwerbsbiografien mit geringeren Aufstiegsmöglichkeiten erfahren haben, als dies bei ihren Vorfahren der Fall war. Konkurrierende und besser begründete Ansätze zur Generationengerechtigkeit sprechen jedoch für andere kollektive Entscheidungen bzw. Rentenreformen.

43 Die bereits angeführten Ansätze heben zu Recht die zugleich wirksame und gerechte Art der Verteilung kollektiver exogener Risiken auf die Generationen hervor. Dabei stellt sich die Frage, welche als kollektive exogene Risiken eingestuft werden können; eine Frage auf die wir hier nicht eingehen können. Siehe Kenneth Howse, Undating the Debate on Intergenerational Fairness in Pension Reform, in: Social Policy and Administration 41/1 (2007), S. 50–64.

Heike Kahlert

Die vergangene Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Spiegel des demografischen Wandels 1.  Demografischer Wandel als sozialpolitische Herausforderung Nimmt man die aus amtlichen Statistiken der Europäischen Union abgeleiteten Prognosen des Alterns und Schrumpfens der Mitgliedstaaten1 als sozial, politisch und ökonomisch zu lösendes Problem ernst, so könnte es um die Zukunft des Europäischen Sozialmodells und dessen Verwirklichung in einer europäischen Sozialordnung schlecht bestellt sein. Bisherige auf Nationalstaaten bezogene Sozialmodelle und -ordnungen basieren nämlich auf Annahmen zur Altersstruktur und Generativität der Bevölkerung, die in vielen Ländern Europas seit den 1960er Jahren nicht mehr der demografischen Realität entsprechen. Vor diesem Hintergrund stellt sich das prognostizierte Altern und Schrumpfen der Bevölkerung Europas als (sozial-)politisch kaum zu bewältigende Herausforderung für die Sozialordnungen vieler EU-Mitgliedstaaten und auch für eine gegebenenfalls noch näher zu konturierende EU-Europäische Sozialordnung dar. Die sozialpolitische Zukunft Europas könnte demnach bereits vergangen sein, bevor sie begonnen hat. Da aber politisches Handeln durchaus verändernd zu wirken vermag, kann die Zukunft Europas von der Gegenwart aus gestaltend angegangen werden, auch unter sich verändernden demografischen Bedingungen. In der EU-Rhetorik, konkret in jener der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, wird der demografische Wandel folglich in neueren Verlautbarungen nicht mehr nur als „Herausforderung“, sondern auch als „Chance“ dargestellt.2 Auf der Ebene der Europäischen Union drückt sich die verstärkte Aufmerksamkeit für die demografische Zukunft Europas in einer Rhetorik und politischen Handlungsstrategie aus, so meine im Folgenden diskutierte These, in der die soziale Frage, die Geschlechterfrage und die demografische Frage eng miteinander verschränkt sind. Diese Verschränkung schlägt sich darin nieder, dass in der EUeuropäischen Politik gezielt die Etablierung des Modells einer Zwei-Verdiener1 Vgl. z.B. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europas demografische Zukunft: Fakten und Zahlen. Zusammenfassung. Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen SEK(2007) 638 Band I, Brüssel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007. 2 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die demografische Zukunft Europas – Von der Herausforderung zur Chance. Mitteilung der Kommission KOM(2006) 571 endgültig, Brüssel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2006.

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Familie gefördert wird, das als Geschlechter- und Familienleitbild vor allem die gut gebildeten Mittelschichten adressiert. Die Etablierung dieses Modells ist dabei in erster Linie arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch sowie demografisch motiviert und wird durch eine Politik der Geschlechtergleichstellung flankiert. Der Gehalt der These, dass sich die soziale Frage, die Geschlechterfrage und die demografische Frage in den Rhetoriken und den Handlungsstrategien der EU verschränken, ist komplex, wie die folgende Skizze zeigt. Einen zentralen Handlungsschwerpunkt der EU-europäischen Politik bildet die Steigerung der Erwerbsfähigkeit und ‑beteiligung der europäischen Bevölkerung, denn dieser wird für die ökonomische Prosperität der EU, die ja vor allem eine Wirtschaftsunion ist, zentrale Bedeutung beigemessen. Die soziale Frage wird in diesem Kontext vor allem als Frage der Integration bisher unterrepräsentierter Gruppen in die Erwerbsarbeit diskutiert, nämlich Jugendliche, Ältere und Frauen. Angesichts der prognostizierten abnehmenden europäischen Erwerbsbevölkerung wächst das Interesse an bisher nicht so sehr im Fokus der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik stehenden Bevölkerungsgruppen, aus denen potenzielle Arbeitskräfte rekrutiert werden könnten. Vor diesem Hintergrund sind die genannten Gruppen demografisch relevant, und sie sind in sozialpolitischer Hinsicht von Interesse, weil soziale Teilhabe mehr denn je an die Integration in die Erwerbsarbeit geknüpft ist. Durchaus im Einklang mit dieser ökonomischdemografisch und sozialpolitisch begründeten Ausrichtung stellt sich die auf EUEbene bereits seit ihren Anfängen geforderte und geförderte Gleichstellung der Geschlechter vor allem im Erwerbsarbeitsleben, aber auch im Privaten dar: Frauen sind von den genannten Gruppen unter Bedingungen demografischen Wandels kurz-, aber auch mittel- und langfristig von besonderem Interesse – und zwar idealerweise als erwerbstätige (potenzielle) Mütter und unbezahlte Sorgearbeiterinnen im Privaten. Als Arbeitskräfte sollen sie verstärkt in den Arbeitsmarkt einbezogen werden, um die hier perspektivisch klaffende Lücke in der voraussichtlich zur Verfügung stehenden europäischen Erwerbsbevölkerung zu schließen, und sie sollen zugleich (mehr) Kinder bekommen (können und wollen), aber auch die Pflege der wachsenden Zahl an alten Menschen übernehmen, um vermeintlich durch demografische Entwicklungen verursachte Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und in der (unbezahlten wie bezahlten) Pflegearbeit zu verhindern. Den Frauen scheint also in der Bewältigung der demografischen Herausforderung durch Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung eine Schlüsselrolle zuzukommen. Und sie scheinen zugleich unverzichtbar für die Verwirklichung des Europäischen Sozialmodells. Für die Diskussion meiner These von der Verschränkung der sozialen Frage, der Geschlechterfrage und der demografischen Frage in den Rhetoriken und Handlungsstrategien der EU greife ich auf thematisch relevante Dokumente vor

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allem der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates zurück. Mit Maria Stratigaki betrachte ich diese Texte als einen Bestandteil der Ergebnisse der europäischen Politik: Sie kommen in der Regel aus intensiven, zum Teil auch langwierigen Abstimmungsprozessen zwischen Personen aus Politik und Bürokratie innerhalb und außerhalb der europäischen Institutionen zustande und zeigen den zwischen allen Beteiligten erreichten minimalen Konsens auf.3 Einleitend gebe ich im Folgenden einen kurzen Überblick über die Diskussionen über das Europäische Sozialmodell (2). Dieses bisher ohnehin vor allem als Idee vorgestellte Modell ist nicht zuletzt angesichts demografischer Veränderungen herausgefordert, wie eine Skizze zum demografischen Wandel in Europa zeigt (3). Ein wichtiger Schritt in meiner Argumentation besteht in der Analyse, wie der demografische Wandel auf EU-Ebene problematisiert wird (4). Im Anschluss daran untersuche ich, welche Strategien die EU anstrengt, um die demografischen Herausforderungen des Alterns und Schrumpfens ihrer Bevölkerung zu bewältigen (5). Dabei erweist sich das Feld der europäischen Familienpolitik als bedeutsam, die auf EU-Ebene als eine Antwort auf den demografischen Wandel Stärkung und Ausweitung erfährt (6). Eng damit verknüpft ist die in der EU-Rhetorik gezeichnete Zukunftsvision einer „neue(n) Solidarität der Generationen“4 (7). Abschließend beurteile ich die Analyseergebnisse aus ungleichheitssoziologischer Perspektive und bette sie in die Debatten um die Zukunft des Europäischen Sozialmodells ein (8).

2.  Das Europäische Sozialmodell im demografischen Wandel Die verfügbare wissenschaftliche Literatur ist sich uneinig darüber, seit wann der Begriff des Europäischen Sozialmodells im Zusammenhang mit der Europäischen Union benutzt wird. Einige sehen diesen Begriff bereits seit der Gründung der EU verwendet und in nationalen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen umgesetzt, andere gehen davon aus, dass er in den 1980er Jahren strategisch geprägt und vom damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, dem Franzosen Jacques Delors, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in den EU-Diskurs eingeführt wur-

3 Maria Stratigaki, The Cooptation of Gender Concepts in EU Policies: The Case of „Reconciliation of Work and Family“, in: Social Politics 11 (2004) Heft 1, S. 30–56, S. 38– 39. 4 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch „Angesichts des demografischen Wandels – eine neue Solidarität zwischen den Generationen“. Mitteilung der Kommission KOM (2005) 94 endgültig, Brüssel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005, S. 7.

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de.5 Haß betont, dass die feste Begriffsfügung seit 1993 belegt sei und seit 1996 strategisch verwendet werde.6 Und Hofbauer sieht den Begriff aktuell vor allem als einen „Knotenpunkt politischer Auseinandersetzungen und Kämpfe um ein sozialeres Europa“7 fungieren, der demzufolge bis heute Kontroversen über den Begriffsgehalt unterliegt. In seiner deskriptiven Verwendung meint der Begriff jedenfalls den institutionalisierten Versuch, wirtschaftliche Dynamik mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Stärker normativ unterlegt beinhaltet er, dass der Europäischen Union, die ja wesentlich als Wirtschaftsunion begründet wurde, auch ein soziales Gesicht verliehen und so der europäische Integrationsprozess ebenfalls auf der Ebene des Sozialen vorangebracht werden soll. So betrachtet kann die popularisierte Verwendung des Begriffs vom Europäischen Sozialmodell im EU-Diskurs der späten 1980er und frühen 1990er Jahre auch als eine Reaktion derjenigen Kräfte auf europäischer Ebene verstanden werden, die den zu dieser Zeit um sich greifenden neoliberalen Politiken mit einem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auf der nationalen Ebene einiger einflussreicher Mitgliedstaaten, wie etwa Großbritannien, sozialpolitische Anstrengungen auf der europäischen Ebene entgegen setzen wollten. Die erfolgreichen Kommissionen unter der Präsidentschaft von Jacques Delors machten von 1985 bis 1995 die Idee von einem Europäischen Gesellschaftsmodell stark und meinten damit die Einheit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ihnen ging es um die Vision einer Europäischen Gesellschaft als einem organisierten sozialen Raum, der sich von einem Aggregat von Nationalgesellschaften unterschied und die EU als eine kohärente politische Einheit vorstellte. Einige Kommentare zum 5 Daniel C. Vaughan-Whitehead, EU Enlargement versus Social Europe? The Uncertain Future of the European Social Model. Cheltenham, UK/Northhampton, MA/USA 2003; Joachim Schuster, Die deutsche Diskussion über ein Europäisches Sozialmodell. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung 2006; Ines Hofbauer, Das „Europäische Sozialmodell“ als transnationales Modernisierungs- und Legitimationskonzept, in: Kurswechsel 2007 Heft 1, unter: http://www.linksnet.de/de/artikel/20495 (27.10.2009); Sabine von Oppeln, Das Europäische Sozialmodell. Bilanz und Perspektiven. Berliner Arbeitspapier zur Europäischen Integration Nr. 3, Berlin: Freie Universität Berlin 2007; Jörg Huffschmidt, Das „Europäische Sozialmodell“ – Nebelkerze, Modernisierungshebel, Expansionshilfe – oder gesellschaftspolitisches Konfliktfeld?, in: Regina Viotto/Andreas Fisahn (Hrsg.), Europa am Scheideweg. Kritik des EU-Reformvertrags. In Kooperation mit dem wissenschaftlichen Beirat von attac. Hamburg: VSA 2008, S. 68–78; Rüdiger Henkel, Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments, in: Melanie Tatur (Hrsg.), Nationales oder kosmopolitisches Europa. Fallstudien zur Medienöffentlichkeit in Europa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 237–251. 6 Ulrike Ha ß , Europäisches Sozialmodell, Essen: Universität Duisburg–Essen 2006, http:// www.linse.uni-due.de/linse/publikationen/Hass/UHass_Sozialmodell.pdf (27.10.2009), S. 1. 7 Hofbauer, Modernisierungs- und Legitimationskonzept.

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Europäischen Sozialmodell beurteilen diese an Delors anknüpfende Idee folglich als über-optimistische Interpretation der EU als (im Werden begriffener) transnationaler Wohlfahrtsstaat.8 In dieser Charakterisierung von Delors’ Idee sehen Gerard Delanty und Chris Rumford auch den Unterschied zum gegenwärtigen Verständnis vom Europäischen Sozialmodell, das als vorübergehender politischer Kompromiss, der umkämpft bleibe9, bestenfalls gedacht werde als ein Cluster aus politischen Prioritäten, die sich zentrierten auf effektive wohlfahrtsstaatliche Institutionen oder zumindest (Mindest-)Standards, die soziale Sicherheit gewährleisten und die sozialen Ungleichheiten begrenzen sollen, auf Sozialpartnerschaft und auf eine gemischte Wirtschaft. Anthony Giddens schlussfolgert: „Hence there are many different definitions of the ESM (European Social Model, H.K.) around, although they all home in on the welfare state.“10 Hofbauer sieht die normative politische Vision eines Europäischen Sozialmodells als Bestandteil eines größeren Europäischen Integrationsprojekts, das zwei Dimensionen umfasse: zum einen einen bestimmten Weg der Integration, der die strukturelle Erneuerung europäischer Wohlfahrtsstaaten anstrebe und längerfristig zu einer Veränderung in den Beziehungen zwischen Ökonomie und dem Markt einerseits und Gesellschaft und Individuen andererseits führe und nicht zuletzt auch eine veränderte Rolle des Staates in der Sozialpolitik mit sich bringe, zum anderen ein Legitimationskonzept für die EU-Institutionen und die zukünftige Richtung der Europäischen Union. Dabei werde das Schlagwort Europäisches Sozialmodell dazu verwendet, neue Konzeptionen von Sozialpolitik zu fördern und populär zu machen.11 Vor diesem Hintergrund verstehen Delanty und Rumford die aktuellen Debatten über ein sozialeres Europa als eine Gelegenheit, den funktional auf ökonomische Fragen ausgerichteten europäischen Rahmen eines Aggregats von Nationalstaaten zu überdenken und die mehr normative Idee der Schaffung einer transnationalen Europäischen Gesellschaft in Anlehnung an die Vorstellungen Delors’ neu zu reflektieren.12 Delanty und Rumford halten jedoch fest, dass es in den aktuellen Auseinandersetzungen primär nicht darum zu gehen scheine, interne Kontrover-

8 Gerard Delanty/Chris Rumford, Rethinking Europe. Social Theory and the Implications of Europeanization, Abingdon, New York: Routledge 2005, S. 107. 9 Hofbauer, Modernisierungs- und Legitimationskonzept. 10 Anthony Giddens, A Social Model for Europe?, in: Anthony Giddens/Patrick Diamond/Roger Liddle (Hrsg.), Global Europe, Social Europe, Cambridge, Malden: Polity Press 2006, S. 14–36, S. 15. 11 Hofbauer, Modernisierungs- und Legitimationskonzept. 12 Delanty/Rumford, Rethinking Europe, S. 107–109.

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sen über die Gestalt und Richtung des EU-Projekts zu lösen, sondern darum, eine Geschlossenheit gegenüber dem Rest der Welt zu demonstrieren.13 Die Idee des Europäischen Sozialmodells speist sich seit ihren Anfängen aus einer angenommenen gemeinsamen Geschichte und damit verbundenen gemeinsamen politischen Identität, die den europäischen Gesellschaften ihre vermeintlich besondere Qualität verleihen. Diese besondere Qualität genauer zu benennen ist keineswegs einfach. Dies hat nicht zuletzt mit den einzelnen Begrifflichkeiten der rhetorischen Figur Europäisches Sozialmodell zu tun: Bei vertiefter Betrachtung zeigt sich, dass viele nichteuropäische Staaten die angeblich so europaspezifische Wohlfahrtsstaatlichkeit teilen und auch außerhalb Europas versucht wird, soziale Ungleichheiten durch staatliches Handeln zu begrenzen. Die vorgebliche Sozialität des Europäischen Sozialmodells wiederum ist abhängig vom ökonomischen Wohlergehen und hängt von der so ermöglichten Umverteilung erwirtschafteter Erträge ab. In Frage steht auch die vermeintliche Einheitlichkeit des Europäischen Sozialmodells, denn die Voraussetzungen, diese zu denken, sind in den europäischen Ländern höchst unterschiedlich, weil die europäischen Länder historisch nationalstaatlich verfasste Sozialordnungen haben und dabei verschiedenen Wohlfahrtsregimes folgen14: Sie weisen untereinander große Unterschiede in ihren Sozialsystemen, den Ungleichheitsverhältnissen sowie hinsichtlich etlicher anderer Aspekte auf. Bereits als normative politische Vision bringt das Europäische Sozialmodell also konzeptionelle Probleme mit sich, die sich noch verstärken, wenn diese bisher lediglich als Modell diskutierte Idee im Rahmen einer möglichen Europäischen Sozialordnung praktisch realisiert werden sollte. Einige dieser Schwierigkeiten entstammten Veränderungen auf der globalen Ebene, andere seien intern oder doch nur lose verbunden mit den Veränderungen auf der Welt insgesamt, so Giddens.15 Zu diesen Problemen zählt der britische Sozialwissenschaftler primär demografische Veränderungen, insbesondere die alternde Bevölkerung, das damit verbundene Problem der Rentenfinanzierung und den starken Geburtenrückgang. Ferner gehörten Veränderungen in der Familienstruktur, mit steigenden Anteilen an Alleinerziehendenfamilien, und mehr Frauen und Kindern, die in Armut leben, dazu. Schließlich erwiesen sich hohe Erwerbslosenraten als problematisch, für die zum Teil unreformierte Arbeitsmärkte verantwortlich seien. Zwar handelt es sich bei den genannten Aspekten zunächst um nationalstaatliche Probleme, die keineswegs nur auf Europa bezogen sind, doch wirken diese eben auch, gerade 13 Ibid., S. 106. 14 Vgl. z.B. Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1990. 15 Giddens, A Social Model for Europe?, S. 16.

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auch in ihrer nationalstaatlichen Verschiedenheit, erschwerend für die Entwicklung eines gemeinsamen transnationalen Europäischen Sozialmodells. Deutlich wird ebenfalls, dass es beim Europäischen Sozialmodell nicht nur um die Entwicklung einer kohärenten Vision von Sozialität für die Zukunft der EU geht, sondern dass diese Zukunft ein Gegenstand der transnationalen politischen Verhandlung und Gestaltung geworden ist. In Frage steht dabei nicht nur, inwiefern EU-Europa im Zuge der angestrebten Integration auf gemeinsame wohlfahrtsstaatliche (Mindest-)Standards in den einzelnen Mitgliedstaaten hinarbeitet, sondern auch, ob sich die EU perspektivisch als transnationaler Wohlfahrtsstaat ausweitet. Demografische Fragen liegen quer zu dieser Debatte und sind doch für sie von großer Bedeutung, denn die unterschiedliche demografische Entwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten fordert die einzelnen Nationalstaaten derzeit individuell verschieden zu einer Modernisierung ihrer Sozialsysteme heraus, wobei der Rahmen hierzu auch auf EU-Ebene konturiert wird. Dabei wird der als vermeintliches Problem identifizierte demografische Wandel zum Anlass genommen, um Wohlfahrtsstaatlichkeit abzubauen oder aber umzubauen.

3.  Demografischer Wandel in Europa Die europäischen Gesellschaften erleben, wie andere industrialisierte Gesellschaften auch, seit den 1960er Jahren tief greifende soziale und demografische Veränderungen. Phänomene wie politische, kulturelle und ökonomische Globalisierung und Individualisierung sind zugleich die Auslöser und Produkte dieser tief greifenden Wandlungsprozesse. Soziale Beziehungen, Institutionen und Gesellschaftsstrukturen bleiben davon nicht unberührt. In demografischer Hinsicht drückt sich der tief greifende soziale Wandel aus in einem anhaltenden Geburtenrückgang, der begleitet wird von einem Wandel in den Familienstrukturen und ‑formen und von einer steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen und Müttern, und in einem nach wie vor andauernden Anstieg der Lebenserwartung. Unter den veränderten ökonomischen, politischen und kulturellen Vorzeichen sind auch die Zuwanderung in die EU sowie die Binnenmigration zu einem wichtigen Aspekt des demografischen Wandels und damit ebenfalls der europäischen Politik geworden.16 Das in der Demografie prominente, wenn auch keineswegs unumstrittene Theorem des Zweiten Demografischen Übergangs, das von den Demografen Dirk J. van de Kaa und Ron Lesthaeghe entwickelt wurde, beschreibt den Geburten16 Vgl. z.B. als Überblick Edda Currl, Migration in Europa. Daten und Hintergründe, Stuttgart: Lucius & Lucius 2004.

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rückgang und die sinkende Mortalität in Europa und anderen industrialisierten Gesellschaften seit den 1960er Jahren als irreversibel. Wie andere Demografen auch berufen sich van de Kaa und Lesthaeghe bei der Erklärung des Geburtenrückgangs auf ökonomische Einflüsse wie etwa die mit einer Familiengründung verbundenen Opportunitätskosten. Auch führen sie neue technologische Möglichkeiten als Begründung an, etwa die Geburtenbegrenzung durch die zu dieser Zeit eingeführten Verhütungsmittel wie die Antibabypille. Ergänzend, und das unterscheidet ihr Konzept von anderen demografischen Erklärungsansätzen, führen sie die demografischen Veränderungen im Familiengründungsverhalten auch auf sich wandelnde Werthaltungen zurück, in denen postmaterielle Werte gegenüber den traditionell vorherrschenden materiellen Werten an Gewicht gewännen. Van de Kaa und Lesthaeghe machen die Unterscheidung zweier Demografischer Übergänge an sich wandelnden Faktorenkonstellationen insbesondere in den beiden Geburtenübergängen im historischen Verlauf einer freilich vergleichsweise unreflektiert verstandenen Entwicklung moderner Gesellschaften fest. Während der Erste Demografische Übergang schließlich in ein Gleichgewicht zwischen Geburten- und Sterbeziffern eingemündet sei, ginge der Zweite Demografische Übergang mit einem Ungleichgewicht zwischen Geburten- und Sterbeziffern einher.17 Der mit diesem Konzept beschriebene demografische Wandel ist, unabhängig davon, ob er nun eine so neue Gestalt annimmt, die die Rede von einem zweiten demografischen Übergang rechtfertigt oder nicht,18 Bestandteil von allgemeinen Modernisierungsprozessen. Folglich wird in weiten Teilen der dieser Denkweise anhängenden Demografie davon ausgegangen, dass sich diese Form des demografischen Wandels mit fortschreitender Modernisierung sukzessiv auch

17 Vgl. z.B. Dirk J. van de Kaa, Europe’s Second Demographic Transition, Washington/ D.C.: Population Reference Bureau 1987; Ron Lesthaeghe, Der zweite demographische Übergang in den westlichen Ländern: Eine Deutung, in: Zeitschrift für Bevölkerungsforschung 18 (1992) Heft 3, S. 313–354; kritisch zu dem Theorem z.B.: Simon Szreter, The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility Change: A Critical Intellectual History, in: Population and Development Review 19 (1993), Heft 4, S. 659–701; Josef Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000. München: Oldenbourg 2004, S. 118–128; Heike Kahlert, The (Missing) Welfare State in Demography – Critical Reflections on the Idea of the „Second Demographic Transition“ from a Gender Perspective, in: Heike Kahlert/Waltraud Ernst (Hrsg.), Reframing Demographic Change in Europe. Perspectives on Gender and Welfare State Transformations. Münster, Hamburg, Berlin, Wien, London: Lit 2010, S. 17–50. 18 Vgl. Robert L. Cliquet, The Second Demographic Transition: Fact or Fiction?, Strasbourg: Council of Europe 1991.

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auf andere Gesellschaften ausdehnen wird, die vergleichbare gesellschaftliche Entwicklungen durchlaufen.19 Eurostat, das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften, dokumentiert fortlaufend die demografische Entwicklung der europäischen Bevölkerung. Deutschland gehört – wenn man sich diesem Modell anschließt – im Zweiten Demografischen Übergang demnach zu den Vorreitern20: Im Jahr 2006 wurden hier lediglich 1,33 Kinder je Frau geboren.21 In den südeuropäischen Ländern setzte der Geburtenrückgang etwas später ein, nach der politischen Wende erreichte er auch die Transformationsstaaten Ost- und Südosteuropas. Die sechs Länder mit der niedrigsten Gesamtfruchtbarkeitsrate sind allesamt ehemals sozialistische Länder. Das niedrigste Niveau weist 2006 die Slowakei mit einem Wert von 1,24 auf, gefolgt von Polen, Slowenien und Litauen sowie Rumänien. Auf Platz 5 folgen Bulgarien und Deutschland. Das höchste Geburtenniveau in der EU der 27 erreichten im gleichen Jahr Frankreich (2,00), Norwegen (1,90) und Irland (1,89). 19 Die Annahme einer dergestalt nahezu evolutionär, total und weitgehend harmonisch ablaufenden gesellschaftlichen und demografischen Entwicklung entspringt einem in der Soziologie und stärker noch der Demografie bis heute vergleichsweise weit verbreiteten Modernisierungsdenken, das auf Grundannahmen basiert, die in der US-amerikanischen Soziologie und Demografie der 1950er Jahren entwickelt wurden. In der Soziologie finden sich jedoch auch Strömungen, die sich inzwischen von einem solchen Modernisierungsverständnis distanzieren und komplexere Modernisierungstheorien entwickeln, die sich beispielsweise sensibel für Ungleichzeitigkeiten, Widersprüche und Diskontinuitäten zeigen und auch den universellen Charakter von Modernisierung in Frage stellen. Vgl. dazu Hans van der Loo/Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox. München: dtv 21997 und Robert van Krieken, Sociology and the Reproductive Self: Demographic Transitions and Modernity, in: Sociology 31 (1997), Heft 3, S. 445–471. Diese neueren Überlegungen werden in der Demographie jedoch bisher kaum aufgegriffen. 20 Diese Rolle als Pionierin des Zweiten Demografischen Übergangs bezieht sich bis zur Vereinigung der alten BRD mit der DDR wesentlich auf die alte Bundesrepublik, denn in der DDR hatte sich ab Mitte der 70er Jahre der Geburtentrend umgekehrt, möglicherweise unterstützt durch zeitgleich ergriffene gezielte bevölkerungspolitische Maßnahmen. 1989 lagen die Geburtenraten wieder gleich auf mit der alten BRD. Die politische Wende ging jedoch, wie in allen anderen osteuropäischen Transformationsstaaten, in den neuen Ländern mit einem starken Geburtenrückgang und mit Geburtenziffern einher, die bis 2006 unter denen in Westdeutschland lagen. Im Jahr 2007 war die gemessene Geburtenhäufigkeit mit 1,37 Kindern je Frau genauso hoch und im Jahr 2008 mit 1,40 Kindern je Frau höher als in den alten Ländern. Vgl. Statistisches Bundesamt, Geburtenentwicklung, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2009, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/AktuellGeburtenentwick lung,templateId=renderPrint.psml (22.12.2009). 21 Für alle Daten zur Gesamtfruchtbarkeitsrate vgl. Eurostat, Gesamtfruchtbarkeitsrate – Anzahl der Kinder pro Frau, 1996–2007, ohne Ort, 2009, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/ tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tsdde220 (28.08.2009).

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Gegenüber dem auch in den vorgenannten Ausführungen deutlich werdenden in der Demografie beliebten Spiel mit Zahlen ist durchaus Skepsis angebracht. Die Zahl der Geburten liegt in der Europäischen Union seit längerer Zeit kontinuierlich unterhalb des Niveaus von 2,1 Kindern pro Frau, das für den Ersatz der Elterngeneration erforderlich wäre: Im Jahr 2006 betrug sie in der EU der 27 1,53  Kinder pro Frau. Die auf einzelne Länder bezogenen Daten zeigen aber auch, dass es jenseits dieses europäischen Durchschnitts in der Geburtenentwicklung erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Diese werden in der Literatur unter anderem auf regionale Unterschiede in der gesellschaftlichen Entwicklung, auf pfadabhängige Differenzen in den jeweiligen Wohlfahrtssystemen der Mitgliedstaaten und auf unterschiedliche familien-, bildungs-, gleichstellungs- und migrationspolitische Strategien der einzelnen Wohlfahrtsstaaten zurückgeführt.22 Geht man davon aus, dass 2,1 Kinder pro Frau für den Ersatz der Elterngeneration erforderlich sind, sind alle EU-Mitgliedstaaten von einer zu niedrigen Fertilitätsentwicklung betroffen, wenn auch nicht alle gleich lange und gleich intensiv. In einigen EU-Ländern ist infolgedessen bereits die Zahl der Einwohner absolut rückläufig. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in solchen Ländern wie Deutschland, in denen sowohl die Einwanderung als auch die Fertilität entweder besonders niedrig sind oder bereits sehr lange auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau verharren. Zusammen mit einer hohen und weiter steigenden Lebenserwartung – bei Geburt im Jahr 2006 lag in der EU der 27 die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen bei 82,00 Jahren und von Männern bei 75,84 Jahren23, wiederum mit regionalen Unterschieden – resultiert aus dieser Entwicklung eine steigende Zahl Älterer und vor allem Hochaltriger sowie ein schrumpfender Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Bei gleich bleibender Fertilität, so die demografischen Prognosen, werden bis zur Mitte des Jahrhunderts fast alle heutigen EU-Länder eine negative natürliche Bevölkerungsbilanz aufweisen. Demzufolge werden die europäischen Bevölkerungen altern – am damit verbundenen Schrumpfen der Bevölkerung könnten nur ein deutlicher Anstieg der Fertilität und/oder Zuwanderung etwas ändern. Unabhängig, ob man theoretisch dem in weiten Teilen der Demografie verwendeten Konzept vom Zweiten Demografischen Übergang folgt oder nicht, so bilden die statistischen Daten zu demografischen Entwicklungen demografische Wandlungsprozesse ab. Die Deutung der Daten und daraus entwickelte Schluss22 Diese Diskussion hier näher auszuführen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 23 Vgl. Eurostat, Lebenserwartung bei der Geburt, nach Geschlecht – (Jahre), 1996–2007, ohne Ort, 2009, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin =1&language=de&pcode=tps00025 (28.08.2009).

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folgerungen und gegebenenfalls entsprechende politische Handlungsstrategien allerdings können verschiedene Wege verfolgen. Und keineswegs zwangsläufig folgt aus den Daten, dass die Prognosen vom Altern und Schrumpfen der europäischen Bevölkerung zwangsläufig, gewissermaßen wie eine Naturgewalt, eintreffen müssen, wenngleich derzeit Vieles dafür zu sprechen scheint.

4.  Die Problematisierung des demografischen Wandels auf der Ebene der EU Auffällig an der auf EU-Ebene geführten Debatte zum demografischen Wandel (wie auch an anderen Debatten zum demografischen Wandel in europäischen und anderen industrialisierten Gesellschaften) ist, dass die Problematisierung dieses Phänomens auf den Geburtenrückgang und mit etwas anderem Tenor auch auf die Bewältigung der mit der steigenden Lebenswartung verbundenen Herausforderungen an die Systeme sozialer Sicherung und Möglichkeiten der Organisation von Pflege für die hochaltrigen Menschen fokussiert. Die zunehmende Alterung der europäischen Bevölkerung wird dabei dargestellt als „unausweichliche Konsequenz von im Wesentlichen positiven Entwicklungen: einer längeren Lebenserwartung, häufig einhergehend mit guter Gesundheit und einer größeren Wahlfreiheit bei dem Entschluss, zu einem bestimmten Zeitpunkt Kinder zu haben, der insbesondere von Frauen getroffen wird, die immer besser ausgebildet sind und leichter Zugang zum Arbeitsmarkt haben“24.

Nicht die gestiegene Lebensdauer an sich sei das Problem. Dieses liege vielmehr darin, dass man mit den derzeitigen Strategien nicht in der Lage sei, sich auf die neue demografische Situation einzustellen. Beunruhigt zeigt sich die Europäische Kommission insbesondere durch den sich vermeintlich andeutenden Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, der im Zuge des Geburtenrückgangs erwartet wird. Nachhaltige Lösungsansätze, um dem Altern und Schrumpfen der europäischen Bevölkerungen zu begegnen, werden wesentlich in der Steigerung der Geburtenrate gesehen und im Folgenden ausführlicher diskutiert. Fragen der (Im-)Migration hingegen werden nur zögerlich thematisiert. Wenn diese in der EU-Rhetorik in den Blick gerät, wird sie verhalten positiv bewertet, etwa als Beitrag zur „Verjüngung“ der Bevölkerung, wobei im gleichen Atemzug 24 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Solidarität zwischen den Generationen fördern. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen KOM (2007) 244 endgültig, Brüssel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007, S. 15.

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konstatiert wird, dass die Einwanderung die Auswirkungen der niedrigen Fruchtbarkeitsrate und des Anstiegs der Lebenserwartung auf die Altersverteilung in der europäischen Bevölkerung nur teilweise ausgleichen könne.25 (Erwerbsarbeitsbezogene) Einwanderung kann zwar vorübergehende Engpässe auf dem Arbeitsmarkt schließen, nach Ansicht der EU-Politiker, aber auch von Demografen, das Geburtendefizit nur „abmildern“26, nicht jedoch lösen. Diese Ansicht speist sich freilich aus Erfahrungen mit der bisherigen Einwanderungspolitik, Möglichkeiten einer erweiterten Einwanderungspolitik werden bisher nicht ernsthaft ausgelotet. Begründet wird diese Argumentation in der Regel unter Rückgriff auf Ergebnisse der Migrationsforschung, denen zufolge sich das Familiengründungsverhalten von Migrantinnen und Migranten im Zuge der Integration dem Familiengründungsverhalten der jeweiligen Aufnahmegesellschaft angleiche. Demzufolge wird im politischen Kontext die Förderung von (Im-)Migration in demografischer Hinsicht ebenso wie etwa die Förderung der Frauenerwerbsbeteiligung als kurzfristige bzw. bestenfalls mittelfristige Antwort auf sinkende Geburtenraten diskutiert. Diese einem möglicherweise überkommenen nationalstaatlichen Denken verhaftete Logik ist zunächst bestechend, weist allerdings hinter ihren vorgeblich stichhaltigen empirischen Belegen auch verdeckte nationalistische Züge auf, die beispielsweise in der Rede von einer vermeintlich natürlichen Bevölkerungsentwicklung aufscheinen, in der Natur mit Nation gleichgesetzt wird. Die angeführten demografischen Trends und die demografischen Prognosen sind nicht neu, auch nicht für die Politik und Bürokratie der EU27. Sie scheinen aber in Krisenzeiten an politischem Gewicht zu gewinnen, wenn das Wirtschaftswachstum stagniert oder gar negativ ist und entsprechend die Arbeitslosigkeit steigt. Wenngleich die demografische Frage auf der EU bereits länger auf der EU-Ebene mitschwingt, erfährt sie erst seit der Jahrtausendwende eine öffentlich sichtbare(re) und breite(re) Problematisierung. Der Übergang ins 21. Jahrhundert brachte einige politische Veränderungen mit sich: Im Jahr 2000 verabschiedete der Europäische Rat die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Sozialpolitische Agenda und die so genannte Lissabon-Strategie. Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit sollen miteinander in Einklang gebracht werden, so die Botschaft. Demografischen Aspekten und der demografischen Entwicklung wird dabei eine gegenüber früherer EU-Politik wachsende Bedeutung beigemessen.28 Die alternde europäische Bevölkerung ist nunmehr beispielsweise 25 26 27 28

Kommission, Solidarität, S. 4. Vgl. Kommission, Grünbuch, S. 5. Vgl. z.B. Cliquet, Second Demographic Transition. Mit ähnlichem Tenor stellt Jane Jenson fest: „Falling birth rates are a worldwide phenomenon. In the EU (as in most other OECD countries) fertility rates have been below the replacement level of 2.1 for several decades. But it is only in the last decade that a major

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Gegenstand eines Grünbuchs29, von Kommissionsmitteilungen30, europäischen Foren und ExpertInnenseminaren, Demografieberichten (seit 2007) und des 7. Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung geworden. Der Bedeutungszuwachs demografischer Aspekte in der EU-Politik mag erstens aus einem machtpolitischen Kalkül beeinflusst sein durch wachsende globale Herausforderungen der EU als Ganze etwa durch das ökonomische Erstarken von so genannten Schwellenländern wie Indien und China, die zudem bevölkerungsreich sind. Zweitens zeichnete sich zur Jahrtausendwende bereits die EU-Osterweiterung ab, die aus einem Europa der 15 zum 01. Mai 2004 ein Europa der 25 und zum 01. Januar 2007 ein Europa der 27 machte: In ökonomischer Hinsicht sind die Volkswirtschaften und Sozialsysteme der osteuropäischen Mitgliedsstaaten nach wie vor mit der Bewältigung des Transformationsprozesses befasst und weisen sehr hohe Arbeitslosenquoten auf, und in demografischer Hinsicht haben sie, wie gezeigt, seit dem politischen und ökonomischen Systemwechsel von sozialistischen zu postsozialistischen Gesellschaften noch niedrigere Geburtenraten als die übrigen EU-Mitgliedstaaten. Der rhetorische Duktus der analysierten Texte ist verhalten appellativ und suggeriert Aufbruch und Gestaltungswillen. In den zahlreichen Dokumenten ist beispielsweise die Rede von „Modernisierung“31, „Neuorientierung“32 bzw. Erneuerung und der Möglichkeit zu einem Wandel „von der Herausforderung zur Chance“33. Dabei geht es sowohl darum, die Folgen der demografischen Veränderungen zu bewältigen als auch darum, die Ursachen zu beseitigen, um die Trends der Alterung und Schrumpfung zu stoppen, evtl. sogar umzukehren. Hierzu setzt die Europäische Kommission wesentlich drei Prioritäten auf die transnationale politische Agenda, die miteinander verbunden sind: erstens, „wieder auf den Weg des demografischen Wachstums (zu) kommen“, zweitens die „Sicherstellung eines Gleichgewichts zwischen den Generationen“ und drittens die „Schaffung neuer Übergänge zwischen den Lebensabschnitten“34.

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political concern has taken shape.“ Jane Jenson, The European Social Model: Gender and Generational Equality, in: Anthony Giddens/Patrick Diamond/Roger Liddle (Hrsg.), Global Europe, Social Europe, Cambridge, Malden: Polity Press 2006, S. 151–171, S. 157. Das 2005 vorgelegte Grünbuch trägt den Titel „Angesichts des demografischen Wandels – eine neue Solidarität zwischen den Generationen“. Beispielsweise der Mitteilungen „Die demografische Zukunft Europas – Von der Herausforderung der Chance“ (Kommission, Die demografische Zukunft) und „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“ (Kommission, Solidarität). Z.B. ibid., S. 3. Z.B. ibid., S. 4. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 1. Kommission, Grünbuch, S. 12.

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5.  Demografisch und ökonomisch motivierte Appelle der EU an die politisch Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten und die Bevölkerung Im Zuge der Lissabon-Strategie sind auf EU-Ebene demografisch und ökonomisch motivierte Appelle an die politisch Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten und die Bevölkerung zu beobachten. Die auf Tagungen des Europäischen Rates auf den Weg gebrachte und weiter entwickelte Lissabon-Strategie beruht auf drei Pfeilern35: In ökonomischer Hinsicht soll der Übergang zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten und wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt gestaltet werden. Schwerpunkte dabei sind die Förderung von Forschung und Entwicklung und die laufende Anpassung an die Entwicklungen in der vermeintlich entstehenden Wissens- und Informationsgesellschaft. In sozialer Hinsicht soll die Vision das Europäischen Sozialmodells modernisiert werden durch Investitionen in Bildung und Ausbildung, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und eine aktive Beschäftigungspolitik. Schließlich soll in ökologischer Hinsicht Wirtschaftswachstum von der Nutzung der natürlichen Ressourcen entkoppelt werden. Die gesellschaftliche Vision der Lissabon-Strategie ist eine Wissens- und Informationsgesellschaft in Gestalt einer „learning society“36. Den Zusammenhang zwischen dem selbst erklärten Bestreben der EU, die EU zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und der demografischen Entwicklung benennt die Kommission klar: „Noch nie gab es Wirtschaftswachstum ohne Bevölkerungswachstum.“37 Dieser Zusammenhang wird in wirtschaftswissenschaftlichen Studien weitgehend bestätigt: Ein Bevölkerungsrückgang kann demnach nur dann ökonomisch und wohlstandspolitisch unproblematisch sein, wenn es gelingt, die ausfallende Nachfrage durch eine höhere Rate des sozioökonomischen und technischen Fortschritts und durch eine entsprechende Verschiebung und Zunahme der Nachfrage seitens der Konsumentinnen und Konsumenten zu kompensieren.38 Zudem wird in den Wirtschaftswissenschaften auch davon ausgegangen, dass die Lern- und Innovationsfähigkeit von Menschen im Laufe ihres Lebens abnimmt, sofern sie nicht durch lebenslanges Lernen und die reflexive Verarbeitung von Berufs- und Lebenserfahrungen fortlaufend ergänzt wird. In Zeiten raschen technischen und sozialen Wandels sei 35 Vgl. Europäische Union, Lissabon-Strategie, in: Europa-Glossar, ohne Ort: ohne Jahr, http://europa.eu/scadplus/glossary/lisbon_strategy_de.htm (01.09.2009). 36 Delanty/Rumford, Rethinking Europe, S. 114–116. 37 Kommission, Grünbuch, S. 5. 38 Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 63–71.

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deshalb die „Erneuerungsgeschwindigkeit“39 der erwerbstätigen Bevölkerung ein wichtiger Faktor für die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Vor allem die Jüngeren eigneten sich neue Technologien rasch an und interessierten sich für neue Tätigkeitsfelder. Eine Stagnation und erst recht ein langfristiges Schrumpfen der Bevölkerung beeinträchtige die Produktivitätsentwicklung zusätzlich auf mittelbare Weise, denn volkswirtschaftliche Studien belegten, dass Produktivitätsfortschritte umso größer ausfielen, je stärker ein Wirtschaftsbereich wüchse.40 Die Abnahme der (Erwerbs-)Bevölkerung ginge demnach mit einer abnehmenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Prosperität einher. Das Altern von Menschen und Gesellschaften wird auf EU-Ebene hingegen nicht mit einem generellen Verlust von Innovation und Produktivität gleichgesetzt, denn in der Steigerung der Beschäftigungsquote von älteren Arbeitnehmern sieht die Europäische Kommission einen Ansatzpunkt zur Bewältigung der „Herausforderungen des demografischen Wandels“41. Sie will nämlich die Agenda von Lissabon entschlossen umsetzen. Diese Agenda sieht vor, die Sozialschutzsysteme, insbesondere die Alterssicherung, zu modernisieren und die Beschäftigungsquote insbesondere von Frauen, Jugendlichen und älteren Arbeitnehmern zu steigern. Hinzu kommen Investitionen in das so genannte Humankapital sowie verstärkte Forschung, Innovation und Produktivitätssteigerung. Die wirtschaftswissenschaftlichen Einschätzungen zum Zusammenhang von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum scheinen auf EU-Ebene allerdings auf Zustimmung zu treffen, denn in bevölkerungspolitischer Hinsicht will die Kommission Maßnahmen zur Förderung der Geburtenrate ergreifen sowie kontrolliert auf die Zuwanderung zurückgreifen.42 Die Geburten fördernden Maßnahmen umfassen „verschiedenartige Strategien“, die die Absichten verfolgen, „i) die Ungleichheit der Chancen von Bürgern mit Kindern und ohne Kinder zu verringern, ii) einen allgemeinen Zugang zu Hilfsleistungen für Eltern zu bieten, insbesondere, was die Erziehung und Betreuung von Kleinkindern betrifft, iii) die Arbeitszeit so zu gestalten, dass Männern wie Frauen bessere Möglichkeiten für lebenslanges Lernen und die Vereinbarung von Privat- und Berufsleben geboten werden“43. Darüber hinaus sollen „wirksame Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter den Paaren eine erleichterte Familienplanung“44 ermöglichen. Hier ist verschiedentlich die Rede davon, dass 39 40 41 42 43 44

Ibid., S. 86. Ibid., S. 86–89. Kommission, Solidarität, S. 3. Vgl. Kommission, Grünbuch, S. 3. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 8. Ibid., S. 9.

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die Bedingungen für das Familienleben verbessert werden sollten und zwar „insbesondere durch Förderung der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben“45. In migrationspolitischer Hinsicht sollen „Elemente einer gemeinsamen Politik der legalen Immigration“46 entwickelt werden, die vor allem eine auf Beschäftigung gerichtete Immigration im Auge hätte, um den Bedürfnissen bestimmter Sektoren des Arbeitsmarkts zu entsprechen. Ergänzend sollten die Maßnahmen zur Integration von Bürgern aus Drittstaaten durch erhöhten Einsatz von Finanzmitteln verstärkt und Partnerschaften mit den Auswanderungsländern eingerichtet werden.47 Die demografisch und ökonomisch motivierten Appelle der EU an die politisch Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten und deren Bevölkerung basieren also auf der Annahme, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, deren Ressourcen und Potenziale für den Arbeitsmarkt in wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Hinsicht noch nicht ausgeschöpft und die mit einer ungleichen Chancenstruktur konfrontiert sind. Dabei unterscheiden sich die adressierten Gruppen und die an diese gerichteten Appelle voneinander: – Jugendliche, als „rare Ressource“48 bezeichnet, sollen durch Bildung und Ausbildung qualifiziert werden. Ziel ist die Förderung ihrer Beschäftigungsfähigkeit (employability), um sie für die wechselnden Anforderungen eines sich wandelnden europäischen Arbeitsmarkts im Zuge der vermeintlich entstehenden Wissens- und Informationsgesellschaft fit zu machen.49 – Junge Erwachsene, gemeint sind 25- bis 39-Jährige50, werden in zweifacher Hinsicht adressiert: Sie sollen (möglichst) qualifiziert erwerbstätig sein bzw. 45 46 47 48 49

Kommission, Solidarität, S. 3. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 13. Ibid., S. 13. Kommission, Grünbuch, S. 8. Jugend ist in der Sicht der Europäischen Kommission demografisch und ökonomisch vorteilhaft und insofern Bestandteil des gesellschaftlichen Kapitals. Dies wird beispielsweise auch deutlich im Vergleich der Altersstruktur Europas mit Schwellenländern und Entwicklungsländern: So wird nicht nur Europa ein Altern attestiert, sondern auch Schwellenländern wie China und Indien. Die Entwicklungsländer hingegen hätten demgegenüber einen „demografischen Vorteil“, nämlich „die aktiven jungen Menschen“, die sie in den Arbeitsmarkt integrieren könnten, wodurch sich für „die Europäer“ „rentable Investitionsmöglichkeiten“ bieten könnten. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 5. 50 Dieses Alter ist in demografischer Hinsicht interessant, denn es handelt sich bei diesem Zeitfenster um die Lebensphase, in der besser und hoch qualifizierte Frauen und Männer Familien gründen. Es ist aber auch in ökonomischer Hinsicht interessant, denn in der Altersspanne münden besser und hoch Qualifizierte in den Arbeitsmarkt ein und konsoli-

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werden und zugleich eine Familie gründen. Vor allem Frauen aus der Mittelschicht sind hier im Blickfeld, denn als Mütter gelten sie in der EU-Rhetorik als für den Arbeitsmarkt noch nicht ausgeschöpftes Humanpotenzial, und als Erwerbstätige sind sie auch diejenigen, deren realisierte Fertilität hinter den ökonomischen und sozialen Erwartungen zurückbleibt. – Ältere, sprich: über 55-jährige, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sollen zumindest über Teilzeiterwerbstätigkeit in den Arbeitsmarkt eingebunden bleiben. – Die wachsende Gruppe der Seniorinnen und Senioren schließlich soll sich im Zuge „aktiven Alterns“51 im Gemeinnützigen Sektor verdingen. Den Appellen, um Europa „wieder auf den Weg des demografischen Wachstums“52 zu bringen und die EU zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, gemeinsam ist eine „Wirtschafts- und Erwerbsarbeitsbezogenheit“53, die jedoch immer wieder auch mit einem Bezug auf herzustellende Chancengleichheit verknüpft wird. Erreicht werden soll diese Verknüpfung dadurch, dass die Erschließung bisher unausgeschöpfter Erwerbspotenziale über den Lebenslauf hinweg gefordert und gefördert wird. Im Fokus steht dabei ein adult worker model, ein Modell der allgemeinen Erwerbstätigkeit, wenngleich dieses offiziell nicht so benannt wird. Wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitisches Ziel der Lissabon-Strategie der EU ist also die „Aufwertung von Arbeit“54, wobei Arbeit hier Erwerbsarbeit meint. Dass sich die Appelle an fast alle Bevölkerungsgruppen richten und nur Kinder und Hochaltrige ausgenommen sind, ist also kein Zufall: Diese sind noch nicht oder nicht mehr interessant für die Orientierung an der allgemeinen Erwerbstätigkeit. Diejenigen, die nicht erwerbstätig sein können oder möchten, kommen in diesen Appellen allerdings ebenso wenig vor wie die ebenfalls gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeit im Privaten. Eine mögliche logische Konsequenz könnte darin liegen, konsequent jede gesellschaftliche Arbeit zu entlohnen, also auch die im Privaten verrichtete Haus- und Sorgearbeit. Dass dies jedoch nicht intendiert ist, zeigt die zugleich vorangetriebene Aufwertung von ehrenamtlicher Arbeit.

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dieren sich beruflich. In dem Alter werden also sowohl die Weichen für familiäre als auch für berufliche Karrieren gestellt. Z.B. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 10, 11. Kommission, Grünbuch, S. 12. Christiane Dienel, Eltern, Kinder und Erwerbsarbeit. Die EU als familienpolitischer Akteur, in: Sigrid Leitner/Ilona Ostner/Margit Schratzenstaller (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnis im Umbruch. Was kommt nach dem Ernährermodell?, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 285–307, S. 291. Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 9.

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6.  Die Stärkung und Ausweitung europäischer Familienpolitik als Antwort auf die demografische Herausforderung Wenngleich Familienpolitik zu den Politikbereichen in ausschließlich nationaler Zuständigkeit gehört, kommt im Zuge des seit der Jahrtausendwende verstärkt auf der EU-Agenda stehenden demografischen Wandels der Entwicklung familienfreundlicher Politiken auf EU-Ebene eine wachsende Bedeutung zu: Die Steigerung der Geburtenrate scheint aus Sicht der EU den zentralen Schlüssel zur Lösung der demografischen Herausforderung darzustellen. Infolgedessen wird auf EU-Ebene der Anspruch auf eine europäische Familienpolitik formuliert.55 Dieser Anspruch gründet sich auf der Vorstellung, dass ökonomische Wettbewerbsfähigkeit nicht ohne deren reproduktive Grundlegung im Privaten zu haben ist. Anders ausgedrückt: Ökonomische Wettbewerbsfähigkeit wird in dieser Sichtweise auch durch die Reproduktion der Arbeitskraft im privaten, in der Regel familiären, Raum gewährleistet, und zwar sowohl hinsichtlich der Familiengründung mit einer demografisch als ideal angesehenen Familiengröße mit mindestens zwei Kindern als auch hinsichtlich der so genannten Care-Arbeit. Der Care-Begriff umfasst so verschiedene Aspekte wie Betreuung der Kinder und der älteren Menschen sowie die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Damit rückt die Familie stärker in den Blickpunkt der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, und Familienpolitik wird als notwendige Ergänzung zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik angesehen. Demzufolge wird in der aktuellen, auch sozialpolitisch sensiblen EU-Rhetorik und den zugehörigen Handlungsstrategien sowohl in produktions- als auch reproduktionsbezogenen Fragen auf demografische Perspektiven verwiesen. Die Forderung nach der Berücksichtigung von Familienbelangen in der Weiterentwicklung der europäischen Politiken ist nicht neu, wenngleich die ursprünglichen vertraglichen Grundlagen der EU die Familie nicht kennen, denn Familienpolitik fällt zunächst einmal ganz klar und ausschließlich in nationalstaatliche Kompetenz. Als Ausgangspunkt der sich in enger Verknüpfung mit der Gleichstellungspolitik sukzessiv ausweitenden europäischen Familienpolitik kann das in den Römischen Verträgen verankerte Prinzip angesehen werden, dass Männer und Frauen gleich entlohnt werden sollen. Ursprünglich ausschließlich auf die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt bezogen, setzt sich in der Gleichstellungspolitik der EU zunehmend die Ansicht durch, dass die gleiche Entlohnung der Geschlechter auch einen Beitrag zur Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Privaten leistet und möglicherweise auch demografisch relevant ist. 55 Vgl. Dienel, Eltern, Kinder und Erwerbsarbeit, S. 290.

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Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Argumentation von Marianne Rodenstein, Stephanie Bock und Susanne Heeg, die die Stabilität der (ungleichen) geschlechtlichen Arbeitsteilung im Privaten als einen wesentlichen Grund für die „Krise der Reproduktionsarbeit“ ansehen: Immer mehr Frauen reagierten auf die weiterhin an sie gestellten Reproduktionsarbeitsverpflichtungen mit einer Veränderung der Reproduktionsformen. Eine Möglichkeit der Veränderung der Reproduktionsformen ist nach Rodenstein und anderen die „bewusste Reduzierung des Umfangs der Reproduktionsarbeit“, beispielsweise durch die Verringerung der Kinderzahl56 – oder gar durch den Verzicht auf Kinder. Werden Frauen jedoch Mütter, so zeigen familiendemografische und geschlechtersoziologische Studien, dass die Geburt des ersten Kindes häufig in Partnerschaften re-traditionalisierend hinsichtlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Privaten wirkt. Die in Zeiten ohne Kind(er) gar nicht mehr so selten praktizierte egalitäre Arbeitsteilung im Privaten scheint der Gefahr des Vergessens ausgesetzt, wenn das Paar plötzlich zu dritt ist. Nur selten geht die Familiengründung mit der Fortsetzung der egalitären Arbeitsteilung im Privaten einher.57 Als ein wichtiges Argument, wer sich um den Nachwuchs kümmert und die Erwerbstätigkeit reduziert oder gar gänzlich zu Hause bleibt, sehen die (werdenden) Mütter und Väter das Einkommen an. Da zumeist Frauen weniger als Männer verdienen, ist es fast selbstverständlich, dass sie die unbezahlte Sorgearbeit für das Kind und, einmal zu Hause, auch gleich weitere Arbeiten im Privaten übernehmen. Selbst wenn ein wachsender Anteil an jungen Männern durchaus gern mehr Zeit mit dem Nachwuchs verbringen möchte, so betrifft dies in der Regel nicht die sonstigen Arbeiten im Privaten. Ausgehend vom Prinzip der Lohngleichheit der Geschlechter entfalteten sich auf europäischer Ebene vielfältige Anstrengungen zur Verwirklichung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, in deren Umfeld bereits in den 70er Jahren Bemühungen zu beobachten waren, Ansätze von Familien- und Kinderbetreuungspolitik zu entwickeln. Diese erfolgten unter dem sich im politischen Prozess inhaltlich verändernden Etikett der ‚Vereinbarkeit von Beruf und Familie‘58.

56 Marianne Rodenstein/Stephanie Bock/Susanne Heeg, Reproduktionsarbeitskrise und Stadtstruktur. Zur Entwicklung von Agglomerationsräumen aus feministischer Sicht, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Agglomerationsräume in Deutschland. Ansichten, Einsichten, Aussichten, Hannover: ARS 1996, S. 26–50, S. 33. 57 Vgl. Anneli Rüling, Jenseits der Traditionalisierungsfallen. Wie Eltern sich Familienund Erwerbsarbeit teilen, Frankfurt a.M., New York: Campus 2007. 58 Vgl. George Ross, Europe: An Actor without a Role, in: Jane Jenson/Mariette Sineau (Hrsg.), Who Cares? Women’s Work, Childcare, and Welfare State Redesign, Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 2001, S. 177–213; Stratigaki, Gender Concepts.

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Ross59 zeigt zudem überzeugend auf, dass unter Bezugnahme auf Artikel 119 der Römischen Verträge, der das Prinzip der Lohngleichheit der Geschlechter auf die Agenda setzt, die Anfänge europäischer Aktionen in den Bereichen von Familienund Kinderbetreuungspolitik mit der ökonomischen Krise Anfang der 80er Jahre zusammentrafen. Frauen sollten nämlich durch entsprechende politische Maßnahmen darin unterstützt werden, Erwerbsarbeit mit familiären Verantwortungen zu vereinbaren, und institutionelle Regelungen zur Kinderbetreuung galten als ein wichtiger Schritt zur Herstellung gleicher Arbeitsmarktchancen für Frauen. Im Umfeld der ökonomischen Krise, die bereits in den 80er Jahren das fortschreitende Altern der Arbeitskräfte, aber auch der vorhersehbaren Kostensteigerung in den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen bei zugleich abnehmender Erwerbsbevölkerung verdeutlichte, fanden demografische Fragen wieder einen Platz auf den Agenden einiger EU-Mitgliedstaaten. Infolgedessen erstarkte in einigen Mitgliedstaaten eine pronatalistische Familienpolitik, die auf die Steigerung der Geburtenrate zielte. In dieser lag jedoch aus Sicht der Kommission die Gefahr, dass Frauen wieder vom Arbeitsmarkt verdrängt werden würden: „Pro-natalism, of course, could provide arguments for measures to remove women from the labour force altogether, and this prospect provided another reason for institutions that were constitutionally committed to equal opportunities to develop new ways of arguing the cause. The beginnings of European action in the general area of family and childcare policy issues thus coincided with the economic crises.“60

Im Zusammenhang mit dieser Krisenstimmung kann wohl auch eine schließlich erfolgreiche Aktivität des Europäischen Parlaments gedeutet werden, die zur Entwicklung einer europäischen Familienpolitik beitrug: Auf Druck des Europäischen Parlaments im Jahr 1983 setzte die Europäische Kommission im Jahr 1989 unter der Präsidentschaft Delors’ die Europäische Beobachtungsstelle für Nationale Familienpolitik ein, die seither zu einer Plattform des europäischen Austausches über familienpolitische Fragen wurde. Ihre Anbindung wechselte mehrfach von Paris über Leuven und York bis zum Österreichischen Institut für Familienforschung in Wien. Seit 1998 wird diese Beobachtungsstelle aus EUMitteln zur Statistik finanziert und widmet sich zunehmend demografischen Fragen.61 In der aktuellen Argumentation der Europäischen Kommission wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die Kinderwünsche junger Frauen und Männer in Europa generell deutlich über dem tatsächlich realisierten Geburtenniveau lä59 Ross, Europe, S. 184–185. 60 Vgl. ibid., S. 185. 61 Vgl. Dienel, Eltern, Kinder und Erwerbsarbeit, S. 293–294.

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gen.62 Entsprechende Daten verdeutlichen auch, dass die Lücke zwischen der genannten Idealgröße der Familie und der tatsächlichen gegenwärtigen Größe von Familien wächst. Die Politik der EU reagiert darauf mit Bestrebungen, entsprechende Rahmenbedingungen für die Realisierung der Kinderwünsche zu schaffen – in der Annahme oder zumindest Hoffnung, dass diese Wünsche dann realisiert und die Geburtenraten steigen würden. Jane Jenson zeigt sich skeptisch bezüglich dieser Annahme, denn die Daten könnten auch anders gedeutet werden. Die wachsende Differenz zwischen der in Befragungen gewünschten und der realisierten Kinderzahl könnte auch darauf verweisen, dass die Fähigkeiten von Frauen stiegen, Geburten zu vermeiden statt dass sie abnähmen, Kinderwünsche zu realisieren.63 Untersuchungen zeigten zudem, dass etwa die Hälfte der Frauen in ihrer fertilen Phase die Kinderzahl realisierte, die sie wünschte, ungefähr ein Drittel bekäme weniger Kinder als gewünscht, und ungefähr 10 bis 15 Prozent der Frauen bekämen mehr Kinder, als sie wünschten.64 Hinzuzufügen ist zudem, dass bei derartigen Befragungen das Problem sozial erwünschter Antworten nicht ausgeschlossen werden kann: Immerhin gibt das Leitbild der bürgerlichen Familie nach wie vor keine Ein-Kind-Familie vor, sondern geht zumindest von zwei Kindern aus. Zugleich ist auch bekannt, dass der so genannte Baby-Schock nach dem ersten Kind durchaus zur Revision eines zuvor bestehenden weiteren Kinderwunsches führen kann. So als würden derartige sozialwissenschaftliche Problematisierungen in der EU-Rhetorik kaum auf Resonanz treffen, steht die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz oben auf der Agenda europäischer familienfreundlicher Politik, wobei damit in erster Linie die Vereinbarkeit in Bezug auf die Sorge für die nachfolgende Generation gemeint ist. Zu den konkreten Maßnahmen gehören ein Rechtsrahmen für den Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen und neue Regelungen zum Mutterschaftsurlaub65 sowie konkrete 62 Vgl. Maria Rita Testa, Childbearing Preferences and Family Issues in Europe. Special Eurobarometer 253, Brüssel: Europäische Kommission 2006. 63 Jane Jenson führt nicht weiter aus, wie dieser Satz zu verstehen ist. Dem Kontext ihrer Ausführungen ist aber zu entnehmen, dass sie dabei an sich erweiternde Möglichkeiten von Frauen denkt, ihren Lebensstil frei zu wählen. Dies beinhaltet keineswegs nur den leichteren Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern vor allem auch veränderte Werthaltungen in Partnerschaftsmodellen, in denen die Entscheidung für oder gegen eine Familiengründung das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen zwei gleichberechtigten Partnern ist. Ein Leben mit Kindern ist demnach ein möglicher Lebensstil von Frauen (und Männern), aber nicht der einzige. 64 Vgl. Jenson, European Social Model, S. 159. 65 Die Europäische Kommission stellte am 03. Oktober 2008 einen Vorschlag zur Überarbeitung der Mutterschutzrichtlinie vor, der unter anderem vorsieht, die Mindestdauer des Mutterschaftsurlaubs von 14 auf 18 Wochen anzuheben und davon 6 Wochen zwin-

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Zielsetzungen für die Kinderbetreuung. Der Fokus auf die Steigerung der Geburtenrate ist unverkennbar, denn die Sorge für die vorangehende(n) Generation(en) fristet im Kontext der Vereinbarkeitsproblematik noch ein Schattendasein: Die Übernahme von Pflegeaufgaben für Ältere spielt in den Rhetoriken zur Vereinbarkeit bisher allenfalls eine untergeordnete Rolle. Flankiert werden soll diese familienfreundliche, sprich: pronatalistische, Politik durch die Förderung des Zugangs zu Wohnraum, die Förderung der Beschäftigung und Einkommen von Alleinerziehenden und entsprechende Sozialleistungen. Auf dem Frühjahrsgipfel der Europäischen Union im März 2007 in Brüssel verständigten sich die Staats- und Regierungschefs auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft schließlich auf die Gründung einer „Europäischen Allianz für die Familie“. Diese Allianz soll zunächst als eine Plattform für den Meinungs- und Informationsaustausch hinsichtlich familienfreundlicher Maßnahmen und bewährter Verfahren der Mitgliedsstaaten dienen. Kooperationen sowie fruchtbares Lernen voneinander sollen so befördert werden. Hierzu wurde ein Webportal entwickelt.66 Erst noch zu erforschen wäre, was diese Allianz bisher faktisch tut und welche Interessen sie wie bedient. Fest steht allerdings, dass sie durch die Einrichtung einer hochrangigen Gruppe von Regierungssachverständigen für Fragen der Demografie ergänzt wird. Eingerichtet werden soll auch eine Beobachtungsstelle für bewährte Verfahren auf familienpolitischem Gebiet. Unterstützt werden sollen diese politischen Initiativen durch die Vertiefung von Forschungsarbeiten zu Fragen der Demografie und zum Thema Familien, etwa durch Förderung aus dem 7. Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung.67 Die EU weiß selbstverständlich um die unterschiedlichen familienpolitischen Modelle in den einzelnen Mitgliedstaaten und um die Tatsache, dass Familienpolitik zu den Politikbereichen in ausschließlich nationaler Zuständigkeit gehört. Die Europäische Kommission betont jedoch, dass die Lissabon-Strategie Rahmenbedingungen für die Modernisierung der Familienpolitik durch Förderung der Chancengleichheit und insbesondere der Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs-, Familien- und Privatleben böte.68 Darin sieht sie einen Beitrag zur Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die nicht nur im Zuge der europäischen Gleichstellungspolitik, sondern auch im Zuge der Bewältigung des degend nach der Entbindung vorzuschreiben. Zudem empfiehlt der Vorschlag, den Frauen während dieser Zeit 100 Prozent ihres Arbeitsentgelts zu zahlen. Bis zum Zeitpunkt der Endbearbeitung dieses Aufsatzes im Dezember 2009 war hierüber keine Entscheidung gefällt. 66 Vgl. http://ec.europa.eu/employment_social/emplweb/families/index.cfm (28.08.2009). 67 Vgl. Kommission, Solidarität, S. 8–9. 68 Ibid., S. 6.

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mografischen Wandels von Interesse ist. Interessant ist, wie hier der wirtschaftsund beschäftigungspolitische Auftrag und die seit den Römischen Verträgen auf der europäischen Agenda verankerte Chancengleichheitsfrage, jetzt dargestellt als Ermöglichung der Partizipation von Frauen und Müttern am Arbeitsmarkt, nunmehr dazu genutzt werden, familienpolitische Fragen in den Zuständigkeitsbereich der EU zu integrieren. Diese Positionierung könnte als Hinweis gedeutet werden, dass auf der europäischen Ebene, mit Rückenwind durch die gegenwärtige demografische Sensibilität, erneut eine Sichtweise Raum zu greifen beginnt, die die EU als transnationalen Wohlfahrtsstaat betrachtet. Die Förderung der Solidarität zwischen den Generationen ist dabei erklärtes Ziel. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass normative Argumente allein die Stärkung politischer Strategien zur Förderung der Chancengleichheit in der europäischen Sozialpolitik bisher nicht herbeiführen konnten. Weitaus wirkungsmächtiger erscheinen hingegen demografische Argumente. Die mit ihnen verbundenen Wirkungsmacht geht allerdings mit einer „Demographisierung gesellschaftlicher Probleme“69 einher: So wird von der einen Seite argumentiert, dass beispielsweise ein Mehr an Geschlechtergleichheit und Solidarität zwischen den Generationen unbedingt sozialpolitisch realisiert werden müsse, um den Herausforderungen des demografischen Wandels adäquat zu begegnen, während die andere Seite den demografischen Wandel als Begründung für den Um- und Rückbau sozialpolitischer Errungenschaften heranzieht.

7.  Gleichstellung von Männern und Frauen als Bedingung für eine „neue Solidarität der Generationen“ Die demografische Alterung führt nach Ansicht der Europäischen Kommission zu einem komplexeren Gefüge von solidarischen Beziehungen zwischen den Generationen als früher: Junge Erwachsene lebten heute länger bei ihren Eltern, während diese immer häufiger abhängige ältere Menschen unterstützten. Die sich daraus ergebenden Belastungen seien zwischen den Generationen und den Geschlechtern ungleich verteilt: „Die (...) Belastungen tragen vor allem die junge oder mittlere Generation und hauptsächlich Frauen.“70 Die Kommission schlussfolgert, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen und die Chancengleich69 Diana Hummel, Demographisierung gesellschaftlicher Probleme? Der Bevölkerungsdiskurs aus feministischer Sicht, in: Peter A. Berger/Heike Kahlert (Hrsg.), Der demographische Wandel. Chancen für die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, Frankfurt a.M., New York: Campus 2006, S. 27–51, S. 27. 70 Ibid., S. 3.

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heit im Allgemeinen somit wesentliche Bedingungen dafür seien, dass ein neuer Solidaritätsvertrag zwischen den Generationen geschlossen werden könne. Die Akzentuierung, dass die Gleichstellung der Geschlechter und allgemeine Chancengleichheit einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung des demografischen Wandels leisten, ist aus deutscher Perspektive bemerkenswert, denn zumindest in der konservativ geprägten öffentlichen, auch medial weit verbreiteten Meinung werden die seit den 60er Jahren steigenden Ansprüche von Frauen auf Gleichstellung als eine Ursache für den Geburtenrückgang angesehen.71 Mit dieser Akzentuierung knüpft die Kommission zum einen an ihre lange Tradition an, die Förderung der Beschäftigung mit der Gleichstellung und Chancengleichheit der Geschlechter zu verbinden72, und auch in Fragen allgemeiner Chancengleichheit, die gegenwärtig unter dem Stichwort Diversität diskutiert werden, Weg weisend zu sein.73 Zum anderen greift die Kommission damit auch auf Erfahrungen der nordischen Länder sowie Frankreichs zurück, die bereits seit längerem den Weg verfolgen, konsequent die Erwerbsbeteiligung von Frauen und die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben zu fördern: „Bei einem empirischen Vergleich ergibt sich jedenfalls, dass die Länder, die umfassende Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung eingeleitet, die integrierte Systeme von Dienstleistungsangeboten und individuellen Ansprüchen auf Elternurlaub für Männer wie für Frauen aufgebaut, in die Qualität der Kinderbetreuungsleistungen investiert und eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung begünstigt haben, im allgemeinen hohe Werte bei den Geburtenziffern wie bei der Beschäftigung von Frauen aufweisen.“74

Die nordischen Länder und Frankreich gehören in Europa nicht nur zu denjenigen, in denen die Erwerbsbeteiligung von Frauen am höchsten ist. Sie gehören auch zu denjenigen, die Geburtenziffern aufweisen, die nur geringfügig unter dem demografisch für die Bestandserhaltung relevanten Niveau liegen. Eine ver71 Diese Haltung spiegelt das durch reale Entwicklungen längst überkommene traditionelle Ernährermodell wider, das den sozialen Ort und die mit diesem verknüpften Aufgaben der Frauen in der Familie sieht. Die Abkehr von dieser Orientierung ginge demnach mit einem Verzicht auf Kinder einher, denn eine Vereinbarkeit beider Bereiche wird, zu Recht, als individuell schwer zu lösendes Problem erkannt. Dass das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein strukturelles Problem ist, das zudem beide Geschlechter betrifft, wird in dieser Sichtweise ausgeblendet, 72 Vgl. als Überblick: Uta Klein, Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. 73 Vgl. Mieke Verloo, Multiple Inequalities, Intersectionality and the European Union, in: European Journal of Women’s Studies 13 (2005) Heft 3, S. 211–228. 74 Kommission, Solidarität, S. 5–6.

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gleichsweise niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen, wie beispielsweise in den mediterranen Mitgliedstaaten, geht hingegen zugleich auch mit einer niedrigen Geburtenrate einher. Wenn auch kontextuell anders eingebettet, zeigt sich dieser Zusammenhang ebenfalls in den osteuropäischen Mitgliedstaaten, in denen die sinkende Erwerbsbeteiligung von Frauen mit einem Sinken der Geburtenrate einhergeht. Unberücksichtigt bleibt in den Ausführungen der Kommission, dass die hohe Frauenerwerbsbeteiligung in den nordischen Ländern um den Preis eines „extraordinarily gender segregated employment“75 verwirklicht wurde. Mit expliziter Ausrichtung auf die Gleichstellung der Geschlechter weiteten die nordischen Länder die öffentlichen sozialen Dienste massiv aus und produzierten unbeabsichtigt neue Ungleichheiten: „The welfare state became a female labour market, providing good pay and the kind of job security and flexibility that makes careers compatible with having children. (...) The creation of a cushioned ‚soft economy‘ in the Nordic countries helped women to realize their preferred fertility level but at the expense of a virtual female employment ghetto.“76

Die Gleichstellung der Geschlechter wird in der EU-Politik ähnlich wie im nordischen Modell wesentlich als Angleichung von Frauen und Männern verfolgt. Das zugrunde liegende Frauenleitbild ist das der erwerbstätigen Mutter. Vernachlässigt werden in dieser normativen Orientierung andere Lebensentwürfe von Frauen, nämlich ein auf die berufliche Karriere orientiertes Leben ohne Kind(er) und ein auf die Familie orientiertes Leben mit Kind(ern). In der EU-Logik gedacht ist die Vernachlässigung dieser beiden Lebensentwürfe konsequent, denn in der Verknüpfung von ökonomischer und demografischer Sicht soll die Doppelorientierung von Frauen auf eine möglichst hoch qualifizierte Erwerbstätigkeit und ein Leben mit (möglichst mindestens zwei) Kindern gefördert werden. Zwar wird das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor allem als ein Problem von Frauen vorgestellt und damit die mit der Generativität verbundene Differenz der Geschlechter affirmiert. Dies wird in folgendem Zitat deutlich: „Regelungen, die eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zum Ziel haben, ersparen es den Frauen, eine Wahl zwischen einer Berufskarriere und der Qualität ihres Familienlebens treffen zu müssen. Dadurch tragen sie dazu bei, dass sowohl Familienprojekte verwirklicht werden wie auch Frauen eine Beschäftigung finden.“77 75 Gøsta Esping-Andersen, A New Gender Contract, in: Gøsta Esping-Andersen with Duncan Gallie/Anton Hemerijck/John Myles, Why We Need a New Welfare State, Oxford, New York: Oxford University Press 2002, S. 68–95, S. 74. 76 Ibid., S. 74–75. 77 Kommission, Solidarität, S. 6, Herv. H.K.

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Zugleich ist aber die Notwendigkeit, im Interesse der Gleichstellung die geschlechtliche Arbeitsteilung auch im Privaten verändern zu müssen, durchaus im Blick, wie die bemerkenswerte Fortsetzung des Zitats der Kommission verdeutlicht: „Entsprechend dient die Verringerung der Unterschiede bei der Entlohnung von Männern und Frauen auch als Anreiz für eine ausgewogenere Verteilung der Verantwortlichkeiten in Familie und Haushalt.“78

Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern wird damit inzwischen als ein Beitrag vorgestellt, um sowohl die Partizipation von Frauen an der Erwerbsarbeit zu steigern und sie damit stärker als bisher in den Arbeitsmarkt zu integrieren als auch um die Partizipation von Männern an der Haus- und Sorgearbeit zu erhöhen und sie damit stärker als bisher in die Familienarbeit zu integrieren. Das hier zum Ausdruck kommende Männerleitbild enthält folglich ebenfalls die Erwerbstätigkeit und eine neu bestimmte aktive Vaterschaft, die auch die Hausarbeit nicht scheut. Das Familienleitbild der EU verabschiedet sich folglich vom traditionellen Ernährermodell und stellt das adult worker model einer Zwei-Verdiener-Familie als europäische Familie der Gegenwart und Zukunft vor, wobei offen bleibt, ob das von Mann und Frau erarbeitete Einkommen in Vollzeit- oder in Teilzeitbeschäftigung erwirtschaftet werden soll. Dieses Familienmodell soll die Autonomie aller Mitglieder stärken und Frauen- und Kinderarmut abbauen helfen. Es basiert auf Gleichheit zwischen den Familienmitgliedern: zwischen Frauen und Männern und zwischen Eltern und Kindern. Diese Gleichheit wird rechtlich durch Gleichstellungsgesetze und Kinderrechte79 garantiert. In dieser auf Solidarität zwischen den Generationen zielenden Politik spielen die Investitionen in Kinder und ihre Kindheit eine große Rolle. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen institutionellen Kinderbetreuung diskutiert. Diese kann nämlich nach Gøsta EspingAndersen80 nicht nur das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie lösen, 78 Ibid. 79 Mary Daly interpretiert die Entwicklung hin zu Kinderrechten als Manifestation eines Trends zur Individualisierung, macht aber noch drei weitere Wurzeln aus: eine allgemeine Anerkennung von Kindern als Handelnden, ein Interesse am Wohlergehen von Kindern und die wachsende Bedeutung von sozialer Nachhaltigkeit. Mary Daly, Changing Conceptions of Family and Gender Relations in European Welfare States and the Third Way, in: Jane Lewis/Rebecca Surender (Hrsg.), Welfare State Change. Towards a Third Way?, Oxford: Oxford University Press 2004, S. 135–154, S. 139. 80 Gøsta Esping-Andersen, Against Social Inheritance, in: Policy Network, Progressive Futures. New Ideas for the Centre-Left, London: Policy Network 2003, S. 127–151, S. 141–151.

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sondern auch einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Lebenschancen von Kindern zu verbessern und damit soziale Ungleichheit abzubauen. Begründet wird diese Argumentation damit, dass die wichtigste kognitive Entwicklungsphase eines Menschen im Vorschulalter läge. Erfahrungen aus den nordischen Ländern zeigten, dass mit einer umfassenden Tagesbetreuung für Kinder im Vorschulalter die bisher übliche Vererbung von sozialer Ungleichheit durchbrochen werden könnte. Das hier aufscheinende ebenfalls in den nordischen Ländern entwickelte Leitbild der „demokratischen Familie“81 stellt Beziehungen zwischen den so gleich gestellten Familienmitgliedern als geprägt von wechselseitigem Respekt und Gewaltfreiheit und beruhend auf Kommunikation vor. Dieses Familienbild orientiert sich an egalitären Werten und Normen und repräsentiert selbstredend nicht die Realitäten aller europäischen Familien. Seine Funktion als Leitbild für das Europäische Sozialmodell ist im Kontext der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der EU dennoch bedeutend, denn diese so vorgestellte Familie soll zwischen den Individuen und der Gesellschaft vermitteln und die Solidarität zwischen den Generationen fördern. Sie ist damit ein wesentlicher Bestandteil des angestrebten neuen „Generationenpakts“82. Die damit zum Ausdruck kommende Verknüpfung der Förderung von Beschäftigung und Chancengleichheit basiert auf einer allgemeinen Erwerbsorientierung mit individualistischen Wertsetzungen, die bis in die Familien hineinreichen. Die in der EU angestrebte Informations- und Wissensgesellschaft ist also eine post-industrielle Erwerbsarbeitsgesellschaft. In dieser ist die bisher am Modell des männlichen Ernährers ausgerichtete Familie kontraproduktiv für die entstehende Gesellschaftsordnung. Folglich soll und muss die Bedeutung von Frauen gestärkt werden, auch in Anbetracht des hohen Anteils an allein erziehenden Müttern.83 Frauen und Männer sind in dieser Auffassung ökonomisch voneinander unabhängige erwerbstätige Staatsbürgerinnen bzw. ‑bürger mit gleichen Rechten und Pflichten auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie. Dieses Modell basiert zugleich auf einer Defamilialisierung von Frauen und insbesondere Müttern84 und einer angestrebten und politisch geförderten Refamilialisierung von Männern, deren Weg in die Familie faktisch bisher jedoch institutionell durch Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsmarkts und zum 81 Jenny Ahlberg/Christine Roman/Simon Duncan, Actualizing the „Democratic Family“? Swedish Policy Rhetoric versus Family Practices, in: Social Politics 15 (2008) Heft 1, S.  79–100, S. 79; vgl. Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 203–207. 82 Kommission, Die demografische Zukunft Europas, S. 9. 83 Vgl. Esping-Andersen, Against Social Inheritance, S. 135. 84 Vgl. Daly, Changing Conceptions, S. 143–144.

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Teil am männlichen Ernährermodell orientierte Sozialgesetzgebung erschwert und sozial keineswegs nur positiv sanktioniert wird.85 Mary Daly bezeichnet diese Entwicklung als „a move towards gender neutrality“86. Staaten mit anderen familien- und geschlechterpolitischen Leitbildern, etwa von Wahlfreiheit zwischen Vollzeit-, Teilzeit- oder gar keiner Erwerbstätigkeit für einen – in der Regel den weiblichen – Elternteil, erhalten durch diese europäische Beschäftigungs- und Familienpolitik aktive Anreize, ihre Familien- und Geschlechterleitbilder zu modernisieren. Die allgemeine Erwerbsorientierung und damit verbundene Gleichstellung wie Angleichung der Geschlechter in der europäischen Familienpolitik ist für die Frauen und Männer zu begrüßen, die erwerbstätig sein wollen und können. Was aber ist mit denjenigen Frauen und Männern, die diesem Leitbild nicht entsprechen wollen oder können, beispielsweise weil sie eine starke Familienorientierung aufweisen und ihre Erfüllung in der gesellschaftlich ebenfalls notwendigen Hausund Sorgearbeit sehen? Faktisch spielen traditionelle familienpolitische Orientierungen nur noch in Randbereichen der EU-Politik eine Rolle.87 Es fällt zudem auf, dass die Familie des adult worker model wesentlich aus zwei Generationen besteht, nämlich aus Eltern und nicht erwachsenen Kindern. Die „neue Solidarität der Generationen“ ist also wesentlich auf die Kernfamilie beschränkt und meint die Solidarität zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Eltern und Kindern. Die vorangehende Generation der Großeltern kommt in diesen Überlegungen nicht vor. Dieser Leerstelle gehe ich nun abschließend nach. Dabei steht die Frage im Fokus, was es mit der von der EU proklamierten Lebenslauforientierung auf sich hat und in welchem Zusammenhang diese zur „vergangenen Zukunft“ des Europäischen Sozialmodells steht.

8.  Die „neue Solidarität der Generationen“ im Europäischen Sozialmodell – nur für (potenziell) Erwerbstätige? Festzuhalten ist, dass auf der europäischen Ebene eine Neujustierung im Verhältnis von Familie, Staat und Markt im Gange ist. Wenngleich hierbei der Fokus auf den Markt gerichtet ist, also ökonomische und beschäftigungspolitische Fragen dominieren, bleiben die beiden anderen Institutionen des Wohlfahrts85 Ibid., S. 137–139; vgl. ähnlich Birgit Sauer, „Es rettet uns (k)ein höh’res Wesen...“. Neoliberale Geschlechterkonstrukte in der Ära der Globalisierung, in: Brigitte Stolz-Willig/ Mechthild Veil (Hrsg.), Es rettet uns kein höh’res Wesen. Feministische Perspektiven der Arbeitsgesellschaft, Hamburg: VSA 1999, S. 215–239, S. 233. 86 Daly, Changing Conceptions, S. 144. 87 Vgl. Dienel, Eltern, Kinder und Erwerbsarbeit, S. 304–305.

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dreiecks nicht unberührt. Im Zuge der Umsetzung der Lissabon-Strategie erfasst die Transformation von Staatlichkeit dabei sowohl die EU-Ebene als auch die Ebene der europäischen Nationalstaaten. Das hier diskutierte Beispiel einer entstehenden europäischen Familienpolitik als notwendige Ergänzung zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der EU verdeutlicht, dass die EU selbst sich als entstehender europäischer Wohlfahrtsstaat zu positionieren beginnt, wenngleich die ausschließlich nationale Zuständigkeit für sozialpolitische Fragen und die diesbezügliche Autonomie der Nationalstaaten, hier eigene Wege zu beschreiten, wiederholt bestätigt wird. Das Beispiel der anvisierten europäischen Familienpolitik belegt auch, welche Bedeutung dabei der Entwicklung eines gemeinsamen familienpolitischen Leitbilds jenseits der zum Teil davon abweichenden nationalen familienpolitischen Leitbilder zukommt: Die Lissabon-Strategie wird genutzt, um ein gemeinsames transnationales Europäisches Sozialmodell zu konturieren. Die Ausführungen zur familienpolitischen Ausrichtung der EU, die hier in Bezug zur Ver- und Behandlung der demografischen Frage auf EU-Ebene diskutiert wurde, zeigen zudem, dass die Zentrierung auf Ökonomie und (Arbeits-)Markt flankiert wird durch eine Integration der Lebenslaufperspektive. Diese drückt sich aus im expliziten Bezug der demografisch und ökonomisch inspirierten Appelle an verschiedene Bevölkerungsgruppen und eine hohe Aufmerksamkeit für die verschiedenen Altersphasen und die mit diesen vermeintlich verbundenen Aufgaben und Möglichkeiten im Rahmen der angestrebten „neuen Solidarität der Generationen“. Aus einer ungleichheitssoziologisch informierten Perspektive ist allerdings zu fragen, inwiefern diese Bezugnahme die Verwirklichung von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit in Europa voranbringen kann. Mit Blick auf die generationelle Dimension stellt sich die Lebenslaufperspektive als defizitär dar: Ausführlich in den Blick genommen werden die Lebensphasen der Kindheit, der Jugend und des Erwachsenseins bis zum Eintritt in die Nacherwerbsphase. Seniorinnen und Senioren finden vor allem Erwähnung als Sozialgruppe, die ehrenamtlich tätig werden kann – vorausgesetzt, sie sind dazu gesundheitlich in der Lage, und Hochaltrige geraten nur noch als Problemgruppe, die sozial zu versorgen ist, in den Blick. Der Fokus auf Erwerbsarbeit ist also unverkennbar: Im Blick sind die Erwerbsfähigen und die potenziell Erwerbsfähigen (Kinder, Jugendliche, Frauen und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer), die beginnend mit frühzeitiger qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung über Bildung und Qualifizierung für Jugendliche und die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Herausforderungen der entstehenden europäischen Informations- und Wissensgesellschaft fit gemacht werden sollen. Die entsprechenden Vorstellungen und Maßnahmenvorschläge zur sozialen Integration der genannten Gruppen sind diesbezüglich eindeutig und weit reichend. Große Bedeutung kommt dabei der Förderung der

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Gleichstellung und Chancengleichheit von Männern und Frauen im Hinblick auf die Erwerbs- und Familienarbeit zu, in der zugleich eine Lösung des Fertilitätsdefizits gesehen wird. Diese Form der egalitären Solidarität der Geschlechter ist in der Tat neu für ein gesamteuropäisch ausgerichtetes Sozialmodell. Die auf der europäischen Ebene beförderte Neuordnung der Geschlechterverhältnisse könnte also durch den demografischen Wandel Rückenwind bekommen und auch in den Mitgliedstaaten verstärkt auf Gehör treffen, die sich bisher gegenüber den EUpolitischen Gleichstellungsanstrengungen verhalten gezeigt haben. Die klare Orientierung der praktizierten und geplanten europäischen Familienpolitik auf Beschäftigung und Erwerbsarbeit lässt jedoch offen, wie die bisher vor allem von Frauen unbezahlt geleistete Sorge und Pflege für die Älteren, die nicht mehr Erwerbsfähigen, organisiert werden soll, wenn dank der Zwei-Verdiener-Familie alle erwachsenen Familienmitglieder Vollzeit erwerbstätig sind. Diesbezüglich ist die angestrebte „Sicherstellung eines Gleichgewichts zwischen den Generationen“88 und die angestrebte Orientierung an einem am Lebenszyklus ausgerichteten Ansatz noch unvollständig. Nimmt man den Blick auf den Lebenslauf ernst, so hört dieser nicht mit dem Ende des Erwerbslebens auf. Jane Jenson erinnert daran, dass angesichts des demografischen Wandels Geschlechtergleichheit nicht ohne Generationengleichheit möglich ist: „Rising life expectancy rates and falling birth rates, as well as transformations in family forms, all raise new challenges about how to ensure intergenerational equity and also promote gender equality.“89 In der EU-europäischen Rhetorik von der „neuen Solidarität der Generationen“ ist die Herausforderung einer neuen intergenerationellen Solidarität mit den Älteren, nicht mehr Erwerbstätigen allerdings noch unterbelichtet. Die angestrebte Gleichheit stößt hier an Grenzen. Aus einer ökonomisch und demografisch inspirierten Perspektive hingegen erschließt sich die mögliche ‚Sinnhaftigkeit‘ bzw. Rationalität dieser Leerstelle: Die europäische Politik zielt nach wie vor auf ökonomisches und demografisches Wachstum. Die angestrebte Quantität der europäischen Bevölkerung verknüpft sich dabei mit der angestrebten Qualität: Investitionen in das so genannte Humankapital sind damit ebenso begründet wie die Förderung der Familiengründung insbesondere hoch Qualifizierter und die Aktivierung von Seniorinnen und Senioren für gemeinnützige Aufgaben. Die nicht bzw. nicht mehr für Erwerbsarbeit Aktivierbaren sind in einer derart ökonomisch und demografisch inspirierten Perspektive im ‚toten Winkel‘ des Europäischen Sozialmodells. Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob ein derartiges Gesellschaftsmodell eine Zukunft hat oder ob es mit seiner Vision von Vollbeschäftigung und sozialer In88 Kommission, Grünbuch, S. 12. 89 Jenson, European Social Model, S. 152.

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tegration über Erwerbsarbeit längst vergangenen Vorstellungen von einer ‚guten Gesellschaft‘ verhaftet bleibt. Vielleicht gehört aber auch dieses Ergebnis zu den politischen Herausforderungen der „learning society“? Die Antwort auf diese Fragen wird die Zukunft geben. Der Beitrag basiert auf Studien im Rahmen des Forschungsvorhabens „Generativität und Geschlecht in schrumpfenden Wohlfahrtsgesellschaften – eine international vergleichende Institutionenanalyse“, das ich als Gastprofessorin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen und der Stiftung Universität Hildesheim vom Sommersemester 2008 bis Sommersemester 2009 durchgeführt habe. Die Gastprofessur wurde gefördert aus dem Maria-Goeppert-Mayer-Programm für internationale Frauenund Genderforschung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.

AutorInnen Regula Argast Historikerin, Stipendiatin des Schweizer Nationalfonds, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. – Staatsbürgerschaft und Nation, Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848–1933, Göttingen: V & R 2007 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 174). – „Wenn er aber Vogelfallen aufstellt, so bleibt er ein Fremder“ – Kategorien von Ungleichheit und Gleichheit im schweizerischen Assimilationsdiskurs 1919–2000, in: Thomas David/Valentin Groebner/Marina Schaufelbuehl et al. (Hrsg.), Die Produktion von Ungleichheiten – La production des inégalités (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 24), Zürich: Chronos 2010, S. 183–194. Ursula Ferdinand Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. – „Zukunftswissen“: Die Kritik Robert René Kuczynskis an der englischen Registrierungspraxis, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen, Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010, S. 153–174. – mit Josef Ehmer/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Herausforderung Bevölkerung, Zur Entwicklung des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden: VS Verlag 2007. Heinrich Hartmann Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Basel. – mit Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen, Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010. – Soldaten in den Tropen – Soldaten aus den Tropen, Neudefinitionen der Wehrkraft im kolonialen Kontext zwischen 1884 und 1914, in: Dieter Gosewinkel/Alain Chatriot (Hrsg.), Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands und Frankreichs, 1890–1962/Politiques et pratiques coloniales dans les empires allemands et français, 1890–1962, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, S. 223–246.

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Ian Innerhofer Politologe, Slawist und Historiker, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. – Nationale Selbstbilder und die Diskussion um die Sprachbezeichnung in Bosnien-Herzegowina nach dem Zerfall Jugoslawiens, in: Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder, Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen: Wallstein 2008, S. 306–327. Heike Kahlert Soziologin, Lehrstuhlvertretung am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians Universität München. – The (Missing) Welfare State in Demography – Critical Reflections on the Idea of the „Second Demographic Transition“ from a Gender Perspective, in: Heike Kahlert/Waltraud Ernst (Hrsg.), Reframing Demographic Change in Europe. Perspectives on Gender and Welfare State Transformations, Münster, Hamburg, Berlin, Wien, London: Lit 2010. – „Reproduktionsstreik“ – Mediale (Re)Präsentationen zum Geburtenrückgang, in: Paula-Irene Villa/Barbara Thiessen (Hrsg.), Mütter – Väter. Diskurse, Medien, Praxen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2009, S. 41–62. Patrick Kury Historiker, Privatdozent am Historischen Institut der Universität Bern. – Sozialpolitische Prognostik, Überfremdungsbekämpfung und Flüchtlingspolitik in der Schweiz vor 1945 aus der Sicht der historischen Diskursanalyse, in: Gisela Hauss/Susanne Maurer (Hrsg.), Migration, Flucht und Exil im Spiegel der Sozialen Arbeit, Bern/Wien/Stuttgart: Haupt Verlag 2009, S. 143–160. – Mit „Zion“ gegen die Leiden der Moderne, Rafael Beckers Kritik am „nervösen Juden“, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook, VII, Göttingen: Vandenhoeck & Rupbrecht 2008, S. 71–92. Arnaud Lechevalier Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Universität Paris 1, Centre Marc Bloch, Berlin, Gast-Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder. – mit Gilbert Wassermann (Hrsg.), La Constitution européenne: Dix clés pour comprendre, Paris: La découverte 2004 – mit Jan Wielgohs, EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell. Berliner Debatte Initial 21/2 (2010), S. 29–44.

Autorinnen- und Autorenverzeichnis

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Martine Mespoulet Soziologin, Professorin und Direktorin der Maison des Sciences de l’Homme Ange Guépin de Nantes. – La section de statistique de la Société juridique de Moscou (1882–1898), in: Journal Electronique d’Histoire des Probabilités et de la Statistique, Revue de l’EHESS, 2/2 (2010). – Construire le socialisme par les chiffres, Enquêtes et recensements en URSS de 1917 à 1991, Paris: Ed. de l’INED 2008. Petra Overath Historikerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität zu Köln. – mit Patrick Krassnitzer (Hrsg.), Bevölkerungsfragen, Prozesse des Wissenstransfers in Deutschland und Frankreich, 1870–1939, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008. – Entre interprétation des crises et scénarios de guerre, Les représentations de la politique démographique en France et en Allemagne (1870–1918), in: Fréderic Audren/Paolo Napoli/Pascale Laborier/Jakob Vogel (Hrsg.), Les sciences camérales: activités pratiques et dispositifs publics, Amiens: PUF 2011, S. 421–436. Maximilian Schochow Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. – mit Rebecca Pates (Hrsg.), Der „Ossi“, Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (in Vorbereitung). – Robert Feustel (Hrsg.), Zwischen Sprachspiel und Methode, Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld: transcript 2010. Daniel Schmidt Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. – Reproduktionsmaschinen, Die Rolle der „Frau“ in demografischen Diskursen, in: Esther Donat/Ulrike Froböse/Rebecca Pates (Hrsg.), Nie wieder Sex. Geschlechterforschung am Ende des Geschlechts, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 185–200. – mit Rebecca Pates, Die Verwaltung der Prostitution, Eine vergleichende Studie am Beispiel deutscher, polnischer und tschechischer Kommunen (unter

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Mitarbeit von Elena Buck, Susanne Feustel und Ulrike Froböse), Bielefeld: transcript 2009. Anne Seitz Romanistin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanistischen Seminar der Ruhr-Universität Bochum. – Visualisierungen der Ungleichheit, Repräsentationen und Wandel von demografisch-statistischem Wissen, Sektionsbericht des Historikertags 2008, HSoz-u-Kult, erschienen am 20.11.2008. – Zukunft schreiben: Prognostische Wissensfiguren in der fiktionalen Literatur des frühen 20. Jahrhundert, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010, S. 251–266. Annett Steinführer Soziologin und Stadtforscherin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Johann Heinrich von Thünen-Institut, Braunschweig. – Utopia war gestern, Gedachte urbane Zukünfte zwischen Stadtutopie, Prognose und Szenario. in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hrsg.), Zukunftswissen, Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900. Frankfurt/ a.M.,/New York: Campus 2010, S. 197–212. – mit Adam Bierzyński, Katrin Großmann, Annegret Haase/Petr Klusáček/ Sigrun Kabisch: Population decline in Polish and Czech cities during postsocialism? Looking behind the official statistics, in: Urban Studies 47 (2010).