Die Ursachen Des Taiwanesischen Wirtschaftswunders: Eine Systemische Betrachtung (Schriften Zur Wirtschafts Und Sozialgeschichte, 68) (German Edition) 3428104919, 9783428104918


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Die Ursachen Des Taiwanesischen Wirtschaftswunders: Eine Systemische Betrachtung (Schriften Zur Wirtschafts Und Sozialgeschichte, 68) (German Edition)
 3428104919, 9783428104918

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MATTRIAS FRONIUS

Die Ursachen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 68

Die Ursachen des taiwanesischen Wirtschaftswunders Eine systemische Betrachtung

Von Mattbias Fronius

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Fronius, Matthias:

Die Ursachen des taiwanesischen Wirtschaftswunders : eine systemische Betrachtung I Mattbias Fronius. Berlin: Duncker und Humb1ot, 2001 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 68) Zugl.: Ber1in, Freie Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10491-9

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humb1ot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-10491-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Das Wahre gibt es nicht, es gibt nur verschiedene Arten des Sehens.

(Gustave Flaubert)

Danksagung Besonderen Dank möchte ich meinen Eltern und Großeltern, meinen Freunden, meinen Gutachtern Professor Dres. Wolfram Fischer und Professor Dr. Klaus Hüfner sowie der wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek der FU Berlin aussprechen. Vielen herzlichen Dank für die guten Ratschläge, die Literaturtips und ganz besonders herzlichen Dank für die guten, für die er- und aufmuntemden Worte. Ebenso möchte ich der Friedrich-Naumann-Stiftung danken, die durch ein Promotionsstipendium diese Arbeit ermöglicht hat. Dariiber hinaus möchte ich alljenen danken, die mir in den letzten Jahren bei der Erarbeitung von Dissertation und Veröffentlichung geholfen haben, aber jetzt unerwähnt geblieben sind. Vielen Dank ! Berlin, 29. Januar 2001

Matthias Fronius

Inhaltsverzeichnis ProbierosteDung . . .. .. .. . . . .. . .. . .. . . . .. . . . . . .. . .. .. . .. . . . . .. . . . .. . . .. .. .. . . . . .. . . .. . .

15

Kapitell Die Schilderung des Wirtschaftswunders auf Taiwan

19

I. Die Zeit als japanische Kolonie ( 1895- 1945) .. .. . .. . .. . . . .. .. . . .. .. . . . . .. . . .. . .

20

II. Flüchtlingsströme und innenpolitische Stabilisierung nach dem II. Weltkrieg . . . .

23

1. Innen- und außenpolitische Spannungen arn Ende der 40er Jahre . . . . . . . . . . . . .

23

2. Die Festigung des Machtmonopols der Kuomintang in den 50er Jahren . . . . . . .

27

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950 - 1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Vorbemerkungen .. . . . .. . .. .. .. .. . . .. .. . .. .. . . . .. . .. . . . .. . . . .. .. .. . . .. .. .. .. . .

29

2. Die taiwanesische Landreform .. . . . .. . . .. .. . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . .. . . .. .. . . . .. .

31

3. Importsubstitutionsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

4. Mechanismen der innenpolitischen Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

IV. Der Beginn der Exportförderungsstrategie zu Beginn der 60er Jahre . . . . . . . . . . . . .

42

V. Der Aufbau der kapitalintensiven Industrie in den 70er Jahren . .... .. . ... . . .... . .

45

VI. Auf dem Weg zum Industrieland in den 80er Jahren .. . . . .. . . . . .. .. . . . . . .. . . .. . . .

49

1. High-Tech-Spezialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2. Der Umbruch des politischen Systems in den 80er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990.... ....... . ...... ... .. ... ........... .. ..

55

VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Inhaltsverzeichnis

10

Kapite/2

Die bisherigen Ansätze zur Erklärung des taiwanesischen Wirtschaftswunders

67

I. Die Rolle des Staates als zentraler Erklärungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

I. Die Ursprünge der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Freihandel und Wettbewerb als Zwillingsväter des ostasiatischen Wunders? Die Sicht der Neoklassischen Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

a) Die Kritik an der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie (ISI)

75

b) Die Analyse des ostasiatischen Erfolgs durch die neoklassischen Ökonomen .................. . . ... ................ . ... . . .. . .............. .. . . ....

80

c) Faktorakkumulation oder technischer Fortschritt? Krugman's These . . . . . .

83

3. Der ostasiatische Entwicklungsstaat als Motor des Wachstums? Die Sicht der revisionistischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

a) Begriff des Revisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

b) Die Kritik an der exportorientierten Industrialisierungsstrategie (EOI) . . . .

93

c) Die Analyse des ostasiatischen Erfolgs durch die Revisionisten . . . . . . . . . . .

98

4. Ein Kompromiß? Die Analyse der Rolle des ostasiatischen Staates durch die Weltbank.................... . ................ . . ... . ... . ........ . . ...... . .. . . . 113 5. ,Alles Nichts', oder? Die agnostische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Die Rolle der Kultur als Erklärungsfaktor ............ . . . .

0 .......

o o . . o. o . . . . . o o.

126

Kapite/3

Kritik der bisherigen Erklärungsansätze und Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

138

I. Kritische Würdigung der vorgestellten Erklärungsansätze .. . .. . . . . . .. . I. Das Prüfkriterium ,Erklärungsgehalt der vorgestellten Theorien'

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o o o • • • o • • • • o.

138 138

2. Anwendung des Prüfkriteriums auf die vorgestellten Erklärungsansätze .. o. .. 141 a) Der neoklassische Erklärungsansatz

0

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b) Der revisionistische Erklärungsansatz .... . . . . . .. . c) Der Erklärungsansatz der Weltbank d) Die agnostische Sicht ..

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141 144 145 149

Inhaltsverzeichnis

11

e) Die kulturalistische Erklärung . .. . . . . .. . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 149 f) Läßt sich der taiwanesische Wirtschaftsaufschwung erklären? Eine Zwi-

schenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . .. . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . .. 152 Il. Ein systemischer Gedanke zur Erklärung des Wirtschaftswunders auf Taiwan . . . 153 1. Nicht direkt beeinflußbare Interaktionen- Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

a) Bevölkerungswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Ökonomische Auswirkungen der besonderen weltpolitischen Situation . . . . 159 c) Die Hinterlassenschaft der japanischen Kolonialzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 d) JapansEinfluß auf die taiwanesische Industrialisierung nach 1945 . . . . . . . . 165 e) Der Faktor Kultur . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . .. . .. . . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . .. . . . 169 2. Unmittelbar beeinflußte Interaktionen -Endogener Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Subsystem 1: Zurückdrängung entwicklungshemmender Interessen . . . . . . . 177 b) Subsystem 2: Dynamik des landwirtschaftlichen und ländlichen Sektors . . 181 c) Subsystem 3: Geld- und Fiskalpolitik .. . . . .. . . . . .. . .. . . . . .. .. . . . .. . . . .. . . . 189 d) Subsystem 4: Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 e) Subsystem 5: Technologiepolitik.................... . ..................... 203 f) Subsystem 6: Handelspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

3. Die Beziehungen zwischen Subsystemen und Umwelt .. .......... .. . . .... . . .. 218 a) Vorbemerkungen . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. .. . . . . . . . . . .. .. . . 218 b) Das Zusammenspiel des Gesamtgefüges im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 c) Die Beeinflussung des endogenen Bereichs durch die exogenen Faktoren 220 d) Die Wechselwirkungen innerhalb des Systems und resultierende Umweltbeeinflussungen . .. . . . . .. .. . . . .. . . . . .. . . . . . . . . .. . . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . 221

Kapitel4 Zusammenfassung und Ausblick

223

Literaturverzeichnis . . . . .. . . . . .. . . . .. .. .. .. .. . . . . .. . . . . . . .. .. . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . 229 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Verzeichnis der Schaubilder und Tabellen Schaubild 1: Entwicklung der realen Löhne in der verarbeitenden Industrie sowie der Konsumgüterpreise Taiwans 1953-90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Schaubild 2: Reales BSP-Wachstum 1952-1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Schaubild 3: Durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum in ausgewählten Sektoren (1971-79) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Schaubild 4: Exporte, Importe und Handelsbilanz 1967- 84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Schaubild 5: Der Handel mit Europa 1981-93. Ein-/Ausfuhr in% des Gesamthandels

50

Schaubild 6: Inflationsrate und Nettosparquote 1976-1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Schaubild 7: Pro-Kopf-Einkommen und Bruttosozialprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

Schaubild 8: Sektorale Beschäftigung 1989 und 1997. . . . .. .. .............. . . . .. . . . . . .

56

Schaubild 9: Der taiwanesische Außenhandel mit der VR China (Log. Skalierung) . . .

57

Schaubild 10: Durchlässige Grenzen trennen System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Schaubild 11: Gesellschaftlicher Wille zum Erfolg wirkt als Meta-Faktor . . . . . . . . . . . . . . 157 Schaubild 12: Umwelt- und Systemfaktoren bewirken den Take-Off . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Schaubild 13: Theoretische Wechselwirkungen zwischen Umwelt- und Systemfaktoren

226

Tabelle 1:

Direkte Auswirkungen der Landreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Tabelle 2:

Taiwans Handelspartner im Jahre 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Tabelle 3:

Taiwans Direktinvestitionen in der VR China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

Tabelle 4:

Anwendung der Prüfkriterien auf die Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Abkürzungsverzeichnis AID

U.S. Agency for International Development

ANIEs

Asian Newly Industrializing Economies

BSP

Bruttosozialprodukt

bspw.

beispielsweise

CEPD

Council for Economic Planning and Development

DPP

Democratic Progressive Party

ECLA

Economic Commission for Latin America

EOI

Exportorientierte Industrialisierungsstrategie

EPZ

Export Processing Zone I Exportverarbeitungszone

FDI

Foreign Direct Investment I Ausländische Direktinvestition

GAlT

General Agreement on Tariffs and Trade

HOS-Theorem

Heckscher-Ohlin-Samuelson-Theorem

HPAEs

High Performing East Asian Economies

i.w.S.

im weiteren Sinne

IMF

International Monetary Fund

ISI

Importsubstituierende Industrialisierungsstrategie

ITO

International Trade Organization

ITRI

Industrial Technology Research Institute

JCRR

Joint Commission on Rural Reconstruction

KMT KMU MAAG MITI NIEs NSC NT-Dollar I NT-$

Kuomintang Kleine und mittelständische Unternehmen Military Assistance Advisory Group Ministry of International Trade and Industry J apans Newly lndustrializing Economies National Science Council New Taiwan Dollar

OPEC QIO

Organization of Petroleum Exporting Countries

TFP

Totale Faktorproduktivität

TSMC

Taiwan Semiconductor Manufacturing Corporation

UMC

United Microelectronic Corporation

UNCTAD

United Nations Conference on Trade and Development

UNO

United Nations Organization

Quasi-interne Organisation

USA

United States of America

VRChina

Volksrepublik China

Problemstellung Schon zu Adam Smiths Zeiten galt das ökonomische Interesse den Ursachen und Hintergründen des wirtschaftlichen Wachstums. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellte sich diese Frage nicht nur für Europa, sondern - vor dem Hintergrund der damaligen Entkolonisierung - auch für die frisch in die Unabhängigkeit entlassenen neuen Mitglieder der internationalen Staatenfamilie. Heute, mehr als 50 Jahre später, unterscheiden sich die ehemaligen Kolonien vom wirtschaftlieben Entwicklungsniveau her deutlich. Außer den erfolgreichen Schwellenländern Ostasiens sind kaum nennenswerte Industrialisierungserfolge zu verzeichnen, und der Entwicklungsrückstand weiter Teile Südamerikas und Afrikas mit wenigen Ausnahmen wie Brasilien, Argentinien und in jüngster Zeit eventuell auch Südafrika ist beträchtlich. Aber Ostasien ist keineswegs so homogen wie die gängige Bezeichnung der erfolgreichen Ländergruppe Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan als Asian Newly Industrializing Economies (AN/Es) glauben macht 1• Spätestens seit der asiatischen Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 1997/98 machen sich auch hier deutliche Unterschiede bemerkbar. Dabei ist die Republik China auf Taiwan (Taiwan) positiv hervorzuheben. Ein hohes Sozialproduktwachstum, niedrige Inflationsraten, eine weitgehende Gleichmäßigkeit der Einkommensverteilung und Exporterfolge kennzeichnen das Bild und führten dazu, daß Taiwan in den internationalen Wirtschaftsstatistiken der letzten Jahrzehnte stets mit an der Spitze der Schwellenländer zu finden war. Taiwan wird daher häufig als "original model"2 eines neuen entwicklungspolitischen Weges bezeichnet, und man gesteht dem Inselreich zu, es sei in seiner besonderen entwicklungspolitischen Strategie am weitesten fortgeschritten 3 . Überdies sind einige Beobachter der Ansicht, auch die sich seit einigen Jahren vorsichtig I Der Begriff der ANIEs wird nicht immer einheitlich verwandt. Meistens werden hierunter Hongkong, Singapur, die Republik Korea (Südkorea) und die Republik China auf Taiwan verstanden. 2 James Riedel, Vietnam: On the Trail of the Tigers, in: The World Economy, Vol. 16 (1993), S. 401 -422, Oxford (UK) und Cambridge (USA), hier S. 401. Siehe auch das Vorwort bei Gary Klintworth (Hg.): Taiwan in the Asia-Pacific in the 1990s, Canberra, 1994, S. XII: "Taiwan is respected, even admired, and has become what a US-congressman recently has ca11ed a model for the developing world" sowie in einem anderen Werk desselben Autors: "Taiwan has developed . . . into a leading industrialised economy." Gary Klintworth, New Taiwan, New China. Taiwan's Changing RoJe in the AsiaPacific Region, New York, 1995, S. 2. 3 Vgl. Riedel, S. 401 f. sowie Klintworth, New Taiwan, New China, S. 2 f.

16

Problemstellung

öffnende VR China könnte vom ,Modell Taiwan • lernen. Klintworth führt dazu aus: ,,For many in the Asia-Pacific andin China, Taiwan's experience is indeed a model for the communism on the mainland"4 • Spätestens seit der asiatischen Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 1997/98, die Taiwan vergleichsweise unbeschadet überstand, findet obige Beschreibung von Klintworth breite Akzeptanz. Die Investmentbank Morgan Stanley bspw. führt aus: " ... Taiwan's model will be increasingly looked upon as the role model for the region"5 . Die zentrale Fragestellung der Dissertation lautet daher: "Wodun:h wurde die wirtschaftliche Entwicklung Taiwans bestimmt, und wie kann dieser Entwicklungseifolg hinlänglich urrifassend erklärt werden?" Ein Blick in die Literatur beantwortet diese Fragen oft nur unzureichend. Dies liegt zum einen daran, daß die meisten mit dem taiwanesischen Wirtschaftswunder befaßten Werke sich nicht ausschließlich mit Taiwan beschäftigen, sondern gleichzeitig den Versuch unternehmen, auch die Erfolgsgeschichten Hongkongs, Singapurs und Südkoreas zu erklären. Aus der gängigen Zusammenfassung aller ANIEs, also Hongkongs, Singapurs, Südkoreas und Taiwans, in eine gemeinsame zu untersuchende Ländergruppe ergibt sich eine prinzipielle Schwierigkeit, die mit dieser Arbeit verringert werden soll. Bei den ANIEs handelt es sich sowohl um Flächenstaaten mit einem ausgeprägten landwirtschaftlichen Sektor, als auch um Stadtstaaten, die eben diesen Sektor nicht aufweisen. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, da der landwirtschaftliche Sektor im Verlauf des Wirtschaftswunders auf Taiwan eine große Bedeutung hatte. Die ANIEs sind durch deutliche Unterschiede in den Ausgangsbedingungen gekennzeichnet und daher nur bedingt miteinander vergleichbar. Ein einheitlicher Ansatz zur Erklärung der ökonomischen Erfolge aller ANIEs kann deshalb nicht mit hinreichender Präzision gelingen. Daher liegt der Fokus dieser Untersuchung auf Taiwan. Zum anderen konnte trotz der immensen Fülle wissenschaftlicher Literatur, die sich mit der Erklärung des ostasiatischen Wirtschaftswunders befaßt, bislang keine Einigkeit erzielt werden, wie die Erfolge der Einzelstaaten zu erklären sind. Diese weitgehende Uneinigkeit hängt damit zusammen, daß die bisherigen Erklärungsversuche monokausal argumentieren. So sehen die neoklassisch orientierten Entwicklungsökonomen den dominanten Faktor in der weitgehenden Abwesenheit staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen. Die Revisionisten erklären den taiwanesischen Wachstumserfolg dagegen gerade mit den staatlichen Interventionen, Klintworth, Taiwan in the Asia-Pacific in the 1990s, S. XII. Ähnlich auch das Mitglied des Repräsentantenhauses Gerald Solomon im Januar 1998: "With successive free elections .., [and] the .. respect for human rights ... , it is obvious ... that the Republic of China on Taiwan . .. , represents the . . . model for the future of the Chinese civilization." Vgl. o. V., Taiwan's Economy Remains Strong Despite Asian Crisis, in: TRI News, Vol. II, No. 2, Hongkong 1998, S. 2 f. s Vgl. o. V., Taiwan's Economy Remains Strong Despite Asian Crisis, S. 2. 4

Problemstellung

17

welche von besonders hoher Qualität gewesen sein sollen. Die Kulturalisten schließlich begründen den Take-Off Prozeß ausschließlich mit der vorgeblich überlegenen, chinesisch geprägten Kultur Taiwans6 . Aufgrund der monokausalen Argumentation fallt eine Überprüfung dieser Hypothesen in einer ganzheitlieberen Betrachtungsweise meist unbefriedigend aus. In dieser Arbeit werden beide Kritikpunkte berücksichtigt. So wird ein Erklärungsansatz vorgestellt, der zunächst auf das taiwanesische Wirtschaftswunder abstellt. Dieser Ansatz greift dabei systernische Theorieansätze auf, um dem Problem der Monokausalität zu entgehen. Dadurch wird es möglich, multikausal zu argumentieren und die verschiedenen Gründe, die zum taiwanesischen Wirtschaftsaufschwung beitrugen, zu Teilen eines Gesamtsystems zu fügen. Aus den Analysezielen ergibt sich der Leitfaden für die Struktur der Untersuchung. Bevor die Kernfrage, "Wie kann das taiwanesische Wirtschaftswunder hinlänglich umfassend erklärt werden" untersucht wird, muß ergründet werden, wie das taiwanesische Wirtschaftswunder im historischen Verlauf zustande kam und wie es bisher erklärt wurde. Im ersten Kapitel der Arbeit wird dieser Aspekt deskriptiv behandelt. Die zentrale Fragestellung lautet hier "Wie stellt sich der Verlauf des Wirtschaftswunders aufTaiwan dar?" Hierzu gehören ein Abriß der Frühgeschichte Taiwans und der japanischen Kolonialzeit sowie die ausführliche Schilderung der taiwanesischen Erfahrungen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute. Danach wird knapp auf mögliche Probleme der Zukunft eingegangen und ein erstes Zwischenergebnis dargelegt. Das folgende zweite Kapitel ist analytisch angelegt und beschäftigt sich mit der Frage "Wie wurde das taiwanesische Wirtschaftswunder bislang erklärt?" Bei der Destillation der wesentlichen Aspekte des ,Modells Taiwan' wird auf die Erklärungen anderer Autoren Bezug genommen. Diese suchten nach Erklärungen des ostasiatischen Wirtschaftswunders, wobei die Studien immer auch Taiwan umfassen. Um einen Überblick über das bereits Gedachte zu erhalten, wird es im Kapitel 2 6 Der Begriff Take-Off ist in vielen Variationen verwandt worden. Die grundsätzliche Bedingung, um den Take-Off zu erreichen, lautet: "Savings per capita must be more than sufficient to maintain the capital/labour ratio. In simple terms, if population is growing then capital stock must also grow, at least at the same rate, ... In quantitative terms, the savings/output ratio must exceed capital/ output ratio times the rate of population growth." Anis Chowdhury I lyanatullslam, The Newly Industrialising Economies of East Asia, London und New York 1993, S. 42, S. 10. Die entscheidenden Größen sind also Bevölkerungswachstum, Sparquote und die Beziehung zwischen Kapital und Produktion. Diese einfache Definition reicht hier aus. Für weitere Informationen zum Begriff des Take-Off siehe Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960 oder auch Walt Whitman Rostow, Die Phase des Take-Off, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien sozialen Wandels, Köln/Berlin 1969, S. 286-311. Zur Kritik am Rostow'schen Ansatz siehe Norbert Wagner/Martin Kaiser/Fritz Beimdiek, Ökonomie der Entwicklungsländer, S. 30 ff., 2. Auflage, Stuttgart/New York 1989. 2 Fronius

18

Problemstellung

deshalb ausreichen, die Erklärungsversuche des ostasiatischen Wirtschaftswunders darzulegen, ohne Taiwan stets zu nennen. Wo dies sinnvoll erscheint, wird Taiwan explizit angeführt. Stets können jedoch die auf Gesamtostasien bezogenen Aussagen implizit auch auf Taiwan bezogen werden. Das dritte Kapitel ist ebenfalls analytisch orientiert und befaßt sich mit der zentralen Fragestellung der Dissertation "Wie kann das taiwanesische Wirtschaftswunder hinlänglich umfassend erklärt werden?" Hierzu werden zunächst Kriterien aufgestellt, die ein Erklärungsansatz erfüllen soll, um als hinlänglich umfassend zu gelten. Die anschließende Anwendung der Kriterien auf die bisherigen Erklärungsansätze offenbart die bestehenden Lücken der Theorie. An dieser Stelle werden einerseits die Schwachpunkte der bisherigen Untersuchungen und andererseits auch deren weiterverwendbare Erkenntnisgewinne verdeutlicht. Im Anschluß wird unter Rückgriff auf systemische Theorieansätze der Versuch unternommen, einen eigenständigen, ausschließlich auf Taiwan bezogenen Erklärungsansatz zu entwerfen, welcher im Hinblick auf die aufgestellten Kriterien als hinlänglich umfassend gelten kann. Hierbei werden die wichtigsten Einflußfaktoren und ihre Wechselwirkungen untereinander aus systemischer Perspektive dargestellt. Diese Analyse, die den Versuch unternimmt die wichtigsten Ursachen herauszustellen, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt die wesentlichen interdependenten Aspekte des taiwanesischen Wirtschaftswunders heraus und reduziert so seine Komplexität.

Kapitell

Die Schilderung des Wirtschaftswunders auf Taiwan Typisch an der taiwanesischen Geschichte sind bisher die Wechselfälle gewesen: Immer wieder wurden Prosperitätsphasen durch Phasen der Stagnation abgelöst, um anschließend wieder in Prosperitätsphasen einzumünden. Die Ureinwohner Taiwans sind malaiischen Ursprungs. Die Insel Taiwan wird erstmals im 7. Jh. in der chinesischen Geschichtsschreibung erwähnt. Ab dieser Zeit kam es wiederholt zu großen Einwanderungswellen aus den festländischen Provinzen Fukien (Hokkien) und Guangdong sowie durch migrierende Hakka. Hierdurch wurden die malaiischen Ureinwohner zunehmend in das innere Bergland der Insel verdrängt. Mittlerweile machen die Ureinwohner nur noch rund ein Prozent der Bevölkerung Taiwans aus. Die übrige Bevölkerung setzt sich zu ungefähr 18 Prozent aus Nachfahren der Einwanderer früherer Jahrhunderte und zu 81 Prozent aus jenen, die im Zusammenhang mit dem chinesischen Bürgerkrieg nach 1945 nach Taiwan flüchteten, zusammen. Im Jahre 1590 wurde die Insel Taiwan, die damals in der Einflußsphäre des chinesischen Reiches lag, von portugiesischen Seefahrern ,entdeckt' und mit dem Namen Ilha Formosa (die Wunderschöne) versehen. Aufgrund der verkehrsgünstigen Lage im Zentrum des pazifischen Seehandels war sie für die europäischen Handels- und Seefahrernationen von politischem, ökonomischem und militärischem Interesse. 1624 meldeten die Niederländer und Spanier ebenfalls Ansprüche auf Taiwan an. Die Niederländer besetzten Teile im Südwesten, und die Spanier ließen sich im Nordwesten bei Tamsui nieder, von wo sie im Jahre 1642 von den Niederländern vertrieben wurden. In den folgenden Jahren der niederländischen Alleinherrschaft bildeten Zuckerrohrplantagen das Rückgrat der taiwanesischen Ökonomie, und die Insel blühte wirtschaftlich erstmals auf. Nennenswerte Zuwanderungsströme aus den Südprovinzen des chinesischen Festlands ließen die Bevölkerungszahl Taiwans rasch anwachsen 1• Bereits im 17. Jahrhundert erlangte Taiwan dadurch kurzfristig Bedeutung, daß die holländische Ostindische Handelskompagnie Formosa zu ihrem pazifischen Seehandelszentrum ausbaute.

I Vgl. Wilfried Koch, Taiwan, in: Dieter Nohlen/Franz Nuscheler (Hg.), Handbuch der Dritten Welt, Vol. 4 II, S. 645 ff.

2*

20

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

Diese erste koloniale Phase, die mit wirtschaftlicher Prosperität einherging, wurde 1662 durch den chinesischen Ming-General Zheng Chenggong (Koxinga) beendet, der die Insel als Basis der Rückeroberung des Festlands für die Ming-Dynastie nutzte. Wenig später, im Jahre 1683, wurde Taiwan von den Truppen der neuen chinesischen Dynastie, den Mandschu, erobert und zunächst zur Präfektur der Provinz Fukien erklärt. Taiwan war damit wieder Teil des chinesischen Kaiserreiches geworden und die erwähnte kurze Prosperitätsphase beendet. Da der Status einer selbständigen Provinz des chinesischen Reiches, den Taiwan im Jahre 1883 erlangte, zu kurz währte, um ökonomische Folgen auszulösen, folgten mehr als 200 Jahre, in denen die wirtschaftliche Entwicklung Taiwans weitgehend stagnierte.

I. Die Zeit als japanische Kolonie (1895 - 1945) Wirtschaftliche Prosperität stellte sich erst wieder im Anschluß an den chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 ein. Taiwan wurde an Japan abgetreten, wofür der Friedensvertrag von Shimonoseki die völkerrechtliche Grundlage bildete2 . Die japanische Kolonialzeit dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Pazifik im August 1945 an. Dann wurde Taiwan auf Grundlage der Verträge von Kairo (1943), Potsdam (1945) und San Francisco (1951) nationalchinesischer Verwaltung unterstelle. Die japanische Kolonialzeit ist für die hier interessierende Fragestellung besonders bedeutsam, weil mit der Übertragung des japanischen aggressiv-merkantilistischen Wirtschafts- und Handelsstils auf die Insel weitreichende - z. T. heute noch spürbare - ordnungspolitische Weichen gestellt wurden4 . Besonders zu erwähnen ist, daß die späteren Regierungen Taiwans vor allem an zwei Charakteristika der japanischen Kolonialverwaltung anknüpften. Erstens setzten sie innenpolitische Entscheidungen mit derselben Entschlossenheit durch wie die japanische Kolonialverwaltung, und zweitens unterdruckte auch die taiwanesische Regierung unter Führung der Kuomintang (KMT) bis ungefähr 1987 jegliche relevante politische

2 China mußte im Vertrag von Shimonoseki die ,Unabhängigkeit' Koreas anerkennen, Taiwan mit den Pescadoren sowie die Halbinsel Liao-tung an Japan abtreten. Der Einspruch Deutschlands, Frankreichs und Rußlands führte dazu, daß Japan seine Rechte an der Halbinsel Liao-tung nicht wahrnahm. 3 Eine sehr ausfUhrliehe Darstellung der taiwanesischen Geschichte bis 1945 findet sich bei Goddard. Knapper schildern dies Gälli und Franzen. V gl. William G. Goddard, Formosa. A Study in Chinese History, Michigan 1966 und Anton GällilJ. Franzen (Hg.), Die Familie des großen Drachen, Bd. 1: Die VR China, Hongkong, Macao und Taiwan auf dem Weg zu "Großchina"?, München/Köln/London 1995, S. 109 ff. 4 Japan gilt als ,Erfinder' des sog. autoritären Entwicklungsstaates asiatischer Prägung, wobei der Beginn dieser Entwicklung für Japan meist im Zusammenhang mit der Meiji-Restauration von 1867 I 68 genannt wird. Japan nahm sich damals unter anderem Preußen zum Vorbild.

I. Die Zeit als japanische Kolonie ( 1895 - 1945)

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Opposition. Die starke Durchsetzungskraft der Regierungen erlaubte jene politische Kontinuität, welche Taiwan zum Anschauungsbeispiel eines Staates werden ließ, der nach den Prinzipien eines ,modernen Betriebes' geführt wird und von einigen Autoren mit dem Schlagwort der ,Entwicklungsdiktatur' versehen wurde. Die damalige Kolonisierung und Entwicklung Taiwans stand im Zusammenhang mit dem Gesamtplan Japans, der auf die Eroberung Chinas zielte. Taiwan war aufgrund seiner geopolitischen Lage von zentraler strategischer Bedeutung im Pazifik und sollte dem aufstrebenden japanischen Kaiserreich als einer von vier China vorgelagerten Briickenköpfen dienen5 . Damit Taiwan als Briickenkopf in die japanische Strategie eingefügt werden konnte, mußte es zunächst infrastrukturell entwikkelt werden und die entsprechenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen erhalten. Die politische Herrschaft Japans auf Taiwan wurde abgesichert durch eine Reihe von Reformen, welche u. a. die Verwaltung, das Polizeiwesen und das ökonomische System betrafen. Die neue Organisationsstruktur entsprach im allgemeinen dem japanischen Vorbild. Außerdem wurde die Insel durch den Bau von Straßenund Eisenbahnverbindungen infrastrukturell erschlossen. Um die volkswirtschaftlichen Kosten dieses Umbaus für Japan niedrig zu halten, plante man, den Umbau aus den eigenen Mitteln Taiwans zu finanzieren- also insbesondere aus den erwarteten landwirtschaftlichen Erträgen. Vor diesem Hintergrund finanzierte Japan die Modemisierung der Landwirtschaft Taiwans, den Ausbau des Bewässerungssystems und die Modemisierung des Gesundheitswesens6 . Überdies hinaus wurde zum Zwecke der Japanisierung ein Grundbildungssystem für alle Bevölkerungsschichten errichtet, welches allerdings nicht für alle Bewohner der Insel gleiche Chancen bot, sondern insgesamt dreistufig war und beispielsweise zwischen taiwanesischen und japanischen Kindem unterschied. Trotz dieser präzise auf Entwicklungsförderung ausgerichteten Maßnahmen der Kolonialherren und trotz der in den Jahren 1898-1906 durchgeführten ersten Landreformen, führte die Kolonisierung Taiwans zu größeren finanziellen Belastungen Japans als geplant. So führte das Ausbleiben des erhofften Booms dazu, daß die infrastrukturelle Erschließung der Kolonie nicht aus den dortigen Steuereinnahmen finanziert werden konnte. In dieser Situation entschied sich die Regierung Japans, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, die taiwanesische Ökonomie in Gang zu setzen. Hierbei wurde das Schwergewicht auf die Erhöhung der staatlichen Investitionsanreize gelegt. Hierunter fielen das regierungsseitig günstig vergebene Land sowie eine staatlich garantierte sechsprozentige Dividende auf Investivkapital. Sektoral galt das größte s Als weitere Brückenköpfe sollten die Mandschurei und Korea im Norden sowie die Pescadoren im Südwesten dienen. Vgl. Wilhelm Bürklin, Die vier kleinen Tiger. Die pazifische Herausforderung, Fankfurt/Berlin 1994, S. 108 f. 6 Vgl. Samuel P. S. Ho, Co1onialism and Deve1opment: Korea, Taiwan and Kwantung, in: Rarnon H. Myers (Hg.): The Japanese Colonial Empire. 1895- 1945, Princeton 1984, S. 347398.

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l. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

Augenmerk zunächst der Zuckerrohrindustrie sowie der Errichtung von Zuckerraffinerien. Zusätzlich zu diesen Maßnahmen wurden Schutzzölle eingeführt und staatliche Zuckerforschungsinstitute etabliert. Diese Förderung der Grundlagenforschung ist ftir damalige Verhältnisse beachtlich, denn die Summe der Forschungsförderrnittel betrug mehr als für den Bau der taiwanesischen Nord-Süd-Eisenbahnverbindung verwandt wurde7 . Es erstaunt daher nicht, daß Taiwan bereits 1935 zum zweitgrößten Zuckerproduzenten der Welt nach Kuba aufgestiegen war und über 80 Prozent der japanischen Zuckemachfrage befriedigte. Der taiwanesische Erfolg im Bereich Zuckeranbau und -Verarbeitung ist hier als Beispiel angeführt worden. Ähnliche Erfolge stellten sich im Primär- und Sekundärsektor der Bereiche Reis und Südfruchte ein. Es scheint, als habe die Kolonialverwaltung Taiwans ihre Wirtschaftspolitik an außenhandelstheoretischen Lehrbüchern ausgerichtet. Die Prinzipien des absoluten und des komparativen Kostenvorteils wurden beachtet8. Das im boden- und arbeitsintensiven Agrarsektor zu niedrigeren Kosten produzierende, südlicher als Japan gelegene Taiwan spezialisierte sich auf die Erstellung von Primärgütern und das infrastrukturell besser ausgestattete Japan spezialisierte sich auf kapitalintensive Industriegüter. Ungefähr ab dem Beginn der 30er Jahre förderte Japan eine Respezialisierung der taiwanesischen Wirtschaft hin zur Industrialisierung. Ursächlich hierfür ist wahrscheinlich ein neuer Fokus der japanischen Politik. Die Neuausrichtung der japanischen Wirtschaftspolitik auf Taiwan hängt mit Plänen zur Schaffung eines ,Groß-japanischen Wirtschaftsraumes' zusammen, durch welche eine neue innerasiatische Wirtschaftsstruktur induziert wurde. Taiwan wurde jetzt eine Rolle als Mitglied des japanischen Kernlandes zugedacht. Dies ist nicht nur auf die geringe Entfernung zwischen Japan und Taiwan zuriickzuführen, sondern wurde vor allem dadurch bedingt, daß Japan plante, Kolonien südlich Taiwans zu errichten. Hierdurch hätte Taiwan fast zwangsläufig seine Kostenvorteile auf dem Agrarsektor verloren. Vor dem Hintergrund, daß "alle Räder für den [japanischen] Sieg rollen sollten", erschien es jetzt außenhandelstheoretisch sinnvoll, Taiwan industriell zu entwickeln9 . Einerseits konnte so der wach7 Vgl. Rarnon H. Myers/H. Y. Chang, Japanese Colonial Developmental Policy in Taiwan, 1895-1945. The Case of Bureaucratic Entrepreneurship, in: The Journal of Asian Studies, Vol. 22 (August 1963), S. 445. s Es könnte sich auch um Außenhandel aufgrund steigender Skalenerträge handeln. Dies ist jedoch nicht von Belang. Das zentrale Interesse liegt in der Schilderung des gelungenen Managements der taiwanesischen Volkswirtschaft in eine Richtung, die ausschließlich den politischen Zielen der Kolonialherren diente. Zur Unterscheidung der unterschiedlichen zu Außenhandel führenden Gründe siehe Hubenus Adebahr/Wolfgang Maennig, Außenhandel und Weltwirtschaft, Berlin 1987, S. 69- 85; Dieter Bender, ohne Titel, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und- politik, 5. Auflage, München 1992, Band 1, S. 448-457. 9 Vgl. Oskar Weggel, Taiwan, Hongkong, München 1992, S. 30 f. Anmerkung durch den Verfasser.

II. Flüchtlingsströme nach dem II. Weltkrieg

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sende Markt Groß-Japansbefriedigt werden, andererseits die spezifischen Kostenvorteile Taiwans gegenüber Japan konsequenter genutzt werden. Diese lagen in dem zur Industrieerschließung tauglichen und reichlich vorhandenen Land sowie in der auf Wasserkraft basierenden Erzeugung von Energie. Insbesondere bei der Errichtung von Basisindustrien versprach man sich hiervon erhebliche Vorteile. Das im Jahre 1934 fertiggestellte erste Wasserkraftwerk, die Elektrifizierung der Städte sowie eine weitere Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur (die Häfen von Keelung im Norden und Kaohsiung im Süden wurden damals errichtet) folgten diesem Ansatz. Sie dienten dazu, die Sektoren der Papier- und Metallverarbeitung sowie der energieintensiven chemischen Industrie zu fördern. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu betrachten, daß diese Sektoren sowohl kommerziell als auch militärisch nutzbar sind. Am unmittelbaren Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurden die militärisch ebenfalls relevanten Sektoren Zement- und Kunstdüngerproduktion, Petroleumverarbeitung sowie Schiffbau in den Förderkatalog aufgenommen10. Taiwan war vollständiger Bestandteil des japanischen Herrschaftsreiches geworden, und die japanische Niederlage im August 1945 traf die taiwanesische Volkswirtschaft entsprechend schwer. Der Abfluß des japanischen Geldvermögens sowie der komplette Abzug japanischer Techniker, Verwalter und Ökonomen, welche bis dato die taiwanesische Volkswirtschaft geleitet hatten, warf die Insel in ihrer Entwicklung um Jahre zurück. Taiwan hat dennoch von der kolonialen Vergangenheit profitiert. Insbesondere das japanische Bildungssystem, welches zwar nicht jedem die gleiche Bildung, aber doch immerhin vielen eine Grundausbildung verschafft hatte, hinterließ gut ausgebildete Fachkräfte und erhöhte so insbesondere die intellektuelle Absorptionsfähigkeit der Inselbewohner.

II. Flüchtlingsströme und innenpolitische Stabilisierung nach dem II. Weltkrieg 1. Innen- und außenpolitische Spannungen am Ende der 40er Jahre Aufgrund der japanischen Niederlage war die Handlungsfähigkeit der taiwanesischen Provinzregierung blockiert. Außerdem verließ das japanische Kapital Taiwan, und das administrative wie ökonomische Know-how war auf Taiwan nun nicht mehr im notwendigen Maße vorhanden. Hinzu kam die drohende Niederlage der Kuomintang (KMT) im chinesischen Bürgerkrieg sowie der Rückzug des starken Partners USA 11 • Angesichts dieser Ausgangslage war zu erwarten, daß der lO

Vgl. Bürklin, S. 111 f.

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

Aufstieg Taiwans hiermit zumindest vorläufig beendet gewesen wäre. Daß sich stattdessen der ökonomische Aufstieg nach relativ kurzer Zeit fortsetzte, ist umso erstaunlicher, da sowohl in innen- als auch in außenpolitischer Hinsicht ein erhebliches Spannungspotential entstanden war. Die innenpolitische Spannungslinie entwickelte sich aus dem ethnischen Konflikt zwischen zuziehenden Festlandchinesen und alteingesessenen Inselbewohnem. Grundsätzlich begrüßten die Taiwanesen die neuen chinesischen Herren nach den Jahrzehnten der japanischen Fremdherrschaft. Die Rückordnung Taiwans an China führte aber auch zur Übertragung der Härten des Bürgerkrieges zwischen Kommunisten und Nationalisten auf die Insel. Taiwan wurde von den neuen KMTMachthabem anfänglich als Nachschubbasis für den Bürgerkrieg, dann als Ausgangsbasis zur Rückeroberung des kommunistischen Festlandes angesehen. In diesem Licht steht die Bemerkung Weggels: "Den Luxus freundlicher Beziehungen zur Bevölkerung von Taiwan glaubte man sich im Interesse der Rückeroberung des Festlandes nicht leisten zu können." 12 Insbesondere die diktatorische Amtsführung des KMT-Provinzgouvemeurs auf Taiwan, General Chen Yi, stand im krassen Gegensatz zur zwar diskriminierenden, aber dennoch eleganten japanischen Politik der vorausgegangenen Jahre. Die so erzeugte innenpolitische Spannung wurde durch eine sich verschärfende Wirtschaftskrise sowie Korruption und Schwarzhandel gesteigert. Ein weiterer verstärkender Faktor war der Wegfall der japanischen Unterdrückung oppositioneller Strömungen. Hierdurch wurde eine Kontrolle und Kanalisierung der aufständischen Strömungen gegen die KMT erheblich erschwert. Diese fanden letztlich in den Vorfällen vom 28. Februar 1947 einen blutigen Höhepunkt 13 . An diesem Tag 11 Unter Führung Sun Yat-Sens schloß sich im Jahre 1912 die Tongmenghui, die als revolutionäre Geheimgesellschaft maßgeblich den Sturz der letzten chinesischen Kaiserdynastie im Jahr 1911 bewirkt hatte, mit mehreren bürgerlichen Gruppierungen zur Nationalpartei Chinas Kuomintang (KMT) zusammen. Bis zu seinem Tod im März 1925 war Sun der unumstrittene Führer der KMT. Seine Ideen beeinflussen die Programmatik der KMT bis heute. Im Anschluß an den chinesischen Bürgerkrieg, in welchem die KMT den kommunistischen Truppen Mao Tse Tungs unterlag, flohen Großteile von KMT-Partei und -Armee unter Führung Chiang Kai-sheks in den Jahren 1948/49 nach Taiwan und stellten seitdem bis 1999 die Regierung. Zu den näheren Umständen der Revolution von 1911 und der anschließend erfolgten Gründung der KMT vgl. Herrmann Halbeisen, Die chinesische Republik zwischen Modemisierung und Bürgerkrieg: 1911 - 1949, in: Carsten Herrmann-Pillath/Michael Lackner (Hg.), Länderbericht China. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 351, Bonn 1998, S. 135 - 153, hier S. 135 ff.; Osluzr Weggel, Vom Objekt der Großmächte zur Unabhängigkeit: China in der Weltpolitik (1895- 1949), in: Herrmann-Pillath/Lackner, S. 154- 166, hier S. 157 ff. Zu den auf Taiwan handelnden Personen innerhalb der KMT zu Zeiten der Wirren gegen Ende des chinesischen Bürgerkriegs 1948/49 vgl. Goddard, S. 177 ff. 12 Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 31. 13 Vgl. Rarnon H. Myers (Hg.), A Tragic Beginning. TheTaiwan Uprising of February 28, 1947, Stanford 1991.

II. Flüchtlingsströme nach dem II. Weltkrieg

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wurden die schon Tage andauernden Demonstrationen gegen die neuen KMTMachthaber durch den KMT-General Chen Yi in grausamster Weise niedergeschlagen. Es kam zu Massenverhaftungen und standrechtlichen Erschießungen. Die Signalwirkung dieser Niederschlagung sowie die resultierenden Spannungen zwischen Taiwanesen und Festlandchinesen sollten noch Jahrzehnte anhalten und sind zum Teil heute noch spürbar. Daß der ethnische Konflikt sich nach diesem blutigen Höhepunkt nicht weiter steigerte und sich Ende der 40er Jahre abschwächte, hat seine Gründe zum einen in den geschilderten Ereignissen. Zum anderen führte die Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg in den Jahren 1948/49 zur Flucht der KMT-Führung mitsamt ihrer Armee nach Taiwan. Die Übersiedlung von 587.000 Soldaten nach Taiwan machte "die KMT-Eiite von der Unterstützung der taiwanesischen Bevölkerung unabhängig"14. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, daß die innerparteilichen Gegner Chiang Kai-sheks nicht nach Taiwan übersiedelten bzw. nicht übersiedeln durften 15 • Die nach Taiwan mit ihren Truppen übergesiedelten militärischen Führer - potentielle Rivalen Chiangs - mußten sich überdies die Zerschlagung oder Reorganisation ihrer Truppen gefallen lassen, so daß sie danach deutlich geschwächt dastanden, zumal die Reorganisationen von einem der engsten Verbündeten Chiangs, General Chen Cheng, durchgeführt wurden. Auch kamen die Chiang skeptisch gegenüberstehenden und einflußreichen Geschäftsleute wie T. V. Soong und H. H. Kong nicht nach Taiwan. Die führenden neuen Politiker waren fast ausnahmslos solche, welche zu seinem engen Gefolge aus der Zeit in Zhejiang zählten oder ihm bereits gedient hatten, als Chiang noch Kommandeur der Whampoa-Militärakadernie war16• Insgesamt wurde dadurch eine nie mehr erreichte Geschlossenheit der Partei ermöglicht und trug so zur wachsenden innenpolitischen Stabilität bei. Chiang Kai-shek wurde aufgrund seiner uneingeschränkten Kontrolle über Partei, Militär und Regierung so"... auf Jahre zum unangefochtenen Führer ... " 17• Alle Faktoren gemeinsam festigten die Macht Chiang Kai-sheks erheblich. Auch wenn es die Taiwanesen nicht beabsichtigt hätten, wäre ein ethnisch begründetes Aufbegehren gegen die Festlandchinesen von der KMT sehr leicht als politisch begründeter Aufstand interpretiert worden. Zudem war 1948 das Kriegsrecht eingeführt worden und die unten näher beschriebenen Ausnahmeregelungen "für die Dauer des kommunistischen Aufstands" erlassen worden. Beides zusammen erschwerte jegliche Form der Opposition, wenn es sie nicht nahezu unmöglich machte. Die taiwanesische Bevölkerung war daher höchstwahrscheinlich aus Angst um Vgl. Bürklin, S. 117. Einige Heerführer aus entfernteren Regionen, wie z. B. der General Li Tsung-jen aus Guangxi folgten Chiang nicht. Anderen Teilen der Truppe, welche nicht als enge Verbündete Chiangs angesehen wurden, wie z. B. den aufHainankämpfenden Truppenteilen wurde die Erlaubnis, nach Taiwan zu kommen, verweigert. Vgl. Ezra F. Vogel, The Four Little Dragons. The Spread of Industrialization in East Asia, Carnbridge/Mass. 1991, S. 16. 16 Ebenda. 11 Vgl. Bürklin, S. 117. 14 15

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

das eigene Leben und weniger aus konfuzianischem Harmoniedenken heraus nicht bereit, ein erneutes Aufbegehren zu wagen und eine blutige Wiederholung des 28. Februar 1947 zu riskieren. Hierdurch festigte sich das Machtmonopol der KMT zunächst, und das innenpolitische Konfliktpotential kam nicht zum Tragen. Die außenpolitische Spannungslinie resultierte aus der Niederlage der KMT im chinesischen Bürgerkrieg. Die dadurch Ende der 40er Jahre einsetzende Flüchtlingswelle, welche rund 1,6 Mio. Menschen nach Taiwan führte, die fortdauernde militärische Bedrohung der Republik China auf Taiwan durch die VR China sowie die nahezu komplett weggefallene amerikanische Wirtschafts- und Militärhilfe verschlechterten die Grundstimmung der taiwanesischen Bevölkerung weiter 18•

Daß sich der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten nicht auch auf Taiwan entfaltete, ist vor dem weltpolitischen Hintergrund jener Zeit zu sehen. Der aufkeimende Ost-West-Konflikt sowie der 1950 ausbrechende Korea-Krieg waren bestimmende Faktoren. Aufgrund der sich häufenden Korruptionsvorfalle innerhalb der KMT-Administration, des diktatorischen und militärisch-aggressiven Regierungsstils sowie aufgrund der verlorengegangenen Unterstützung der KMT durch die chinesische Bevölkerung entzogen die USA der KMT ab 1947 zunehmend die Unterstützung 19. Hinzu kam, daß sich die KMT-Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg abzeichnete, so daß vielleicht auch die Hoffnung der USA auf den großen Absatzmarkt Festlandchinas dazu beitrug, daß sich die USA bis zum Ende der 40er Jahre weitgehend von ihrem alten Bündnispartner Chiang Kai-shek entfernten und die vormals erfolgte Unterstützung der Kuomintang deutlich reduzierten und im Januar 1950 (voriibergehend) ganz einstellten20. Spätestens mit dem Einmarsch chinesischer Truppen in Nordkorea und dem Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950 kehrte sich die US-amerikanische Politik erneut völlig um. Statt der vormals ausgegebenen Devise des Hands-off wurde nun die Dominotheorie entwickelt, die Devise des roll-back ausgegeben und Taiwan wurde dank seiner geopolitisch strategischen Lage mit Militär- und Wirtschaftshilfe versehen sowie bis zum Jahr 1969 unter den Schutz der 7. USFlotte gestellt21 • Wahrend des Korea- und dann später auch während des VietnamKrieges hatte Taiwan die strategisch wichtige Position eines unversenkbaren Flugzeugträgers der USA direkt vor dem roten Kontinent Asien inne22. Durch die massive US-Unterstützung entstand auf militärischem Gebiet eine Pattsituation zwischen dem nationalistisch geführten Taiwan und der kommunistisch bestimmten VR China. Weder konnte die VR China Taiwan gegen den Willen der USA einneh18 Vgl. Kuo-ting Li, The Evolution of Policy behind Taiwan's Development Success, New Haven und London 1988, S. 49. 19 Vgl. Klintworth, New Taiwan, New China, S. 54 f. 20 Am 5. Januar 1950 erklärte US-Präsident Truman, die USA werde sich nicht in den chinesischen Bürgerkrieg hineinziehen lassen. Vgl. Klintworth, New Taiwan, New China, S. 54. 21 Vgl. Klintworth, New Taiwan, New China, S. 55. 22 Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 32.

II. Flüchtlingsströme nach dem II. Weltkrieg

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men, noch verfügte Taiwan über die nötige militärische Stärke, um seinerseits den Alleinvertretungsanspruch für Gesamtchina - den beide chinesische Staaten damals vertraten -in die Tat umzusetzen. Damit konnte auch das außenpolitisch-militärische Spannungspotential seine Wirkung nicht entfalten.

2. Die Festigung des Machtmonopols der Kuomintang in den 50er Jahren Ende der 40er Jahre war die Situation politisch festgefahren, und es bestand keine realistische Chance für Taiwan, die angestrebte Wiedervereinigung zu erreichen. Gleichzeitig war die Insel der fortdauernden militärischen Bedrohung einer hochrüstenden VR China ausgesetzt23 • Überdies lehnte die taiwanesische Bevölkerung aufgrund der Vorfälle vom Februar 1947 die KMT-Regierung mittlerweile weitgehend ab. Hieraus entstand erheblicher Druck, das politische System zu reformieren, die Wirtschaft zu Höchstleistungen anzutreiben und die militärische Abwehr zu organisieren. Letztere war in den ersten Jahren das dringendste Problem, kam es doch "zwischen 1950 und 1962 beinahe pünktlich alle vier Jahre"24 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen der beiden chinesischen Staaten. Ohne die US-amerikanische Militär- und Wirtschaftshilfe hätte Taiwan diese Zeit kaum durchstehen können. Im Gegenzug für diese Hilfe erwarteten die USA politische und ökonomische Reformen. Diesem Drängen wurde von taiwanesischer Seite nachgegeben, indem die im Jahr 1946 noch auf dem Festland beschlossene liberale Verfassung nach westlichem Vorbild eingeführt wurde und 1950 dann mit technischer Unterstützung der USA eine Bodenreform durchgesetzt wurde25 . Gleichzeitig wurde dem Umstand Rechnung getragen, daß die Bevölkerung unzufrieden war und aufgrund der historischen Erfahrung eine besondere Angst vor 23 Nach Sowjetunion und USA gab die VR China in jenen Jahren am meisten Geld, bemessen in Prozentpunkten des BIP, für militärische Hochrüstung aus. So kehrte sich die anfängliche militärische Überlegenheit Taiwans schnell in eine Unterlegenheit um. 24 Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 33. 25 Die Verfassung hat entgegen den Verfassungen westlicher Systeme fünf Verfassungsorgane. Diese bestehen wie in westlichen Systemen aus Exekutiv-Yuan, Legislativ-Yuan und Judikativ-Yuan. Darüber hinaus existiert ein besonderes Kontrollorgan, der Kontroll-Yuan sowie der Examens-Yuan, der die Examina für Ein- I Aufsteiger in das bürokratische System konzipiert, abnimmt und den ordnungsmäßigen Verlauf sicherstellt. Aus der Existenz eines eigenen Verfassungsorgans kann die Bedeutung des Eintritts in die Bürokratie in der chinesischen Tradition deutlich abgelesen werden. Auf die Spezifika der taiwanesischen Verfassung kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu o. V., Die Republik China. Taiwan Handbuch, 3. Auflage, Taipeh 1994, S. 34 ff. sowie zu einer umfassenderen Darstellung lohn F. Copper, Taiwan. Nation-State or Province?, San Francisco/London 1990, Kapitel4.

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

kommunistischen ,Umtrieben' vorherrschte. Insbesondere das Schockerlebnis des 28. Februar 1947 sowie die gerade erfolgte Niederlage in Festlandchina waren für die KMT bestimmende Faktoren, die neue Verfassung bereits 1948 wieder außer Kraft zu setzen und gegen eine Art Ermächtigungsgesetz für den Staatspräsidenten, die sogenannten Einstweiligen Mobilmachungsregeln für die Zeit der Niederwerfung der kommunistischen Aufständischen, auszutauschen26. Dieses als Interimsregelung vorgesehene Gesetz wurde erst am 30. April 1991 wieder aufgehoben. Entscheidend an den Einstweiligen Mobilmachungsregeln war die Stärkung der ohnehin zentralen Rolle des Präsidenten. Dieser erhielt weitreichende Befugnisse, unmittelbare Bedrohungen der Sicherheit des Staates oder Bedrohungen für die Bevölkerung abzuwenden. Die Abwendung ernster finanzieller Krisen gehörte nun ebenfalls zu seinem Aufgabenbereich. Bemerkenswert ist, daß die Macht des Präsidenten derart ausgeweitet wurde, daß er jetzt sämtliche ihm notwendig erscheinenden Maßnahmen ohne Zustimmung des Parlamentes ergreifen konnte27 . Die Einstweiligen Mobilmachungsregeln sollten nur für die Zeit der Niederwerfung der kommunistischen Aufständischen Gültigkeit besitzen. Doch nur der Präsident konnte diese für beendet erklären - er hätte sich also selbst entmachten müssen. Diese weitreichende Vollmacht wurde 1960 zusätzlich ausgedehnt durch die Bestimmung, eine Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten existiere fortan nicht mehr. 1966 wurde dies nochmals erweitert durch die dem Präsidenten erteilte Genehmigung, die verfassungsmäßige Struktur der Regierung nach Gutdünken umzugestalten und neue Institutionen auch außerhalb der Verfassung und damit außerhalb der parlamentarischen Kontrolle anzusiedeln. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Bildung eines Nationalen Sicherheitsrates28 . Dieser, nicht die Regierung, war das wichtigste Entscheidungsgremium, und seine Zusammensetzung rekrutierte sich aus höchsten Parteifunktionären und Militärs29. Neben den Einstweiligen Mobilmachungsregeln trug auch die sehr späte Abschaffung des Kriegsrechts, welche erst knapp vierzig Jahre später am 15. Juli 1987 erfolgte, zur innenpolitischen Stabilisierung bei. Zahlreiche verfassungsmäßig garantierte Rechte wie Pressefreiheit, Postgeheimnis, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit, Parteien zu gründen, waren außer Kraft gesetzt. Der amerikanische Vorwurf, es handele sich um ein Ein-Parteien-System, sollte durch die Gründung zweier KMT-Schwesterparteien abgewehrt werden. Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß keine offene politische Landschaft entstand. Erst die Kombination aus der Abschaffung des Kriegsrechts (1987), der Einstweiligen Mobilmachungsregeln (1991) sowie die 1989 erteilte allgemeine

Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 35 f. Vgl. Bürklin, S. 122. 28 Vgl. Bürklin, S. 122 ff. 29 Vgl. Hubert Lehmann, Wirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik in Taiwan, Dissertation an der Ruhr-Universität Bochurn, Bochurn 1970, S. 56. 26 27

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950-1962)

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Genehmigung zur Gründung von Parteien (allerdings wieder unter Ausnahme der kommunistischen) führte zu politischem Pluralismus. Neben der faktischen Unmöglichkeit mittels Parteigründung und der Wahrnehmung des passiven Wahlrechts außerhalb der KMT politisch mitzuwirken, trug die Blockierung des aktiven Wahlrechts der taiwanesischen Bevölkerung dazu bei, die taiwanesische Bevölkerung vom politischen Willensbildungsprozeß fernzuhalten und insoweit- zumindest aus Perspektive der regierenden KMT- zur innenpolitischen ,Lagestabilisierung' bei. Aufgrund einiger Besonderheiten des Wahlrechts bestand nämlich für die taiwanesische Bevölkerung keine echte Chance am politischen Willensbildungsprozeß teilzunehmen. Denn um den Alleinvertretungsanspruch für Gesamt-China aufrecht zu erhalten, war das Parlament der Republik China mit Sitz auf Taiwan regional aufgegliedert und zwar dergestalt, daß nur die Volksvertreter, welche die Provinz Taiwan repräsentierten, auch von der taiwanesischen Bevölkerung gewählt werden konnten. Die Vertreter aller anderen Provinzen hätten von der Bevölkerung der jeweiligen chinesischen Provinz gewählt werden müssen. Die letzte gesamtchinesische Wahl war unter KMT-Regie 1947 I 48 durchgeführt worden, und die Kontrolle der VR China über sämtliche Provinzen Chinas mit AusnahmeTaiwans machte eine gesamtchinesische Neuwahl unmöglich. Nach Ablauf der ersten Legislaturperiode wurde daher die Amtszeit der Vertreter der Festlandprovinzen verlängert, was letztlich zur Schaffung der sogenannten ,ewigen Abgeordneten' führte. Insgesamt trug dies erheblich zur Festigung des Machtmonopols der KMT bei. Erstens waren die bei der Wahl von 1947 I 48 bestimmten Festlandsabgeordneten treue KMT-Anhänger. Zweitens war der Gesamtanteil der Mandate, die auf die Provinz Taiwan entfielen, unbedeutend. Der Anteil wurde zwar im Zeitablauf mehrfach erhöht, blieb aber dennoch so gering, daß selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß sämtliche taiwanesischen Stimmen auf parteilose Oppositionspolitiker entfallen wären, die Mehrheit immer noch bei der KMT verblieben wäre. Im Ergebnis manifestierte das System der ,ewigen Abgeordneten' den Machtanspruch der KMT über Jahrzehnte. In seinen Grundzügen wurde dies System bis spät in die achtziger Jahre hinein aufrechterhalten und ist ein weiteres Beispiel für -je nach Lesart - die innenpolitische Kontinuität oder lange fortdauernde Repression der Bevölkerung Taiwans30.

111. Makroökonomische Stabilisierung (1950 -1962) 1. Vorbemerkungen

Innenpolitische Stabilisierung und Kontinuität lassen sich nicht allein durch Machtmonopol, Unterdrückung und Entwicklungsdiktatur erreichen. Neue Regierungen, wie die KMT auf Taiwan, müssen Erfolge aufweisen, um auf Dauer dem 30

Vgl. auch Bürklin, S. 121 f.

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

Legitimationsdruck standzuhalten. Bei der KMT-Führung spielten von Anbeginn ökonomische Entwicklungsziele eine dominante Rolle zur Legitimierung ihres Machtmonopols, denn Taiwan sollte nach dem Willen seines politischen Führers Chiang Kai-shek Symbol des ,neuen China' sein31 . Die wirtschaftspolitische Strategie bis zum Jahr 1962 bestand im wesentlichen aus einer Landreform (Agrarsektor) und einer gezie1ten Importsubstitutionsförderung (lndustriesektor). Zwischenziel war demnach die Stärkung der Binnenwirtschaft, auf welcher später der Export arbeitsintensiver Industriegüter aufbaute. Wird als weiteres Element der taiwanesischen Entwicklungspolitik das Bestreben, Verteilungskämpfe stets im vorhinein zu vermeiden, berücksichtigt, so werden die Parallelen zur Strategie des Growth cum equity deutlich 32. Verstärkt wurde dies aufgrund des im Gefolge der japanischen Kolonialzeit vergleichsweise hohen Bildungsniveaus und der hohen Fähigkeit zur Absorption neuen Wissens sowie durch die von vielen Autoren herausgehobenen Merkmale eines hohen Anpassungsgrades an veränderte Rahmenbedingungen und der über lange Zeit niedrigen Arbeitskosten33. Diese Merkmale sind wechselseitig miteinander verflochten- es handelt sich um dynamische Interaktionsbeziehungen. Die Strategie des Growth cum equity war Vorbedingung der langfristig niedrigen Arbeitskosten, jene ermöglichten eine hohe Reagibilität der Wirtschaftspolitik, und diese wiederum macht den Erfolg einer Growth cum equity Strategie wahrscheinlicher. Angesichts extrem hoher Inflationsraten gegen Ende der vierziger Jahre bedurfte es zunächst der ökonomischen Stabilisierung, bevor die strukturellen Reformen greifen konnten. Hierzu betrieb die taiwanesische Regierung eine konsequente Antiinflationspolitik. Die Stabilisierungspolitik wurde in drei Schritten durchgeführt: Der erste Schritt bestand darin, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erwartungshaltung, die Inflation werde sich stetig fortsetzen, zu durchbrechen. Die Durchbrechung dieser Inflationspsychologie gelang mit der Umsetzung der Wabrungsreform 1949, in deren Gefolge die Inflationsrate von 3.000 Prozent p. a. im ersten Halbjahr 1949 auf rund 300 Prozent im Jahr 1950 fiel 34. Der zweite Schritt bestand in der Absorption des heimischen Geldangebotes durch die gezielte ManiVgl. Goddard, S. 184. Die Strategie des Growth cum Equity entspricht dem Ziel, bereits während des Wachstumsprozesses eine annähernd gleichmäßige Einkommens- und Vermögensverteilung zu erreichen und steht damit der alten These von Sirnon Kuznets entgegen, der aufgrund empirischer Untersuchungen der Entwicklungsprozesse in den alten Industrieländern zu dem Ergebnis gekommen war, Wachstum gehe zunächst stets mit zunehmender Ungleichheit der Einkommensverteilung einher und die Ungleichheit könne erst nach Erreichen des Wachstumsziel korrigiert werden. Die Einkommensverteilung nehme damit im Wachstumsprozeß einen U-förmigen Verlauf. Die Growth cum Equity Strategie kann auch als Politik gekennzeichnet werden, die darauf abzielt, Wachstumskoalitionen zu formen. 33 Vgl. International Bankfor Reconstruction and Development- The World Bank (Hg.), The East Asian Miracle. A World Bank Policy Research Report, Washington 1993, S. 15. 34 Vgl. Shirley W.Y. Kuo, The Taiwanese Economy in the 1990s, in: Klintworth, Taiwan in the Asia-Pacific in the 1990s, S. 89- 120, hier S. 93. 31

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III. Makroökonomische Stabilisierung ( 1950- 1962)

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pulation der Zinssätze. Den dritten Schritt stellte das Streben nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt dar. Alle drei Maßnahmen wurden in den Jahren ab 1949 durchgesetzt und entfalteten rasch ihre Wirkung. Im Durchschnitt der Jahre 1952 bis 1960 betrug die Inflationsrate noch 8,2 Prozent und während der sechziger Jahre durchschnittlich nur noch 3 Prozent35 .

2. Die taiwanesische Landreform

Weit wichtiger war die Durchführung der 1948 beschlossenen Landreform in den Jahren 1950-54. Die Idee der Landreform geht auf Sun Yat-sen zurück, wurde aber im festländischen China der 30er Jahre von der KMT allzulang vernachlässige6. Ein großer Teil der Landbevölkerung waren damals arme Pächter gewesen, und deshalb hatte neben anderen Faktoren die Vernachlässigung der Landfrage dazu beigetragen, daß sich die Landbevölkerung während des chinesischen Bürgerkrieges von der Kuomintang (KMT) ab und der Kommunistischen Partei zuwandte. Insofern ist die rasche Umsetzung der Landreform auf Taiwan sicherlich eine der Konsequenzen der KMT aus der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg. Um wenigstens Taiwan halten zu können, mußten die auf dem Festland gemachten Fehler vermieden und die Masse der Landbevölkerung für die Regierung gewonnen werden. Vollständige Eigentümer der von ihnen bebauten Agrarfläche waren 1949 nur 33,7 Prozent der Bauern, und überdies gewann die noch zur japanischen Besatzungszeit aufTaiwan gegründete kommunistische Partei stetig an Einfluß37 • Anfang des Jahres 1949 wurde der bisherige Provinzgouverneur Chen Yi durch Chen Cheng abgelöst. Dieser nahm unmittelbar nach Amtsantritt die Landreform auf Taiwan in Angriff, was dadurch erleichtert wurde, daß die KMT unter der einheimischen Bevölkerung und besonders unter den Großgrundbesitzern wenig Anhänger hatte. Rücksicht auf eigene Parteifreunde, wie auf dem Festland geschehen, mußte daher nicht genommen werden. Darüber hinaus hatte sich im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Februar 1947 gezeigt, daß die aufständischen Bestrebungen von der einheimischen Großgrundbesitzerklasse getragen und finanziert worden waren. Um dieser Unabhängigkeitsbewegung, welche nur blutig und mit Mühen niedergeschlagen worden war, die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen, sollten die Grundbesitzer politisch entmachtet werden. Außerdem existieren Hinweise, daß die US-amerikanische Regierung verstärkten Druck ausübte, die begonnene Landreform beschleunigt zu Ende zu bringen. Dies sollte vor dem HinterVgl. Kuo, Taiwanese Economy in the 1990s, S. 93. Vgl. Yat-sen Sun, San Min Chu I. The Three Princip1es of the People, hrsg. von Commission for the Compilation of the History ofKuomintang, Taipei 1953, S. 151 - 213. 37 Vgl. Cheng Chen, Land Reform in Taiwan, o. 0 . 1961, S. 308, Tabelle 3 und Lehmann, S. 96. 35

36

32

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

grund betrachtet werden, daß die KMT-Führung Taiwans bemüht war, im freien Westen - auf den man jetzt zwingend angewiesen war - eine Aufbesserung des eigenen Ansehens zu bewerkstelligen38. In offiziellen taiwanesischen Publikationen finden sich diese Begründungen für die Landreform freilich nicht. Vielmehr wird dort auf ökonomische und ideologische Argumente verwiesen. Als wirtschaftliche Gründe werden genannt, daß mit der Landreform die Voraussetzungen zur weiteren Entwicklung der Landwirtschaft und damit via Rückkopplungseffekte der gesamten Volkswirtschaft gelegt werden sollten. In anderen Worten heißt dies, daß nicht nur ein sozialer Ausgleich der Vermögensverhältnisse herbeigeführt, sondern auch unmittelbarer Anstoß zu Produktionserhöhungen und Produktivitätsverbesserungen gegeben werden sollte. Der ideologische Grund zur Durchführung der Landreform ist in dem Hauptwerk von Sun Yat-sen, dem San Min Chu I (Drei Grundlehren vom Volk) zu finden39. Die Anfang der zwanziger Jahre verfaßten Grundlehren waren wichtige Richtschnur der taiwanesischen Entwicklungspolitik. Dies zeigt sich u. a. daran, daß der langjährige Präsident Taiwans, Chiang Kai-shek sie in fast jeder Rede als Leitmotiv seines Handeins betonte und Taiwan als "Das neue China des San Min Chu I" bezeichnete40. Aber auch andere hochrangige Regierungsmitglieder weisen den San Min Chu I als Richtschnur taiwanesischer Entwicklungspolitik aus41 . So etwa der damalige Vizepräsident C. K. Yen: "The econornic policies of my govemment have been developed within the framework of the constitution and the philosophy of Dr. Sun Yat-Sen"42. Deutlich wird dies auch bei Li-Kuo-ting, welcher von 1965 bis in die späten 80er Jahre unter anderem als Wirtschafts- und Finanzminister Hauptbeteiligter der taiwanesischen Entwicklung war. Er führt aus: "In undertaking economic development in Taiwan our basic aim is to attain the political ideals of the Three People's Principles"43 .

Vgl. Lehmann, S. 97. Englische Übersetzung der Verfassung. Vgl. Lehmann, S. 45. 40 Lehmann, S. 45. 41 Die Liste mit Zitaten, in denen die Philosophie Sun Yat-sens als wegweisende Staatsund Entwicklungsideologie bezeichnet wird, läßt sich beliebig lang fassen. Kindennann bezeichnet sie als "a kind of state cult" . Der San Min Chu I kann als nationalchinesische Staatsideologie bezeichnet werden, obwohl Lehmann einschränkt, es sei schwer einschätzbar, inwieweit es sich bei den Bekenntnissen nur um Lippenbekenntnisse handele und er weist insbesondere darauf hin, daß der San Min Chu I von jüngeren, im Ausland universitär gebildeten Politikern als ideologischer Ballast empfunden wird. Vgl. Gottfried-Karl Kindermann, Sun Yat-Senism as a Model for Syncretistic ldeologies of Developing Countries, in: Richard Löwenthal (Hg.): Issues in the Future of Asia, Comrnunist and Non- Comrnunist Alternatives, New York, Washington und London 1969, S. 149- 176, hier S. 149 sowie Lehmann, S. 46 f. 42 C. K. Yen, The Trend of our Economic Deve1opment, in: Industry of Free China, Vol. XXIII, No. 5 (Mai 1965), S. 2. 43 Vgl. Kuo-ting Li, Current Economic Situation and Policy, in: Industry of Free China, Vol. XXIII, No. 4 (April 1965), S. 7. 38

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III. Makroökonomische Stabilisierung ( 1950- 1962)

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Obwohl der San Min Chu I in nationalchinesischen Publikationen regelmäßig als Begründung der Landreform herhalten muß, finden sich im San Min Chu I selbst nur schwache Aussagen bezüglich einer Landreform. So fordert Sun zwar allgemein den Ausgleich der Grundbesitzrechte, versteht hierunter jedoch an den meisten Fundstellen nicht eine Bodenreform, sondern neben anderen Dingen die Abschöpfung des Wertzuwachses am Land durch die Regierung. Erst am Ende seines Werkes und dort auch nur kurz geht er explizit auf die Notwendigkeit einer Landreform ein. Es kann daher gesagt werden, daß die sich auf das Werk Sun Yatsens berufende ideologische Begründung der Landreform schwach fundiert ist44 • Ein Grund für die schnelle und energische Durchführung der Landreform ist, wie Lebmann zu Recht ausführt, auch im persönlichen Einsatz des Gouverneurs Chen Cheng zu suchen45 . Dieser hatte sich bereits als Gouverneur der Provinz Rubei in den Jahren 1939-40 im Gegensatz zu anderen Provinzgouverneuren für eine Landreform eingesetzt und die Pacht in Hubei auf 25 Prozent des Jahresertrages herabzusetzen versucht46 • Chen Cheng trat am 5. Januar 1949 sein Amt als taiwanesischer Provinzgouverneur an, und bereits am 12. April d. J. trat die erste von drei Stufen der Bodenreform in Kraft. Vor Beginn der Bodenreform waren nur 33,7 Prozent der taiwanesischen Bauern Voll- und weitere fünfzehn Prozent Teileigentümer des von ihnen bebauten Bodens. Die übrigen Bauern waren Pächter des bewirtschafteten Landes, wobei die Pachtverträge Abführungen von im Durchschnitt mehr als 50 Prozent und in Einzelfällen bis zu 70 Prozent des Ertrages vorsahen. Die Pächter waren überdies oft dazu verpflichtet, die Pacht im voraus zu entrichten, und unabhängig von der Brotemenge war eine Mindestpacht festgesetzt. Außerdem mußten die Pächter Sicherheitsleistungen hinterlegen und die benötigten Hilfs- und Betriebsstoffe selber stellen. Die Bodenreform wurde in drei Schritten durchgeführt: Als erster Schritt wurde die Bodenpacht auf 37,5 Prozent des Normalertrages reduziert sowie eine Mindestpachtdauer von sechs Jahren vorgeschrieben. Dadurch, daß die Verträge erstmalig schriftlich fixiert und bei den Behörden registriert wurden, befand sich der Bauer in einer juristisch abgesicherten Position und konnte eine persönliche Kosten-Nutzen-Analyse durchführen, was einem ungeheuren Leistungsanreiz entsprach und sich in ständig neuen landwirtschaftlichen Rekorderträgen niederschlug. Bei der Festsetzung der Pacht auf 37,5 Prozent des Jahresertrages ging man davon aus, daß 25 Prozent des Ertrages auf die Produktionskosten entfallen. Die restlichen 75 Prozent wurden an die Faktoren Boden und Arbeit gleichmäßig aufgeteilt, so daß sich eine Pacht in Höhe von 37,5 Prozent ergab. Außerdem konnte der als Berechnungsgrundlage dienende Normalertrag bei Mißern44 45

46

Vgl. Lehmann, S. 98 f. Vgl. Lehmann, S. 99 f. Vgl. Cheng Chen, S. 19.

3 Fronius

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

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ten ermäßigt werden. Weitere Besserstellungen des Pächters umfaßten die Einräumung eines Vorkaufsrechtes auf das bearbeitete Land sowie die Bestimmung, daß der Grundherr den Vertrag nicht ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist auflösen konnte. Der Grundherr hatte seinerseits das Recht, den Pachtvertrag zu kündigen, wenn die Pachtsumme von zwei Jahren nicht bezahlt wurde oder der Pächter das Land unbearbeitet ließ. Der Grundherr konnte das Land nur dann selbst bearbeiten, wenn der Pächter zur Bebauung nicht fahig war oder sein Einkommen nicht ausreichte47. Zur reibungslosen Durchführung errichtete die Provinzregierung Komitees, die mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der verschiedenen Ebenen besetzt waren48 . Nach Durchführung des Programms wurden diese Komitees durch Pachtkomitees ersetzt, welche die abgeschlossenen Maßnahmen zu überwachen hatten. Diese Komitees setzten sich aus Vertretern der Regierung, der Bauern und der Landeigentümer zusammen. Dieser erste Schritt der Landreform erhielt am 12. April 1949 Gesetzeskraft. Der zweite Schritt der Landreform begann ab 1951 und ist im Zusammenhang mit der japanischen Kolonialzeit zu sehen. Neben einer relativ gut ausgebildeten Bevölkerung hatte die japanische Kolonialzeit einen extrem hohen Prozentsatz staatlichen Eigentums an Boden hinterlassen, welcher nach 1945 an verschiedene nationalchinesische Stellen wie Zentral- und Provinzregierung sowie Kommunen übertragen worden war. Ungefahr 60 Prozent des Landes war verpachtet, der Rest unterstand unmittelbar der öffentlichen Hand. Mit dem Verkauf des Landes an Private wurde nach der Verabschiedung der im Juni 1951 erlassenen Verordnungen begonnen, wobei die jeweiligen Pächter ein Vorkaufsrecht wahrnehmen konnten49. Der Kaufpreis war auf das 2,5-fache der durchschnittlichen Jahresernte festgelegt und war zahlbar in zehn Jahresraten. Kaufraten und Landsteuer sollten zusammen 37,5 Prozent des Jahresertrages nicht übersteigen. Der Gesamteffekt war, daß sich Kauf- und Pachtbelastung in langfristiger Betrachtung ungefahr entsprachen und Kaufanreize für die Pächter bestanden. Von 1948 bis 1958 wurde in sechs Tranchen rund 40 Prozent des öffentlichen Landes veräußert50• Alles in allem veränderte die staatliche Förderung des Erwerbs an Grundeigentum die Eigentumsstruktur völlig und trug zur Bildung vieler bäuerlicher Kleinbetriebe bei. Dies erhöhte zusätzlich den Leistungsanreiz im landwirtschaftlichen Sektor. Die dritte Stufe der Bodenreform ist unter dem Namen Land to the Tiller Act bekannt. Der Land to the Tiller Act enthielt mit der Landumverteilung das Herzstück der Landreform. Nachdem in mehr als einjähriger Arbeit das gesamte Ackerland klassifiziert worden war, wurde am 26. Januar 1953 der Land to the Tiller Act 47

Vgl. o. V., The Farm Rent Reduction to 37,5% Act, 7. 06. 1951, in: Cheng Chen,

s. 191 ff.

Vgl. Cheng Chen, S. 23 ff. Vgl. o. V., Regulations Goveming the Sale of Public Farm Lands to Establish OwnerFarmers in Taiwan Province, in: Cheng Chen, S. 198 ff. so Vgl. Cheng Chen, S. 63. 48 49

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950-1962)

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verabschiedet. Dieses Gesetz ließ sich von dem Gedanken leiten, daß erstens die finanziellen Lasten des Pächters beim Erwerb von Land nicht erhöht werden, daß zweitens die Interessen der Grundeigentümer gewahrt bleiben und daß drittens Grundbesitzer für ihr Eigentum an Land mit Eigentum an Industrie entschädigt werden5 1. Der Land to the '!Wer Act sah vor, allen Grundeigentümern, deren Besitz 3 ha Land pro Kopf überschritt, die diese Fläche übersteigende Menge abzukaufen. In 90 Prozent der Fälle trat der Staat als Käufer auf, um anschließend das erworbene Land zum Einstandspreis an die bisherigen Pächter weiterzuverkaufen52• Der Preis des Landes betrug auch hier das 2,5-fache des jährlichen Normalertrages und die Belastung des Käufers sollte 37,5 Prozent des Jahresertrages nicht übersteigen. Die bisherigen Eigentümer sollten aus zwei Gründen vollständig entschädigt werden. Erstens wollte man sich damit von der zum gleichen Zeitpunkt in der VR China durchgeführten Landreform unterscheiden und zweitens hoffte man durch die Gewährung großzügiger Entschädigungen die ehemalige Großgrundbesitzerklasse für die Regierung gewinnen zu können und zum Aufbau einer neuen Unternehmerschicht beizutragen53 • Finanziert wurde der Aufkauf durch die Vergabe von Aktien der Staatsindustrie. Der Hintergrund besteht darin, daß vier große Gesellschaften, welche man von den Japanern übernommen hatte, zeitgleich zum Land to the Tiller Act privatisiert wurden. Hierbei handelt es sich um die Landund Forstwirtschaftsgesellschaft, die Industrie- und Bergbaugesellschaft, die Zementgesellschaft sowie die Papier- und Papiermassegesellschaft Die Aktien dieser Gesellschaften wurden an die ehemaligen Bodeneigentümer ausgegeben. 30 Prozent der Entschädigungssumme konnte so finanziert werden. Die restlichen 70 Prozent wurden durch die Ausgabe von Gutschriften beglichen, die jährlich mit vier Prozent verzinst wurden und innerhalb von zehn Jahren mit Bargeld, Reis und Süßkartoffeln abzulösen waren. Dadurch erreichte man einen willkommenen Doppeleffekt: Erstens wurde der Geldbetrag, der zum Kauf aufgewendet wurde, verringert. Eine Erhöhung der Geldumlaufsumme wurde so vermieden und dadurch inflationäre Tendenzen unterdrückt. Zweitens wurde der noch im Aufbau befindlichen Leichtindustrie Investiv- und Humankapital zugeleitet54• Bei der Durchführung des Land to the Tiller Act wirkten die Pachtkomitees unterstützend mit. Ein weiterer Clou des dritten Schrittes der Landreform bestand darin, daß die Regierung nach dem Landkauf den neuen Landbesitzern günstige Kreditmöglichkeiten bot und zur Bildung von Genossenschaften anregte. Diese trugen ebenfalls dazu bei, verbesserte Anbautechniken der green revolution zu implementieren55 . Obwohl erst am 1. Mai 1953 mit dem Verkauf von Land gemäß dem Land to the 'I'iller Act begonnen wurde, war das Programm bereits gegen Ende des Jahres abgeVgl. Cheng Chen, S. 172. Vgl. Cheng Chen, S. 75. 53 Lehmann bemerkt, daß dies zur damaligen Zeit eine untergeordnete Rolle spielte. Vgl. Lehmann, S. 103 54 Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 75 55 Vgl. o. V., The Land to the Tiller Act, in: Cheng Chen, S. 202 ff. 51

52

3*

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

36

schlossen. Es waren insgesamt 143 000 ha Pachtland an selbständige Bauern abgegeben worden. Durch alle drei Stufen der Landreform "wurden 256.000 ha Pachtland bzw. 29,3 Prozent des gesamten Ackerlandes an ehemalige Pächter übertragen"s6. Durch die Landreform hatten sich die Eigentumsverhältnisse im primären Sektor entscheidend verändert. Im Jahre 1952 waren nur ein gutes Drittel der Bauern Eigentümer und ein weiteres gutes Drittel Pächter des bebauten Landes gewesen. Im Jahre 1968 waren aufgrundder Landreform bereits gut zwei Drittel der Bauern Eigentümer, lediglich ein knappes Achtel noch Pächter und das restliche Fünftel waren sowohl Eigentümer als auch Pächter. Tabelle 1

Direkte Auswirkungen der Landrefonn57 1952

1968

679 750

977 114

davon zu 100% Pächter

36%

12%

davon zu 100% Eigentümer

38%

68%

Mischformen

26%

20%

landwirtschaftlich tätige Familien insgesamt

Die Größe der bebauten Fläche veränderte sich in diesem Zeitraum kaum, wohl aber stieg die Anzahl der von Landwirtschaft abhängigen Familien um rund 300.000. Parallel dazu verringerte sich die durchschnittlich pro Familie bebaute Fläche von I ,29 ha auf 0,92 ha Ackerland pro Familie. Rund 90 Prozent der Bauern bewirtschafteten weniger als 2 ha Acker, wasangesichtsder damals noch typischen Großfamilien impliziert, daß Nebeneinkünfte aus nichtlandwirtschaftlicher Tatigkeit wichtiger wurden. Das heißt, daß die Landreform eine Entwicklung begünstigte, welche die Entstehung von krisensicheren Familieneinkommen zur Folge hatte, weil Einkommen zunehmend aus landwirtschaftlicher und anderer Tatigkeit stammte und Schlechtwetterperioden, Taifune u. ä. zwar die Ernte schädigen, aber nicht mehr die wirtschaftliche Existenz zerstören konnten. Außerdem bedeutet dies, daß verstärkt Nebenerwerbsquellen im ländlichen Industriesektor gesucht wurden und daß manche ganz in die Städte abwanderten. Letztlich trug die Landreform so dazu bei, den Pool an willigen und billigen Arbeitskräften im jungen industriellen Sektor zu erhöhen, wodurch der Übergang von der Agrar- zur Industriewirtschaft erleichtert wurde. 56

57

Lehmann, S. 105. Vgl. Lehmann, S. 105.

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950-1962)

37

Insgesamt gesehen hatte die Bodenreform somit mehrere wirtschaftspolitisch erwünschte Effekte. Erstens wurden jetzt rund 90 Prozent des Bodens von Eigentümern bebaut, wodurch leistungssteigemde Effekte ausgelöst wurden und die Ernteergebnisse zunahmen. So wurde die Produktion von 1950 bis 1970 um 250 Prozent und bis 1980 um 300 Prozent gesteigert58 . Eine der Folgen der Landreform war, daß Taiwan bereits ab 1953 wieder Agrargüter exportieren konnte. Ein zweiter willkommener Effekt der Bodenreform war die erwähnte Zufuhr von Investivkapital in die Staatsbetriebe, der aus einem Doppeleffekt bestand. Die Bodenreform hatte eine Erhöhung der Produktivität beim Zucker- und Reisanbau bewirkt sowie gleichzeitig für die Zufuhr von Investivkapital in die Zucker und Reis verarbeitende Industrie gesorgt. Da zu Beginn der fünfzigerJahrenoch rund 60 Prozent der Exporterlöse aus dem Zucker- und rund 40 Prozent aus dem Reisexport stammten, löste die Bodenreform einen ökonomischen Anstoßeffekt größeren Ausmaßes aus.

3. Importsubstitutionsstrategie

Die Regierung Taiwans setzte zu Beginn des wirtschaftlichen Aufbaus im außenwirtschaftlichen Bereich auf die Förderung der Importsubstitution. Damit sollte die hohe Auslandsabhängigkeit verringert und überdies die Devisenbilanz stabilisiert werden. Zu diesem Zwecke wurden insbesondere auf den Gebieten der chemischen Industrie, der Kunstdüngerproduktion, der Ölverarbeitung, der Stahlindustrie, des Schiffbaus, der Energiegewinnung sowie des Verkehrs- und Nachrichtenwesens hohe Schutzzölle eingeführt. Besser als mit den Worten Mills läßt sich der Schutzzollgedanke kaum beschreiben. Er führt dazu aus: "Der ... Fall indem ... nach rein wirtschaftlichen Grundsätzen ein Schutzzoll sich verteidigen läßt, liegt dann vor, wenn er nur für eine Zeitlang ... in der Hoffnung eingeführt wird, eine ausländische Industrie einzubürgern, die den Verhältnissen des [eigenen] Landes an sich vollkommen entspricht. Die Überlegenheit eines Landes in einem Produktionszweig rührt oftmals nur daher, daß dieses mit seiner Pflege früher begonnen hat. Das eine Land braucht an sich kein besonderes Übergewicht, das andere sich in keiner besonders ungünstigen Lage zu befinden, sondern es braucht nur eine gegenwärtige Überlegenheit an erworbenen Kenntnissen und Erfahrungen vorzuliegen" 59 • Es geht also nicht um eine Umgehung des Prinzips der komparativen Kosten, sondern vielmehr um die Veränderung dieser. Daß sich hierbei weltwirtschaftliche Lerneffekte ergeben, welche die Weltwohlfahrt erhöhen (Positiv-Summen-Spiel), kleidet er in die Worte " ... nichts wirkt mehr dahin, Verbesserungen in einem Produktionszweig zu bewirLehmann, S. 76. lohn Stuart Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie; deutsch von W. Gehrig, Jena 1921, Bd. 2, S. 648-650. Anmerkungen und Hervorhebungen durch den Verfasser. 58 59

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

ken, als die Anstellung neuer Versuche unter neuen Bedingungen"60• Ein Schutzzoll ist also " ...bisweilen die am wenigsten nachteilige Art und Weise, in der ein Volk sich zur Förderung ... [entschließen kann]"61 • Mill verweist aber auch darauf, "daß der Schutz auf diejenigen Fälle beschränkt bleibt, bei denen man . . . Grund zu der Annahme haben kann, daß die durch den Schutzzoll geförderte Industrie nach einiger Zeit imstande ist, ohne ihn auszukommen; auch sollte man ... nicht die Hoffnung geben, man werde ... den Schutz länger gewähren, als für den Versuch zur Feststellung der Leistungsfähigkeit [der geschützten Industrien] . . . notwendig geworden ist"62. Das neuere Scluifttum fordert darüber hinausgehend, die Kosten der Protektion müßten durch spätere Weltwohlfahrtsgewinne überkompensiert werden (sog. Mill- Bastable-Test)63 . Aus wohlfahrtstheoretischer Sicht existiert neben dem vorgestellten Infant-Industry-Argument noch ein weiteres Argument zur Begründung einer Schutzzollpolitik und ist eng mit dem Namen Rothschild verknüpft. Grob vereinfacht verweist dieser auf die durch Außenhandel entstehenden Gewinne sowie die ebenfalls durch Handel resultierenden Kosten der Anpassung im Inland. Ergibt eine Gegenüberstellung einen Netto-Wohlfahrtsverlust, ist Freihandel abzulehnen und z. B. eine Schutzzollpolitik zu präferieren64. Für das taiwanesische Beispiel gilt ex post, daß der Mill-Bastable-Test wohl zugunsten der taiwanesischen Politik ausfallen dürfte. Insbesondere der Erfolg auf den Sektoren der Leichtindustrie rechtfertigt im nachhinein die taiwanesische Schutzzollpolitik der 50er Jahre. Außerdem betont bspw. Amsden, daß die taiwanesische Exportförderungsstrategie späterer Jahre erst deshalb erfolgreich war, weil die Importsubstitutionspolitik den heimischen Industrien eine Chance zum Lernen gab65 . Der Aufbau einer heimischen Industrie wurde insbesondere durch zwei Umstände begünstigt: Erstens erleichterte die technische und finanzielle Hilfe der USA den Aufbau der Infrastruktur und ermöglichte den Import von Nahrungsmitteln und Kapitalgütem, ohne sämtliche dazu benötigten Finanzmittel durch Exporte verdienen zu müssen. Der zweite Umstand, welcher die administrative DurchfühMill, S. 648-550. Ebenda. Anmerkungen durch den Verfasser. 62 Ebenda. Anmerkungen durch den Verfasser. 63 Vgl. M. C. Kemp, The Mill-Bastable Infant Industry Dogma, Journal ofPolitical Economy, Bd. 68, 1960 sowie H.G. Johnson, A New View of the Infant Industry Argument, in: LA. Mc Dougall/ R.H. Snape (Hg.), Studies in International Econornics, Amsterdam und London 1970. 64 Vgl. Kurt Rothschild, Außenhandelstheorie, Außenhandelspolitik und Anpassungsdruck, in: Kyklos, Vol. 23 (1979), S. 47-54. 65 Volkswirtschaftstheoretisch handelt es sich dabei entweder um die Verschiebung der Lernkurve nach außen oder um die Entstehung von Skaleneffekten. Vgl. Alice H. Amsden, Structural Macroeconornic Underpinnings of Effective Industrial Policy: Fast Growth in the 1980s in Five Asian Countries, UNCTAD Discussion Papers No. 57, New York 1993. 60

61

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950-1962)

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rung der Schutzzollpolitik erleichterte, entstand durch die Zusammenfassung der in den Sektoren Chemie, Stahl, Elektrizität, Schiffbau etc. tätigen Unternehmen zu 22 Großkombinaten. Die Taiwan Power Corp., die Taiwan Fertilizer Corp., die Taiwan Sugar Corp. und die China Petroleum Corp. erhielten sogar Monopolrechte. Durch die Gründung dieser öffentlichen Unternehmen erlangte der Staat die Kontrolle in wichtigen Schlüsselindustrien, wodurch die Reaktionsmöglichkeiten auf wirtschaftspolitische Notwendigkeiten deutlich erhöht wurde. Überdies entsprach dies den Theorien Sun Yat-sens wodurch sich der Akzeptanzgrad in der Bevölkerung erhöhte. Dieser hatte die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien gefordert. Er wollte sie aber nicht im Sinne des Sowjetmarxismus ausgerichtet sehen, sondern forderte Staatseingriffe besonders dann, wenn die nationale Verteidigung betroffen war, wenn natürliche Monopole existierten oder der Kapitalbedarf für Private schlicht zu groß war66 • Insgesamt führte die Monopolisierung und Karteliierung unter Staatsregie dazu, daß im Jahre 1952 insgesamt 56,6 Prozent der gesamten taiwanesischen Industrieproduktion in Staatshänden lag67 • Kurzfristig mögen Importsubstitutionsstrategien zwar durchaus erfolgreich sein, langfristig sind sie aber eher schädlich, da sie die Binnen- und Weltwirtschaft voneinander abkoppeln und meist zu Wohlfahrtsverlusten führen, da die Inlandspreise im Vergleich zum Weltmarktniveau überhöht sind. So liegt es nahe, das Absinken des BSP-Wachstums von durchschnittlich 9,85 Prozent in den Jahren 1952-55 auf durchschnittlich 6,75 Prozent in den Jahren 1956-61 als bedrohliches Signal dafür zu interpretieren, daß es an der Zeit war, neue Wege zu beschreiten, wenn das Ziel, ökonomisch zu den Industrienationen aufzuschließen, erreicht werden sollte68 . Dieses Ziel verfolgte man primär durch die Urnorientierung der Wirtschaft von einer lmportsubstitutions- auf eine Exportförderungspolitik69 • Als Grund für den Niedergang der Wachstumsraten wird oft der relativ kleine taiwanesische Binnenmarkt genannt, welcher einem unbegrenzten Ausbau der Produktionskapazitäten natürliche Grenzen setzt und weiteres Wachsturn nur durch die Öffnung nach außen ermöglicht. Aus zahlungsbilanztheoretischer Sicht hätte die Protektion der taiwanesischen Wirtschaft in den späten 50er Jahren gleichwohl noch aufrechterhalten werden können, da die US-Finanzhilfe den Mangel an erwirtschafteten Devisen durchaus auszugleichen vermochte. Die Größenordnung der Hilfe betrug für die Jahre 66 Mit Ausnahme der Verteidigung ist dies heute Allgemeingut der finanzwissenschaftliehen Literatur. Vgl. Richard A. Musgrave/Peggy B. Musgrave!Lore Kullmer. Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, 5. Auflage, Tübingen 1993. 67 Hierin ist ein ,,Lernen" von den Japanern zu sehen, hatten damals doch rund 80% der taiwanesischen Industriebetriebe in den Händen des Staates sowie der großen Zaibatsu gelegen. Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 76 ff. 68 Vgl. Schaubild 2 auf Seite 40. 69 Der Begriff "umstellen" ist durchaus wörtlich zu nehmen, hatte doch die taiwanesische Regierung seit 1953 4-jährige Wirtschaftspläne aufgestellt, die im Rahmen der Globalsteuerung die spätere "Umstellung" sehr erleichterten.

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1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

1952-68 rund 1,5 Mrd. US-Dollar, wovon ungefahr die Hälfte auf Lebensmittelund Rohstoffimporte entfiel70. Lundberg zitiert eine Berechnung von Scott, in welcher dieser darlegt, daß die taiwanesische Regierung durchschnittlich 34 Prozent der Importe und 37 Prozent der Investitionen nur deshalb tätigen konnte, weil die US-Finanzhilfe vorhanden war. Der für das Jahr 1965 angedrohte Wegfall der USHilfe stellte Taiwan folglich vor das Problem, den Importüberschuß entweder durch Devisenabfluß zu finanzieren (Zahlungsbilanzfinanzierung) oder die Importe einzuschränken bzw. Exporte anzureizen (Zahlungsbilanzkorrektur). Vor diesem Hintergrund ist auch die Strategie der massiven Exportförderung zu sehen, welche ab 1958 graduell umgesetzt und spätestens ab dem Jahr 1962 Kennzeichen der taiwanesischen Politik wurde71 . 4. Mechanismen der innenpolitischen Stabilisierung Neben W:ihrungs- und Landreform sowie dem Beginn der Importsubstitutionsstrategie hatte die Durchdringung der Industrie-, Handels- und Bauernverbände und sonstigen Massenorganisationen mit KMT-Kadern sowie die Sonderrolle der taiwanesischen Gewerkschaften weitreichende politische und ökonomische Konsequenzen. Als politische Folge ist die weitgehende Kontrolle abweichender politischer Strömungen zu nennen, die auf Taiwan in den fünfziger Jahren in teilweise äußerst repressiver Weise durchgeführt wurde72• Die hier interessierende ökonomische Folge besteht darin, daß die Durchdringung der organisierten gesellschaftlichen Interessenvertretungen mit KMT-Kadern dazu führte, daß diese weitgehend auf die offizielle Regierungslinie eingestimmt wurden. Insbesondere die Reagibilität der Wirtschaftspolitik Taiwans auf sich ändernde weltwirtschaftliche Umstände wurde hierdurch erheblich erhöht. Die Position der KMT als einziger zugelassener politischer Partei sowie die identische Organisationsstruktur von Partei und Massenverbänden in Kadern, führte zu personellen Überschneidungen in den Leitungsgremien von Partei, Staat und den Interessenvertretungen der Bauern, der Industrie und des Handels73 • HierVgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 71 f. Einige Autoren legen als Jahr des Beginns der Exportförderungsstrategie das Jahr 1958 fest, andere das Jahr 1962. Ich folge hier Lundberg. Dieser betont, es habe sich um einen graduellen Übergang zur Exportförderungsstrategie gehandelt. Vgl. Erik Lundberg, Fiscal and Monetary Policies, in: Walter Galenson (Hg.), Economic Growth and Structural Change in Taiwan, Ithaca und London 1979, S. 263- 307, hier S. 266. 72 Die 50er Jahre werden auch als Zeit des ,Weißen Terrors' gebrandmarkt. Der von Chiang kontrollierte Sicherheitsapparat verfügte über diverse Geheimdienste, welche das politische Leben scharf kontrollierten und die Inhaftierung von ,kommunistischen Spionen', von ,Saboteuren' und ,Umstürzlern' veranlaßten. Dem ,Weißen Terror' fielen wahrscheinlich tausende Menschen durch Inhaftierung und Exekution zum Opfer. Andere entzogen sich der Verfolgung durch die Flucht ins Ausland. Vgl. hierzu Gunter Schubert, Taiwan seit 1945: Von der Entwicklungsdiktatur zur entwickelten Demokratie, in: Herrmann-Pillath I Lackner, S. 206- 221, hier S. 208. 10 71

III. Makroökonomische Stabilisierung (1950-1962)

41

durch wurden jene Verteilungskämpfe verhindert, welche in vielen anderen Ländern Asiens und Südamerikas eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung unmöglich machten. Insbesondere die bereits im Vorfeld jeglicher möglicher Auseinandersetzung abgeschliffenen unterschiedlichen politischen Interessenlagen waren integraler Bestandteil der growth cum equity Strategie Taiwans. Ebenso integraler Bestandteil war die Rolle der Gewerkschaften. Im Gegensatz zur rechtlich abgesicherten Position der Gewerkschaften im festländischen China vor 1945, schränkten die Maßnahmen zur Behandlung von Arbeitskonflikten für die Zeit der kommunistischen Rebellion die Rechte der Gewerkschaften Taiwans ab 1947 ein74 . Die Gewerkschaften hatten fortan dem Ziel des nationalen Wirtschaftsaufbaus zu dienen. Außerdem wurde die Tarifautonomie aufgehoben, und allzu konfliktorientierte Gewerkschafter mußten mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Darüber hinaus sorgte die Einführung staatlicher Schlichtungskommissionen, das Zwangsschlichtungsverfahren sowie die Fflicht, Tarifverträge den zuständigen Behörden zur Genehmigung vorzulegen, für arbeitsmarktpolitische Stabilität. Diese Struktur konnte Verteilungskämpfe minimieren und wesentlich zum Wiederaufbau beitragen, daß die Arbeitskosten bis in die Mitte der siebziger Jahre niedrig blieben und zeitweise real sogar sanken. Beispielhaft für die Strategie des growth cum equity war die Einführung von Mindestlöhnen, welche vom Kabinett in regelmäßig wiederkehrenden Abständen an die Produktivitätsentwicklung angepaßt wurden. Insbesondere die Flexibilität des taiwanesischen Arbeitsmarktes ist in der Literatur oft hervorgehoben worden75 • Die lange Zeit niedrigen realen Arbeitskosten wie auch die hohe Sparquote, welche sich im Gefolge der stabilen Konsumgüterpreise einstellte, geben ein anschauliches Bild davon, wie gut es der taiwanesischen Regierung gelang, ihre Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, den heutigen durch morgigen Konsum zu substituieren76• Die Bereitschaft der Bevölkerung zu dieser Substitution trug 73 Das besondere liegt in der noch in den 20er Jahren von der Kornintern organisierten Aufbauorganisation der KMT. Diese wurde für die Massenverbände Taiwans übernommen. 74 Zur Rechtsposition chinesischer Gewerkschaften in der Zeit 1920-45 siehe Bürklin, s. 127 ff. 75 Das sogenannte Fei-Ranis-Modell erklärt den taiwanesischen Wirtschaftsaufschwung mit dem Argument, es habe ein unbeschränktes Arbeitskräfteangebot gegeben und im Gefolge seien die Löhne vor allem nach unten äußerst flexibel gewesen. Vgl. Gustav Ranis I lohn C. H. Fei, Unlirnited Supply of Labour and the Concept of Balanced Growth, in: Pakistan Development Review, Winter 1961; Gustav Ranis/lohn C. H. Fei, The Ranis-Fei-Model of Econornic Development. A Reply, in: American Econornic Review, Vol. 53 (Juni 1963), S. 452 - 454; Gustav Ranis/lohn C. H. Fei, Development of the Labour Surplus Economy. Theory and Policy, Homewood 1964; sowie auch Rong-i Wu, The Strategy of Econornic Development. A Case Study ofTaiwan, Louvain (Belgien) 1971, Kapitel3 und 4. 76 Vgl. Amsden, Structural Macroeconornic Underpinnings of Effective Industrial Policy, S. 5 und S. 19 ff. in Verbindung mit Detlev Lorenz, Lebensstandard und Wirtschaftssystem: Das Beispiel der "Viererbande" Ostasiens, in: Wolfram Fischer (Hg.), Lebensstandard und Wirtschaftssysteme, Frankfurt IM. 1995, S. 639-677, hier S. 654.

42

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

ebenso wie die staatlichen Grundsicherungsprogramme, die Bildungsforderung sowie der Infrastrukturausbau erheblich zur growth cum equity Strategie bei77 .

1.400 1.200 1.000 800 600 400

............................. .... ........................

200 0 1953

56

59

62

65

68

71

74

77

80

83

86

89

I---Index realer MonalSeinkommen (1953=100) ······PreisindexfOr Konsumgüter (1953=100)

I

Schaubild 1: Entwicklung der realen Löhne in der verarbeitenden Industrie sowie der Konsumgüterpreise Taiwans 1953-9078

IV. Der Beginn der Exportförderungsstrategie zu Beginn der 60er Jahre

Die Wirtschaftspolitik der sechziger Jahre war ebenso wie die der fiinfziger Jahre stark von weltpolitischen Ereignissen bestimmt. Zu nennen sind der Vietnamkrieg sowie der Wegfall der amerikanischen Unterstützung für Taiwan im Jahre 1965. Die anhaltende Bedrohung durch das feindliche Festlandchina führte zur 77 "Growth cum Equity", also rasches und gleichverteiltes Wachstum, wird insbesondere bei der Verteilung des Volkseinkommens und -vermögens deutlich. Nach offiziellen Angaben betrug im Jahr 1992 das Einkommensverhältnis der reichsten 20% der Bevölkerung zu den ärmsten 20% der Bevölkerung rund 7:1, also unter den Vergleichswerten vieler anderer Entwicklungsländer, die zum Beispiel in Brasilien im Jahre 1995 bei rund 26:1, in Madagaskar im Jahre 1993 bei rund 9:1, in Thailand bei knapp 10:1 und in Kenia (beides im Jahre 1992) bei gut 18:1 lagen. Taiwan weist damit ein für Schwellen- und Entwicklungsländer eher gleichverteiltes Volkseinkommen auf und bewegt sich auf ein Niveau hin, das üblicherweise eher von den konsensorientierten kontinentaleuropäischen Industrienationen erreicht wird (Deutschland im Jahre 1989 bei 4:1, Schweiz im Jahre 1982 6:1, Schweden im Jahre 1992 knapp 4:1 und UK im Jahre 1986 knapp 6:1). Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 139 sowie Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1998/99, Washington 1999, S. 242 f. 78 Vgl. Bürklin, S. 106.

IV. Beginn der 60er Jahre

43

Verfestigung des Doppelkurses der Starrheit im politischen und der Flexibilität im ökonomischen Bereich. Insbesondere die Ankündigung der USA, ihre Finanzhilfe einzustellen, zwang Taiwan zu einer Politik des outward-looking79• Von besonderem Interesse ist hier die unter dem Schlagwort des exportgeführten Wachstums bekanntgewordene Strategie Taiwans, welche im Rahmen der nachholenden Entwicklung durchgeführt wurde80• Das Motto für Taiwan lautete "Mit Hilfe des Handels das Wachstum fördern, und mit dem Wachstum wieder den Handel fördern" 81 . Daß es sozusagen nebenbei gelang, einen erstaunlich hohen Grad an sozialer Symmetrie zu kreieren, ist Folge des Growth cum equity Gedankens. Interessant ist, daß das exportgeführte Wachstum nicht bloß als reine Förderung von Exporten zu verstehen ist, sondern es mit einigem Erfolg gelang, ausländisches Kapital anzuziehen. Hierzu wurde verstärkt die Genehmigung zur Gründung ausländischer Banken erteilt, worauf es in den Jahren von 1959 bis 1970 zur Gründung von 16 Tochtergesellschaften ausländischer Banken kam82• Der Exportförderung im klassischen Sinne dienten verschiedene Maßnahmen, die im Jahr 1960 in einem 19-Punkte-Programm zur Wirtschafts- und Finanzreform festgehalten wurden. Ziel war die vertikale Integration inländischer Unternehmen, um eine Kostenreduktion zu erreichen, ohne die taiwanesische Produkte auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig gewesen wären. Die wichtigsten Maßnahmen bestanden in Investitionsanreizen in Form von Steuerbefreiungen und -senkungen, erhöhten Abschreibungsmöglichkeiten, der teilweisen Aufhebung der Devisenbewirtschaftung sowie der Vergabe zinssubventionierter Kredite zur Errichtung von Exportproduktionsstätten83 • Parallel zur direkt wirksamen Exportförderung wurde sowohl die Politik der Globalsteuerung als auch die der Importsubstitutionsstrategie mit ihren Schutzzollmauern beibehalten. Dadurch befand man sich jetzt in einer Situation, in der einige Unternehmen und Produkte zollbefreit waren, andere hingegen nicht. Die zwangsDiese steht im Gegensatz zur Politik der Importsubstitution (inward-looking). Die Strategie exportgeführten Wachstums wurde auch von Hong Kong, Singapur sowie Südkorea verfolgt und gilt als Markenzeichen der "Vier kleinen Tiger". In letzter Zeit wird die Richtung des Kausalzusammenhangs - "Exporte führen zu Wachstum" - bestritten. Vgl. Colin I. Jr. Bradford, From Trade-Driven Growth to Growth-Driven Trade: Reappraising · the East Asian Experience, OECD Development Centre Documents, Paris 1994. Als nachholende Entwicklung wird eine Strategie bezeichnet, die dem Weg bereits erfolgreicher Länder zu folgen und dabei deren Entwicklungsschritte an die eigene Situation anzupassen sucht und insoweit deren Entwicklung nachholt. SI Übersetzung des offiziellen Mottos entnommen aus Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 79. 82 Die erste Filiale einer ausländischen Bank wurde im September 1959 eröffnet. Es handelte sich dabei um die japanische Dai-Ichi Kangyo Bank. Vgl. Paul C.H. Chiu, Money and Financial Markets: The Domestic Perspective, in: Gustav Ranis (Hg.), Taiwan. From Developing to Mature Economy, Boulder, San Francisco 1992, S. 121- 194, hier S. 128. 83 Vgl. die Veröffentlichungen des lndustrial Development and Investment Center (Hg.), Criteria for Encouragement of Establishment or Expansion of Industrial and Mining Enterprises, Taipei, welche in loser Folge regelmäßig erscheinen. 79

80

44

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

läufig folgende Vermehrung der Bürokratie behinderte allerdings den Zustrom ausländischen Kapitals, das den Behördendschungel kaum mehr zu durchschauen vermochte84. Um dies zu vermeiden, mußte entweder die Bürokratie abgebaut oder besondere Wirtschaftszonen eingerichtet werden. 1966 entschloß sich Taiwan zur Errichtung der ersten Exportwirtschaftssonderzone in Kaohsiung. Angesiedelt wurden ausschließlich jene ausländischen Unternehmen, die mit inländischen Unternehmen kaum konkurrierten, weil sie auf der Grundlage importierter Rohstoffe und Maschinen unter Einsatz heimischer Arbeitskräfte produzierten. Die einzige Konkurrenzsituation ergab sich somit auf dem Markt für Arbeitskräfte. Die Folge waren äußerst niedrige Arbeitslosenraten von unter 3 Prozent seit 1971 bis 1997, ein Anstieg der Reallöhne und bald darauf wieder deutlich ansteigende Wachstumsraten 85 .

16

Prozent

14

12 10 8 6

4 2

l-- BSP-Wachstum I

0+-~--.-~~----~~-.,-~~~~~~~~~-..-T-~-..-T-~~

1952

1957

1962

1967

1972

1977

1982

1987

Schaubild 2: Reales BSP-Wachstum 1952 - 199086

Insbesondere der Reallohnanstieg brachte neue Probleme mit sich, da die Kostenvorteile der bis dahin stark arbeitsintensiven Industrie Ende der 60er Jahre zunehmend dahinschmolzen. Eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu kapitalintensiveren Produkten wurde daher Anfang der siebziger Jahre notwendig. 84 Ein Großteil der Bürokratie wurde mit US-Hilfe aufgebaut. Die wichtigsten binationalen Gremien waren der Rat für ökonomische Planung und Entwicklung bzw. später der Rat für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie im Agrarbereich die Joint Corninissionon Rural Reconstruction (JCRR). Vgl. Bürklin, S. 139 sowie Lehmann, s. 70 ff. 85 Vgl. Kuo, Taiwanese Economy in the 1990s, S. 95 ff. sowie Jen-kai Liu, Taiwan. Political, Social and Economic Data, in: Institut für Asienkunde (Hg.): China aktuell, Jahrgang XXVIII, Nr. 6 (Juni), Harnburg 1999, S. 640-641, hier S. 641. 86 Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 70 sowie Bürklin, S. 102.

V. Siebziger Jahre

45

Diese Diversifizierungsstrategie bestimmte neben politischen Faktoren die taiwanesische Entwicklungspolitik jenes Jahrzehnts.

V. Der Aufbau der kapitalintensiven Industrie in den 70er Jahren Die wirtschaftspolitische Neuausrichtung Taiwans zu Begin des Jahrzehnts wurde neben den deutlich gestiegenen Löhnen durch den OPEC-Schock von 1973 sowie politische Faktoren bestimmt. In diesem Jahr betrug der Anstieg des Preisniveaus 22,9 Prozent und im darauffolgenden nochmals 40,6 Prozent. Dies ist sowohl auf den gestiegenen Kostendruck in Folge der Vervierfachung der Ölpreise als auch die gestiegenen Importgüterpreise zurückzuführen. Außerdem hatten die hohen Exportüberschüsse der vorangegangenen Jahre eine starke Zunahme des Geldangebots zur Folge gehabt, wodurch das Entstehen eines Nachfragesogs sowie einer Inflationsumgebung begünstigt wurden87 . Die wichtigsten Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Preisschubs sind in dem am 27. 01. 1974 verabschiedeten Stabilisierungspaket enthalten. Dieses umfaßte eine deutliche Erhöhung der Zentralbankzinsen sowie den Versuch, die Ölpreise kurzfristig zu justieren. So wurde am 27. Januar 1974 der Einlagenzinssatz durchschnittlich um 33,4 Prozent erhöht und der Zinssatz für Kredite stieg um 25,8 Prozent. Die Preise verschiedener Ölprodukte wurden durchschnittlich um 88,4 Prozent erhöht und der (administrierte) Strompreis stieg um 78,7 Prozent. Zusätzlich wurden nennenswerte Steuersenkungen beschlossen, um die Inlandsgüterpreise zu senken und eine schnellere Erholung der Wirtschaft zu ermöglichen. Die Steuerreform umfaßte eine Absenkung der Einkommenssteuer, der Zölle, spezieller Verbrauchssteuern sowie der Hafengebühren. Der absolute Wert der steuerlichen Entlastung wurde auf 11 Mrd. NT$ geschätzt - damit betrug der Gesamtumfang der Entlastung 2,1 Prozent des Bruttosozialproduktes des Jahres 1974 bzw. 12,9 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Durch obige drastische Maßnahmen konnte die Inflation wirksam bekämpft werden - so wirksam, daß die Inflationsrate bereits 1975 unter Null rutschte und minus 5,1 Prozent betrug88 . Zusätzlich zum OPEC-Schock und den deutlich gestiegenen Preisen für den Faktor Arbeit wurde die wirtschaftspolitische Neuausrichtung Taiwans in den 70er Jahren durch die Integration der VR China in die Weltpolitik und die politische Annäherung zwischen den USA und der VR China ausgelöst. Am 25. Oktober 1971 votierte die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) mit 73 gegen 35 Stimmen bei 17 Enthaltungen für die Aufnahme der VR China in die Organisation. Die internationale Staatengemeinschaft drückte damit ihren Willen aus, fortan 87 88

Vgl. Kuo, Taiwanese Economy in tbe 1990s, S. 93. Vgl. Kuo, Taiwanese Economy in tbe 1990s, S. 94.

46

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

Peking und nicht mehr Taipeh als rechtmäßige Vertretetin (gesamt-) chinesischer Interessen anzusehen. Die Republik China auf Taiwan zog sich daraufhin aus der UNO und den meisten anderen internationalen Organisationen zurück. Nur wenige Monate später führte der Besuch des US-Präsidenten Nixon in der Volksrepublik China zur Unterzeichnung des ,Schanghaier Kommuniques' mit seiner Taiwan-Klausel. Diese besagt, daß Taiwan Teil des gesamten China ist und erklärte die Taiwanfrage damit zu einer innerchinesischen Angelegenheit. Damit hatte Taiwan die unbedingte Unterstützung seines wichtigsten außenpolitischen Partners USA verloren, und obwohl die diplomatischen Beziehungen vorerst aufrecht erhalten wurden, bedeutete dies eine deutliche und folgenreiche Zurückstufung. Im September 1972 brach Japan die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab, und in den weiteren Jahren wandten sich nahezu alle wichtigen Partner der VR China zu 89. Noch wichtiger war für Taiwan jedoch, daß mit der Aufgabe des alten Status auch die direkte militärische Beistandsverpflichtung der USA für Taiwan endete als Bestandteil des Vertrages zwischen der VR China und den USA. Die Annäherung zwischen den USA und der VR China führte zum schrittweisen Abzug amerikanischer Soldaten von Taiwan. Infolgedessen war Taiwan ab 1972 militärisch weitgehend auf sich selbst gestellt. Der Aufbau einer eigenen Schwer- und Rüstungsindustrie wurde somit aus taiwanesischer Sicht spätestens jetzt zur außenpolitischen Notwendigkeit. Um Transport und Kommunikation auf der Insel zu vereinfachen und die Produktionsstandorte auf diese Weise besser mit dem Weltmarkt zu verbinden, wurde der Entwicklungsfokus zunächst auf die Verbesserung der Infrastruktur gelegt. Überdies kam es zum weiteren Ausbau der Industrie, und das Bildungssystem wurde den veränderten Notwendigkeiten angepaßt. Jetzt waren insbesondere Techniker, Ingenieure und andere Spezialisten gefragt. Der Aufbau der Schwer- und Rüstungsindustrie hätte auch ohne direktes Engagement des taiwanesischen Staates erfolgen können. Steuerliche Anreize, eine weitere Vereinfachung der Bürokratie sowie der Aufbau weiterer Sonderwirtschaftszonen hätten durchaus als Anreiz für die Privaten ausgereicht. Daß es zu dem für Taiwan typischen Eingriff des Staates mittels öffentlicher Unternehmen kam, kann auf die Wirtschaftsstruktur Taiwans, in der kleine und mittelständische Unternehmen dominieren, die Lehren Sun Yat-sens sowie auf den OPEC-Schock von 1973 zurückgeführt werden. Dieser hatte den Investitionswillen der Privaten plötzlich erlahmen lassen, den Nachfragesog fast über Nacht an sein Ende geführt und so einen deutlichen Rückgang der Wachstumsquote verursacht. In dieser Situation konnte die entstandene Nachfragelücke durch die Erhöhung der Staatsnachfrage um 7,5 Mrd. US-Dollar geschlossen werden. 89 Am Ende der neunziger Jahre unterhielt Taiwan rund 30 Botschaften in zumeist unbedeutenden Ländern. Diplomatische Beziehungen innerhalb Europas bestehen nur mit dem Vatikanstaat

V. Siebziger Jahre

47

Insbesondere die Zehn Grundlagenprojekte auf den Sektoren Stahl, Schiffbau und petrochemischer Industrie trugen zum Wirtschaftswachstum bei. Es kam zu Verbesserungen der Infrastruktur in den Bereichen Elektrizität, Telekommunikation sowie Transport. Die Fahrzeit auf den Nord-Süd-Verkehrsverbindungen der Insel wurden durch den Bau einer Autobahn und die Elektrifizierung der Eisenbahn verkürzt. Außerdem wurden in ·dieser Zeit die taifungeschützten Häfen modernisiert und neue errichtet. Der Bau des internationalen Großflughafens bei Taipeh ergänzte das Maßnahmenpaket Die Fertigstellung von drei Großprojekten im Jahr 1977 beschleunigte den Aufbau der Schwer- und Chemieindustrie: Zu nennen sind hier die neue Großwerft der China Shipbuilding Corporation und das vollautomatische Eisen- und Stahlwerk der China Steel Corporation bei bzw. in Kaohsiung sowie die Inbetriebnahme der Erdölraffinerie der Chinese Petroleum Corporation bei Taoyuan. Die Fertigstellung des ersten taiwanesischen Kernkraftwerks im Süden der Insel bei Kaohsiung fiel ebenfalls in diese Zeit und sicherte die Elektrizitätsversorgung, so daß zu Beginn der achtziger Jahre annähernd alle privaten Haushalte Taiwans an die öffentliche Stromversorgung angeschlossen werden konnten, ohne Knappheitsprobleme hervorzurufen. Die Zehn Grundlagenprojekte waren derart erfolgreich, daß man ihnen 1978 Zwölf Entwicklungsprojekte und schließlich 1986 nochmals Vierzehn Schlüsselprojekte folgen ließ90. Die relative Verteuerung des Faktorpreises für Arbeit hatte in Kombination mit dem OPEC-Schock sowie der Annäherung zwischen der VR China und den USA die ökonomische Struktur Taiwans nachhaltig verändert. Hinzu kam eine politische Situation, die es in den Augen der damaligen Regierenden Taiwans zur Überlebensfrage machte, Außen- durch Außenwirtschaftspolitik zu ersetzen. Um den weggefallenen militärischen Schutzschild der USA annähernd zu ersetzen, sollte die ,freie Welt' überzeugt werden, daß eine Okkupation Taiwans durch die VR China auch ein Verlust für die Handelspartner Taiwans darstellen würde. Taiwan plante folglich, an Attraktivität für das Ausland zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurden weitere Exportverarbeitungs- und Industriezonen errichtet, wobei man stets bemüht war, diese möglichst nah an internationalen Verkehrsanschlüssen zu errichten. So ist zu erklären, daß z. B. die Exportverarbeitungszone von Kaohsiung fast in den Hafen ,hineinwächst'. Neben weiteren Exportverarbeitungszonen entstanden diverse Industriezonen und -parks. Auf der ganzen Insel wurden Diversifikationsbestrebungen hin zu rohstoff- und energiesparenden Technologien mit Steueranreizen gefördert. Dies schlug sich in den Jahren von 1971 bis 1979 durch eine rasche Zunahme der Verarbeitenden Industrie um durchschnittlich 13,9 Prozent pro Jahr nieder. Vor allem der Sektor ,Präzisionsmaschinen' konnte in der wirtschaftlichen Statistik Taiwans profitieren.

90

Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 89 ff.

48

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan 60%

-

59.1%

50% 40% 30%

-

21.4%

21.1%

-

20%

20.5%

-

19.0%

-

10% 0% Präzisions· maschinen

Chemie

Elektrik und Elektronik

Lederwaren

Fahrzeuge

Schaubild 3: Durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum in ausgewählten Sektoren (1971-79)91

Die exportorientierte Industrie Taiwans wurde bei ihren Aktivitäten durch die Errichtung von mehreren Trade Centern in den Haupthandelsländern unterstützt. Hinzu kam die Gründung der Ex- and Import Bank of China, welche die Außenhandelsgeschäfte finanziell absicherte. Wichtig ist, daß außerdem das China ExternalTrade Development Council (CETRA) gegründet wurde, welches von Weggel als Ersatzaußenministerium bezeichnet wird und für Taiwangeschäfte bis heute die maßgebliche Genehmigungsbehörde darstellt92• Diese Maßnahmen dienten dem Zweck, die Attraktivität Taiwans in der Welt nachhaltig zu erhöhen, und führten zwischen 1970 und 1980 zu einem äußerst raschen Wachstum des taiwanesischen Außenhandels um durchschnittlich 30 Prozent pro Jahr. Der reale Exportwert verzwölffachte sich von 59 Mrd. NT$ im Jahre 1970 auf 712 Mrd. NT$ zehn Jahre später. Im Ergebnis lag die kleine Insel Taiwan damit bereits im Jahr 1979 auf Platz 24 der Rangliste der Weltexporteure und bestritt 1,1 Prozent des Weltexportvolumens (USA 12,1 %, BRD ll,6% und Japan 7%) sowie 1 Prozent des Weltimportvolumens (USA 14,6%, BRD 10,5% und Japan 7,4%). Der rasche Anstieg des taiwanesischen Handelsvolumens in den siebziger Jahren ist dabei vor dem Hintergrund zu sehen, daß es sich bereits in dem Zeitraum von 1958 bis 1970 verachtfacht hatte. Das Wachstumstempo der Exporte hatte sich also nochmals beschleunigt und vor allem nahmen seit Beginn der 70er Jahre (lediglich durch die Auswirkungen der beiden Ölkrisen unterbrochen) auch die Handelsüberschüsse deutlich zu. Die starke Zunahme des Außenhandels vermochte zwar den Nachfrageausfall durch den amerikanischen Truppenabzug und den OPEC-Schock mehr als auszugleichen, brachte aber auch neue Probleme mit sich. Insbesondere die starke Verflechtung der Binnen- mit der Weltkonjunktur sowie die einseitige Ausrichtung 91 92

Vgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 92. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 92.

49

VI. Auf dem Weg zum Industrieland in den 80er Jahren 1.400

Mrd. NT$

1 -Exporte ---Importe -

1.200

- -

Handelsbilanz

I

1.000 800 600 400

_....

200

-200

1

7

1969

1971

1973

1975

---- .... 1977

1979

1981

1983

Schaubild 4: Exporte, Importe und Handelsbilanz 1967-8493

des Außenhandels auf den amerikanischen und japanischen Markt schufen neue Abhängigkeiten, die in den achtziger Jahren zu überwinden waren.

VI. Auf dem Weg zum Industrieland in den 80er Jahren Ab ungefahr 1980 unternahmen die taiwanesischen Wirtschaftslenkungsgremien erneute Bestrebungen, zur Diversifizierung der Ökonomie Taiwans. Parallel kam es zu den ersten ernstzunehmenden Demokratisierungsversuchen. 1. High-Tech-Spezialisierung

Die starke Verflechtung der taiwanesischen Volkswirtschaft mit den Haupthandelsländern USA und Japan und die mit diesen in vielen Sektoren abgeschlossenen ,freiwilligen' Exportbeschränkungen führten zu einer erneuten Umorientierung der taiwanesischen Wirtschaftspolitik und daraufhin der Handelsströme. Hatte die taiwanesische Regierung in den 70er Jahren noch Handelskontakte mit Osteuropa aus einer grundlegend antikommunistischen Haltung heraus abgelehnt und die Förderung von Handelskontakten mit dem westeuropäischen Markt ohne erkennbaren Grund stark vernachlässigt, so bemühte sie sich jetzt um wirtschaftliche Symmetrie. Man suchte jetzt verstärkt Kontakt mit Osteuropa und penetrierte ab 1985 verstärkt den damaligen EG-Markt. 93 Vgl. Directorate General of Budget, Accounting, and Statistics, Executive Yuan, Republic ofChina (HG.), Quarterly National Economic Trends Taiwan Area, The Republic ofChina, Taipei 1995, S. 24. 4 Fronius

50

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

17,5% 15,0% 12,5% 10,0%

'"""

-

r

-

r

'

'"""

-

-

'"""

r-

-:-

7,5% 5,0% 2,5% 0,0% 1981

1983

1985

1987

1991

1989

1993

Schaubild 5: Der Handel mit Europa 1981-9394 Ein-/Ausfuhr in% des Gesamthandels

Entscheidend für die weitere Entwicklung Taiwans war, daß die Wachstumsraten weiterhin solide waren, daß sich darüber hinaus der Zufluß an ausländischen Direktinvestitionen auf hohem Niveau verstetigt hatte und daß Vollbeschäftigung erreicht war. Zudem lag die Inflationsrate niedrig und die Sparquote Taiwans konnte in den achtziger Jahren noch auf dem im internationalen Vergleich so hohen Niveau gehalten werden, sprich: Man stand nicht nur an der Schwelle zum Industrieland, sondern hatte diesen Status in den 80er Jahren längst erreicht. 40,00

- - Nettosparquote in% (linke Achse)

~Inflationsrate

in% (rechte Achse) 20,00

30,00

15,00

20,00

10,00

10,00

5,00

1~1~

1~1~1~1~1~

1~1~1~

1~1~

Schaubild 6: Inflationsrate und Nettosparquote 1976- 199895 94 V gl. Board of Foreign Trade MOEA: 1994 Foreign Trade Development of the ROC, zitiert nach o. V., Taiwan Handbuch, S. 87. 95 Vgl. Councilfor Economic Planning and Development, Republic ofChina, Taiwan Statistical Data Book 1999, Taipei 1999, S. 71 und S. 181.

VI. Auf dem Weg zum Industrieland in den 80er Jahren

51

Die aufgrund nachlassender Budgetüberschüsse notwendige Kapitalzufuhr versuchte die Regierung mittels Förderung der verstärkten Aufnahme privaten Kapitals zu kompensieren. In diese Zeit fallt die verstärkte Ausgabe von Staatsschuldverschreibungen sowie eine erste Liberalisierung des Kapitalmarktes und schließlich die Gründung der Taiwan-Börse-AG im Jahre 1982. Die neue Diversifizierungsstrategie läßt sich als Weg "von der Schwerindustrie weg, zur technologieintensiven Informationsindustrie hin" bezeichnen und war abermals durch staatliche Aktivität geprägt. Die Ausrichtung der öffentlichen Bildungseinrichtungen auf technisches, anwendungsnahes Wissen (Facharbeitertum) wurde nun nach dem Vorbild des Silicon Valley mit der Errichtung mehrerer Technologiezentren in unmittelbarer Nähe zu Universitäten und Forschungszentren kombiniert. Im Zusammenhang mit der gezielten Vergabe von Forschungsmitteln, Stipendien und Steueranreizen wurden Produktivität und Qualität gesteigert und die Herausbildung der High-Tech-Industrie gefördert. Für die mittlerweile angestammten Bereiche der metallverarbeitenden Schwerindustrie sowie der Chemie- und Elektronikindustrie bedeutete die Förderung von Forschung und Entwicklung eine Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und daraus folgend eine deutliche Erhöhung des Wertschöpfungsanteils. Im Jahr 1993 waren 35 Prozent aller Exporte als HighTech-Export zu kennzeichnen, wobei die meisten den Bereichen Elektronik-, Informations- und Maschinenbauindustrie entstammten96• Wie sich u. a. am Anstieg des Bruttosozialproduktes belegen läßt, war die in den Jahren nach 1980 von den taiwanesischen Wirtschaftslenkungsgremien forcierte Diversifizierungsstrategie von Erfolg gekrönt. Das BSP nahm von 1981-91 um rund 370 Prozent zu und das Pro-Kopf-Einkommen wuchs um rund 330 Prozent. Die ebenfalls in den achtziger Jahren begonnenen, vorsichtigen Liberalisierungsversuche zeigen, daß die Hypothese formuliert werden kann, der Versuch des Bürokratieabbaus sei aus der Einsicht entstanden, eine immer höherwertige und damit komplexere Volkswirtschaft sei nicht mehr durch zentrale Gremien steuerbar. Der Bedarf an dezentralen Strukturen in der Ökonomie und das Bedürfnis nach einer Liberalisierung des politischen Systems war höher denn je97 .

2. Der Umbruch des politischen Systems in den 80er Jahren Die Entwicklungen der siebziger Jahre und hier insbesondere der Rückzug der Amerikaner führten den Aufbau einer eigenen Rüstungs- und Schwerindustrie herbei und induzierten aus politökonomischer Sicht einen Zwang zur "Taiwanisierung des politischen Systems"98 . 96 97

98

4*

Vgl. Gällil Franzen (Hg.), 1995, S. 121. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 170. Bürklin, S. 142. Hervorhebung im Original.

52

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

Pro-Kopf-Einkommen in US$ 8788 100001 8000 6000 4000 2000

2669 443

oL-~========~----L---------~--~~--------L-1971

1981

1991

BSP in Mrd. US$ 179,8 2001 150 100 50

48 6,6

oL-~========~----~--------~----~--------~-1971

1981

1991

Schaubild 7: Pro-Kopf-Einkommen und Bruttosozialprodukt99

Unter Präsident Carter nahmen die USA am 1. Januar 1979 volle diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China auf und gaben gleichzeitig die mit der Republik China auf Taiwan auf. Die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan basierten fortan auf dem unmittelbar danach abgeschlossenen Taiwan Relations Act, welcher Taiwan des militärischen Beistandes der USA versichert. Hierdurch wurde eine Neubestimmung der politischen LageTaiwans nötig, denn der Abbruch formaler Beziehungen mit den USA implizierte für die KMT eine Abkehr von dem Gedanken eine "Regierung im Wartestand" 100 zu sein. Hatte man bis dato noch gehofft, eines Tages mit Hilfe der USA wieder das ganze China administrativ übernehmen zu können, so mußte dieser Traum nun aufgegeben werden. Insbesondere der Wegfall der US-Truppenpräsenz, welcher bis dahin einen Eckpfeiler im System der außen- wie innenpolitischen KMT-Machtabsicherung darstellte, veränderte die Machtbalance. Bei inneren Unruhen hatte man früher berechtigt auf US-Hilfe gehofft. Jetzt stand man vor der Notwendigkeit, sich eine breitere Basis der Unterstützung beim eigenen Volke zu suchen. Zu diesem Zwecke wurde nach dem Tode Chiang Kai-sheks 1975 unter der Präsidentschaft seines Sohnes Chiang Ching-kuo ab Ende der 70er Jahre u. a. die Anzahl der taiwanesischen Mandate in den zentralen Gesetzgebungsorganen wiederholt erhöht. Auf diese Weise wurde das System der ewigen Abgeordneten langsam ausgehöhlt und auch auf Taiwan Geborenen stand nun der Weg in höchste Regierungsämter offen. Den vorläufigen Höhepunkt erlebte die Taiwanisierung 1988, als mit Lee Teng-hui erstmals ein gebürtiger Taiwanese von den zuständigen KMT-Gremien zum Präsidenten gewählt wurde. DieBürklin, S. 142. Vgl. Council for Economic Planning and Development, lndustry of Free China, Jg. LXXXI, Nr. 3, März 1994, zitiert nach o. V., Taiwan Handbuch, S. 70. 99

IOO

VI. Auf dem Weg zum Industrieland in den 80er Jahren

53

ser ernannte dann anläßlich einer Regierungsumbildung 1993 den ersten von der Insel stammenden Ministerpräsidenten. Mit der Taiwanisierung ging ein allmählicher Demokratisierungsprozeß einher, der u. a. durch den nach dem ,Zwischenfall von Kaohsiung' entstehenden politischen Druck der USA unter ihrem damaligen Präsidenten Carter, einem erklärten Menschenrechtspolitiker, beschleunigt wurde 101 . Im Verlauf des Demokratisierungsprozesses wurdetrotz des bestehenden Parteiverbotsam 28. 09. 1986 die Democratic Progressive Party (DPP) gegründet, die - obwohl damals formal noch illegal operierend- an den nationalen Zusatzwahlen des Jahres 1986 teilnehmen durfte und einen Stimmenanteil von knapp 20 Prozent in der Nationalversammlung erzielte. Nur wenige Tage nach Gründung der DPP kündigte der damalige Präsident Taiwans Chiang Ching-kuo in einem Interview mit der Washington Post am 8. Oktober 1986 an, man werde in naher Zukunft das Kriegsrecht abschaffen und tat damit den entscheidenden Schritt in Richtung auf die Demokratie. Am 15. Juli 1987 wurde das Kriegsrecht tatsächlich abgeschafft und im Jahre 1989 auch das bis dato bestehende Parteienverbot, welches durch die ohne Konsequenzen hingenommene Gründung der DPP bereits ausgehöhlt worden war. Fortan konnten mit der KMT konkurrierende Parteien mit Ausnahme der kommunistischen zugelassen werden. Am 30. Apri11991 wurden die Vorläufigen Bestimmungen aufgehoben, die juristische Stellung der Gewerkschaften den allgemein gültigen Standards der westlichen Welt angenähert und das System der ewigen Abgeordneten abgeschafft. Interessanterweise schadete die Demokratisierung dem ökonomischen Erfolg Taiwans nicht, obwohl dies vielfach angenommen worden war. Es scheint sich hier die These zu bestätigen, daß eine Entwicklungsdiktatur in der ersten Entwicklungsperiode durch das Zurückdrängen entwicklungshemmender Interessen von einer rein quantitativen Wachstumsperspektive vielleicht gerechtfertigt werden kann. Starre staatliche ökonomische Lenkungsgremien verlieren aber mit zunehmender Komplexität der Wirtschaft die Übersicht. Deshalb muß der Staat in einer reifen Ökonomie dem Marktmechanismus die Steuerung überlassen. Wenn der Markt anstelle des Staates steuert, so hat partiell eine Annäherung an demokratische Strukturen stattgefunden, da Angebots- und Nachfragestrukturen aufgrund ihres Informationsgehaltes einem politischen Abstimmungsprozeß ähnlich sind toz. 101 Am 10. Dezember 1979 kam es anläßlich von Protestkundgebungen der politischen Opposition zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften (sog. ,Zwischenfall von Kaohsiung'). In den folgenden Wochen und Monaten wurde in einer landesweiten Verhaftungswelle die Opposition interniert und oftmals zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Vgl. Schubert, S. 212. 102 Vgl. Gernot Gutmann, Marktwirtschaftliche und zentralgeleitete Wirtschaftsordnungen: Ein System- und Effizienzvergleich, in: Fischer, Lebensstandard und Wirtschaftssysteme, S. 23 - 56.

54

I. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

Der letzte Schritt auf dem Weg zu tatsächlich demokratischen politischen Strukturen erfolgte mit der freien und direkten Wahl des Präsidenten durch das Volk am 30. März 1996 und kann als letzter Schritt innerhalb einer logischen Kette betrachtet werden 103 . Seit den 80er Jahren existiert ein Trend zur Aufsplitterung des politischen Spektrums, welcher sich auch in den Wahlergebnissen der letzten Jahre sichtbar abzeichnete. Die größte Oppositionspartei, die DPP, welche aus der vor Aufhebung des Kriegsrechts gegründeten außerparteilichen Oppositionsbewegung Tangwai hervorging, stellte von Dezember 1994 bis Dezember 1998 mit Chen Shui-bian den wichtigen Bürgermeister von Taipeh und seit Dezember 1998 den ebenfalls einflußreichen Bürgermeister von Kaohsiung 104• Seit den Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2000 stellt die DPP mit Chen Shui-bian den Präsidenten der Republik China auf Taiwan. Außerdem konnte sie bei den letzten Wahlen zur Nationalversammlung 1996 einen Stimmenanteil von rund 30 Prozent erzielen und verbuchte bei den Parlamentswahlen im Dezember 1998 in einigen Bezirken deutliche Stimmengewinne für sich. Daneben existiert eine für eine rasche Wiedervereinigung mit der VR China eintretende Abspaltung von der KMT, die New Party, welche rund 10 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte 105 . Die hauptsächlichen Ziele der DPP lagen in der Demokratisierung und gelten jetzt der Verabschiedung einer neuen Verfassung, in der die Unabhängigkeit Taiwans von China betont wird. Damit gibt die DPP, im Gegensatz zur Parteilinie von regierender KMT und oppositioneller New Party, den Wiedervereinigungsanspruch auf. Alleine hieraus ergeben sich erhebliche Spannungslinien nicht nur mit KMT und New Party, sondern seit den am 18. März 2000 durchgeführten und von der DPP gewonnenen Präsidentschaftswahlen vor allem mit der VR China. Eine taiwanesische Unabhängigkeitserklärung ist nicht mehr auszuschließen und dies würde mit einiger Wahrscheinlichkeit einen größeren Konflikt mit der VR China nach sich ziehen, bei dem die Anwendung militärischer Gewalt von Seiten Pekings nicht auszuschließen ist 106.

103 Die Präsidentschaftswahl vom 18. März 2000, in der mit Chen Shui-bian erstmals ein Politiker, der nicht der KMT sondern der DPP angehört, zum Präsidenten gekürt wurde, bestätigte den Übergang zur reifen Demokratie eindrucksvoll. 104 Vgl. zur Geschichte der taiwanesischen Oppositionsbewegung Tangwai (wörtl. ,außerhalb der Partei') sowie zu näheren Informationen über das politische System Taiwans o. V., Taiwan Handbuch, S. 33- 67. 105 Die DPP kam im ersten Jahr ihrer Wählbarkeit bei der Wahl des Legislativ-Yuan 1986 auf rund 22 Prozent der Stimmen. 1992 bei der Wahl der Nationalversammlung erreichte sie rund 24 Prozent der Stimmen und legte bei der Neuwahl der Nationalversammlung 1996 auf knapp unter 30 Prozent zu. Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 45 sowie Far Eastem Economic Review, diverse Ausgaben im Jahre 1996. 106 o. V., Taiwan's China dare, in: The Economist, No. 8163 (25. 03. 2000), Vol. 354, S. 17 f.; o. V., Taiwan stands up, in: The Economist, No. 8163 (25. 03. 2000), Vol. 354,

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990

55

Ein weiterer Strukturbruch im politischen System Taiwans liegt in einer sich allmählich manifestierenden Veränderung des soziokulturellen Wertesystems begründet. Hielt die KMT jahrzehntelang das konfuzianische Wertesystem hoch, so führte der in den 70er Jahren beginnende Prozeß der Verstädterung, zu einer teilweisen Aufgabe des tradierten Wertesystems. Durch Demokratisierung und Urbanisierung wurde das langsame Aufweichen des alten Wertesystems forciert, welches dem Subsidiaritätsprinzip folgend die Altersversorgung durch die Familie stets über staatliche Versorgungssysteme gestellt und so volkswirtschaftliche Kosten reduziert hatte. In Verbindung mit der älter werdenden taiwanesischen Bevölkerung entsteht durch diesen Wertewandel ein Problem für Taiwan, das jede taiwanesische Regierung vor die Aufgabe stellt, das System der staatlichen Altersversorgung an die heutigen Gegebenheiten anzupassen. Dies könnte negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der taiwanesischen Wirtschaft auslösen, und insbesondere eine Verteuerung der - bezogen auf die ostasiatische Region - hohen Bruttolohnsruckkosten könnte die Auslagerungstendenzen verschärfen 107•

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990 Der deutlichste Strukturbruch ist in der Verschiebung von einer arbeitsintensiven, auf Landwirtschaft und Leichtindustrie ausgerichteten Wirtschaft zu einer kapital- und technologieintensiven modernen Industrie zu sehen. Dabei zeichnet sich der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft bereits deutlich ab. Ein zweiter Strukturbruch könnte im Zuge der zunehmenden asiatischen Regionalisierung entstehen. Dieser sowohl durch komplementären Austausch als auch durch intra-industriellen Handel und Direktinvestitionen geprägte Trend, zeichnet sich besonders durch die Außenhandelsverflechtung innerhalb des sogenannten Großchinesischen Wirtschaftsraums zwischen der VR China, Taiwan und Hongkong ab. Der Wert des chinesischen intraregionalen Handels betrug 560 Mrd. USDollar im Jahr 1992 und vereinigte damit 7,4 Prozent des gesamten Welthandels auf sich108• Der Anteil des taiwanesischen Handels mit dem chinesischen Festland, welcher via Hongkong als indirekter Außenhandel stattfindet, ist nur ein Teil der S. 23-28; G. Blume/C. Yamamoto, Chinas zweiter Befreiungskampf, in: Die Zeit, Nr. 13 (23. 03. 2000), 55. Jahrgang, S. 3. 107 Interessant wäre es in diesem Zusammenhang, die sog. ,,industrial flight hypothesis" im Lichte neuerer Wettbewerbstheorien, die sich teilweise an Schumpeter anlehnen, zu untersuchen. M.E. würde das Ergebnis in die Richtung zeigen, daß sobald die Volkswirtschaft ein gewisses Reifestadium erreicht, dieselben Probleme gelöst werden müssen wie in den alten Industrienationen. Vgl. hierzu auch die von Detlev Lorenz bereits 1967 entwickelte Idee des makroökonomischen dynamischen Entwicklungsvorsprungs, die er in seiner Habilitationsschrift vorgestellt hat. Vgl. Detlev Lorenz, Dynamische Theorie der internationalen Arbeitsteilung, Berlin 1967. JOB Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 54.

56

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

60%

~-----------------------------------------------, 52%

50% 40% 30% 20% 10% 0% Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

Schaubild 8: Sektorale Beschäftigung 1989 und 1997 109

gesamten Verflechtung innerhalb des Großchinesischen Wirtschaftsraums, doch auch hier zeigt sich diese Tendenz deutlich 110. So erhöhten sich bspw. der Anteil der via Hongkong abgewickelten Exporte innerhalb von fünfzehn Jahren von rund 8 Prozent im Jahre 1980 auf rund 21 Prozent des gesamten taiwanesischen Außenhandels. Bei den Importen konnte sich der Anteil der via Hongkong abgewickelten Importe aus der VR China von einem Prozent im Jahre 1980 auf knapp zwei Prozent aller taiwanesischen Importe bis 1995 steigern. Wie Tabelle 2 zeigt, setzte sich diese Tendenz in den darauffolgenden Jahren offenbar fort. Dabei nahm der Dreieckshandel zwischen Taiwan und der VR China via Hongkong insbesondere seit der im Jahre 1987 erfolgten Lockerung des indirekten Handels durch die taiwanesische Regierung deutlich zu. Es kann angenommen werden, daß die Mitte März 2000 angekündigte Erlaubnis, künftig unter Einhaltung noch zu klärender Bedingungen auch direkt in Handelsbeziehungen mit der VR China einzutreten, eine Zunahme der ökonomischen Verflechtung nach sich ziehen wird111 (Vgl. Schaubild 9). Der Dreieckshandel zwischen Taiwan und der VR China via Hongkong verstärkt sich zusätzlich durch die Zunahme taiwanesischer Direktinvestitionen in den südlichen Küstenprovinzen der VR China wie Fukien, Zhejiang, Schanghai, Jiangsu und Guangdong. Häufig werden mittlerweile taiwanesische High-End Komponenten auf den Sektoren der Textil- und einfachen Verarbeitungsindustrie (z. B. FahrVgl. Weggel, Taiwan, Hong Kong, S. 214 sowie Liu, S. 641. Nach dem Gewinn der Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2000 erklärte der designierte Präsident der Republik China auf Taiwan, Chen Shui-bian, er wolle den direkten Handel zwischen Taiwan und China baldmöglichst genehmigen. Bis Spätherbst 2000 war dies indes nicht eingeleitet. 111 Eigene Berechnungen anhand von zwei regelmäßig erscheinenden Titeln. Vgl. The Republic of China, Department of Statistics, Ministry of Finance (Hg.), Monthly Statistics of Finance; The Republic of China, Economic Research Department, The Central Bank of China (Hg.), Financial Statistics Monthly. Taiwan District. The Republic OfChina. 109

110

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990

57

Tabelle 2

Taiwans Handelspartner im Jahre 1997112 Exporte

Überschuß

Importe

Mrd. US$

Prozent

Mrd. US$

Prozent

Mrd. US$

USA

29.544

25,10

23.228

20,30

6,32

Hongkonga

28.689

21,10

1,945

1,70

26,74

Japan

11,72

12,10

29,064

25,40

-17,34

Deutschland

3,66

3,00

5,378

4,70

-1,72

SO-Asienb

12,14

12,30

0,843

9,50

11,30

Gesamt

122,08

73,60

114,425

61,60

7,66

a b

inklusive des indirekten Handels mit der VR China Singapur, Thailand, Malaysia, Indonesien und Philippinen; Daten für 1995

US$ Mio

I 1000

t=JExporte -Importe --HB-Überschuß

------------ ---- --

-

7~=~

I

- --------- -----

;;:;,.......

-

----::::~

~

-

_,..o;r ~

...

""""

1n1

1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 19861987 1988 1989 19901991 1992 1993 1994 1995

Schaubild 9: Der taiwanesische Außenhandel mit der VR China113 (Log. Skalierung)

räder) nach China geliefert, um sie dort unter Nutzung der vergleichsweise günstigen Lohnsituation zu montieren und anschließend in die gesamte Welt zu exportieren. Vgl. o. V., Taiwan's China dare; o. V., Taiwan stands up. Eigene Berechnungen anhand von zwei regelmäßig erscheinenden Titeln. V gl. The Republic of China, Department of Statistics, Ministry of Finance (Hg.): Monthly Statistics of Finance sowie The Republic of China, Economic Research Department, The Central Bank of China (Hg.): Financial Statistics Monthly. Taiwan District. The Republic of China. 112 113

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

58

Tabelle 3 Taiwans Direktinvestitionen in der VR China114 Mio. US$

Projekte

vor 1987

100

80

1988

520

435

1989

437

552

1990

984

1117

1991

174

1681

1992

247

3750a

1993

3187

k.A.

1994

962

k.A.

1995

1093

k.A.

1996

557

k.A.

• Januar bis September 1992

Taiwanesische Direktinvestitionen erfolgen in der VR China erst seit 1981. Bereits zehn Jahre später hatten jedoch schon rund 8.000 taiwanesische Geschäftsleute auf dem Festland ein Unternehmen gegründet. Exakte Daten hierzu sind aufgrund der politischen Situation schwer erhältlich und z. T. widersprüchlich. Gleichwohl können sie ein grobes Bild der Situation vermitteln. Am Ende der neunziger Jahre sind die Austauschstrukturen von K.now-How und Technologie auf der taiwanesischen Seite und den günstigen Arbeitskosten auf VR chinesischer Seite geprägt. Hier liegt auch eines der zukünftig wahrscheinlich größeren Probleme Taiwans verborgen. Es ist anzunehmen, daß sich die Austauschstrukturen stärker auf den substitutiven Bereich verlagern werden und so die klassischen Probleme reifer Länder wie strukturelle Arbeitslosigkeit auch auf Taiwan entstehen werden, da die Lohnkosten der chinesischen Küstenprovinzen deutlich unter den taiwanesischen liegen. Die Verschärfung der Problematik zeigte sich im Sommer 1995, als die Arbeitslosenrate erstmals seit Beginn der 80er Jahre über die Zweiprozentmarke anstieg und zunächst dort verblieb 115 • Noch besitzt Taiwan allerdings technologische Vorsprünge gegenüber der VR China, so daß sich hierdurch eine Abschwächung der Problematik ergeben könnte. 114 Vgl. Xinpeng Xu, Taiwan's Economic Cooperation with Fujian and Guangdong: The View from China, in: Klintworth, Taiwan in the Asia-Pacific in the 1990s, S. 142- 153, hier S. 146; Hermumn-Pillath/Lackner, S. 656. 11s Vgl. Liu, S. 641.

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990

59

Eine weitere"Neuheit für Taiwan ist die 1991 erfolgte Zulassung und gezielte Anwerbung von Gastarbeitern aus Südostasien, welche im direkten Zusammenhang mit der zunehmenden Arbeitskräfteknappheit insbesondere in den neu entstehenden Bereichen des Dienstleistungssektors steht. Die Arbeitskräfteknappheit hatte zu einem nicht unerheblichen Auftrieb der Löhne geführt. Als Resultat wuchsen die Lohnstückkosten trotz der seit 1987 wieder deutlichen Zunahme der Arbeitsproduktivität schnell. So betrug bspw. die Wachstumsrate der realen Arbeitskosten im Jahre 1993 dreieinhalb Prozent und die durchschnittlich gezahlten Löhne im verarbeitenden Gewerbe überstiegen die gesetzlichen Mindestlöhne um rund fünfzig Prozent. Die taiwanesische Regierung veröffentlichte im Oktober 1994, daß die taiwanesischen Arbeitskosten die höchsten in Asien nach denen Japans seien. Derart alarmiert erhöhte die taiwanesische Regierung die Anzahl der Arbeitserlaubnisse für Gastarbeiter mehrfach um zuletzt (1995) weitere 145.000 Arbeiter. Insgesamt waren 1999 knapp 300.000 Arbeitnehmer vornehmlich aus den südostasiatischen Nachbarstaaten Taiwans legal und Schätzungen zufolge weitere 50.000 bis 100.000 illegal auf Taiwan beschäftigt. Im Einzelnen stellt sich die Situation der volkswirtschaftlichen Sektoren am Ende der neunziger Jahre wie folgt dar: Der primäre Sektor kann dadurch gekennzeichnet werden, daß kaum abbauwürdige Vorkommen im Bergbau vorhanden sind. Hier werden sich daher kaum Veränderungen ergeben können. Ganz anders stellt sich dagegen die Lage des zum primären Sektor gehörenden land- und fischwirtschaftlichen Bereiches dar. Ende der neunziger Jahre wurden 875.951 ha (ca. 25%) des Landes für landwirtschaftliche Zwecke genutzt, und im Jahre 1997 fanden 880.896 Mio. Menschen Beschäftigung in der Landwirtschaft 116. Dies entsprach 9,6 Prozent der Erwerbsfähigen. Rund 4,5 Prozent der taiwanesischen Exporte waren landwirtschaftliche Erzeugnisse und davon verließ ein Prozent das Land unverarbeitet 117• Von der im ersten Drittel der 90er Jahre begonnenen Förderung kleinerer Agrargemeinschaften verspricht man sich einen höheren Mechanisierungsgrad, der die Wettbewerbsfähigkeit steigern soll. Die taiwanesische Spezialität, pro Jahr drei Reisernten zu haben, führt zu permanenten Reisüberschüssen, und bei Zucker stellt sich die Situation ähnlich dar. Seit 1996 wird heftig diskutiert, ob die für die darauffolgenden sechs Jahre beschlossene Umwandlung von 160.000 ha Ackerland in Industrie- und Wohnflächen ausreichend ist, um die Überproduktion abzubauen oder ob weitere Stillegungen folgen müssen. Auch die Aufforderung, höherwertige Produkte wie Sorghum, Mais oder Soja anzubauen, könnte zur Beseitigung der Reis- und Zuckerüberschüsse beitragen. Von dieser Umstellung verspricht man sich, die niedrigen Selbstversorgungsraten bei höherwertigen landwirtschaftlichen Gütern abzubauen.

Die Statistik der bäuerlichen Altersstruktur zeigt, daß der Durchschnittsbauer 47 Jahre alt ist, und weist damit auf eine Tendenz zur Überalterung der Landbevölke116 117

Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 74 f . sowie Liu, S. 641. Vgl. Herrmann-Pillath/Lackner(Hg.), S. 655.

60

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

rung hin, die sich infolge des Phänomens der zunehmenden Landflucht noch verschärft. Insofern könnte die zu niedrige Selbstversorgungsrate bei hochwertigen Agrargütern zukünftig zu einer teilweisen Importabhängigkeit Taiwans bei höherwertigen Nahrungsmitteln führen. Die Bereiche der Fischerei- und Aquakulturprodukte befanden sich in den neunzigerJahrennoch im Wachstum- hier konnten im Jahr 1998 1,3 Mrd. US$ im Export erwirtschaftet werden - doch gilt für Land- wie Fischwirtschaft, daß sie von Subventionen der öffentlichen Hand stark abhängig sind und sich bei dem angestrebten WTO-Beitritt Taiwans geschätzte Einbußen bei 72 Agrar- und Aquakulturprodukten in Höhe von rund 5,8 Mrd. US$ ergeben werden 118 • Aufgrund zu hoher Boden-, Lohn- und Herstellkosten, welche bereits seit Jahren die internationale Wettbewerbsfähigkeit Taiwans in seinen einstigen Paradedisziplinen schmälern, könnte der angestrebte Beitritt Taiwans zur WTO politische Proteste der Bauern und Fischer auslösen.

Der sekundäre Sektor gelangte Mitte der achtziger Jahre an seinen Zenit. Zu dieser Zeit betrug der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung Taiwans knapp 50 Prozent. Seitdem geht der Anteil des sekundären Sektors am BIP deutlich zuriick und wird durch den neuen Motor des wirtschaftlichen Wachstums, den Dienstleistungssektor abgelöst. Der Strukturwandel läßt sich auch an der Erwerbstätigenquote deutlich ablesen. Im Jahr 1987 waren noch rund 43 Prozent aller Beschäftigten im Industriesektor tätig. Fünf Jahre später betrug ihr Anteil an der Beschäftigtenzahllediglich noch rund 40 Prozent und weitere fünf Jahre später 38,2 Prozent. Auch das reale Wachstum der Industrie spiegelt diese Entwicklung wider. Zwar konnte der sekundäre Sektor im Jahr 1992 um 4,4 Prozent zulegen; aber verglichen mit den rund 9 Prozent Wachstum desselben Jahres im Bereich Dienstleistungen zeigt sich, daß der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft bereits begonnen hat. Auch in der Entstehungsrechnung des Bruttosozialproduktes wird dies abgebildet. Im Jahre 1993 konnte der sekundäre Sektor zwar noch 39 Prozent zur Erstellung des BSP beitragen, aber vier Jahre später war dieser Anteil bereits auf 34,9 Prozent abgesunken 119. Die Regierung begegnete dem allgemeinen Problem der Industrieverlagerung aufgrundder zu teuren Faktorkosten für Arbeit und Boden im Jahre 1989 durch die Aufstellung des Nationalen 6-Jahres-Entwicklungsplanes. Dieser sah für die zehn als zukunftsweisend ausgewiesenen Industriezweige Telekommunikation, Informatik, Verbraucherelektronik, Halbleiter, Präzisions- und Automatisationsausriistungen, Luft- und Raumfahrttechnik, Spezialchemikalien und Medikamente, medizinische Versorgung, Gesundheitsversorgung und Umwelttechnik ein Sollwachstum um 14 Prozent p. a. vor120. Auch die acht als Schlüsseltechnologie definierten BeVgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 79 f. Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 79 f.; Liu, S. 641 sowie Yu-hsi Nieh, Taiwan Political, Social and Economic Data, in: Institut für Asienkunde (Hg.), China aktuell, Jahrgang XXV, Nr. 1 (Januar), Harnburg 1996, S. 117- 118, hier S. 118. 118 119

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990

61

reiche Optoelektronik, Softwareentwicklung, neue Werkstoffe, Energieerhaltung, Biotechnologie, fortschrittliche Regeltechnik, industrielle Automation und Ressourcennutzung sollen um diesen Prozentsatz wachsen 121 . Dies ist im Vergleich zu einem Wachstum von rund 4 Prozent in der sonstigen verarbeitenden Industrie ein durchaus ehrgeiziges Ziel. Der Gesamtproduktionswert dieser Schlüsselindustrien sollte von 24,7 Mrd. US$ im Jahre 1989 auf 60,3 Mrd. US$ bis zum Ende des Jahres 1995 gesteigert werden. Hierdurch hätte sich der Anteil dieser Bereiche am Bruttoproduktionswert der taiwanesischen Verarbeitungsindustrie von 10,3 Prozent auf 25 Prozent erhöht. Die tatsächliche Entwicklung zeigt, daß die hochgesteckten Ziele annähernd erreicht werden konnten. Das jährliche Wachstum des Bruttoproduktionswertes der zehn Zukunftsindustrien betrug im Durchschnitt der Jahre 1989 bis 1999 13,2 Prozent, und der Anteil am Bruttoproduktionswert belief sich auf knapp 27 Prozent. Aufgrund des Erfolges wurde der Plan zum Aufbau der o. g. Industrien im Jahre 1996 verlängert, und die neuesten Planungen sehen vor, bis zum Jahre 2002 ein wertmäßiges Volumen von 94,2 Milliarden US-Dollar bzw. einen Anteil an der Wertschöpfung der taiwanesischen Verarbeitungsindustrie von 29,4 Prozent zu erreichen 122• Parallel hierzu sollte insbesondere die Importabhängigkeit von Japan verringert werden. Eigenentwicklungen bei 37 Schlüsselzubehör- und Schlüsselbauteilen vor allem in der Elektronikindustrie sollen durch das staatliche lndustrial Technology Research Institute (ITRI), das dem Hsinchu Science Park angegliedert ist, gefördert werden. Das Besondere hieran ist, daß nach Abschluß des ITRI-Prograrnms die neue Technologie den Privaten zunächst im Hsinchu Science Park, danach inselweit zugänglich gemacht werden soll. Dieser Teil des Maßnahmenplans scheint ebenfalls erfolgreich verlaufen zu sein. Die von Japan bezogenen Importe Taiwans sanken von 30,66 Prozent im Jahre 1989 auf 29 Prozent im Jahre 1994. Zwei Jahre später betrug ihr Anteil nur noch 26,9 Prozent und im Jahre 1997 war er auf 25,4 Prozent gesunken 123 • Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, sämtliche Bereiche innerhalb der verarbeitenden Industrie zu schildern 124• Daher soll es genügen, das Muster des Strukturwandels im sekundären Sektor in seinen Grundzügen nachzuzeichnen und exemplarisch zu illustrieren. Hierzu dient eine grobe Unterscheidung in schrumpfende, stagnierende und wachsende Branchen. Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 79 f. Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 79 f. 122 Vgl. o. V., Taiwan Handbuch, S. 79 f. sowie schriftliche Auskunft vom 02. Februar 2000 des Industrial Development Board of Ministry of Economic Affairs, Taiwan, Republic of China. 123 Vgl. Directorate General of Budget, Accounting, and Statistics, S. 14; Nieh; Liu, S. 641. 124 Ausführlichere Informationen bietet das o.V., Taiwan Handbuch, S. 79 - 100. 120 121

62

1. Kap.: Das Wlltschaftswunder aufTaiwan

Charakteristisch für die schrumpfenden Brachen auf Taiwan ist zunächst ihre Arbeitsintensität Die erstellten Produkte können als homogene Güter beschrieben werden, die mit einfachen technischen Verfahren hergestellt werden. In der Regel sind die Standortverlagerungskosten äußerst gering und das entscheidende Merkmal im Außenhandel sind die Transportkosten. In diesem stark vereinfachten Außenhandelsmodell sind also Entfernungen entscheidend. Diese aber sind insbesondere zwischen Taiwan, welches für diese Region relativ hohe Löhne hat, und den umliegenden Niedriglohnländern wie Malaysia, Thailand, VR China und Vietnam nicht sehr groß. Es verwundert also nicht, daß der einstmalige Wettbewerbsvorsprung Taiwans in den arbeitsintensiven Bereichen parallel zum Lohnanstieg verlorenging und Wettbewerbsvorteile nur dort vorhanden sind, wo deutliche Qualitätsvorsprunge Taiwans existieren. Zu den schrumpfenden Branchen Taiwans werden vor allem die arbeitsintensiven Bereiche der Metall-, Fahrrad- sowie Textil- und Bekleidungsindustrie gezählt. Hier lassen taiwanesische Unternehmer bereits in beachtlichem Umfang in der VR China produzieren oder die Endmontage durchführen. Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist zwar durchaus noch ein wichtiger Bereich der taiwanesischen Industrielandschaft und dies läßt sich an einem Produktionswert von 21 Mrd. US$ im Jahre 1992, dem Beitrag zum BIP in Höhe von 7 Prozent sowie einem Exportwert von 11,8 Mrd. US$ ablesen. Aber der Großteil der Wertschöpfung wird nicht mehr in den arbeitsintensiven, sondern den technologie- und wissensintensiven Segmenten der Textil- und Bekleidungsindustrie Taiwans erzielt. Der zunehmende Konkurrenzdruck aus den umliegenden Ländern, die eine im Vergleich günstigere Lohnsituation vorfinden, sowie die bisherigen Schwierigkeiten der taiwanesischen Bekleidungsindustrie, eigene Markennamen zu etablieren, lassen einen Niedergang der arbeitsintensiven Bereiche der Textil- und Bekleidungsindustrie Taiwans vermuten. Typisch ist für die stagnierenden Branchen Taiwans, daß sie gleichzeitig durch ihre Arbeits- und Technologieintensität gekennzeichnet sind. Die erstellten Produkte können sowohl homogene als auch heterogene Güter sein, die einerseits mit einfachen technischen Verfahren herstellbar sind, andererseits durch aufwendigere technische Verfahren sowie den Aufbau von Markenimages etc. relativ einfach veredelt werden können. Die Wettbewerbsvorteile Taiwans existieren in diesen Branchen vor allem aufgrund eines höheren technischen Anwendungswissens sowie aufgrundder höheren Qualität taiwanesischer Produkte. Ein Beispiel für die stagnierenden Branchen Taiwans ist die Sportartikelbranche. Hier hatte Taiwan im Jahre 1995 (in den technologieintensiven Bereichen der Branche) einen Weltmarktanteil von zum Teil bis zu 79 Prozent und nahm damit in einigen Segmenten eine marktbeherrschende Stellung ein. Aber auch in dieser Branche müssen die arbeits- und die technologieintensiven Produkte getrennt betrachtet werden. Für arbeitsintensive Produktionslinien gilt, daß die Konkurrenz aus Malaysia und der VR China (teilweise aufgrundvon taiwanesischen Direktin-

VII. Die ökonomischen Tendenzen seit 1990

63

vestitionen) in den letzten Jahren immer wettbewerbsfähiger wurde, so daß sich hier deutliche Verschiebungen zu Ungunsten Taiwans ergaben. Allerdings stellt sich die Situation in den technologieintensiven Bereichen der taiwanesischen Sportartikelbranche infolge des Upgradings nach wie vor weit positiver dar. Ob diese Strategie auf dem Weltmarkt von dauerhaftem Erfolg sein wird, kann derzeit nicht abgeschätzt werden. Die technologie- und humankapitalintensiven Bereiche Taiwans zählen nach wie vor zu den Wachstumsbranchen. Kennzeichnend ist, daß Taiwan hier deutliche Qualitätsvorsprünge vor den Mitbewerbern aus der Region hat und daß Standortverlagerungen aufgrund der hohen Investitionskosten bislang unterblieben. Hierzu zählen neben anderen die Bereiche Elektronikindustrie und das entsprechende Zubehör. Hier liegt Taiwans zweitgrößter Exportbereich, der 16,7 Prozent aller Exporte des Jahres 1997 stellte. Die starke Exportausrichtung läßt sich auch daran erkennen, daß 65,4 Prozent des Produktionswertes von 20,8 Mrd. US$ für den Export bestimmt waren. Ansteigende Lohnkosten, die Aufwertung des NT-Dollars sowie die Weltrezession verursachten hier allerdings zu Beginn der 90er Jahre leichte Abschwächungstendenzen, welche sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre vor dem Hintergrund der Asienkrisetrotz der erfolgten Abwertung des NTDollar verstetigten. Anders stellt sich das Bild in der Informationsindustrie dar. Hier sind Abschwächungstendenzen nicht zu verzeichnen. Ein Produktionswert von 9,7 Mrd. US$ machte die Insel im Jahre 1993 weltweit zur Nr. 4 in diesem Bereich nach den USA, Japan und Deutschland. Weltweit führend ist man bei Motherboards, Monitoren, Scannern, Netzteilen, Graphikkarten und Mäusen (hier kontrolliert Taiwan rund 80 Prozent des Weltmarktes). Der starke Umsatzzuwachs bei höherwertigen Gütern wie Notebooks und Monitoren und der ab Mitte der neunziger Jahre verstärkt einsetzende Umsatzrückgang bei einfacheren Gütern wie Mäusen und Tastaturen zeigt allerdings auch hier die Umstrukturierung hin zu qualitativ hochwertigen Erzeugnissen aufgrundder veränderten Wettbewerbssituation. Die Informationsindustrie wird dennoch auch zukünftig einer der größten Exportbereiche Taiwans bleiben. Ein Handelsvolumen von ca. 1,2 Mrd. US$ sowie das Wachstum des zugehörigen Dienstleistungsbereichs um 19 Prozent (1997) auf einen Wert von einer weiteren Mrd. US$ sprechen für sich. Anzumerken bleibt, daß auch hier das Problem in der Etablierung von Markennamen besteht und viele der auf Taiwan produzierten Güter nicht unter eigenem Namen verkauft werden. Ebenso wie in der Informationsindustrie überwiegen auch bei der petrochemischen Industrie die positiven Signale. Mit einem Produktionswert von 7 Mrd. US$ war man weltweit die Nr. 17 des Jahres 1992. Bei PVC war man sogar die Nummer eins. In den Jahren danach erfolgte durch die Errichtung zweier Leichtölcrackanlagen der ehrgeizige weitere Ausbau der Äthylenproduktion um zusätzliche 850.000 t Äthylen p. a. und dies läßt für die Zukunft eine weiterhin starke Stellung in diesem Marktsegment erwarten.

64

1. Kap.: Das Wirtschaftswunder auf Taiwan

Klar herausragend ist die Position des tertiären Sektors: Im Jahre 1997 wurden 62,4 Prozent des BIP erwirtschaftet und 52 Prozent aller Beschäftigten fanden hier Arbeit. Die Zuwächse bei Handel, Finanzdienstleistungen, Immobilien, Versicherungen sowie Beratung in Verbindung mit der Mitte der neunziger Jahre vorsichtig begonnenen Liberalisierung des Finanzmarktes zeigen die zukünftigen Wachstumshereiche der taiwanesischen Wirtschaft an. Der 1995 verabschiedete Plan der Regierung, Taiwan zu einem regionalen Handels- und Unternehmenszentrum auszubauen, das in den Bereichen Produktion, Logistik, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer sowie Marketing führend in ganz Südostasien ist, wurde durch den Ausbruch der Asienkrise zu Beginn des Jahres 1997 behindert. Er wurde jedoch nicht fallengelassen und wird seit dem Ende der Asienkrise wieder verstärkt forciert. Sollte es gelingen, die Pläne erfolgreich in die Tat umzusetzen, könnte dies dem Trend zur Herausbildung eines ,Großchinesischen Wirtschaftsraums' zusätzliche Schubkraft verleihen. Taipeh versucht anscheinend, in einen verstärkten Wettbewerb mit Hongkong, Singapur und Schanghai um die Funktion des asiatischen Finanzzentrums einzutreten. Hierauf weist auch die Förderung des weiteren Aufbaus der Börse Taiwans hin. Das übermäßige Wachstum der Jahre 1986 I 87 wurde zwar gebremst, aber seit 1992 zeigt sich hier wieder ein deutlicher Anstieg der registrierten Unternehmen (1993=271), des Börsenumsatzvolumens (von 1992 bis 1993 verdoppelt auf 343 Mrd. US$) sowie der Tagesumsätze (1993 im Durchschnitt 900 Mio. US$ zu 600 Mio. US$ im Vorjahr). Obwohl das Börsenvolumen im Jahre 1998 infolge der Asienkrise nur noch 178 Mrd. US$ betrug und sich damit ungefahr auf dem Niveau von 1992 bewegte, konnte sich der positive Trend - insbesondere im regionalen Vergleich- bis an das Ende der neunziger Jahre fortsetzen. Der Finanzplatz Taipeh wurde folgerichtig im April 1999 als größte Schwellenländerbörse Asiens bezeichnet125. Die rege Aktivität auf dem taiwanesischen Goldmarkt sowie der zügig voranschreitende Ausbau der taiwanesischen Kreditkartenindustrie unterstreichen diesen Trend. Insbesondere die große Beteiligung ausländischer Kreditkartengesellschaften kann als deutliches Indiz dafür gesehen werden, daß die internationale Finanzwelt Vertrauen in die prosperierende Zukunft des Finanzplatzes Taipeh hat. Dies zeigt sich auch daran, daß der Finanzplatz Taipeh die Asienkrise vergleichsweise unbeschadet überstand. Damit dieser Trend anhält, bedarf es jedoch der Forderung weiterer Liberalisierungsschritte auf dem taiwanesischen Kapitalmarkt.

125

s. 68.

Vgl. o. V., The Second Coming?, in: The Economist, April 3, 1999, S. 67 - 68, hier

VIII. Zusammenfassung

65

VIII. Zusammenfassung Wie Wolfram Fischer einmal bemerkte, neigt der Ökonom zur Überbewertung des politischen Umfeldes und zur Unterschätzung der ökonomischen Handlungsalternativen 126• Für ihn ist das politische Umfeld die ,causa causarum'. Deshalb folgte auch die Gliederung dieses ersten Kapitels jenen sich im Zeitablauf verändernden politischen Umwelten Taiwans, die dem Ökonom so bedeutsam scheinen. Zu nennen sind: • Die Zeit bis 1945 als japanische Kolonie, in welcher die ersten Grundsteine des späteren ökonomischen Aufstiegs gelegt wurden. • Die Zeit der Irrungen und Wirrungen auf Taiwan, welche im Zusammenhang mit dem Rückzug der Japaner von der Insel und dem chinesischen Bürgerkrieg standen. • Die 1950 beginnende Ära der asiatischen Stellvertreterkriege, wobei die Funktion Taiwans als unversenkbarer Flugzeugträger der USA sich nicht nur so auswirkte, daß der chinesische Bürgerkrieg nicht auf Taiwan übertragen wurde, sondern darüber hinaus die USA massive Finanzhilfen nach Taiwan lenkten. Dies trug dazu bei, die taiwanesische Importsubstitutionspolitik zu finanzieren und beförderte so den (Wieder-) Aufbau der arbeitsintensiven taiwanesischen Agrar- und Leichtindustrie. • Die Anfang der siebziger Jahre unter dem US-Präsidenten Nixon eingeleitete und unter Präsident Carter gegen Ende des Jahrzehnts vollzogene Abkehr der USA von ihrem ehemaligen Verbündeten Taiwan im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und der VR China. Hierdurch wurde der Aufbau einer taiwanesischen Schwer- und Rüstungsindustrie zur politischen Überlebensfrage und jene bis heute erfolgreiche Diversifikation der taiwanesischen Ökonomie eingeleitet, welche die Regierung wiederkehrend auf ihre Richtigkeit hin überprüfte und entsprechend veränderte. Außerdem wurde zur innenpolitischen Stabilisierung der Reformprozeß notwendig und der Aufbau der heutigen demokratischen Strukturen eingeleitet. Taiwan hat den Weg des late comers mit Bravour hinter sich gebracht. Das in den 70ern erreichte Stadium des Schwellenlandes ließ aufmerksame Beobachter ahnen, daß die Insel knapp dreißig Jahre später zu den Industrienationen zählen würde. Neben den oben erwähnten weltpolitischen Konstellationen sind Motivation und Gemeinschaftssinn der Bevölkerung sowie die Konzentration auf nachholende Entwicklung entscheidende Merkmale des taiwanesischen Erfolgs gewesen,

126 Vgl. Wolfram Fischer; Weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen für die ökonomische und politische Entwicklung Europas 1919-1939, erschienen in der Reihe des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Vorträge Nr. 73, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1980, s. 5 ff.

5 Fronius

66

I. Kap.: Das Wirtschaftswunder aufTaiwan

die durch die weite Voraussicht der ökonomischen Lenkungsgremien noch verstärkt wurden. Bisher habe ich nicht den Versuch unternommen, die einzelnen Erfolgsmerkmale zu analysieren. Der eher chronologische Abriß der wirtschaftspolitischen Phasen liefert erste Anhaltspunkte für die Ursachen des ökonomischen Erfolges Taiwans. In der Literatur ist allerdings umstritten, welches letztlich die entscheidenden Faktoren des taiwanesischen ,Wirtschaftswunders' waren. Einige wichtig scheinende Faktoren sollen hier knapp herausgestellt werden. 1. Die taiwanesische Bevölkerung war bis zu einem gewissen Grade bereit, demokratische Rechte zugunsten der Macht des (Entwicklungs-) Regimes einzuschränken. 2. Sie war auch bereit, dem Diktat der Zahlungsbilanz und der Logik des zu kleinen Binnenmarktes zu folgen, wodurch der außenwirtschaftliehen Spezialisierung gegenüber einer binnenorientierteren Entwicklung, welche geringere Anpassungskosten verursacht hätte, der Vorrang gegeben werden konnte. 3. Vor allem aber handelte die Bevölkerung Taiwans zukunftsgerichtet und nahm die sich bietenden Chancen (z. B. der Welthandelsliberalisierung) wahr. Die Zukunftsorientierung der taiwanesischen Bevölkerung zeigt sich z. B. in den großen Bemühungen, die persönliche (Aus- und Weiter-) Bildung voran zu treiben sowie in der Bevorzugung des Sparens gegenüber dem Konsum. Diese Wahlhandlungen kennzeichnen die von den Taiwanesen eingegangenen .Substitutionsbeziehungen der Vergangenheit. Deutlich verstärkt wurde deren Wirkung sowohl durch die ständige militärische Bedrohung seitens der VR China, als auch durch den innenpolitischen Druck seitens des KMT-Regimes. In der Retrospektive entsteht vielleicht gerade aufgrund dieser ,Druckkochtopfwirkung' der Eindruck, die Wahlhandlungen seien bewußt vonstatten gegangen und bewußt darauf ausgerichtet gewesen, das zukünftige Leben weniger staatsgebunden und stärker intraregional auszurichten, um später vielleicht ein besseres Leben zu führen127. Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich im FalleTaiwans um ein multidimensionales Gemisch entwicklungsdienlicher Ingredienzen aus situativen Umständen, den zum Teil zielgerichteten - zum Teil auch nur zielführenden - Handlungen und den resultierenden Wechselwirkungen, die zum taiwanesischen ,Wirtschaftswunder' führten.

127

Vgl. zur Schilderung der Substitutionsbeziehungen und dem Interaktionsgeflecht

Lorenz, Das Beispiel der "Viererbande" Ostasiens, S. 653 f.

Kapitel2

Die bisherigen Ansätze zur Erklärung des taiwanesischen Wirtschaftswunders Nach der im vorstehenden Teil erfolgten Charakterisierung des taiwanesischen Wirtschaftswunders ist zu fragen, wie dieser Erfolg bislang erklärt wurde. In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion über die Ursachen des taiwanesischen Wirtschaftswunders donUnierten bislang hauptsächlich Erklärungsansätze, die sich entweder nrit der Rolle des Staates oder der Bedeutung der konfuzianischen Kultur im Entwicklungsprozeß befaßten. Darüber hinaus existieren verschiedene Erklärungsansätze, die sich mit den Spezifika der Organisation chinesischer Unternehmen, dem Beitrag der ostasiatischen Regionalisierungstendenzen sowie der Bedeutung der Überseechinesen im Entwicklungsprozeß befassen. Für den Zweck dieser Arbeit sind jedoch nur die beiden erstgenannten, donUnierenden Hauptströmungen relevant 1•

I. Die Rolle des Staates als zentraler Erklärungsfaktor Die wesentlichen Erklärungen des ostasiatischen und sonrit auch des taiwanesischen Wirtschaftswunders zielen in ihren Grundfragen auf die Rolle des Staates ' Zum Beitrag der ostasiatischen Regionalisierungstendenzen siehe Carsten HernnannPillath, Wirtschaftsintegration durch Netzwerke: Die Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, Baden-Baden 1994, insbesondere S. 271 - 325; o. V., Wachstumsdreiekke in Asien, in: Neue Zürcher Zeitung, 08. 10. 1996, S. 23; Sung-jo Park, Das Zentrum der künftigen Weltwirtschaft, in: Der Tagesspiegel, Sonderbeilage Asien-Pazifik-Wochen, 13. 09. 1997, S. B3. Nicht ausschließlich auf Asien bezogen handelt Lorenz die Problematik der Regionalisierung ab. Siehe hierzu Detlev Lorenz, Regionale Entwicklungslinien in der Weltwirtschaft Tendenzen zur Bildung von Wachstumspolen?, in: Erhard Kantzenbach/Otto G. Mayer (Hg.): Perspektiven der weltwirtschaftliehen Entwicklung und ihre Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland, Harnburg 1990, S. 11- 31. Zur Bedeutung der Überseechinesen im Entwicklungsprozeß siehe Oskar Weggel, Auslandschinesenturn und Eigenblutimpfung. Ursachen des chinesischen Wirtschaftswunders, in: China aktuell, Vol. XXV (1996), S. 24- 45 (Januar), S. 166- 192 (Februar) und S. 265- 282 (März); lohn Kohut I Allen T. Cheng, Return of the Merchant Mandarins. The Wealthy Descendants of Asia's Chinese Diaspora are Converging on China - and Transforrning their Ancestral Homeland, in: Asia lnc., März 1996, S. 22 - 31. 5*

68

2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

im ökonomischen Entwicklungsprozeß2 . Es bietet sich für den Zweck dieser Untersuchung an, den Staat mit den Worten von Weber als "politischen Anstaltsbetrieb"3 zu verstehen, der auf einem eindeutig abgegrenzten Territorium den Anspruch zur Ausübung legitimer Gewalt erhebt und diesen auch durchzusetzen fähig ist4 • In der Literatur wird das Staatshandeln oftmals als zentrale Größe für den ökonomischen Erfolg bezeichnet5 • Je nach Standpunkt des jeweiligen Autors wird Staatshandeln entweder als entscheidend für Erfolg oder Mißerfolg für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß angesehen. Vorherrschend ist eine dichotomische Sichtweise: Wahrend die neoliberal geprägten Autoren den Staat als Haupthindernis der ökonomischen Entwicklung ansehen, betrachten ihn die Strukturalisten I Revisionisten hingegen als Träger der Modemisierung6 . Besteht für die einen die richtige Wirtschaftspolitik darin, den Markt möglichst frei agieren zu lassen, besteht sie für die anderen gerade darin, den Markt zu lenken und ihn in die entwicklungspolitisch als erwünscht angesehene Richtung zu dirigieren. "There are competing paradigms. A weil entrenched view maintains that East Asian success provides a clear demonstration of vigorous market competition and free trade as the twin ,engines of growth '. The alternative view is that the state in East Asia represents the ,engine of growth' "7 • Aus der jahrelang währenden Auseinandersetzung zwischen diesen antagonistischen Ansätzen entwickelten sich zwei weitere Theoriestränge, die nicht zuletzt aufgrund der ostasiatischen Entwicklungserfolge entstanden, da diese keinem der diametral zuwiderlaufenden Theorien zu entsprechen schienen. Der eine der neuez Dies wird bereits an den gewählten Buchtiteln der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur deutlich. Bereits wenige Beispiele belegen dies anschaulich. Robert Wade, Governing the Market: Economic Theory and the Role of Government in East Asian lndustrialization, New Jersey 1990; Joel D. Aberbach/David Dollar/Kenneth L. Sokolojf(Hg.), The Role of the State in Taiwan's Development, ArmonkiNew York und London 1994; Li, Evolution ofPolicy. 3 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. revidierte Auflage, Tübingen 1980, s. 29. 4 Vgl. ebenda, S. 29. 5 Ich verstehe den Begriff "Handeln" hier im juristischen Sinne. Er ist insoweit Oberbegriff von "Tun" und "Unterlassen". 6 Vgl. zu den Bezeichnungen als Neoliberale, Strukturalisten und Revisionisten: Weltbank, East Asian Miracle, S. 83 f.; Stephan Haggard, Pathways from the Periphery: Politics of Growth in the Newly Industrializing Countries, Berkeley 1990, S. 14; Peter Petri, Common Foundation of East Asian Success, The International Bank for Reconstruction and Development, Washington 1993, S. 6.; Mauricio Mesquita Moreira, Industrialization, Trade and Market Failures. The Role of Government Intervention in Brazil and South Korea, London 1995, S. 1; Nigel Holloway, Less like us, in: Far Eastern Economic Review, Vol. 160, No. 31, S. 49 f., Hong Kong 1997 und siehe auch Michael Sarel, Growth in East Asia. What we can and what we cannot infer, IMF Economic lssues Paper, http://www.imf.org I externall pubs I ftlissuesllindex.htm, S. 8 ff. 7 Vgl. Chowdhury/lslam, Newly lndustrialising Economies ofEast Asia, S. 42.

I. Die Rolle des Staates

69

ren Ansätze versucht, die beiden antagonistischen Ansätze miteinander zu versöhnen. Insbesondere die Weltbank tat sich hier mit ihrem Sonderbericht des Jahres 1993 zum East-Asian Mirade hervor8• Der andere Ansatz dagegen ist als sogenannte agnostische Sicht in die Literatur eingegangen9 . Sie basiert auf der Schlußfolgerung, daß die Jahre währende Auseinandersetzung nur eines gezeigt habe, nämlich daß wir wenig bis nichts über die Zusammenhänge zwischen Politik und Entwicklung wissen.

1. Die Ursprünge der Debatte 10

Die originäre, über Jahrzehnte währende Debatte zwischen Entwicklungsökonomen der unterschiedlichsten Schulen verdient ungeachtet der neueren Theorien besonderes Augenmerk, da sich beide Seiten ausgiebig mit dem ostasiatischen Wirtschaftswunder befaßten. Der scientific community riickte der ostasiatische Aufschwung erst dadurch auf breiter Basis in das Bewußtsein. Die Debatte wurde lange Zeit von der prinzipiellen Frage bestimmt: Wer sollte in Entwicklungsländern Motor des Wachstums sein - Staat oder Wettbewerb plus Welthandel? Es ging mit anderen Worten um die Kernfrage, ob der Staat in Entwicklungsländern in die Faktorallokation und Verteilung der Vermögensbestände eingreifen sollte oder ob sich die Faktorallokation nach den Gesetzen des Marktes im Rahmen freien Wettbewerbs und freien Welthandels herausbilden sollte. Die Anfänge der Debatte sind im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Großen Depression und dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu sehen. Die explizite Wurzel bestand in den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit in Lateinamerika, wo mehr in spontanen Prozessen denn als geplante Industrialisierungsstrategie angelegt- sowohl von Unternehmens- als auch von Regierungsseite als Antwort auf externe Schocks Importe substituiert wurden. Die implizite Wurzel dagegen liegt in den Erfahrungen der Integration Lateinamerikas in die Weltwirtschaft nach der Havanna-Konferenz bzw. der mißlungenen Griindung der ITO 1947. Spätestens nachdem in den USA die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch integrationsfreundliche Tendenz wieder durch den vor dem Krieg herrschenden Protektionismus abgelöst wurde, war die bis dato favorisierte exports Vgl. Weltbank, East Asian Miracle. Vgl. Sarel, S. 10. IO V gl. zu diesem Abschnitt: AdebahrI Maennig, S. 245 ff.; Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Econornies of East Asia, S. 42 ff.; Wolfgang Hillebrand, Shaping Competitive Advantage. Conceptual Framework and the Korean Approach, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, GDI Book Series No. 6, London, Portland und Berlin 1996, S. 60 ff.; Heinz-Gert Preuße, Handelspessimismus alt und neu, Tübingen 1991; Wolfgang Ochel, Die Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft, Köln 1982, S. 79 ff.; Edmund V. K. Fitzgerald, The Theory of Import Substitution, Centro Studi Luca d'Agliano - Queen Elizabeth House University ofOxford, Development Studies Working Papers, No. 108, Mai 1997. 9

70

2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

orientierte Industrialisierungsstrategie für Lateinamerika keine strategische Option mehr, weil die Aussicht auf zunehmende Exporte in die USA und damit auf exportgeführtes lateinamerikanisches Wachstum nachließ 11 . Eine zweite implizite Wurzel kann auch in dem damals herrschenden Elastizitätspessimismus bezüglich der Aufnahmefähigkeit des Weltmarktes für Entwicklungsländerexporte erkannt werden. Als Reaktion initiierte die Economic Commission for Latin America (ECLA) die Forrnalisierung bereits friiher geäußerter Zweifel an der Validität des neoklassischen Heckscher-Ohlin-Samuelson (HOS)-Theoriegebäudes. Die friihen Empfehlungen der ECLA lauteten aus drei Griinden heraus Importsubstitution: Erstens bedarf es angesichts der externen Beschränkungen auf der Handelsseite heimischer Quellen für industrielles Wachstum. Zweitens ist ein sozialer Zwang vorhanden, rasch Beschäftigungsmöglichkeiten für die wachsende Anzahl an Erwerbstätigen sowie bessere Chancen für die Unterbeschäftigten der rückständigen Landwirtschaft zu schaffen. Drittens wird die einzige Möglichkeit, schnellen technischen Fortschritt zu schaffen, in Industrialisierungsprozessen gesehen. Diese sich zunächst in Lateinamerika herausbildende eigenständige ökonomische Schule griff hiermit drei zentrale Annahmen des neoklassischen HOS-Standardmodells an: Erstens, daß ein kleines Land bei gegebenen Weltmarktpreisen sich einer unendlich elastischen Exportnachfrage erfreut; zweitens, daß die Faktoren Kapital und Arbeit völlig ausgelastet sind, also weder unterhalb der Kapazität produziert wird noch Arbeitslosigkeit existiert; drittens, daß Investitionen keine signifikanten Externalitäten in sich bergen 12. Die ersten kritischen Reaktionen auf dieses Gedankengebäude und seine Implikationen kamen von neoklassischen Handelstheoretikern. Erst im Anschluß daran oder eventuell als Folge dessen, entsprang eine weltweite, bis heute andauernde Debatte über die angemessene Entwicklungsstrategie für die sich damals im Dekolonisierungsprozeß bildende ,Dritte Welt'. Wie erwähnt, bildete die Frage, ob dabei Staat oder Wettbewerb plus Freihandel den Motor des Wachstums bilden solle, den Hauptuntersuchungsgegenstand des neuen Theoriezweiges der Entwicklungsökonomie. Neben Kalecki und Singer, welche sich bereits während der Zwischenkriegszeit im Völkerbund mit Fragen der (Unter-) Entwicklung auseinandersetzten, sind die Anfänge der Entwicklungsökonomie als eigenständigem Theoriezweig der Ökonomie vor allem mit den Namen Nurkse, Rosenstein-Rodan, Myrdal, Prebisch und später dann Hirschman verknüpft13. Für sie war die Unterentwicklung der Dritten Welt nicht mit den Mitteln Vgl. Fitzgerald, S. 1 ff. Vgl. Fitzgerald, S. 5 f. 13 Siehe Hans Singer; The Distribution of Gains between Investing and Borrowing Countries, in: American Economic Review, Vol. 40 (1950), S. 473-485; Ragnar Nurkse, Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries, London 1953; Ragnar Nurkse, Patterns of Trade and Development, Wicksell Lectures, Stockholm 1959; P. Rosenstein-Rodan, Pro11

12

I. Die Rolle des Staates

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der neoklassischen Theorie überwindbar, welche dem Faktorproportionentheorem folgte und entsprechend zu freiem Handel ergänzt um freien Wettbewerb riet. Für sie war die Unterentwicklung in der Dritten Welt ein endemischer Fall von Marktversagen. Wolle man den Entwicklungsländern zu Industrialisierungsprozessen verhelfen, so müßten die entwicklungshemmenden Strukturen verändert werden. Dies sei Aufgabe des Staates, im Falle des Außenhandels Aufgabe der Weltgemeinschaft. Staat bzw. Weltgemeinschaft hätten entwicklungsfördernde Strukturen zu schaffen, denn der freie Markt leiste dies in Entwicklungsländern selten aus sich selbst heraus. Zu den als entwicklungshemmend erachteten Strukturen zählten die Strukturalisten primär die Struktur von Entwicklungsländermärkten, die Struktur des freien Weltmarktes sowie ganz allgemein die Dependenz der Entwicklungsländer von den (zum Teil als kolonial oder imperialistisch bewerteten) Interessen der industrialisierten Welt 14• Für den Zweck dieser Arbeit bedeutungsvoll sind dabei vor allem die beiden erstgenannten Struktordefizite. Der Privatsektor stellt den wachstumsfördernden Aktivitäten aufgrund eines Strukturversagens im Marktsystem zu wenig Ressourcen zur Verfügung, so die These von Rosenstein-Rodan. Für ihn ist das Problem unterentwickelter Länder hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, daß voneinander isolierte Unternehmer nicht investieren, weil niemand von ihnen die Garantie hat, daß die Investitionen so erfolgen, daß Nachfrage nach der Produktion der anderen entsteht. Als zentrales Problem werden Koordinierungsdefizite innerhalb des privaten Sektors erkannt. Die empfohlene Politik bestand demnach in staatlicher Wirtschaftsplanung und Lenkung der Investitionen in die für strategisch wichtig erachteten Bereiche der Volkswirtschaft. Auch das Konzept des Balanced Growth von Nurkse sah eine komplexe staatliche Wirtschaftsplanung vor. Es beruhte "auf dem Gedanken, die zum lngangsetzen [wirtschaftlichen Wachstums] erforderlichen Investitionen so zu strukturieren, daß die steigende Produktion mit den steigenden Einkommen nachgefragt wird" 15 , so daß sich die Strukturen von zusätzlicher Produktion und wachsender Nachfrage letztlich entsprechen. Da "die Investitionen in möglichst vielen miteinander verflochtenen Produktionsbereichen vorgenommen werden ..." 16 sollten, um sich so blems of Industrialization in Eastern and South-Eastern Europe, in: Economic Journal, Vol. 53 (1943), No. 2, S. 202-211 ; Gunnar Myrdal, The Asian Drama, New York 1968; Raoul Prebisch, The Economic Development of Latin America and its Principal Problems, New York 1950; Raoul Prebisch, Towards a Dynarnic Development Policy for Latin America, New York 1963; Albert 0. Hirschman, The Strategy of Economic Development, New Haven 1958; Albert 0. Hirschman (Hg.), Latin American Issues- Essaysand Comments, New York 1961; Albert 0. Hirschman, The Political Economy of Import Substituting lndustrialization in Latin America, in: Quarterly Journal ofEconomics, Vol. 82 (1968), No.1, S. 1-32. 14 Vgl. zur Bezeichnung Strukturalisten Moreira, S. 1; Petri, S. 6; Hillebrand, S. 60 ff. 15 Adebahr I Maennig, S. 251. Anmerkung durch den Verfasser. 16 Ebenda, S. 252.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

gegenseitig ergänzen und stimulieren zu können, war ein hoher Grad an staatlicher Wirtschaftsplanung bei der Verfolgung dieses Entwicklungskonzeptes eine Conditio sine qua non. An obigen Beispielen wird deutlich, daß die Pioniere auf dem Feld der Entwicklungsökonomie in ihren Konzepten einen hohen Grad an planensehen Eingriffen vorsahen. Die Konzepte bedurften zielgerichteter Interventionen, um wirken zu können. Die theoretische Begründung der Notwendigkeit dirigistischer Eingriffe legte die intellektuelle Grundlage zur Rechtfertigung staatlicher Intervention in der Praxis. Die Richtung der dirigistischen Eingriffe selbst war hierdurch noch unbestimmt. Da viele der Entwicklungsökonomen den Welthandel und seine Struktur als maßgeblich für den bisherigen (Miß-) Erfolg der unterentwickelten Staaten ansahen, folgte die Ausrichtung des Dirigismus ihrer Einstellung dem Welthandel gegenüber, welche in jenen Jahren von einem grundsätzlichen Handelspessimismus geprägt war. Diese ließ eine importsubstituierende Entwicklungsstrategie als die erfolgversprechendste Alternative erscheinen. Bhagwati führt dazu aus: "Many major development economists were pessimistic about foreign trade opportunities. Either they argued ... that trade could not be expected to be an engine of growth; or they argued, in varying ways, that trade opportunities became so restricted that development strategies would have to turn increasingly inward-looking, import substituting and the like" 17• Woher resultierte dieser Handelspessimismus? Nach Preuße trugen die Handelspessimisten vor allem drei Argumente vor18 • Die erste Argumentationskette ist die Prebisch-Singer-These. Sie befaßt sich mit der langfristigen Entwicklung der TermsofTrade für landwirtschaftliche und mineralische Rohstoffe und prognostiziert einen säkularen Trend der Verschlechterung für die rohstoffexportierenden Entwicklungsländer. Die zweite Argumentationskette befaßt sich mit den resultierenden Zusammenhängen zwischen Außenhandel und Strukturwandel und die dritte schließlich zieht Schlußfolgerungen für Außenhandel und selbsttragenden Entwicklungsprozeß. Prebisch versuchte die These von der säkularen Verschlechterung der Terms of Trade der Primärgüter exportierenden Entwicklungsländer mittels einer Untersuchung der englischen net harter terms of trade über den Zeitraum 1876 - 1947 zu belegen 19• In diesem Zeitraum hatten sich diese- Prebisch zufolge- stetig verschlechtert, was er und andere als Bestätigung der These ansahen, daß sich das 17 Jagdish Bhagwati, Development Econornics: What Have We Learned?, in: Asian Development Review, Vol. 2 (1984), No. 1, S. 23- 38, hier S. 28 f. 18 Vgl. Preuße, S. 13. 19 Vgl. Prebisch, The Economic Development of Latin America and its Principal Problems; Prebisch, Towards a Dynarnic Development Policy for Latin America. Seine Thesen sind im deutschen Schriftgut sehr gut in folgenden Werken dargestellt: Preuße, S. 13-20; Adebahr/Maennig, S. 245 ff.; Ochel, S. 79 ff.

I. Die Rolle des Staates

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Preisverhältnis von Industrie- zu Primärgüterexporten langfristig zugunsten der ersteren entwickelt habe und eine strukturelle Benachteiligung der Entwicklungsländer gegeben sei. Darüber hinaus schreite der technische Fortschritt im Industriegüterbereich schneller voran als im Primärgüterbereich und dies führe zu einer grundsätzlichen Asymmetrie zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Denn die Gewinne aus technischem Fortschritt würden aufgrund starker Gewerkschaften und monopolisierter Märkte bei den Industrienationen im wesentlichen innerhalb des Landes weiter gegeben, wohingegen der von den Entwicklungsländern erzielte technische Fortschritt aufgrund kaum entwickelter Gewerkschaftsbewegungen und starken internationalen Wettbewerbsdrucks auf dem Weltmarkt weitergegeben würde. Auch hieraus würde eine Verschlechterung der Terms of Trade resultieren20. Eng mit dem Gedankengebäude von Prebisch ist die Argumentation von Nurkse verbunden, daß die Entwicklungsländer Strukturwandel und Entwicklung nicht selbst bestimmen könnten. Er führte aus, daß allein das externe Nachfragewachstum den Strukturwandel bestimme - interne Angebotsfaktoren hingegen unerheblich seien21 . "Dieser sogenannten Unabänderlichkeitsthese liegt die o. g. Vorstellung zugrunde, daß die Entwicklungsländer [nahezu] ausschließlich an die Exporte von Primärgütern gebunden sind"22 und auch bleiben. Ähnliches wie für den Strukturwandel gilt in diesem Gedankengebäude auch für die Möglichkeiten der Entwicklungsländer, einen selbsttragenden Entwicklungsprozeß einzuleiten. Den Annahmen der Entwicklungsökonomen der ersten Stunde zufolge besteht eine "feste, einseitige Beziehung zwischen internationalem Handel (als Komplementärhandel der Entwicklungsländer mit den Industrieländern) und dem Wachstum der Entwicklungsländer. Dabei folgen die Exporte der Entwicklungsländer passiv der Importnachfrage der Industrieländer"23 . Entwicklung ist somit ausschließlich durch "den passiven externen Importnachfrageffekt der Industrieländer nach Rohstoffen"24 bestimmt. Faßt man diese drei Argumentationsketten zusammen, so zeigt sich, daß innerhalb des Theoriegebäudes von Prebisch et al. eine auf Industrialisierung via Exportorientierung setzende Entwicklungsstrategie wenig Erfolg verspricht. Die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen des Problems der Unterentwicklung sahen deshalb vor allem vor, den internationalen Handel mittels staatlicher Eingriffe so zu strukturieren, daß die (behaupteten) strukturellen Nachteile kompensiert würden. Hierzu zählt neben der Einfügung eines Sonderrechte für die Entwicklungsländer vorsehenden Teils IV ,Handel und Entwicklung' in das GATT-Vertragswerk sowie

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Vgl. Adebahr/Maennig, S. 245 f. Vgl. Preuße, S. 20 f. Ebenda, S. 21. Anmerkung durch den Verfasser. Preuße, S. 53. Ebenda, S. 64.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

der Forderung nach einer ,Neuen Weltwirtschaftsordnung' vor allem die Entwicklungsstrategie der Importsubstitution25 • Importsubstitution ist Little zufolge dadurch gekennzeichnet, daß Industriebereiche begründet werden, um vormals importierte Güter selbst herzustellen und diese primär auf dem heimischen Markt zu verkaufen. Die Regierungen stellen die Profitabilität der neuen Industrien durch Zölle und andere Kontrollmechanismen sicher und schützen sie vor internationalem Wettbewerb26• Es geht zuvörderst um die Zuriickdrängung bisheriger Importe durch selbsterstellte Güter, wobei die Politik die neu entstandenen Produktionsbereiche bewußt durch Zölle, überbewertete Wahrungen und andere Mittel schützt und damit den Substitutionsprozeß abstützt. Die Importsubstitutionspolitik oder -Strategie kann daher mit Moreira wie folgt beschrieben werden: "An import-substitution regime can be defined as one where the overall bias of incentives favours production for sale in the home market, replacing imports ... Formally, bias is defined as the divergence between the domestic price ratio of importables and exportables to the foreign price ratio'm. Die Importsubstitutionsstrategie wurde zunächst hauptsächlich im Bereich der nicht-haltbaren Konsumgüter angewandt und vorgesehen war dies später auch für Kapitalgüter28 . Der Ersatz bisheriger Importgüter durch Eigenproduktion machte sich in Lateinamerika zunächst in einem relativ raschen Anwachsen des verarbeitenden Gewerbes bemerkbar. Die Importsubstitutionsstrategie schien mithin in der Anfangsphase ihrer Anwendung Profite zu gerieren. Das anfänglich so rasche Wachstum des industriellen Sektors ging jedoch stark auf den Aufbau neuer Industriezweige zuriick. Diese Aufholeffekte mußten zwangsläufig irgendwann nachlassen und eine Marktsättigung war unausweichlich. Ab dem Zeitpunkt des Erreichens der Marktsättigung mußte innerhalb einer rein auf Importsubstitution abzielenden Strategie die Wachstumsrate der Produktion deshalb zwansgläufig auf die Wachstumsrate der inländischen Nachfrage absinken. Aus diesem Grunde hatten die Vordenker der Importsubstitutionsstrategie von der ECLA auch einen spezifisch regionalen Aspekt von Anbeginn in die Theorie eingebettet29• Regionale Koordination wurde als selbstverständlich angenommen. Ziel war es, die aufgrund der Landesgröße existierenden Limitationen durch regio25 Die Einfügung des Teils IV in das GATT-Vertragswerk geht auf den sog. Haberler-Bericht von 1958 sowie die sich anschließende Dillon-Runde zurück. Der Teil IV wurde 1964 verabschiedet und trat am 27. Juni 1966 in Kraft. Vgl. Richard Senti, Das GATI als System der Welthande1sordnung, Zürich 1986, Kapitel 13. Vgl. zur ,Neuen Weltwirtschaftsordnung' Ochel, S. 255- 313 sowie Adebahr/Maennig, s. 324ff. 26 /an M.D. Little/Torsten Scitovsky/M. Scott, lndustry and Trade in Some Developing Countries: A Comparative Study, London 1970, S. l. 21 Moreira, S. 4 f. 28 Vgl. Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 43 sowie Fitzgerald, S. 6 ff. 29 Vgl. ebenda, S. 5.

I. Die Rolle des Staates

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nale Integration zu überwinden und so Skaleneffekte zu ermöglichen. Außerdem hätte dies der Überwindung der aus der Theorie bekannten Situation des kleinen Landes entsprochen. Fitzgerald betont: " ... export market gains by one country at the expense of another could not be considered as a welfare gain from the point of view as the region as a whole" 30. Der regionale Ansatz der Importsubstitutionsstrategie wurde jedoch nirgends entsprechend umgesetzt. Statt zu regionaler Kooperation und Absprachen kam es zu national unterschiedlichen Politiken und nicht zu den geplanten regionalen Kooperationsseffekten. Das angesprochene erwartete Absinken der Wachstumsrate der Produktion auf die Wachstumsrate der inländischen Nachfrage war die Folge. Wegen der Sättigungseffekte ab Saturierung des heimischen Marktes scheiterten die meisten Versuche, mit der Importsubstitutionsstrategie dynamische Effekte zu erzielen, sich sukzessive auf eine qualitativ höhere Ebene zu begeben und die Produktion intermediärer Güter oder die Herstellung von Kapitalgütern aufzunehmen31. Diese Erfahrungen vieler Entwicklungsländer sind in einer mittlerweile kaum noch überschaubaren Literaturfülle festgehalten. Es existiert eine große Anzahl empirischer und theoretischer Beiträge zu dieser Debatte, welche darlegen, daß und warum die Kosten einer über einen langen Zeitraum betriebenen Importsubstitutionsstrategie deren Nutzen bei weitem überwiegen 32. Von ihren Kritikern ist die Importsubstitutionsstrategie deshalb auch immer wieder als "key failure of ... development economics"33 bezeichnet worden.

2. Freihandel und Wettbewerb als Zwillingsväter des ostasiatischen Wunders? Die Sicht der Neoklassischen Politischen Ökonomie a) Die Kritik an der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie (/SI)

Wie erwähnt ist das ostasiatische Wirtschaftswunder erst durch die Auseinandersetzung um die richtige Entwicklungsstrategie vollends zum Gegenstand eines Fitzgerald, S. 5. Vgl. auch Chowdhury/ Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 43 ff. 32 Vgl. Rondo Cameron, Economic Development. Some Lessons of History for Developing Nations, in: American Economic Review, Vol. 57 (1967), No. 2, S. 312- 324; Littlei Scitovsky/Scott; Jürgen B. Donges, A Comparative Survey of Industrialization Policies in Fifteen Semi-Industrialized Countries, Weltwirtschaftliches Archiv, Vol. 112, Heft 4, Kiel 1976, S. 626 - 659; Bela Balassa, Policy Reforms in Developing Countries, Oxford 1977; Jagdish Bhagwati!T. N. Srinivasan, Foreign Trade Regimes and Economic Development. India, New York 1975; Anne 0 . Krueger; Foreign Trade Regimesand Economic Development: Liberalization Attempts and Consequences, New York 1978; Haggard. 33 Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies ofEast Asia, S. 43. 30 31

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breiten wirtschaftswissenschaftlichen Interesses geworden. Hierbei zeigt sich, daß die wissenschaftlich herrschende Meinung, welche Strategie die richtige sei, sich im Zeitablauf stetig veränderte34. So galt das ostasiatische Beispiel des friihzeitigen Schwenks auf Exportförderung den Neoklassikern als Beleg für die Grenzen der Importsubstitutionsstrategie. Die heute als Wiederbegriinder der neoklassischen Entwicklungsökonomie bezeichneten friihen Kritiker der Importsubstitutionsstrategie führten hierbei mehrere Argumente an, die Haggard wie folgt zusammenfaßt Die erste Argumentationslinie der friihen Kritiker betonte die Vorteile der Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung, die zweite stellte die Kosten der Verzerrungen der ISI und die hierdurch verursachten Fehlallokationen heraus und die dritte schließlich versuchte die Überlegenheit der exportorientierten Entwicklungsstrategie anhand der Erfolge einiger ,offener Länder' herauszustellen35 . Die dritte Argumentationslinie ist demnach mehr der Versuch, das erstgenannte Argument empirisch abzusichern und weniger ein eigenständiges Argumene6 . Chowdhury I Islam dagegen begrunden diesen Sachverhalt differenzierter und führen insgesamt drei eigenständige Argumente an37 : Erstens müsse die ISI spätestens in ihrer reifen Phase an Grenzen stoßen, da sich die importsubstituierende Strategie auf den Binnenmarkt richte und dieser im lndustrialisierungsprozeß zwangsläufig wachse. Sobald aber die Grenze des Binnenmarktwachstums erreicht sei, werde die Wachstumsgeschwindigkeit automatisch nachlassen. Dies liege darin begriindet, daß bei Verfolgen einer binnenorientierten Strategie die Wachstumsgeschwindigkeit durch die Geschwindigkeit der nachholenden Industrialisierung bestimmt sei. Es handele sich also im Rahmen der ISI nur anfänglich um Produktivitätsfortschritte. Sobald der Binnenmarkt gesättigt sei, würden die Nachholeffekte und mit ihnen das Wachstum und die Produktivitätsfortschritte nachlassen. Ein zweiter Kritikpunkt an der ISI in der Darstellung von Chowdhury I Islam wurde im Zusammenhang mit Haggard erwähnt. Dieser Kritikpunkt fokussiert die mikroökonomische Ineffizienz der ISI. Die neoklassischen Kritiker belegen ihre Behauptung mit der These, die langfristige Erfolglosigkeit der importsubstituierenden Strategie sei nichts weiter als die Wiederspiegelung der durch staatliche Eingriffe geschaffenen mikroökonomischen Ineffizienzen im produzierenden Sektor der Volkswirtschaft. Diese Ineffizienzen schaffenden Staatseingriffe hätten ihren Ursprung in dem Glauben an die Machbarkeit wirtschaftlichen Aufschwungs gehabt. Der Grundfehler läge in der Annahme, der Staat könne "engine of growth" Vgl. Bradford. Vgl. Haggard, S. 10 ff. 36 Die Zusammenfassung der Argumentation der frühen Kritiker durch Haggard ist logisch sehr stringent und wird deshalb trotz ihrer etwas verengenden Darstellung der Kritik hier zunächst dargelegt. Die weitergehende Zusammenfassung der Argumentation der frühen Kritiker erfolgt dann im Anschluß. 37 V gl. Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 43 ff. 34

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sein38 • Ausfluß diesen Denkens seien weitreichende staatliche Eingriffe gewesen. Diese umfaßten Mindestlohngesetze, Zinssatzkontrollen, nach politischen Kriterien aufgestellte Steuer- und Zollsätze, ,falsche' Wechselkurse in Form der künstlichen Überhöhung der eigenen Wahrung oder in Form gespaltener Wechselkurssysteme, sowie die Ansiedelung von Industrien, die nicht den ,eigentlichen' komparativen Vorteilen des Landes entsprachen39• Die staatlichen Eingriffe würden zu Distorsionseffekten und Fehlallokationen und somit Wohlfahrtsverlusten führen. Die Fehlallokationen wurden dabei mit fehlerhaft gesetzten und die Distorsionen mit der Existenz von staatlichen Eingriffen begründet. Die Fehlallokationen seien entstanden, da der Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nicht den Verhältnissen des Landes entsprach. Ein Entwicklungsland, welches in der Regel relativ reichlich mit dem Produktionsfaktor Arbeit und relativ niedrig mit dem Produktionsfaktor Kapital ausgestattet ist, sollte die Produktionsfaktoren entsprechend einsetzen. Staatliche Eingriffe hätten den relativ knapp vorhandenen Produktionsfaktor Kapital aber auf Kosten des Faktors Arbeit über Gebühr künstlich verbilligt und so zu einem mikroökonomisch ineffizienten Faktormix geführt. Auch die Diskriminierung von Export- und Landwirtschaft zugunsten der (Schwer-) Industrie hätte die gleiche Wirkung hervorgerufen. Der Logik der Kritiker der importsubstituierenden Entwicklungsstrategie zufolge enstanden die Distorsionseffekte nicht wie die Fehlallokationen aufgrund fehlerhaft gesetzter Anreize, sondern aufgrund der staatlichen Eingriffe an sich. Denn die im Rahmen der ISI getätigten staatlichen Eingriffe (Preiskontrollen, gespaltene Wechselkurse, Importe benachteiligende Zölle etc.) erzielen ihre Wirkung ja gerade durch die Schaffung von Monopolrenten und künstlichen Knappheitsprämien. Ceteris paribus wird der private Sektor auf die Existenz dieser leistungsunabhängigen Renten reagieren40. Die Reaktionen der Marktteilnehmer auf diese Rahmenbedingungen können darin bestehen, daß die Unternehmer nicht die zum Wirtschaftswachstum nötige Dynamik entfalten. Cameron führt aus: "[They] rest secure in the knowledge that exorbitant tariffs will protect their ... markets ..." 41 • Eine andere Reaktionsform besteht darin, daß die Reaktion quantitativ zu groß ausfällt; die Reaktionen können das von der Politik gesellschaftlich erwünschte Maß durchaus übersteigen. Beide Reaktionsmöglichkeiten können zur Bildung sogenannter Ver38 Die Annahme, der Staat könne ,Motor des Wachstums' sein, steht in der Denktradition von Keynes und wurde u.a. von Prebisch, Myrdal etc. vertreten. Vgl. Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 42 ff. 39 Vgl. insbesondere zur Wirkung von Mindestlohngesetzen Nigel Grimwade, International Trade, New Patterns of Trade, Production and Investment, London 1989, S. 370 ff. 40 Eine eingängige Darstellung der Konsumentenreaktion nach der Einführung von Preiskontrollen findet sich bei Robert T. Deacon/Jon Sonstelie, Price Controls and Rent-Seeking Behavior in Developing Countries, in: World Development, Vol. 17, No. 12 (Dezember 1989), S. 1945 - 1954, Oxford et al. 1989. 41 Cameron, S. 322.

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teilungskoalitionen und dem damit einhergehenden Lobbyismus führen, der letztlich nur darauf ausgerichtet ist, leistungsunabhängige Renten abzuschöpfen. Diese Abschöpfungsaktivitäten befinden sich dabei innerhalb der Bandbreite "from lobbying within legal Iimits to outright bribery and corruption"42. Sie sind zumeist unproduktiv, da es sich um Abschöpfungsaktivitäten handelt, dem Sozialprodukt mithin weder neue Dienste noch Produkte hinzugefügt werden, sondern die Aktivitäten auschließlich auf Verteilungsänderungen zielen. Im schlimmsten Falle entsteht ein Teufelskreis, in dem der anfängliche Staatseingriff die Notwendigkeit neuer Staatseingriffe nach sich zieht, da die anfänglich kreierten Monopolelemente sich verfestigen, den notwendigen Wandel behindern und so schließlich den Zwang zu erneuten Interventionen entstehen lassen. Im Ergebnis können durch die Staatseingriffe kumulative Monopolrenten und Ineffizienzen entstehen. In der Logik der Neoklassik hemmt daher eine zu stark ausgeweitete Staatstätigkeit Veränderung und dadurch Wachstum und Entwicklung. Die Höhe des jährlich entgangenen Wachstums wird dabei von der Weltbank auf bis zu 15 Prozent des BSP geschätzt43. Drittens schließlich wurde die ISI von den neoklassischen Entwicklungsökonomen aus makroökonomischen Überlegungen heraus abgelehnt. Sie bemängelten die solide Finanzierbarkeil der Entwicklungsprogramme. Die staatlichen Ausgabenprogramme waren aus makroökonomischer Sicht so umfangreich, daß sie aus intern erwirtschafteten Einnahmen wie Steuern, Gebühren und Abgaben langfristig nicht solide finanzierbar waren. Bilanztheoretisch blieben somit als Einkunftsarten nur die externe Verschuldung sowie eine expansive Geldpolitik. Überschuldung und akzeleriende Inflation seien deshalb oft vorhersehbar und unausweichlich gewesen44. Insgesamt lehnen neoklassisch geprägte Ökonomen die ISI ab und empfehlen stattdessen eine stärkere Öffnung dem Weltmarkt gegenüber und schlagen eine Orientierung an den damals sichtbar werdenden Erfolgen der ostasiatischen Volkswirtschaften vor45 . Typisch für die Kritik an der Importsubstitutionsstrategie ist Balassa's Anmerkung: "Countries applying outward-oriented development strategies had a superior performance in terms of exports, economic growth, and employment whereas Vgl. Chowdhuryl Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 45. Vgl. lntef7Ultional Bankfor Reconstruction and Development - The World Bank (Hg.), World Development Report 1987, S. 76, New York 1987. 44 Zu der Dynamik, die dieser Problemkreis z. B. in Lateinamerika entfaltete Vgl. Alben Fishlow, The Latin American State, in: Journal ofEconomic Perspectives, Vol. 4 (1990), Heft 2, S. 61 - 74. Einen überblicksartigen Vergleich Lateinamerika versus Südostasien bietet Gustav Ranis, Employment, lncome Distribution, and Growth in East Asian Context: A Comparative Analysis, in: Vittorio Corbo, Anne 0. Krueger und Femando Ossa, Export-Oriented Development Strategies. The Success of Five Newly Industrializing Countries, Boulder und London 1985, S. 249 - 274. 45 Vgl. Haggard, S. 10 ff. 42

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countfies with continued inward orientation encountered increasing econornic difficulties"46. Bezeichnend sind auch die Worte von Krueger: ,,Experience has been that growth performance has been more satisfactory under export promotion strategies ... than under import substitution strategies ... There is little doubt about the link between export performance and growth rates"47 . Helleiner stellt dabei besonders die spill-over Effekte heraus: "Learning effects, the realization of scale econornies and the creation of positive externalities for the rest of the economy ... are nowadays often particularly associated with manufacturing for export"48 . Empirisch belegt wurden ihre Thesen einerseits durch die abnehmenden Wachstumsraten in den Importe substituierenden Ländern sowie andererseits dem Mitte der sechziger Jahre erkennbar werdenden Take-Off Taiwans und anderer Staaten Ostasiens, die als exportorientiert galten49 . Insgesamt betrachtet scheint die Ansicht, der Staat solle Motor des Wachstums sein, so weit unter Druck geraten und von einerneuen (neoklassischen) Orthodoxie ersetzt worden zu sein, daß Little es als ,,resurgence of neoclassical econornics in development econornics"50 bezeichnete.

46 Bela Balassa, The Newly Industrializing Economies in the World Economy, New York 1981, s. 16 f. 47 Anne 0. Krueger, Trade Policy as an Input to Development, in: American Economic Review, Vol. 70, No. 2, S. 288 - 292, hier S. 288 f. 48 G. K. Hel/einer, Introduction, in: G. K. Helleiner (Hg.), Manufacturing for Export in the Developing World. Problemsand Possibilities, London und New York 1995, S. 1-21. 49 Tsiang datiert das Datum des taiwanesischen Take-Off auf das Jahr 1963. Vgl. Shochieh Tsiang, Foreign Trade and Investment as Boosters for Take-off: The Experience of Taiwan, in: Corbo I Krueger I Ossa, S. 27 - 56, hier S. 48 ff. Chowdhury I Islam datieren den Zeitpunkt des Take-Off für Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur auf die Jahre 1963, 1966, 1965 bzw. 1966. Vgl. Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 10 ff. Der Begriff Take-Off ist in vielen Variationen verwandt worden. Die grundsätzliche Bedingung, um den Take-Off zu erreichen, besteht darin: "Savings per capita must be more than sufficient to maintain the capital I labour ratio.... If population is growing then capital stock must also grow, at leats at the same rate, . .. In quantitative terms, the savings I output ratio must exceed capital I output ratio times the rate of population growth." Chowdhury /Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 10. Entscheidend sind also Bevölkerungswachstum, Sparquote und die Beziehung zwischen Kapital und Produktion. Diese einfache Definition reicht hier aus. Weitere Informationen zum Take-Off siehe Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums; Rostow, Die Phase des Take-Off. Zur Kritik am Rostow'schen Ansatz siehe Wagner I Kaiser I Beimdiek, S. 30 ff. so /an M. D. Little, Economic Development: Theory, Policy and International Relations, New York 1982, zitiert nach Chowdhury/Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 45.

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b) Die Analyse des ostasiatischen Erfolgs durch die neoklassischen Ökonomen

Die Kritiker der Importsubstitutionsstrategie schlugen an Stelle der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie (ISI) vor, sich auf eine alternative Politik zu kaprizieren, die heute als exportorientierte Industrialisierungsstrategie (EOI) bezeichnet wird. Unter EOI soll hier ein System von Handels- und Industriepolitik verstanden werden, daß in seiner Gesamtwirkung dem Handel gegenüber als mehr oder weniger neutral gelten kann und in welchem die Staatstätigkeit den Leitlinien liberalen Gedankengutes folgt und sich auf die Kernfunktionen des Staates beschränkt51. Zwei Punkte sollen in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, da sie im weiteren noch relevant sein werden: Für die Neutralität der Wirkung des Systems ist nicht erforderlich, daß es an keiner Stelle zwischen Produktion für den Weltoder Binnenmarkt oder etwa zwischen Käufen heimisch oder ausländisch hergestellter Waren (Vorleistungen) trennt, sondern entscheidend ist, daß die Gesamtwirkung des Systems von Handels- und Industriepolitiken mehr oder weniger neutral ist. Ebenfalls wichtig ist es an dieser Stelle festzuhalten, daß die EOI-Vertreter Staatshandeln nicht vollständig eliminieren wollten. Die oft vorgetragene Behauptung, daß früher die klassischen und heute die neoklassischen Ökonomen zu einer "complete ,hands-off' policy for the state"52 rieten, ist nicht zutreffend. Vielmehr ist auch in neoklassischer Sicht der Erfolg der ostasiatischen Staaten mit Staatshandeln - allerdings mit einem im allgemeinen klar und spezifisch begrenztem Staatshandeln- zu erklären. Chen führt dazu unter Bezugnahme auf Taiwan und andere exportorientierte Staaten Ostasiens treffend für die neoklassische Logik aus: "What

51 Die neoklassischen Entwicklungsökonomen scheinen sich hier nicht ganz einig zu sein, ob eine strikt neutrale Wirkung auf den Handel ein Kernelement der EOI ist oder ob nicht vielmehr die EOI dadurch gekennzeichnet ist, daß sie exportfördernde Wirkungen hat. Für die strikte Neutralität argumentieren beispielsweise Petri, S. 5 ff.; Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 44; sowie Balassa ,,Neutrality in the system of incentives, with effective rates of protection being on average, approximately equal in import substituting andin export activities.", entnommen aus Moreira, S. 7. Dieser sehr klaren Aussage für eine strikte Neutralität der Systemwirkungen steht eine ebenso klare, vor allem von Krueger vertretene, Argumentation gegen eine zu strikte Neutralität gegenüber. ,.lt is a set of policies that leaves relative domestic rewards for exporting (compared to importing) at least equal to, and possibly greater than, the rewards that would exist under free trade." Krueger zitiert nach Moreira, S. 7. 52 Cameron, S. 320. Sarel verweist darauf, daß die Neoklassiker mikro- und makroökonomische Funktion des Staates trennen. ,.In its microeconomic aspect, govemment should ensure property rights, law and order, and adequate provision of public goods. It should avoid high tax rates, price controls, and other distorsions of relative prices. On the macroeconomic side, government should ensure stable and low inflation, avoid excessive budget deficits, promote the integrity of the financial and banking system, provide for open markets, and strive for stable and realistic exchange rates." Sarel, S. 9.

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the state has provided is simply a suitable environment for entrepreneurs to perform their functions" 53 . Die Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß der ostasiatischen Staaten besteht also in neoklassischer Optik vor allem darin, diese ,angemessene Umgebung' zur Verfügung zu stellen. Staatshandeln wirkte sich positiv aus, da sich der ostasiatische Entwicklungsstaat im Prozeß der nachholenden Entwicklung bei seinen Aktivitäten auf die wenigen Gebiete beschränkte, wo eindeutig Marktversagen vorlag, staatliche Lösungen also eindeutige komparative Vorteile gegenüber privatwirtschaftliehen Lösungen bieten konnten. Die Neoklassik erkennt diese eindeutigen komparativen Vorteile nur auf wenigen Gebieten an und empfiehlt, bei der Gestaltung der Struktur der Staatstätigkeit insbesondere folgende sechs Leitlinien zu beachten54: 1. Der Staat sollte sich primär auf marktmäßige, vom Privatsektor getragene Initiativen bei der Mobilisierung und Allokation der Ressourcen in wachstumsfördernde Sektoren verlassen. 2. Staatsinterventionen sollen nur bei eindeutig vorliegendem Marktversagen erfolgen. Als Beispiel hierfür wird meist ein Auseinanderklaffen zwischen (politisch erwünschten) gesellschaftlichen Zielen und den sich marktmäßig einstellenden Ergebnissen benannt55 .

3. Selbst in solchen Fällen, wo ein eindeutiges Marktversagen vorliegt, soll die Politik nach Problemlösungen suchen, welche in ihrer Wirkungen begrenzbar sind, wie zum Beispiel Pauschalsteuern und Subventionen. Qualitativ besser sind jedoch Maßnahmen, die darauf abzielen, zur Herausbildung des Marktes beizutragen. Ein Beispiel hierfür ist die Förderung des Marktes für RisikokapitaL 4. Der Staat soll die sogenannten wahren öffentlichen Güter wie innere Sicherheit, Bildung, Landesverteidigung, eine angemessene Infrastruktur sowie eine funktionierende Judikative bereitstellen. Zu Letzterem zählen auch die ,gerechte' Zuordnung und Durchsetzung von Eigentums- und Verfügungsrechten. 5. Ebenso wichtig ist ein stabiles und vorhersagbares makroökonomisches Umfeld, welches durch einen angemessenen Mix aus Fiskal-, Geld- und Währungspolitik bereit gestellt werden soll.

53 Edward K. Y. Chen, Hyper-Growth in Asian Economies. A comparative study of Hong Kong, Japan, Korea, Singapore and Taiwan, Hong Kong 1979, S. 184. 54 Vgl. auch Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 46 sowie Edward K. Y. Chen, Hyper- Growth, S. 183 ff. 55 Das für Taiwan wohl beste Beispiel ist die dort durchgeführte Landreform (wobei Empfehlung Nummer 3 freilich nicht beachtet wurde). Andere Beispiele sind der für Entwicklungsländer typische Mangel an Risikokapital, der behoben werden soll; Mangel an Bildungseinrichtungen; angemessene Hygieneeinrichtungen sowie sauberes Wasser usw. 6 Fronius

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6. Schließlich soll ein möglichst weitgehend freihändlerisch orientiertes Handelsregime als Kern eines neutralen Systems von Handels- und Industriepolitik verfolgt werden. Über diese sechs Kernaufgaben hinaus erkennt die Neoklassik dem Staat keine Koordinationsvorteile gegenüber dem Markt zu. Sie rät darüber hinaus selbst bei obigen sechs Gebieten zu vorsichtigem Gebrauch, da bei übermäßiger Staatstätigkeit zu jeder Zeit die Gefahr bestehe, Marktversagen durch noch schwerwiegenderes Staats- oder Politikversagen zu ersetzen. Im Verzicht auf übermäßige Staatstätigkeit liegt nach Ansicht vieler Neoklassiker das eigentliche Geheimnis des ostasiatischen Erfolges, da jene Länder es vermochten, das Ausmaß des Staatsversagens schlicht kleiner als anderswo zu halten. Die Staatstätigkeit konzentrierte sich auf die Setzung markt- und exportorientierter und damit privatinitiative-freundlicher Rahmenbedingungen, um so die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen zu stärken und den Prozeß der nachholenden Industrialisierung in Gang zu setzen und zu halten. Aufgrund der Orientierung am freien Welthandel, dem freien Unternehmertum, sich weitgehend frei bildenden Preisen und dem Vertrauen auf deren wachstumsfördernde Kräfte ist das ostasiatische Wirtschaftswunder in neoklassischer Sichtweise nicht weiter verwunderlich56. Im Gegenteil: "Advocates of this view see the success of East Asia as the natural outcome of these cautious policies"57 • Nachdem die Vorschläge der Vertreter der EOI für die Staatstätigkeit im allgemeinen Sinne als Konzentration des Staatshandeins auf die Erstellung ausschließlich derjenigen Dienste und Güter beschrieben wurde, bei denen der Staat mit Blick auf den Entwicklungsprozeß eindeutige Koordinationsvorteile vorweisen kann, soll jetzt eine Spezifizierung dieser Aufgaben erfolgen. In der Sicht der Neoklassik handelt es sich hierbei ausschließlich um drei Politikbereiche, in denen der Staat dem Markt in Hinsicht auf die Koordination während des Entwicklungsprozesses überlegen ist. Diese drei Bereiche sind es, auf welche sich die Staatstätigkeit in den ostasiatischen late comers in der neoklassischen Sicht fokussierte. Den Vertretern der EOI zufolge, wurde die Eindeutigkeit der Koordinierungsvorteile staatlichen Handeins in diesen Bereichen erkannt, und man wußte diese Vorteile zu nutzen. Dabei beschränkte sich der Staat konsequent darauf, daß auf eine Überschreitung der engen Grenzen der drei Bereiche pragmatisch und flexibel, vor allem aber schnell reagiert wurde, und daß die Verantwortlichen das Staatshandeln derart korrigierten, daß das Ausmaß an Staatsversagen minimiert oder sogar vermieden wurde. 56 Chen betont insbesondere die wachstumförderliche Kraft des Preismechanismus. "It seems that in relying on the price mechanism, the process of mobilising resources is less painful and yet not less speedy than through direct governmental control." Edward K. Y. Chen, Hyper-Growth S. 183. 57 Sarel, S. 9. Ähnlich bei Chowdhury /Islam: "Tthe secret behind their dynamic economic growth is not really a secret." Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 46

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Aus neoklassischer Sicht sind vor allem die folgenden drei Politik-Felder zu nennen5 8 : 1. Konservative makroökonomische Politik, welche darauf abzielte, einen vorhersehbaren Rahmen für Sparen, Investition und Handel zu schaffen. Besonders die Ausrichtung der Politik an niedriger Inflation, weitgehender Vermeidung von Budget- und Zahlungsbilanzdefiziten, positiven Realzinsen sowie sich frei bildenden Wechselkursen sind Kennzeichen dieser Politik. Hierzu zählt insbesondere auch die pragmatische, flexible und vor allem schnelle Korrektur der Politik, sobald Fehlentwicklungen sichtbar wurden. 2. Die Ausrichtung des gesamten Politikmixes auf Offenheit dem Weltmarkt gegenüber, insbesondere nahezu freihändlerische Handelspolitik sowie Offenheit gegenüber Direktinvestitionen, um so an technologischen Neuerungen und Entwicklungen teilzuhaben. Der neoklassischen Logik zufolge wurde dies vor allem durch die Vermeidung von Preisverzerrungen auf den Faktormärkten erreicht (getting prices right), um den Wandel der Industriestruktur weg von der Primärgüterproduktion hin zur arbeitsintensiven verarbeitenden Industrie und schließlich zu den technologieintensiven Podukten zu erreichen. Daß es - wie betont - auch in neoklassischer Optik zur gezielten Exportförderung einzelner Sektoren kam, ist kein Widerspruch hierzu, da die protektionistischen Maßnahmen zugunsten anderer heimischer Industrien neutralisiert wurden und die Neutralität des Gesamtsystems gewahrt blieb. Die Offenheit dem Weltmarkt gegenüber unterzog die heimischen Unternehmen einer externen Kostendisziplin und einem Zwang zu technologischem Upgrading, welche dazu dienten, Wettbewerbsflihigkeit zu erlangen oder zu erhöhen. Überdies kamen die Exportunternehmen so in den Genuß, Inputs zu internationalen Preisen zu erwerben. 3. Die Konzentration der Staatseingriffe auf die Erstellung der ,wahren öffentlichen Güter', definiert als Gewährleistung der Sicherheit nach innen und außen, die Durchsetzung klar definierter Handlungs- und Eigentumsrechte sowie die Vomahme von Investitionen vornehmlich in Humankapital und die dem Entwicklungsprozeß dienliche Infrastruktur, wobei man die Bereitstellung jener ,wahren öffentlichen Güter' als hilfreich zur Schaffung einer stabilen und vorhersehbaren Ordnung und somit auch der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ansah. c) Faktorakkumulation oder technischer Fortschritt? Krugman s These.

Mit dem neoklassischen Gedankengebäude als eng zusammengehörig ist die sogenannte Krugman-These zu sehen. Diese wurde zunächst von Young sowie Kim 58 Vgl. Petri, S. 5 ff.; Chowdhuryllslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 44; Sarel, S. 8 ff. sowie die in den vorherigen Fußnoten bereits zitierten, einschlägigen neoklassischen Autoren.

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und Lau formuliert und durch einen provokant formulierten Aufsatz von Paul Krugman beriihmt59. Die These lautet, das ostasiatische Wachstumswunder lasse sich primär damit erklären, daß es sich um die Folgen einer extremen Faktorakkumulation handele. Unter Verwendung der neoklassischen Wachstumstheorie wird versucht, diese Ansicht zu belegen. Obwohl die Auswirkungen von Wirtschaftspolitik weder im Rahmen der Wachstumstheorie noch innerhalb der Krugman-These expliziter Analysegegenstand sind, soll die Grundaussage der Krugman-These hier kurz skizziert werden, da sie weitgehende Beachtung bei der Diskussion um die Ursachen des ostasiatischen Wunders fand, und sie überdies als Versuch gewertet werden kann, der EOI zusätzliche Argumentationskraft zu verleihen60. Um die Krugman-These nachvollziehen zu können, soll zunächst kurz auf die Grundzüge der Wachstumstheorie im allgemeinen und der neoklassischen Wachstumstheorie im besonderen eingegangen werden61 . Die Wachstumstheorie kennt viele Ursachen wirtschaftlichen Wachstums62. Hierzu zählen neben ökonomischen Einflüssen auch solche, die nicht allein oder primär wirtschaftlicher Natur sind, wie z. B. Motivationen, sozialer Status und Berufsimage, Rechtsordnung sowie natürliche Ressourcen. Die Ursachen wirtschaftlichen Wachstums sind so zahlreich, "daß nicht nur ihre Erfassung, sondern sogar eine Klassifikation auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Wachstum ist praktisch immer das Ergebnis komplizierter, zeit- und raumabhängiger Prozesse ..."63 . In der Regel befaßt sich die Wachstumstheorie daher mit jenen " ... Determinanten des Wachstums, die einer ökonomischen Untersuchung zugänglich sind .. ." 64 und akzeptiert, daß diese von einer Reihe anderer Faktoren beeinflußt werden. Über die klassische Wachstumstheorie hinaus existieren zwei neuere Varianten, die als postkeynesianische und Neue (neoklassische) Wachstumstheorie bezeichnet werden65 . Übereinstimmend unterscheiden beide Theorien folgende wachstumsbe59 Paul Krugman, The Myth of Asia's Miracle, in: Foreign Affairs, Vol. 73 (1994), November/Dezember, S. 62- 78; Alwyn Young, Tale of two Cities: Factor Accumulation and Technical Change in Hong Kong and Singapore, NBER Economics Annual, 1992, S. 1354; Alwyn Young, Lessons from the East Asian NICs: A Contrarian View, European Economic Review, No. 38, April 1994, S. 964- 73; Alwyn Young, Tyranny of Numbers: Confronting the Statistical Realities of the East Asian Growth Experience, NBER Working Paper, No. 4680, März 1994; Jong-il Kim/Lawrence J. Lau, The Sources of Economic Growth of the East Asian Newly Industrialized Countries, in: Journal of the Japanese and International Economies, Vol. 8 (1994), S. 235-71. 60 Ähnlich auch Sarel. 61 Ein Überblick der Wachstumstheorie findet sich beispielsweise in Artur Woll, AUgemeine Volkswirtschaftslehre, 10. überarbeitete und ergänzte Auflage, München 1990, S. 399429. 62 Zu einer Diskussion um die Begrifflichkeit Wachstum siehe Woll, S. 399 ff. Unter dem Wort Wachstum wird wirtschaftliches Wachstum im engen Sinne verstanden, also die Erhöhung des realen Bruttosozialproduktes pro Kopf. 63 Woll, S. 400. 64 Ebenda, S. 400.

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stimmenden Determinanten. ,,Die Wirtschaft wächst, weil entweder der input [Arbeit und Kapital] ... oder der output pro input-Einheit [die Effizienz der Technologie] ... erhöht wurde"66 • Mit anderen Worten beschäftigen sich alle obigen Wachstumstheorien mit den drei für Wachstum ursächlich angesehenen Determinanten Arbeit, Kapital und Technologie respektive technischer Fortschritt. Arbeit und Kapital sollen hier als Arbeitskräfte und Kapitalgüter, welche die Arbeitskräfte zur Güter- und Diensteerstellung nutzen, verstanden werden. Eine Mengenausweitung dieser Produktionsfaktoren führt ceteris paribus zu einem Mehr an Wachstum, d. h. Arbeitsmenge (Arbeitskräfteeinsatz) und die Größe des Kapitalbestandes sind jeweils positiv korreliert mit wirtschaftlichem Wachstum. Technologie sind dann Methoden, welche von Arbeit und Kapital zur Produktion eines Gutes verwandt werden. Die Qualität der Technologie ist dabei abhängig von der Verfügbarkeit praktischer Fähigkeiten, die gestellte Aufgabe schneller oder effizienter zu erledigen67 • Woll unterscheidet die Qualität der Technologie (bei ihm als Qualitätsverbesserungen der Produktionsfaktoren oder technischer Fortschritt i. w. S. bezeichnet) in Verbesserungen der einzelnen Faktorqualität sowie der Faktorkombinationen. Erstere trennt er dann in Qualitätsverbesserungen bei Humankapital sowie bei Sachkapital. Letztere trennt er in Verbesserungen der Faktororganisation (organisatorischer Fortschritt) und Verbesserungen der Einsatztechnik (technischer Fortschritt i. e. S.)6s. Unabhängig von der Feinheit der Unterteilung der Determinanten des Wachstums ist sich die Wirtschaftswissenschaft weitgehend darin einig, daß alle drei Bedingungen (Arbeit, Kapital und technischer Fortschritt) zur Erzielung von Wachstum vorhanden sein müssen - strittig ist jedoch, welche Determinante zu welchem Teil zum Wachstum beiträgt. Einige Autoren kommen bei der Untersuchung des ostasiatischen Wunders aufgrund ihrer Studien dabei zu dem Ergebnis, daß hauptsächlich die verstärkte Nutzung (Akkumulation) von Arbeit und Kapital das ostasiatische Wachstum erklären kann. Andere kommen zu dem Ergebnis, der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liege in der Verwendung einer effizienteren Technologie oder der besonders effizienten Allokation. Mittlerweile hat sich die neoklassische Wachstumstheorie im theoretischen Diskurs weitgehend durchgesetzt. Sie sieht die einzige Möglichkeit, langfristig ProKopf-Wachstum zu erzielen, darin, signifikante und andauernde Effizienzverbesserungen der Technologie zu erreichen. Dies liegt vornehmlich in den abnehmenden 65 Die postkeynesianische Wachstumstheorie geht hauptsächlich auf Arbeiten von Harrod und Domar, die neoklassische dagegen auf Solow zurück. Die Darstellung der einzelnen Wachstumstheorien und ihrer Unterschiede würde im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen. Zu einer Überblicksdarstellung siehe Woll, S. 404 ff. 66 Woll, S. 400. Hinzufügungen durch den Verfaser. 67 Vgl. Sarel, S. 3. 68 Vgl. Woll, S. 401.

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Grenzerträgen bei Kapital und Arbeit begründet. Die Erwerbstätigenrate kann zwar eine Weile erhöht werden, doch irgendwann ist jeder beschäftigt und weitere Erhöhungen der Erwerbstätigenrate sind unmöglich. Eine Erhöhung der Kapitalintensität im Vergleich zur Arbeitsintensität führt zu abnehmenden Kapitalerträgen und impliziert selbst dann abnehmende Wachstumsraten, wenn die Wachstumsrate des Kapitals konstant gehalten wird. Daher sind im Rahmen der neoklassischen Wachstumstheorie Effizienzverbesserungen die zentrale Größe und werden als unabdinglich für ein langanhaltendes Wirtschaftswachstum angesehen69. Wachstum durch Technologieverbesserungen wird als intensives Wachstum bezeichnet. Diesem steht extensives Wachstum gegenüber, welches sich dadurch kennzeichnet, daß die Outputerhöhung durch eine reine Inputerhöhung von Kapital und Arbeit zustande kommt. Extensives Wachstum kann aufgrund seiner Akkumulationswirkung für eine begrenzte Zeitspanne erfolgreich Wachstum generieren, aus vorstehend benannten Gründen können die Wachstumserfolge jedoch nicht von Dauer sein. Die Besonderheit der von Krugman, Young sowie Kim und Lau vertretenen These liegt nun in der Behauptung, daß der technische Fortschritt während des Wirtschaftswunders in Ostasien eine zu vernachlässigende Rolle spielte. Zusätzliche Aufmerksamkeit wurde der Krugman-These zuteil, da sie auf die Parallelen von ostasiatischem und sowjetischem Wachstumserfolg der fünfziger Jahre hinwies70. Beide sind den Vertretern dieser These zufolge auf schiere Akkumulationsund nicht auf Effizienzgewinne zurückzuführen und mußten demzufolge irgendwann auf eine systembedingte Grenze stoßen, was im Falle der Sowjetunion bereits geschehen sei. Damit widersprachen sie der bis dato geltenden herrschenden Meinung, welche den ostasiatischen Wachstumserfolg im Rahmen neoklassischer Wachstumsmodelle erklärte und zum größten Teil auf Technologieverbesserungen zurückführte. Auch Krugman untersuchte den ostasiatischen Erfolg im Rahmen des neoklassischen Wachstumsmodells, kam aber zu anderen Ergebnissen. Ihm zufolge hatten die ANIEs primär in Arbeit und Kapital statt in technischen Fortschritt investiert. Nicht Effizienzgewinne, sondern eine bemerkenswerte Mobilisierung der Ressourcen Arbeit und Kapital seien Hintergrund des ostasiatischen Wachstumserfolges71 . Vgl. Sarel, S. 3 f. Heute, nach der Finanz- und Wabrungskrise in Asien der Jahre 1997/98, hat die Krugman-These neue Aufmerksamkeit gewonnen. Die meisten Beiträge stehen ihr in ihrer Radikalität jedoch nach wie vor ablehnend gegenüber. Siehe exemplarisch Holloway, S. 49 f.; Nayan Chanda, Rebuilding Asia, in: Far Bastern Economic Review, Vol. 161, No. 7, Hong Kong 1998, S. 46-49; D. L. Western, Where to go from Crisis, in: FarBastern Economic Review, Vol. 161, No. 18, S. 31 The 5th Colurnn, Hong Kong 1998; o. V., Frozen Miracle, Sonderbeilage zu The Economist, Vol. 346, No. 8058, London 1998; Oskar Weggel, Asien im Jahre 2050. Versuch einer virtuellen Umrißbestimmung. Teil. 8: Partner oder Konkurrenten?, in: China aktuell, Vol. XXVII (1998), No. 3, S. 307 - 325, hier insbesondere S. 311 f. 71 Vgl. Sarel, S. 4 f. sowie Hanns Günther Hilpert, Die ostasiatische Wachstumsdebatte. Kontroversen in der Theorie und in der Empirie, Diskussionsgrundlage für die am 27. Juni 69

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I. Die Rolle des Staates

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Da das Geheimnis des ostasiatischen Wunders in Akkumulationszuwächsen und nicht in Effizienzgewinnen liege, seien daher abnehmende Wachstumsraten die logische Folge. Bei Western lautet dies prägnant: "Sweat and sacrifice can explain high economic growth for a while, but eventually technological progress is required. According to these economists [Krugman et al.], Asia has been too reliant on blunt acumulation for prosperity and not enough on technological progress. Accordingly, Asia's growth was bound to falter in the absence of solid TFP [Total Factor Productivity] growth offsetting diminishing retums"72. Young stellt in seiner Untersuchung jedoch heraus, daß die Wachstumsrate der totalen Faktorproduktivität im nichtlandwirtschaftlichen Sektor der ostasiatischen Volkswirtschaften (insbesondere im Bereich der manufactured exports) durchaus mit jenen der OECD-Länder und Lateinamerikas vergleichbar sei. Kim und Lau vergleichen die Quellen des Wachstums in den Tigerstaaten mit denen der G5Staaten und kommen zu dem Schluß, daß in Ostasien 48% bis 72% des Wirtschaftswachstums auf Kapitalakkumulation zurliekzuführen sind, während in den G5-Staaten technischer Fortschritt mit Beiträgen zwischen 46% und 71 % des Wirtschaftswachstums die Hauptquelle des Wachstums war73 • Die Ergebnisse dieser Studien widersprachen einerseits der bis dato gültigen These vom Primat technologischen Fortschritts, andererseits beinhalteten sie auch eine sehr pessimistische Prognose bezüglich der Langfristigkeil des ostasiatischen Erfolges, denn - wie oben ausgeführt - Wachstumserfolge, die allein aufgrund von Akkumulationszuwächsen erfolgen, sind zeitlich begrenzte Erfolge74• Dariiber hinaus verböte es sich nach den Erkenntnissen obiger Studien von einem ,Wunder' zu sprechen, das Wirtschaftswachstum wäre vielmehr "expected outcome of a massive accumulation of Iabor and capital"75 • Drittens muß dann schließlich auch die Frage gestellt werden, ob - selbst wenn dieser Erfolg wiederholbar wäre - ein Wiederholungsversuch angesichts des enormen Verzichts auf Konsum und Freizeit, der in den ostasiatischen Gesellschaften geleistet wurde, ein kluger Rat an andere Entwicklungsländer wäre76 • Eine Nachahmung erscheint einigen Autoren durchaus erfolgversprechend, obwohl sie der Krugman-These prinzipiell anhängen. Western bspw. sieht den Ursprung des ostasiatischen Wachstums durchaus in Akkumulationsprozessen, betont 1997 am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien UniversitätBerlinerfolgte öffentliche Disputation, S. 3- 11. n Western. Hinzufügungen durch den Verfasser. 73 Die G5-Staaten sind Deutschland, Frankreich, Japan, Großbritannien und die USA. 74 Dies wurde insbesondere im Zusammenhang mit der Asienkrise wieder betont. Siehe exemplarisch Western. 75 Sarel, S. 4. 76 Lorenz zum Beispiel betont, daß der Verzicht auf heutigen Konsum zugunsten des morgigen Konsums einer von mehreren Hintergriinden des ostasiatischen Erfolges ist. Vgl. Lorenz, Das Beispiel der "Viererbande" Ostasiens, S. 653 f.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

gleichwohl die in Folge der Offenheit dem Welthandel gegenüber starke Neigung zur Adaption und Imitation fremder Technologien. Nach Western kam es dadurch zu einer Erhöhung der totalen Faktorproduktivität Dies allerdings nicht durch technologischen Fortschritt im reinen Sinne (Erfindungen), sondern durch die Einführung bisher im Lande unbekannter Technologien (lrnitationen)77 . So lange wie die Kapitalintensität der ostasiatischen Schwellenländer unter der der etablierten Industrieländer bleibt, ist diese Unterscheidung jedoch vernachlässigbar. Denn so lange dies der Fall ist, ist der Spielraum für akkumulationsgetriebenes Wachstum in Ostasien nicht ausgereizt78 • Beide Prozesse- sowohl Imitation als auch Innovation- erhöhen die totale Faktorproduktivität und stoßen Wirkungsketten an, welche den abnehmenden Grenzertrag des schieren Akkumulationsprozesses ausgleichen. Dies bedeutet, daß sich die Nachahmung des ostasiatischen Verlaufsmusters durch andere Entwicklungsländer so lange lohnt, wie die potentiellen Nachahmer fremden Technologien gegenüber offen sind und dadurch die heimische totale Faktorproduktivität erhöhen- und zwar auch wenn schiere Akkumulationspozesse die ursächlichen Faktoren des Wachstums sind79 • Offen geblieben ist bislang die Frage, ob es sich bei den Ergebnissen der Studien von Krugman, Young sowie Kim und Lau um solche handelt, die einen nicht angreifbaren Erklärungsgehalt haben. Fraglich ist, ob die Ergebnisse sensibel in Bezug auf ihre Annahmen sind - also ob eine empirische Basis zu Grunde gelegt wurde, die so gewählt war, daß sich obige Ergebnisse automatisch einstellen mußten. Sarel belegt eine Sensibilität der jeweiligen Studien in Bezug auf ihre Annahmen80. Seiner Aussage zufolge ist es vergleichsweise schwierig, die Wachstumsrate des Kapitalstocks in den Tigerstaaten für die untersuchten Zeiträume zu ermitteln. Insbesondere für die Zeit vor 1960 existiert nur eine dürftige Datenbasis. Darüber hinaus müssen Schätzungen bezüglich der Abschreibungsraten unterschiedlichster Formen des Kapitalstocks ( z. B. für Gebäude, Maschinen oder Computer) getätigt werden. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, daß diese in sich schon unVgl. Western. Vgl. Hilpert, S. 11. 79 Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Asienkrise interessant. Viele schrieben Krugman plötzlich die Rolle eines Gurus zu. Dieser selbst verweist aber darauf, daß sich Asien bald schon erholen werde und er überdies niemals eine Krise diesen Ausmaßes prognostiziert habe. Er habe einen langsamen Niedergang der Wachstumsraten vorhergesagt, nicht den eingetretenen Crash. Seiner Ansicht nach waren psychologische Faktoren infolge fundamentaler wirtschaftspolitischer Fehler die entscheidenden Triebkräfte hinter der Asienkrise. Bald schon werde sich Ostasien auf dem ursprünglichen Wachstumspfad wiederfinden. In seinen Worten lautet dies: ,.The perspiration theory [die Krugman-These] predicts a gradualloss of momentum, not a crash.... The biggest lesson from Asia's troubles isn't about economics; it's about govemments ... . Asia's growth will probably resume, driven, as before, by education, savings, and growing labour force participation." Vgl. Paul Krugman, What ever happened to the Asian Miracle?, zu finden im Internet unter http://web.mit.edu.krugman I www I perspire.htm. 80 Vgl. Sarel, S. 5 ff. 77 78

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terschiedlichen Abschreibungsraten nochmals von Sektor zu Sektor und von Land zu Land deutlich voneinander abweichen. So ist beispielsweise anzunehmen, daß Industriemaschinen in Zeiten des raschen industriellen Wandels schneller veralten, die Abschreibungsrate müßte in schnell wachsenden Volkswirtschaften demzufolge höher sein. Jedoch um wieviel höher? Wie sollen objektive Werte ermittelt werden? Schätzungen können nur grob erfolgen und ausschließlich Näherungswerte liefern. Präzise Aussagen erscheinen aufgrund der unsicheren statistischen Datenbasis unmöglich. Zusätzliche Probleme werden sichtbar, wenn die Höhe der Investitionsströme der Vergangenheit in die Kalkulation einbezogen werden sollen. Werden etwa gestrige und heutige Investitionsströme nach derselben Berechnungsart in den Statistiken abgebildet? Und falls die Berechnungsmethoden nicht über lange Zeiträume gleich geblieben sind, die Investitionsströme von 1960 also mit denen von 1990 nicht unmittelbar vergleichbar sind, wie soll dann verfahren werden? Nach welcher Methode sollen sie vergleichbar gemacht werden? Eine weitere Schwierigkeit der empirischen Überprüfbarkeit der Thesen von Krugman, Young sowie Kim und Lau liegt darin, daß der Anteil des Volkseinkommens, der auf den Faktor Arbeit (Kapital, Technologie) zurückzuführen ist, exakt bestimmbar sein muß. Nur dann können die unterschiedlichen Wachstumsbeiträge miteinander verglichen werden81 . Aufgrund dieser Schwierigkeiten rät Sarel dazu, den Beobachtungen von Krugman, Young sowie Kim und Lau und ihrer These, nach der technischer Fortschritt kaum etwas zu den Wachstumserfolgen Ostasiens beitrug, wohl Aufmerksamkeit zu schenken, sie aber nicht als definitive Antwort auf die Frage nach den Ursachen des ostasiatischen Wachstums zu betrachten. Auch die von Driscoll im Auftrag des Internationalen Währungsfonds im Rahmen konventioneller Methoden und Modelle durchgeführten Untersuchungen zeigen andere Ergebnisse als die Studien von Krugman, Young sowie Kim und Lau82. Diese Untersuchung bezieht sich auf die Zeiträume 1960-75 sowie 1975-90 und vergleicht Pro-Kopf-Output, Erwerbstätigenrate, Kapitalakkumulation, Produktivitätswachstum und die Rate des technischen Fortschritts (Total Factor Productivity) in den Tigerstaaten mit den jeweiligen Daten Japans und der USA. Den Ergebnissen dieser Untersuchung zufolge überstieg die Geschwindigkeit technischen Fortschritts in den Tigerstaaten bei weitem die in den USA. Selbst die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts in Japan wurde von drei Tigerstaaten (Taiwan, Hongkong und Südkorea) übertroffen. Dies spricht gegen die KrugmanThese, denn die gegensätzlichen Ergebnisse sind nicht mit anderen Meßmethoden 81 ,,Does the same amount of capital produce equal income in all countries and in all industries? . . . ls the amount of effective work proportional to the hours people work, or does working extra hours Iead to diminishing retums? . . . How should human capital be treated?". Sarel, S. 5. 82 Driscoll hat diese Untersuchung durchgeführt, deren Ergebnisse von Sarel im Rahmen seines Beitrages mitverwandt wurden. Vgl. Sarel, S. 7 f.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

oder der Auswahl anderer theoretischer Modelle zu erklären. Allein die unterschiedliche Festsetzung einzelner Parameter oder anderer Untersuchungszeiträume innerhalb desselben neoklassischen Wachstumsmodells verursacht obige unterschiedliche Resultate 83 . Abgesehen von der Kritik an der Schätzmethode und -technik kann gegen die Krugman-These eingewandt werden, daß sich neoklassische Wachstumsanalysen auf die Vergangenheit beziehen und ungeeignet sind, um Zukunftsprognosen abzuleiten84. Dies liegt daran, daß der Prozeß nachholender Industrialisierung gerade in seiner Anfangsphase keiner eigenständigen, technischen Entwicklung bedarf (Imitation statt Innovation). Unbestritten ist, daß neben der Kumulation von Inputs auch eine Wissensanhäufung (dynamische Lemeffekte) stattgefunden hat. Ein Analyseansatz, der wie die neoklassische Wachstumstheorie technischen Fortschritt als Residuum der Kumulation und nicht als unabhängige Variable begreift, dürfte zu kurz greifen. Die relevante Frage ist, ob es den Unternehmen Ostasiens gelingen wird, FuE-Investitionen in ähnlich output-effektiver Weise vorzunehmen, wie dies in der Vergangenheit für die getätigten Investitionen in Human- und Sachkapital galt. Insgesamt ist davon auszugehen, daß die Debatte über die relativen Wachstumsbeiträge von Faktorakkumulation versus technischem Fortschritt noch längst nicht beendet ist85 . Sarel zieht den prägnanten Schluß, die Krugman-These "should be viewed as interesting, but only suggestive"86.

3. Der ostasiatische Entwicklungsstaat als Motor des Wachstums? Die Sicht der revisionistischen Schule a) Begriff des Revisionismus

Wie ausgeführt ist die entwicklungstheoretische Debatte und damit auch die nach den Hintergriinden des ostasiatischen Erfolges von einer gewissen Wechsel83 In der Studie des Währungsfonds wurde der sogenannte Alpha-Parameter - wie allgemein üblich- auf 0,3333 festgesetzt, Young dagegen setzte ihn auf 0,45. Da dieser Parameter den relativen Wachstumsbeitrag von Arbeit und Kapital wiedergibt, sind voneinander abweichende Ergebnisse nicht erstaunlich. Ebenso würde bspw. auch eine Veränderung der Abschreibungsrate, der Referenzperiode für die Extrapolation oder das Datum des Beginns der Kapitalakkumulation erhebliche Ergebnisveränderungen hervorrufen. Darüber hinaus weichen auch die untersuchten Perioden voneinander ab. Young untersucht den Zeitraum 197085, die Weltbank dagegen die Zeiträume 1960-75 und 1975-90 wie oben beschrieben. Vgl. Sarel, S. 8. 84 Vgl. Hilpert, S. 9 f. 85 Insbesondere im Zusammenhang mit der Asienkrise wurde der Krugman-These wieder erneute Bedeutung zuteil. Vgl. Holloway; Chanda; Western; o. V., Frozen Miracle; Weggel, Asien im Jahre 2050, S. 311 f. 86 Sarel, S. 5.

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haftigkeit geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg dominierte zunächst die strukturalistische Schule, deren Politikempfehlung darin bestand, mittels staatlicher Intervention die ,richtigen', entwicklungsdienlichen Strukturen zu schaffen. Wie erwähnt entwickelte sich in den Sechzigern eine neue, neoklassisch orientierte Sichtweise, die sich in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten zur neuen Orthodoxie der Erklärung des ostasiatischen Wachstumserfolgs herausbildete und im Gegensatz zur obigen Schule als Hauptquelle wirtschaftlicher Entwicklung die Optimierung der allokativen Effizienz identifiziert. Die empfohlene Rezeptur besteht folgerichtig darin, staatliche Eingriffe in den marktliehen Allokationsprozeß zu minimieren, um in der Folge zu Effizienzsteigerungen zu gelangen. Der Schlüssel zur Erklärung der unterschiedlichen Wachstumserfolge läge vor allem in übermäßigem Regierungsinterventionismus und der Ausrichtung dieses Interventionismus auf Abschottung gegenüber dem Weltmarkt, so die These der Neoklassischen Politischen Ökonomie. Obwohl diese beiden für zentral gehaltenen Fehler vieler Entwicklungsländer nicht zwingend ursächlich miteinander verbunden sein müssen, wurde in vielen Beiträgen Interventionismus mit Abschottung gegenüber dem Weltmarkt übersetzt. Moreira formuliert dazu: "These issues were combined in a new terminology, and given a one-to-one correspondence"87 . Anders gewendet heißt dies, Intervention wurde mit binnenorientierter Entwicklungsstrategie und Importsubstitution - Laissez-faire mit weltmarktorientierter Entwicklungssphilosophie unter Zuhilfenahme des Mittels der Exportförderung übersetzt. Exemplarisch für die neoklassische Sicht ist hier Friedman's Auffassung: ,,Every successful country . . . has relied primarily on private enterprise and free markets to achieve economic development. Every country in trouble has relied primarily on government to guide and direct its economic development" 88 • Seit den späten Achtzigern geriet diese einfache Gleichung nun zunehmend unter Druck, denn die Vertreter einer neu entstehenden Schule betonten unablässig, daß die erfolgreichen ostasiatischen NIEs genauso interventionistisch waren wie einige der weniger erfolgreichen Entwicklungsländer89. Überdies hinaus wurde an der neoklassischen Erklärung des Wunders kritisiert, daß sie nicht empirisch beweisbar sei. Die neoklassische Erklärungsvariante zeichne sich vielmehr durch die Nichtexistenz eines empirischen Beweises ihrer erfolgreichen Implementierung aus90• Die Bezeichnung dieser Kritiker der neoklassischen Erklärungshypothese und des darauf basierenden neuen Ansatzes zur Erklärung des ostasiatischen Wirtschaftsaufstiegs ist uneinheitlich. Oben wurde bereits die Bezeichnung Neue Politische Ökonomie eingeführt. Daneben wurde dieser Ansatz auch als Strukturalis87 88

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Moreira, S. 1. Zitiert nach Chowdhury/ Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 47. Vgl. Chowdhury/Islam, Newly Industrialising Economies ofEast Asia, S. 47. Vgl. Hillebrand, S. 3.

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mus, als Neostrukturalismus oder als Revisionismus bezeichnet, weshalb an dieser Stelle eine kurze Begriffsklärung nötig wird91 .

Der neue Erklärungsversuch des ostasiatischen Wunders steht dem der Neoklassischen Politischen Ökonomie diametral entgegen und wird im Weiteren aus folgendem Grund als Revisionismus bzw. als revisionistische Sicht bezeichnet: Einige der revisionistischen Vertreter arbeiten mit dem mikroökonomisch ausgerichteten Instrumentarium und gehören somit zu dem Theoriezweig, der üblicherweise sonst als Public Choice, Neue Politische Ökonomie oder Neue Institutionenökonomie bezeichnet wird. Andere arbeiten hingegen nicht mikroökonomisch. Und besonders diese betonen, daß die gehaltvollste Kritik an der neoklassischen Entwicklungsökonomie nicht ausschließlich mikroökonomisch fundiert war. Die Kritik entstand vielmehr "from a theoretically eclectic group of economists, political scientists, and area specialists'm. Der Begriff Revisionismus faßt also weiter, denn er berücksichtigt auch jene Arbeiten, die nicht mit dem mikroökonomischen Instrumentenkasten der Neuen Politischen Ökonomie arbeiten, gleichwohl aber auf den Staat als Motor der Entwicklung abstellen. Fehlschlüsse aufgrund des theoretischen Instrumentariums können durch die Verwendung des Begriffes Revisionismus also vermieden werden. Der Begriff Strukturalismus wird abgelehnt, da dieser bereits für die frühen Entwicklungsökonomen um Rosenstein-Rodan, Nurkse, Myrdal, Hirschman und Prebisch verwandt wird und sich die revisionistische Schule überdies auch von deren Gedankengebäude deutlich abhebt. Die Strukturalisten befürworteten in der Regel eine mehr oder weniger deutliche Loslösung vom Weltmarkt, der Revisionismus setzt dagegen auf eine Strategie, welche explizit darauf gerichtet ist, die internationale Wettbewerbsfähigkeit mittels staatlich gelenkter Integration in den Weltmarkt zu erhöhen93 : Dies ist ein klarer Widerspruch zu wie auch immer gearteten Abschottungsstrategien und damit auch zum Strukturalismus. Der Begriff Neostrukturalismus wird ebenfalls nicht verwandt, da die verbale Anlehnung an den Strukturalismusbegriff unmittelbar fehlerhafte Assoziationen aufkommen läßt. Die entwicklungstheoretische Rezeptur des Strukturalismus bestand ja, wie erwähnt, darin, eine weitgehende Loslösung vom Außenhandel zu empfehlen, wohingegen der Revisonismus auf "managed integration into the world economy"94 setzt. Der Begriff Revisionismus trifft m.E. den Kern der Sache gut, handelt es sich doch um den Versuch, die neoklassische Orthodoxie in einigen Punkten grundsätzlich zu revidieren. Dies vor allem in bezug auf den behaupteten, quasi naturgesetz91 Vgl. Moreira, S. 1; Petri, S. 6; Hillebrand, insbesondere Introduction and Sununary; Weltbank, East Asian Mirac1e, S. 83 f.; Haggard, S. 14. 92 Haggard, S. 13. 93 Vgl. Hillebrand, lntroduction and Summary. 94 Hillebrand, S. XVIII.

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liehen Zusammenhang zwischen Staatseingriffen und Abschottung nach außen sowie die Ansicht, der Staat könne nicht Motor des Wachstums sein. In der Konsequenz lautet die zentrale Behauptung der Revionisten, daß Staatseingriffe nicht zwingend zu schlechteren Ergebnissen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung führen, sondern ganz im Gegenteil, daß gerade die Interventionstätigkeit der Staaten Ostasiens die dortigen Entwicklungserfolge begriindet95 .

b) Die Kritik an der exportorientierten Industrialisierungsstrategie (EOI)

Die dem neoklassischen Paradigma diametral gegenüberstehende revisionistische Erkenntnis kristallisierte sich vor dem Hintergrund neuer, empirischer Untersuchungen heraus, die sich vor allem mit dem Ausmaß der Regierungsinterventionen und ihrer Stoßrichtung befaßten96. Erfolgreiche Schwellenländer wie z. B. Korea oder Taiwan hätten nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Eingriffe in den marktliehen Allokationsprozeß überdurchschnittliche Wachstumserfolge verbucht - so die zentrale These der Revisionisten97 • Gezeigt habe sich, daß die neoklassische Ansicht, Interventionsimus sei mit Abschottung vom Weltmarkt und vor allem mit Entwicklungsmißerfolgen gleichzusetzen, revidiert werden müsse. Gerade Vgl. Mo reira, S. 1 ff. Vgl. Alice H. Amsden, Asia's next giant: South Korea and Late Industrialization, New York und Oxford 1989; Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Industrial Policy; Aberbach I DollarI Soko/off; Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 46- 53; Hillebrand, S. 22- 129; Moreira; o. V., The Visible Hand and the Industrialization of East Asia, in: United Nations Conference on Trade and Development/UNCTAD (Hg.), Trade and Development Report 1994, New York und Genf 1994, S. 49 - 76; Helen Shapiro, The State and Industrial Strategy, in: World Development Report, Vol. 18, No. 1, Oxford und New York 1990, S. 861 - 878; Wade, Governing the Market; Jung-ho Yoo, TheIndustrial Policy of the 1970s and the Evolution of the Manufacturing Sector in Korea, Korea Developrnent Institute, Working Paper, No. 9017, Seoul 1990. 97 Daß die Regierungen Taiwans und Koreas in den Markt intervenierten, ist einem breiteren Publikum wohl erst im Zusammenhang mit der Asienkrise bekannt geworden, galt Ostasien doch bis dato als Hort der Marktwirtschaft. Heute ist breit bekannt, daß Kapitalmarktinterventionen in beiden Ökonomien lange Zeit üblich waren, und daß Taiwan im Gegensatz zu Korea kaum von der Krise erfaßt wurde. Dies wird u. a. darauf zuriickgeführt, daß die Allokation des Faktors Kapital auf Taiwan bereits weitgehend anhand von Marktkriterien erfolgte, während in Korea Kapital noch weitgehend im Wege des ,credit directing' durch die Regierung alloziiert wurde. Vgl. o. V., Prozen Miracle; o. V., The Vice of Thrift, in: The Economist, Vol. 346, No. 8060, London 1998, S. 87 f.; o. V., Much Ado About Openness, in: The Economist, Vol. 346, No. 8060, London 1998, S. 94; Charles S. Lee, Economic Survey South Korea. Aftersbocks Rumble, in: Far Eastern Economic Review, Vol. 161, No. 9, Hong Kong 1998, S. 56; Julian Baum, Economic Survey Taiwan. There's no Escape, in: Far Eastern Economic Review, Vol. 161, No. 9, Hong Kong 1998, S. 58; Chanda; o. V., Economic Woes Plague Asia but Taiwan Weathers the Storm, in: TRI News, Vol. II, No. I (13. 01. 98), S. 2 sowie o. V., Taiwan's Economy Remains Strong Despite Asian Crisis, S. 2 f. 95

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das von der Neoklassischen Politischen Ökonomie bemühte Beispiel Taiwan sei schließlich Beispiel eines Landes, das interventionierte und erfolgreich war. Das Handelsregime sei klar auf Offenheit dem Weltmarkt gegenüber ausgerichtet gewesen. Dies halten auch die Revisionisten für einen der Griinde des Erfolgs der Entwicklungsstrategie - insoweit wird den neoklassischen Entwicklungsökonomen also zugestimmt98• Die Thesen der neoklassischen Ökonomen in ihrer Gesamtheit jedoch werden abgelehnt. Dabei war es neben dem Entwicklungserfolg Taiwans vor allem auch der Aufstieg Japans und Koreas, die in den Augen der Revisionisten lehreiche Beispiele gelungener Entwicklungspolitik waren und Anlaß zur Kritik am neoklassischen Entwicklungsmodell gaben. Die Kritik des Revisionismus am neoklassischen Erklärungsmuster des ostasiatischen Wunders konzentrierte sich vor allem auffolgende Punkte99: Erstens entbehre die neoklassische Entwicklungsökonomie, deren Fundament bekanntlich die neoklassische Wettbewerbs- und Handelstheorie ist, aufgrund ihrer restriktiven Annahmen einer empirisch überpriifbaren theoretischen Grundlage. Vollkommene Märkte, vollkommener Wettbewerb sowie die Abwesenheit von Eintrittsbarrieren zu heimischen und ausländischen Märkten seien theoretische, in der realen Welt nicht anzutreffende Konstrukte. Darüber hinaus vernachlässige die neoklassische Entwicklungstheorie, der Existenz von Skaleneffekten, dynamischen Lerneffekten, Externalitäten sowie asymmetrisch verteilter Information adäquat Rechnung zu tragen. Zweitens fehle es der Neoklassischen Politischen Ökonomie an empirischer Relevanz, denn es gebe - vielleicht mit Ausnahme Hongkongs - nicht einen Staat dieser Welt, welcher der neoklassischen Entwicklungsphilosophie in ihrer reinen Form gefolgt sei. Zusätzlich wird angemerkt, die neoklassische Literatur sei besser im Auffinden von Fehlern und Entwicklungsmißerfolgen, als im Erklären von Entwicklungserfolgen: Dies gelte insbesondere für "[successful] state-led industrialisation, and there have been some dramatic cases of the latter" 100. Das von den neoklassischen Entwicklungsökonomen oft als Beispiel angeführte Taiwan sei nicht dem Weg der neoklassischen Lehre gefolgt, sondern vielmehr ein Beispiel gelungener Industrialisierungspolitik.

Dabei hätten die Regierungen jener Länder nicht nur den Weg des Industrialisierungsprozesses mittels Planaufstellung gewiesen, sondern intensiv auf der sektoralen und mikroökonomischen Ebene interveniert und diesen durch aktive TechnoloVgl. Moreira, S. 9 ff. sowie Wade, Goveming the Market, Kap. 1 und 10. Vgl. Robert Wade, Growth, lndustrialization and Economic Structure: Latin America and East Asia Compared, in: Helen Hughes (Hg.), Achieving Industrialization in Asia, Cambridge 1988, S. 129- 163; Haggard; Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Industrial Policy; Moreira, S. 1 ff.; Hillebrand, S. 3 f. sowie Chowdhury/Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 46 ff. 100 Chowdhury/Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 47. Anmerkung durch den Verfasser. 98

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gie- und Industriepolitik abgestützt 101 . Dies zeige sich unter anderem an dem hohen Staatsanteil der taiwanesischen Volkswirtschaft, der - gemessen am Anteil der Staatsunternehmen an der Volkswirtschaft - größer als in einigen lateinamerikanischen Staaten sei. Auch das Ausmaß der Regulierungsmechanismen, z. B. des taiwanesischen Finanzsektors, gebe deutliche Hinweise auf eine starke Einmischung des Staates in die marktmäßige Allokation 102. Daß dies von den neoklassisch geprägten Ökonomen bestritten oder zumindest nicht ausreichend gewürdigt wurde, könne nicht überraschen 103 . Schließlich gelte in diesem Untersuchungsrahmen der Satz: "The only thing not supposed to work properly is the state" 104• Da es nach revisionistischer Sicht zu Interventionismus und Entwicklungserfolg kam, richtet sich die Kritk an der neoklassischen Erklärung des ostasiatischen Wunders zunächst auf die Diskrepanz zwischen neoklassischer Theorie und der Empirie. Die Gleichsetzung von Interventionismus mit Binnenorientierung sei zu einfach. Die statistischen Angaben seien zum Teil zu Ungunsten des Ausweises einer Importsubstitutionsphase verzerrt und verleite demzufolge auch zu falschen Schlüssen 105• Fast überall sei der Exportförderungsphase zudem ein Zeitabschnitt der Importsubstitution als Vorbereitung auf die Weltmarktintegration und die Entwicklung komparativer Vorteile vorausgegangen. Diese Politik kann nach Ansicht der revisionistischen Schule als exportorientierter selektiver Interventionismus charakterisiert werden 106• Für die Revisionisten ist dies Anlaß, die These, der Er101 Zur Aufstellung von Regierungsplänen und Leitbildern siehe Chowdhury I Islam, Newly lndustrialising Economies of East Asia, S. 246 ff. 102 Vgl. Robert Wade, East Asian Financial Systems as aChallenge to Economics: Lessons from Taiwan, in: California Management Review, Vol. XXVII, No. 4 (Summer 1985), S. 106127; Robert Wade, State-Intervention in ,Outward-looking' Development: Neoclassical Theory and Taiwanese Practice, in: Gordon White, Developmental States in East Asia, London 1988; Wade, Latin America and East Asia compared; Wade, Governing the Market. 103 Wade unterscheidet die neoklassischen Erklärungshypothesen in eine ,,Free Market Theory (FM)" und eine "Simulated Free Market Theory (SM)". Erstere steht für jene Neoklassiker, welche die Existenz von Interventionen negieren oder darauf verweisen, daß, falls diese tatsächlich existierten, sie eher Hindernis als Hilfe im Entwicklungsprozeß gewesen wären. Der zweite Ansatz (SM) steht für jene, welche auf die Existenz von Interventionen hinweisen, gleichwohl aber annehmen, diese hätten nur dazu gedient, andere Interventionen wieder auszugleichen, um so vor allem auf dem Exportsektor einen annähernd freien Markt wieder herzustellen. Ein Beispiel für SM wären dann Exporthilfen, welche dazu dienten, Importbeschränkungen auszugleichen und so Exporte und Importe gleichzustellen oder um Exporte - ganz im Sinne von Balassa's "export promotion system" - gezielt zu fördern. Vgl. Wade, Governing the Market, Kap. 1. Eine ähnliche Unterteilung nimmt Moreira vor. Er unterscheidet in ,fundamentalistische' und ,moderate' Neoklassiker. Die ,Fundamentalisten' entsprechen dabei obigem FM-Ansatz und die ,Moderaten' gestehen die Anwendung von Interventionen zu, argumentieren jedoch, ihr Einfluß auf den Entwicklungsprozeß sei marginal gewesen. Vgl. Moreira, S. 10 f. 104 Moreira, S. 10. 105 Vgl. Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Industrial Policy, S. 2 ff. sowie S. 7 ff. 106 Vgl. Moreira, S. 1 - 9.

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folg Ostasiens sei auf neoklassische Politik zurückzuführen, zurückzuweisen und ihn vielmehr als Beleg der eigenen Theorie zu werten. Drittens sei die neoklassische Grundannahme von einer Harmonie in der internationalen Arbeitsteilung unrealistisch. Das neoklassische Harmoniemodell sei in seiner reinen Form realitätsfern und allein von daher kritikwürdig. Insbesondere aber die Entwicklungen der jüngsten Zeit - immer schnellerer technologischer Wandel, zunehmende Subventionierung von Zukunftsindustrien in den OECDLändern sowie diverse Marktzugangsbeschränkungen in den Industrieländern hätten lrnplikationen für den lndustrialisierungsprozeß in den weltmarktorientierten Entwicklungsländern, die im neoklassischen Harmoniemodell unberücksichtigt blieben. Hintergrund dieses Kritikpunktes ist die Annahme, die freihändlerisch geprägte Welt der Sechziger werde unter dem Einfluß steigender Arbeitslosenraten in den Industrieländern zunehmend einer stärker merkantilistisch orientierten Philosophie weichen. Viertens argumentierten die Revisionisten, daß sich die neoklassischen Entwicklungsökonornen zu stark von der Ansicht leiten lassen, daß Interventionen per se ein Übel seien. Dabei werde die Qualität der Intervention vernachlässigt. Die von den neoklassischen Entwicklungsökonornen vorgetragene Kritk an der Irnportsubstitutionspolitik, daß diese zu rent-seeking und damit zu unproduktiven Aktivitäten führen könne, sei im Prinzip berechtigt. Eine zentrale Schwäche der Argumentation sei jedoch, daß die qualitativen Unterschiede im Handeln einzelner Regierungen nicht beachtet wurden 107• Ein schwacher Staat sei immer der Gefahr des Mißbrauchs ausgesetzt. Ein starker, durchsetzungsfähiger Staat dagegen könne diese unproduktiven Aktivitäten weitgehend kontrollieren, da er relativ autonom sei und die Kraft besitze, für die Durchsetzung seines Regelwerkes Sorge zu tragen. Fünftens wird kritisiert, die traditionelle Neoklassische Politische Ökonomie arbeite mit einem stark eingeengten Untersuchungsfokus, da sie keine Antworten darauf geben könne, warum diese oder jene Politikinstrumente gewählt werden. Dies liegt daran, daß Politik, oder allgerneiner Institutionen, vernachlässigt werden. Denn: " . .. policy is simply a matter of rnaking the right choices, ,incorrect' policy reflects misguided ideas or Iack of political ,will'. This approach poses a profound puzzle for a theory based on rational-actor assurnptions. If neoclassical policies are superior, why are they so infrequently adopted? The answer often lies in the political incentives that policy rnakers face" 108• Gerade die aus dem neoklassischen Untersuchungsfokus hinausdefinierten Institutionen und Regelwerke einer Gesellschaft aber können nach revisionistischer Meinung Antworten geben, warum bestimmte Politiken ergriffen wurden und andere nicht. In der Neoklassischen Politischen Ökonomie dagegen fallen die gewählten Politikinstrumente aufgrund des

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Wade, Latin America and East Asia compared, hier S. 130. Haggard, S. 9.

I. Die Rolle des Staates

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zu eng gewählten Untersuchungsgegenstandes gleichsam ,vom Himmel' - so die Kritik der Revisionisten. Sechstens schließlich wird die Validität der exportorientierten Philosophie angezweifelt, denn die Richtung der kausalen Verknüpfung von Offenheit (dem Außenhandel gegenüber) und Wachstum sei nicht signifikant empirisch nachweisbar. Zwar gebe es hinreichend Beweise, daß Offenheit und Wachstum positiv korreliert seien, doch "correlation or association does not imply causation" 109 . Daher müsse die Kausalkette nicht zwingend vom Außenhandel zum Wachstum verlaufen 110. Die These könne ebenso gut ,Außenhandel schafft Wachstum' wie ,Wachstum schafft Außenhandel' oder auch ,Exporte und Wachstum sind über einen dritten Faktor positiv miteinander korreliert' lauten m.

Wenn die Kausalitäten unklar verlaufen, stellt sich die Frage, ob Freihandel überhaupt ein überlegener Weg ist. Wo lägen dann die Vorteile eines Regimes, das zu Gunstender Exporte verzerrt ist? Und warum soll dies imstande sein, die Freihandelssituation nachzubilden? Selbst wenn man unterstellt, im Rahmen der EOI werde sich ein neutrales System herausbilden, wie wären dann die Umwandlungsgewinne auf dem Weg von der ISI zur EOI erklärbar? Die neoklassische politische Ökonomie reagierte, und Balassa erklärte die Sinnhaftigkeit der Freihandelslösung mit einem Stufenmodell ökonomischer Entwicklung, dem sogenannten stage approach 112• Die EOI sei hier zwar nur zweitbeste Lösung, böte langfristig betrachtet dennoch Vorteile. Denn die sich im Rahmen der EOI frei bildenden Preise strahlten Signale auf den Industrialisierungsprozeß aus und signalisierten den Marktteilnehmern stets die komparativen Vorteile und seien deshalb eine wichtige Entscheidungshilfe. Die Optimierung der Allokation, welche sich nach dem Muster des oben skizzierten Stufenmodells bei der Umstellung von ISI auf EOI längerfristig einstelle, sei positiv zu werten und somit die EOI vorzuziehen. Auch diese Erweiterung des neoklasssischen Gedankengebäudes blieb nicht von Kritik verschont. Offengeblieben ist die Frage, wie sich die Kausalität zwischen Allokationsoptimierung und höheren Investitionsquoten in der Verarbeitenden Industrie erklären läßt. Auch unklar ist, wie sich die höhere totale FaktorproduktiviVgl. Chowdhuryllslam, Newly Industrialising Economies ofEast Asia, S. 79. "Sufficient curnulative evidence exists to suggest that countries rnore open to world trade have higher GNP growth rates. However, it is irnportant to note that this conclusion rneans only that there is a positive association between the degree of openness and GNP growth. The direction of that association is still open to question." Vittorio Corbo/Femando Ossa, Srnall Open Econornies: The Main lssues, in: Corbo/ Krueger/Ossa, S. 5-26, hier S. 11. 111 Vgl. Chowdhury /Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 81; Bradford. 112 Vgl. Bela Balassa, A ,Stages Approach' to Cornparative Advantage, in: Irma Adelman (Hg.), Economic Growth and Resources, London 1979, S. 121- 156. 109

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7 Fronius

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

tät, und schließlich wie sich das insgesamt höhere Wachstum in einen ursächlichen Zusammenhang mit der durch die EOI verbesserten Allokation bringen läßt. Eine Antwort hierauf gibt die Neue Wachstumstheorie, welche mittels Endogenisierung des technischen Wandels und der Beriicksichtigung steigender Skalenerträge einige der aufgeworfenen Fragen zu beantworten imstande ist. Eine offenere Volkswirtschaft profitiert von der zu internationalen Preisen erworbenen, in den Importen inkorporierten Technologie, weil hierdurch ceteris paribus die Rate des technischen Fortschritts ansteigt. Außerdem steigen aufgrund der Handelsliberalisierung die Skalenerträge in den dem Weltmarkt ausgesetzten Sektoren. Beide Faktoren gemeinsam verbessern die Allokation und führen zu einer Ressourcenfreisetzung, die den entwicklungsrelevanten Bereichen Forschung und Entwicklung zugeführt werden können und so ceteris paribus ein beschleunigtes Entwicklungstempo ermöglichen. Dies gilt aber nur, wenn es sich nicht um Freihandel unter den Bedingungen steigender Skalenerträge handelt. Ist dies hingegen der Fall, dann ist Freihandel nicht mehr zwingend die beste Lösung, da Abwanderungseffekte die positiven Effekte überlagern können 113• Zentral an dem geschilderten sechsten Kritikpunkt der Revisionisten bleibt, daß der Verlauf der Kausalitäten nicht mit empirischer Signifikanz gelöst wurde, und daß es auch auch mittels ökonomischer Überlegungen nicht eindeutig und unumstritten gelingt, diese Frage zu beantworten.

c) Die Analyse des ostasiatischen Erfolgs durch die Revisionisten

Die Hauptthese der Revisonisten lautet, daß der Kern des ostasiatischen Erfolgs in intelligenten Staatseingriffen in Verbindung mit ihrer Orientierung auf eine gesteuerte Integration der Ökonomie in den Weltmarkt zu sehen ist. Die Revisionisten erkennen also die Bedeutung einer exportorientierten Strategie ftir den Entwicklungserfolg an, sie halten dieses outward-looking sogar für einen zentralen Baustein des ostasiatischen Erfolgsgeheimnisses 114• Gleichzeitig widersprechen sie anderen Teilen der neoklassischen Analyse. Insbesondere jener Teil, nach welchem die Ursache des ostasiatischen Entwicklungserfolges in der Beschränkung der Staatseingriffe auf die Bereitstellung nur der wahren öffentlichen Güter zu sehen ist, wird als unzutreffend charakterisiert. In der revisionistischen Sichtweise sind es gerade die staatlichen Interventionen in den Wirtschaftskreislauf gewesen, welche den Entwicklungsprozeß beflügelten.

113 Vgl. Elhanan Helpman/Paul Krugman, Market Structure and Foreign Trade. lncreasing Returns, Imperfect Competition, and the International Economy, Cambridge I Mass. 1985. 114 Vgl. Wade, Governing the Market, S. 26.

I. Die Rolle des Staates

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So führen nach revisionistischer Auffassung erst politisch gewollte Preisverzerrungen zur allmählichen Stärkung der Marktkräfte, der Privatinitiative und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Diese Führung des Marktes 115 durch den Staat ist zentrales Element der revisionistischen Theorie und gibt Anlaß, sie als Versuch zu sehen, "to revive the notion of the state as an engine of growth" 116• Wenn der Staat Motor des Wachstums ist bzw. der Markt vom Staat geführt wird, schließen sich an diese Feststellung die Fragen an, warum der Staat den Markt führen soll, in welche Richtung der Markt geführt und mit welchen Mitteln er geführt wird. Die Motive, dem Staat wieder eine führende Rolle im Entwicklungsprozeß zu geben, wurden bei der Darstellung der Kritik der Revisionisten an der neoklassischen Theorie bereits umschrieben. An dieser Stelle soll herausgehoben werden, daß die Revisonisten vor dem Hintergrund der Empirie besonders die gerade in Entwicklungsländern imperfekten Märkte betonten. Sarel schreibt dazu: "Accordingly, the revisionists reconunend an activist government that will moderate the excesses of the market and assist the orderly development ... The government should jump-start the industrialization process by transforming economic structure faster than private entrepreneurs would" 117 • Hintergrund der Annahme, der Staat könne den nötigen Strukturwandel schneller herbeiführen, war die von den Revisionisten verwandte, breite Definition von Marktversagen. Sie dient als Rechtfertigung, staatlicherseits in den Entwicklungsprozeß einzugreifen und diesen zu führen 118• Zwar haben auch die Neoklassiker ein Marktversagen in bestinunten Bereichen ausgemacht und dem Staat entsprechend in einigen, wenigen Politikfeldern komparative Vorteile zugestanden. Die Revisionisten gehen indes in ihrer Definition von Marktversagen deutlich weiter. So nennt der Revisionismus vor allem folgende Problemkreise als Ursache des Marktversagens in Entwicklungsländern 119: • Der Privatsektor hält sich mit Investitionen und Innovationen stärker zurück und wird demzufolge international später wettbewerbsfähig, wenn Investitions- und Innovationskosten relativ hoch sind und sofort entstehen. Die Investitions- und Innovationsneigung des Privatsektors wird auch dann geringer sein, wenn die potentiellen Gewinne aus der Investition unsicher oder erst nach einem längeren Zeitraum zu erwarten sind. Dies gilt selbst dann, werm sichergestellt scheint, 115 Die englischsprachige Literatur kennt hierfür seit Wade's Standardwerk den schlecht übersetzbaren Begriff des "Goveming the Market". Vgl. Wade, Goveming the Market. ll6 Chowdhury/ Islam, Newly Industrialising Econornies of East Asia, S. 47. ll7 Sarel, S. 9. Hervorhebung durch den Verfasser. llS Vgl. Wade, Goveming the Market, Kap 1. 119 Vgl. zu dieser Auflistung vor allem: UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 50; Richard Grabowski, The Successful Developmental State: Where does it come from?, in: World Development, Vol. 22 (1994), No. 3, S. 413 - 422, hier S. 416 f. sowie Wade, Governing the Market, S. 12 f.

7*

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daß Gewinne entstehen, da eigentliche komparative Vorteile vorhanden sind, die aber noch entdeckt werden müssen (lnfant-Industry Problem). • Ähnlich liegt der Fall, wenn ein zeitlich begrenzter Schutz es den Unternehmen erlaubt, Größe aufzubauen und Größenvorteile auszunutzen, um auf der Kurve der langfristigen Durchschnittskosten nach unten zu wandern (Größendegressionsvorteile, Economies of Scale ). • Technologisches Wissen ist nicht überall verfügbar. Um es zu erlangen und einsetzen zu können, werden Lernphasen benötigt. Dadurch kommt es häufig zu Anpassungen importierter Technologie an die Gegebenheiten des Importlandes und die Technologie kann so letztlich effizienter eingesetzt werden, als wenn sie unmodifiziert zum Einsatz gebracht worden wäre. Im Gegensatz zu den Economies of Scale wandern Unternehmen hierbei nicht auf der Kurve der langfristigen Durchschnittskosten nach unten, sondern die Kurve als Ganzes verschiebt sich nach unten (Dynamische Lerneffekte). • Investitionen, Innovationen und strukturelle Veränderungen werden behindert, wenn die Kosten von dem Unternehmen alleine getragen werden müssen, Teile der Produktivitätsgewinne jedoch auch anderen zufallen (Existenz von Extemalitäten). • In ähnlicher Weise werden Unternehmen von Innovationen abgehalten, wenn die Kosten allein der Pionier trägt, diese aber nicht durch entsprechend hohe Extra-Gewinne ausgeglichen werden (zu geringe Schumpeterianische Renten). • Unternehmen engagieren sich nur vorsichtig, wenn das Verhalten (die Investitionspläne) von Kunden und Vorprodukteanbietern unsicher ist (Koordinationsproblem). • Die Hauptquelle möglicher Investitionen sind die einbehaltenen Gewinne. Die Investitionskapazität ist davon insofern betroffen, da Banken als Kreditsicherheit nicht die potentiellen Gewinne einer Investition akzeptieren, sondern ausschließlich die in der Vergangenheit realisierten kumulierten Gewinne zur Berechnung der Kredites verwenden. Hierdurch kann die Kreditvergabe geringer ausfallen (Prinzip des zunehmenden Risikos). • Probleme, die sich im Zusammenhang mit einem unterentwickelten Kapitalmarkt ergeben, wobei dies meist auch von den Neoklassikern als Marktversagen betrachtet wird (Unterentwicklung des Kapitalmarktes). Neben den Möglichkeiten der Behebung von Marktversagen als Rechtfertigung für einen aktiven Staat ist vor allem die Schaffung von komparativen Vorteilen durch den Staat in der revisionistischen Literatur hervorgehoben worden. Ziel der ostasiatischen Staaten war es - so die revisionistische These -, die komparativen Vorteile zu den eigenen Gunsten zu verändern und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dabei ging es nicht nur um die ,Entdeckung der eigentlichen komparativen Vorteile' entlang des Erziehungsschutzarguments von List (,picking winners'), sondern weit darüber hinaus um die Schöpfung neuer kompa-

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rativer Vorteile 120• Wade und Grabowski formulieren treffend: "International comparative advantage could be deliberately created by government not just to nurture a few infant industries to supply the domestic market but to push broad sets of industries toward areas of growth and technological change in the world economy"121. "Comparative advantage does not evolve naturally, instead comparative advantage is created" 122. "The governments of Taiwan, Korea, and Japan have not so much picked winners as made them" 123. Eine notwendige Bedingung der Exporterfolge Taiwans war dabei nach Amsden, daß die Importprotektion lange Zeit parallel aufrechterhalten wurde und nicht, daß in Ostasien früher als in Lateinamerika die Liberalisierung des Außenhandels erfolgte, wie die Neoklassiker behaupten 124. Das Nebeneinander von Importsubstitution und Exportförderung sei mindestens eine Zeitlang nach Einführung neuer Technologien hilfreich gewesen, da so den neuen Technologien Inkubationsphasen in einem fremden Land gewährt und so die nötigen Lernprozesse ausgelöst wurden. Insofern gehörte zum ostasiatischen Konzept des making winners, an dessen Ende die unübersehbaren Exporterfolge dieser Region standen, untrennbar eine Importsubstitutionsphase - ein wichtiger Unterschied zur neoklassischen Analyse des ostasiatischen Erfolges. Amsden betont: "The East Asian case ... supports the view that export-led growth and import substitution are not two separate strategies but rather an organic, inseparable whole" 125 . Dem neoklassischen Konzept des getting the prices right (Entwicklung entlang der gegebenen komparativen Vorteile) wurde damit das Konzept des getting the prices wrong (Schaffung komparativer Vorteile) als Entwurf der Revisionisten entgegengesetzt. Der revisionistischen Analyse des ostasiatischen Erfolgs zufolge ist es effizienter, den Markt in die gewünschte Richtung zu führen, als Staatseingriffe zu minimieren und der von den Neoklassikern vertretenen Haltung zu folgen. Begründet wurde dies mit positiven Wirkungen der selektiven Interventionen, die in revisionistischer Logik bei einer Ex-post Betrachtung der Wirkungen von selektiver Struktur- und Industriepolitik gerechtfertigt werden können. Dies finde seine Begründung darin, daß den ostasiatischen Entscheidern bei der Implementierung von Interventionen nicht wichtig gewesen sei, ob die allokative Effizienz in kurzfristiger, statischer Betrachtung gegeben war. Primär sei auch nicht die sektorale Zusammensetzung der industriellen Kapazität oder die Erhöhung des Output per se gewe12o

Vgl. Wade, Goveming the Market, S. 27 - 29 und S. 333 - 337 sowie Grabowski,

s. 414.

Wade, Governing the Market, S. 25. Grabowski, S. 414. 123 Wade, Governing the Market, S. 334. Hervorhebung im Original. 124 Vgl. Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Iudustrial Policy. 125 Vgl. Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Iudustrial Policy, S. 4 und S. 7 ff. 121

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

sen. Wichtiger sei vielmehr die Frage gewesen, ob die selektiven industriepolitischen Eingriffe Ex-post gerechtfertigt werden konnten. Sie konnten Ex-post dann gerechtfertigt werden, wenn sie dazu beitrugen, den Strukturwandel durch die Förderung ansonsten als unwirtschaftlich angesehener Aktivitäten zu beschleunigen oder die von der Regierung definierten strategischen Ziele zu erreichen. Insofern liegt das Augenmerk der Revisionisten auf der Analyse von Lernprozessen, dem Prozeß der Kapitalakkumulation und der Untersuchung institutioneller Arrangements, welche dazu dienen, eine Ökonomie aus dem Stadium der Unterentwicklung zu heben 126. Nach Ansicht der Revisionisten sind vor allem die aktive, auf die Erlangung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gerichtete Handelspolitik, die funktionalen und selektiven Interventionen im Rahmen der Industrie- und Wettbewerbspolitik sowie die antizipierende selektive Strukturpolitik als Kernelemente des ostasiatischen Entwicklungsstaates herauszustellen. Wichtig ist vor allem die Unterscheidung in funktionale und selektive Interventionen 127. Funktionale Interventionen sollen vor allem die generellen Mechanismen der Produktions- und Ressourcenallokation durch eine Verbesserung der Funktionsweise des Marktes unterstützen. Selektive Interventionen hingegen sind darauf gerichtet, branchenspezifische Regierungsziele sowie die Bedürfnisse der Branchen zu unterschiedlichen Zeiten maßgeschneidert zu befriedigen. Funktionale Intervention kann auch innerhalb des neoklassischen Gedankengebäudes gerechtfertigt werden, selektive Intervention nicht 128 . Insgesamt war die Wirtschaftspolitik der ostasiatischen Staaten nach revisionistischer Ansicht darauf ausgerichtet, die Angebotskapazität auf der mikroökonomischen Ebene und bei den wichtigen makroökonomischen Aggregaten zu erhöhen129. Dies ist ein weiterer Unterschied zu den Neoklassikern, welche betonen, mikroökonomische Effizienz sei primär durch die Nicht-Existenz von staatlicher Intervention zustande gekommen. Die zur selektiven Industrie-, Handels- und Wettbewerbspolitik gehörenden staatlichen Eingriffe traten auf Taiwan in vielen Variationen auf130. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählen die Exportförderung mittels gespaltenen Wechselkurses (Wechselkursprotektionismus) und die explizit auf ausländische Unternehmen ge126 Vgl. UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 51 ff. sowie Wade, Goveming the Market, S. 29 und S. 333 ff. 127 Vgl. zu der Unterscheidung in selektive und funktionale Intervention Wade, Goveming the Market, S. ll ff. sowie UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 50 f. 128 Vor allem jene neoklassischen Vertreter, welche nach Wade die "Simulated Free Market Theory" vertreten bzw. nach Moreira als ,moderate Neoklassiker' gelten können, vertreten die Ansicht, Interventionen hätten in den ostasiatischen Staaten stattgefunden, diese seien funktional gewesen und hätten nur marginalen Einfluß auf den Entwicklungsprozeß gehabt. Vgl. Wade, Goveming the Market, Kap. l und Moreira, S. lO f. 129 Vgl. UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 51. 130 Vgl. Sarel, S. 9 f.

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richtete Ansiedlungspolitik in speziellen Exportverarbeitungs- und Exportsonderzonen, in denen erwünschte exportintensive Industriezweige durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen protegiert wurden. Ebenso wichtig war die Protektion heimischer Importsubstitute sowie die Priorisierung erwünschter Industrien bei der Kreditvergabe bzw. die Vergabe von günstigeren Krediten für erwünschte Industrien. Kurz gesagt: Selektive Wirtschaftspolitik diente den Revisionisten zufolge der Erschaffung von Gewinnern. Diese hier als ,Erschaffung von Gewinnern' bezeichnete Praxis findet sich in der Literatur auch unter der Bezeichnung picking the winners. Dies ist unzutreffend, da es erstens im Sinne von Wade weniger um picking, denn um making winners ging 131 . Mehrere Revisionisten verweisen darauf, daß es im Prozeß nachholender Entwicklung (catching-up) nicht möglich oder sinnvoll sei, Gewinner auszusuchen132. Denn mit dem Terminus Gewinner sind internationale Gewinner gemeint. Dies impliziert, daß sie von Beginn an die international beste Technologie verwenden und auf dem jeweiligen Sektor führend sind. Insofern können die ostasiatischen Staaten keine Gewinner ausgesucht haben. Sie haben vielmehr darauf geachtet, ob die geförderten Industrien in den Rahmen der Gesamtstrategie paßten. Hierbei wurde in ausgesuchten Industrien zur Überwindung von Investitionshürden beigetragen und insbesondere Lernprozesse gefördert. Das Schwergewicht lag auf den Lernprozessen, wie Kenntnisse über oder Besitz an international verfügbaren, im Land jedoch nicht bekannten Technologie erlangt wird, wie die jeweilige Technologien beherrscht wird sowie dem Erwerb von Wissen, wie in ausgereiften Produktmärkten in den Wettbewerb mit langjährig erfahrenen Unternehmen eingetreten wird 133. Wie begründen Revisionisten, daß es in Ostasien nicht zu einem Ausufern des Protektionismus und den damit verbundenen rent seeking activities kam? Die revisionistische Antwort hierauf umfaßt mehrere Aspekte. Nach revisionistischer Meinung ist nicht die Quantität von Intervention entscheidend über Erfolg oder Mißerfolg ihres Einsatzes im Entwicklungsprozeß, sondern die Qualität der Intervention 134. Hohe Qualität heißt in diesem Sinne, hohe Entwicklungsdienlichkeit und geringe Häufigkeit reiner rent seeking activities. Die hohe Qualität der Interventionen in Ostasien manifestierte sich dabei erstens daran, daß es dem ostasiatischen Staat gelang, den Wirtschaftssubjekten glaubwürdig zu vermitteln, ihre Subvention werde - unabhängig davon, ob diese als erfolg131 "The govemments ... have not so much picked winners as made them." Wade, Governing the Market, S. 334. Hervorhebung im Original. 132 Vgl. UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 51 f.; Charles Gore, Development Strategy in East Asian Newly Industrializing Economies: The Experience of Post-War Japan, 1953- 1973, UNCTAD Discussion Papers, No. 92, November 1994, S. 11 f. sowie Wade, Goveming the Market, S. 334 ff. 133 Vgl. Gore, S. 11 f. sowie UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 51. 134 Vgl. Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 47 ff.

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reich gelten könne - früher oder später definitiv wieder entfallen. Dadurch wurde bewirkt, daß sich die Wirtschaftssubjekte von Anbeginn darauf einstellten, ohne Intervention wirtschaftlich überlebensfähig zu sein und ökonomisch nicht rentable Aktivitäten rasch wieder einzustellen. Zweitens wurden Unternehmens- und sektorspezifische Subventionen nur im Tausch gegen entsprechende ökonomische Erfolge der betroffenen Unternehmen oder Sektoren gewährt. Wenn sich die erwarteten Erfolge nicht einstellten und die Intervention damit als nicht erfolgreich gelten mußte, wurden die Interventionen rasch eingestellt. Die vorgebliche hohe Qualität der Interventionen wurde durch zwei Spezifika des ostasiatischen Staatsaufbaus befördert 135 : Erstens die besondere Art des Zusarnmenwirkens politischer und wirtschaftlicher Macht als quasi-interne Organisation (Q/0), welche die Bildung sogenannter Wachstumskoalitionen, in denen einzelne zu Gunsten des Gesamterfolges zurückzustehen bereit waren, erleichterte und zweitens die spezifische Art des Staatsaufbaus als Entwicklungsstaat mit einer meritokratisch denkenden und technokratisch handelnden Elitebürokratie, welche relativ viel Freiheit bei der Politikimplementierung besaß 136 • Die besondere Art des Zusammenwirkens politischer und wirtschaftlicher Macht ist von Bedeutung, da die Politik über den Privatsektor implementiert wurde. Industriepolitik war in Ostasien nur dank der Interaktion von Regierungspolitik und Wettbewerbsstrategien privater Unternehmen möglich. Der Staat übernahm dabei die Aufgabe, mittels vielfältiger Instrumente bis stark auf die mikroökonomische Ebene einzugreifen und dadurch deutliche Anreize zu setzen. Dies geschah, um den Privatsektor, der durch ein gewinnmaximierendes Verhalten gekennzeichnet ist, zur Ergreifung der politisch gewünschten ökonomischen Maßnahmen anzureizen. Teilweise waren die Eingriffe so direkt auf einzelne Unternehmen bezogen, daß die Politik in ihrer Gesamtwirkung nicht mehr als indikativ, das System als ganzes aber auch nicht als Kommandowirtschaft bezeichnet werden kann. Mason kommentiert: "The hand of govemment reaches down rather far into the activities of individual firms with its manipulation of incentives and disincentives. At the same time, the situation can in no sense be described in terms of a command economy"137. Die besondere Art des Zusammenwirkens politischer und wirtschaftlicher Macht wurde erleichtert durch die länderspezifisch zwar unterschiedliche, doch insgesamt spezifisch ostasiatische Unternehmensstruktur. In Südkorea und auf Taiwan herrschen Privateigentum vor, doch für Korea sind eine geringe Anzahl an Großunter135 So jedenfalls die revisionistische Meinung. Was man nach der Asienkrise und den bekannten Ursachen, u.A. schließlich fehlerhafte Verwendung von Subventionen, zu diesem Teil denken mag, sei dahingestellt. 136 Vgl. Chowdhuryllslam, Newly lndustrialising Economies of East Asia, S. 47 ff. ; Wade, Governing the Market, Kap. 1. 137 Edward Mason, The Economic and Social Modernization of the Republic of Korea, Harvard University Press 1980, S. 254.

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nehmen, die Chaebols typisch, wogegen man auf Taiwan unzählige kleine und mittlere Familienunternehmen findet. Da diese für bestimmte Sektoren eine zu geringe Unternehmensgröße aufweisen, wurden auf Taiwan in einigen Sektoren (Reis, Zucker, Petrochemie, Schiffbau, Banken etc.) Staatsunternehmen gegründet. Für beide Länder ist ein hoher Grad an Beeinflussung der Unternehmenspolitik durch die Regierung typisch und war dank der Größe und strategischen Bedeutung der Unternehmen für die Ökonomie von signifikanter Wirkung 138• Überdies gilt mindestens für Taiwan, daß die Manager der Staatsunternehmen Taiwans fast immer gleichzeitig ranghohe Mitglieder der herrschenden Partei Taiwans, der Kuomintang (KMT), waren, so daß auch nach der in späteren Jahren teilweise erfolgten Privatisierung von Staatsunternehmen ein mittelbarer Regierungseinfluß auf die taiwanesische Unternmehmenspolitik erhalten blieb. So würde die KMT, wenn sie ein normales Unternehmen wäre, gemessen an der Höhe des Gewinns vor Steuern das zweitgrößte Konglomerat Taiwans bilden 139• Über obige zur selektiven Industrie-, Handels- und Wettbewerbspolitik gehörenden Maßnahmen hinaus, kam es auf Taiwan zu staatlichen Eingriffen, die der Schaffung bzw. Aufrechterhaltung eines steten Informationsflusses zwischen Unternehmen, Regierung und sonstigen gesellschaftlich relevanten Gruppen dienten. Außerdem kam es zur Unterdrückung der Gewerkschaften, um den Arbeitsmarkt flexibel zu halten sowie zu Eingriffen, welche die Bildung entwicklungshemmender Interessen unterbanden (Landreform) - um hier nur die Wichtigsten zu nennen. Diese engen Beziehungen zwischen Regierung und Unternehmen werden von revisionistischer Seite als typisches, wenn nicht wichtigstes Element des ostasiatischen Entwicklungsstaates bezeichnet. Staat und Privatunternehmen bilden eine quasi-interne Organisation (Q/0), in der Kooperations- und Wettbewerbselemente verbunden und die jeweiligen Vorteile synergetisch genutzt werden 140• Die höhere Effizienz dieser Organisationsform bei der Lenkung des Staates liegt der revisionistischen Sicht zufolge in der spezifischen Funktionsweise einer QIO begründet, denn sie kann als interner Kapitalmarkt fungieren oder ein subtiles Netzwerk langfristiger Beziehungen zwischen Unternehmenssektor und Regierung begründen 141 . Die Funktion der QIO als interner Kapitalmarkt wurde in den Arbeiten von Williamson zur Theorie des Unternehmens untersucht. Er argumentiert, das Unternehmen werde angesichts bestehender hoher Transaktionskosten und imperfekter Kapitalmärkte interne Fonds zur Finanzierung nutzen und so Kosten reduzieren. Ähn138

1994.

Vgl. Wade, Governing the Market und UNCTAD, Trade and Development Report

139 Der Gewinn vor Steuern aller mit der KMT verbundenen Unternehmen betrug im Jaltre 1997 488 Mio. US-Dollar. Vgl. o. V., The Long Arm of the KMT, in: The Econornist, Vol. 347, No. 8072 (13. 06. 1998), S. 77. 140 Vgl. Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Econornies ofEast Asia, S. 48 ff. 141 Vgl. Schaubild 3.1 aufS. 49 in Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Econornies of East Asia.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

liches gilt auch für einen als quasi-interne Organisation operierenden Staat. Im Falle unterentwickelter Kapitalmärkte, einer für Entwicklungsländer typischen Situation, kann der Staat das Finanzsystem so regulieren und kontrollieren, daß entwicklungsdienliche Aktivitäten gefördert und finanziert werden. Das bedeutet, der Staat operiert in einer solchen Umgebung als interner Kapitalmarkt, wodurch er mit relativ viel Macht über den Privatsektor ausgestattet wird, denn er kann Kapital diskretionär an verschiedene Sektoren und Industrien alloziieren und so den Wirtschaftsprozeß weitgehend steuem 142. Die Funktion der QIO als subtiles Netzwerk langfristiger Beziehungen entwikkelt sich in Ostasien typischerweise innerhalb der ,,ruling elite" 143 , die aus den führenden Mitgliedern von Politik, Bürokratie und Wirtschaft besteht, und gründet sich auf die häufig gemeinsame Vergangenheit (gleiche geographische Herkunft, Schule oder Universität etc.) der Mitglieder der Elite. "Sharing a common background"144 ist Basis langjähriger, bindender Beziehungen, welche durch institutionelle Arrangements, wie z. B. Diskussionszirkel, in denen man u. a. über die Richtung des künftigen Entwicklungspfades der Ökonomie berät, verstärkt wird 145. Der ökonomische Vorteil der Heranbildung informeller Netzwerke liegt in der Reduktion der Transaktionskosten. In Netzwerken gelangen Informationen über die künftige Regierungspolitik schneller an die entsprechenden Stellen. Der Kooperationsund Konsultationsprozeß zwischen Trägem wirtschaftlicher, politischer und bürokratischer Macht trägt dazu bei, Friktionen zu vermeiden. Die ökonomischen Vorteile der QIO zur Steuerung werden von dem Teil der Revisionisten, die zu den Befürwortem der QIO-Theorie zählen, in drei Aspekten gesehen. 1. Das Theorem kollektiver Aktionen nach Olson besagt, daß keine Gesellschaft frei von rent-seeking activities und Verteilungskoalitionen ist. Ihm zufolge sind aber nicht alle Verteilungskoalitionen kontraproduktiv, denn wenn sie groß genug sind und damit ihre Basis breit genug ist, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die Interessen der Gesellschaft mit den Interessen der Verteilungskoalition übereinstimmen. Dies ist ökonomisch betrachtet positiv, da breit basierte Koalitionen im Gegensatz zu eng basierten keinen Anreiz an Nullsummenspielen (reine Umverteilung) haben. Das Interesse breit in der Gesellschaft verwurzelter Koalitionen dagegen wird genau aufgrund der breiten Verankerung stets das Gesamtinteresse und damit die Steigerung der Gesamtwohlfahrt sein. Je größer die Gesamtwohlfahrt, desto größer auch der Anteil der Verteilungskoalition daran. Nach der Logik dieses Ansatzes verfolgt die QIO deshalb Ziele, die Vgl. Chowdhury I Islam, Newly Industrialising Econornies of East Asia, S. 48. Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Econornies ofEast Asia, S. 48. 144 Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Econornies ofEast Asia, S. 48. 145 Gerne verweisen die Revisionisten auch auf das japanische System des amakaduri, welches die Sitte bezeichnet, daß pensionierte politische Funktionäre und Bürokraten häufig in die Vorstände der großen privaten Unternehmen wechseln. 142 143

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eng mit den gesellschaftlichen übereinstimmen und rent-seeking activities können in einem Staat, der in QIO-Form organisiert ist, weitgehend vermieden werden146. Kritisch anzumerken ist, daß hier ein gewisser Widerspruch in der revisionistischen Logik besteht. Wenn die Existenz einer herrschenden Elite als Vorteil herausgestellt wird und die Begründung der positiven ökonomischen Wirkung über den Ansatz von Olson erfolgen soll, dann stellt sich die Frage, wie breit diese Eliten in der Gesellschaft verwurzelt sein müssen, damit sie stets und ausschließlich die Steigerung der Gesamtwohlfahrt verfolgen. Im Zusammenhang mit dieser Frage stellt sich die weitere Frage, ob bei derart breit in der Gesellschaft verwurzelten Schichten überhaupt das Wort Elite benutzt werden kann, da Eliten per definitionem eigentlich eine Minderheit sind. 2. Eine weitere Begründung, warum die Organsiation des Staates in Form der QIO ökonomisch von Vorteil ist, wurde mit dem Instrumentarium der Spieltheorie geliefert. Das Gefangenendilemma zeigt, daß Spieler im Wettkampf ein geringeres Ergebnis produzieren, als in der Kooperation. Der Analyse von Axelrod zufolge wird, wenn dominante Spieler existieren und das Spiel mehrfach wiederholt wird, kooperatives Verhalten angeregt. Die Repräsentanten der QIO sind dominante Spieler, und wiederholte Aktionen zwischen ihnen schaffen eine vertrauensvolle und kooperative Atmosphäre. Diese ist Basis sehr weitreichender Übereinkommen bezüglich der Entwicklungsrichtung des Staates, welche in einem konsultativen Prozeß gemeinsam entworfen wird. Gleichzeitig wird es der QIO so möglich, Druck anderer gesellschaftlicher Gruppen abzuwehren, wenn innerhalb der QIO angenommen wird, dieser Druck von außen könne dazu führen, daß kritische Punkte der Entwicklungsagenda konterkariert oder abgeschwächt werden 147.

3. Die wirtschaftliche Überlegenheit der QIO kann schließlich auch mit der Transaktionstheorie von Williamson begründet werden 148. Die These lautet, es gäbe prinzipiell zwei Alternativen, den Austausch von Gütern und Diensten institutionell zu organisieren, den Markt und interne Organisationen wie das Unternehmen. Williamsons Theorie beschreibt eine Klasse von Marktversagen, die ausschließlich mit Transaktionen zu tun hat. Die Annahme lautet, daß alle Transaktionen implizit oder explizit auf Grundlage von Verträgen zustande kommen und daß dabei Ex-ante und Ex-post Kosten der Verhandlung, Einführung und Durchsetzung von Verträgen produziert werden. Diese Kosten entstehen aufgrund von beschränkter Rationalität (kein Individuum kann alle Eventualitäten und Möglichkeiten vorhersehen) und aufgrund von opportunistischem Verhalten infolge asymmetrisch verteilter Information (Prinzipal-Agent-Pro-

146 Vgl. Mancur Olson, The Rise and Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation and Social Rigidities, New Haven 1982. 147 Vgl. Robert M. Axelrod, The Evolution of Cooperation, New York 1984. 148 Vgl. Oliver E. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

blem). Marktversagen ist dieser Theorie zufolge eher die Regel als die Ausnahme. Williamson zeigt, daß eine gewinnstrebende interne Organisation Transaktionen internalisiert und so Kosten der Organisation und Durchführung von Verträgen einspart. Im Ergebnis können interne Organsialionen daher effizienter als der Markt sein. Nicht alle internen Organisationen aber sind gleich effizient. Wenn sie durch progressiv anwachsende Zunahme der Internalisierung von Transaktionen zu stark wachsen, werden Entscheidungsrechte an professionelle Manager abgegeben, was die Grundlage eines neuen Prinzipal-Agent-Problems wird. Nach Williamson reagiert das Unternehmen hierauf durch die Ausbildung einer multidivisionalen Struktur (M-Form Unternehmung) und minimiert so die neu aufgetretenen Probleme. Zentral an der M-Form Unternehmung ist das Corporate Head Office als aufsichtsführende Stelle über unabhängig operierende Divisionen, die Zuordnung der strategischen Entscheidugen zum Head Office und der tagespolitischen Entscheidungen zu den Divisionen. Das Head Office übernimmt dabei die Funktion eines internen Kapitalmarkts, da es auf Basis von Renditeerwägungen Finanzmittel an die miteinander um diese knappen Mittel im Wettbewerb stehenden Divisionen zuteilt. Die Funktion des Kapitalmarktes wird dabei durch interne Kontroll- und Anreizmechanismen unterstützt. Weil die Leistung der Divisionen anband des Gewinnkriteriums beurteilt wird, liegen zurechenbare Einzelergebnisse für jede Division vor und der Divisionsbeitrag zum Gesamtergebnis läßt sich gut analysieren. Außerdem haben alle Leitendenaufgrund der strikten Trennung in Head Office- und Divisionsfunktionen einen psychologischen Anreiz, zum Gesamtergebnis positiv beizutragen. Im Ergebnis heißt dies, ein Zusammenschluß vieler, kleiner Unternehmen in M-Form schafft Effizienzgewinne gegenüber dem rein marktmäßigen Wettbewerb dieser Firmen. Die Behauptung einiger Revisionisten lautet nun, in quasi-internen Organisationen herrsche ebenfalls eine Organisation nach der geschilderten M-Form vor, denn in Ostasien könne die Regierung als Head Office und die Unternehmensführer als Divisionsführer betrachtet werden. In dieser Logik wäre das institutionelle Fundament des als QIO-organisierten ostasiatischen Staates überlegen. Oben wurde die revisionistische Auffassung herausgestellt, die hohe Qualität der Interventionen habe an zwei Faktoren gelegen: Erstens die eben geschilderten engen Beziehungen zwischen den Trägem politischer und wirtschaftlicher Macht und zweitens die spezifische Art des Staatsaufbaus in Ostasien als Entwicklungsstaat mit einer meritokratisch denkenden und technokratisch handelnden Elitebürokratie, welche relativ viel Freiheit bei der Politikimplementierung besaß. Die engen Beziehungen zwischen Unternehmen und Staat erlauben die Typisierung des Staates als korporatistisch. Dies ist nach revisionistischer Ansicht ein institutionelles Kernelement des ostasiatischen Entwicklungsstaates. Das andere Kernelement ist der Autoritarismus. Es wird deswegen als Autoritarismus gekennzeichnet, weil sich eine meritokratische und technokratische Elitebürokratie heranbildete, die ein für westliche Ver-

I. Die Rolle des Staates

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hältnisse hohes Ausmaß autonomer Macht besaß. Die Elitebürokratie operiert relativ unabhängig vom tagespolitischen Geschehen und genießt ein hohes Maß an Autonomie im Entscheidungsprozeß. Ihre Aufgabe ist primär, wirtschaftliche Entwicklung anzustreben und eine Politik zu entwerfen und durchzusetzen, die nur diesem Ziel dient. Aufgabe der Politik dagegen ist, die Bürokratie mit ausreichendem Manövrierraum zur Durchsetzung entwicklungsdienlicher Maßnahmen zu versehen, um das langfristige Ziel Entwicklung unbeeinflußt von kurzfristig angelegten Gruppeninteressen zu erreichen. Aufgabe der Politik ist es gleichsam, Oberziele zu formulieren, während es Aufgabe der Bürokratie ist, Maßnahmen zu entwerfen, mit denen dieses Ziel erreicht wird. Insgesamt betrachtet kann diese Aufgabentrennung von Bürokratie und Politik als "ruling and reigning (in which the politicians reign and the state bureaucrats rule) 149" bezeichnet werden. Aufgrund dieser Trennung und des einhergehenden, für westliche Verhältnisse hohen Ausmaßes an autonomer Macht in den Händen von Bürokraten wurde diese Staatsform auch als "soft authoritarianism 150" oder als ostasiatischer, kapitalistischer Entwicklungsstaat bezeichnet 151 . Diese Charakterisierung leitet zu der von vielen Revisionisten betonten Unterscheidung in schwache und starke Staaten über. Ihrer These zufolge hat nur der starke Staat "the will and power to carry out successful interventions" 152• Diese Kraft sei der Grund, warum nicht erfolgreiche Interventionen rasch wieder eingestellt worden seien, wohingegen sie im schwachen Staat in Endlossubventionen übergingen. Der schwache Staat ist nämlich einer großen Breite an Verteilungskoalitionen und so der Gefahr ausgesetzt, rent-seeking activities nachzugeben. Obwohl kein Staat im Vakuum operiert, kann der idealtypische starke Staat ein hohes Maß an relativer Autonomie hervorbringen. Er entwickelt haltbare Verbindungen mit den die Modemisierung tragenden Interessengruppen, hat die Kraft entwicklungsdienliche Interventionen vorzunehmen und ist in der Lage, Partialinteressen vom Prozeß der politischen Willensbildung auszuschließen. Aufgrund dieser Ei149 J. A. C. Mackie, Economic Growth in the ASEAN Region: The Political Underpinnings, in: Hughes, S. 283 - 326, hier S. 290. 150 Wade, Goveming the Market, S . 26. 151 Die Theorie des kapitalistischen Entwicklungsstaates beruht vor allem auf Werken von Johnson und White. Die zentralen Elemente dieser Theorie sind: 1. Ausrichtung des Staatshandeins auf ökonomischen Erfolg. 2. Hohe staatliche Investitionen in Bildung und Ausbildung. 3. Priorität von Privateigentum. 4. Führung des Marktes durch den Staat mittels ökonomischer Elitebürokratie. 5. Engagement des Staates in diversen Institutionen, die Träger eines Konsultations- und Kooperationsprozesses mit dem privaten Sektor sind, wobei dieser Prozeß einen wichtigen Teil des policy-making darstellt. 6. Aufgabentrennung von Politik und Bürokratie Ia Ruling and Reigning im obigen Sinne. Vgl. Chalmers Johnson, Introduction- TheTaiwan Model, in: J. C. Hsiung, TheTaiwan Experience 1950- 1980, New York 1981, S. 9- 18, hier S. 11 - 14; White; Mackie. 152 Grabowski, S. 413.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

genschaften kann der starke Staat eine Politik verfolgen, welche sich stärker in Übereinstimmung mit den gesamtgesellschaftlichen Interessen befindet, und es fällt ihm leichter, protektionistischen Bestrebungen zu widerstehen und so letztlich die exportorientierte Industrialisierung durchzusetzen 153 • Rodrik verweist auf die Möglichkeit der spieltheoretischen Analyse von starkem und schwachem Staat. Die Beziehung zwischen Staat und Privatsektor gleicht hier einem Spiel. Die Frage, welcher Staatstyp vorliegt, versucht er anhand der Frage, welche Gruppe sich als Stackelberg-Führer verhält, zu beantworten. "The answer yields one of two ideal types: (i) the autonomous state, where the state is the Stakkelberg Ieader; and (ii) the subordinate state, where the state is the follower" 154. Nach dieser Sichtweise kann die höhere Effizienz in Ostasien damit erklärt werden, daß der typische ostasiatische Staat im Gegensatz zu anderen Staaten in der Rolle des Stackelberg-Führers war. Fraglich geblieben ist bislang jedoch, warum es gerade in Ostasien zur Herausbildung starker Staaten kam. Migdal nennt drei Faktoren, die die Entstehung starker Staaten begünstigen. Erstens sind soziale Gemeinschaften, welche substantielle soziale Verwerfungen hinter sich gebracht haben, natürliche Kandidaten für die Herausbildung starker Staaten, da hierbei in der Regel jene kleinen Spezialinteressengruppen zerstört werden, die nach Olsons Theorie kollektiver Aktionen negativ auf den Entwicklungsprozeß wirken. Zweitens begünstigt die Existenz externer Bedrohung die Entstehung starker Staaten. Drittens schließlich begünstige die Elirnierung der in Entwicklungsländer meist machtvollen sozialen Gruppen der Landbesitzer die Entstehung starker Staaten. Auf Taiwan lassen sich diese Faktoren erstens im Verlust des chinesischen Bürgerkrieges durch die KMT, zweitens in der jahrzehntelangen Gefahr einer VR-chinesischen Okkupation sowie der deswegen erfolgten finanziellen Unterstützung durch die USA und drittens schließlich in der durchgeführten Landreform erkennen. Dies habe zur Herausbildung des starken Staates auf Taiwan maßgeblich beigetragen 155 • Dieser Sichtweise kann aber auch entgegengehalten werden, daß erstens wenig des Erwähnten von den Staaten selbst betrieben wurde, sondern daß es sich vielmehr um externe, von außen wirkende Umstände handelte, die kaum Rückschlüsse auf innen liegende Ursachen für die Entstehung starker Staaten zulassen. Zweitens impliziert obige Theorie, daß schwache Staaten die Effektivität ihrer Wirtschaftspolitik nur schwer erhöhen können. Drittens schließlich kann obige Theorie die Entstehung des Entwicklungsstaates in Japan nicht erklären, da es dort vor dem Take-Off weder zu massiven sozialen Verwerfungen kam, noch die vormals machtVgl. Chowdhury/lslam, Newly Industrialising Economies ofEast Asia, S. 47. Dani Rodrik, Political Economy and Development Policy, in: European Economic Review, Vol. 36 (April 1992), S. 329-336, hier S. 331. 155 Vgl. Joel Migdal, Strong Societies and Weak States: State-Society Relationsand State Capabilities in the Third World, Princeton 1986. 153

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I. Die Rolle des Staates

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volle Elite der Bodenbesitzer eliminiert wurde und auch keine Landreform durchgeführt wurde 156. Nachdem geschildert wurde, warum der Staat den Markt führen soll und wie dies geschieht, muß geklärt werden, in welche Richtung der Staat den Markt nach Ansicht der Revisionisten führt. Primär war hierbei die Ausrichtung sämtlichen Staatshandeins auf die Erreichung ökonomischer Entwicklung im Sinne von Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung des Sozialprodukts und Erhöhung der Produktivität. Es scheint auch von Bedeutung zu sein, daß die allokative Effizienz gegenüber der Wohlfahrtsteigerung deutliche Priorität genoß. Die UNCTAD merkt dazu an: "The primary purpose was to promote the interests of the business sector as a whole and - most important - to do so by creating new wealth through capital accumulation and productivity improvement rather than by redistributing"I57. Die Analyse der aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Theoriezweigen kommenden revisionistischen Schule kann wie folgt zusarnmengefaßt werden 158: 1. Der überlegene wirtschaftliche Erfolg in Ostasien beruhte auf einer Kombinati-

on aus: a) Sehr hohen produktiven Investitionen, wodurch neue Technologien schnelleren Eingang in den Produktionsprozeß fanden. b) Höheren Investitionen in. strategischen Schlüsselindustrien, als ohne Regierungsinterventionen getätigt worden wären. c) Der Ausrichtung vieler Industriebranchen auf die Erlangung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit "in foreign markets, if not at home" 159, also der expliziten Ausrichtung der gesamten Entwicklungsstrategie auf die Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf Basis wohlüberlegt geschaffener komparativer Vorteile. 2. Die eben geschilderte Ursachenkombination selbst ist Ergebnis der Besonderheiten der Wirtschaftspolitik. So weit wie möglich wurde der Markt als Allokationsmechanismus genutzt und komplementär hierzu aktiv eine weitsichtige, dialogbasierte und selektive Strukturpolitik betrieben, die um selektive Importprotektion und Exportförderung ergänzt wurde. Spezifische Ameiz- und Kontrollmechanismen sowie die Sozialisierung bestimmter Investitionsrisiken dienten dabei als Steuerrnechanismen. Insgesamt gelang es dem Staat hierdurch, den Markt so zu führen und die Ressourcenallokation so zu steuern, daß sich Vgl. Grabowski, S. 415 f. Vgl. UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 50. 158 Vgl. hierzu Hillebrand, S. 60 -75; Wade, Governing the Market, S. 24 ff. und S. 297344; Moreira, S. 10 ff.; Chowdhuryllslam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 48; Mackie; Grabowski. 159 Wade, Governing the Market, S. 26. 156 157

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

vorteilhaftere Produktions- und Investitionsresultate einstellten, als dies bei einem laissez faire Ansatz der Fall gewesen wäre. Der Staat mühte sich dabei stets, an der Spitze der Entwicklung zu stehen und nicht ihr hinterher zu laufen ("leadership versus followership" 160). Außerdem griff der Staat meist in signifikanter Größenordnung ein, d. h. wenn er eingriff, dann war dies auch spürbar ("big versus smallleadership"). Die Interventionen nahmen aus mehreren Gründen nicht überhand: Erstens sind die spezifischen Kooperations- und Konsultationsformen zwischen Unternehmen und Staat und zweitens ist die korporatistische und autoritäre Organisationsform des Staates betont worden. Drittens wirkten bei der Vermeidung ,unproduktiver' Interventionen unabhängig von der Staatsform zwei Effekte der Weltmarktorientierung. Denn es entsteht ein umso größerer Disziplinierungseffekt auf den Staat, je offener eine Volkswirtschaft ist, da die selektiven Eingriffe dann umso stärker an den internationalen Faktorpreisrelationen ausgerichtet sein müssen. Außerdem wird das zu korrigierende Marktversagen mit zunehmender Offenheit offensichtlicher und dadurch einfacher erkennbar, die Korrektur kann infolgedessen mit geringeren Fehlerquoten erfolgen 161 • 3. Die Staatseingriffe waren positiv, da ihr längerfristiger Einsatz an ökonomische Erfolgskriterien gekoppelt war und vor allem da sie pragmatisch eingesetzt wurden. Sobald erkannt wurde, daß eine bestimmte Intervention mehr hinderlich als förderlich war oder dies im Zeitablauf wurde, stellte man sie ein. Diese pragmatische Haltung wurde durch die spezifische Organisation des Zusammenwirkens von Staat und Privatsektor, in welcher der Staat die Rolle des StackelbergFührers hatte, begünstigt162• Der Staatstyp kann als korporatistischer, autoritärer Entwicklungsstaat gekennzeichnet werden 163• Es gelingt einem solchen ,starken' Staat leichter, breite Übereinstimmung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen bezüglich der während des strukturellen Wandels auf dem Entwicklungspfad jeweils einzuschlagenden Richtung herzustellen 164. Hierzu trug die institutionalisierte Konsultation und Kooperation (Netzwerke) von Unternehmen und Regierung sowie die vertrauensvolle, enge Kooperation beider Gruppen im "policy-making process" 165 in besonderem Maße bei. 4. Hilfreich war auch die Existenz einer technokratischen Elitebürokratie, welche mit ausreichend Macht ausgestattet war, um für entwicklungsdienlich gehaltene Maßnahmen umzusetzen und die vom tagespolitischen Geschehen weit genug isoliert war, um ausschließlich das langfristig zu erreichende Ziel Entwicklung zu verfolgen. Auch die Orientierung der technokratischen Elite an externen Re160 161 162 163 164

165

Vgl. Wade, Governing the Market, S. 28 f. Vgl. Moreira, S. 10 ff. Vgl. Rodrik, Political Economy and Development Policy. Vgl. Wade, Governing the Market, S. 27. Vgl. Hillebrand, S. 66. Vgl. Chowdhury/ Islam, Newly Industrialising Economies of East Asia, S. 48.

I. Die Rolle des Staates

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ferenzländern (benchmarking) trug zum Erfolg bei. So orientierten sich beispielsweise die bürokratischen Eliten Taiwans und Südkoreas aneinander, um so den Stand und die Lösungen des Konkurrenten zu erfahren. Darüber hinaus orientierten sie sich auch an den Lösungen, welche Japan unternommen hatte, als es auf dem entsprechenden Entwicklungsstand war. Die Orientierung der technokratischen Elitebürokratie an einem externen Referenzland als ökonomischem Vorbild ist nicht zu unterschätzen, da Wirtschaftspolitik nicht abstrakt (neu) entworfen werden mußte, sondern im Prozeß nachholender Entwicklung einem Vorbild nachempfunden werden konnte. Insofern gilt: "Japan has been their textbook" 166• 5. Die stabilen makroökonomischen Rahmenbedingungen und insbesondere die auf Inflationsvermeidung ausgerichtete Geld- und Finanzpolitik unterstützten den Entwicklungsprozeß, indem sie im In- und Ausland für das nötige Vertrauen in die positive Entwicklung sorgten.

4. Ein Kompromiß? Die Analyse der Rolle des ostasiatischen Staates durch die Weltbank Zu Beginn der neunziger Jahre schien die revisionistische Sicht die Oberhand im theoretischen Diskurs zu gewinnen. Eine erneute Wendung sollte die Debatte um die Ursachen des ostasiatischen Wachstumswunders durch den Weltentwicklungsbericht der Weltbank von 1991 erhalten. Hervorzuheben ist insbesondere der Sonderbericht der Weltbank von 1993 zum East Asian Miracle, der bezeichnenderweise auf ausdrücklichen Wunsch und mit starker finanzieller Unterstützung der japanischen Regierung erstellt wurde. Der Sonderbericht untersucht acht erfolgreiche Ökonomien in Ostasien, welche als High Performing East Asian Economies (HPAEs) bezeichnet werden. Es handelt sich um Japan, Taiwan, Südkorea, Singapur, Hongkong, Malaysia, Indonesien und Thailand. Der Kreis der üblicherweise untersuchten Volkswirtschaften wurde damit um Malaysia, Indonesien und Thailand erweitert, welche alle im Verlauf der achtziger Jahre ein hohes Entwicklungstempo vorgelegt hatten, Die Weltbank unterteilt die HPAEs in a) den Vorreiter Japan; b) die Vier Tiger Taiwan, Südkorea, Singapur und Hongkong; und c) die Newly Industrializing Economies (NIEs) Malaysia, Indonesien und Thailand 167 . Unterteilt werden die HPAEs nach ihrer geographischen Lage in nordostasiatische und südostasiatische HPAEs, wobei Japan und die Vier Tiger zu Nordostasiens gehören und Malaysia, lndonesien und Thailand die südostasiatischen HPAEs bilden. Diese Unterteilung ist nicht nur geographisch zu interpretieren, da

166 167

Wade, Governing the Market, S. 334. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. XVI.

8 Fronius

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

sich die spezifischen Politikmuster der süd- und nordostasiatischen HPAEs deutlich unterscheiden. In der Regel intervenierten die nördlichen HPAEs selektiver und häufiger, während die südlichen sich mehr am laissez faire orientierten. Die Weltbank führt dies darauf zurück, daß die institutionellen Voraussetzungen in Nord-Ostasien zur Durchsetzung ausschließlich an Leistung orientierter Interventionen und so zur Vermeidung von rent seeking activities größer wat Außerdem vollzog sich die Entwicklung in Süd-Ostasien erst ab Beginn der achtziger Jahre, während dies in Nord-Ostasien bereits ab den Sechzigern der Fall war. Die dargestellte Unterscheidung ist aus zwei Gründen erwähnenswert: Erstens betont die Weltbank, daß neben der Suche nach den Ursachen des Wachstums und den wachstumsfördernden institutionellen Voraussetzungen immer auch die Randund Nebenbedingungen, in denen sich das Wachstum vollzog, beachtet werden müssen. Eine solche Randbedingung ist das weltwirtschaftliche Umfeld. Wahrend dies zu der Zeit, in der die stärker intervenierenden Staaten Nord-Ostasiens den wirtschaftlichen Durchbruch vollziehen konnten, noch vom Geiste der Handelsliberalisierung geprägt war und allgemein als wachstumsfreundliches Umfeld gekennzeichnet werden kann, gilt dies für die Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs in Süd-Ostasien nicht mehr. Hier sind es die stärker protektionistisch geprägten achtziger Jahre, die durch langsames Wachstum und zunehmende Arbeitslosigkeit in den alten Industrieländern bestimmt waren. Daraus zieht die Weltbank den Schluß, der Weg Nord-Ostasiens, welcher dem Staat mehr Aufgaben während des Entwicklungsprozesses zuwies, sei in einem Wachstums-, nicht aber in einem Protektionsumfeld gangbar gewesen. Daher sollten sich andere, jetzt noch nicht entwickelte Länder eher an der südostasiatischen Politik orientieren, die dem Staat ähnlich wie die Neoklassiker wenig Raum zuwies 168• Die HPAEs sind gekennzeichnet durch schnelles Exportwachstum, schnelles Sozialproduktwachstum, relativ gleichmäßige Einkommensverteilung, deutlich zunehmende Wohlfahrt, schnellen demographischen Wandel, Nachlassen der absoluten Armut und anderen Indikatoren wie steigender Bildungsgrad sowie bessere Versorgung mit Wasser und Strom 169 . Die HPAEs unterscheiden sich von anderen Entwicklungsländern darüber hinaus bezüglich der im Wachstumsprozeß wichtigen Faktoren Akkumulation, Allokation und Produktivitätswachstum. Bezüglich der Akkumulation stellt die Weltbank besonders die hohen Investitionsraten, die im Zeitraum 1960-90 durchschnittlich über 20% betrugen und hierbei insbesondere den hohen Anteil privater Investitionen heraus, wodurch im Ergebnis die Ausstattung mit physischem Kapital in den HPAEs überdurchschnittlich wuchs. Zur Allokation ist anzumerken, daß die Bildungspolitik in den HPAEs den Schwerpunkt darauf legte, den Zugang zum primären und sekundären Bildungssektor einer möglichst großen Bevölkerungsanzahl zu ermöglichen, was eine hohe und stetig zunehmende Ausstattung an Humankapital 168 169

Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 7 f. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 3 ff.

I. Die Rolle des Staates

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zur Folge hatte und im Ergebnis für eine verbesserte Produktivität sorgte. Die Faktoren Akkumulation und Allokation zusammen genommen erklären nach Ansicht der Weltbank rund zwei Drittel des Erfolges in den HPAEs. Das letzte Drittel des Erfolges schließlich wird durch die Erhöhung der Totalen Faktorproduktivität (TFP) erklärt, welche wesentlich schneller als in anderen Entwicklungsländern vonstatten ging. Das überlegene Produktivitätswachstum läßt sich der Weltbank zufolge auf den ungewöhnlichen Erfolg bei der Allokation von Kapital in volkswirtschaftlich hochrentierliehe Investitionsobjekte in Verbindung mit der technologischen Aufholjagd auf die Industrieländer zurückführen 170• Die Analyse der gemeinsamen Charakteristika der HPAEs wird weithin auch von Neoklassikern und Revisionisten geteilt. Die Neoklassiker betonten primär die Rolle des Marktes im Entwicklungsprozeß, die Revisionisten hoben die Rolle des Staates hervor und die Weltbank entwickelte im Weltentwicklungsbericht von 1991 eine später als market friendly view bezeichnete Sichtweise, die dem Staat eine eher geringe Rolle zuweist 171 • Die Conclusio des Weltentwicklungsberichtes von 1991 kann denn auch so gezogen werden: " .. rapid growth is associated with effective but carefully de-limited government activism" 172. "In the marketfriendly strategy ... governments need to do less in those areas where markets work, [and] need to do more in those areas where markets cannot be relied upon" 173 . Diese Bereiche, in denen Marktversagen vorliegt, erkennt der Weltentwicklungsbericht von 1991 in den vier Bereichen der Sicherstellung adäquater Investitionen in Humankapital, der Bereitstellung einer wettbewerbsfreundlichen Umgebung für den privaten Sektor, der Offenheit im Außenhandelsbereich und dem stabilen makroökonomischen Rahmen. Der überlegene Entwicklungserfolg Ostasiens liegt dieser Sicht zufolge in der Erkenntnis der Regierungen begründet, daß Politik nicht nur in einem der vier Bereiche effizient betrieben werden muß, sondern daß wegen der Existenz von Rückkopplungseffekten die Politik in allen diesen Bereichen über einen längeren Zeitraum konsequent und effizient betrieben werden muß, um ökonomische Erfolge zu erzielen. Vgl. Weltbank, Bast Asian Miracle, S. 8. Für die neoklassische Sicht steht Wolf: "[lt is] a striking fact that the few relatively successful developing [economies] ... have greatly benefited from decisions and policies that limit government's role in economic decision, and instead allow markets ... to exercise a decisive role in determining resource allocation." Charles Wolf, Markets or Governments: Choosing between Imperfect Alternatives, Carnbridge, Mass. 1988, S. 27. Einfügung durch den Verfasser. Für die revisionistische Sicht steht Amsden: "Economic expansion depends on state intervention to create price distortions that direct economic activity toward greater investment." Amsden, Asia's next giant, S. 14. Zum market friendly view siehe Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1991 und Weltbank, Bast Asian Miracle, S. 84 ff., insbesondere Box 2.1. 172 Weltbank, Bast Asian Miracle, S. 84. 173 Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1991, S. 9. Einfügung und Hervorhebung durch den Verfasser. 170 171

s•

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

Kritisch einzuwenden ist, daß auch die Neoklassik obige vier Bereiche traditionell eher dem Staat zurechnet und der Erklärungsansatz der Weltbank insofern keine neue Erkenntnis darstellt. Auch die Empfehlung des market friendly view, der Staat solle sich auf "effective but carefully de-limited government activism" 174 beschränken, stellt kein Novum dar. Es wird deutlich, daß der market friendly view eine moderat neoklassische Sicht ist. In dem Sonderbericht der Weltbank zum East Asian Mirade wurde dann eine neue Position bezogen. Die Weltbank konstatierte, die HPAEs hätten den Wachstumspfad auf unterschiedlichen Wegen erreicht. Um diese zu verstehen, entwikkelte die Weltbank einen Erklärungsansatz, mit dem ermöglicht werden sollte, eine kausale Verbindung zwischen schnellem Wachstum und den oben genannten drei Wachstumsdeterminanten zu zeigen. Politik und Strategien müssen in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation an die herrschenden Umstände angepaßt werden. Nach Ansicht der Weltbank sollte Politik aber in jedem Falle Sorge dafür tragen, daß die makroökonomische Stabilität aufrechterhalten wird und die drei zentralen Determinanten des Wachstums (Akkumulation, effiziente Allokation sowie Produktivitätswachstum) als Ziel fokussiert werden. Die Weltbank schreibt: " ..policies, like tactics, can and should vary depending on the situation, while the central functions, which are crucial to development, must always be adressed" 175 . Die Adressierung der zentralen Wachstumsdeterminanten gelang in allen HPAEs. Die HPAEs erreichten dies mit unterschiedlichen Politikkombinationen, "ranging from market-oriented to state-led" 176, wobei sich die Kombinationen von Land zu Land unterschieden und an die jeweiligen Erfordernisse der Zeit angepaßt wurden. Politik wurde in den HPAEs also nicht statisch, sondern äußerst pragmatisch und flexibel betrieben 177 • Das Besondere der in den HPAEs betriebenen Politik war nach Ansicht der Weltbank, daß der Politikmix sowohl Ordnungspolitik, als auch selektive Interventionen enthielt 178• Ordnungspolitik wurde bisher im Zusammenhang mit der neoklassischen Sichtweise propagiert. Sechs Punkte hält die Weltbank für zentral: Erstens die Erreichung makroökonomischer Stabilität, zweitens hohe Investitionen in Humankapital, drittens die Schaffung eines stabilen und sicheren Finanzsystems, viertens die Erzielung eines Minimums an Preisverzerrungen, fünftens die Offenheit gegenüber Außenhandel und fremder Technologie und sechstens schließlich eine Agrarpolitik, welche die Entwicklung im ländlichen Raum sektoral unterstützt. Diese fundamentalen ordnungspolitischen Prinzipien beeinflussen das Erreichen des Wachstumszieles primär durch den marktorientierten Wettbewerbsmechanismus. Drei von ihnen - makroökonomische Stabilität, geringe Preisverzerrungen und ein ef174 175 176 111

178

Weltbank, East Asian Miracle, S. 84. Weltbank, East Asian Miracle, S. 86. Weltbank, East Asian Miracle, S. 10. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, Kap. 3. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 87 ff.

I. Die Rolle des Staates

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fektives Finanzsystem - erhöhen die Effizienz des Marktes bei der Allokation. Zwei von ihnen - Investitionen in Humankapital und Offenheit gegenüber ausländischer Technologie - benötigen effiziente Märkte, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können. Die Entwicklung des ländlichen Raumes unterstützt die relativ egalitäre Einkommensverteilung. Selektive Interventionen sind weiter oben im Zusammenhang mit der revisionistischen Sichtweise vorgestellt worden. Die Weltbank zählt hierzu milde finanzielle Repression, d. h. das Drücken des Zinssatzes unter das Marktniveau, doch nicht auf ein negatives Realzinsniveau. Im direkten Zusammenhang damit steht die Kreditdirigierung in gewünschte Aktivitäten und Sektoren. Weiterhin wird die selektive Industriepolitik und die Handelspolitik angeführt, welche nicht-traditionelle Exporte fördert und unterstützt. In Einzelfällen ist es Ziel der selektiven Interventionen, den Markt zu führen oder ihn sogar zu umgehen 179. In den meisten Fällen jedoch ist die Behebung von Fehlern in der Marktfunktion die Richtschnur der selektiven Interventionen. Wird Marktversagen behoben, ist dafür gesorgt, daß Märkte ihre Allokationsfunktion effizienter ausüben. Wird ein anderes Ziel zu erreichen versucht, wird die allokative Effizienz nicht erhöht. Die Weltbank betont, daß in der Regel Fehler in der Marktfunktion korrigiert worden und somit die allokative Effizienz zunimmt. Dabei sind es meist die für Entwicklungsländer typischen Koordinationsmängel (unterentwickelter Kapitalmarkt, Economies of Scale usw.), welche behoben werden sollen. Vor allem aber hebt die Weltbank heraus, daß die Behebung von Koordinationsmängeln in den HPAEs durch zwei Spezifika charakterisiert wird. Erstens wird kooperatives Verhalten innerhalb des privaten Sektors angeregt. Kooperation und Wettbewerb werden oft als Gegensätze angesehen, vor allem dann, wenn Kooperation zwischen Unternehmen zur Bildung von Monopolen oder zu rent seeking activities führt. Beides konnte in den HPAEs dadurch weitgehend vennieden werden, daß sich die Politik anband klarer, am Erfolg oder Mißerfolg ausgerichteter Kriterien orientierte. Effiziente Allokation stellt sich durch Wettbewerbsprozesse ein und in den meisten Ökonomien findet dieser Wettbewerbsprozeß ausschließlich auf dem Markt statt. Die HPAEs schufen darüber hinaus komplementäre Wettbewerbsprozesse auf der Basis sogenannter Contests 180• Diese waren so beschaffen, daß sie die Vorteile des Wettbewerbs mit denen der Kooperation als Allokationsmechanismus verbanden. Die Kooperation selbst fand sowohl innerhalb des privaten Sektors als auch zwischen privatem Sektor und Staat statt, d. h. die Beobachtung des Wettstreits fand nicht nur durch die Aufsichtsbehörden, sondern auch durch die Mitbewerber statt. Unter Contests versteht die Weltbank eine breite Palette an Maßnahmen 181 • Hierzu zählt der Wettstreit auf Basis eher simpler, nicht an den Marktmechanismus 179 180 181

Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 90. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 93 ff. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, Tab. 2.2 aufS. 95 f.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

gekoppelter Allokationsregeln - zum Beispiel die Rationierung von Kapital und Devisen und die Gewährung von präferentiellem Zugang zu Kapital und Devisen für Exporteure. Zu diesen Contests zählen auch die teilweise hochkomplexen Verfahren zur Allokation privater Investitionen. Zentral an jedem Wettstreit ist die Aussicht auf Belohnung im Falle eines Sieges, d. h. zentral an den Contests war das Versprechen der Regierung, den Sieger zu belohnen. Dies bestand oft in der Aussicht auf präferentiellen Zugang zum Devisen- und Kapitalmarkt. Nach Ansicht der Weltbank ist dies ein zentraler Punkt, weil auch in Contests letztlich das Wettbewerbsprinzip herrscht. Weil ein dem Marktmechanismus analoges Prinzip verfolgt wurde, konnten Ausmaß und Richtung der selektiven Interventionen diszipliniert werden, und deshalb bot die Einführung nicht-marktorientierter Allokationsmechanismen Aussicht auf Erhöhung der allokativen Effizienz. Daher betont die Weltbank: "To succeed, selective interventions must be disciplined by competition via either markets or contests" 182 . Neben der Aussicht auf Belohnung gehört zur Nachbildung dem Markt analoger Mechanismen ein aus dem Leistungssport bekanntes System. Hier hat jeder Wettstreit Regeln sowie kompetente und unabhängige Schiedsrichter, welche diese durchsetzen. Ein ökonomischer Wettstreit unterscheidet sich hiervon nicht. Gerade wenn ein ökonomischer Wettstreit, der den Markt umgeht, als Allokationsmechanismus genutzt wird, müssen die Regeln eindeutig und die Schiedsrichter unabhängig sein, um das Aufkeimen von rent seeking activities vermeiden zu können - es bedarf also starker Institutionen 183 • Daher ist ein hochqualifizierter und gut ausgebildeter bürokratischer Apparat, der die geistige Kapazität und die notwendigen technischen Hilfsmittel besitzt, um die Performanz der Unternehmen zu verfolgen, von zentraler Bedeutung. Ebenso zentral ist der Weltbank zufolge, daß der bürokratische Apparat von tagespolitischen Einflüssen befreit ist. Gleichzeitig wird durch das Vorhandensein eines gut ausgebildeten bürokratischen Apparates auch die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, eine Politik zu entwerfen und zu implementieren, die nicht auf Contests basiert, sondern durch den Markt umgesetzt wird, erhöht. In der Summe kann, der Weltbank folgend, 'gesagt werden, daß es mittels komplementär zum marktmäßigen Wettbewerbsmechanismus eingesetzter contest-based competition gelingt, die Vorteile aus Wettbewerb und Kooperation miteinander zu verbinden 184. Nach Ansicht der Weltbank war auch wichtig, daß sich die Politik der HPAEs nicht am Ziel der Erreichung der drei Funktionen des Wachstums Akkumulation, effiziente Allokation und rascher technologischer Wandel selbst orientierte, sondern daß die Politik geeignete Zielindikatoren zu erreichen suchte. Die drei FunkWeltbank, East Asian Miracle, S. 11. Zur Rolle der Belohnungserwartung, der Regeln, der Schiedsrichter und zu den Grenzen des Einsatzes von Contes! based competition siehe Weltbank, East Asian Miracle, S. 93 103. 184 Weltbank, East Asian Miracle, S. 93. 182 183

I. Die Rolle des Staates

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tionen selbst zu erreichen und vor allem zu messen, welche Politik zu ihrer Erreichung beiträgt, ist ein äußerst komplexes Unterfangen. Einfacher ist es, geeignete Indikatoren zu formulieren, bei denen Erfolg direkt meßbar ist und bei denen man eine positive Wirkung für das Wirtschaftswachstum annimmt. So läßt sich eine Steigerung der Exporte, makroökonomische Stabilität oder eine niedrige Inflationsrate direkt messen und man weiß, daß diese Daten positiv mit wirtschaftlichem Wachstum verbunden sind. Die Sicherung makroökonomischer Stabilität und die Erreichung der drei Determinanten des Wachstums erfolgte auf Iänder- und zeitabhängigen Wegen. Trotz länderspezifisch unterschiedlicher Politiken jedoch ist allen HPAEs gemein, daß sie fähig und willens waren, Politiken, welche sich als nicht hilfreich im Entwicklungsprozeß erwiesen hatten, pragmatisch einzustellen bzw. erfolgreiche Politiken immer aufs neue an sich verändernde Umstände pragmatisch anzupassen. "Pragmatic flexibility in the pursuit of such objectives - the capacity and willingness to change such policies - is as much a hallmark of the HPAEs as any single policy instrument" 185 . Diese Fähigkeit der Regierungen, den Entwicklungsprozeß zu steuern, wird im englischsprachigen Raum als governance bezeichnet. ,;Govemance is the manner in which power is exercised in the management of a country's economic social resources for development'" 86 Good governance ist entsprechend ein Synonym für das gelungene Management des Entwicklungsprozesses, wobei die institutionelle Kapazität einer Volkswirtschaft entscheidend ist. Deshalb können in den Augen der Weltbank die Gründe des Scheiteros in sich richtiger Konzepte und Maßnahmen oft an einer mangelhaften Umsetzung der Konzepte durch den bürokratischen Apparat liegen. Anders gewendet müssen die Gründe des Scheiteros oftmals in qualitativ minderwertiger Regierungsfähigkeit (bad governance) gesehen werden. Governance ist somit ein wichtiger komplementärer Faktor zu "sound economic policies" 187 • Die institutionelle Kapazität einer Volkswirtschaft entwickelt sich nicht aus dem Nichts. Die Weltbank betont: "There is no certainty that institutional frameworks conducive to growth and poverty alleviation will evolve on their own. The emergence of such frameworks needs incentives, and adequate institutional capacity to create and sustain them" 188 • Es stellt sich also die Frage, wie es die HPAEs vermochten, jene wachstumsfördernde institutionelle Kapazität herauszubilden. Nach Ansicht der Weltbank ist dies nur zum geringen Teil auf die Existenz patemalistischer Diktatoren zurückzuführen. Diese developmental state theory neigt Weltbank, East Asian Miracle, S. 12. The International Bankfor Reconstruction and Development/The World Bank, Governance and Deve1opment, Washington 1992, S. 1. 187 Weltbank, Govemance and Deve1opment, S. 1. 188 Weltbank, Govemance and Development, S. 1. 185

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in den Augen der Weltbank zur Überbetonung der Rolle der von tagespolitischen Einflüssen abgeschirmten Bürokratie. Zwar konzediert auch die Weltbank, die Existenz einer nicht korrupten, meritokratischen Elitebürokratie sei bedeutend gewesen, wichtiger waren ihrer Sichtweise nach aber die Bildung von Wachstumskoalitionen unter Einbeziehung bislang nicht zur Elite gehöriger sozialer Gruppen sowie die Etablierung enger Netzwerke zwischen Staat und privatem Sektor189• Anders als die politischen Führer in anderen Entwicklungsländern erkannten die Führer der HPAEs, daß wirtschaftliche Entwicklung ohne Kooperation schwer möglich ist. Die Bildung von Wachstumskoalitionen rührt nach Ansicht der Weltbank aus den historischen Erfahrungen einiger HPAEs, oder allgemein gesprochen aus dem innenpolitischen Legitimationsdruck der Regierungen, also dem Machtabsicherungsmotiv. Um die politische Legitimation und die breite Unterstützung des Volkes zu gewinnen, etablierten die politischen Führer in fast allen HPAEs das "principle of shared growth" 190• Kern dieses Prinzips ist das Versprechen, daß, wenn sich wirtschaftliches Wachstum einstellt, alle sozialen Gruppen an diesem partizipieren werden. Die Umsetzung brachte indes komplexe Koordinierungsprobleme hervor. Erstens mußten die wirtschaftlichen Eliten davon überzeugt werden, wachstumsfördende Politiken zu unterstützen. Zweitens mußten die wirtschaftlichen Eliten davon überzeugt werden, die Wachstumsgewinne mit der Mittelschicht und den ärmeren Bevölkerungsschichten zu teilen. Drittens schließlich mußte der Mittelschicht und den armen Teilen der Bevölkerung glaubhaft vermittelt werden, daß die Wachstumsgewinne tatsächlich auch mit ihnen geteilt werden und auch sie davon profitieren. Alle Teile der Bevölkerung mußten also von der Glaubwürdigkeit der growth cum equity Strategie überzeugt werden. Die Mechanismen, welche zeigen sollten, daß alle von wachstumsorientierter Politik profitieren würden, unterscheiden sich von HPAE zu HPAE. In Korea und Taiwan wurden Landreformen durchgeführt. In lndonesien wurden spezifische Preispolitiken bei Reis und Düngemitteln benutzt, um das Einkommen der ländlichen Bevölkerung anzuheben. Malaysia führte explizite Umverteilungsprograrnme durch, um die einheimische Bevölkerung gegenüber den ansässigen Auslandschinesen anzuheben. In vielen Ländern unterstützte die Regierung zusätzlich die Bildung von Genossenschaften im ländlichen Raum und führte Programme zur Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen ein. Welche Form auch immer die Unterstützung annahm, sie half, allen gesellschaftlichen Akteuren deutlich zu versichern, daß die Regierung tatsächlich alle Beteiligten an den Erfolgen der ProWachstums-Politik beteiligte. Um Koordinierungsprobleme zu lösen, benötigten die HPAEs Institutionen und Mechanismen, die sichern sollten, daß wirklich alle im Wettbewerb stehenden

189

190

Vgl. Weltbank, East Asian Mirac1e, S. 13 ff. und S. 352 f. sowie S. 167- 180. Weltbank, East Asian Miracle, S. 13.

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Gruppen profitieren. Dies geschah nach Ansicht der Weltbank erstens durch den Aufbau einer kompetenten und wenig korrupten technokratischen Elitebürokratie, welche unabhängig von tagespolitischen Einflüssen war. Zweitens wurde dies durch Gesetze und Regelwerke, welche private Investitionen förderten, unterstützt. Drittens kam es in den HPAEs mit unterschiedlichem Erfolg zu Versuchen, die Kommunikation zwischen Unternehmergruppen und der Regierung zu verbessern. Generell gilt: "In institutional development as in economic policymaking, East Asian governments have changed with changing circumstances" 191 . Die im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern gute Ausstattung der HPAEs mit Institutionen führte dazu, daß sich die Staaten bei der Akkumulation von Human- und physischem Kapital neben fundamentalen Politiken auch interventionistischer Mittel bedienen konnten. Zu den fundamentalen Politiken zählt die Bereitstellung von Infrastruktur, Bildung und Sicherheit wie Stabilität im finanziellen Sektor der Ökonomie. Zu den Interventionen zählen u. a. milde finanzielle Repression der Zinssätze, die Sozialisierung bestimmter Risiken, die Gründung von teilweise bedeutenden öffentlichen Unternehmen sowie spezielle Programme zum Anreiz des privaten Sparens in regierungsnahen Genossenschaftsbanken und Postsparkassen. Im Bereich des Humankapitals waren die HPAEs bereits zur Zeit der Dekaionisierung anderen Entwicklungsländern weit voraus und konnten ihren Vorsprung beständig ausbauen. Die Weltbank führt dies auf gelungene Bildungspolitik zurück, welche den Fokus zunächst auf die Gewährleistung der Primärausbildung eines möglichst großen Teiles der Bevölkerung legte. Später fokussierte man auch den Sekundären Bereich des Bildungswesens. Auch hier galt als Leitsatz wieder, daß eine möglichst breite Masse höher gebildet werden sollte. Beim Erreichen des Zieles ,Bildung für Alle' half der rasche demographische Übergang, weil mit konstanten Ressourcen ein höherer Prozentsatz der zu Bildenden erreicht werden konnte. Die begrenzten finanziellen Mittel des Staates wurden im Bereich sekundärer Bildung auf die technischen Bereiche gelenkt. Hierdurch wurden die technologischen Imitationsprozesse unterstützt. Insgesamt betrachtet, hatte diese Bildungspolitik für die growth cum equity Strategie die Implikation, daß eine egalitäre Einkommensverteilung abermals beschleunigt und den Wirtschaftssubjekten erneut verdeutlicht wurde, daß alle am Wachstumsprozeß partizipieren würden. Die Weltbank spricht hier von einem "virtuous circle" 192• Ihrer Ansicht zufolge legte die Ausgangssituation der relativ gleichmäßigen Verteilung von Bildung und Einkommen den Grundstein. Einkommens- und Bildungsniveau waren relativ gleich verteilt, doch auf niedriger Basis. Dies führte zur Erhöhung der Bildungsanstrengungen, wodurch die ursprüngliche Gleichverteilung verstärkt wurde. Darüber hinaus lobt die Weltbank die Fokussierung des staatlichen Engagements auf den primären und sekundären Bildungsbereich. Die Finanzierung der tertiären Ausbildung 191 192

Weltbank, East Asian Miracle, S. 15. Weltbank, East Asian Miracle, S. 15.

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war jedoch den Privaten überlassen. Dadurch konnte der Staat seine Mittel gezielter einsetzen und zwar so, daß eine derart große Anzahl an Menschen mit Bildung versorgt wurde, wie es bei einer Konzentration auf Tertiärbildung nicht hätte erreicht werden können 193 . Die hohen Sparquoten und in deren Gefolge die hohen Investitionsraten erklärt die Weltbank mit zwei Faktoren. Erstens trug die Vermeidung von Inflation wesentlich dazu bei, starke Fluktuationen der Realzinsen, welche überdies meist positiv waren, zu vermeiden. Im Ergebnis konnten die HPAEs Kapitalanlegern höhere Realzinsen als andere Entwicklungsländer bieten. Zweitens sorgte nach Weltbankansicht ein strenges Bankenaufsichtssystem dafür, daß Banken auch für Kleinstsparer im ländlichen Raum attraktiv wurden 194. Hierzu trug ebenfalls die flächendeckende Verbreitung des Postsparkassensystems bei. Durch die weite Verbreitung wurden insbesondere im ländlichen Raum Transaktionskosten verringert und den Einlegern durch die Nähe zwischen Einzahlern und Verwaltenden ein Gefühl der Sicherheit vennittelt. Einige Staaten griffen direkter in die Ersparnisbildung ein. So ist Taiwan z. B. für seine Budgetüberschüsse bekannt. Außerdem können hier die beim Konsum von Luxusgütern erhobenen Sondersteuern genannt werden. Die Weltbank betont, es sei eine offene Frage, ob diese Maßnahmen die Wohlfahrt der betroffenen Länder erhöht habe 195 . Zu den hohen Investitionsraten führt die Weltbank aus, daß die HPAEs erstens das Kapital besser als andere Entwicklungsländer alloziierten, indem sie eine öffentliche Infrastruktur schufen, welche sich komplementär zu den privaten Investitionen verhielt. Zweitens wurde durch eine Kombination aus der Steuerpolitik, welche Investitionen mit Abschreibungen belohnte und der Vermeidung hoher Zölle auf importierte Kapitalgüter ein unternehmerfreundliches Klima geschaffen, welches Investitionen in starkem Maße anregte. Drittens wurden die Zinssätze oft unter das Marktniveau gedrückt. Es ist jedoch umstritten, ob diese Praxis investitionsfördernde Wirkung zeigte. Viertens trug die Sozialisierung bestimmter Investitionsrisiken insbesondere in Nord-Ostasien zur Erhöhung der Investitionsneigung des privaten Sektors bei. In einigen Staaten war die Regierung unmittelbar Eigentümer der kreditgebenden Banken. In anderen HPAEs lenkte die Regierung Kapital in ausgesuchte Investitionsobjekte durch die explizite Übernahme von Bürgschaften oder Garantien für das ausgeliehene Kapital. Die Untersuchung der Weltbank endet damit, daß Schlüsse aus dem Erfolg der HPAEs für andere, nachfolgende Entwicklungsländer gezogen werden. Die Weltbank erkennt die Ursachen des Aufschwungs einerseits in der Verfolgung fundaWeltbank, East Asian Miracle, S. 16. Daß dies zumindest in der zweiten Hälfte der 90er Jahre nicht mehr für alle HPAEs gilt, wissen wir seit der Asienkrise. 195 Weltbank, East Asian Miracle, S. 16 f. 193 194

I. Die Rolle des Staates

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mentaler Ordnungspolitik Hohe Sparraten, gute Humankapitalbasis, nahezu perfektes Makromanagement und die Begrenzung der Preisdistorsionen bildeten nach Ansicht der Weltbank die Basis des übermäßigen Wachstums in den HPAEs. Unterstützt wurde dies durch den dank Offenheit gegenüber fremder Technologie raschen technologischen Aufholprozeß. Öffentliche Investitionen wurden komplementär zu privaten Investitionen eingesetzt und auf die Steigerung von Exporten ausgerichtet. Der letzte Punkt, den die Weltbank zu den fundamentalen Politiken zählt, ist die Bildungspolitik. Diese fokussierte die Heranbildung einer möglichst breiten Masse gutausgebildeter Menschen und zwar insbesondere auf dem technischen Sektor. Darüber hinaus erkennt die Weltbank auch einige interventionistische Politiken als wachstumsfördernd an. Sie stellt jedoch heraus, daß die wachstumsfördernde Wirkung nur deshalb entstand, weil erstens die interventionistischen Eingriffe in sehr engen Grenzen gehalten wurden und man sich zweitens weitgehend an den internationalen Preisen bei der Kontrolle, ob sich Erfolg eingestellt hatte oder nicht, orientierte. Drittens trug das pragmatische und flexible Vorgehen der Regierungen nach Ansicht der Weltbank deutlich zum Erfolg bei, da auf diese Weise nicht wirkende Politikmittel rasch eingestellt wurden und wirksame Politikinstrumente regelmäßig an sich verändernde Umstände angepaßt wurden. Um die Frage zu beantworten, ob Interventionen im Entwicklungsprozeß der HPAEs Bremse oder Motor der Entwicklung waren, untersucht die Weltbank drei Bereiche 196• Ihrer Ansicht nach versagte die selektive Industriepolitik in den meisten der Fälle. Die milde finanzielle Repression barg in Kombination mit der Kreditlenkung hohe Risiken, konnte in einigen Fällen aber durchaus Erfolge generieren. Die Exportförderstrategien scheinen der Weltbank schließlich am erfolgreichsten verlaufen zu sein. Als Schlußfolgerung für nachfolgende Entwicklungsländer rät die Weltbank, sich am Weg der HPAEs in Süd-Ostasien, welche mehr dem neoklassischen Weg gefolgt sind, zu orientieren. Dies begründet sie auf zweierlei Art. Erstens benötigen Entwicklungsländer, welche dem Weg der nordostasiatischen HPAEs zu folgen wünschen, mindestens ebenso entwicklungsdienliche institutionelle Voraussetzungen wie es Singapur, Korea, Japan und Taiwan hatten. Eine technokratische Elitebürokratie, welche fahig und willens ist, den Markt zu führen, wird zur Conditio sine qua non. Die Weltbank betont nun, daß selbst wenn nachfolgende Staaten diese institutionelle Kapazität aufbauen könnten, die heutigen weltwirtschaftliehen Umstände eine Wiederholung des Erfolgs unwahrscheinlich machten, da der heutige Druck, liberalisierte Finanzmärkte zu haben, ungleich stärker sei. Ein liberalisierter Finanzmarkt und die Führung des Marktes in anderen Bereichen schlössen sich jedoch aus.

196

Weltbank, East Asian Miracle, Kapitel 7.

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Außerdem weist die Weltbank auf die mittlerweile gestiegene Gefahr von Retaliationsmaßnahmen der Handelspartner auf merkantilistische Handelspraktiken hin. Insgesamt solle daher der Weg der südostasiatischen HPAEs genauer betrachtet werden. Diese hätten den Sprung zum Schwellenland in einem weltwirtschaftliehen Umfeld vollbracht, das noch dem heutigen entspreche und seien daher als Lehrmeister für nachfolgende Entwicklungsländer besser geeignet als die nordostasiatischen HPAEs.

5. ,Alles Nichts', oder? Die agnostische Sicht Außer den bisher geschilderten Ansätzen zur Erklärung des ostasiatischen Wirtschaftswunders existiert als dritte Strömung der Agnostizismus 197 . Sie zieht aus der bisher dargelegten Debatte um die Rolle des Staates während des ostasiatischen Wachstumswunders vor allem den Schluß: " . . . we can say nothing meaningful ... because we cannot properly identify how ... policies spur growth" 198. Daß wenig bis gar nichts über die wachstumfördernde Wirkung eines bestimmten Typs von Wirtschaftspolitik ausgesagt werden kann, beruht der agnostischen Schule folgend auf vier zentralen Punkten. Erstens ist die Auswahl sogenannter erfolgreicher Politikmixe nicht neutral erfolgt, zweitens kann kein realistisches kontrafaktisches Szenario abgebildet werden, drittens sind die in Asien verfolgten Politikmixe zu heterogen, um von der einen erfolgreichen asiatischen Politik zu sprechen, und viertens schließlich ist die Frage nach dem Verlauf der Kausalitäten ungeklärt. Daß die Auswahl der untersuchten Politikstile nicht neutral erfolgte, läßt sich aus agnostistischer Sicht daran zeigen, daß bereits zu Beginn der Analyse der wirtschaftliche Erfolg und die Existenz bestimmter Interventionen bekannt waren. In der Konsequenz habe man diese Interventionen breit untersucht. Andererseits seien nicht erfolgreiche Ökonomien als Analysegegenstand von wesentlich geringerem Interesse für die ökonomische Forschung gewesen, auch wenn in diesen derselbe Typ Intervention angewandt worden sei. Wenn aber Interventionen in diesen nicht erfolgreichen Volkswirtschaften weniger untersucht worden seien, könne man auch nichts über die generelle Entwicklungsdienlichkeit bestimmter Typen an Intervention sagen. Die Auswahl der untersuchten Interventionen sei nicht neutral erfolgt und daher nicht wissenschaftlich verwertbar 199. Der zweite Kritikpunkt der Agnostiker liegt in dem Untersuchungsgegenstand der Ökonomie begründet. Sie wenden ein, man könne in den Gesellschaftswissen197 Der Agnostizismus befaßt sich ausschließlich mit dem Beitrag des Staates zum Wirtschaftswachstum und nicht mit der Rolle der Kultur. Daher muß der Agnostizismus an dieser Stelle geschildert werden und nicht etwa nach der kulturalistischen Sicht. Vgl. Sarel, S. 10. 198 Sarel, S. 10. 199 Vgl. Sarel, S. 10.

I. Die Rolle des Staates

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schaften nicht- wie etwa in den Naturwissenschaften- die Auswirkung einzelner Maßnahmen auf das Ergebnis untersuchen, indem man den Versuch unter Weglassung der untersuchten Maßnahme wiederhole. Daher könne auch keine Aussage bezüglich der vielleicht einzig relevanten Frage gemacht werden: "How fast would these economies have grown if these policies had not been in place?" 200. Drittens wird eingewandt, die Politikmixe in Asien seien alles andere als homogen gewesen201 • Je mehr man die einzelnen Länder Ostasiens analysiere, desto klarer werde, wie unterschiedlich und sogar widersprüchlich Wirtschaftspolitik in Ostasien gewesen sei. Die Vielseitigkeit des sogenannten ,ostasiatischen Modells' stellt z. B. Rodrik heraus202• Von ausgeprägt interventionistischen Ländern wie Japan und Korea bis hin zu Ländern, welche wenig bis gar nicht intervenierten (Hongkong und Thailand), sei alles vertreten gewesen. Dasselbe gelte für die Frage nach der Redistributionsfreude der Länder. Malaysia betrieb eine explizit redistributive Politik, die meisten anderen taten dies nicht. Einige förderten die Herausbildung großer, starker Konglomerate (Japan und Korea), andere betonten die Bedeutung kleiner, familiär geprägter Betriebe (Taiwan). Dieser Katalog ließe sich, so die agnostische These, um einiges erweitern. Zentral ist die Feststellung, daß ein simples ,ostasiatisches Erfolgsmodell ', dem andere Entwicklungsländer lediglich nachzueifern brauchen, nicht existiert203 . Schließlich wäre die Frage nach dem Verlauf der Kausalitäten selbst dann ungeklärt, wenn eine statistisch signifikante Korrelation existierte. "Observing that a specific variable is present along with growth does not necessarily constitute proof that the policy generates growth"204. Die Frage lautet demnach: Was verursacht was? Ist bspw. ein geringes Budgetdefizit oder gar ein Überschuß Resultat oder Bedingung ökonomischen Erfolges? So ist es z. B. für eine Regierung einfacher, eine konservative Budgetpolitik zu verfolgen, wenn die Wirtschaft wächst und im Gefolge die Steuereinahmen zunehmen, als wenn sie stagniert und der Wunsch nach defizitsteigemden Ausgaben (bspw. Arbeitslosenunterstützung) größer wird. Gleiches gilt auch für den Zusammenhang zwischen steigenden Exporten und Wirtschaftswachstum. In vielen Beiträgen wurde die statistische Korrelation beider Größen betont, doch die Richtung des Zusammenhangs ist bislang nicht unumstritten und damit abschließend geklärt205 • "While there is some econometric evidence Sarel, S. 10. Siehe hierzu auch den Sonderbericht der Weltbank, welcher dies betont und (wieder verallgemeinernd) eine Unterteilung in Nord-Ostasien und Süd-Ostasien vorschlägt. Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 6 f. 2o2 Vgl. Dani Rodrik, King Kong meets Godzilla: The World Bank and the East Asian Miracle, in: Albert Fishlow et al. (Hg.), Mirade or Design? Lessons from the East Asian Experience, S. 15-54, Overseas Development Council, Washington 1994. Siehe auch Weltbank, East Asian Miracle. 203 Vgl. Sarel, S. 10. 204 Sarel, S. 10. Hervorhebung durch den Verfasser. 205 Vgl. exemplarisch Bradford. 200

2o1

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

for more dynamic effects from manufactured exports, there is also some evidence that exports may be the result rather than the cause for rapid growth"206. Nun ist die agnostische Sicht nicht so zu verstehen, daß Regierungspolitik und -interventionen irrelevant im Entwicklungsprozeß seien. Wichtig ist die Betonung, daß immer noch sehr wenig über die exakten Zusammenhänge zwischen Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswachstum bekannt ist207. Hilpert schreibt treffend: "Mit Ausnahme der wichtigen Rolle der binnenwirtschaftlichen Ausgangsbedingungen lassen sich in Regressionsanalysen keine eindeutigen Determinanten des ostasiatischen Wachstumswunders identifizieren. Zwar existieren für zahlreiche Faktoren . .. hohe Korrelationswerte, es stellt sich jedoch die Frage der Kausalität"208. Damit handelt es sich bei fast jeder Untersuchung- auch dieser- welche die Ursachen des ostasiatischen Wirtschaftswunders zu identifizieren sucht, um Überlegungen auf Basis der ökonomischen Logik und des empirischen Anscheins. Damit sind sie im Keynes'schen Sinne als Essays in persuasion zu bezeichnen.

II. Die Rolle der Kultur als Erklärungsfaktor Neben der dominierenden Ansicht, das jeweilige Staatshandeln sei verantwortlich für Erfolg oder Mißerfolg im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung unterschiedlicher Staaten, entwickelte sich zu Beginn der achtziger Jahre unter dem Einfluß von Vogel, Ende der achtziger Jahre dann unter Winckler und O'Malley sowie im deutschsprachigen Raum aufgrund der Arbeiten von Machetzki und Weggel ein weiterer Zweig zur Erklärung des ostasiatischen Wirtschaftswunders209. Diese Theorie erlangte einige Berühmtheit, als der damalige Staatspräsident Singapurs, Lee Kuan-yew sie aufgriff und die sogenannten Asian Values u. a. zur Rechtfertigung der Entwicklungsdiktaturen Ostasiens nutzte.

Helleiner, Introduction, S. 5. Vgl. Sarel, S. 11. 208 Hilpert, S. 22. 209 Vgl. Vogel, Four little Dragons; Ezra F. Vogel, Japan as Number One, Cambridge/ Mass. 1979; Ezra F. Vogel, Japan. Adaptive Communitarism, in: George C. Lodge/Ezra F. Vogel (Hg.), ldeology and National Competitiveness. An Analysis of Nine Countries, Boston 1987, S. 141-172; Edwin A. Winckler, Statism and Familism on Taiwan, in: Lodge/Vogel, S. 173-206; William O'Malley, Colture and Industrialization, in: Hughes, S. 327- 343; Günter Machetzki, Zur Klassifizierung von "Entwicklungspotentialen" asiatischer Länder nach sozio-kulturellen Merkmalen/Variablen - eine Kurzskizzierung, in: SÜDOSTASIEN aktuell, hrsg. vom Institut für Asienkunde Hamburg, Harnburg 1994, S. 331- 334; Weggel, Taiwan, Hong Kong; Oskar Weggel, Die Geschichte Taiwans, Köln 1991; Oskar Weggel, China, 4. neubearb. Auflg., München 1994; Oskar Weggel, Die Asiaten. Gesellschaftsordnungen, Wirtschaftssysteme, Denkformen, Glaubensweisen, Alltagsleben, Verhaltensstile, 2. Auflg., München 1997; Oskar Weggel, China im Aufbruch. Konfuzianismus und politische Zukunft, München 1997. 206 207

li. Die Rolle der Kultur als Erklärungsfaktor

127

Die ursprüngliche Theorie o. g. Wissenschaftler intendierte dagegen nicht die harten Staatseingriffe zu rechtfertigen, sondern unter einem politökonomischen Fokus den überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Erfolg Japans, Taiwans, Südkoreas, Hong Kongs und Singapurs insbesondere mit deren konfuzianischer Kultur zu erklären. Diese auch als Kulturalisten bezeichneten Forscher sind eine recht heterogene Gruppe210• Ihre generelle These besagt, daß die bisherigen Erklärungsversuche nicht hinreichen, den überdurchschnittlichen Erfolg Ostasiens zu erklären. Die damaligen, für Ostasien günstigen Rahmenbedingungen und das spezifische Staatshandeln waren von Vorteil und könnten einen durchschnittlichen Erfolg erklären. Der überdurchschnittliche Erfolg Ostasiens sei jedoch nur zu erklären, wenn Faktoren hinzukämen, die additiv verstärkend auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Ökonomien und Unternehmen wirkten. Diese Faktoren werden in der spezifisch ostasiatischen Kultur gesehen. Grundsätzlich gilt zweierlei: Erstens beeinflußt jede Kultur vor allem die Fähigkeit zur beabsichtigten Interaktion, und zweitens ist die spezifische Kultur eines Landes nur schwer veränderbar. "Any country's practices are deeply rooted in its traditions and cannot easily be transplanted ..." 211 • Die weltweit unterschiedlichen Kulturen sind demzufolge aus kulturalistischer Sicht der Hauptgrund dafür, daß die Fähigkeiten zur beabsichtigten Interaktion auf der Makro-, Meso- und MikroEbene international ungleich verteilt sind212 . Mit Bezug aufTaiwan gehen die Kulturalisten davon aus, daß die Kapazität zur Interaktion gesteigert wurde und hauptsächlich durch den Konfuzianismus erklärbar ist213 • Daß gerade der Konfuzianismus als entscheidender Faktor genannt wird, deutet auf den ersten Blick auf eine entscheidende Veränderung in der Bewertung dieser Kultur hin, welche seit Max Webers Untersuchungen als eher entwicklungshem210

211

Vgl. zu dieser Benennung Petri, S. 6 f.

Vogel, JapanasNumber One, S. 231.

212 Nach Hillebrand werden den einzelnen Ebenen folgende Politikbereiche zugeordnet: Makro-Ebene: Haushalts-, Geld-, Fiskal-, Wettbewerbs-, W3.hrungs-, und Handelspolitik. Meso-Ebene: Infrastruktur-, Bildungs-, Technologie-, Industrie-, Umwelt-, Regional-, Import- und Exportpolitik. Mikro-Ebene: Managementkompetenz, Unternehmensstrategien, Integration in technologische Netzwerke, Logistik zwischen den Unternehmen, Interaktion zwischen Lieferern, Produzenten und Abnehmern, Anwendung von best-practice Techniken während des gesamten Produktionszyklus (Entwicklung, Produktion und Vertrieb). Vgl. Hillebrand, S. 126. 213 Neben den bereits erwähnten Werken von Weggel, Vogel und Winckler ist hier vor allem das Werk von Francis Fukuyama und hier insbesondere die Kapitel 4 und 5 hervorzuheben. Vgl. Francis Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen, München 1995.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

mend beschrieben wurde214• Die Kulturalisten machen jedoch selbst darauf aufmerksam, es handele sich in ihrer Betrachtung nicht um den von Weber beschriebenen Konfuzianismus der großen Tradition. Sie betonen, es habe sich eine neue Spielart herausgebildet, die Weggel als Metakonfuzianismus im Sinne eines Konfuzianismus des kleinen Mannes bezeichnet und den Vogel als industriellen NeoKonfuzianismus kennzeichnet215 • Es handelt sich damit nach orthodoxem Konfuzianismus (ab 5. Jh. v. Chr.) und Neo-Konfuzianismus (ab 12. Jh. n. Chr.) nun eventuell um den Beginn der dritten Welle des Konfuzianismus216 • Auf die Frage, warum die Kulturalisten Metakonfuzianismus und industriellen Neo-Konfuzianismus im Gegensatz zum orthodoxen und Neo-Konfuzianismus nicht als modernisierungshemmend bezeichnen, wird später eingegangen. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, warum der orthodoxe wie auch der Neo-Konfuzianismus in früheren Jahren mehr als Entwicklungshindernis denn als Entwicklungsmotor gesehen wurde. Max Weber beschrieb das Verhältnis zwischen Wirtschaftsentwicklung und Konfuzianismus an vielen Stellen seines Werkes. Als Tendenzaussage kann festgehalten werden, daß für ihn die negativen Einflüsse überwiegen, wobei sich diese Abschlußbeurteilung aus der Gesamtheit seiner den Konfuzianismus betreffenden Äußerungen ergibt. Einerseits kennt die konfuzianische Philosophie Sünde bzw. das ,radikal Böse' an sich nicht, woraus für Weber das "Fehlen jeglichen Erlösungsbedürfnisses und überhaupt aller über das Diesseits hinausgreifenden Verankerungen der Ethik"217 folgt. Diesen an sich ökonomisch positiv zu sehenden (weil Reichtum und Erwerbsstreben zulassenden) Werthaltungen des Konfuzianismus stehen die Webers 214 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1963, S. 276- 536, hier insbesondere S. 447 ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe hrsg. von Johannes Winckelmann, Köln und Berlin 1964, insbesondere S. 345 f., S. 374, S. 378, S. 393 und S. 777 f.; Max Weber, Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsamrnlung, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. erneut überarb. Auflg., Tübingen 1979, S. 366; Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915- 1920, Studienausgabe der Max-Weber-Gesarntausgabe, Band 1119, hrsg. von Helwig Schrnidt-Giintzer, Tübingen 1991, insbesondere Kapitel

VI.

"The thesis that Confucian humanism is incompatible with modemization defined in terrns of industrial capitalism was frrst forrnulated in Max Weber ... " o. V., Confucianism, in: The New Encylo~aedia Britannica, Macropaedia. Knowledge in Depth, Vol. 16, S. 653- 662, hier S. 661 f., 15 Edition 1997. Hervorhebung im Original. 21s Vgl. Weggel, Geschichte Taiwans, S. 315 ff.; Weggel, China, S. 50 ff. und S. 277 ff.; Weggel, Asiaten, S. 115 ff.; Weggel, China im Aufbruch, S. 57 ff., S. 153 ff. und S. 160 ff.; Vogel, Four little Dragons. 216 Vgl. zu den Datierungen des orthodoxen und des Neo-Konfuzianismus Weggel, China im Aufbruch, S. 133 ff. Siehe zu der Mutmaßung, eine dritte Welle des Konfuzianismus könnte im Entstehen begriffen sein o. V., Corifucianism, S. 660 ff. 217 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 1964, S. 374.

II. Die Rolle der Kultur als Erklärungsfaktor

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Ansicht nach überwiegenden, in ihrem ökonomischen Einfluß negativen Werte gegenüber, weil sie Tradition über die Ratio stellen. Zu nennen sind hier besonders " ... die exklusive Bedeutung des Ahnenkults und der Sippenexogamie, [die] den einzelnen Stadtinsassen dauernd in fester Verbindung mit Sippe und Heimatdorf [halten]'m 8 , durch die dem Wachstum der Städte von einer Stadt weg hin zu einer Gemeinde enge Grenzen gesetzt sind. Dieser Prozeß der Verschmelzung der Städte mit dem Umland hin zu Gemeinden war im Okzident seinesErachtensein Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus. Ein weiteres Entwicklungshemmnis ist die starke Verankerung der Geomantik im Konfuzianismus 219. Im Sinne von Weber ist hier m.E. die mit Bezug auf China getroffene Aussage von Suhr prägnant: "Im Osten haben unsere Vorfahren sich nicht dazu entschlossen - oder es nicht gewagt - die Natur zu kontrollieren. Sie sahen es als wesentlich an, mit ihr in Harmonie und Frieden zu leben. Da sie den Menschen als Teil der Natur betrachtet haben, gab es nichts zu kontrollieren, zu erobern oder zu erkämpfen. Diese Einstellungen herrschten viele Jahrhunderte vor und haben in gewisser Hinsicht auch unseren [den chinesischen] materiellen Fortschritt verlangsamt, da sich dadurch die Natur nur langsam wandelte'.22°. Eben diese Wandlungsprozesse aber sind typisches Kennzeichen wirtschaftlicher Entwicklung. Wichtiger noch als Geomantik und Diesseitsbetonung ist allerdings die zentrale Stellung der Kindespietät im Konfuzianismus. Sie ist für Weber entwicklungshinderlich, da hierdurch dauernde Subordinationsverhältnisse nicht nur zwischen Vater und Kind, sondern auch zwischen Beamtem und Fürst, zwischen niederen und höheren Beamten, und schließlich zwischen Untertanen und Herrschern begründet werden221 . Verbindet man die Betonung der Kindespietät mit der Diesseitsbetonung, so stellt der Konfuzianismus für Weber "eine besondere Form des Rationalismus dar, der die Himmelsordnung, die Ausgeglichenheit der Gesellschaftsordnung und das 218 Ebenda, S. 378 f. Hinzufügungen durch den Verfasser. Prägnant findet sich dies auch bei Bendix: "Daß diese städtische Unabhängigkeit fehlte, hing damit zusammen, daß niemals die Bande der Sippe abgestreift wurden.... Jeder .. behielt seine Beziehung zum Stammsitz mit dem Ahnenlande und mit dem Ahnenheiligtum seiner Sippe: also alle rituell und persönlich wichtigen Beziehungen, in dem Dorf, von wo er stammte. Daß sich die enge Verbindung des einzelnen zur Sippe erhielt, lag an der Praxis des Ahnenkultus, der die Sippe zur unverletzlichen Basis der Beziehungen zwischen Menschen und Geistern machte - im Gegensatz zum Christentum, das die Beziehung jedes einzelnen Individuums zu Gott betonte." Reinhard Bendix, Max Weber- Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse, München 1964, S. 79. 219 Vgl. Weber, Die protestantische Ethik, S. 366. 22o Myong Won Suhr, Öffnen wir uns für die Vorstellung von einem besseren Leben für Alle, in: Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.): Lemflihigkeit: Unser verborgener Reichtum, UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert, Neuwied, Kriftel und Berlin 1996, S. 209-212, hier S. 212. Anmerkung durch den Verfasser. 221 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 1964, S. 777 f.

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innere Gleichgewicht des Menschen durch eine Ethik des menschlichen Verhaltens bewahren will"222. In diesem Sinne ist die Aussage zu werten, daß es das radikal Böse an sich nicht gibt, sondern nur "Fehler, und diese als Folge ungenügender Bildung"223 • Es gibt also in Folge mangelnder (konfuzianisch geprägter) Bildung ethisch richtiges und falsches Verhalten. Was genau aber ethisch richtig und was falsch war, wurde vom Bildungsträger, dem Mandarinat, geprägt. Damit entsteht nach Weber eine gesellschaftliche Grundeinstellung mit bedeutsamen Folgen für das Wirtschaftsleben, denn " ... die konfuzianischen Schriften behandeln wirtschaftliche Fragen nach der Auffassung von Beamten . . ." 224 und nicht nach der von Unternehmern. Der Beamte (aufgrund des chinesischen Priifungswesens gleichzusetzen mit dem Gebildeten) sorgte sich nur um die Schicklichkeit seines Konsums, denn: "Das Wirtschaften zu erlernen lohnt sich für den [höheren] Menschen nicht. Ja, es schickt sich eigentlich nicht für ihn.... Wie jede Beamtenmoral so lehnt natürlich auch diejenige des Konfuzianismus die eigene Teilnahme des Beamten am Erwerb ... als ethisch bedenklich und standeswidrig ab'm5 • Die konfuzianische Lehre lehnte wirtschaftliches Denken aber nicht per se ab. Weber bemerkt hierzu, daß "ein gut verwalteter Staat [der ist], in dem man sich seiner Armut schämt . . . [und es gab] sehr modern klingende Theorien von Angebot und Nachfrage ... [und] die Rentabilität des Geldes ... versteht sich im Gegensatz zum Okzident von selbst ..." 226• Die Vorbehalte galten auch nicht Eigentum oder Besitz, wohl aber dem Erwerb von Reichtum, denn ".. . Gewinnsucht galt dem Meister [Konfuzius] als Quelle sozialer Unruhen"227 • Dabei ist nicht das Streben nach Reichtum die Quelle sozialer Unruhen, sondern vielmehr die Unsicherheit des Erfolgs. Bei Weber heißt es: "Auch Konfuzius würde nach Reichtum streben ... wenn nur der Erfolg dieses Strebens ... verbürgt wäre. Aber das ist nicht der Fall und daraus folgt der einzige, in der Tat sehr wesentliche Vorbehalt gegen Wirtschaftserwerb: Das Gleichgewicht und die Harmonie der Seele wird durch die Risiken des Erwerbs erschüttert'm8. Noch deutlicher führt dies Schrnidt-Glintzer aus: "Ohne beständiges Einkommen . . . vermöge der Gebildete nur schwer, das Volk aber gar nicht, eine beständige Gesinnung zu haben. Wirtschaftlicher . . . Erwerb ist der kleine Weg. Denn ... er führt zur fachlichen Spezialisierung. Der vornehme Mensch aber strebt nach Allseitigkeit ..." 229 • Bendix, S. 97. Weber, Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 144. 224 Bendix, S. 97. 225 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S. 447. Hervorhebung im Original. 226 Ebenda, S. 447. Hinzufügungen durch den Verfasser. 227 Ebenda, S. 448. Hinzufügung durch den Verfasser. 228 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionsoziologie, Bd. I, S. 448. Hervorhebungen im Original. 229 Weber, Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 148. Hervorhebung durch den Verfasser. 222 223

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Durch diese Einstellung stellt der Konfuzianismus in Webers Sicht den Beamten hoch über die restliche Bevölkerung, denn nur dieser kann nach Allseitigkeit, dem hohen Ideal des konfuzianisch geprägten Menschen streben. Allseitigkeit wiederum wird durch (konfuzianisch geprägte) Bildung erlangt und gerade diese wird im Staatsamt verlangt. Reichtum dagegen konnte nur durch zunehmende Einseitigkeit gewonnen werden230. Noch deutlicher wird die Höherstellung des Beamten über den wirtschaftlich Tatigen anband der Behauptung des Konfuzianismus, daß man " ... in der Welt nichts ausrichten [kann], auch nicht in der einflußreichsten Stellung, ohne die aus Bildung entspringende Tugend. Aber freilich auch umgekehrt nichts mit noch so viel Tugend ohne einflußreiche Stellung. Diese, und nicht Erwerb, suchte daher der [höhere] Mensch"231 . Die vorstehend gemachten Äußerungen manifestieren, daß Weber den Konfuzianismus für eine dem Wirtschaftsleben eher abträgliche Grundeinstellung hielt. Heute dagegen werden die neuen, weiter oben vorgestellten Spielarten des Konfuzianismus nicht als Entwicklungshemmnis, sondern gerade als Grund einer besonders schnellen Entwicklung angesehen. Worin liegen also die Besonderheiten von industriellem Neo-Konfuzianismus und Metakonfuzianismus? Und was an diesen Besonderheiten ist von ökonomischer Vorteilhaftigkeit? Diese Theorien heben die folgenden Faktoren hervor, die in ostasiatischen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt, in allen aber vorhanden sind: • Die Existenz eines zukunfts- und leistungsorientierten Wertesystems. • Die kulturell inhärente Betonung von Pragmatismus und Realismus. • Das friedliche Neben- und Miteinander unterschiedlicher Religionen. • Die Etablierung langfristig gültiger Richtlinien, an denen entlang die Gesellschaft auf strategische Ziele hingeführt werden soll 232. • Eine traditionell aktive Rolle von Regierung und Bürokratie bei der Sammlung und Weitergabe modernisierungsrelevanter Informationen und hierbei insbesondere die systematische Beobachtung anderer Gesellschaften als Basis der Beschleunigung eigener Lernprozesse im Rahmen der nachholenden Entwicklung233. • Bedingt durch das hohe Ausmaß internen wie externen Drucks (hohe Bevölkerungsdichte, geographischer Inselstatus, militärische Bedrohung etc.) eine relativ hohe Bereitschaft zur sozialen Kohäsion. Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionsoziologie, Bd. I, S. 448 f. Ebenda, S. 447. Hervorhebung im Original. Hinzufügung durch den Verfasser. 232 Insbesondere die staatliche Hilfe bei der Anpassung an neue Situationen wird betont. Vogel schreibt mit Bezug auf Japan dazu: "Japan accepts the ultimate value of market forces, but aims to hasten institutional adjustments to long-term trends while easing the human readjustments necessitated by changing economic forces." Vogel, JapanasNumber One, S. 232. 233 Das bekannteste Beispiel hierfür ist das japanische MIT!. 230 231

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

• Und schließlich eine vergleichsweise hohe Fähigkeit zum Konsens sowie der eindeutige Wille, individuelle und unternehmensbezogene Ziele und Wünsche stets im Zusammenhang mit den gesamtgesellschaftlichen Zielen zu beleuchten und eigene Wünsche falls nötig an diesen auszurichten. Diese kulturell bedingten Besonderheiten erwecken den Eindruck, es handele sich bei den ostasiatischen Newcomern um Prototypen einer aktiven Gesellschaft, welche nach Etzioni insbesondere durch ihre hohe Kapazität zum Lernen und ihre besondere Kapazität zur Führung gekennzeichnet sind234. Lernen ist hier gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum Sarruneln, Auswerten und Anwenden von Information. Führung soll in dem Sinne verstanden werden, daß die gesellschaftlichen Strukturen es ermöglichen, sozioökonornische Prozesse nicht nur zu begleiten, sondern anzustoßen und zu steuern. Darüber hinaus impliziert Führung, daß die gesamtgesellschaftlichen Ziele gleichzeitig den Ausgangspunkt individuellen wie kollektiven Handeins bilden. Vogel stellt weitergehend heraus, daß die für Ostasien typische und kulturell bedingte Führungskontinuität Grundlage der Vermittlung langfristig angelegter Ziele war. "The capacity to provide long-range direction to society requires a continuity of leadership at high Ievels, a leadership that has the power and responsibility to oversee specific areas of activity whether they are in foreign policy, finance, energy, environment, transportation, or regional planning'm5 . Es ist zunächst festzuhalten, daß in den Augen der Vertreter des Kulturalismus die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht nur durch harte Faktoren, sondern auch durch einen Wettbewerb zwischen Kulturen, Wertesystemen und daran ausgerichteten Mechanismen zur Lenkung der Gesellschaft bestimmt wird. Ihrer Ansicht nach kann der Erfolg der ostasiatischen Staaten nur dann gehaltvoll erklärt werden, wenn zusätzlich zu den harten Faktoren eine Meta-Ebene berücksichtigt wird, die außerhalb des unmittelbar Ökonomischen liegt. Hier müssen die soziokulturelle Umgebung, unterschiedliche Wertesysteme, individuelle Verhaltensmuster, die sich hieraus ergebenden Grundstrukturen der politökonomischen Organsation sowie die unterschiedliche Fähigkeit zur Entwicklung politischer Strategien berücksichtigt werden236. Die Kulturalisten stellen gleichwohl heraus, der Faktor Kultur habe entwicklungsunterstützend gedient, sei aber nicht alleiniger Grund der vergleichsweise raschen Wirtschaftsentwicklung237 . Ihre Kritik an den bisherigen Erklärungen geht dahin, daß diese als unzureichend zur Erklärung des ostasiatischen Wirtschaftswunders empfunden werden, weil sie "entweder ganz auf äußere Ursachen abstellen oder ... rein additiv wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen herzählen, 234 235 236 237

Vgl. Amitai Etzioni, Elemente einer Makrosoziologie, in: Zapf, S. 147- 176. Vogel, Japan as Number One, S. 233. Vgl. Hillebrand, S. 126. Vgl. Weggel, Geschichte Taiwans, S. 306 ff. und Vogel, Four little Dragons, S. 91 ff.

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ohne allerdings zu erklären, woher denn letztlich die Dynamik kam'm 8 , die anderen Entwicklungsländern trotz einer vergleichbaren Wirtschaftspolitik fehle. Das Ziel des kulturalistischen Erklärungsversuchs ist es, zu beantworten, woher diese besondere Dynamik im lndustrialisierungsprozeß kam. Die wichtigsten Voraussetzungen der Industrialisierung erkennt Vogel in der Fähigkeit, ein hochkomplexes Maß an Koordination zu erreichen, ein präzises Timing zu gewährleisten sowie die Entwicklungsrichtung zu prognostizieren. Die Erlangung eines hochkomplexen Organisationsgrades ist für ihn dabei nicht von den institutionalisierten Verhaltensweisen und Einstellungen eines Volkes zu trennen, denn diese sind "habits of the heart"239 • Fraglich ist hier zunächst, wie und wo diese Verhaltensweisen und Einstellungen in einer industrialisierungsfördernden Art gewirkt haben. Für Vogelläßt sich dies am ehesten anhand folgender Bausteine zeigen 240: a) Die Existenz einer meritokratischen Elite. b) Die Bedeutung des chinesischen Examenssystems und der Existenz von Eintrittsprüfungen in das Exarninierungssystem. c) Die Bedeutung der Gruppe. d) Die Betonung von Selbst-Fortentwicklungund Selbst-Kultivierung. Weggel stellt ähnliche Punkte [arabische Ziffern] heraus, welche hier den jeweiligen Punkten [lateinische Buchstaben] Vogels zugeordnet werden, um sich dann an Weggels Darstellung zu orientieren. Er betont: 1. Die Bezogenheit auf die Gemeinschaft [c] 2. erleichtert die Herausbildung von Hierachien [c]. 3. Dies zieht Ordnung [c] nach sich 4. und sichert so der Bürokratie eine maßgebliche Rolle [a], da dank Ordnung "Bürokratie .. . als Bremse oder als Gaspedal dienen . .. " 241 kann. 5. Eine bedeutende Rolle spielt weiterhin Erziehung und Lernen [b und d], da die Tugenden Gemeinschaftsbezogenheit, Hierarchie und Sensibilität für das Gesicht des anderen nicht angeboren sind, sondern durch einen permanenten Lernprozeß verinnerlicht werden müssen. 6. Außerdem hat in der chinesischen Tradition " ... jahrhundertelang nicht der Blut-, sondern der Lernadel Vortritt bei der Besetzung von Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft gehabt"242 [b].

238 239 240 241 242

Weggel, Geschichte Taiwans, S. 307. Hervorhebungen im Original. Vogel, Four little Dragons, S. 92. Vgl. ebenda, S. 92. Weggel, Geschichte Taiwans, S. 317. Ebenda, S. 318.

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

7) Als letzten Punkt stellt Weggel die Wirtschaftstugenden Fleiß, Anerkennung von Leistung, Sparsamkeit und Korporativität heraus, welche bis auf Korporativität [c] nicht den Punkten Vogels zuzuordnen, sondern als Ergänzung zu sehen sind. Es stellt sich nun die Frage wie diese Faktoren ihre positive Wirkung im lndustrialisierungsprozeß Taiwans nach dem II. Weltkrieg entfalten konnten. Unter Rückgriff auf Max Weber schildert Vogel zunächst, welche Stellung die meritokratische Elite in der traditionellen konfuzianischen Gesellschaft hatte. Herausgehoben wird, daß das chinesische System die Trennung in politisches Beamtenturn und Fachbeamtenturn im Gegensatz zum Westen nicht kannte. Der Bürokrat hatte eine stärkere Rolle, denn er wurde meritokratisch ausgewählt und hatte dementsprechend ein höheres Verantwortunsgefühl für das große Ganze zu haben. Außerdem war die Gesellschaftsstruktur stärker elitär orientiert, d. h. die Bevölkerung erwartete nicht, an der Auswahl der Regierenden oder Spitzenbürokraten beteiligt zu werden. Darüber hinaus besaß die bürokratische Elite im alten China die Möglichkeit, die Spielregeln nach Gutdünken per Dekret zu verändern, wodurch ihre Stellung nochmals gestärkt wurde243 . Diese Grundkonzeption veränderte sich Vogel zufolge nach dem II. Weltkrieg nicht. Bürokraten genossen nach wie vor eine exponierte Stellung, wurden meritokratisch ausgewählt, hatten Verantwortungsgefühl für das große Ganze zu haben und waren vergleichsweise geringem Druck seitens Politik und Öffentlichkeit ausgesetzt244. Neben diesen Konstanten gab es sehr entwicklungsdienliche Veränderungen in der Rolle des Bürokraten. So nahm der Spezialisierungsgrad zu und im Gefolge wuchs das Wissen über den Westen und die dortige Rolle der Bürokratie. Zweitens wurde Geschichte von den Bürokraten nicht mehr als zyklischer Prozeß, sondern als gestaltbar empfunden, d. h. der Bürokrat begann seinen Erfolg an seinem persönlichen Beitrag zum Gesamterfolg zu messen245 . Drittens schließlich galt Unternehmertum (und das Streben nach Reichtum) nicht mehr als verdächtig, sondern die Erkenntnis setzte sich durch, daß man den Privaten mehr Freiräume zugestehen und trotzdem gleichzeitig die Kontrolle behalten kann. Insgesamt erhielt das bürokratische System eine entscheidende Rolle im Industrialisierungsprozeß246:

Vgl. Vogel, Four little Dragons, S. 93. Eine Ähnlichkeit zur Argumentation der Weltbank drängt sich auf. Die unabhängige Stellung der Bürokratie wurde auf Taiwan gut ersichtlich, denn selbst nachdem einige Teile der Regierung bereits demokratisch gewählt wurden, spielten die Bürokraten eine für westliche Verhältnisse überproportional große Rolle.Vgl. Vogel, Four little Dragons, S. 94. 245 Vgl. ebenda, S. 94 ff. 246 Vgl. ebenda, S. 95. 243

244

II. Die Rolle der Kultur als Erklärungsfaktor

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• Die Bürokraten orientierten ihr Handeln am Gemeinwohl und übten Selbstbeherrschung bei der Erlangung persönlichen Reichtums, wodurch ihre moralische Legitimität wuchs. • Da die Bürokraten überdies meritokratisch ausgewählt waren, verstärkte sich auch die Legitimität der Regierung und der durch sie ergriffenen Maßnahmen. • Weil die Bürokraten ihr Handeln am Gemeinwohl orientierten, reagierten sie äußerst sensibel auf entstehende Ungleichgewichte und entwarfen Pläne, die vor allem darauf gerichtet waren, Einkommensmöglichkeiten für alle Teile des Volkes zu schaffen. Dies stärkte ihre Akzeptanz nochmals. • Dadurch besaßen die Bürokraten letztlich fast uneingeschränkte moralische Legitimität, und es wurden auch Maßnahmen, welche die Rechte des Individuums beschnitten, leichter akzeptiert. "Erhaltungswerte-, nicht Entfaltungswerte stehen also im Vordergrund"247 • • Überdies wurden die Top-Bürokraten daran gemessen, wie gut das Gesamtsystem arbeitete und nicht daran, wie gut sie ihre Einzelaufgaben lösten, wodurch die Effizienz der Bürokratie gesteigert wurde. Neben der veränderten Rolle der Bürokratie betont Vogel die Besonderheiten des Priifungssystems, die er als "Exarnination Hell"248 bezeichnet. Priifungen und Examina waren seit jeher der Schlüssel zum Aufstieg und schon immer waren dabei die wichtigsten Priifungen nicht jene am Ende der Ausbildung, sondern die, welche zu überwinden waren, um erst einmal in das vielschichtige Priifungssystem hineinzukommen. Darüber hinaus wurde die Rolle der Examina zusätzlich gestärkt, indem auch private Arbeitgeber zunehmend Wert auf gute Priifungsergebnisse legten. Nochmals verschärft wurde der Konkurrenzkampf um die wenigen Top-Jobs dadurch, daß regierungsseitig das Prinzip "Bildung für Alle" zunehmend betont und so das Angebot an Humankapital verbreitert wurde. Künftig galt Leistung statt Guangxi (chin. persönliche Beziehungsgeflechte) und hierdurch entstand im Volk das Gefühl, daß alle es bis an die Spitze schafften, wenn sie nur hart genug arbeiteten 249. Wichtig ist auch, daß sich zwar die Lerninhalte den neuen Erfordernissen anpaßten, die Lernmethodik aber nicht. Seit Jahrhunderten bestand diese darin, die Schüler auswendig lernen zu lassen, was während des technologischen Aufholprozesses im Rahmen der nachholenden Entwicklung eine überaus wichtige Hilfe darstellte (und in der Zukunft evtl. zur Limitation wird). Aufnahmepriifungen, jährliche Abschlußpriifungen und die Leistungsorientierung von Anfang an bringen Vogel zu dem Schluß, daß das Examenssystem geeignet war, die besten Leute auf die besten Positionen zu bringen, weil ein Student Weggel, China im Aufbruch, S. 13. Vogel, Four little Dragons, S. 97. 249 Bei Vogel heißt es: "They studied hard not only because of the value placed on learning itself but because of the specific linkage between entrance examina and good jobs." Vogel, Four little Dragons, S. 97. 247

248

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2. Kap.: Bisherige Erklärungen des taiwanesischen Wirtschaftswunders

jahrelang emsig studieren mußte, um eine höhere Position zu erreichen. Die Korrelation von Top-Positionen mit den Jahren harter Disziplin förderte laut Vogel bereits im Klassenraum die Wirtschaftstugenden des permanten Lernens und des disziplinierten Arbeitens. Beides sind Tugenden, welche bereits im orthodoxen Konfuzianismus angelegt waren und als entwicklungsdienlich einzustufen sind250. Daneben hebt Vogel die Bedeutung der Gruppe auf Taiwan heraus 251 • Jahrelang wurde zwar behauptet, die Betonung des Korparatismus und der Gruppe auf Taiwan werde Individualismus, Kreativität und Entwicklung hemmen, gezeigt hat sich aber das Gegenteil. Dies liegt nach kulturalistischer Meinung zum großen Teil daran, daß sich die Eigenschaft, einer Gruppe gegenüber Loyalität zu zeigen, nicht veränderte - daß sich sehr wohl aber die Gruppe, der man sich verpflichtet fühlte, veränderte. Früher war dies die Familie oder Dorfgemeinschaft, und heute ist es mehr das Unternehmen oder ein bestimmtes institutionalisiertes Netzwerk. Solche Netzwerke bestehen z. B. aus Menschen desselben Bildungsstands oder derselben Fachrichtung. Da dadurch der der Informationsfluß erleichtert und Transaktionskosten gesenkt werden, ist dies positiv zu sehen. Vogel führt aus, daß die Gruppenloyalität, das Eingehen auf Gruppenanforderungen und die Vorhersagbarkeil individuellen Verhaltens in der Gruppe wichtige Faktoren im Industrialisierungsprozeß sind, weil sie alle Einfluß auf die zentralisierte Koordination ausüben. Dies gilt umso mehr für die late comers wie Taiwan, da hier die Rolle der zentralisierten Koordination im Industrialisierungsprozeß noch bedeutsamer ist. Außerdem half die spezifische Art der Gruppenloyalität, volkswirtschaftliche Kosten zu reduzieren, weil auf Taiwan nicht nur materielle Anreize existierten, sondern auch solche bedingt durch moralischen und sozialen Druck. Aufgrund der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe ist Vogel zufolge auch ein weit langfristigerer Planungshorizont als im Westen möglich. Außerdem können die extrem hohen Sparraten Taiwans so erklärt werden. Das Gefühl, einer bestimmten Gruppe anzugehören, führt dazu, daß der Einzelne eher in die Zukunft der Gruppe (Unternehmen, Staat etc.) investiert, als zu konsumieren. Überdies funktioniert in Gesellschaften mit intaktem Gruppenverständnis das Subsidiaritätsprinzip, und die Gruppe übernimmt Verantwortung für ihre Mitglieder et vice versa. Diese subsidiär zum Staat existierenden Sicherheitssysteme können die volkswirtschaftlichen Kosten beträchtlich senken. So konnten bspw. während des Aufbauprozesses durch Altersvorsorge etc. entstehende Lohnnebenkosten gering gehalten werden. Dadurch standen diese Ressourcen für andere, produktivere Verwendungen zur Verfügung. Ein weiterer Effekt des starken Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe - z. B. den Betrieb - ist darin zu erkennen, daß der Wille zur Gründung betriebsübergreifender Gewerkschaften nicht entstand252. 250 .,Keinerlei Vollkommenheit aber konnte anders erreicht werden als durch nie aufhörendes Lernen." Weber, Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 150. 251 Vgl. Vogel, Four little Dragons, S. 98 f. 252 Vgl. ebenda, S. 100.

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Als letzten wichtigen Punkt führt Vogel die gängige Praxis der Selbstkultivierung an. Er zieht hier eine Paralelle zwischen Konfuzianismus und Protestantismus, dem seit Weber das stete Streben nach Selbstvervollkommnung nachgesagt wird. Vogel weist auf die heute noch auf Taiwan gängigen Tätigkeiten wie Kalligraphie, Malen usw. hin. Diese nur der privaten Vervollkommnung dienenden Praktiken würden seit einigen Jahrzehnten durch weit verbreitete Hobbys ergänzt, die zunächst auch nur um der privaten Selbstverkollkommnung willen ausgeübt würden, aber direkt beruflich anwendbar sind, wie z. B. Sprach- und PC-Kenntnisse. Die besondere volks- wie betriebswirtschaftliche Nützlichkeit dieser neuen Hobbys, die ihm zufolge tief in der chinesischen Seele wurzeln, beschreibt er so: "This restless desire for improvement, utilized by the firm, goes beyond short-term aims and material acquisition" 253 • In der Summe zieht Vogel den Schluß, daß die benannten kulturellen Besonderheiten (Meritokratische Elite, Spezifika des Prüfungssystems, Bedeutung der Gruppe und Selbst-Kultivierung), welche jeweils an industrielle Bedürfnisse angepaßt wurden, Taiwan halfen, die situativen Vorteile besser zu nutzen. Sobald diese Kräfte zusammenkamen, wurde der persönliche Wunsch nach Leistung durch drei entwicklungsbeschleunigende Faktoren verstärkt, die auch in nicht-konfuzianischen Gesellschaften zu finden sind. Erstens nennt er das Entstehen eines neuen Konsumverhaltens und meint das Fokussieren der jeweils nächsten Runde leistbarer KonsumartikeL Zweitens führt er die Exportorientierung Taiwans an, wodurch der internationale Wettbewerbsdruck verstärkt wurde. Drittens schließlich enstand ein success cycle - ein Erfolgszyklus, der daraus resultiert, daß man die erste Runde im internationalen Wettbewerb bestanden hatte, dies bemerkte und die zweite Runde daher mit deutlich erhöhtem Selbstvertrauen und verdopppelten Anstrengungen anging. Auch in der zweiten Runde war Taiwan deshalb Erfolg beschieden und schließlich schien alles erreichbar und nichts mehr unmöglich254 •

253 254

Vogel, Four little Dragons, S. 101. Vgl. ebenda, S. 102 f.

Kapitel3

Kritik der bisherigen Erklärungsansätze und Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches Nach der im vorstehenden Teil erfolgten Darlegung, wie das taiwanesische Wirtschaftswunder bislang erklärt wurde, soll jetzt nach den nützlichen, als gesichert geltenden Erkenntnissen der allgemein bekannten Erklärungsansätze gefragt werden - aber auch danach, wo und weshalb diese zu kurz greifen. Ein Fazit faßt die Erkenntnisgewinne zusammen, und es wird der Versuch einer zunächst auf Taiwan bezogenen Erweiterung unternommen.

I. Kritische Würdigung der vorgestellten Erklärungsansätze 1. Das Prüfkriterium ,Erklärungsgehalt

der vorgestellten Theorien'

Die Kritik an den bisherigen Erklärungsansätzen wird anband der Frage erfolgen, ob sie geeignet sind, den Prozeß des Wirtschaftswunders auf Taiwan hinlänglich umfassend zu erklären. Das Prüfkriterium besteht aus der Überprüfung der Ansätze auf ihren Erklärungsgehalt oder -inhalt. Es ist danach zu fragen, ob sie die Gründe für den taiwanesischen Take-Off hinlänglich umfassend darstellen, mögliche Wechselwirkungen berücksichtigt werden und deren spezifischer Verlauf aufgezeigt wird. Das Prüfkriterium lautet daher: Die bisherigen Erklärungsansätze eignen sich, wenn sämtliche relevanten Faktoren, welche den Prozeß des taiwanesischen TakeOff anstießen, in Gang setzten und in Gang hielten, erfaßt wurden und (vor allem) auch die Wechselwirkungen zwischen ihnen aufgezeigt werden. Das heißt, ein vorgestellter Erklärungsversuch wäre brauchbar, wenn er die Gründe für den taiwanesischen Take-Off hinlänglich umfassend darstellt. Der Terminus hinlänglich umfassend soll dabei darauf verweisen, daß es nicht ausreicht, die Facetten des Wirtschaftswachstums auf Taiwan deskriptiv darzustellen. Vielmehr stellt dieses Prüfkriterium auf die komplexen Interdepenzen zwischen Ökonomie, Politik und Gesellschaft ab.

I. Kritische Würdigung

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Dieser Ansatz ist u. a. durch die Arbeit von Hagen, der bereits früh auf die Interdependenz der Wandlungsprozesse in den Bereichen Ökonomie und Politik hinwies, beeinflußt. "Überall ist wirtschaftliches Wachstum mit politischem und sozialem Wandel verknüpft. ... [Es] wird klar, daß nicht das Wirtschaftswachstum zuerst beginnt und dann den politisch-sozialen Wandel auslöst. Beide Prozesse bedingen sich wechselseitig ... Was immer die Antriebskräfte des Wandels sind, sie wirken in jeden Verhaltensbereich hinein. Deshalb müssen wir alle Theorien mit Skepsis beurteilen, die politischen Wandel nicht gleichzeitig mit dem Übergang zum Wirtschaftswachstum erklären oder politischen Wandel nur als Folge wirtschaftlicher Veränderungen interpretieren" 1 • Hagen fokussiert die Interdependenzen zwischen Ökonomie und politisch-sozialem Wandel. Um in der vorliegenden Arbeit den Prozeß politisch-sozialen Wandels genauer fassen zu können, wird dieser in die beiden Teilaspekte ,Wandel in der Sphäre Politik' und ,Wandel in der Sphäre Gesellschaft' untergliedert. Unter der Sphäre Politik wird hier der originär politische Bereich verstanden, es geht folglich um die Wandlungsprozesse in Legislative, Parteien, Verbänden und politischem Beamtentum. Die Sphäre Gesellschaft dagegen soll jene Wandlungsprozesse analytisch erfassen, die auch landläufig mit dem Begriff Gesellschaft verknüpft sind also die Wandlungsprozesse in den Einstellungen der Menschen sowie in der Art, in welcher die Menschen ihr Zusammenleben organisieren. Insofern geht der in dieser Arbeit verwendete Ansatz über die Arbeiten von Hagen hinaus, da der Versuch unternommen wird, auch die Interdependenzen zwischen Gesellschaft und Politik sowie zwischen Gesellschaft und Ökonomie zu erfassen. Ein hinlänglich umfassender Ansatz zur Erklärung des taiwanesischen Wirtschaftswunders müßte demnach alle wirtschaftlichen Interaktionen der Gesellschaft greifen können. Da es sich um Interaktionen handelt, sollten auch die Gründe für den Prozeß des Wirtschaftswachstums dargelegt werden können. Ein hinlänglich umfassender Erklärungsversuch müßte demzufolge die Systemzusammenhänge greifen können - mithin systemisch, im Sinne von sich wechselseitig bedingend, orientiert sein. In dem hier interessierenden Zusammenhang heißt dies: Wenn es in Gesellschaften, die sich im Take-Off Prozeß befinden, zu Interaktionen kommt, dann sollte ein hinlänglich umfassender Erklärungsansatz drei besonders wichtige Punkte zu greifen suchen2 : I Everett E. Hagen, Traditionalismus, Statusverlust, Innovation, in: Zapf, S. 351 - 361, hier S. 352. Die Bezeichnung "früh" rührt daher, daß der im Folgenden herangezogene Beitrag von Hagen im englischsprachigen Original bereits 1963 erschien und die Behandlung der politischen Ordnung in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur damals gängigerweise noch im Datenkranz und damit außerhalb der Analyse erfolgte. Vgl. auch Everett E. Hagen, How Economic Growth Begins: A Theory of Social Change, in: The Journal of Social Issues, Vol. 19 (1963), S. 20-34. 2 Bei der Konzeption der Prüfkriterien habe ich u. a. von Schadendorf profitieren können. Dieser unterscheidet allerdings nur die beiden Kriterien ökonomische und politische Sphäre.

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3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

a) Es sollen Antworten gegeben werden, wodurch der Prozeß des wirtschaftlichen Take-Off angestoßen werden konnte. Die vorliegende Analyse wählt dabei die gewählten Politikinstrumente und -mixe als Ausgangspunkt der Veränderungen im Ökonomischen und lehnt sich insoweit an die in der Literatur vorherrschende gedankliche Struktur an3 • b) Außerdem soll beantwortet werden, warum jene Politikmixe, die als notwendig für den Take-Off identifiziert wurden, formuliert und umgesetzt wurden. c) Darüber hinaus sollen die möglichen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Sphäre gezeigt werden können und es soll der Versuch unternommen werden, die Gründe des spezifischen Verlaufs etwaiger Wechselwirkungen zwischen den Sphären darzustellen. Diese drei Punkte umfassen unterschiedliche analytische Dimensionen. Hinter dem Punkt a) verbirgt sich die Frage nach den Wandlungsprozessen in der ökonomischen Sphäre. Wie veränderte sich die ökonomische Sphäre aufgrund der vom jeweiligen Erklärungsansatz als notwendig angesehenen, durchgesetzten Politikinstrumente? Der Punkt b) widmet sich den Wandlungsvorgängen in der politischen Sphäre. Wie kam es dazu, daß die Bedingungen und Strukturen des politischen Prozesses so beschaffen waren, daß genau jene vom jeweiligen Erklärungsansatz als notwendig angesehenen Politikinstrumente und -mixe formuliert und durchgesetzt wurden? Mit dem Punkt c) sollen die Interaktionen bzw. die Wandlungen der gesellschaftlichen Sphäre erfaßt werden. Wie kam es dazu, daß die vom j eweiligen Erklärungsansatz als notwendig angesehenen Politikmixe Wechselwirkungen bzw. Interaktionen auslösten, die ihrerseits den Take-Offförderten und beschleunigten? Dies ist die an dem systemischen Gedanken orientierte Frage, denn sie fragt nach der Funktionsweise der Klammer zwischen den Sphären Ökonomie und Politik und wirft die Frage nach den Wechselwirkungen innerhalb einer sich im Umbruch befindenden Gesellschaft auf.

Erst die hier erfolgte Erweiterung um die gesellschaftliche Sphäre ermöglicht m.E. eine umfassende Kritik. Vgl. Jens Schadendorf, Take-Off Prozesse in Ostasien. Herkömmliche Erklärungen und Bausteine eines alternativen Erklärungsmodells, Seminar für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Freiburg I Schweiz 1994. 3 Dies geschieht ausschließlich aus Gründen der Komplexitätsreduktion (Henne-Ei-Problematik) - nicht jedoch als Präjudizierung. Es soll hierdurch keineswegs ausgeschlossen werden, daß Veränderungen des ökonomischen Bereiches aus sich selbst heraus entstanden sein könnten und dann ihrerseits Veränderungen der Politikinstrumente und -mixe nach sich zogen. Lediglich aus dem Grunde, daß in jedem System sich gegenseitig beeinflussender Größen ein Ausgangspunkt gewählt werden muß, wird hier in Anlehnung an die Literatur der Bereich Politik als Anstoß der Veränderungen gewählt.

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I. Kritische Würdigung

2. Anwendung des Prüfkriteriums auf die vorgestellten Erklärungsansätze4

Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den bisherigen Erklärungsansätzen und den in ihnen enthaltenen nützlichen Erkenntnissen. Zunächst wird geschildert, welcher Erkenntnisgewinn aus welcher Theorie gezogen werden kann sowie wo und warum die bisherigen Erklärungsansätze zu kurz greifen. Dies soll anband der eben formulierten Gedankengänge erfolgen. Ziel ist es, den Erklärungsgehalt der bisher vorgestellten Erklärungsansätze vor dem Lichte obiger Prüfkriterien zu untersuchen. Konkret sind dies der neoklassische Ansatz, der Revisionismus, der Standpunkt der Weltbankökonomen, die agnostische Sicht sowie die kulturalistische Erklärung. Nach Überprüfung der Erklärungsansätze anband der aufgestellten Kriterien ergab sich bezüglich ihrer weiterverwendbaren Erkentnnisgewinne folgendes Gesamtbild, das hier zum Zwecke der verbesserten Übersicht tabellarisch wiedergegeben wird, bevor die Überprüfung im Einzelnen dargelegt wird. Tabelle4 Anwendung der Prüfkriterien auf die Erklärungsansätze Kriterium a) erfüllt?

Kriterium b) erfüllt?

Kriterium c) erfüllt?

Ja

Nein

Nein

Revisionismus

Nein

Ja

Nein

Weltbankansatz

Ja

Ja

Nein

Agnostiker

Nein

Nein

Nein

Kulturalisten

Nein

Nein

Ja

Neoklassik

a) Der neoklassische Erklärungsansatz In bezug auf den Punkt a) stellt der neoklassische Ansatz einen deutlichen Erkenntnisgewinn dar. Das Herausstellen der Neutralität der Wirkungen des Systems, die aus der Beschränkung der Staatsinterventionen auf die Erstellung der wahren 4 In den Unterabschnitten, welche sich mit der Kritik des neoklassischen, des revisionistischen sowie des Erklärungsansatzes der Weltbank befassen, habe ich von Schadendorf profitieren können. Dieser unterscheidet allerdings nur die beiden Prüfkriterien ökonomische und politische Sphäre (Punkte b. und c.). Überdies geht er auf den agnostischen Ansatz sowie die kulturalistische Sicht nicht ein. Insoweit kann die vorliegende Kritik als Erweiterung der Schadendorf'schen gesehen werden. Vgl. hierzu Schadendorf

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3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

öffentlichen Güter folgte, die freihändlerisch orientierte Ausrichtung des gesamten Systems auf Offenheit dem Weltmarkt gegenüber und die daraus folgende Intensivierung des Wettbewerbsdruckes im Inland sowie die Bereitstellung eines stabilen makroökonomischen Umfeldes stellen den von den Neoklassikern als Take-Off förderlich identifizierten Politikmix dar.

Über die Nennung der Politikinstrumente hinaus erläutern die Neoklassiker den Verlauf des Take-Off eingehend. Die Weltmarktorientierung der heimischen Produktion sollte eine exportgeführte Industrialisierung auslösen. Neben dem reinen Mengenwachstum (größerer potentieller Markt) löste das schnelle Exportwachs~ turn einen Wandel in den gesellschaftlichen Strukturen aus, der zwar von einigen Neoklassikern erwähnt, aber nirgends zum expliziten Analysegegenstand erhoben wird. Neben der potentiellen Vergrößerung des Marktes löste das rasche Exportwachstum vor allem den Wandel weg von Transaktionen auf einem bekannten (Dorf-, Wochen-) Markt hin zu Transaktionen auf einem anonymen (länderübergreifenden) Markt aus. Angesichts des zunehmenden Wegfalls persönlicher Beziehungen zwischen den Marktteilnehmern, kann neben der Veränderung der Marktgröße eine Veränderung der Tauschpartnerstruktur beobachtet werden. Diese Veränderung in der Tauschpartnerstruktur ist durch die Zunahme anonymer Markttransaktionen gekennzeichnet. Dies ist ein typisches Merkmal des Übergangs zur Industriegesellschaft und damit Anzeichen der raschen Industrialisierung, welche ihrerseits mit einer deutlichen Zunahme arbeitsteiliger Produktion einhergeht. Eine plausible Folge des Wandels in der Tauschpartnerstruktur ist dann die Herauslösung der Marktteilnehmer aus den traditionellen Strukturen wie Familie, Clan, Dorf und lokaler Marktaufgrund von Landflucht, Urbanisierung und Agglomerationsprozessen. Dies löst einen neuen Schub im Wandel der Struktur der Marktteilnehmer aus, denn die Markttransaktionen mit Unbekannten nehmen abermals zu - der Prozeß ist selbstverstärkend. Eine weitere Folge der Industrialisierung ist die abnehmende Bedeutung der Landwirtschaft und die zunehmende der Industrie. Dies läßt die Vermutung zu, daß sich nicht nur die Beziehung der Marktteilnehmer untereinander, sondern auch die Beziehung zwischen dem Marktteilnehmer und dem von ihm gehandelten Gut verändert. Auch die Beziehung zwischen Marktteilnehmer und gehandeltem Gut dürfte anonymer werden, wodurch als weitere Folge des Industrialisierungsprozesses und der Herauslösung aus den statischen Strukturen die relative Bedeutung des materiellen Tausches zugenommen haben dürfte und die der immateriellen Werte im Sinne von persönlichen oder räumlichen Präferenzen abgenommen haben wird. Zusammenfassend wird das Wirtschaftswachstum als Folge des Wandels in der Struktur der Marktteilnehmer und der gehandelten Güter beschrieben. Wirtschaftswachstum ist Ausdruck des zunehmenden Wertes beim materiellen Tausch. Je hochwertiger die gehandelten Güter sind, desto größer ist ceteris paribus der Effekt auf das Wirtschaftswachstum. Und je häufiger die hochwertigen Güter gehandelt

I. Kritische Würdigung

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werden, desto größer wird ceteris paribus auch hier der Effekt auf das Wirtschaftswachstum sein. Exportausrichtung und Industrialisierung spielten hierbei offensichtlich eine beachtliche Rolle. Denn hochwertige Güter werden typischerweise in einem Prozeß zunehmend arbeitsteiliger Produktion oder des technologischen Upgrading hergestellt. Exportwachstum führt dann dazu, daß die Vergrößerung der Gruppe der Marktteilnehmer auch die Häufigkeit des materiellen Tausches und somit das Wirtschaftswachstum erhöht. Kritisch anzumerken ist, daß das von den Neoklassikern geschilderte Bild (und hier besonders die weitgehende Beschränkung der Staatseingriffe) der Empirie teilweise nicht entspricht oder zumindest umstritten ist. Wie ausgeführt, haben insbesondere Wade und Amsden wiederholt auf den Umstand hingewiesen, daß die Eingriffe des Staates keineswegs neutral oder auf die Erstellung nur der wahren öffentlichen Güter beschränkt waren, sondern daß sektor- und industriespezifische Interventionen systematisch erfolgten5 . In bezug auf die Punkte b) und c) stellt der neoklassische Ansatz daher keinen Erkenntsnisgewinn dar. Wichtig ist, daß die geschilderten Veränderungen in der ökonomischen Sphäre rticht aus sich selbst heraus stattfanden - auf die Veränderungen in politischer und gesellschaftlicher Sphäre geht der neoklassische Ansatz aber nicht ein. Er erklärt nicht, warum welche Politikmittel zur Anwendung kamen und auch die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen wird nicht analysiert. Die Ursache ist grundlegender Natur, denn die traditionelle, nicht-institutionenökonomische Neoklassik blendet Politik und Institutionen aus. "Policy is simply a matter of making the right choices; ,incorrect' policy reflects misguided ideas or Iack of political wi11"6 . Haggard formuliert die interessante Frage, warum die vorgeblich überlegene neoklassische Politik so selten angewandt wurde. Die Antwort liegt in den Anreizmechanismen für die handelnden Politiker verborgen, also gerade bei den in der neoklassischen Analyse nicht untersuchten Institutionen bzw. Regeln einer Gesellschaft. Wegen dieser grundsätzlichen Mängel erfüllt der neoklassische Erklärungsansatz die obigen Anforderungen an einen hinlänglich umfassenden Erklärungsansatz nur unzureichend.

5 Vgl. Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective lndustrial Policy; Amsden, Asia's next giant; Wade, Latin America and East Asia compared; Wade, Goveming the Market; Robert Wade, East Asian Financial Systems as a Challenge to Economics: Lessons from Taiwan, in: California Management Review, Vol. XXVTI, No. 4 (Sommer 1985), S. 106- 127; Robert Wade, State-Intervention in ,Outward-Iooking' Development: Neoclassical Theory and Taiwanese Practice, in: White; Robert Wade, The State-Market Dilemma in East Asia, in: Ha-Joon Chang/Robert Rowthom (Hg.), The Role of the State in Economic Change, Oxford 1995, S. 110-136. 6 Haggard, S. 9. Hervorhebung im Original.

144

3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

b) Der revisionistische Erklärungsansatz In bezug auf den Punkt a) läßt sich bei den Revisionisten eine grundsätzlich andere Herangehensweise als bei den Neoklassikern feststellen. Sie bestreiten nicht, daß eine Politik, die auf Weltmarktintegration mit Exportorientierung und möglichst wettbewerbsstarke Faktormärkte ausgerichtet ist, zum Take-Off beiträgt. Langfristig darf es also auch der revisionistischen Sicht zufolge nicht zu Preisverzerrungen kommen, kurzfristig aber schon. Der grundsätzliche Unterschied zu den neoklassischen Entwicklungsökonomen liegt darin, daß diese betonen, nur eine Politik, die auch kurzfristig auf die Vermeidung von Preisverzerrungen auf den Märkten zielt, zum Take-Off führt. Die bereits angeführten empirischen Untersuchungen revisionistischer Ökonomen haben mittlerweile gezeigt, daß auf Taiwan die Preise durch die verfolgten Konzepte (controlled targeting potential winners, goveming the market, getting the prices wrang) bewußt von den Regierungen verzerrt wurden. Insofern sind die revisionistischen Erkenntnisse dichter an der Empirie als die Neoklassik, worin ein Erkenntnisgewinn gesehen werden kann7 . Die Wachstumsdynamik jener Sektoren, in denen es nicht zu staatlicher Intervention kam, wird von der revisionistischen Literatur jedoch nicht erklärt. Die Ursache hierfür liegt in dem Zweck ihrer Untersuchungen begründet, denn sie wollten Existenz und Entwicklungsdienlichkeit staatlicher Intervention beweisen. Aus diesem Grunde ergibt sich hier mit bezug auf Punkt a) ein geringes Erklärungsdefizit des revisionistischen Erklärungsansatzes. In bezug auf den Punkt b) birgt der Revisionismus gegenüber den Neoklassikern einen deutlichen Erkenntnisgewinn. Waren dort Politik und Institutionen weitgehend unberücksichtigt geblieben, so rückt der revisionistische Erklärungsansatz den politischen Prcizeß mit den relevanten Entscheidungsträgern - das Verhältnis von Politik und Institutionen sowie die politische Struktur, in welchem sich der Entscheidungsfindungsprozeß mitsamt seinen Rückwirkungen auf die Struktur, abspielt- in den Mittelpunkt der Untersuchung. Nach revisionistischer Sicht ist Entwicklung gerade von staatlicher Intervention abhängig. Ihrer Ansicht nach konnte erst das gezielte Getting the prices wrang die überdurchschnittliche Entwicklung Ostasiens ermöglichen. Bewußt gesetzte Preisverzerrungen sollten dabei die Marktkräfte stärken, dadurch die Privatinitiative fördern und schließlich die internationale Wettbewerbsfähigkeit heben. Dabei erkannten die Revisionisten den strategischen Faktor staatlichen Handeins im Gegensatz zu den Neoklassikern nicht in der Quantität der Intervention, sondern in seiner Qualität. Um die für notwendig gehaltenen staatlichen Eingriffe auf einem möglichst hohen qualitativen Niveau zu halten, bedarf es ihrer Ansicht nach eines durchsetzungsfähigen Staates. Denn nur 7 Vgl. Amsden, Structural Macroeconomic Underpinnings of Effective Industrial Policy; Amsden, Asia's next giant; Wade, Latin America and East Asia compared; Wade, Goveming the Market; Wade, East Asian Financial Systems as a Challenge to Economics; Wade, StateIntervention in ,Outward-looking' Development; Wade, The State-Market Dilemma in East Asia; UNCTAD, Trade and Development Report 1994, S. 49-76.

I. Kritische Würdigung

145

dieser habe die Fähigkeit, eine einseitige Ausnutzung der Spielregeln (rent seeking activities) zu verhindern und die Kraft, zukunftsträchtige Sektoren, Industrien und Märkte auf Basis des Vergleiches mit weiter fortgeschrittenen Ländern zu identifizieren und eine Politik des catching up oder targeting potential winners durchzusetzen. Die Erkenntnisgewinne liegen demnach in der stärker differenzierten Beurteilung staatlicher Interventionen und dem Hinweis auf die Praxis der Orientierung an anderen, bereits erfolgreichen Staaten. Stärkster Kritikpunkt ist jedoch, daß die Entstehung, Durchsetzung und Aufrechterhaltung des Entwicklungsstaates ostasiatischer Prägung nicht beleuchtet wird. In bezugauf den Punkt c) muß kritisch angemerkt werden, daß dieser weitgehend nicht Untersuchungsgegenstand war und somit die Wechselwirkungen innerhalb des Systems auch von den Revisionisten weitgehend unberiicksichtigt blieben. Warum ließen sich bspw. Arbeitnehmerinteressen in Ostasien so lange zuriickstauen? Setzte sich die Politik rigoros durch oder handelt es sich um individuelle Wahlhandlungen im Sinne eines Tausches ,Konsum heute gegen eine bessere Zukunft morgen'? Diese und weitere Fragen beantwortet die revisionistische Sicht unter Verweis auf den starken Staat, ohne allerdings einzubeziehen warum dieser sich durchsetzte, also ohne die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Sphäre und den übrigen beiden Sphären zu analysieren. Ein hinlänglich umfassender Erklärungsansatz müßte auch diesen Fragen nachgehen.

c) Der Erklärungsansatz der Weltbank

Der Weltbankansatz kann als Versuch gesehen werden, die Erklärungsmuster von Neoklassikern und Revisionisten zu verbinden. Die Erkenntnisgewinne gehen dabei sowohl über den neoklassischen wie auch über den revisionistischen Ansatz hinaus. Der Weltbankansatz stellt analog zu den Revisionisten heraus, daß eine bestimmte Qualität der Interventionen entscheidend war. Neu an dem Weltbankansatz ist, daß versucht wird, ein für alle HPAEs gültiges Politikmix zu identifizieren und dieses dann durch länderspezifische Komponenten zu ergänzen. Die Herausstellung der den allgemeinen Politikmix komplementierenden, länderspezifischen Politikmuster erlaubt erstmals eine ansatzweise Differenzierung zwischen den einzelnen Take-Off Situationen. Als in allen HPAEs übereinstimmendes (und damit auch auf Taiwan vorhandenes) Politikmuster werden sieben Ziele identifiziert. Erstens die Erreichung makroökonomischer Stabilität. Zweitens die Schaffung einer möglichst breiten und qualitativ hochwertigen Humankapitalbasis und drittens die Offenheit gegenüber ausländischer Technologie. Diese drei Ziele können als Versuch interpretiert werden, die gemeinsamen Erkenntnisse der Neoklassiker und Revisionisten darzulegen. Die Zulassung nur geringer Preisverzerrungen auf den Faktormärkten sowie die Si10 Fronius

146

3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

cherung eines effizient arbeitenden Finanzsystems stellen die Ziele vier und fünf dar8 . Sie setzen an den grundsätzlichen Unterschieden zwischen neoklassischer und revisionistischer Sichtweise, den Preisverzerrungen, an. Insoweit kann der Weltbankansatz als ein Versuch gesehen werden, die Dichotomie zwischen Revisionismus und Neoklassik zu überwinden - die Ziele vier und fünf können als Klammer zwischen den antagonistischen Ansätzen interpretiert werden. Die beiden letzten Ziele - die Betonung der gezielten Entwicklung des landwirtschaftlichen Bereichs und ihre Relevanz im Take-Off Prozeß sowie die Bedeutung der relativ gleichmäßigen Einkommens- und Vermögensverteilung für den Take-Off Prozeß sind gänzlich neue Erkenntnisse. Neben dem obigen, in allen HPAEs vorhandenen Politikcluster betont die Weltbank länderspezifische Politikvariablen. Hier kapriziert sie sich auf die länderspezifisch unterschiedlichen Politikmittel zur Eingrenzung der Preisverzerrungen. Der Erkenntnisgewinn liegt darin, daß die Weltbank herausstellt, Interventionen erfolgten nur, wenn diese als exportfördernd angesehen wurden. Für Taiwan stellt sie heraus, daß die Sicherung des inländischen Wettbewerbs um Exportfördermittel nicht nur auf dem Markt erfolgte, sondern auch in marktanalog aufgebauten Verfahren (contests). Entscheidend hieran ist, daß das Funktionieren der Wettbewerbssicherung, die Vermeidung von rent seeking activities und so die Erreichung des eigentlichen Zieles Exportförderung nur deshalb funktionierte, weil auf Taiwan die hierfür notwendigen institutionellen Bedingungen gegeben waren. Zu diesen zählt die Weltbank die Abschottung der Bürokratie vom politischen Tagesgeschäft, das hohe Leistungsvermögen (den ökonomischen Sachverstand) der Bürokraten, die geringe Korruptionsanfälligkeit im bürokratischen System, die Überwachung und Durchsetzung der Wettbewerbsregeln mittels Contest, wodurch die Entstehung von rent seeking activities verhindert werden konnte, und schließlich die Senkung der Transaktionskosten durch die Förderung des Informationsaustausches zwischen staatlichem und privatem Sektor, um so die Zusammenarbeit in Richtung auf den Take-Off zu erleichtern. In bezug auf den Punkt a) beinhaltet der Erklärungsansatz der Weltbankökonomen die folgenden deutlichen Erkenntnisgewinne sowohl gegenüber den Erkenntnissen der Neoklassiker als auch gegenüber denen der Revisionisten. Über die in den beiden erstbehandelten Erklärungsansätzen enthaltenen Erkenntnisse hinaus, betont die Weltbankstudie erstens die Entwicklungsdienlichkeit der taiwanesischen Entwicklungspolitik im Primärsektor sowie die Relevanz des Growth cum Equity Prinzips, also der Bildung von Wachstumskoalitionen mittels einer auf Gleichmäßigkeit ausgerichteten Einkommens- und Vermögensverteilungspolitik.

s Inwieweit dies heute noch als gültig angesehen werden kann ist hier irrelevant - es geht ausschließlich um die Darstellung und Kritik der Sichtweise des Sonderberichts der Weltbankökonomen aus dem Jahre 1993, also weit vor Ausbruch der Asienkrise.

I. Kritische Würdigung

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Die Weltbankstudie versucht zweitens, die beiden antagonistischen Erklärungsmodelle von Neoklassikern und Revisionisten an ihrem zentralen Unterschied, der Qualität des staatlichen Handeins in bezug auf die Preisverzerrungen zusammenzuführen. Hierbei deckt sich die Ansicht der Weltbankökonomen weitgehend mit der revisionistischen Position, daß es weniger auf die Quantität als vielmehr auf die Qualität staatlicher Intervention ankommt. Gleichzeitig führt die Weltbankstudie weiter als die revisionistischen Studien, indem sie darauf verweist, die Qualität staatlicher Intervention und die Ersetzung des Marktes durch marktanaloge Mechanismen hänge weitgehend von den vorhandenen institutionellen Kapazitäten einer Volkswirtschaft ab. Auf diese Art bezieht die Weltbank die politische Sphäre mit ihren Wirkungen auf die ökonomische Sphäre ein Stück weit ein und kann so zu differenzierteren Ergebnissen kommen, als die starren Modelle von Neoklassik und Revisionismus dies vermögen. Die Differenzierung ist insbesondere darin zu sehen, daß die Weltbankstudie zwei notwendige und eine hinreichende Bedingung des Take-O.ffherausarbeitet. Die notwendigen Bedingungen sind das in allen HPAEs vorhandene Politikmix sowie das Bündelländerspezifischer Politikvariablen, die von Land zu Land unterschiedlich angewandt wurden. Das allgemein vorhandene Politikmix hat damit den Charakter einer in allen HPAEs vorhandenen notwendigen Bedingung. Das länderspezifische Politikvariablenbündel hat dann den Charakter einer länderspezifisch notwendigen Politikbedingung, da die Wahl der jeweiligen Politikvariablen und die Intensität ihres Einsatzes von den im Land gegebenen institutionellen Bedingungen abhängig ist. Sowohl das allgemeine Politikmix als auch das Politikvariablenbündel sind -jede für sich - notwendige Bedingung des Take-Off. Erst die auf die institutionellen Gegebenheiten der jeweiligen Volkswirtschaft abgestimmte Kombination aus beidem wird in der Weltbankstudie als die für den Take-Off länderspezifisch hinreichende Politikkombination dargestellt. Eine Differenzierung ist nun möglich anhand der aus dem länderspezifisch unterschiedlichen Bündel angewandter Politikvariablen und ihrer Anwendungsintensität Die Differenzierungen ergeben sich aus den im Modell berücksichtigten Rückkoppelungen und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen politinstitutionellen Bedingungen einerseits und konkret gewählten Politikkombinationen andererseits. Die Weltbankstudie geht bei ihrer politinstitutionellen Differenzierung davon aus, daß sich jedes Land bei der Implementierung der länderspezifisch hinreichenden Politikkombination an den eigenen Verhältnissen orientierte. Derart komplexe Prozesse können nicht am Reißbrett von Entwicklungsplanem entworfen werden, sie müssen vielmehr in einer langwierigen Abfolge von Versuchen, Irrtümern und neuen Versuchen entwickelt werden. Daher wird in der Weltbankstudie herausgestellt, daß die HPAEs von erfolgreichen Vorbildern lernten und die dort erfolgreichen Politikkombinationen an die eigenen Verhältnisse anpaßten. Mit anderen 10*

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3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

Worten war die hierzu nötige politische Flexibilität in den HPAEs in genügendem Ausmaß vorhanden. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Weltbankstudie mit Bezug auf Punkt a) im Vergleich mit Neoklassikern und Revisionisten die bei weitem umfangreichsten und am stärksten ausdifferenzierten Ergebnisse liefert. In bezug auf den Punkt b) sind jedoch einige Erkenntnisdefizite festzuhalten. Die Weltbankstudie zeigt zwar die Anknüpfungspunkte von der ökonomischen zur politischen Sphäre auf, analysiert sie weitgehend aber nicht. Die institutionalisierte Allianz zwischen ökonomischen und politischen Entscheidungsträgem wird deutlich herausgestellt - etwa wenn die hochritualisierte und institutionalisierte Kommunikation zwischen privatem und öffentlichen Sektor angesprochen wird- doch dieser für das Verständnis der politischen Gestaltung des Take-Off Prozesses wichtige Aspekt wird nicht in den engeren Kern des Weltbankansatzes hineingearbeitet9. Es wird auch versäumt aufzuzeigen, wie sich diese Allianzen auf den politischen Gestaltungsprozeß im Detail auswirken. Ein Vergleich mit der revisionistischen Argumentationskette zeigt, daß diese mit dem zentralen Element des starken Staates und der Einbindung formeller und institutioneller Regeln in die Analyse hier größere Erkenntnisgewinne für sich verbuchen kann.

Darüber hinaus unterscheidet die Weltbankstudie nicht hinreichend zwischen Einflußfaktoren, die im unmittelbaren Beeinflussungsbereich der politischen Entscheidungsträger liegen und solchen, welche die Entscheidungen zwar beeinflussen, selbst aber nicht beeinflußbar sind. Beispielhaft ist, daß die Weltbank zwar ein wichtiges Problem im Prozeß des nation building anspricht, nämlich daß alle politischen Führer in den HPAEs (z. B. Chiang Kai-shek auf Taiwan) aufzeigen mußten, warum gerade sie und nicht jemand anders führen sollte, dieses Problem aber weder in das Erklärungsmodell integriert noch darauf verwiesen wird, daß es sich hier möglicherweise um ein Datum handelt. In bezugauf den Punkt c) bietet die Weltbankstudie geringe Erkenntnisgewinne. Zwar werden die oben skizzierten Wechselwirkungen zwischen politischer und ökonomischer Sphäre eingehend beleuchtet und die Wechselwirkungen dieser beiden Sphären mit dem Phänomen Gesellschaft wird an der einen oder anderen Stelle erwähnt, insgesamt jedoch bleibt die Einbeziehung der gesellschaftlichen Sphäre ungenügend. Wie schon bei den Revisionisten bleibt hier vor allem ungeklärt, warum sich die Individuen (und damit auch die Gesellschaft als Ganzes) so hervorragend in den von Politik und Unternehmern verfolgten Wachstumspfad integrieren ließen. Die Weltbank verweist hier auf die Entstehung von Wachstumskoalitionen im Zusammenhang mit der gleichmäßigen Einkommens- und Vermögensverteilungspolitik, und sie führt als weitere mögliche Ursache die ständige militärische Bedrohung Taiwans an. Was sie indes versäumt, ist von der Schilderung einzelner Wirkungen zu einer Gesamtdarstellung der Wechselwirkungen innerhalb eines Sy9

Vgl. Weltbank, East Asian Miracle, S. 180 ff.

I. Kritische Würdigung

149

stems zu gelangen. Insofern genügt auch die Weltbankstudie nicht allen Anforderungen an einen hinlänglich umfassenden Erklärungsansatz.

d) Die agnostische Sicht

Die agnostische Sicht beansprucht nicht, ein Versuch zu sein, den taiwanesischen Wachstumsprozeß zu erklären. Die agnostische Schule verweist im Gegenteil darauf, daß eindeutige Kausalketten für die Entstehung von Wirtschaftswachstum bislang nicht nachweisbar waren. Ihrer Ansicht zufolge gilt daher: " . .. we can say nothing meaningful ... because we cannot properly identify how .. policies spur growth" 10• In bezugauf die Fragen a) bis c) kannnein Erkenntnisgewinn daher nicht erwartet werden - dieser ist nicht vorhanden, weil er nicht intendiert war. Gleichwohl bietet der agnostische Ansatz einen Erkenntnisgewinn außerhalb der Reichweite der Fragen a) bis c). Dieser liegt in dem Hinweis, daß Wachstumsursachen zwar erahnbar, aber nicht eindeutig identifizierbar sind. Dies liegt im positiven Falle daran, daß die Ursachen der Wachstumsprozesse zu mannigfaltig sind mithin kein monokausaler Erklärungsansatz dem Bild der Realität genügen kann. Im negativen Falle dagegen läßt sich das Wirtschaftswachstum nur unter Rückgriff auf den historischen Zufall erklären - was für lernwillige Entwicklungsländer gleichermaßen unbefriedigend ist wie für die nach den Wachstumsursachen forschende Ökonomenzunft

e) Die kulturalistische Erklärung

Im Gegensatz zu Neoklassikern und Revisionisten liegt der kulturalistische Forschungsschwerpunkt auf der Beantwortung der Fragen, welche sich im Zusammenhang mit Punkt c) stellen. Denn die Kulturalisten versuchen, einen Einblick in die Wirkungszusammenhänge der Gesellschaft zu erhalten und dort die entwicklungsdienlichen Faktoren zu identifizieren. In bezug auf die Punkte a) und b) können keine Erkenntnisgewinne erwartet werden, welche über die geschilderten neoklassischen und revisionistischen Erkenntnisse hinausgehen. Dabei identifizieren die meisten Kulturalisten neben anderen entwicklungsdienlichen Faktoren ähnlich wie die Revisionisten durch die Betonung der Existenz und Entwicklungsdienlichkeit der meritokratischen Elite einen starken Staat. In bezugauf den Punkt c) ist zunächst festzuhalten, daß die Besonderheiten der chinesischen Kultur von den Kulturalisten in einer Weise herausgestellt werden, die geeignet ist, die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher, politischer

10

Sarel, S. l 0.

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3. Kap.: Entwicklung eines systernischen Erklärungsversuches

und ökonomischer Sphäre zu beschreiben. So etwa wenn dargelegt wird, daß sich die meritokratische Bürokratie in ihrem Handeln unter Beschränkung des Eigeninteresses am Gemeinwohl orientierte, dadurch moralisch legitimiert wurde und es auf diese Weise einfacher wurde, für das einzelne Individuum unangenehme Maßnahmen durchzusetzen. Verstärkt wurde dieser Effekt sowohl durch die große Bedeutung der Gruppe als auch durch die Existenz von Aufnahmepriifungen in das Bildungssystem. Die Unterordnung individueller Interessen unter das Gesamtinteresse kann auf diese Weise erklären, warum die Lohnhöhe auf Taiwan über lange Zeit hinweg auch nach unten flexibel war und kann darüber hinaus zeigen, warum taiwanesische Arbeitnehmer jahrzehntelang vergleichsweise willig Lohnsteigerungen akzeptierten, welche sich an der Produktivitätsentwicklung orientierten und warum der für den Westen so typische Verteilungsaspekt bei Lohnverhandlungen keine Rolle spielte. Auch ist die Definition der Gruppe im Sinne von Familie, Clan, Dorf oder Betrieb geeignet, aufzuzeigen, warum es kaum zur Bildung betriebsübergreifender Gewerkschaften kam. Die gesellschaftliche Akzeptanz eines Examinierungssystems, welches Aufnahmepriifungen als zentralen Bestandteil beinhaltet, wirkt in dem Sinne entwicklungsdienlich, da es erstens die Bedeutung der Examina (verglichen mit ihrer Bedeutung in der westlichen Welt) verstärkt und zweitens die Offenheit des Systems betont. Die Besten können es schaffen und jeder könnte der Beste sein. Denn derjenige, welcher die besten Prüfungsergebnisse vorwies und nicht deijenige, welcher die besten Beziehungen hatte, konnte zu Ehre, Ruhm und einflußreichen Positionen im Regierungsapparat gelangen. Die von den Kulturalisten so beschriebene Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Sphäre ist leistungshonorierend und damit ein entwicklungsdienlicher Faktor. Der letzte von den Kulturalisten hervorgehobene Aspekt, die Bedeutung der Selbstkultivierung, kann insofern Wechselwirkungen zwischen den drei Sphären aufzeigen, da unterstellt wird, Chinesen würden stets nach Perfektion streben. Dies kann -je nach angestrebtem Bereich - entwicklungsfördernd sein. So z. B. wenn das Streben nach Perfektion auf die Sprach- und PC- Kenntnisse bezogen wird 11 • In der Summe zeigt sich, daß die Kulturalisten den Punkt c) recht anschaulich und plausibel untersuchen. In bezug auf Punkt c) muß der kulturalistischen Sicht jedoch auch kritisch entgegengehalten werden, daß die stete Bezugnahme auf den Faktor Kultur eindimensional bleibt. Vor allem darf Kultur nicht fälschlich mit Religion übersetzt werden. Fischer führt mit Bezug auf den in der Protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus dargelegten Weber'schen kulturhistorischen Ansatz treffend aus: "We know today that the ,innerworldy askesis' which many western European and American businessmen displayed, . . . , did not necessarily derive from religious beliefs, but could also be influenced by other factors, for exli

Vgl. Vogel, Four little Dragons, S. 101.

I. Kritische Würdigung

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ample, the minority position in a particular society or an immense drive to lay the foundations for a Iasting family fortune" 12. Verhaltensweisen haben demnach unzählige, häufig überdies vielfach miteinander verwobene Ursachen. So sollte es m.E. nicht zwingend auf die vorgebliche Überlegenheit der konfuzianischen Kultur zurückgeführt werden, daß taiwanesische Arbeitnehmer vergleichsweise wirtschaftsfreundlich agierten. Dies könnte genausogut auf repressive Politik im Rahmen der Entwicklungsdiktatur zurückgehen. Lee schreibt hierzu: "Es war nicht die vermeintlich konfuzianische Tradition, sondern vielmehr die sich in alle Angelegenheiten einmischende, meist brutale Staatsgewalt, welche die Arbeiterschaft zur Disziplin zwang. In der frühen Phase der exportorientierten Industrialisierung haben die autoritären Regime Ostasiens alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um die Lohnkosten niedrig und die Arbeiterschaft unter Kontrolle zu halten, um auf diese Weise ihre Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt zu sichern" 13 • Und wenn hypothetisch davon ausgegangen wird, daß diese und andere entwicklungsdienliche Verhaltensweisen ausschließlich auf kulturellen Einflüssen beruhen, so müßte mindestens berücksichtigt werden, daß sie sich mit der Zeit verändern können. So sollte bspw. die mit Bezug auf die Vergangenheit wahrscheinlich korrekte Beobachtung der Kulturalisten, auf Taiwan sei die Familienorientierung besonders stark ausgeprägt, für das Taiwan Ende der 90er Jahre deutlich relativiert werden. Angesichts der Verdoppelung der taiwanesischen Scheidungsrate seit 1980 kann angenommen werden, daß sich die enge Familienbindung abzuschwächen scheint 14. Eine weitere Veränderung kann in der ansteigenden Kriminalitätsrate auf Taiwan erkannt werden. Diese wird von der Bevölkerung mittlerweile als so bedrohlich empfunden, daß der taiwanesische Präsident Lee Teng-hui nach der Entführung und Ermordung der Tochter eines örtlichen Filmstars die Notwendigkeit sah, er selbst müsse sich für die Verdreifachung der Anzahl an Gewaltverbre-

12 Wolfram Fischer, Ethics and the Law in Dealings between Unequals, in: Ivan Hill (Hg.), The Ethical Basis ofEconomic Freedom, Chapel Hilll976, S. 111-124, hier S. 115. Hervorhebung im Original. 13 Vgl. Eung-jeung Lee, Eine Herrschaftslehre aus dem Westen. Das fernöstliche Wirtschaftswunder und die lnstrumentalisierung des Konfuzianismus, in: Zeitschrift für deutsche und internationale Politik, 40. Jal!rgang (1995), Heft 7, S. 853- 862, hier S. 858. 14 Vgl. Bemard Arogyaswamy, The Asian Miracle, Myth, and Mirage. The Economic Slowdown is Here to Stay, Westport/Connecticut und London 1998, S. 121. Überdies war die enge Familienbindung nach Fukuyama immer schon ein Nachteil - nicht wie von den Kulturalisten behauptet ein Vorteil - Taiwans, da aufgrund der engen Familienbindung und der Unmöglichkeit Außenstehende, in den Kreis der Familie aufzunehmen, das Vertrauen in andere Institutionen als die Familie fehlte. Dies konnte in Verbindung mit dem Prinzip der gleichmäßigen Erbteilung nur zu der heutigen Realität Taiwans und Hongkongs führen, daß zur Griindung von Betrieben, die Economies of Scale realisieren müssen, um wettbewerbsfähig zu sein (Schiffbau, Petrochemie, Stahl- und Aluminiumindustrie etc.) der Staat aktiv werden muß. Vgl. auch Fukuyama, S. 92- 108, S. 114- 124 und S. 185- 197.

152

3. Kap.: Entwicklung eines systernischen Erklärungsversuches

chen in der Zeit von 1992 bis 1997 und die hohe Anzahl unaufgeklärter Verbrechen öffentlich entschuldigen 15 . Alles in allem bietet der kulturalistische Ansatz wertvolle Hinweise mit Bezug auf den Punkt c), neigt aber gleichzeitig dazu, Sachverhalte, welche auch durch politökonomische Theorien erklärbar wären, ausschließlich unter Verweis auf den Faktor Kultur zu erklären. Den Punkten a) und b) schenkt der Kulturatismus nur geringe Aufmerksamkeit und bietet daher über die neoklassischen und revisionistischen Einsichten hinaus kaum Erkenntnisgewinne. Er genügt daher den Anspriichen an einen hinlänglich umfassenden Erklärungsansatz ebenfalls unzureichend.

f) lii.ßt sich der taiwanesische Wirtschaftsaufschwung erklären? Eine Zwischenbilanz

Zusammenfassend kann die Aussage getroffen werden, daß jede der hier vorgestellten Theorien jeweils mindestens einen der für wesentlich gehaltenen Faktoren ausblendet oder nicht zum Untersuchungsgegenstand erhebt. Vor dem Lichte der formulierten Anspruche an einen hinlänglich umfassenden Erklärungsansatz zur Erklärung des taiwanesischen Wirtschaftswunders bleiben die vorgestellten Theorien daher unzulänglich. Die jeweiligen Erkenntnisgewinne der vorgestellten Erklärungsansätze sollen jedoch, wo möglich, in die Entwicklung eines systemischen Gedankens zur Erklärung des taiwanesischen Take-Off einfließen. Dabei sind vor allem folgende Lehren und Erkenntnisgewinne von Bedeutung: • Es soll unterschieden werden in jene Faktoren des taiwanesischen Wirtschaftswunders, welche beeinflußbar waren und in jene Faktoren, die als unbeeinflußbar gelten müssen. Es soll festgehalten werden, daß diese letztgenannten, positiv wirkenden Einflußfaktoren ausschließlich exogen gegebenen Umständen zu verdanken und insofern auch nicht reproduzierbar sind. • Die Konzeption einer systemischen Erklärung des taiwanesischen Take-Off soll sich nicht dichotomisch orientieren, sondern von dem Erkenntnisgewinn des Weltbankansatzes profitieren und eine Mittelposition einnehmen. Das Rezept für wirtschaftliches Wachstum besteht nicht aus einer einzigen, ,magischen Ingredienz', sondern aus einem langfristig orientierten, gesunden Mix. "High saving, low taxes, openness to trade, good education, the rule of law, and sound monetary and fiscal policies" 16 gehören genauso dazu wie eine flexible und pragmatische Wirtschaftsadministration, eine wirtschaftsfreundliche Kultur sowie der klare gesellschaftliche Wille zum Erfolg. Vgl. Arogyaswamy, S. 120. o. V., DesperatelySeeking a Perfeet Model, in: The Econornist, Vol. 351, No. 8114 (10. April1999), S. 67 ff., hier S. 68. 15

16

li. Ein systernischer Gedanke

153

• Die Schilderung der Wechselwirkungen zwischen politischem und ökonomischem System soll sich an den Erkenntnissen der Revisionisten orientieren, ohne jedoch alles schwer Erklärbare mit der Existenz eines omnipotenten Staates zu begründen. • Die Interaktion zwischen gesellschaftlichem, politischem und ökonomischem System soll anband der Erkenntnisse der Kulturalisten geschildert werden, ohne jedoch alles schwer zu Erläuternde durch die Existenz der wirtschaftsfreundlichen Kultur zu rechtfertigen. Ein hinlänglich umfassender Ansatz würde demnach die Weltbankstudie als Basis nutzen und um revisionistische wie kulturalistische Erkenntnisse ergänzen. Es könnte sich dann zeigen, daß dort wo die Revisionisten den starken Staat zur Erläuterung benötigten, der Faktor Kultur mitwirkte, und daß dort wo die Kulturalisten auf den Faktor Kultur zur Begründung des schwer Erklärbaren angewiesen waren, die Existenz des starken Staates hilfreich war.

II. Ein systemischer Gedanke zur Erklärung des Wirtschaftswunders auf Taiwan ,,Natürlich soll der Ökonom nicht auf die Formulierung von Modellen .. . verzichten. Er muß sie aber so konstruieren, daß sie wesentliche Elemente der historischen Erfahrung einfangen können. Sonst sind sie zwar interessante intellektuelle Übungen, tragen aber wenig zur Erklärung der Zusammenhänge bei" 17 • Zur Darstellung dieser Zusammenhänge empfiehlt es sich, die voneinander abhängig scheinenden, z. T. selbstreferentiellen Aspekte der Realität des taiwanesischen Wirtschaftswunders zu einem Gesamtsystem zu fügen. Das Gesamtsystem besteht dabei aus einem inneren Regelkreis, der im Folgenden als System bezeichnet wird und Faktoren, die von außen auf den inneren Regelkreis einwirken. Diese von außen wirkenden Faktoren werden im Folgenden als Umwelt bezeichnet. Hierbei muß beachtet werden, daß die Faktoren des inneren Regelkreises miteinander in wechselseitiger Beziehung stehen und die von außen wirkenden Faktoren sowohl auf den inneren Regelkreis einwirken als auch miteinander in Beziehung stehen, also daß sie ein System von außen wirkender Faktoren darstellen. Aus sprachlichen Vereinfachungsgründen soll im Folgenden jedoch nur von Umwelt und System die Rede sein. Den Ausgangspunkt der Analyse der vielfältig miteinander verknüpften Aspekte des taiwanesischen Wirtschaftswunders stellt dabei die Unterscheidung zwischen Umwelt und System dar.

17 WoljTam F ischer; Bevölkerung und Wirtschaft in historischer Perspektive, in: Bemhard Felderer (Hg.), Bevölkerung und Wirtschaft, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF Bd. 202, Berlin 1990, S. 29-52, hier S. 31.

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3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

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Schaubild 10: Durchlässige Grenzen trennen System und Umwelt

Die System-Umweltdifferenzierung ist für die Theoriebildung im Falle sozialer Gesamtsysteme kein einfaches Problem, denn diese lassen sich nur schwer entlang räumlicher oder zeitlicher Dimensionen abgrenzen. Die Grenzen sozialer Gesamtsysteme haben eine höchst komplexe Natur. Sie stellen jedoch jene Kriterien zur Verfügung, die eine Unterscheidung zwischen zugehörigen (endogenen) und nichtzugehörigen (exogenen) Interaktionen ermöglichen. Erst die genaue Betrachtung der Grenzen eines sozialen Gesamtsystems ermöglicht dem Betrachter demnach eine sinnhafte Unterscheidung zwischen exogenen Interaktionen, die von der Umwelt her auf das System einwirken und endogenen Interaktionen, die innerhalb des Systems stattfinden. Erst die Zuordnung der Aspekte nach innerhalb oder außerhalb des Systems ermöglicht es, die Interdependenzen zwischen System und Umwelt sowie die Interdependenzen innerhalb des Systems selbst aufzuzeigen 18 . In Bezug auf die hier interessierende Fragestellung ("Welche Lehren können aus dem taiwanesischen Wirtschaftsaufschwung gezogen werden?") folgt daraus folgende Grenzziehung. Dem Bereich Umwelt werden alle exogenen Interaktionen zugeordnet, die • entweder gar nicht zu beeinflussen sind oder • falls sie prinzipiell beeinflußbar sind, so sind sie dies nur mittel- bis langfristig und auch nur indirekt. Im Gegensatz dazu werden dem Bereich System alle endogenen Interaktionen zugeordnet, wobei diese sich dadurch kennzeichnen lassen, daß sie • auch kurzfristig und unmittelbar beeinflußbar sind. Die Interaktionen zwischen endogenen und exogenen Faktoren werden bei der späteren Darstellung der einzelnen Sub-Systeme näher beschrieben. IS Vgl. Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Haberrnas /Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 25- 100; Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt IM. 1984; Reimund Böse/Günter Schiepek, Systemische Theorie und Therapie. Ein Handwörterbuch, Heidelberg 1989, S. 55 ff.

II. Ein systemischer Gedanke

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1. Nicht direkt beeinflußbare Interaktionen- Umweltfaktoren

In diesem Abschnitt sollen alle für relevant gehaltenen exogenen Interaktionen näher dargelegt werden, die dem Bereich Umwelt zugeordnet wurden. Aufgrund der eben vorgenommenen Unterscheidung zwischen endogenen und exogenen Einwirkungen können Umweltfaktoren auch als situative Faktoren beschrieben werden, die ein Datum bilden. Sie waren nicht kurzfristig beeinflußbar und es gelang der taiwanesischen Politik, ihre jeweilige Entwicklungsdienlichkeit zu erkennen, gezielt in das Politikmix einzubauen sowie bewußt zu nutzen. Als entwicklungsdienliche exogene Faktoren werden hier die folgenden fünf kategorisiert: 1. Das starke Bevölkerungswachstum auf Taiwan in den Jahren 1945-65 (welches zumindest kurzfristig unbeeinflußbar war).

2. Die besondere weltpolitische Situation in Asien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sowie das besondere weltwirtschaftliche Umfeld der 50er und 60er Jahre. 3. Die Hinterlassenschaften der japanischen Kolonialzeit. 4. Die Existenz des Vorbildes Japan. 5. Das kulturelle Erbe, welches sich unter äußerem wie innerem Druck an die veränderten Umstände nach 1945 anpaßte 19• Diese fünf exogenen Faktoren werden ergänzt durch den klaren gesellschaftlichen Willen zum ökonomischen Erfolg, der ein Mittel des taiwanesischen politischen Überlebenskampfes darstellte und eine unabdingbare Voraussetzung des wirtschaftlichen Erfolgs war20. Dabei sind die Auswirkungen des gesellschaftlichen Willens zum Erfolg auf den taiwanesischen Wirtschaftsaufschwung schwer direkt greifbar oder meßbar. Durch einige Überlegungen kann die Bedeutung des gesellschaftlichen Willens für Erfolg oder Mißerfolg des taiwanesischen Wirtschaftsaufschwungs jedoch näherungsweise erschlossen werden. Die einfachste Überlegung lautet zunächst, daß selbst die günstigsten Rahmenbedingungen verbunden. mit der entwicklungsdienlichsten Politik wenig bis nichts bewirken können, wenn die Gesellschaft die Rahmenbedingungen nicht nutzt oder wenn sie der politisch erwünschten Richtung nicht folgen. Wenn diese Überlegung akzeptiert wird und da bekannt ist, daß Taiwan ökonomisch erfolgreich war, kann 19 Das kulturelle Erbe ist von Politik und Gesellschaft nicht kurzfristig - wohl aber mittelund langfristig veränderbar. Es nimmt somit eine Zwitterstellung zwischen Umwelt- und Systemfaktor ein. Dabei scheint der Einfluß der tradierten Gewohnheiten jedoch so bedeutend, daß die hier vorgenommene Einordnung der Kultur als Umweltfaktor gerechtfertigt scheint. 20 Der Wille zum Erfolg ist ein gesellschaftliches Phänomen und ebenfalls kaum kurzfristig beeinflußbar. Vor allem gibt es kaum Möglichkeiten, diesen Willen direkt zu beeinflussen und ein Einfluß findet nur mittelbar statt. Daher scheint die Einordnung als exogener MetaFaktor gerechtfertigt.

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3. Kap.: Entwicklung eines systemischen Erklärungsversuches

im Umkehrschluß gefolgert werden, daß ein Wille zum Erfolg auf Taiwan vorhanden gewesen sein muß. Schwieriger zu ergründen ist, woraus dieser Wille zum Erfolg resultierte. Eine mögliche Erklärung bietet die Betrachtung der politischen Situation Taiwans nach 1947. Diese ist durch den verlorenen Bürgerkrieg, die Flüchtlingswelle, die Nahrungsmittelknappheit und die permanente militärische Bedrohung durch die VR China gekennzeichnet. In dieser ausweglos scheinenden Situation wendete sich das Bild zu Beginn der fünfziger Jahre. Die Kombination aus beginnender US-Hilfe, dem Vorhandensein eines möglichen Ausweges aus der ökonomisch prekären Situation (Vorbild Japan) und der straffen, auf wirtschaftlichen Erfolg orientierten Führung scheint eine Wende bewirkt zu haben, in der sich der natürliche Überlebenswille der einzelnen Individuen auf die Gesellschaft übertrug. Hierdurch könnte ein gesamtgesellschaftlicher Effekt ausgelöst worden sein, der einem "Ruck" durch die Bevölkerung Taiwans gleichkam und den taiwanesischen Aufbauwillender folgenden Jahre kennzeichnete. Diese Situation läßt sich am ehesten dadurch kennzeichnen, daß nicht nur die Regierung den ökonomischen Wiederaufbau als Mittel der eigenen Legitimation begriff, sondern daß dieser überdies von der Bevölkerung als Mittel angesehen wurde, das politisch eigenständige Überleben zu sichern und damit die im Vergleich zu der VR China größeren individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu wahren. Darüber hinaus ist in Betracht zu ziehen, daß das KMT-Regime gegen politisch Andersdenkende repressiv vorging. Dadurch wurden die individuellen Möglichkeiten zur Erschaffung und Wahrung persönlicher Freiräume auf die Bereiche außerhalb der Politik beschränkt, und es ergibt sich hieraus ein Hinweis, warum sich ein großer Anteil der gesellschaftlichen Energie Taiwans auf den ökonomischen Wiederaufbau konzentrierte21 . In dieser Kombination aus äußerem und innerem Druck auf die Gesellschaft könnte eine - sicherlich aber nicht die einzig mögliche - Ursache dafür liegen, daß in der taiwanesischen Gesellschaft der Wille zum ökonomischen Erfolg aufflilliger als in den meisten anderen Staaten ausgeprägt war. Außerdem scheint sich, spätestens nachdem sich die ersten ökonomischen Erfolge gegen Ende der fünfziger

21 Die anderen Möglichkeiten zur Erschaffung persönlicher Freiräume - die jeder Mensch sucht - waren in der einen oder anderen Weise begrenzt. Andere Möglichkeiten aus dem repressiven System zu entfliehen, hätten zum Beispiel in politischer Betätigung, der verstärkten Suche nach kultureller Verwirklichung und der Auswanderung bestanden. Keine dieser Optionen war jedoch für alle gangbar. Politische Betätigung und kulturelle Verwirklichung waren nur solange Mittel zur Erschaffung persönlicher Freiräume, wie sie mit dem System konform gingen und die Auswanderung stand nur denen offen, die entwed