Die tugendethische Kultivierung des Selbst: Impulse aus der islamischen Bildungstradition 9783495998694, 9783495998687


129 73 6MB

German Pages [285] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision
1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst
2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht als Inhalt des schulischen Bildungsauftrages
3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung
3.1 Ansätze der Werteerziehung
3.2 Ethische Bildung
3.3 Anerkennungspädagogik
3.4 Interkulturelle Pädagogik
3.5 Tugendkompetenz? Konsequenzen tugendethischer Überlegungen für den bildungstheoretischen Kompetenzdiskurs
3.6 Zusammenfassung
Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst
1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse
1.1 Philosophische Wiederbelebung der aristotelischen Tugendethik in der Gegenwart
1.2 Tugend – ein ambivalentes Wort in Deutschland
2. Tugendethik als Referenzpunkt für ein gemeinsames Leben
3. Educating the whole person – Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ Nikomachische Ethik
3.1 Charaktertugenden – charakterlich das Beste ausloten
3.2 Der Deliberationsprozess als Bedingung der Selbsterkenntnis
3.3 Prosperieren für ein gelungenes Leben
2.4 Gefühle als relevante Dispositionen moralischer Vortrefflichkeit
3.5 Die Kultivierung des Charakters
Kapitel III: Die Kultivierung des Selbst im Bildungsverständnis der Islamischen Geistesgeschichte des 9. – 12. Jahrhunderts
1. Adab und aḫlāq – zwei Kategorien ethischer Bildungsbestrebungen
2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt
2.1 Sorten der adab-Literatur
2.2 Ibn Abī l-Dunyā (823–894)
2.3 Kitāb makārim al-aḫlāq
2.4 Narrative Konstruktionen einer Vision des Tugendhaften
2.5 Die Bedeutung der ethisch-religiösen adab-Literatur für das gegenwärtige Bildungsdenken
3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition
3.1 Aḫlāq als konnotatives Konzept der islamischen Ethik
3.2 Phase der Übersetzung der antiken philosophischen Schriften
3.3 Tugendethische Tradition
3.3.1 Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī (um 872–950)
3.3.2 Abū ʿAlī Miskawayh (932–1030)
3.3.3 Ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. 1108)
3.3.4 Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī (um 1055–1111)
3.3.5 Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (1201–1274)
3.4 Kurzes Resümee
4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze
4.1 Tazkiyya an-nafs: Körperpraktiken als tugendethische Praxis
4.2 Ein kurzer Ausblick
5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst
Kapitel IV: Beitrag tugendethischer Konzeptionen zum modernen Bildungsverständnis
1. Gesellschaft, Tugend und Kompetenz
2. Vier mögliche Tugenden
2.1 Gerechtigkeit
2.2 Aufrichtigkeit
2.3 Mitgefühl
2.4 Freundschaft
3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik
4. Impulse für eine zeitgemäße Islamische Religionspädagogik in Deutschland
V. Literaturverzeichnis
Recommend Papers

Die tugendethische Kultivierung des Selbst: Impulse aus der islamischen Bildungstradition
 9783495998694, 9783495998687

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

falsafa.

Horizonte islamischer Religionsphilosophie

|5

Tuba Işık

Die tugendethische Kultivierung des Selbst Impulse aus der islamischen Bildungstradition

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

falsafa.

Horizonte islamischer Religionsphilosophie Herausgegeben von Ahmad Milad Karimi Band 5

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Tuba Işık

Die tugendethische Kultivierung des Selbst Impulse aus der islamischen Bildungstradition

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kalligrafie auf dem Cover: Iyad Shraim („Islam ist schöner Charakter.“)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Paderborn, Univ., Habil., 2019 ISBN 978-3-495-99868-7 (Print) ISBN 978-3-495-99869-4 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Für Ahmed – in Liebe und großer Dankbarkeit

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst . . . . . .

21

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht als Inhalt des schulischen Bildungsauftrages . . . . . . . . . . . .

30

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ansätze der Werteerziehung . . . . . . . . . . . . 3.2 Ethische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Anerkennungspädagogik . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Interkulturelle Pädagogik . . . . . . . . . . . . . 3.5 Tugendkompetenz? Konsequenzen tugendethischer Überlegungen für den bildungstheoretischen Kompetenzdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

39 40 47 49 53

. .

58 61

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst . . . .

63

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Philosophische Wiederbelebung der aristotelischen Tugendethik in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . 1.2 Tugend – ein ambivalentes Wort in Deutschland . . .

63 65 71

2. Tugendethik als Referenzpunkt für ein gemeinsames Leben

76

3. Educating the whole person – Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ Nikomachische Ethik . . . . . 3.1 Charaktertugenden – charakterlich das Beste ausloten

81 87

7 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Inhaltsverzeichnis

3.2 Der Deliberationsprozess als Bedingung der Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Prosperieren für ein gelungenes Leben . . . . . 2.4 Gefühle als relevante Dispositionen moralischer Vortrefflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Kultivierung des Charakters . . . . . . . .

. . . . . .

90 92

. . . . . .

95 100

Kapitel III: Die Kultivierung des Selbst im Bildungsverständnis der Islamischen Geistesgeschichte des 9. – 12. Jahrhunderts

105

1. Adab und aḫlāq – zwei Kategorien ethischer Bildungsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt . . . . . . . . . . . 2.1 Sorten der adab-Literatur . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ibn Abī l-Dunyā (823–894) . . . . . . . . . . . . 2.3 Kitāb makārim al-aḫlāq . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Narrative Konstruktionen einer Vision des Tugendhaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Bedeutung der ethisch-religiösen adab-Literatur für das gegenwärtige Bildungsdenken . . . . . . .

. . . .

109 113 122 124

.

128

.

134

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition . . 3.1 Aḫlāq als konnotatives Konzept der islamischen Ethik 3.2 Phase der Übersetzung der antiken philosophischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Tugendethische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī (um 872–950) 3.3.2 Abū ʿAlī Miskawayh (932–1030) . . . . . . . 3.3.3 Ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. 1108) . . . . . . . 3.3.4 Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī (um 1055–1111) . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (1201–1274) . . . . . . 3.4 Kurzes Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 141

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Tazkiyya an-nafs: Körperpraktiken als tugendethische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ein kurzer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

145 150 152 155 165 168 179 182 186 196 201

Inhaltsverzeichnis

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Kapitel IV: Beitrag tugendethischer Konzeptionen zum modernen Bildungsverständnis . . . . . . .

211

1. Gesellschaft, Tugend und Kompetenz . . . . . . . . . . .

211

2. Vier mögliche Tugenden 2.1 Gerechtigkeit . . . . 2.2 Aufrichtigkeit . . . 2.3 Mitgefühl . . . . . 2.4 Freundschaft . . . .

. . . . .

216 217 220 229 238

3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

4. Impulse für eine zeitgemäße Islamische Religionspädagogik in Deutschland . . . . . . . . . . . .

248

V. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

9 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Abkürzungsverzeichnis

EI2/3

Encyclopedia of Islam II/III, Leiden/Boston 2010

Hn.

Hadithnummer

JCSW

Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften

TDV

Türk Diyanet Vakfı; İslam Ansiklopedisi, Ankara 2014

ZDMG

Zeitschrift der Morgenländischen Gesellschaft

ZPhF

Zeitschrift für philosophische Forschung

ZfWU

Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik

11 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

Wir leben in einer Zeit und in einer Welt, die mit ihrer Komplexität dem Menschen viel abverlangt. Eine multireligiöse und -kulturell zusammengesetzte Gesellschaft stellt jeden Menschen in seinen Ver­ stehens- und Handlungsmöglichkeiten vor unterschiedliche Heraus­ forderungen. Andere Lebensformen und kulturell fremde Traditionen relativieren Gewissheiten, lösen Befremdungsgefühle aus und stel­ len die eigene Identität infrage. Diese Phänomene sind zwar etwas Altbekanntes, jedoch nehmen sie in den hochkomplexen, pluralisti­ schen Gesellschaften die Form einer »Neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) an. Der modernen Gesellschaft sind die orientierenden Vorbilder aus früheren Epochen abhandengekommen, sie sind – wie die Subjekte in ihnen – auf sich selbst gestellt. Die Formen des Zusammenlebens sind auch in Deutschland einem tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandel unterworfen.1 Dieser Wandel spielt beim Aufwachsen, bei der Entwicklung und der Bildung von Kindern und Jugendlichen eine große Rolle. Für sie stellt sich das Problem, in zunehmend komplizierter werdenden Verhältnissen urteils- und handlungsfähig zu werden und sich orien­ tieren zu müssen. Im Angesicht von neuen, unbekannten Situationen sind Kinder und Jugendliche in ihren personalen Fähigkeiten, Eigen­ schaften und Haltungen angefragt, d. h. in all jenen Aspekten, die ihr Handeln lenken: ihrem Charakter bzw. ihrer Persönlichkeit.2 Vor diesem Hintergrund ist es umso relevanter, sich über pädagogische Bildungsziele Gedanken zu machen. Mit der Aktualisierung der Tugendethik für das pädagogische Bildungsdenken möchte ich ein Gegengewicht vorschlagen gegen den zunehmenden Sinnverlust und gegen den Mangel an Orientierung, von denen Jugendliche gleich doppelt betroffen sind: in einer fragmentierten Gesellschaft und auf 1 Vgl. Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz, Einführung in die interkulturelle Pädagogik, Leverkusen 22010, 11. 2 Der Charakterbegriff wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch expliziert und zum Begriff des Selbst in Beziehung gesetzt. An dieser Stelle lässt zu zumindest schon sagen, dass die Begriffe Persönlichkeit und Charakter synonym verwendet werden.

13 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

ihrem Weg des Erwachsenwerdens sowie der Identitätsbildung. Als Kultivierung des Selbst unter tugendethischem Blickwinkel ist der – nie abgeschlossene – Prozess der Selbstfindung zu bezeichnen, der sich an den drei Fragen orientiert: Wer bin ich?, Wer soll ich sein? und Wer will ich sein? Die Bildungsaufgabe könnte dann dahingehend bestehen, die Jugendlichen darin zu fördern, eine Balance zwischen diesen drei Grundfragen nach dem Sein, dem Sollen und dem Wollen herzustellen. In der Frage »Wer soll ich sein?« liegt der gesellschaftli­ che Bezug des Selbst, in der Frage »Wer will ich sein?« liegt der Bezug zum privaten und nur dem Einzelnen zugänglichen Teil des Selbst, also seiner Selbstverwirklichung. In dieser ganzheitlichen Sicht ist der junge Mensch nicht auf sich allein gestellt, sondern kann, pädagogisch und tugendethisch angeleitet, eine stabile, mündige und autonome Persönlichkeit entwickeln, was die Tugendethik unter den Begriff des guten Lebens fasst. Zwar gibt es Tugenden, die universale Geltung beanspruchen, sie unterscheiden sich aber in ihrer kultur- und situationsspezifischen Deutung und Ausgestaltung. Die tugendethische Arbeit am Selbst ist demnach immer an kulturelles und lebensweltliches Wissen sowie zwischenmenschliche Aktionen angebunden, sei sie in der Schule oder im Bus oder beim Einkaufen. Das Arbeiten am Selbst bedeutet deshalb immer ein Sich-Reiben und -Auseinandersetzen mit dem Gegenüber und dessen Wertvorstellungen, Normen, Gefühlen usw. Vor diesem Hintergrund zielt die Kultivierung des Selbst im Sinne eines Bildungsziels darauf ab, den jungen Menschen zu einem urteils­ fähigen und selbstbestimmten, mündigen Menschen zu erziehen. Für das Konzept der Kultivierung des Selbst bildet die Bildungs­ theorie Wilhelm von Humboldts eine richtungsweisende Vorlage. Denn für Humboldt ist das höchste Ideal, »sich in sich zu bilden«3 und »dasjenige, in dem jeder nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelt«4. Er versteht Bildung als Selbstbildung und als einen fortwährenden Prozess. Humboldts Bildungsbegriff, der im ersten Kapitel konkretisiert wird, zielt auf die persönliche Mensch­ werdung ab, die einen lebenslangen Lern- und Bildungsprozess von reziproker Auseinandersetzung mit den eigenen Anlagen und Poten­ zialen als auch der Welt bildet. Humboldts Bildungskonzeption ist für den gegenwärtigen Bildungsbegriff von wesentlicher Bedeutung. 3 4

Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Werke, Bd. I, 56. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Werke, Bd. I, 109.

14 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

Im Konkreten ist Selbstbildung mit folgenden zentralen Fragen asso­ ziiert: Wie möchte ich sein? und Wie möchte ich mit den anderen leben? Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit diesen Fragen aus einer tugendethischen Perspektivierung, die dem gegenwärtigen Bildungsdenken, aber auch der islamischen Religionspädagogik neue Impulse geben kann. Der Forschungsfokus der Arbeit richtet sich daher auf die moralische Verfassung des Menschen sowie dessen Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit. Die Bildung einer stabilen und mündigen Persönlichkeit und einer Beziehungsfähigkeit sind daher gleichzeitige und gleichwertige Bildungsziele. Die Arbeit beginnt im ersten Kapitel mit einer Übersicht über die Aktualität tugendethischer Diskurse, wobei hier die Schlüsselbegriffe Persönlichkeitsentwicklung, Kompetenz, Wert und Anerkennung auf der einen Seite und das Konzept »Arbeit am Selbst« auf der anderen Seite im Vordergrund stehen. Hierin liegt der Schwerpunkt der Arbeit, in der Tugend als Dimension von Bildung fokussiert wird, da die analytischen Debatten um Tugend und Tugendethik für das reale Leben nur bedingt ertragreich sind. Die Kultivierung des Selbst ist ein Prozess, der bereits entwick­ lungspsychologisch sehr früh ansetzt und die hier vorgetragenen Argumente enthalten die normative Implikation, dass ihr im Kon­ text der Schule ebenfalls Raum gegeben wird, was teilweise auch schon geschieht. Zumindest verlangen die Schulaufträge der meisten Bundesländer diese Selbstbildung, wie im ersten Kapitel dargelegt wird. Es gibt bereits wichtige pädagogische Konzepte und Ansätze, die danach fragen, wie Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden können, gewohnte Sichtweisen und Perspektiven neu zu überdenken und wichtige Kompetenzen zu entwickeln.5 Aus diesen greife ich einige viel rezipierte Konzepte heraus und diskutiere an ihnen exemplarisch die Frage nach der ethisch-pädagogischen Ent­ wicklung des Selbst, der Bedeutung der Tugend als Charakterdispo­ sition und ihrer Eignung für einen schulisch vermittelten Bildungs­ prozess. Dadurch wird erkennbar, dass sich kaum ein pädagogischer Ansatz der ethischen Bildung von Kindern und Jugendlichen aus einer tugendtheoretischen Perspektive nähert. Tugendethik als Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Zielen der Bildung von Per­ sönlichkeit zu verstehen, erfordert zunächst einmal, überkommene 5 Vgl. Ludwig Duncker, Wege zur ästhetischen Bildung. Anthropologische Grundle­ gungen und schulpädagogische Orientierungen, München 2018, 144.

15 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

Altlasten, beispielsweise aus der Zeit des Nationalsozialismus, hinter sich zu lassen, die Diskurse frei von diesem pädagogischen Ballast im Angesicht einer sich rasant verändernden und sich digitalisierenden Welt neu zu definieren. Dazu gehört in der vorliegenden Arbeit ein Rekurs auf Beispiele aus dem islamischen Bildungsdenken und dem tugendphilosophischen Denken muslimischer Philosophen mit dem Ziel, den Tugendbegriff neu zu denken und zu bestimmen. Der mithin leitende thematische Horizont »Kultivierung des Selbst« bildet auch den Schwerpunkt des zweiten Kapitels. Im zweiten Kapitel widmen wir uns gänzlich dem Tugendbegriff, der auf einen gelingenden Umgang mit lebenspraktischen Fragen verweist. Aus­ gangspunkt ist die Tugendlehre des Aristoteles, der sich in der Niko­ machischen Ethik ausführlich mit der Kultivierung des Charakters durch Tugenden beschäftigt hat. Doch wie können wir in der heutigen Zeit Tugend verstehen? So antiquiert der Tugendbegriff auch anmuten mag, erfreut er sich doch einer bescheidenen Konjunktur und hat mittlerweile in modernen Ethikdiskussionen, auch bildungswissen­ schaftlichen und (religions-)pädagogischen Diskursen an Bedeutung wiedergewonnen.6 Von dieser Betrachtung ausgehend soll Tugend als ethische Quelle für ein gutes Leben für das Individuum wie auch für die Gemeinschaft bestimmt werden. Die Orientierung am Begriff der Tugend kann helfen, lebenspraktische sowie handlungsleitende Gewohnheiten zu kultivieren, die dem Menschen Orientierung geben und das Leben erleichtern. Denn Tugend beschreibt im Grunde, was im Menschen als Möglichkeit angelegt ist, aber Bildung und Übung braucht, damit es sich entfalten kann. Daher möchte ich diese Arbeit nicht als eine Wiederbelebung eines veralteten und repressiven Tugendverständnisses verstanden wissen, mit dem über­ holte Pflichtkataloge oder ein »Dressurterror« assoziiert werden.7 Mit dieser Absicht gilt es, die Aktualität sowie Notwendigkeit einer Vgl. Dagmar Borchers, Die neue Tugendethik – Schritt zurück im Zorn. Eine Kontroverse in der Analytischen Philosophie, Paderborn 2001, 12; siehe hierzu Hans-Ullrich Dallmann, Eine tugendethische Annäherung an Begriff und Pädagogik der Kompetenzen. In: ethik und gesellschaft, Bildung, Gerechtigkeit und Kompetenz, 1 (2009), 1–50. Siehe auch Tuba Isik, Kultivierung des Charakters als Selbstverständnis des Islamischen Religionsunterrichts. In: Tarek Badawia/Said Topalovic (Hrsg.), Islamunterricht im Diskurs. Religionspädagogische und fachdidaktische Ansätze, Göttingen 2022. 7 Vgl. Walter Eykmann/Sabine Seichter (Hrsg.), Pädagogische Tugenden, Würzburg 2007, 7 f.; zur Bezeichnung »Dressurterror« siehe Timo Hoyer, Tugend und Erzie­ hung, Bad Heilbrunn 2005. 6

16 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

zeitgenössischen tugendethischen Bildung zu diskutieren und in den bildungswissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Daher soll mit Rekurs auf den tugendethischen Diskurs eine solide und systema­ tische Grundlegung eines aktuellen Tugendbegriffs zum Ende des zweiten Kapitels entwickelt werden. Im Anschluss an diese Übersicht über die moraltheoretischen, pädagogischen und kulturellen Aspekte einer Neubesinnung auf den Begriff der Tugend werden im umfangreichen dritten Kapitel Traditio­ nen der islamischen Geistes- und Bildungsgeschichte auf ihre Affini­ tät zur bzw. ihre Verortung im Bereich von Tugendethik untersucht. Persönlichkeitsentwicklung ist immer Teil des islamischen Bil­ dungs-, Philosophie- und mystischen Denkens gewesen. Wenn auch natürlich nicht in dieser Bezeichnung tritt in den unterschiedlichen Traditionssträngen die Vorstellung einer Selbstkultivierung des Men­ schen mit der Absicht, Gott näher zu kommen, zum Vorschein. Diese Konzepte bergen zwei entscheidende Begriffe: aḫlāq (Charaktereigen­ schaften) und nafs (Seele, Selbst), die im weiteren Verlauf noch vertieft expliziert werden. An dieser Stelle möchte ich allerdings die Bezeichnung des Selbst im Arbeitstitel vorab abstecken, da es auch in der islamischen Tradition zu diesem Begriff verschiedene Bedeu­ tungsvarianten und Verwendungsweisen gibt.8 Den Begriff »Selbst« definiere ich als Gesamtheit des verarbeiteten Wissens über die eigene Person. Das Selbstbild impliziert jegliche wahrgenommenen eigenen Attribute und Sichtweisen eines Menschen, die von der Person expli­ zit und implizit konstruiert werden, wie bspw. Charaktereigenschaf­ ten sowie Vorstellungen vom eigenen emotionalen Erleben. Zu diesen selbstbezogenen Konstruktionen summiere ich den Begriff Charakter sowie auch den modernen Begriff Persönlichkeit hinzu. Nicht nur dem aḫlāq-Begriff, sondern auch dem adab-Begriff (Umgangsform, Etikette) kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu, weshalb das Kapitel zunächst mit einer Grundle­ 8 Näheres hierzu Renate Daniel, Das Selbst. Grundlagen und Implikationen eines zentralen Konzepts der Analytischen Psychologie, Stuttgart 2018; siehe auch bei Ann-Kathrin Banser/Philipp Bode, Selbstwerden: über das Selbst als Aufgabe und die Möglichkeiten seiner Realisierung bei Søren Kierkegaard, Würzburg 2018; siehe auch Tuba Isik, Das Selbstwertgefühl türkischer Migrantenkinder in Deutschland. Ein empirischer Vergleich von türkischstämmigen Grundschulkindern in Deutschland und türkischen Grundschulkindern in der Türkei, Göttingen 2006, 21. Online Res­ source in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek: https://d-nb.inf o/1044178914/34.

17 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

gung des adab-Begriffes beginnt und zum literarischen Genre des makārim al-aḫlāq am Beispiel des Bildungsliteraten und Gelehrten Abī l-Dunyā (823–894) übergeht. Das Interessante an Abī l-Dunyā liegt darin, dass er, ohne den Tugendbegriff zu verwenden, in Prosa­ form seine Vorstellungen von erstrebenswerten Charaktereigenschaf­ ten wie Zuverlässigkeit, Großzügigkeit, Nachbarschaftlichkeit und Freundschaft anhand prophetischer und postprophetischer Überliefe­ rungen darlegt. Im Anschluss daran werden sorgfältig ausgewählte einzelne muslimische Philosophen, die die aristotelische Tugendethik rezipiert haben, daraufhin analysiert, welche Impulse von ihnen für das Nach­ denken über Tugend in der Gegenwart ausgehen können. Denn wie viele andere religiöse Traditionen birgt die islamische Philosophie ganz eigene Vorstellungen davon, wie personale Eigenschaften und Grundhaltungen kultiviert werden können. Muslimische Philoso­ phen diskutierten diese Kultivierung in einem eigenen Genre, das sich sukzessive herausbildete, dem tahẓīb al-aḫlāq. Anknüpfen möchte ich an diesen Diskurs, der den Menschen in seiner charakterlichen Beschaffenheit in den Mittelpunkt der philosophischen Betrachtung stellt, hierfür eine eigene Epistemologie entwarf und sich zu einer Disziplin namens ʿilm al-aḫlāq (Kenntnis der Charaktereigenschaf­ ten) entwickelte. Es wäre eine allzu ambitionierte Zielsetzung und Intention, einen historischen wie auch geografischen umfassenden Überblick über die einzelnen dialektischen Befruchtungen des tugen­ dethischen Denkens vorlegen zu wollen. Mein Anspruch liegt des­ wegen darin, die Grundzüge exemplarisch an einigen muslimischen Philosophen nachvollziehbar nachzuzeichnen, um im Anschluss auf­ zeigen zu können, welches Tugendverständnis vorherrschte und wel­ che Tugendkataloge entstanden. Auch aus der Verknüpfung von Ethik und Ästhetik ergeben sich Impulse, denn ästhetisches Lernen gehörte zu den zentralen Lernbereichen von religiös fundierten Kultivierungs­ prozessen, zu denen insbesondere Literatur-, Kunst- und Musikbil­ dung gehörten.9 Auf diese Vorstellungen werden wir bei der Klärung des adab-Begriffs, aber auch bei den muslimischen Mystikern stoßen. Diesen Kultivierungsprozess des Selbst nannten die muslimischen Mystiker vornehmlich tazkiyya an-nafs. Einblicke in die islamische Siehe hierzu Nurcan Özbal/İsmail Aydoğan, Eğitimde Estetiğin gerekliliği ve oluşumu üzerine bir inceleme. In: DergiPark Akademik, 7, 2 (2017), 249–260, hier 253 f. 9

18 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Einleitung

Mystik (taṣawwuf) bzw. den Sufismus sollen sodann aufzeigen, dass nicht nur philosophisch angeleitete mentale (teilweise auch prakti­ sche) Übungen, sondern auch konkrete praktische Übungen, wie wir sie von Mystikern kennen, einen wichtigen Beitrag zur hiesigen Untersuchung liefern. Vor diesem Hintergrund möchte ich auf emanzipatorische und kreative Potenziale der islamischen Denktradition aufmerksam machen, vor allem die ihr innewohnenden gemeinwohldienlichen Potenziale offenlegen und sie als Inspirationsquelle für das gegenwär­ tige bildungstheoretische Denken hervorheben. Das abschließende Kapitel der Arbeit formuliert dann eine Syn­ these der angestellten Beobachtungen, in der die Eindrücke, die im Zuge der Reflexion philosophischer und pädagogischer auf der einen Seite und islamisch-philosophischer sowie mystischer Diskurse auf der anderen Seite gewonnen wurden, zusammengeführt und in den Horizont weitreichender moralischer Begriffe gestellt werden. Diese Begriffe lassen sich verstehen als zentrale Tugenden, insofern neben den Begriffen der Aufrichtigkeit, des Mitgefühls und der Freundschaft der auf die Ursprünge der Tugendethik zurückverweisende Begriff der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt gestellt wird. Das Buch schließt mit einigen pädagogischen Impulsen für die islamische Religionspädago­ gik.

19 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst Gesellschaften sind dynamisch. Ihre Zusammensetzung ist aufgrund welt- und innenpolitischer sowie sozioökonomischer Faktoren nicht statisch. Die rund um den Globus zunehmende Pluralität erzeugt auch eine Zunahme der Handlungsoptionen und führt zuweilen zu inner­ gesellschaftlichen Spannungen. Auch ein unvermeidlicher Werteplu­ ralismus hat Konsequenzen, wie z. B. eine gewisse Orientierungs­ losigkeit und Verunsicherung angesichts vielfältiger und scheinbar ambiger Handlungsoptionen, die in der Bundesrepublik ihre Grenzen im Grundgesetz haben im Sinne eines Grundkonsenses von Werten und Normen, der dem Wertepluralismus normierend zugrunde liegt. Die seit Ende der 60er-Jahre kontinuierliche, durch Fluchtbewegun­ gen seit 2015 und durch den Ukraine-Krieg noch einmal verstärkte Zuwanderung von Menschen in die Bundesrepublik hat die einst gültigen Narrative eines inklusiven »Wir«-Verständnisses10 und auch das Selbstverständnis einer Bürgergesellschaft deutlich auf die Probe gestellt.11 Die Vielfalt an Verhaltensmustern sowie die Zunahme Vgl. Statistisches Bundesamt, siehe: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/ 03/PD16_105_12421.html;jsessionid=4AB21217731D387C3FF8C08B02F65565. cae4; letzter Aufruf: 11.10.2018; siehe Wahlkampfparole 2013/2017 der SPD »Das Wir entscheidet«. 11 In diesem Zusammenhang bemängelt die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, dass es während der Pluralisierung der deutschen Gesellschaft keine Erziehung zur Pluralität gegeben habe. Vgl. Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2019, 127. Allerdings kann auch auf Bemühungen um eine interkulturelle Erziehung und Pädagogik verwiesen werden, z.B. bei Georg Auernheimer, Einführung in die interkulturelle Erziehung, Darmstadt 1990; später mehrfach überarbeitet und unter neuem Titel: Georg Auernheimer, Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 82015. Vgl. auch Ingrid Gogolin/ Marianne Krüger-Potratz, Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Geschichte, Theorie und 10

21 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

von unterschiedlichen Werthaltungen, die eigene Lebensweisen und Weltanschauungen mit sich bringen, führen zu Konflikten und Ver­ unsicherungen, die alle Gruppierungen der Gesellschaft betreffen.12 Ein Wertepluralismus, der durch das Grundgesetz normativ verankert ist, ist allerdings ein Wesensmerkmal unseres politischen Systems.13 Innerhalb des Wertepluralismus können durch subjektive Weltbil­ der eingeforderte, Orientierung gebende Werte präferiert werden, die im öffentlichen Raum nicht für alle als verbindlich vorausge­ setzt werden dürfen. Trotzdem braucht es selbstverständlich eine Minimalverständigung über Regeln des sozialen Miteinanders.14 Es scheint pädagogisch unumgänglich, dass entsprechende kommunika­ tive Kompetenzen, die in der Adoleszenz zu erwarten sind, bereits in der Elementarerziehung angebahnt werden. Hinzu kommt die große Herausforderung sowie die Entwick­ lungsaufgabe, emotionale und kognitive Fähigkeiten, wie die soziale Perspektivenübernahme gegenüber Alten, sozioökonomisch schwa­ chen Menschen und Mitmenschen insgesamt einzuüben, die einen lebenslangen Lernprozess insgesamt darstellt.15 Als Ausdruck von Verunsicherung, die auch mit einer abnehmenden Bedeutung von Traditionen im Leben einhergeht, macht sich eine gewisse Fragmenta­

Diskurse, Forschung und Studium, 3. vollständig überarbeitete Ausgabe, Opladen u.a. 2020 (erste Ausgabe von 2006). 12 Vgl. Manon Westphal, Kritik- und Konfliktkompetenz. Eine demokratietheoreti­ sche Perspektive auf das Kontroversitätsgebot. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 13/14 (2018), 12–17, hier 12. 13 Vgl. Sabine Dengel/Linda Kelch, »Es ist kompliziert. Dazu guter Pop«. Ambigui­ tät, politische Bildung und Kultur. In: Ansgar Schnurr/Sabine Dengel/Julia Hagen­ berg/Linda Kelch (Hrsg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeldt 2021, 55–90, hier 65. 14 Dass auch ein solcher Minimalkonsens ein intensives und fortwährendes gesell­ schaftliches Bemühen braucht, wird oft nur unzureichend reflektiert. Mark Terkessidis betont in diesem Zusammenhang, dass Wertunterschiede zu gesellschaftlichen und politischen Konflikten führen können, zumal wenn sie »auf der Ebene des demo­ kratischen Rechtsstaats nicht mehr aushandelbar wären.« Mark Terkessidis, Harte Verhandlungen: über die Wertpluralität in einer Gesellschaft der Vielfalt. In: Randolf Rodenstock/Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Werte – und was sie uns wert sind. Eine interdisziplinäre Anthologie, München 2018, 109–125, hier 117. 15 Vgl. Bardo Herzig, Förderung ethischer Urteils- und Orientierungsfähigkeit. Grundlagen und schulische Anwendung, Münster/New York 1998, 129; vgl. auch Robert L. Selman, Die Entwicklung des sozialen Verstehens: entwicklungspsycholo­ gische und klinische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1984, 47 ff.

22 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst

risierung von Selbst- und Weltbezügen bemerkbar.16 Eine wachsende, große Anzahl von Einstellungs- und Handlungsoptionen ist zu ver­ zeichnen. Hinzu kommen die Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft, die die Menschen voneinander verstärkt zu entfremden scheinen und die Anonymität innerhalb der Umwelt des Einzelnen trotz wechselseitiger Abhängigkeit steigern.17 Individualisierungsprozesse und Individualisierungsdiskurse nehmen zu und muten den Menschen zu, Orientierung und Sinn für seine Lebensführung selbst zu finden, wozu sich der Körper als Visua­ lisierungsmedium und Ressource außerordentlich gut anbietet.18 Im Zuge der letzten Jahrzehnte hat der Körper eine neue Aufwertung erhalten und wurde zu einem Projekt der intensiven Gestaltung, die bis zu Selbstpraktiken körperlicher Perfektion19, zur Selbstinszenie­ rung sowie Präsentation in der Öffentlichkeit reichen.20 Die Media­ tisierung der Lebenswelten führte u. a. zu einer Visualisierung der eigenen Person über den Körper, der zum Gegenstand von Aushand­ lungen bspw. von Geschlecht geworden ist.21 »Wie ›man‹ lebt, was ›man‹ tut, wie ›man‹ aussieht und ob ›man‹ in Form ist, wird zum wesentlichen Bestandteil dieses größeren Kommodifizierungsprozes­ ses.«22 Die Beschäftigung mit dem Körper ist mittlerweile nicht nur Jörg Zirfas/Benjamin Jörissen, Phänomenologien der Identität. Human-, sozialund kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2007, 127. 17 Vgl. Peter V. Zima, Entfremdung: Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Paderborn 2017, 8, 94. Anonymität und Individualisierung haben insbesondere nach der Corona-Pandemie nochmals einen anderen Charakter erhalten. 18 Tanja Thomas/Tanja Maier, Körper. In: Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Swantje Lingenberg/Jeffrey Wimmer (Hrsg.), Handbuch Cultural Studies und Medienana­ lyse, Wiesbaden 2015, 285–295, hier 286. 19 Selbstpraktiken ermöglichen es dem Individuum, »aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weis­ heit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.« Michel Foucault, Tech­ nologien des Selbst. In: Luther H. Martin/Huck Gutman/Patrick H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, 24–62, hier 26 f. 20 Vgl. Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, 40. 21 Vgl. Elke Grittmann/Katharina Lobinger/Irebe Neverla/Monika Pater (Hrsg.), Körperbilder – Körperpraktiken. Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Kör­ pern in Medienkulturen. In: Ders., Köln 2018, 9–28, hier 10. 22 Christian Schwarenegger/Jakob Hörtnagel/Lena Erber, Straffer Körper, gutes Leben? Fitnessinhalte auf Instagram zwischen Ideal und Selbst und deren Aneignung durch junge Frauen. In: Elke Grittmann/Katharina Lobinger/Irebe Neverla/Monika 16

23 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

als integraler Teil einer politischen Analyse moderner Gesellschaften erkennbar, sondern auch der Sozial- und Erziehungswissenschaften.23 Menschen können bei ihren Abwägungen, zu wem sie sich gerecht oder fürsorglich verhalten, partikulären und selektiven – wenn möglich zweckdienlichen – Motiven folgen.24 Vor allem in Zei­ ten wirtschaftlicher Unsicherheit, bei Spannungen zwischen sozialen Schichten und bei unvorhersehbaren wirtschaftlichen oder politischen Umwälzungen zeigt sich eine Zunahme diskriminierenden Verhal­ tens gegenüber migrantisch gelesenen Menschen.25 Dabei stehen seit einigen Jahren nicht nur Musliminnen und Muslime verstärkt im Fokus, sondern genauso schwarze Menschen, Juden und Flücht­ linge.26 Diese Gegebenheiten bedürfen eines ernsthaften Diskurses über bildungstheoretische Konzepte, die sich auf den Lebensalltag von Menschen beziehen, die in dieser »neuen« Welt ihr Leben sinnvoll gestalten wollen und es für die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes auch müssen. Da sich Menschlichkeit, Verantwortung und Solidarität in der Gesellschaft nicht ohne Schwierigkeit organi­ sieren, rationalisieren und sichern lassen, ist nicht nur jedes Indivi­ duum gefordert, sondern auch gesellschaftliche Gruppierungen, so z. B. Religionsgemeinschaften.27 Pater (Hrsg.), Körperbilder – Körperpraktiken. Visualisierung und Vergeschlechtli­ chung von Körpern in Medienkulturen, Köln 2018, 76–94, hier 76. 23 Vgl. Maren Möhring, Die Regierung der Körper. »Gouvernementalität« und »Techniken des Selbst«. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, H. 2, 3 (2006), 284–290, hier 285; vgl. Eva Kimminich/Michael Rappe/ Heinz Geuen/Stefan Pfänder (Hrsg.), Express Yourself! Europas kulturelle Kreati­ vität zwischen Markt und Underground, Bielefeld 2007, (Vorwort) 8. Siehe auch Elke Grittmann/Katharina Lobinger/Irene Neverla/Monika Pater (Hrsg.), Körper­ bilder–Körperpraktiken Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern in Medienkulturen, Köln 2018. 24 Vgl. Philipp Mayring, Individuelle und situative Bedingungsfaktoren für Wohl­ befinden – Ergebnisse psychologischer Glücksforschung. In: Hans-Peter Ecker (Hrsg.), Orte des guten Lebens. Entwürfe humaner Lebensräume, Würzburg 2007, 51–60, hier 58 f. 25 Vgl. Barbara Sutter, Der Wille zur Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement und die Transformation des Sozialen, Köln 2018, 18 f., 131 f. 26 Siehe hierzu Peter Antes/Rauf Ceylan (Hrsg.), Muslime in Deutschland. Histo­ rische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2017, 7–76; siehe hierzu für die USA Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt 2014, 52. 27 Bei Grenzerfahrungen an Möglichkeiten struktureller Bewältigung von Situatio­ nen und Notlagen wird individuelle sowie kollektive Verantwortung eingefordert, die

24 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst

Nun wird oft ein gewisser Werteverfall als Ursache für die abneh­ mende Qualität zwischenmenschlicher Interaktionen angeführt.28 Oft wird in der Literatur der Wertepluralismus in Verbindung mit ethnischer Herkunft und der Religionszugehörigkeit für Gefühle der Verunsicherung von Menschen verantwortlich gemacht.29 Jedoch wurde nicht nur im Zusammenhang mit der Einwanderung, son­ dern schon in den 68er-Jahren über Werte wie Disziplin, Loyalität, Ordnung, Familie, Schwangerschaftsabbruch und Pflichtbewusstsein leidenschaftlich diskutiert.30 Mit der Wiedervereinigung verstärkten sich diese Debatten um den Wertewandel.31 »Folgerichtig ist heute der Ruf nach Werten immer wieder eine Reak­ tion der Unsicherheit und Infragestellung dessen, was nun unsere Werte sind, wo und wie sie mit den Werten »der anderen« kollidieren, auf welchen Werten wir beharren müssen, um uns nicht selbst zu verlieren, und welche Werte der anderen eigentlich Un-Werte sind.«32

In Anlehnung an die Sinus-Sociovision-Milieu-Forschung aus dem Jahre 2007 schlussfolgert Mark Terkessidis, dass Ethnizität und Religion als wertestiftende Faktoren weniger relevant seien, als ange­ nommen werde, weshalb die Annahme, dass Migrationszuwachs die konsensuellen Werte gefährde, falsch sei und damit keine Grundlage

jedoch nicht aus fremdbestimmten Zwang, sondern lediglich aus der menschlichen Freiheit hervorgehen kann. 28 Siehe hierzu Christian Duncker, Verlust der Werte? Wertewandel zwischen Mei­ nungen und Tatsachen, Wiesbaden 2000. 29 Vgl. Anna Orkiszewska, Der Einfluss von Wertewandel auf die intimen Lebensfor­ men in der postmodernen Gesellschaft, Onlineressource in der Deutschen National­ bibliografie, Hamburg 2010, 11. 30 Vgl. Mark Terkessidis, Harte Verhandlungen: über die Wertpluralität in einer Gesellschaft der Vielfalt. In: Randolf Rodenstock/Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Werte – und was sie uns wert sind. Eine interdisziplinäre Anthologie, München 2018, 109–125, hier 110; vgl. Joachim Schmidt-Tiedemann, Wertekompetenz als Ziel der Ingenieurausbildung. In: Heinz Duddeck (Hrsg.), Technik im Wertekonflikt, Wiesbaden 2001, 236–246, hier 238. 31 Vgl. Heiner Meulemann, Kulturumbruch und Wiedervereinigung. Wertewandel in Deutschland in den letzten 60 Jahren. In: Frank Faulbaum/Christof Wolf (Hrsg.), Gesellschaftliche Entwicklungen im Spiegel der empirischen Sozialforschung, Wies­ baden 2010, 59–91, hier 60 ff. 32 Regina Ammicht Quinn, »Gut« sein: Theorie und Praxis von Wertediskursen. In: Armin Hackl/Olaf Steenbuck (Hrsg.)/Gabriele Weigand (Hrsg.), Werte schulischer Begabtenförderung. Begabungsbegriff und Werteorientierung, Karg-Stiftung, Frank­ furt a.M. 2011, 12–18, hier 12.

25 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

dafür biete, einen Diskurs um den Wertewandel in Verbindung mit der Einwanderung zu führen.33 Der Wertepluralismus äußert sich in individuellen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen.34 Im Zusammenhang mit einem guten gemeinschaftlichen Leben ist m. E. zunächst festzuhalten, dass das Grundgesetz einer Wertplu­ ralität gerecht wird, solange subjektive Werte der Bürger nicht an die Grenzen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates stoßen.35 Anschließend daran stellen sich viele Fragen: Reichen Werte im Sinne von wünschenswerten Grundhaltungen aus, um sich in einer zuneh­ mend komplizierter werdenden Welt zurechtzufinden? Würde eine enge Werteverbundenheit die zwischenmenschlichen Interaktionen verbessern? Kann ein gesellschaftlicher Wertekonsens die Vorausset­ zung für ein gutes Leben sein? In den aktuellen Bildungsdiskursen ist kaum von ethischer Kompetenz die Rede, gleichwohl verstärkt aber von Werteerziehung.36 Diese Fragen berühren sowohl die Leit­ kultur-Debatte als auch den Bereich der Bildung. Sie gilt es später eingehender vor dem Hintergrund der Forschungsfrage zu erörtern. In den Bildungstheorien ist oft diskutiert worden, ob das grund­ sätzliche Ziel von Bildung ein gelungenes Leben des Menschen sei oder ob es nicht vielmehr darum gehe, den Menschen effizient so zu vergesellschaften, also gesellschaftsfähig zu machen, dass er den Anforderungen der sich im Wandel begriffenen Welt und Gesell­ Vgl. Terkessidis, Harte Verhandlungen, 117. Vgl. ebd., 116. 35 Vgl. ebd., 122. 36 Siehe zu den Bildungsdiskursen Rolf Wernstedt/Marei John-Ohnesorg, Der Bil­ dungsbegriff im Wandel. Verführung zum Lernen statt Zwang zum Büffeln, FES Dokumentation einer Konferenz des Netzwerks Bildung vom 5.-6. Juli 2007 Berlin, insbesondere 9. Werteerziehung und ethische Bildung haben ähnliche Anliegen und stoßen eine verwandte Praxis an, sind dennoch nicht deckungsgleich. Vgl. Quinn, »Gut« sein, 15. Rudolf Englert mahnt an, unterschiedliche Komponenten ethischen Lernens zu unter­ scheiden, weshalb er für einen differenzierten Kompetenzbegriff im Rahmen ethischen Lernens plädiert. Dabei unterscheidet er zwischen einer aretaischen Komponente, in der es um den Aufbau von Handlungsdispositionen im Sinne von Tugenden geht, einer evaluativen Komponente, bei der es um die Bewertung materieller wie immaterieller Güter geht, und schließlich einer normativen Komponente, bei der es um die Begrün­ dung ethischer Urteile geht. Vgl. hierzu Rudolf Englert, Religion, Werte, Bildung ..., bla,bla,bla. Die Integrationsdebatte als Tauglichkeitstest für »Schwatzbegriffe«. In: Mirjam Schambeck/Sabine Pemsel-Maier (Hrsg.), Welche Werte braucht die Welt? Wertebildung in christlicher und muslimischer Perspektive, Freiburg i.Br. 2017, 79– 99, hier 80–83. 33

34

26 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst

schaft gewachsen ist.37 Unübersichtliche soziale Situationen, das Zusammenleben und die Begegnung der Kulturen und Religionen, neue Technologien, Digitalisierungen sowie neue politische Heraus­ forderungen verlangen moralische Urteile und Entscheidungen im täglichen, gesellschaftlichen Umgang. Eine breit angelegte und nicht auf Faktenwissen reduzierte Schulbildung besitzt für die Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf ihr zukünftiges (Berufs-)Leben daher eine zentrale Bedeutung.38 Vor allem in einer Zeit, in der Wissen freier verfügbar ist als je zuvor, geht es verstärkt darum, übergeordnete Fähigkeiten, Können, ja Kompetenzen etwa zur Welta­ neignung sowie zur Lebensbewältigung zu erwerben.39 »Wir brau­ chen also in unserem Schulsystem eine gute Balance zwischen der Wissensvermittlung und der Persönlichkeitsentwicklung.«40 Seit vielen Jahren ist »Ambiguitätstoleranz« in unserer unein­ deutigen Welt nicht nur politisch,41 sondern insgesamt zu einem der zentralen Bildungsanliegen avanciert.42 Ambivalenzen und Ambi­ guitäten werden sichtbarer und fordern Fähigkeiten der Menschen heraus, mit Mehrdeutigkeit, im Idealfall ohne Abwertung, umzuge­ hen.43 Denn Menschen bilden in sozialen Begegnungen Verhaltens­ weisen, habitualisierte Wahrnehmungs- und Entscheidungsdisposi­ tionen sowie geistige Grundhaltungen aus, die ihr weiteres Handeln 37 Vgl. Elisabeth Zwick, Bildung und Ethik. Präliminarien zu einer grundlegenden Thematik aus historisch-systematischer Sicht. In: Markus Fath (Hrsg.), Bildung und Ethik. Beiträge und Perspektiven jenseits disziplinärer Grenzen, Berlin 2013, 13–40, hier 15. 38 In diesem Zusammenhang sei eine umfangreiche Kritik an den Bildungsinhalten von David Richard Precht empfohlen: Anna, die Schule und der liebe Gott, Mün­ chen 2013. 39 Vgl. Interview mit Dieter Frey und Martin Fladerer, »Werteerziehung und Persön­ lichkeitsentwicklung gehören neben der Wissensvermittlung auch auf den Lehrplan.« In: Randolf Rodenstock/Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Werte – und was sie uns wert sind. Eine interdisziplinäre Anthologie, München 2018, 165–168, hier 166. 40 Vgl. ebd., 167. 41 Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018, 12. 42 Vgl. Sabine Dengel/Linda Kelch, »Es ist kompliziert. Dazu guter Pop«. Ambigui­ tät, politische Bildung und Kultur. In: Ansgar Schnurr/Sabine Dengel/Julia Hagen­ berg/Linda Kelch (Hrsg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeldt 2021, 55–90, hier 55. 43 Vgl. Naika Foroutan, Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften. In: Marc Hill/Erol Yildiz (Hrsg.), Postmigrantische Visionen, Bielefeldt 2018, 15–28, hier 20.

27 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

lenken und strukturieren.44 In Bezug auf den Islam war es insbeson­ dere der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der in seiner Theorie über die kulturelle Ambiguität die reiche Kultur der islamischen Tradition im Angesicht einer zunehmenden Reduzierung von Mehr­ bezüglichkeiten und -deutigkeiten in Erinnerung gerufen hat. Bauer definiert den Begriff der Ambiguität wie folgt: »Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuwei­ sungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen aus­ schließliche Geltung beanspruchen kann.«45

Bauer versteht unter Ambiguitätstoleranz eine Aufgeschlossenheit gegenüber beständiger kultureller Vielfalt. Die Erinnerung an diese kulturelle Ambiguität ist, wie ich finde, gegenwärtig eine entschei­ dende Quelle und Ressource, ein weites Spektrum an Denk- und Handlungskreativität anzubieten. Denn die Mehrdeutigkeit in der islamischen Lebenswelt ist, wie Bauer zu Recht konstatiert, als Preis der Annäherung an den Westen im 19. Jahrhundert sukzessive ver­ schwunden. Eben diese »Eindeutigkeit führte auch zum Fanatismus, indem die Ideen, die politische oder religiöse muslimische Erneuerer generierten, instrumentalisiert und zur einzig geltenden Wahrheit erklärt wurden.«46 Musliminnen und Muslime nicht nur in Europa, sondern weltweit oszillieren zwischen diesem alten Pol der Ambi­ guitätstoleranz und dem neuen Pol ultraorthodoxer Eindeutigkeit.47 Erhöhte Ausgrenzungserfahrungen befördern glaubende Menschen 44 Vgl. Kathrin Audehm, Art. »Habitus«. In: Christoph Wulf/Anja Kraus/Jürgen Budde/Maud Hietzge (Hrsg.), Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen, Weinheim 2017, 167–178, hier 168. 45 Thomas Bauer, Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin 2011, 27. 46 Yasemin Gökpınar, Wein, Weib und Gesang – Ein etwas anderes Bild des Islams. In: JUSUR, Zeitschrift für Orientalistik, Islamwissenschaft und Arabistik, (2020) H. 3, 19–26, hier 26. 47 Problematisierung des Verlustes von Mehrdeutigkeit für den Islamischen Religi­ onsunterricht bei Tuba Isik/Naciye Kamcili-Yildiz, »Ist Schweinegelatine halal oder

28 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Auf der Suche nach der Kultivierung des Selbst

grundsätzlich den Rückzug auf ein konservatives Verständnis und eine konservative Auslegung von Religion.48 Das Wissen und die Kenntnis vielfältiger Deutungen, der Pluralität von Diskursen und Praxisformen kann gerade heute als ein funktionales Argument gegen einseitige Deutungshoheiten verwandt werden, gerade weil diese tolerante Geisteshaltung zur Mehrdeutigkeit ein genuin islamischer Wesenszug ist.49 Umso dringender erscheint mir die Notwendigkeit, diese ambige Denk- und Lebenskultur für gegenwärtige Diskurse fruchtbar zu machen. Religiöse Erzähltraditionen, aber auch philoso­ phische Überlegungen oder mystische Praxisformen der islamischen Tradition bieten gute Orientierungen, um Bedingungen und Dimen­ sionen des Erlernens von Urteilsfähigkeit kennenzulernen. In einer Lebenswirklichkeit, deren Komplexitätsgrad beständig wächst, stellt sich umso stärker die Frage, was Kinder und junge Menschen zur Verfügung haben, um auf die zukünftigen Herausforderungen men­ schenmöglich ethisch reagieren zu können50 sowie ob und wie sie dies im Schulkontext erwerben können.51 Nicht nur Lebenswelten und -wirklichkeiten werden komplexer, sondern mit ihnen ebenfalls ethische Fragestellungen, mit denen nicht nur muslimische Kinder und Jugendliche, sondern auch muslimische Erwachsene gegenwärtig konfrontiert sind. Hierzu braucht es v. a. der Fähigkeit zur vernünftig nachvollziehbaren Argumentation und der Einsicht, warum ein Ver­ halten oder eine ethisch begründete Regel Gültigkeit haben soll. Das kann aus der eigenen religiösen Tradition heraus geschehen, muss aber in der Kommunikation mit anderen Perspektiven darum bemüht sein, sich für die anderen verständlich und konsensfähig auszudrü­ haram?« – Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambigui­ tätstoleranz: In: 109–118. 48 Vgl. Heinz Ulrich Brinkmann, Erfolge und Probleme der Integration. Soziodemo­ grafische Hintergründe und Lebenslagen der Migrationsbevölkerung In: ders./Haci Halil Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland, Wiesbaden 2013, 103–126, hier 121 f. 49 Vgl. Gökpınar, Wein, Weib und Gesang, 26. 50 Vgl. Hans Julius Schneider, Einleitung: Ethisches Argumentieren. In: Hastedt von Heiner (Hrsg.)/Ekkehard Martens, Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, 13–47, hier 33 f. 51 Vgl. Ingrid Schoberth, »In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.« In: dies. (Hrsg.), Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 9–18, hier 11. Dies ist mit Blick auf den Islamischen Religionsunterricht eine wichtige Schnittstelle zwischen Religionspädagogik und Ethik, die es im Austausch zwischen Theologischer Ethik, Praktische Theologie und Religionspädagogik zu bedenken und bearbeiten gilt.

29 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

cken. Damit ist der Mensch in seiner moralischen Verfassung, seinem Selbst und seinem Glauben angesprochen. Die islamische Tradition kann genuin Orientierungen und Impulse für diesen Fragenkontext liefern, denn sie bietet eine Bandbreite an unterschiedlichen Praxis­ formen und Orientierungen für das Arbeiten am Charakter mit Blick auf die eigene Lebensführung. Wie will ich leben, wie will ich sein, wie kann ich ein guter Mensch sein, was beinhaltet ein gedeihliches, friedli­ ches Leben? Welche charakterlichen Eigenschaften und Haltungen können im Angesicht von Entscheidungssituationen helfen, Anders­ heit als eine Ausformung vielfältiger Möglichkeiten des Menschseins wahrzunehmen, plurale Lebensentwürfe zu tolerieren, Differenz und Pluralität nicht zu negieren und sie nicht zu einem ausgrenzenden Beurteilungsmaßstab für Begegnung werden zu lassen? Die Kultivierung der Ambiguitätskompetenz erfolgte in frühe­ ren islamischen Lebenswelten in der Regel in einer kulturell und religiös vergleichsweise homogenen Gesellschaft. Allerdings bietet die islamische Tradition hier sehr viel. Die gegenwärtigen Formen der Pluralität sind zwar um ein Vielfaches komplexer, dennoch bietet die islamische Tradition Impulse und Beispiele, die nicht nur für Musliminnen und Muslime heute in Deutschland (und sicherlich auch darüber hinaus), sondern für alle wegweisend sein können. Um gemeinschaftsstiftende Eigenschaften zu praktizieren, braucht es, wie ich finde, zunächst eine Kultivierung von personalen Eigenschaften des Einzelnen. Der in dieser Arbeit entscheidende Fokus liegt folglich auf der moralischen Verfasstheit des Menschen. Unter den Bedingungen von verstärkt wahrnehmbarer Differenz, aber auch einer komplexer werdenden Welt scheint mir die Kultivierung moralischer Grundhaltungen aktueller denn je. Im Folgenden sollen nun einige Ansätze näher betrachtet und auf ihre Wirksamkeit unter­ sucht werden, die sich in ihren Zielsetzungen mit der Ausbildung von Haltungen und personalen Eigenschaften konzentrieren.

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht als Inhalt des schulischen Bildungsauftrages Der Philosoph Julian Nida-Rümelin stellte mit seinem Buch Philoso­ phie einer humanen Bildung u. a. die Frage, was Bildung sei und welche Rolle die Persönlichkeit dabei spiele, in den Rahmen eines wiederher­

30 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht

zustellenden Zusammenhanges zwischen Philosophie und Bildungs­ praxis.52 Darin bemängelt er den modernen Trend der Reformbemü­ hungen, der weder eine anthropologische noch eine philosophische Fundierung aufweise und damit »keine Idee einer humanen Persön­ lichkeitsentwicklung erkennen« lasse.53 Er macht darauf aufmerksam, dass die Bildung ohne ein Persönlichkeitsideal nicht denkbar sei.54 In Anlehnung an Nida-Rümelin verstärkt die Frage nach dem Wer sind wir? Was macht das Menschsein aus? die Bedeutung und kontinuierli­ che Entwicklung von praktischen Bildungsinhalten und ihrer Didaktik im Schulkontext, die zu einer Kultur der Selbstreflexion beitragen kann. »Der regelmäßige selbstverständliche Perspektivwechsel kann im Alltag fortlaufend das eigene Vorgehen und die Bildungsinhalte spiegeln.«55 Auf diese auf Humboldt zurückgreifende Zielsetzung und berechtigte Kritik an einer an Leistungsstandards ausgerichteten Bildung gilt es an dieser Stelle unter Betrachtung der Bildungsaufträge kurz zu erinnern, um die implizite Signifikanz des tugendethischen Diskurses für die Bildungstheorie zu betonen. In einem Dokument des Ministeriums für Schule und Weiterbil­ dung des Landes Nordrhein-Westfalen heißt es mit Bezug auf den Erziehungs- und Bildungsauftrag wie folgt: »Die gesellschaftlichen Anforderungen an die schulische Bildungsund Erziehungsarbeit reichen von Erwartungen an die fachlichen Kom­ petenzen der Schülerinnen und Schüler, bei deren Aufbau die Schule einen großen Anteil hat, bis hin zu langfristigen Wirkungen auch im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung, zu der Schule und Unterricht, aber auch entscheidend andere Lebens- und Erfahrungsbereiche der Kinder und Jugendlichen außerhalb des schulischen Einflusses beitra­ gen.«56

Das Ministerium konkretisiert die Wahrnehmung seines Erziehungsund Bildungsauftrages, indem es darauf achtet, dass Lernprozesse systematisch auf eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung aus­

Vgl. Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013, 8. Ebd., 12. 54 Vgl. ebd., 21 ff. 55 Michael Kroll, Achtsam Lernen – Psychische Gesundheit systemisch bilden, Berlin 2018, 112. 56 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Referenzrahmen Schulqualität NRW. Schule in NRW Nr. 9051, 2015 (www.schulen twicklung.nrw.de/referenzrahmen), 11. 52

53

31 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

gerichtet sind.57 Dies wird ausführlich im Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, § 2, Absatz 2, deutlich. Darin heißt es: »Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereit­ schaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erzie­ hung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.«

Sehr ähnlich ist es im Bildungs- und Schulauftrag des Landes Bayern zu lesen. Dort heißt es in Artikel 1: »1Die Schulen haben den in der Verfassung verankerten Bildungsund Erziehungsauftrag zu verwirklichen. 2Sie sollen Wissen und Kön­ nen vermitteln sowie Geist und Körper, Herz und Charakter bilden. 3Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiö­ ser Überzeugung, vor der Würde des Menschen und vor der Gleich­ berechtigung von Männern und Frauen, Selbstbeherrschung, Ver­ antwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verant­ wortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. 4Die Schülerinnen und Schüler sind im Geist der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinn der Völkerversöhnung zu erziehen.«

Im niedersächsischen Bildungs- und Schulauftrag klingt der Gedanke der Persönlichkeitsentwicklung in § 2 ähnlich an: »1Die Schule soll im Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der libe­ ralen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwi­ ckeln. 2Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. 3Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Referenzrahmen Schulqualität NRW. Schule in NRW Nr. 9051, 2015 (www.schulen twicklung.nrw.de/referenzrahmen), 19.

57

32 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht

Gesellschaft beizutragen, nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten (...).«

Die Schul- und Bildungsaufträge anderer Bundesländer zeugen von einer ähnlichen Stoßrichtung, die die Ausbildung und Entwicklung von grundlegenden Eigenschaften für die Persönlichkeitsentwicklung zum Dreh- und Angelpunkt von Bildung und Erziehung etikettiert.58 In der Summe ist für den Forschungskontext des Vorliegenden festzu­ halten, dass sich die Bundesländer in ihren Bildungs- und Schulauf­ trägen der Persönlichkeitsentwicklung, der Bildung des Charakters und/oder der Befähigung zum sozialen Handeln verpflichten. Dies ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, denn der deutsche Bildungsbe­ griff fußt auf der Humboldtschen Tradition von Selbsttätigkeit und Reziprozität mit der Welt.59 Bildung soll als Anregung aller Kräfte des Menschen wirken, sodass der Mensch sich in ein reziprokes Verhältnis mit der Welt als Ganzer setzt und die menschlichen Kräfte so weit wie möglich entwickelt.60 So bedeutet Bildung, eine reflek­ tierte Auseinandersetzung mit der Welt, mit ihren Anforderungen, Zwängen und Zumutungen, sie demnach primär zu hinterfragen und eine reflektierte kritische Grundhaltung an den Tag zu legen. Erst dann kann der Mensch zur Mündigkeit und Freiheit gelangen, die eine wichtige Zielvorstellung von Bildung ist. Sie bedeutet auch das Ernstnehmen der gesellschaftlichen Umstände und das UmgetriebenSein von ungerechten Strukturen, Missständen und Spannungen, die den Menschen (im Idealfall) zu Engagement und Kreativität und dazu motivieren, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern.61 Das SichBilden in und mit der Gesellschaft fördert und zeigt sich demgemäß in Prozessen der Persönlichkeitsbildung, die etwas Dynamisches ist und Vgl. bspw. SchulG Rheinland-Pfalz (§ 1), SächsSchulG für den Freistaat Sachsen (§ 1), Bildungs- und Erziehungsauftrag der Hamburger Schulen in HmbSG (1), SchulG Berlin (§ 3) Bildungs- und Erziehungsziel. 59 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Anthropologie und Geschichte: Theo­ rie der Bildung des Menschen, hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd.1, Stutt­ gart/Darmstadt 31980, 234–240, hier 238. 60 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Rechenschaftsbericht an den König, hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. IV, Stuttgart/Darmstadt 31980, 218. 61 Erinnert sei an dieser Stelle, dass die Pisa-Studien v.a. einen Zusammenhang zwischen Bildung, Wissenschaft und Gerechtigkeit auf quantitativer und politischer Ebene darstellen. Eine schlechte Bildung hat eine negative Auswirkung auf die Gesell­ schaft und ihren Wohlstand. Vgl. Rainhard Z. Bengez, Bildung und Wissenschaft. In: Markus Fath (Hrsg.), Bildung und Ethik. Beiträge und Perspektiven jenseits disziplinärer Grenzen, Berlin 2013, 65–94, hier 66. 58

33 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

fortwährend passiert. Das bedeutet, dass die Persönlichkeit änderbar ist. Wenn der Mensch folglich als ein »prozedurales Formgebilde«62 verstanden werden kann, bedeutet Bildung neben der Auseinander­ setzung mit der Welt auch Selbstwerdung und -gestaltung. Dieser Prozess der Auseinandersetzung eröffnet dem Einzelnen einerseits einen Zugang zu sich selbst und schafft andererseits das Bewusstsein, dieses Selbst formen und bilden zu können. Der Begriff Charakter bedeutet in diesem Zusammenhang die Sinnesart, ja die Ausprägung einer Persönlichkeit durch stabile, erworbene und veränderbare Eigenschaften, die sich im aktiven Sein und im Handeln einer Person erkennbar machen bzw. ablesen lassen. Jeder Mensch ist eigentümlich; auch wenn unterschiedlichen Men­ schen dieselben Eigenschaften innewohnen, können sie individuelle Unterschiede im Denken, Fühlen und Verhalten aufweisen.63 Der Charakter eines Menschen impliziert damit auch eine sinnlich wahr­ nehmbare Qualität. Die individuellen Ausprägungen dieser Eigen­ schaften, Gewohnheiten und auch Neigungen respektive die Ausprä­ gungen im Erleben und Verhalten unterscheiden den Menschen, ergo definieren sie den personenspezifischen Charakter. Die Ausbildung der Persönlichkeit scheint vor diesem Hintergrund der Entwicklung einer moralischen Selbstauskunft gleichzukommen. Dieser morali­ sche Charakter ist wie ein Stempel des Menschen, der sein besonderes Wesen ausmacht, über den gesagt werden kann, ob ein Mensch einen »guten« oder »schlechten« Charakter hat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Bedeutungen von Persönlichkeit und Charakter sich überlappen. In meinem Verständnis bildet der Begriff Selbst einerseits ein reflexives Verständnis zum Charakter bzw. zur Persönlichkeit, ande­ rerseits bezeichnet er die Korrespondenz zwischen Seelenleben und Charakter und bezieht sich auf das Wesen des personalen Seins. Ethisches Handeln ist, wie bereits ausgeführt, nicht nur reflexiver Art, sondern immer auch weltanschaulich begründet und sozialisa­ tionsbedingt verinnerlicht. Das reflexive Moment wird tatsächlich vielfach erst nach der Handlung explizit wirksam. Das Verwoben­ 62 Für den Ausdruck »prozedurales Formgebilde« siehe Monika Witsch, Das Subjekt als Korrelation von Individuation und Vergesellschaftung oder warum man auch bildungstheoretisch nicht auf einem Bein stehen kann, peDocs, 2011, 1–11, hier 7. 63 Vgl. Jule Specht/Denis Gerstorf, Persönlichkeitsentwicklung und Coaching. In: Siegfried Greif et al. (Hrsg.), Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching, Springer Reference Psychologie, Wiesbaden 2018, 441–448, hier 442.

34 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht

sein von weltanschaulichen Überzeugungen, sozialisations- (und entwicklungs-)bedingten Voraussetzungen und Reflexionsfähigkeit stellt letztlich die große Herausforderung ethischen Lernens dar. Das Verstehen und Reflektieren des eigenen Selbst und der individuellen Gründe des Handelns sind nicht nur in der Philosophie, sondern auch in islamisch-theologischen Kontexten bedacht worden. Ganz konkret hat bekanntlich Kant die Frage gestellt: »Was soll ich tun?« und begründet, wie diese Frage aufs Engste mit der Frage nach dem, was der Mensch ist, zusammenhängt. Ethische Fragen bedürfen immer einer anthropologischen Reflexion. Die individuelle, anthropologische Vorstellung der eigenen Bestimmung ist wiederum wesentlich geprägt von dem Weltbild und von weltanschaulichen Überzeugungen. Für die genannten Fragen bietet der Qurʾān einige Antworten an, die dem bildungstheoretischen Denken über Persön­ lichkeitsentwicklung und ethisches Lernen viele Impulse zu liefern vermögen. Dem soll im 3. Kapitel nachgegangen werden. Wenn die Selbstbestimmung philosophisch wie auch theologisch eines Bewusstseins dafür bedarf, wer jemand ist, kann ein Teil dieser Frage wohl auch in der Antizipation der Fremdwahrnehmung ande­ rer realisiert werden, um etwaiger Selbsttäuschung oder verzerrter Selbstwahrnehmung weitestgehend vorzubeugen. Der erste Schritt stellt allerdings eine Bestandsaufnahme des eigenen Selbst dar. Selbstannahme, d. h. den Status quo seines Selbst zu akzeptieren, ist entscheidend für den weiteren Schritt, dieses Selbst zu reflektieren und daran zu arbeiten. Zu reflektieren gilt es indes über Gewohnheiten, Verhaltensmus­ ter, Neigungen, Fähigkeiten, Schwächen und personale Eigenschaften. Selbstreflexion ist die konstitutive Grundlage für die Entwicklung eines Menschen sowie für die Intersubjektivität, d. h. die Vorausset­ zung und Möglichkeit des kognitiven und emotionalen Perspektiven­ wechsels; denn ohne sich selbst zu verstehen, wird ein treffliches Sich-Hineindenken in den anderen kaum möglich sein. Erst Selbster­ kenntnis kann Beziehungsfähigkeit ermöglichen.64 Über sich selbst urteilen zu können, weist einen reflektierenden Selbst- und Weltbe­ Mit Blick auf Kinder im Grundschulalter und in inklusiven Lernsettings ist dies selbstverständlich zu differenzieren; denn auch junge Menschen mit kognitiven För­ derbedarf sind zu menschlichen Beziehungen fähig, wenn auch je nach Förderbedarf bzw. kognitive Beeinträchtigung sie ihre Beziehung zu sich selbst nicht noch einmal reflektieren können. 64

35 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

zug auf. Im konkreten Umgang mit anderen, der eigenen Person und der Mitwelt werden Selbst- und Weltkompetenz in Rückbindung an die eigene Person erworben.65 Mein intensives Rekurrieren auf Hum­ boldt ist der Überzeugung geschuldet, dass Humboldts Bildungsver­ ständnis der humanistischen Persönlichkeitsbildung am nächsten kommt.66 Diese Bildungstheorie dürfte angesichts der veränderten (und sich verändernden) pluralen Gesellschaft weitergedacht und erweitert werden.67 Anhand der Schul- und Bildungsaufträge wurde der breite Konsens über die Persönlichkeitsentwicklung erkennbar. Den pädagogischen Bestrebungen, wie die Persönlichkeitsentwick­ lung zu erreichen ist, wurde bereits Aufmerksamkeit geschenkt. Doch sollte die Aufmerksamkeit darauf liegen, dass in pluralen Gesellschaf­ ten darüber diskutiert werden muss, weil das, was eine Persönlichkeit im positiven Sinne ausmacht, je nach religiöser wie nicht-religiöser Art unterschiedliche Schwerpunkte haben wird. Bildung beschreibt mithin das Vermögen, sich seiner selbst gewahr zu werden und sich selbst zu erkennen. Hierunter fasst die Verfasserin sowohl Selbstrevision, eine Innenschau, Kontemplation und geistige Durchdringung des Selbst als auch ein reflektiert-aktives, ethisches Handeln in die jeweilige Lebenswelt hinein. Mit Wittgen­ stein ließe sich wohl formulieren, dass die Arbeit an seinem Selbst, an seiner eigenen Auffassung und seiner Wahrnehmung der Dinge ein wesentlicher Teil von Bildungsarbeit sei.68 Im Anschluss an Hum­ boldt lässt sich folglich festhalten, dass die Arbeit am Charakter zum Bildungsideal sowie zum Bildungsverständnis des selbst denkenden Menschen gehört, der eben nicht nur danach strebt, sich kognitiv zu bilden, sondern dabei auch seinen (moralischen) Charakter im Blick behält. Gemeint ist damit eine Gestaltung des Inneren, das im Äußeren, also in den Handlungen, ihren Ausdruck findet. Dem 65 Vgl. Frauke Kurbacher, Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würz­ burg 2017, passim. 66 Vgl. Stefan Pohlmann/Gabriele Vierzigmann/Sven Winterhalder, Einführung. In: Stefan Pohlmann/Gabriele Vierzigmann/Thomas Doyé (Hrsg.), Weiter denken durch wissenschaftliche Weiterbildung, Wiesbaden 2017, 19–69, hier 34. 67 Vgl. Julian Nida-Rümelin/Klaus Zierer, Bildung in Deutschland vor neuen Herausforderungen, Baltmannsweiler 2017, passim. 68 »Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt).« Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass, hrsg. von Alois Pichler und Georg Henrik von Wright, Frankfurt a.M. 1994, 52.

36 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Die Arbeit am Selbst in tugendethischer Absicht

liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Revision und Verfeinerung des Charakters einen positiven Einfluss auf die in Erscheinung treten­ den Gestaltungskräfte für den sozialen Umgang hat. Analog hierzu versteht Nida-Rümelin Bildung als einen Prozess der Entfaltung des Menschen. »Nach humanistischem Verständnis repräsentiert die jeweilige Bil­ dungsidee den normativen Gehalt unseres Selbstverständnisses als Mensch. Da Menschen immer auch als Selbstzweck gelten müssen und niemals ausschließlich zu anderen (externen) Zwecken gebraucht (instrumentalisiert) werden dürfen, überträgt sich so der normative Kern einer humanistischen Anthropologie auf die humanistische Bil­ dungskonzeption. Wenn Bildung nichts Anderes ist als die angelei­ tete und zu möglichst großen Teilen selbstbestimmte Entfaltung des Menschen, die Entwicklung menschlicher Persönlichkeitsmerkmale (Tugenden) und die Praxis einer genuin menschlichen Lebensform, dann ist Bildung in diesem Sinne Selbstzweck. Es ist die Verkopplung von Anthropologie und Bildungstheorie im humanistischen Denken, die instrumentalistische Auffassungen ausschließt.«69

Für eine Kultur des Miteinanders, des Respekts, der Achtung bedarf es dementsprechend der Entwicklung der dem Menschen innewohnen­ den personalen Eigenschaften, um sich für die Verbesserung der Inter­ aktionen engagieren zu können. Mit diesem Anspruch bewegen wir uns auf dem Wissenschaftsfeld der Bildung und der Schaffung eines spezifischen Bildungsverständnisses. Mit Horkheimer darf Bildung sich nicht nur auf die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit begrenzen, sondern muss ebenso Bezug auf den sozialen Zusammen­ halt nehmen.70 Gefragt ist nach einer inhaltlichen Ebene von Bildung, die den pluralen Kontext ernst nimmt, das gegenseitige Anerkennen von Anderssein bekräftigt und sich dies zum Bildungsziel setzt.71 Denn die Entwicklung, um die es bei Bildung geht, ist die Entwicklung einer menschenwürdigen Existenz und der Respektierung des ande­ ren trotz unterschiedlicher Ansichten. Folglich sollten Bildungspro­ zesse die gesellschaftliche Wirklichkeit aufgreifen und thematisieren sowie gesellschaftskritische Impulse aussenden, um das Bestehende zum Besseren hin anzufragen. Aber auch Schule bedarf einer bil­ Vgl. Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, 52. Vgl. Max Horkheimer, Begriff der Bildung. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1985, 409–419. 71 Vgl. Graf, Religiöse Bildung als individuelle Entfaltung der Person, 64. 69

70

37 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

dungstheoretischen sowie gesellschaftspolitischen Neubestimmung, die sich gegen gesellschaftliche Polarisierungstendenzen stellt, die Förderung von demokratischem Bewusstsein72und sozial-ethischen Fähigkeiten und den respektvollen Umgang für den gesellschaftlichen Zusammenhalt für konstitutiv erklärt.73 Eine visionäre und zukunftsträchtige Bildungstheorie, die Kin­ der und junge Menschen auf eine sich ständig wandelnde und kul­ turell durchmischte Welt vorbereiten möchte, sollte ihren Fokus auf den Charakter legen. Im Verständnis des eigenen Lebens als Prozess der personalen Verbesserung ist nach den Bedingungen der Möglichkeiten für die Kultivierung von moralisch wünschenswerten Dispositionen zu fragen, die einerseits mit den eigenen weltanschau­ lichen Grundlagen, z. B. den Glaubenssätzen, Regeln und Riten einer bestimmten Religion, und andererseits mit den gesamtgesellschaft­ lich relevanten Grundlagen einer pluralen Gesellschaft anschlussfähig sind und die auf diese Weise der eigenen Identitätsbildung und ande­ rerseits einem gedeihlichen Zusammenleben im Sinne eines guten Lebens für alle dienen. Dementsprechend ist die Betonung der tugen­ dethischen Ausrichtung von Bildung im Rahmen der Schulbildung (gemäß den Bildungs- und Schulaufträgen) die zentrale Idee dieser Arbeit. Dies aber wäre missverstanden, ginge es darum, Tugenden als Charaktereigenschaften zum Lernziel zu erklären. Eine Pädagogik, die gezielt den Charakter eines Menschen zu verändern versucht,

72 Die Idee einer demokratischen Bürgergesellschaft lädt zur Identifikation mit den demokratischen Prinzipien des Gemeinwesens und zum Engagement für seine Belange ein. Die Idee der Bürgergesellschaft stellt den Menschen als Ursprung, Akteur und Ziel allen gesellschaftlichen Handelns in den Mittelpunkt. Als soziales Wesen soll er seine Freiheit nicht nur als Privatmensch genießen, sondern sie als Verantwortung zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten begreifen. Sie setzt ein aktives Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft voraus, in der er lebt und die er als seine eigene begreift. Damit jeder Bürger diese Idee verinnerlichen kann, bedarf es entsprechender politischer Strukturen und einer entsprechenden Gestaltung der Institutionen, die der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht werden, niemanden per se ausgrenzen und demütigen. Vielfalt bezieht sich nicht nur auf »Migrationshintergrund«, sondern auch Geschlecht, sexuelle Orientierung, Schicht, Alter oder Behinderung. Solch eine Gesellschaft wird den Geist der Gesellschaft und des Miteinanders prägen und bestimmen. Näheres dazu Avishai Margalit, Decent Society, Harvard 1997. 73 Siehe hierzu die aktuellen Schulgesetze der Länder u.a. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern.

38 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

wird gegen die Autonomie der Person verstoßen.74 Zudem handelt es sich eben nicht um einen tugendethischen Ansatz, wenn eine feste Auskunft über ethisch richtiges Handeln gegeben werden würde, wenn also die kontextabhängige und jeweils neu zu begründende Realisierung einer Tugend normativ festgelegt würde. Vielmehr geht es um die Qualität des Charakters und die Frage, wie der Mensch sein sollte, um ein gutes Leben leben zu können, und welche Tugenden für ein gutes Leben für alle in der pluralen Gesellschaft notwendig oder hilfreich sein können. Der Mensch ist in der Begegnung mit anderen Menschen, in der Begegnung mit neuen Situationen immer in seinem Selbstver­ hältnis und seiner Beziehung zur Mitwelt angefragt. In der weiteren Konsequenz offenbart dann der Charakter zugleich jene Haltungen, die das Handeln mitbestimmen. Damit bilden das Selbst und die Kultivierung seiner charakterlichen Eigenschaften das Kernstück des hier vertretenen Bildungsverständnisses. Erst mithilfe von Bildungs­ prozessen und durch sie kann ein Bewusstsein für das, was ist, und das, was sein soll, geschaffen werden. Demzufolge ist nach wün­ schenswerten personalen Eigenschaften zu fragen. Wie sich aus dem Bisherigen zeigt, bietet der Tugendbegriff Potentiale hierfür. Diesen gilt es ausgehend von Aristoteles und unter Berücksichtigung weiterer Tugendethiker*innen zu definieren bzw. eine für den Bildungsdiskurs operationalisierbare Begriffsbestimmung zu formulieren.

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung Wenn es um die Bedingungen der Möglichkeit eines guten Zusam­ menlebens geht, um ein Miteinander, das eine erstrebenswerte gemeinsame Lebensqualität bildet, dann braucht es Kinder und junge Menschen, die bereit sind, sich nicht nur für ihr eigenes Wohl einzusetzen, sondern auch für das der anderen. Im Grunde bräuchte es ein Freiheitsverständnis mit zweifacher Ausrichtung, das die Verwirklichung der eigenen Freiheit, also des eigenen Wohls, gerade in der Anerkennung des anderen sieht. Es braucht Kinder und junge Menschen, die insofern ein unabhängiges Urteilsvermögen 74 Roeger, Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophi­ scher Bildung, 157.

39 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

ausbilden, als sie sich vom Einfluss fremder Urteile befreien können und gleichzeitig die Kompetenz ausgebildet haben, sich mit den frem­ den Urteilen argumentierend auseinanderzusetzen. Dafür spielt aller­ dings das Einnehmen von bestimmten personalen Grundhaltungen eine konstitutive Rolle und der locus classicus für eine Erörterung von Grundhaltungen findet sich in philosophischen Diskursen, konkreter in der Nikomachischen Ethik (fortan NE) von Aristoteles – wie noch auszuführen sein wird. Die Frage, aus welchen persönlichen Haltun­ gen heraus ein Mensch handelt, verweist auf den Tugendbegriff. Nun gibt es bereits diverse Ansätze, welche über die moralische Verfassung des Menschen und ihre Bedingungen reflektieren. Den meistrezipier­ ten Ansätzen gilt es an dieser Stelle vorerst nachzugehen.

3.1 Ansätze der Werteerziehung Mit den bereits genannten Säkularisierungs- und Veränderungspro­ zessen, die unsere Gesellschaft im letzten Jahrhundert durchlaufen hat, geht gleichsam die Frage einher, wie Kinder beim Hineinwachsen in die Gesellschaft begleitet werden können. Auf politischer, medialer und wissenschaftlicher Ebene finden immer wieder Diskussionen darüber statt, welche grundlegenden Werte für die Ausrichtung und Gestaltung des persönlichen Lebens und des Zusammenlebens bedeutsam sind.75 In der wissenschaftlichen Literatur sind in Bezug auf Werteerziehung und Wertevermittlung für den Schulkontext bislang sehr viele Modelle und Ansätze entworfen worden, die die wertebildende Relevanz des Schulunterrichts ausdrücklich betonen. Das gilt sowohl für das Fach des Religionsunterrichts als auch für andere Fächer wie Philosophie, Ethik, LER u. Ä. Auch wenn es bei diesen Modellen prinzipiell um Reflexion, Kognition und die Fähigkeit geht, Kritik an Werte zu üben, unterscheiden sie sich erheblich voneinander. Während Modelle der Werteerziehung die Förderung der Entscheidungsfähigkeit, die Wertungsklärung und die moralische Urteilsfähigkeit umfassen, geht es der Wertevermittlung um die konkrete Vermittlung und Einübung konkreter Werte.76 Das Vgl. Dagmar Fenner, Das gute Leben, Berlin/New York 2007, 153. Für den Schulkontext scheint eine Kombination der verschiedenen diskutierten Ansätze gegenwärtig das den meisten Erfolg versprechende Verfahren der moralischen Erziehung zu sein. Vgl. Lutz Mauermann, Pädagogische Explikation. In: Lutz Koch

75

76

40 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

entscheidende Moment an dieser Stelle scheint zu sein, den Fokus auf gesellschaftlich gewünschte Werte nicht über eine Werteerziehung zu funktionalisieren und zu sublimieren,77 sondern die konkrete Frage zu stellen, welche Werte zu unserem Selbstverständnis als Menschen gehören, die menschlich und sozial, friedvoll miteinander umgehen möchten. Nach welchen Ansätzen dann diese benannten Werte im Schulkontext ihren Platz finden, ist eine andere Diskussion. Grund­ sätzlich ist zu erörtern, was dem Anliegen entspricht: ethische bzw./ oder moralische Bildung, ethische Erziehung oder Werteerziehung oder Wertebildung? Es wird an dieser Stelle deutlich, dass zunächst einmal geklärt sein muss, was unter einem Wert und was unter einer Tugend zu verstehen ist bzw. wie sie in der vorliegenden Arbeit definiert werden. Unter den Bedingungen der zunehmend plural gewordenen Gesellschaft werden Werte stärker auf ihre soziale Relevanz und Bedeutung für das Zusammenleben (sowie der Integration) hin befragt und bejaht.78 Auch gut 35 Jahre nach den Ausführungen von Brezinka ist die Debatte immer noch aktuell.79 In Anbetracht der Menge an werttheoretischer Literatur sowie der öffentlichen Debatten um Leitkultur im Zusammenhang mit Werten, in denen der Begriff ein politisches Modewort geworden zu sein scheint, zeigt sich, wie viel Unklarheit in diesem Feld eigentlich herrscht.80 Insbesondere auf der politischen Ebene scheint man sich über die Notwendigkeit einer Werteerziehung einig zu sein, da man sich gemeinschaftssinn­ stiftende Erträge erhofft. Gemäß dem Böckenförde-Diktum81 ist et.al. (Hrsg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. I, Leiden 2019, 649–677, hier 661. 77 Siehe Elisabeth Naurath, Bildung, Werte-. In: WiReLex, http://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/100191/. 78 Siehe bspw. Gelingende Wertebildung im Kontext von Migration. Eine Handrei­ chung für die Bildungspraxis, Zentrum für Globale Fragen an der Hochschule für Philosophie, München 2017. 79 Vgl. Mirjam Schambeck, Was religiöse Wertebildung zur Integration beitragen kann. Überlegungen aus der Religionspädagogik. In: Mirjam Schambeck/ Sabine Pemsel-Maier (Hrsg.), Welche Werte braucht die Welt? Wertebildung in christlicher und muslimischer Perspektive, Freiburg i.Br. 2017, 118–138. 80 Vgl. Stephan Ernst, Pluralität und Verbindlichkeit sittlicher Werte. In: Stimmen der Zeit 235 (8/ 2017) 518–530; vgl. Wolfgang Brezinka, Erziehung in einer wertun­ sicheren Gesellschaft. Beiträge zur Praktischen Pädagogik, München 31993, 112. 81 Das Diktum lautet: Der freiheitliche säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung

41 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

die demokratische Gesellschaft auf Wertorientierungen, die für das Gelingen eines Sozialgebildes konstitutiv sind, angewiesen, denn ihre ethische »Formkraft«, so Böckenförde, verliere der Staat immer mehr82 und der Staat könne selbst keine bindenden Kräfte mit Werten evozieren.83 Vor diesem Hintergrund ist die Frage an die Religionsge­ meinschaften gestellt worden, wie und was sie zum Gemeinwohl und Gemeinsinn beitragen können.84 Im nächsten Kapitel wird diese Frage nochmals aufgegriffen, wenn das gemeinwohl- und friedensstiftende Potenzial des Islam beispielhaft am islamisch-philosophischen EthikDenken erarbeitet wird. Der Rechtsstaat schafft Gesetze für die friedliche und gewaltfreie Koexistenz der Gesellschaftsmitglieder, aber er kann nicht die soziomoralischen Voraussetzungen schaffen, damit die Gesellschaftsmit­ glieder kooperativ zusammenleben können.85 Habermas’ Lesart des Böckenförde-Diktums geht dahin, dass Menschen auf Kooperation miteinander angewiesen sind, dass dafür eine wechselseitige Stabilität der gegenseitigen Verantwortungserwartungen der Bürger notwendig ist und deshalb freiheitlich verfasste Gesellschaften auf tugendhafte Bürger angewiesen sind.86 »Deshalb sind politische Tugenden, auch wenn sie nur in kleiner Münze ›erhoben‹ werden, für den Bestand einer Demokratie wesent­ lich. Sie sind Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur. Der Staatsbürgerstatus ist gewissermaßen in eine Zivilgesellschaft

des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 21992, 92 (112). 82 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Fundamente der Freiheit. In: Erwin Teufel (Hrsg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt a.M. 1996, 88–98, hier 91. 83 Vgl. Schmidt, Was erwartet der Staat von der Religion?, 8. 84 Vgl. Hans Michael Heinig, Die Verfassung der Religion. Beiträge zum Religions­ verfassungsrecht, Tübingen 2014, 10. 85 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsbegriffs. In: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungs­ recht, Frankfurt a.M. 1976, 65–92; vgl. Michael Sandel, Die Grenzen der Gerechtigkeit und das Gut der Gemeinschaft. In: Herlinde Pauer-Studer, Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Frankfurt a.M. 2000, 237–259, hier 252. 86 Vgl. Simone Kauffeld, Kompetenzen messen, bewerten, entwickeln: ein prozess­ analytischer Ansatz für Gruppen, Stuttgart 2006, 16.

42 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

eingebettet, die aus spontanen, wenn Sie wollen ›vorpolitischen‹ Quel­ len lebt.«87

Habermas bringt damit das Zusammenleben freier Individuen in einem demokratischen Gemeinwesen mit Tugendhaftigkeit in Ver­ bindung, denn Tugenden könnten Stabilität etablieren. »Damit wird die Verbindung von Freiheit und Tugend aus der alltags­ praktischen in die Sphäre der politischen Philosophie gerückt, der Stellenwert von individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen fundamental re-dimensioniert und in Hinblick auf eine staatbürger­ schaftliche Ethik reformuliert.«88

Tugendhaftes Bürgerverhalten bedeutet u. a. die Stärkung von wün­ schenswerten Einstellungen der Subjekte, die dem Gemeinwohl dien­ lich sind.89 Gerade weil Menschen in ihren Verhaltensweisen so ambivalent sein können, brauche man, so Böckenförde, »Haltepunkte und Stützen« für ein gelingendes Zusammenleben.90 (Bürgerliche) Tugenden ließen sich in Anlehnung an das Theorem als ein ethisches Mehr verstehen, um das sich Gesellschaftsmitglieder bemühen kön­ nen, sofern sie zu einer gelungenen und glücklichen Lebensführung beitragen und selbst gelangen möchten. Allerdings sei eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den Erwartungen an politische Tugenden geboten, da sie – u. a. aufgrund der historisch-politischen Erfahrun­ gen – von destruktiven Ideologien ausgenutzt werden können.91 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechts? In: ders./Joseph Ratzinger (Hrsg.), Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i.Br./Wien u.a. 2011, 15–37, hier 23. Unter politischen Tugenden sind zu fassen bspw. Rechtsgehorsam auf freiwilliger Basis, Kooperationsbereitschaft, Fairness, Toleranz und unter demokratischen Tugen­ den sind zu fassen Partizipation, Verantwortlichkeit, Argumentation; vgl. Rudolf Speth/Ansgar Klein, Demokratische Grundwerte in der pluralisierten Gesellschaft. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Werte in der politischen Bildung, Didak­ tische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Schwal­ bach 2000, 30–55, hier 35 f.; vgl. Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratietheoretische Folgerungen, Wiesbaden 2001, 386. 88 Barbara Sutter, Der Wille zur Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement und die Transformation des Sozialen, Köln 2018, 145. 89 Vgl. Schmidt, Was erwartet der Staat von der Religion?, 7. 90 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirche und christlicher Glaube in den Herausfor­ derungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957– 2002, Münster 22007, 590 f. 91 Siehe hierzu Ernst Piper, Preußische Tugenden im Zeitalter der totalitären Heraus­ forderung. In: ZRGG, 53 (2001), 35–45. 87

43 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

Ferner dürfen diese nicht erzwungen werden, da sie sonst zur Zerstö­ rung der Freiheit der Gesellschaftsmitglieder führen würden.92 Es soll jedoch in dieser Arbeit keineswegs um politische, sondern ausschließ­ lich um Tugenden im Sinne von personalen Eigenschaften gehen, die den Menschen disponieren, auf Dinge in hervorragender oder zumindest hinreichender Weise zu reagieren – so eine Umschreibung des Tugendbegriffs in Anlehnung an Christine Swanton.93 Den vorangegangenen Ausführungen kann zweierlei entnom­ men werden: zum einen, dass (demokratische) Gesellschaften tugendhafte und wertorientierte Bürgerinnen und Bürger brauchen, und zum anderen, dass bei der situativen Ermittlung von Problemlö­ sungen sowohl Werte als auch Tugenden eine wichtige Rolle spielen. Damit bedarf es einer Bestimmung von Werten, die im Zusammen­ hang mit einer Tugendrezeption förderlich zu sein scheint. Nach Hans Joas sind Werte emotional stark gestützte Vorstellungen über das Wünschenswerte und haben die Funktion, das Handeln attraktiv zu machen.94 Eine Bindung an Werte findet nicht intentional statt, son­ dern die Bindung wird als verbindlich empfunden. Im Rekurs auf einen Wert, dem sich der Mensch verbunden fühlt, werden Handlungs­ wünsche bewertet. Für Joas repräsentieren Werte das Gute,95 d. h., Werte sind Orientierung gebende Vorstellungen davon, was einem als grundlegend erstrebenswert und wertvoll erscheint.96 So kommt Joas zum Ergebnis, dass Werte und Wertbindungen »in Erfahrung der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« entstehen.97 Werte entstehen folglich durch Selbstbildung u. a. auch im Kontext der Sozialisation durch Familie, Gemeinde und Gesellschaft, indem der Mensch sich fühlend, reflektierend und handelnd entwickelt. Werte sind damit Vorstellungen darüber, welcher Wunsch als persönlich stimmig emp­ funden wird, es ist eine Art reflexives Abwägen des Erstrebenswerten

92 Vgl. Herfried Münker/Anna Loll, Das Dilemma von Tugend und Freiheit. Die Not­ wendigkeit von Eigenverantwortung in einer funktionierenden Bürgergesellschaft. In: FES, betrifft: Bürgergesellschaft 17, Berlin 2005, 1–14, hier 3. 93 Vgl. Swanton, Virtue Ethics, 19 f.; vgl. Schmidt, Was erwartet der Staat von der Religion? 8. 94 Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 22006, 3, 5. 95 Vgl. ebd., 252 f. 96 Vgl. Gelingende Wertebildung im Kontext von Migration, 10. 97 Vgl. Joas, Die Entstehung der Werte, 10.

44 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

und Guten.98 Die Überlegungen über ein gelingendes Leben fordern aber nicht nur die Einführung von verbindlichen Werten im Sinne von Tugenden, denn sonst könnten keine neuen Wertorientierungen entstehen, sondern Tugenden scheinen als ergänzende eigenständige Spielart für Werte wichtig zu sein.99 Wenn Werte subjektiv wunsch­ basierte Wertschätzungen sind, ist festzuhalten, dass Wünschbarkeit kein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung wertvoller Eigen­ schaften ist.100 Das Streben nach Tugenden im Sinne von aretē (griech. Bestheit) dagegen, das einen Menschen in eine gute moralische Verfassung bringt, kann das reflexive Abwägen unterstützen. Tugen­ dethik zielt auf die Bildung und Kultivierung von wünschenswerten Charaktereigenschaften ab. Vorläufig ließen sich Tugenden im Sinne von wünschenswerten Qualitäten als jene personalen Eigenschaften verstehen, die den Menschen dergestalt disponieren, dass sie auf Ereignisse und Situationen in bestmöglicher Weise zu reagieren wis­ sen.101 In der Betonung der Situationssensibilität und des Ermessens der Gesamtsituation, deren es für ein tugendhaftes Handeln u. a. bedarf, kann ein bereichernder Beitrag der Tugenden zur Wertbildung liegen. Da Werte grundsätzlicherer Art als Tugenden sind, können Tugenden Handlungsspielräume aufzeigen, die konkreter sind als der übergeordnete Wert, der aber auch gleichzeitig offener ist als eine gesellschaftliche Norm. Damit kann eine Tugendethik sowohl dem Einzelnen in einer pluralen Gesellschaft hilfreich sein als auch der Gemeinschaft, weil man sich über mögliche Handlungsoptionen leichter einigen kann, auch wenn das Weltbild bzw. die Weltanschau­ ung ganz unterschiedlich ist. Im Lebensverlauf kann der Mensch durch jeweils revidierte Wertentscheidungen eine feste Disposition oder Grundhaltung erreichen. Hierfür muss er in unterschiedlichen Situationen diese Wertüberzeugungen hergestellt, erprobt, reproduziert und verfestigt haben, sodass mit Rekurs auf diese praktischen Erfahrungen sie dem Menschen zu eigen werden, d. h. den Menschen dermaßen prägen, 98 Vgl. Nadja Schwendemann, Werthaltungen von Lehrkräften in der Erwachsenen­ bildung: Eine rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2018, 45 f. 99 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Wertwandel, Würzburg 2008, 407 f. 100 Vgl. Martin Hähnel, Das Ethos der Ethik. Zur Anthropologie der Tugend, Wies­ baden 2015, 110. 101 Vgl. Jochen Schmidt, Was erwartet der Staat von der Religion? Ein Versuch über Tugend und Religion. In: Rüdiger Althaus/Ders. (Hrsg.), Staat und Religion. Aspekte einer sensiblen Verhältnisbestimmung, Freiburg i.Br. 2019, 134–149, hier 145.

45 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

dass sie zu Charaktereigenschaften werden und sich damit zu Wert­ haltungen entwickeln.102 Diese dispositiven Haltungen sind gemäß der Arbeitsdefinition Tugenden. Hierin ist folglich eine wichtige Schnittstelle zwischen Werten und Tugenden auszumachen. Tugend­ hafte Werthaltungen können demnach so verstanden werden, dass sie auf eine komplexe und praktische Urteilsfähigkeit abzielen, die den Menschen dazu befähigt, eine Situation richtig einzuschätzen, Sachverhalte zu erkennen, einen Einzelfall recht zu beurteilen und (moralisch) angemessen zu entscheiden. Um die reflexive Annahme von und Sensibilisierung über Wert­ haltungen geht es folglich im schulischen Kontext. Den meisten Werteerziehungsansätzen liegt die angestrebte Bewusstmachung der eigenen Werthaltungen zugrunde, mit der eine Selbstreflexion ange­ stoßen und durch argumentative Rechtfertigung der je eigenen Wert­ vorstellungen ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung von Urteils- und Entscheidungsfähigkeit geleistet werden soll.103 Der Pädagoge Wolfgang Brezinka erachtet die Idee einer allei­ nigen Wertevermittlung als zu »zaghaft«, da diese nicht in stabile Wertüberzeugungen münde.104 Zudem scheint doch eine Vermittlung von Werten in einer pluralen Gesellschaft sowie in der Moralphi­ losophie sehr problematisch zu sein und wird durchaus kritisch gesehen. Andere Pädagogen scheinen wie Brezinka die Position zu teilen, dass die Erziehung zu Tugenden eine besonders vielverspre­ chende Form der Werteerziehung sei. Beispielsweise behauptet Hackl, dass die Werteerziehung in der Schule »eher auf die von Werten abgeleiteten Tugenden (z. B. Notengerechtigkeit oder Gewaltfreiheit im schulischen Raum) und vor allem auf die Einübung überprüf­ barer Sekundärtugenden (Pünktlichkeit, Ordnung, Ausdauer etc.)« Bezug nehme.105 102 Vgl. Georg Lohmann, Werte, Tugenden und Urteilsbildung. Gegenstände und Ziele von Ethikunterricht und Politikunterricht. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Werte in der politischen Bildung, Didaktische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Schwalbach 2000, 202–216, hier 208. 103 Vgl. Roland W. Henke, Die Demokratie und der Streit um Werte – Anregungen für Wertediskurse im Unterricht, bpb, 4. 104 Vgl. Brezinka, Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft, 132. 105 Armin Hackl, Konzepte schulischer Werteerziehung. In: Armin Hackl/Olaf Steenbuck/Gabriele Weigand (Hrsg.), Werte schulischer Begabtenförderung. Bega­ bungsbegriff und Werteorientierung, Frankfurt a.M. 2011, 19–25, hier 19. An dieser Stelle geht es mir allerdings kaum um die Anpreisung von Sekundärtugenden, die es im Zusammenhang von Werteerziehung zu beleben bedarf.

46 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

Unter den Bedingungen der Vielfalt scheint ein pädagogisches Zusammenspiel der Werte- und Tugenddiskurse vielversprechend zu sein. Ansätze der Werteerziehung könnten demgemäß in Richtung Tugenden bzw. tugendhafte Werthaltungen weitergedacht und -ent­ wickelt werden. Hierzu können moralpädagogische Modelle aus den Bereichen der ethischen Bildung neue Perspektiven eröffnen. Mit die­ sem ersten heuristischen Fazit erscheint es opportun, über die Zweck­ mäßigkeit auch von ethischer Bildung zu sprechen.

3.2 Ethische Bildung In der Literatur sowie in der Praxis sind für unterschiedliche Fächer wie den Philosophie- oder Religionsunterricht Konzepte ethischer Bildung und Erziehung auffindbar, die hier nicht allesamt problema­ tisiert, sondern mit einer Konzentration auf die Analyse für den hiesi­ gen Kontext lediglich fruchtbar gemacht werden sollen.106 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie von der ethischen Bildbarkeit und ihrer Not­ wendigkeit für junge Menschen ausgehen.107 In Anbetracht einer plu­ ral verfassten Gesellschaft, die per se dynamisch ist, stehen ethische Ansätze immer aufs Neue vor aktuellen Herausforderungen. Ethische Bildung, die zur eigenständigen Begründung von Werten, Normen, Regeln oder/und Tugenden befähigen möchte, scheint in Anbetracht moderner, pluraler Gesellschaften eine realistische Zielvorstellung zu sein, die sich in unterschiedlichen Schulfächern verwirklichen ließe. Wenig dienlich scheint das Konzept ethische Erziehung für den hiesigen Forschungshorizont, der das Einüben von (ethischen) Regeln und Normen vorsieht. Ein sich derart verstehendes Konzept islamisch-philosophischer Provenienz, die in einem theologischen Kontext eine Normativität mit sich tragen würde, ließe sich für NichtMuslime nicht mehr übersetzen und wäre damit für andere auch nicht mehr anschlussfähig. Darum kommen Ansätze, die die Entwicklung 106 Ansätze wie Prosozialität, Compassion, oder Modell-Lernen, vgl. Matthias Bahr, Erziehung zur Prosozialität bei Acht- bis Zehnjährigen am Lernort Religionsunter­ richt, St. Ottilien 1992; vgl. Lothar Kuld/Stefan Gönnheimer, Compassion – Sozial­ verpflichtetes Lernen und Handeln, Stuttgart 2000; vgl. Hans Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015. 107 Vgl. Reinhold Mokrosch, Art. Ethische Bildung und Erziehung. In: Wissenschaft­ lich Religionspädagogisches Lexikon im Internet (www.wirelex.de), 2016, 1–15, hier 11.

47 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

von moralischen Grundhaltungen bezwecken, dem hiesigen Anliegen am nächsten. Es soll nicht referiert werden, was in islamisch-philo­ sophischer Perspektive ethisch gesehen richtig oder falsch ist, sondern darum, welche Impulse diese religiöse Tradition jungen Menschen für ihren eigenen Kontext und ihre eigenen Entscheidungssituationen bereitstellt, damit sie das ethisch Wünschenswerte aufbauen, begrün­ den und danach handeln können. Denn im Schulunterricht ist ein Einüben von erstrebenswerten Tugenden wie Besonnenheit oder Mut kaum möglich. Dagegen können in konkreten, praktischen Projekten im Schulkontext, die die theoretische Reflexion von Werten und Tugenden wie Mut, Gerechtigkeit und Respekt voraussetzen, Dispo­ sitionen erworben werden. Auch das Modell der Werteklärung108, d.h. der Klärung über Werte, Normen und zum Teil auch über Tugenden, greifen im Vergleich zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu kurz. Denn dieses Modell setzt einen Konsens aller Beteiligten in Bezug auf wünschenswerte Tugenden und Werte voraus. Eine tref­ fende Kritik an diesem Modell der Klärung richtete sich gegen die stark subjektive und kulturell kontextfreie Auseinandersetzung mit Werten oder/und Tugenden.109 Zudem gehören zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit Wer­ ten und Tugenden volitionale und emotionale Kompetenzen, wenn es um die Überwindung von bspw. Unlust oder Handlungshemmnissen geht.110 Der Erwerb von Tugenden berührt und betrifft nach Kant auch das Herz, das dazu geschliffen wird, ein moralisch guter Mensch zu werden.111 Ein Gesamtkonzept, das die Reflexion von Werten und die Deliberation von Tugenden und tugendhaftem Handeln miteinander verbindet und das personale Entwicklungsprozesse zum Ausgangs­ punkt ethischen Lernens macht, kommt dem Anliegen dieser Arbeit am nächsten.

108 Siehe Louis E. Raths/Merrill Harmin/Sidney B. Simon, Werte und Ziele. Metho­ den zur Sinnfindung im Unterricht, München 1976. 109 Vgl. Mokrosch, Art. Ethische Bildung und Erziehung, 5. 110 Vgl. Rudolf Englert, Die verschiedenen Komponenten ethischen Lernens und ihr Zusammenspiel. In: ders. et al. (Hrsg.), Ethisches Lernen, Jahrbuch der Religionspäd­ agogik (2015), Bd. 31, 108–118, hier 111. 111 Vgl. Kant, RGV AA VI 47.

48 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

3.3 Anerkennungspädagogik Für den Sozialphilosophen Axel Honneth gehört Anerkennung zu den grundlegenden Elementen einer Gesellschaft und ist für die Gesell­ schaftlichkeit unterschiedlicher sozialer Gruppen eine konstitutive Voraussetzung. Auch wenn die Anerkennungstheorie Honneths bspw. in der politischen Philosophie zu verorten ist, ist seit Mitte der 1990er-Jahre innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskurses ein zunehmendes Interesse an der Anerkennungsthematik zu beob­ achten.112 Insbesondere hat Annedore Prengel im deutschsprachigen Raum mit ihrem Konzept einer explizit pädagogisch verstandenen Anerkennungstheorie Pädagogik der Vielfalt eine neue Diskussion ins Rollen gebracht.113 Der sozialphilosophische Ansatz Krassimir Sto­ janovs, den Honneths Ansatz bildungstheoretisch weiterentwickelt, erscheint für den hiesigen Kontext interessant,114 weil er darin die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Bildungsprozesse in die nähere Betrachtung nimmt.115 Bildungsgerechtigkeit, so die These Stojanovs, setze Formen der Anerkennung, wie Empathie, Respekt und soziale Wertschätzung voraus, die er als normative Quellen für das gelingende Miteinander einer Gesellschaft definiert. Im Falle biografischer Missachtungserfahrungen wird nach Stojanov der Pro­ zess der Selbstausbildung und Selbstentwicklung behindert.116 Genau diese Einsicht, dass erst Erfahrungen der Anerkennung es Indivi­ duen ermöglichen, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschät­

Vgl. Christiane Micus-Loos, Anerkennung des Anderen als Herausforderung in Bildungsprozessen. In: Zeitschrift für Pädagogik 58, 3 (2012), 302–320, hier 310. 113 Für eine Übersicht der Ansätze siehe Cathrin Reisenauer/Nadine UlseßSchurda, Anerkennung in der Schule über Anlässe, Abläufe und Wirkweisen von Adressierungen, Bern 2018. 114 Siehe hierzu Annedore Prengel, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 42019; vgl. Krassimir Stojanov, Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006; siehe auch Krassimir Stojanov, Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwi­ schen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit. In: Michael Wim­ mer/Roland Reichenbach/Ludwig A. Pongratz (Hrsg.), Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007, 29–48. 115 Siehe hierzu Krassimir Stojanov, Bildung und Anerkennung Soziale Vorausset­ zungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006. 116 Vgl. Stojanov, Bildung und Anerkennung, 107. 112

49 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

zung auszubilden, ist für den pädagogischen Diskurs eine beachtli­ che Erkenntnis.117 In einer pädagogischen Leseart der Anerkennungstheorie Hon­ neths stellt sich darum für diesen Zusammenhang die Frage, ob es ausreicht, wenn Menschen bestimmte Anerkennungsformen als Grundhaltungen kultivieren, um anderen Menschen nicht auszuwei­ chen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen sowie mit ethischen Herausforderungen umzugehen. Honneth unterscheidet, in Anleh­ nung an Hegel, drei Formen der Anerkennung: Wertschätzung bzw. Liebe (emotionale Achtung), Respekt (rechtliche Achtung) und Soli­ darität bzw. egalitäre Differenz. Funktionen der Anerkennung und Anerkennungsverweigerung bzw. Missachtungserfahrungen ergeben sich nach Honneth aus einer kommunikativ-diskursiven Praxis. »Auf dieser ersten Ebene reziproker Anerkennung soll der Einzelne in einem von Sorge, Zuneigung und emotionaler Bindung geprägten Umfeld sich selbst als Individuum erfahren lernen, das mit elemen­ taren Bedürfnissen ausgestattet, aber auch auf andere und deren Zuwendung angewiesen ist, um ein intaktes Verhältnis zu sich selbst etablieren zu können.«118

Honneth führt aus, dass die Ermöglichungsbedingungen von IchIdentität auf einer Dynamik fußen, die sowohl aus (diskursiven) Missachtungs- als auch aus Anerkennungserfahrungen, die wir als intersubjektive Wesen machen, entstehen. Für Honneth ist diese Dynamik die Grundlage dafür, verstehen zu können, was (mutuale oder diskursive) Liebe, Respekt und Solidarität bedeuten bzw. um überhaupt eine gesunde Selbstachtung, d. h. eine, die sich weder in Egomanie noch Selbstaufgabe verliert, entwickeln zu können. Wie Honneth neben Charles Taylor und anderen119 treffend formuliert, berührt es den Menschen emotional drastisch, wenn er

Vgl. Paul Mecheril/Castro Varela et. al., Migrationspädagogik, Weinheim u.a. 2010; Nicole Balzer/Norbert Ricken, Anerkennung als pädagogisches Problem. Mar­ kierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Alfred Schäfer/Christiane Thompson, Anerkennung, Paderborn 2010, 35–87. 118 Axel Honneth, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhun­ dert. In: APuZ, 1–2 (2011), 37–45, hier 38. 119 Siehe Jürgen Straub, Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften, Göttingen 1999, sowie Tzvetan Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Berlin 1996. 117

50 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

die Achtung anderer Menschen verliert.120 Jede*r bedarf der Aner­ kennung und verweigerte Anerkennung ist verletzend.121 Anerken­ nung wird als ein anthropologisches Grundbedürfnis bezeichnet.122 »Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein fal­ sches, deformiertes Dasein einschließen.«123 Anerkennung in zwi­ schenmenschlichen Beziehungen ist demnach ein wichtiger Baustein für die Identitätsbildung.124 Ich pflichte Honneth bei, dass es intersubjektiver Prozesse bedarf, um eine intakte Identität als Subjekt auszubilden. Dass eine Symmetrie unter den Diskurspartnern in Aushandlungsprozessen gegeben sein sollte, ist ein Ideal. Nach Honneth gibt es einen Kampf um Anerkennung. Doch ein fairer Kampf fußt idealerweise auf sym­ metrischen Voraussetzungen. Allerdings beginnen manche Kämpfe in asymmetrischen Grundverhältnissen zugunsten der Mehrheitsge­ sellschaft, die neuen Anerkennungsbestrebungen einen unsymmetri­ schen Boden bereiten. Hierfür gibt es viele Beispiele in Deutschland. Beispielsweise haben Musliminnen und Muslime in unterschiedli­ chen Rechtsfragen um ihre religiöse Gleichberechtigung kämpfen müssen – was Honneth als rechtliche Anerkennung umschreibt und von der emotionalen Anerkennung zu unterscheiden ist. Eine strukturelle Anerkennungsverweigerung kann jedoch auch zu einer emotionalen Verletzung führen. Die strukturelle Anerkennungsver­ weigerung oder in anderen Fällen langerkämpfte Anerkennungen

Vgl. Honneth, Verwilderungen, 37. Emotional schmerzhaft dürfte es für jemanden sein, sich erst verstellen zu müssen, damit jemand die Anerkennung eines Anderen erhalten kann, um mit ihm überhaupt ins Gespräch kommen zu können. 122 Vgl. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frank­ furt a.M. 1993, 15, vgl. Axel Honneth, Anerkennung und moralische Verpflich­ tung, Zeitschrift für philosophische Forschung, 51(4) 1997, 25–41; Tzvetan Todrov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Berlin 1996, passim. 123 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1993, 13 f. 124 Vgl. Stefan Altmeyer/Monika Tautz, Der Religionsunterricht als Ort Kompara­ tiver Theologie? Auf dem Weg zu einer fundamentalen und konkreten Didaktik des interreligiösen Lernens. In: Klaus von Stosch/Rita Burrichter/Georg Langenhorst (Hrsg.), Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik Per­ spektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, Paderborn/Leiden 2015, 111–140, hier 117 f. 120

121

51 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

oder lang andauernde Anerkennungsbestrebungen führten und füh­ ren unmittelbar im öffentlichen Raum zu Etikettierung, Stigmati­ sierung und Demütigungen der Bittsteller, wie Avishai Margalit solch ein Phänomen ebenfalls beschreibt.125 Diese Erfahrungen der Anerkennungsverweigerung haben allzu oft negative Einstellungen, Emotionen und Haltungen in der Mehrheitsgesellschaft bestärkt. Das verdeutlichte insbesondere der Religionsmonitor der BertelsmannStiftung.126 In der Studie Muslime in Europa – Integriert, aber nicht akzeptiert? wird konstatiert, dass zu den Hürden und Widerständen, gegen Musliminnen und Muslime im Rahmen ihrer Integrations­ leistungen zu kämpfen hatten, eine mangelnde Anerkennung ihrer Religiosität hinzukomme.127 Ferner wird die Mehrheitsgesellschaft aufgerufen: »Sie muss ihre selbst formulierten Pluralitätsansprüche ernst nehmen und darf ihre Anerkennungsbereitschaft nicht daran messen, wie fremd oder vertraut ihr eine Religionsausübung ist.«128 Mit Habermas und Honneth ist deshalb weiterhin und beständig zu fragen, wie die Bedingungen der Möglichkeit symmetrischer Achtung sichergestellt werden können; Achtung, die der Einzelne der Integrität aller anderen Personen entgegenbringt.129 Für die pädagogischen Anerkennungstheorien bildet Anerkennung eine Schlüsselkategorie im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.130 In einem pädagogischen Konzept des Anerkennens wie bspw. in Prengels Konzept rezipiert sie drei Segmente Honneths, nämlich Liebe, rechtliche Gleichstellung und soziale Wertschätzung, die für pädagogische Interaktionen im Schulkontext relevant zu sein schei­ nen. Diese drei Haltungen helfen nach Prengel, Unterschiedlichkeiten wahrzunehmen und gleichzeitig darauf zu achten, diese nicht über­

Vgl. Avishai Margalit, Decent Society, Harvard 1996, 9–28. Siehe zum einen die Studie »Zusammenleben in kultureller Vielfalt« von 2018, sowie die »Sonderauswertung Islam« aus dem Religionsmonitor von 2017 der Bertels­ mann-Stiftung. 127 Vgl. Religionsmonitor, Studie Ergebnisse und Länderprofile: Muslime in Europa – Integriert, aber nicht akzeptiert? Bertelsmann-Stiftung 2017, 58. 128 Ebd., 58. 129 Vgl. Jürgen Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, 106. 130 Vgl. Werner Nothurft, Anerkennung. In: Jürgen Straub/Arne Weidemann/Dors Weidemann (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart 2007, 110–122, hier 110. 125

126

52 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

zubetonen, Andersheit nicht zu domestizieren131 oder vor stereoty­ pisierender Behandlung der nationalen oder religiösen Herkunft zu bewahren.132 Sicherlich geben Lehrkräfte, die jene Grundhaltungen bewusst umsetzen, auch gute Vorbilder für ihre Schülerschaft ab; dadurch können Fähigkeiten und Kompetenzen bei den Schüler*innen gefördert werden. Wie lässt sich nun eine derart gewendete pädagogische Reflexion des sozialethischen Ansatzes auf der ethischen Interaktionsebene der Schüler*innen umsetzen? Wenn sich im Klassenzimmer die gesell­ schaftliche Pluralität spiegelt, dann bedürfen die Schüler*innen eine Verstärkung in jenen Kompetenzen, die sie vor dem Gegenteiligen von Anerkennung, nämlich Diskriminierung, Mobbing, Verachtung und Ablehnung schützen.

3.4 Interkulturelle Pädagogik Nach Maria Varela und Birgit Jagusch ist die Berücksichtigung inter­ kultureller Aspekte in der Pädagogik vor allem als Weiterentwicklung bzw. Reaktion auf Ansätze der Ausländer- und später multikulturellen Pädagogik zu verstehen, die grundlegend auf defizitorientierten und assimilatorischen Ansätzen basierten.133 Es existieren unterschied­ lichste Ansätze interkultureller Pädagogik, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann.134 Eine Gemeinsamkeit der Ansätze allerdings ist, dass sie sich auf eine »reflexive Auffassung von Kul­ tur und ihren Funktionen im pädagogischen Kontext und in ande­ 131 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Die Beziehung zum Anderen beim Kind. Merleau Pontys Konzeption kindlicher Sozialität. Bildung und Erziehung, Bd. 37, 2 (1984), 157–168, hier 164, 167. 132 Siehe hierzu Yasemin Karakaşoğlu/Mona Massumi/Sabine Jacobsen, Interkultu­ relle Öffnung im Spiegel von Schulkultur. Überlegungen aus einem Theorie-PraxisDialog. In: Sebastian Barsch/Nina Glutsch/Mona Massumi (Hrsg.), Diversity in der LehrerInnenbildung. Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis, Münster/New York 2017, 217–238. 133 Vgl. Castro Varela/Maria do Mar/Birgit Jagusch, Geschlechtergerechtigkeit in der interkulturellen Jugendarbeit. In: IDA e. V. (Hrsg.), »Rassismus – eine Jugendsünde?« Aktuelle antirassistische und interkulturelle Perspektiven der Jugendarbeit. Tagungs­ dokumentation, Düsseldorf 2006, 45–55. 134 Siehe für eine Einführung Gogolin/Krüger-Potratz, Einführung in die interkultu­ relle Pädagogik, Opladen 2006.

53 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

ren gesellschaftlichen Zusammenhängen«135 stützen. Interkulturelle Pädagogik zielt demnach auf die Anerkennung der Vielfalt kultureller Identitäten, wobei Differenzen als soziale (auch historisch gewor­ dene) Konstruktionen angesehen und gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert werden – insbesondere Mechanismen der Benachteiligung oder Bevorzugung aufgrund ethnisch-kultureller Merkmale.136 Wie Kiesel und Volz in ihrem Aufsatz darlegen, bezieht sich interkul­ turelle (soziale) Arbeit auf Probleme der Voraussetzungen einer guten Lebensführung und kann deshalb als Lebensführungsherme­ neutik verstanden werden.137 Anzuerkennen ist die interkulturelle Pädagogik insbesondere an dem Punkt, dass Menschen in dieser Profession in der Begegnung mit anderen, wo soziokulturelle Ori­ entierungsmuster und Selbstverständnisse aufeinandertreffen, ihre eigene Voreingenommenheit und Befangenheit mit reflektieren und in ihren ethischen Urteilen behutsam verfahren,138 d. h., interkul­ turelle Pädagogik befähigt zur Ermöglichung von Selbstreflexion, Bewältigungsmustern und Selbstveränderung. Allerdings versäumt sie konkret darzulegen, wie diese Kompetenzen zu erwerben sind, und fokussiert sich lediglich auf den interkulturellen Bereich. Interkulturelle Kompetenz wird zu jenen Schlüsselqualifikatio­ nen gezählt, welche mittlerweile nicht nur in professionellen Hand­ lungsbereichen, sondern auch im Privat- und Familienleben an Bedeutung gewonnen haben.139 Interkulturelle Kompetenz gilt spä­ testens seit dem 1996 erlassenen Beschluss der Kultusministerkonfe­ renz zur ›Interkulturellen Bildung und Erziehung‹ als eine zentrale Dimension allgemeiner Bildung und ist nunmehr ein Bestandteil der meisten Curricula, Lern- und Erziehungspläne im Primarbereich sowie dementsprechend in der Sekundarstufe I, jedoch gibt es bisher Gogolin/Krüger-Potratz, Einführung in die interkulturelle Pädagogik, 134. Vgl. Ingrid Gogolin/Ursula Neumann/Hans-Joachim Roth, Förderung von Kin­ dern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten für die Bund-Län­ der-Kommission Bildungsplanung und Forschungsförderung (2003). Zugriff am 02.11.2018 unter http://www.bmbf.de/pub/studie_foerderung_migration.pdf. 137 Vgl. Doron Kiesel/Fritz Rüdiger Volz, »Anerkennung und Intervention«. Moral und Ethik als komplementäre Dimensionen interkultureller Kompetenz. In: Georg Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Wiesbaden 42013, 71–84, hier 77. 138 Vgl. Kiesel/Volz, »Anerkennung und Intervention«, 76 f. 139 Vgl. Jürgen Straub, Kompetenz. In: ders./Arne Weidemann/Doris Weidemann, Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theo­ rien- Anwendungsfelder, Stuttgart 2007, 35–47, hier 35. 135

136

54 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

keine empirische Untermauerung der Programmatik einer interkul­ turellen Erziehung und Bildung.140 Personale interkulturelle Kompe­ tenz bezieht sich auf wissensbasierte Fähigkeiten und Fertigkeiten im Sinne einer individuellen Disposition, die in einer durch Kontextund Situationsinterpretation des Akteurs vermittelten Weise zum Tragen kommt.141 Die spezifische Situation von Menschen mit einem Migrations­ hintergrund mag intersubjektiv von Bedeutung sein und nach einer angemessenen Beschäftigung verlangen, ob das bei einer mittlerweile stark kulturell sowie religiös plural zusammengesetzten Gesellschaft und den unterschiedlichen kulturellen Selbstverständnissen ausrei­ chend sein dürfte, ist fraglich.142 Ebenso ist auch eine wertfreie Ver­ mittlung von Grundkenntnissen über eine bestimmte Kultur sowie Religion schwierig. Zu beachten sind auch religiös bedingte Formen von Kultur. Daher sollte interkulturelle Pädagogik interreligiös nicht blind sein. Erschwerend kommt die Vielfalt an Religionen und Kon­ fessionen hinzu, die in je eigener Weise im Alltag gelebt werden. Die Kenntnis über die Wirksamkeit und Einflussmöglichkeit von Kultur unterstützt kaum den Vorgang der Soziabilität des Menschen.143 Etwas zu wissen, bedeutet noch lange nicht, seine Performanz zu kennen oder gar zu beherrschen. Kulturelle Zusammenhänge reflexiv einzuholen, initiiert noch keine bleibende Befähigung, in neuen kulturspezifischen Situationen sensibel zu reagieren, oder bewirkt nicht unbedingt positive Haltungen gegenüber Pluralität. Es bedarf der wiederholten Praxis, d. h. der Konfrontation mit fremdartigen Verhaltensweisen, um dazuzulernen und eine gewisse Handlungssi­ cherheit zu gewinnen. Doch dem muss eine offene Grundhaltung und Bereitschaft vorgeschaltet sein, die es möglich macht, sich auf ein neues Umfeld und andere Menschen einzulassen. Dieser Lern­ 140 Vgl. Isabell Diehm/Melanie Kuhn/Claudia Machold, Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Anfangsunterricht. Prämissen und Implikationen Interkultureller Pädagogik und ihr anhaltendes Empiriedefizit. In: Eva Gläser (Hrsg.), Sachunterricht im Anfangsunterricht. Lernen im Anschluss an den Kindergarten, Baltmannsweiler 2007, 177–191, hier 177 f. 141 Vgl. Straub, Kompetenz, 39. 142 Siehe hierzu Naika Foroutan, Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte, FES Dokumentation, Bonn 2012. 143 Vgl. Krassimir Stojanov, Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006, 9.

55 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

prozess ist mit Schwierigkeiten behaftet. Kultur ist bekanntermaßen etwas Dynamisches und damit Veränderbares.144 Daher kann die interkulturelle Pädagogik im Allgemeinen, aber auch interkulturelle Kompetenz im Besonderen die individuell divergierenden kulturellen Mehrbezüglichkeiten von Menschen weder einfangen noch ihnen gerecht werden. Ohnehin unterlag die interkulturelle Pädagogik in den 90er-Jahren der Kritik, sich auf besondere gesellschaftliche Gruppen zu konzentrieren und diesen allein Aufmerksamkeit zu schenken.145 Unter den gegenwärtigen Bedingungen angestiegener kultureller Vielfalt dürfte sich die Kritik im Hinblick auf die Bevorzu­ gung oder Benachteiligung bestimmter Gruppen bei der schulischen Thematisierung verstärken. Zudem entsteht durch eine ausdrückliche Konzentration auf »andere« Kulturen die Gefahr, die Wahrnehmung von migrantisch gelesenen Menschen als ›Fremde‹ und das Othering (der Veränderung)146 fortzuschreiben bzw. zu (re)konstruieren147 und dadurch das Miteinander zu prägen. Hinzu kommt der meist negative mediale Diskurs über gesellschaftliche Migrantengruppen, der einen erheblichen Einfluss auf unsere Haltungen ausübt. Der bisher geübte, möglicherweise von Gleichgültigkeit geprägte, gewohnheitsmäßige Umgang mit Mitmenschen anderen Glaubens und anderer kulturel­ ler Prägung kann je nach medial verbreiteter Stimmung plötzlich umschlagen, Gräben können aufgerissen, Differenzen (erneut) defi­ niert, skandalisiert, ethnisch und/oder religiös aufgeladen werden. Das führt selbst in gewachsenen Nachbarschaften zu Problemen,

Vgl. Jürgen Straub, Kulturwissenschaftliche Psychologie. In: Friedrich Jäger/Ders. (Hrsg.), Paradigmen und Disziplinen. Reihe Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2004, 568–591, hier 581 f. 145 Vgl. Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim/Basel 2004, passim. 146 Der Begriff wurde von der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spi­ vak geprägt und meint die Herstellung eines »Anderen« durch den imperialen Diskurs. Siehe hierzu z.B. Iman Attia/Mariam Popal (Hrsg.), BeDeutungen dekolonisieren: Spuren von (antimuslimischem) Rassismus, Münster 2018. 147 Vgl. ebd., 19. 144

56 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

wo vorher keine waren.148 »Eine rassistische Spaltung des sozialen Raumes ist offenbar sehr einfach zu inszenieren.«149 Dabei hatte die interkulturelle Pädagogik die Zielsetzung, Struk­ turen sozialer Benachteiligung aufzudecken und Wege zur Realisie­ rung von Chancengleichheit unabhängig von ethnischer, sozioöko­ nomischer und geschlechtlicher Zugehörigkeit aufzudecken.150 Sie bietet vor diesem Hintergrund Lösungswege, wenngleich nur wenige, wie Kinder lernen können, mit migrationsbedingter Pluralität kon­ textbedingt umzugehen.151 Das Einüben des Umgangs mit kulturel­ ler Differenz dürfte sich in der schulischen Alltagspraxis als sehr schwierig erweisen.152 Es besteht immer die Gefahr, den/die andere*n auf sein kulturelles Anderssein festzuschreiben und mit Rekurs auf die bisherigen Erfahrungen Zuschreibungen zu betätigen, zu stereo­ typisieren, die aber dem Selbstverständnis des anderen kaum ent­ sprechen. So können erworbene spezifische Umgangstechniken oder Verhaltensformen im Umgang mit partikularen kulturellen Lebens­ formen soziale Kategorisierungen verallgemeinern und festschreiben, wenn nicht sogar eigens betätigte Markierungen essenzialisieren und als Bestandteile der Natur des Menschen inszenieren.153 Das bedeutet, interkulturelle Pädagogik und die mit ihrer Hilfe erworbene und vertiefte interkulturelle Kompetenz sollten eine kon­ struktive Kommunikation ermöglichen und eine ethnisch orientierte Kommunikation vermeiden.154 Diese Kompetenz soll dazu befähigen, Vgl. Wolf-Dieterich Bukow, Wie viel Fremdheit verträgt das Land? Vom selbstverständlichen Umgang mit einer längst alltäglichen Fremdheit. In: Yasemin Karakaşoğlu/Julian Lüddecke (Hrsg.), Migrationsforschung und Interkulturelle Päd­ agogik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis, Münster 2004, 171–187, hier 186. 149 Ebd., 186. 150 Vgl. Sven Ernstson/Christine Meyer (Hrsg.), Praxis geschlechtersensibler und interkultureller Bildung, Wiesbaden 2013, (Einleitung), 12. 151 Vgl. Diehm/Kuhn/Machold, Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Anfangsunterricht. 183. 152 Vgl. Monika Tautz, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart 2007, 70. 153 Vgl. Aurora Rodonò, Ambiguitätsdingsbums. Oder: Unordnung aushalten, Ras­ sismus bekämpfen im (ethnologischen) Museum. In: Ansgar Schnurr/Sabine Den­ gel/Julia Hagenberg/Linda Kelch (Hrsg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeld 2021, 273– 287, hier 275. 154 Vgl. Mohammed Heidari, Lernen durch Konflikte im Kontext des interkulturellen Zusammenlebens am Beispiel der Migranten und Migrantinnen aus muslimischen 148

57 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

bei auftretenden, auch als kulturspezifisch zu charakterisierenden Problemen bestmöglich reagieren zu können. Ganz in diesem Sinne bedeutet Kompetenz eine Eigenschaft, Fähigkeit oder Haltung, die es ermöglicht, Anforderungen in komplexen Situationen erfolgreich und effizient zu bewältigen.155 So verstanden umfasst Kompetenz sehr viel mehr als die Fähigkeit, auf kulturell (und religiös) andere Menschen adäquat reagieren zu können. Dem allgemeinen Kompetenzbegriff folgend,156 bedarf es der Berücksichtigung aller Faktoren und Aspekte einer Situation, wobei kulturelle Fremd- und Andersheit als einer unter vielen Aspekten gewertet wird. Damit wird eine tugendethische Didaktik anschlussfähig an den Kompetenzdiskurs.

3.5 Tugendkompetenz? Konsequenzen tugendethischer Überlegungen für den bildungstheoretischen Kompetenzdiskurs Im oben Erarbeiteten ist eine starke Konvergenz zwischen der Bedeu­ tung der Begriffe Kompetenz und Tugend erkennbar geworden. Dem­ nach kann gefragt werden, ob der Begriff der Tugend, mit seiner dieser Arbeit zugrunde liegenden Arbeitsdefinition, sich auf die aktuellen Bildungsdiskurse auswirken kann bzw. den Blick für die Idee der Kultivierung des Selbst im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung zu inspirieren und zu schärfen vermag. Ich werde nicht alle Gemein­ samkeiten und Differenzen im Einzelnen referieren, sondern greife die m. E. fundamentale Differenz und Konvergenz beider Begriffe auf, die für diese Fragestellung von Bedeutung zu sein scheinen. In der Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards wird ebenfalls eine semantische Nähe zwischen Tugend und Kompe­ tenz hergestellt, allerdings wird nicht auf das begriffliche Implikati­ onsverhältnis eingegangen, sondern konkret danach gefragt, ob nicht Herkunftsländern in Deutschland. In: Andreas Renz/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Lernprozess Christen Muslime: gesellschaftliche Kontexte – theologische Grundlagen – Begegnungsfelder, Münster 2002, 246–265, hier 252. 155 Vgl. Hanspeter Maurer/Beat Gurzeler, Handbuch Kompetenzen. Strategien zur Förderung überfachlicher Kompetenzen, Bern 2005, 148. 156 Siehe hierzu Franz E. Weinert, Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim/Basel 22002, 17–31.

58 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

bestimmte Sekundärtugenden als Zielsetzungen der Bildungsarbeit gewertet werden können.157 In Erinnerung geholt seien die bereits verfassten Begriffsdefini­ tionen, um in deren Anschluss die Konvergenz und Differenz zu formulieren. Die bildungstheoretische Kompetenz-Definition von Franz Weinert ist nicht unumstritten, erfreut sich gleichwohl großer Zustimmung und wird als Grundlage vielfach zitiert, weshalb sie hier Eingang gewinnt.158 Er versteht »unter Kompetenzen die verfügbaren oder durch sie erlernbaren kogni­ tiven Fähigkeiten und Fertigkeiten [versteht], um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«.159

Nach den genannten Merkmalen von Kompetenzen lassen sie sich als dauerhafte und bestimmte Dispositionen verstehen, die im Laufe von Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben werden und die Bewäl­ tigung von unterschiedlichen Anforderungssituationen bzw. Lebens­ situationen ermöglichen.160 Nach dieser Definition wirken für eine Kompetenz viele Facetten zusammen, wie Wissen, kognitive Fähig­ keiten, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation. Eine bestimmte Kompetenz zeigt sich in einer erfolgreichen Performanz bzw. Konkretisierung, d. h. in der tatsächlich erbrachten Leistung des Menschen;161 das bedeutet, jemand ist kompetent für etwas. Damit lassen sich Kompetenzen nach verschiedenen Facetten sortieren und kategorisieren, wie bspw. Medien-, Sozial-, Urteils-, Methoden- oder Selbstkompetenz sowie Schlüsselkompetenzen. Sach- und Fachkompetenzen beziehen sich auf die Befähigung, Auf­ gaben mithilfe fachlicher Kenntnisse zu bewältigen, wohingegen 157 Siehe Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, hrsg. vom Bun­ desministerium für Bildung und Forschung, Berlin 2003, 63 f. 158 Vgl. Carsten Roeger, Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung, Opladen/Berlin/Toronto 2016, 111. 159 Weinert, Vergleichende Leistungsmessung in Schulen, 27 f. 160 Vgl. Eckhard Klieme/Johannes Hartig, Kompetenzkonzepte in den Sozialwissen­ schaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Manfred Prenzel/Ingrid Gogolin/Hein-Hermann Krüger (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik. Zeitschrift für Erzie­ hungswissenschaft, 10. Jg., 8, Wiesbaden 2007, 11–29, hier 21. 161 Siehe hierzu Kauffeld, Kompetenzen messen, bewerten, entwickeln, Stutt­ gart 2006.

59 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

Schlüsselkompetenzen für die persönliche und soziale Entwicklung des einzelnen Menschen in einer modernen Gesellschaft wesentlich sind und Handlungsflexibilität ermöglichen.162 Menschliches Verhalten und menschliche Handlungen lassen grundsätzlich Rückschlüsse auf (moralische) Haltungen und Intentio­ nen zu.163 Eine tugendhafte Lebensführung korreliert mit ihrer Hand­ lungsintention. »Handelt man so, wie eine tugendhafte Person handeln würde, aber mit einer anderen Intention, dann würde man das gleiche unmittelbare Handlungsziel erreichen, dennoch wäre die Handlung wegen der feh­ lenden Intention nicht tugendhaft. Hier läge bei gleicher Performanz eine unterschiedliche psychische Disposition vor.«164

Für Tugenden ist der Charakter, damit dann auch die Intention und Motivation des Handelnden hinreichend. Deshalb fragt der Begriff der Tugend danach, »wie eine Person zu sein hat, um als eine gute Person gelten zu können. Tugenden sind demnach mit der Identität von Personen verknüpfte Einstellungen und Haltungen, die ein dem jeweiligen Kontext ange­ messenes Handeln ermöglichen«.165

So könnten Charaktertugenden, auf welche Pauer-Studer anspielt, kompetenztheoretisch tendenziell den Sozial- und Selbstkompeten­ zen im Sinne von personalen Eigenschaften entsprechen. Es gibt bestimmte Tugenden, wie etwa die von Aristoteles beschriebenen dianoethischen Tugenden, die instrumentelle bzw. handwerksartige Tugenden sind, die der Sozialkompetenz funktional äquivalent erscheinen, aber ein größeres Handlungsspektrum ausmachen als

Vgl. Lothar Böhnisch, Familie und Bildung In: Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt, Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden2 2009, 339–350, hier 343. Aufgrund dieser Vorstellung erweckt eine Kompetenzorientierung im Zusammenhang des Bildungsdiskurses den Eindruck einer Renaissance der Persönlichkeits- oder Charak­ terbildung, die im Grunde dem Bildungsauftrag bislang eigen war – wie im Weiteren noch zu lesen sein wird. Vgl. Roland Reichenbach, Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung, Stuttgart 2007, 69. 163 Vgl. Herlinde Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, Wien 22010, 102. 164 Carsten Roeger, Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung, Opladen/Berlin/Toronto 2016, 142. 165 Herlinde Pauer-Studer, Tugendethik. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spie­ gel/Markus Thiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Paderborn 2 2017, 79–84, hier 79. 162

60 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Betrachtung bestehender Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung

soziale Kompetenzen in bildungstheoretischer Perspektive. Mit dem Begriff der Tugend sind nicht einzelne Fähigkeiten zur gelungenen Weltbewältigung bezeichnet, sondern eine Gesamtsicht auf ein gutes Leben. Zwar haben nach der Definition von Swanton die Begriffe Kompetenz und Tugend eine Familienähnlichkeit im wittgensteini­ schen Sinne, nämlich den Menschen so zu disponieren, dass er kon­ textspezifisch, situationsadäquat und -sensibel gut zu reagieren weiß.166 Hingegen sind Kompetenzen nicht in eine Gesamtauffassung des moralisch guten Lebens eingezeichnet.167 Der Begriff der Tugend bedeutet demnach mehr als eine Fertigkeitsbeherrschung bzw. Hand­ werksbeherrschung, während Kompetenz letztendlich eine spezifi­ sche Fertigkeit bzw. ein Können ist.168 Der Tugendbegriff bringt die Konnotation des ethisch Guten ins Spiel, die bei der Kompetenz nicht mitgedacht ist, d. h., der Tugendbegriff lässt sich nicht durch den Kompetenzbegriff ersetzen bzw. synonym verwenden. Das würde den Tugendbegriff wesentlich beschneiden, weshalb der Neologismus »Tugendkompetenz« überflüssig erscheint. Bei seiner Verwendung wäre aufseiten der Tugendethik mit einem konstitutiven Inhaltsver­ lust und auf kompetenztheoretischer Seite mit einer empirisch nicht fassbaren Größe zu rechnen.

3.6 Zusammenfassung Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass die Beschäftigung mit Werten und Werteerziehung eine mögliche Stoßrichtung für eine Diskussion tugendhafter Werthaltungen anzeigt, die in pluralen Lebenswelten sowohl für ein gutes Leben des einzelnen Menschen wie auch der Gemeinschaft hilfreich sein können. Während im Kern Tugenden die Frage Wer ist gut? beantworten, beantworten die Werte die Frage Was ist wichtig? Pädagogisch weiterentwickelte Anerkennungskonzepte setzen ihren konzeptionellen Schwerpunkt auf den Erwerb von Kompeten­ Vgl. Kauffeld, Kompetenzen messen, bewerten, entwickeln, 8 f. Ähnliche Kritik äußert ebenfalls Hans Ulrich-Dallmann, Eine tugendethische Annäherung an Begriff und Pädagogik der Kompetenzen. In: ethik und gesellschaft, Bildung, Gerechtigkeit und Kompetenz, 1 (2009), 1–50, hier 31. 168 Vgl. Roeger, Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philo­ sophischer Bildung, 144. 166

167

61 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel I: Bildungswissenschaftliche Ansätze in Revision

zen, die zu gegenseitiger Anerkennung befähigen, da pädagogische Theorien der Anerkennung davon ausgehen, dass »Anerkennungsbe­ ziehungen eine moralische Notwendigkeit darstellen«.169 Sie bekräf­ tigen die Relevanz von Anerkennungsformen wie Liebe, Respekt und sozialer Wertschätzung. Damit sind erste fundamentale Hin­ weise darauf gegeben, welche personalen Eigenschaften für einen anerkennenden Umgang in einer hoch differenzierten Gesellschafts­ zusammensetzung erforderlich sind, die es Menschen insgesamt ermöglichen, in einen (idealerweise) herrschaftsfreien Dialog mitein­ ander zu treten, ethisch gut und würdevoll miteinander umzugehen. Damit konkretisiert sich die Suche nach personalen Eigenschaften, die in einer pluralen Gesellschaft als entscheidend für ein (ethisch) prosperierendes und gutes Leben gelten. Die interkulturelle Pädagogik setzt ihren konzeptionellen Schwerpunkt auf den Erwerb interkultureller Kompetenz. Sie erach­ tet persönliche Haltungen wie Achtung und Aufmerksamkeit als Grundlage für friedvolle Interaktionsbeziehungen. Eine Kompetenz des Interkulturellen dürfte sich für die vorliegende Forschungsfrage allein als nicht weiterführend erweisen, aber sie hat eine grund­ sätzliche Frage für die hiesige Erörterung eröffnet: Wie können Anerkennungsprozesse in der Schule begünstigt werden? Welche menschlichen Ressourcen sind nötig, damit jemand so angenommen wird, wie er oder sie sind? Dies hat zu einer bildungstheoretischen Erörterung von Kompetenzen im Vergleich zu Tugenden geführt, was in der Konsequenz bedeutet, dass die Begriffe Kompetenz und Tugend Schnittmengen aufweisen. Überzeugungen von dem, was ein gutes Leben für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft ausmacht, sind eng mit der Weltdeutung, dem Weltbild eines Menschen verbunden. Reli­ gionen bieten eine solche Gesamtsicht auf das gute Leben, d. h. eine religiös eingebettete Perspektivierung des Personenseins könnte für eine – dezidiert in Abgrenzung zu religiösen Perspektiven entwickelte – bildungstheoretische Positionierung Impulse liefern. Vor diesem Hintergrund soll nun der Begriff der Tugend in seiner Bedeutung weiterentwickelt und konkretisiert werden.

169

Reisenauer/UlseßSchurda, Anerkennung in der Schule, 23.

62 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse In der antiken Moralphilosophie waren Glück, Lebenskunst und die Frage nach dem höchsten Gut wesentlicher Teil ethischer Überlegun­ gen.170 Das Nachdenken über eine gute Lebensführung war ein fester Bestandteil der Philosophie. Auf die Frage, wie der Mensch sein soll, um glücklich zu leben, scheint die Antwort für viele Philosophen eindeutig zu sein: tugendhaft. Das Handeln aus Tugendhaftigkeit galt als das höchste Ziel eines guten Lebens. Daher stand das Nachdenken über Tugend traditionell im Mittelpunkt der philosophischen Ethik.171 Seit der Neuzeit erfahren Fragen nach dem »guten Leben« und der individuellen Lebensführung eine Renaissance.172 Trotzdem rufen weiterhin Begriffe wie v. a. Tugend unangenehme Assoziationen und Konnotationen wach, auch wenn diese Begrifflichkeiten sowie Texte aus der Antike zunächst einer Kontextualisierung in die histo­ risch gebundene Semantikwelt bedürfen. Bekanntlich unterliegen alte Begriffe im Laufe der Zeit und bei Veränderung des sprachlichen wie auch kulturellen Kontextes einer Veränderung ihrer Bedeutung. Beispielsweise ist es eine Fehlinterpretation, ars vivendi (lat. Lebens­ kunst) als Lebensgenuss zu verstehen und nicht als die Umformung des Charakters durch die Entwicklung wünschenswerter Eigenschaf­ ten und den dadurch entstandenen Gewinn einer angemessenen Lebenshaltung.173 Ferner ist der Begriff der Kunst in der Antike bekanntlich weit gefasst, bspw. wird die Medizin ebenfalls als ars sowie als scientia (Wissenschaft) bezeichnet, denn auch der Umgang 170 Vgl. Christoph Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1989, 9. 171 Vgl. Walter Mesch, Die aristotelische Tugendethik und ihre Attraktivität aus heutiger Sicht. In: Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Grundbegriffe des Praktischen, Freiburg 2016, 229–252, hier 229. 172 Vgl. Fenner, Das gute Leben, 7. 173 Vgl. Horn, Antike Lebenskunst, 9.

63 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

mit Medizin wurde als Teil der Lebenskunst verstanden. Daher gilt es, unter diesem Vorzeichen Begriffe wie Ethik, Moral und Tugend bestmöglich zu klären, um jene antiken Vorstellungen und Theorien gelungener und angemessener Lebensführung treffend erklären und ihnen Aspekte für ein gegenwärtiges Bildungsverständnis abgewin­ nen zu können. Ethik im Sinne des altgriechischen Wortes ēthos hat mehrere Bedeutungen. In seiner etymologischen Bedeutung als Lebensraum und Wohnort verwendet, kann in philosophischen Zusammenhän­ gen ēthos (ἦθος) ebenso Sitte, Brauch, Gewohnheit bedeuten, also sowohl die Verhaltensweisen und bestimmte kollektive Gepflogen­ heiten wie auch auf die individuellen Entscheidungen eines Menschen bezeichnen,174 die auf seinen Charakter zurückzuführen sind, d. h. auf seine gängigen Verhaltensweisen und personalen Eigenschaften, sowie die als Gut (agathón) erkannten Ziele.175 Demnach bezieht sich Ethik einerseits auf den Charakter und die Wesensbeschaffenheit des Menschen und andererseits auf Sitten und Gebräuche. Gegenwärtig werden ethisch gute Handlungen in diesem Sinne als Produkt eines entsprechenden Charakters verstanden.176 Moral hingegen, abgeleitet aus dem Lateinischen mos, bezeich­ net jene allgemein anerkannten Normen, Regeln, Gebote und Verbote sowie Werte einer Gemeinschaft und besitzt folglich einen Antwort­ charakter, der zur Regelung von Konflikten, Unterschieden oder Widersprüchen zum Einsatz kommt.177 Moralische Handlungen sind also nicht nur sozial erwünschte Verhaltensformen oder das Befolgen von Geboten, die der Mensch auf Richtigkeit reflexiv überprüft und zu denen er Stellung beziehen kann178, sondern sie entspringen einem Normensystem mit unbedingtem Gültigkeitsanspruch,179 d. h. in Kürze, Moral ist ein Normensystem und Ethik die Wissenschaft bzw. die Reflexion von ihr.180 Vgl. Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, Göttingen 2018, 11. 175 Vgl. Jan Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte. Einführung in die prakti­ sche Philosophie, Wiesbaden 2015, 27. 176 Vgl. Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 27. 177 Vgl. Myron Hurna, Was ist, was will, was kann Moral, Wiesbaden 2017, passim. 178 Vgl. Larissa Krainer/Peter Heintel, Prozessethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse, Wiesbaden 2010, 63. 179 Vgl. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 13. 180 Vgl. ebd., 19. 174

2

64 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

Von der Antike bis in die frühe Neuzeit zielte die Moralphiloso­ phie primär darauf, zu einem guten Leben anzuleiten, und »der Erwerb von Tugend galt dabei nahezu unangefochten, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise, als entscheidende Grundlage«.181 Im Gegensatz zu einer Normethik, die die Frage nach moralisch richtigem und moralisch falschem Verhalten stellt, fragt Tugendethik danach, worauf eine moralisch gute Handlung fußt182; die Haltung des Han­ delnden, die moralische Verfassung einer Person bzw. die gute Ver­ fassung des Personenseins stehen in ihrem Mittelpunkt und zielen auf die Entwicklung eines moralischen, soliden Charakters ab.183 Im Mit­ telpunkt der ethischen Betrachtung der Tugendethik stehen demnach Charaktereigenschaften und -haltungen, Handlungsdispositionen und die Lebensweise einer Person.184 Ein guter Charakter ist gemäß Tugendethik daran zu messen, ob eine Person als guter Mensch gilt und Gutes tut, und eben nicht daran, ob der Mensch gesetzten Regeln und Normen richtig folgt.

1.1 Philosophische Wiederbelebung der aristotelischen Tugendethik in der Gegenwart Der Tugendethiker, der die abendländische Geistes- und Kulturge­ schichte maßgeblich geprägt hat, ist bekanntlich Aristoteles (384–322 v. Chr.). Er widmet sich der Betrachtung menschlicher Lebensformen sowie von Vorstellungen vom höchsten Glück und stellt im Anschluss die Frage nach dem Guten für den Menschen.185 Diese Frage platziert Aristoteles gleich zu Beginn in seinem bedeutendsten Werk unter den ethischen Schriften, der Nikomachischen Ethik186 (fortan: NE), weil 181 Mesch, Die aristotelische Tugendethik und ihre Attraktivität aus heutiger Sicht, 229. 182 Vgl. Gerhard Marschütz, theologisch ethisch nachdenken, Bd. 1, Würzburg 2009, 162. 183 Vgl. Bruno Keller, Ethik – eine Annäherung. In: Ueli Merten/Peter Zängl (Hrsg.), Ethik und Moral in der Sozialen Arbeit: Wirkungsorientiert – kontextbezogen – habitusbildend, Opladen/Berlin/Toronto 2016, 21–48, hier 41. 184 Vgl. Dagmar Fenner, Ethik. Wie soll ich handeln? Tübingen 22020, 163. 185 Vgl. Volker Steenblock, Glück, Lust und Seelenruhe. In: Julian Nida-Rüme­ lin/Irina Spiegel/Markus Tiedeman (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Paderborn 22017, 142–147, hier 144. 186 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und hrsg. von Ursula Wolf, Hamburg 5 2010 [im Folgenden: NE].

65 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

es den Fokus der ethischen Betrachtung auf den Menschen lenkt. Er geht nicht von Geboten und Verboten für das Tun des Menschen aus, sondern er stellt die Frage danach, wie der Mensch sein soll, wodurch die Betrachtung der moralischen Vortrefflichkeit in den Mittelpunkt verschoben wird. Auch wenn in der Antike viel über das gute Leben und ihre Voraussetzungen nachgedacht und geschrieben worden ist, scheint vom Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Tugendethik im ethischen Diskurs kaum bemerkenswerte Spuren hinterlassen zu haben.187 Mit einer gewissen Kritik an der vorherr­ schenden Tendenz der modernen Moralphilosophie erfährt die Ethik Aristoteles’ jedoch seit einigen Jahrzehnten ein Comeback, so auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft.188 Mit der Veröffentlichung des bahnbrechenden Aufsatzes Modern Moral Philosophy stieß die renommierte Philosophin Gertrude Eliza­ beth Anscombe im Jahre 1958 den theoretischen Diskurs um die Tugendethik als Alternative zum Utilitarismus, zur kantischen Ethik und zur Theorie des Gesellschaftsvertrags an.189 Sie leitete ihre Kritik mit der These ein, »dass es uns gegenwärtig keinen Nutzen bringt, Moralphilosophie zu treiben«.190 Als eine vielversprechende Alter­ native wies sie auf die aristotelische Ethik und den darin zentralen Begriff der Tugend hin. Sie leitete damit die Renaissance der Denk­ bewegung um das in der Moralphilosophie diskreditierte Konzept der Tugend und ihrer Ethik ein, das ca. zwanzig Jahre später von Alasdair MacIntyre aufgegriffen und weitergedacht wurde.191 Darin bestärkte er die Wiederbelebung der aristotelischen Ethik, durch die sich »die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen

187 Vgl. Ben Dupré, Tugendethik. In: Ders., 50 Schlüsselideen Philosophie, Heidel­ berg 2010, 96. 188 Vgl. Fenner, Das gute Leben, 7; vgl. Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013. 189 Vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/a nscombe/; letzter Aufruf 30.11.2017; vgl. Jochen Schmidt, Critical Virtue Ethics. In: Religious Inquiries, Vol. 3, 5 (2014), 35–47, hier 35. 190 Elizabeth Anscombe, Modern Moral Philosophy. In: Philosophy XXXII (I958) hier zit. n. der dt. Übersetzung v. Günther Grewendorf/Georg Meggle (Hrsg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, 217–243, hier 217. 191 Vgl. Kurt Bayertz, Antike und moderne Ethik. Das gute Leben, die Tugend und die Natur des Menschen in der neueren ethischen Diskussion. In: ZPhF, 59 (2005), 114–132, hier 116.

66 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

und sozialen Haltungen und Verpflichtungen wiederherstellen«192 ließe.193 Vor allem ist MacIntyre dafür verantwortlich, dass die Tugendethik stärker mit dem kommunitaristischen Gedankengut in Verbindung gebracht wird, wodurch die Tugendethik auch in politi­ schen Diskussionen Verbreitung fand.194 Der indische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen entwickelte gemeinsam mit der Philosophin Martha Nussbaum aristotelische Gedanken zu einem gerechtigkeitstheoretischen Fähigkeitenansatz (capability approach), der kurzum eine Explizierung von Lebensqualität (Lebensstandard) und der Analyse des menschlichen Wohlergehens darstellt.195 Das Wohlergehen respektive eine gelingende praktische Lebensführung steht in Korrespondenz damit, was der Mensch ist und was er tut. Nussbaum arbeitet den capability approach mit der empirischen Frage nach der Natur des Menschen aus und schlägt eine »objektive Liste« fundamentaler Befähigungen (capabilities) vor196, »die sie als Grundlage eines erfüllten, gedeihlichen Lebens (›human flourishing‹) im Sinne komplexer menschlicher Zustände und Handlungsweisen begründet«.197 Ziel Nussbaums ist es, jene Fähigkeiten herzustellen, 192 Alasdair Macintyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981, hier zit. n. der dt. Übersetzung: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/New York 1987, 345. 193 Mit seinem jüngst erschienenen Werk Ethics in the Conflicts of Modernity: An Essay on Desire, Practical Reasoning, and Narrative (Cambridge 2016) ist ein thomistischer Aristotelismus erkennbar; vgl. Martin Hähnel, Alasdair MacIntyres Stein-Lektüre. In: Harald Seubert/Marcus Knaup (Hrsg.), Grundbegriffe und -phäno­ mene Edith Steins, Freiburg i.Br. 2018, 151–163, hier 155. 194 Vgl. Verena Weber, Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität – Univer­ salisierung – Moralische Dilemmata, Würzburg 2002, 23. 195 Siehe hierzu Martha Nussbaum/Amartya Sen, The Quality of Life, Oxford 1993. 196 Siehe hierzu Martha Nussbaum, Women and Human Development. The Capabi­ lities Approach, Cambridge 2000. »Die von Martha Nussbaum hierzu vorgeschlagene »objektive Liste« grundlegender menschlicher Capabilities umfasst die Ausbildung von spezifischen körperlichen Konstitutionen, sensorischen Fähigkeiten, Denkvermö­ gen und grundlegenden Kulturtechniken, die Vermeidung von unnötigem Schmerz, die Gewährleistung von Gesundheit, Ernährung und Schutz, die Möglichkeit und Fähigkeit zu Bindungen zu anderen Menschen, anderen Spezies und zur Natur, zu Genuss, zu sexueller Befriedigung, zu Mobilität und schließlich zu praktischer Vernunft und zur Ausbildung von Autonomie und Subjektivität.« Hans-Uwe Otto/ Holger Ziegler, Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswis­ senschaft. In: Ders., Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschan­ cen in der Erziehungswissenschaft, Wiesbaden 22010 9–13, hier 12 (Fußnote 4). 197 Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler, Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der Erziehungswissenschaft. In: Ders., Capabilities – Handlungsbefähigung und

67 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

mit denen sich ein gutes Leben führen lässt.198 Ihr geht es weniger um den moralischen Charakter an sich, wenngleich sie sich als Neo-Aris­ totelikerin versteht.199 Mit weiteren Philosoph*innen wie Philippa Foot200, die sich wie Anscombe und andere in ihren Darstellungen und Analysen der Kardinaltugenden auf Thomas von Aquin (um 1225–1274) beriefen,201 führte das Insistieren auf der Unverzichtbarkeit des Tugendbegriffs in den 1990er-Jahren zu seiner Rehabilitierung zunächst in angelsäch­ sischen und anschließend in den deutschsprachigen moralphilosophi­ schen Diskursen wie bei Michael Stocker, Christoph Halbig oder Christoph Horn.202 In diesen neuen Ansätzen wird deutlich, dass es bei den Tugenden keineswegs um moralische Imperative geht, die es mit uneingeschränkter Pflichtverbundenheit gewissenhaft zu befolgen gilt.203 Während einige, wie Foot und Hursthouse, in Anleh­ nung an Aristoteles die Bedeutung der Tugenden für ein gutes und glückliches Leben schärfen, legen andere, wie Michael Slote und Julia Annas, den Akzent auf einzelne Aspekte wie Charaktereigenschaften, die Erträglichkeit der Tugenden oder ihre Aneignung.204 Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft, Wiesbaden 22010 9–13, hier 9. 198 Vgl. Martha Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999, 95. 199 Vgl. Siehe hierzu Martha Nussbaum, Women and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 2000, 76 f. 200 Siehe hierzu Philippa Foot, Virtues and Vices and other Essays in Moral Philoso­ phy, Los Angeles/Berkeley 1978. 201 Vgl. Philippa Foot, Tugenden und Laster. In: Dies., Die Wirklichkeit des Guten, Frankfurt 1997, 116 f. 202 Vgl. Roger Crisp/Michael Slote (Eds.), Virtue Ethics, Oxford 1997; Michael Stocker, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien. In: Klaus P. Rippe/Peter Schaper (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 19–41; Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend, Frankfurt a.M. 2013; Christoph Horn mit diversen Aufsätzen. Die moderne Tugendethik versucht im Rückgriff insbesondere auf das aretē-Konzept des Aristoteles, den Charakter und die Tugenden von Personen in konkreten Hand­ lungssituationen zur Grundlage einer Ethik und auch der politischen Philosophie zu machen. Vgl Michael Stocker, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien. In: Klaus P. Rippe/Peter Schaper (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 19–41. 203 Vgl. Elisabeth Göbel, Der Mensch – ein Produktionsfaktor der Würde? In: ZfWU, 4 (2), 2003, 170–192, hier 175 f. 204 Siehe hierzu Michael Slote, Morals from Motives, Oxford 2001; Julia Annas, »Being Virtuous and Doing the Right Thing«. In: Proceedings of the American Philosophical Association, 78, 2 (2004), 61–75; siehe auch Linda Trinkaus Zagzebski, Virtues of the Mind, Cambridge 1996.

68 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

Eine häufig aufkommende Kritik an der Tugendlehre lautet, dass sie alleine kein vollständiges Moralkonzept begründen könne. Tugen­ den könnten nicht dieselbe Autarkie wie etablierte konsequenzialis­ tische oder deontologische Moraltheorien beanspruchen.205 Allein auf der Grundlage eines guten Charakters könne der Mensch in ver­ schiedenen Lebenslagen und moralischen Entscheidungssituationen nicht bestimmen, wie zu handeln sei.206 Im Gegenzug erscheinen allerdings moralische Prinzipien, die in deontologischen Ansätzen genannt werden, im Angesicht von lebenspraktischen Schwierigkei­ ten oft abstrakt und reflektieren nicht ausgiebig die moralischen Eigenschaften und Dispositionen einer Person.207 Ferner befassen sich moralische Begründungen ausschließlich mit der Frage, ob für ein bestimmtes Handeln Rechtfertigungsgründe sprechen, aber zu wenig damit, wie aus Gründen Handlungsmotive abgeleitet werden können und warum sich jemand diesen Gründen in konkreten Handlungs­ situationen verbunden fühlen sollte. Demzufolge bezeichnet bspw. Ehrlichkeit nicht nur die Motivation, ehrlich sein zu wollen, sie enthält ebenfalls moralische Urteile, wie jenes, dass es moralisch richtig ist, nicht zu lügen, seine Versprechen zu halten, nicht zu betrügen usw.208 Allerdings spielt in der Ethik Kants, die als prototypisches Beispiel einer Prinzipienethik gilt, die Person dahingehend auch eine Rolle, dass der gute Wille einer Person als Voraussetzung für das Handeln nach Maximen gilt. Kant eröffnet seine »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« mit folgenden Worten: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb der­ selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«209

Wenn also die Rede davon ist, dass jemand sich auf eine Person verlas­ sen könne, ist dies möglich, weil sich bestimmte Formen des Wollens und Handelns bei ihr ausgebildet haben, auf deren Beständigkeit Vgl. Halbig, Der Begriff der Tugend, 270. Vgl. Verena Weber, Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität – Univer­ salisierung – Moralische Dilemmata, Würzburg 2002, 24. 207 Vgl. Herlinde Pauer-Studer, Art: Tugendethik. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Pader­ born 2015, 79–84, hier 79. 208 Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/Boston 3 2013, 302. 209 Kant, GMS AA IV. 205

206

69 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

und Wirksamkeit jemand unter allen Umständen und wechselnden Einflüssen rechnen kann.210 Eine gleichmäßige Festigkeit und Folge­ richtigkeit des Wollens und Handelns macht folglich den Charakter aus. Ein guter Wille ist demnach das Vermögen, Eigenschaften und Anlagen in Handlungssituationen so zu regulieren, wie es die Ver­ nunft als praktisch notwendig respektive als gut erkennt. Im zweiten Teil der Metaphysik der Sitten führt Kant ferner seine Gedanken über den Tugendbegriff aus und versteht eine Tugend allerdings als »die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht«.211 Die Neigungen und Dispositionen treten in den Hintergrund und die Tugend besteht darin, pflichtgemäß zu handeln. Mir erscheint es allerdings wenig sinnvoll, eine absolute Diffe­ renz zwischen einer Prinzipienethik und Tugendethik zu konstruie­ ren, denn auch Menschen mit gutem Charakter können manchmal schlecht handeln, d. h., es besteht ein Zusammenhang zwischen ethischer Verfassung bzw. moralischem Charakter und Tun. Die cha­ rakterliche Bewertung ist folglich nicht nur auf die Dispositionen und Haltungen zu richten, sondern auch auf das Tun.212 Die Handlungen bzw. die Handlungskonsequenzen bedürfen somit einer präzisen Analyse, sofern der Charakter und das Tun als Einheit verstanden werden. Damit lassen sich Prinzipienethik und Tugendethik als supp­ lementär zueinander qualifizieren. Mein Versuch, Tugendethik als zentrale Option besonders für Bildungsfragen zu verstehen, gründet nicht auf einer ähnlichen Kritik der kantischen Pflichtethik oder universell formulierter Regeln konse­ quentialistischer Provenienz, sondern auf dem Wunsch einer Wieder­ belebung des menschlichen Strebens nach Einheit und Harmonie mit sich und seiner Mitwelt. Hierzu hilft die Rückbesinnung auf insbeson­ dere folgende Aspekte der antiken aristotelischen Ethik (sowie auch der islamischen Ethik im Mittelalter, wie wir noch sehen werden): die Person mit ihren Charaktereigenschaften in den Vordergrund zu stellen, die Bedeutung der persönlichen Kultivierung hervorzuheben sowie die Vernunft als kontextsensible Einsicht und als Regulativ auf­

Vgl. Theodor Elsenhans, Charakterbildung, Leipzig 1908, 11. Kant, MS AA VI, 435. 212 Vgl. Herlinde Pauer-Studer, Art: Tugendethik. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Pader­ born 2015, 79–84, hier 83. 210

211

70 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

zufassen.213 Die aristotelische Tugendethik scheint mir auch deshalb die passende Moraltheorie zu sein, weil sie am personalen Potenzial eines Menschen ansetzt und damit die personalen Stärken und Schwä­ chen einer Person zum Startpunkt ihrer Betrachtung setzt. Dieser Ansatz hat eine Person vor Augen, die sich und ihre Handlungsmotive überdenkt, reflektiert und ihren persönlichen moralischen Status quo immer wieder zum Guten und Besseren zu verändern versucht ist. Mein Wiederbelebungsversuch zielt, wie Kleger es mit Blick auf eine positive Rezeption von Tugenden formuliert, nicht auf eine Moralisierung des Lebens, sondern seine Zivilisierung des Zusam­ menlebens durch die Kultivierung personaler Charaktereigenschaften hin zu einer Kultur des Miteinanders.214 Damit verstehe ich die Tugendethik als Ethikansatz, der sich auf die Kultivierung und die Schulung des Charakters konzentriert; ausgehend von der Annahme: »dass nicht alle moralischen Defizite den sozialen Verhältnissen sowie den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zugeschrie­ ben werden können, sondern einiges an moralischen Fehlgriffen in den Bereich individueller Verantwortung fällt«.215

1.2 Tugend – ein ambivalentes Wort in Deutschland Heute in Deutschland über Charakterbildung sprechen zu wollen, mag insbesondere für die Ohren deutscher Pädagog*innen in Anbe­ tracht der geschichtlichen Erfahrung mit zwei totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und dem Sozialismus der DDR gewagt klingen. Die Wurzeln des Begriffs Tugend haben, wie bereits darge­ legt, viel tiefere Wurzeln als die deutsche Geschichte, in der König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) preußische (Sekundär-)Tugenden wie Sparsamkeit, Keuchscheit, Ordnung, Fleiß und Bescheidenheit zur Devise erkor.216 Vgl. Bayertz, Antike und moderne Ethik, 117. Vgl. Heinz Kleger, Tugendethik ohne Tugendterror, Potsdam 22015, 92. 215 Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, 103 f. 216 Siehe hierzu Ernst Piper, Preußische Tugenden im Zeitalter der totalitären Heraus­ forderung. In: ZRGG, 53. Jg., 1 (2001), 35–45. In Bezug auf Keuschheit siehe hierzu Theodor Brüggemann (Hrsg.), Otto Brunken/ Rüdiger Steinlein, Handbuch zur Kin­ der- und Jugendliteratur – von 1570–1750, Stuttgart 1991, 1011 f.; siehe auch Esther Suzanne Pabst, Die Erfindung der weiblichen Tugend: kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. 213

214

71 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

Während in den USA, England, Canada und Australien »cha­ racter education« in den Erziehungswissenschaften eine Renais­ sance erfuhr,217 verschwand aus unterschiedlichen Gründen seit den 1950er-Jahren beinahe die Rede von Charakter(-bildung) und Tugend(-erziehung) sowohl aus der Alltagssprache als auch aus der pädagogischen Fachsprache.218 Einerseits wurden bürgerliche Tugenden im Nationalsozialismus pervertiert, sie wurden zu bloßen Pflichtkatalogen, die die individuelle Entfaltung der Menschen unter­ banden.219 Hitlers erzieherische Zielsetzung lag darin, den Charakter durch Stärkung bestimmter Eigenschaften wie der Willens- und Entschlusskraft zu bilden.220 Damit sollte schon in der Schulerziehung begonnen werden. Insbesondere mit Gedichten und historischen Schilderungen in ideologisch verzerrten Lehrbüchern sollten Jungen für kriegerische und militärische Tugenden wie Heldenhaftigkeit und Tapferkeit begeistert werden.221 Die Schulerziehung war als Dressur zur Züchtung von charakterlich und geistig starken Persönlichkeit und als Erziehung zum Herrenmenschen und Krieger charakterisiert.222 Andererseits bestand die Gefahr, bürgerliche Tugenden politisch oder ideologisch zu funktionalisieren. Dies ließ sich im Schulkontext der DDR wiederfinden. Die patriotische Erziehung und Homogeni­ sierung wurde als Kernstück einer sittlichen Erziehung gewertet,

Eine Renaissance lässt sich gegenwärtig bei der Ahmadiyya Muslim Jamaat in Deutschland finden. »Das folgende Büchlein bezweckt, die Tugend der Keuschheit aus islamischer Sicht zu beleuchten.« Chaudhry Masroor Ahmad, Keuschheit im Islam, Frankfurt a.M. 2016, 15. 217 Vgl. Agnieszka Bates, Moral Emotions and Human Interdependence in Character Education. Beyond the One-Dimensional Self, New York 2021, 5. 218 Otto Friedrich Bollnow veröffentlicht 1958 sein Buch Die Ehrfurcht, Wesen und Wandel der Tugend (Frankfurt a.M.). Darin moniert er den sittlichen Verfall der Gesellschaft, die Vergessenheit der Tugenden und versucht sich an einer neuen historischen und kulturellen Verortung verschiedener Tugenden. 219 Vgl. Eykmann/Seichter (Hrsg.), Pädagogische Tugenden, 7. 220 Vgl. Ramona Zürker, Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Analyse der Hintergründe und eine didaktische Aufbereitung für den Geschichtsunterricht, Ham­ burg 2015, 17 f. 221 Bspw. Hölderlin, Der Tod fürs Vaterland, siehe hierzu Dietrich Orlow, Die Adolf-Hitler-Schulen. In: Institut für Zeitgeschichte, Jg. 13, 3 (1965), 272–284, hier 280, 281. 222 Vgl. Heinz Schreckenberg, Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der deut­ schen Jugend unter Hitler. Anmerkungen zur Literatur, Münster/Hamburg/London 2001, 88.

72 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

die durch eine spezifische Charakterbildung zu erreichen war.223 Damit gerieten in pädagogischen Diskursen der Tugendbegriff und Tugenden generell in Misskredit, insbesondere, als mit dem Begriff der Emanzipation und den Leitvorstellungen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung jede Tugenderziehung als repressiv und als Ausdruck einer »Schwarzen Pädagogik« angesehen wurde.224 Von der sogenannten Antipädagogik225 wurde jede mit irgendeiner Tugendvorstellung verbundene Erziehung als Drangsalierung oder als »Dressurterror« gebrandmarkt.226 Seit den 60er-Jahren wurden Tugendansätze durch Ansätze der Werteerziehung und der sozialen Kompetenzen ersetzt.227 Der Charakterbegriff wurde seitdem vermie­ den und vor allem in der modernen Psychologie durch den Begriff der »Persönlichkeit« verdrängt.228 Auch wer während der 68er-Ära von Moral und Tugend sprach, sah sich schnell einem Ideologiever­ dacht ausgesetzt.229 Während sich in der Neuzeit die Auffassungen von Tugend im angloamerikanischen Raum gewandelt und in den pädagogischen Diskussionen Charakterbildung, angelehnt an die aristotelische Tugendethik als auch die kantsche Deontologie,230 sogar einer gewis­

223 Vgl. Winfried Marotzki/Walter Bauer, Zur sittlich-patriotischen Erziehung in der DDR-Pädagogik. In: Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki (Hrsg.), Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Zwischen Systemvorgaben und Pluralität, Opladen 1994, 68 f. 224 Siehe hierzu Friedrich Koch, Der Kaspar-Hauser-Effekt: Über den Umgang mit Kindern, Opladen 1995. 225 Vgl. Hans Berner, Aktuelle Strömungen in der Pädagogik und ihre Bedeutung für den Erziehungsauftrag der Schule, Stuttgart/Wien 21994, 222; vgl. Ekkehard von Braunmühl, Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung, Leipzig 2015, 75. 226 Vgl. Klaus Horn, Dressur oder Erziehung. Schlagrituale und ihre gesellschaftliche Funktion, Frankfurt a.M. 1967, 27. 227 Vgl. Emanuela Chiapparini, Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersu­ chung der Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Züricher Volkshochschule, Opladen/Berlin/Toronto 2012, 15. 228 Vgl. Karl König, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen 102011, 9 ff. 229 Vgl. Ferdinand Buer/Micha Brumlik, Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Buchbesprechung, 2 (2004), 200–203, hier 202. 230 Vgl. Daniel Lapsley/David S. Yeager, Moral-character education. In: Irving B. Weiner/William M. Reynolds/Gloria E. Miller (Eds.), Handbook of Psychology: Educational Psychology, Hoboken 2013, 289–348.

73 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

sen Konjunktur erfreuen,231 sind in Deutschland in den moralpädago­ gischen Diskursen noch kein durchgreifendes Vordringen und eine ähnliche positive Wiederbesinnung auf die Tugendlehre zu verzeich­ nen.232 In den fachphilosophischen, handlungstheoretischen, moral­ psychologischen sowie wirtschaftlichen Diskursen ist eine gegentei­ lige Entwicklung zu beobachten.233 Für die christliche Theologie und Religionspädagogik kann zumindest festgehalten werden, dass nach der anthropologischen Wende von Charaktererziehung und der Weitergabe von Werten gesprochen wurde.234 Bei dieser Erziehungs­ vorstellung wird davon ausgegangen, dass ein erfülltes und gutes Leben durch die Anbahnung von Tugenden gewährleistet werden kann.235 Nach Jochen Schmidt stößt gegenwärtig die Tugendethik im katholischen Denken auf mehr Resonanz als im lutherischen Den­ ken.236 Schon Max Scheler sprach von einer argen Verzerrung und Überformung des klassischen Tugendbegriffes seit Beginn der Auf­

Gegenwärtig ließen sich bspw. das Character Project an der Wake Forest Univer­ sity, oder das character.org Projekt, das Charakter-Bildung (»character education«) in den USA lancieren, nennen. 232 Vgl. Hähnel, Das Ethos der Ethik, 52; vgl. Hoyer, Tugend und Erziehung, 22. Im 13. Jh. nahm die christliche Ethik im Westen die klassische griechische Tugen­ dethik auf. Während durch die Reformation (und die Gnadenproblematik) die Tugendethik eine Ablehnung erfuhr, bildet seit dem 19. Jh. die Tugendethik als Persönlichkeits-Ethik das Rückgrat der katholischen Ethik. Vgl. Ingeborg Gabriel, Per­ sönlichkeit/Persönlichkeitsethik. In: Bertram Stubenrauch/Andrej Lorgus/Stiftung Pro Oriente, Wien (Hrsg.)/Stiftung Russische Orthodoxie Moskau (hrsg.), Handwör­ terbuch Theologische Anthropologie: Römisch-katholisch/Russisch-orthodox. Eine Gegenüberstellung, Freiburg 2016, 61–66, hier 62. 233 Vgl. Susanne Moser, Tugend als Wert. Christoph Halbig und Max Scheler im Vergleich. In: LABYRINTH, 18, 2 (2016), 158–192, hier 158. 234 Vgl. Gottfried Adam, Ethisches und soziales Lernen. In: Gottfried Bitter et al., Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 238–242, hier 238; siehe hierzu Hans-Joachim Höhn, Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik, Freiburg i. Br. 2014; siehe ebenfalls Jennifer Herdt, Putting on Virtue. The Legacy of the Splendid Vices, Chicago 2008; vgl. Christian Feichtinger/ Şenol Yagdı, Tugendethik im christlich-islamischen Religionsunterricht. In: Österrei­ chisches Religionspädagogisches Forum (ÖRF) 28 (2020) 1, 251–272. 235 Vgl. Adam, Ethisches und soziales Lernen, 238 f. 236 Vgl. Jochen Schmidt, »Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrech­ lichkeit unserer Brüder«. In: Luther 86 (2015), 8–20, hier 8; vgl. auch Johannes Fischer/Stefan Gruden/Esther Imhof, Grundkurs Ethik: Grundbegriffe philosophi­ scher und theologischer Ethik, Stuttgart 22008, 376. 231

74 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Ein moderner Tugendbegriff – Vorabklärung inmitten tugendethischer Diskurse

klärung237 und ein Blick in die heutige Diskurskultur erweckt den Eindruck, dass sich nicht viel verändert hat. Der Begriff Tugend wird in weiten Kreisen weiterhin sehr uneinheitlich und zumeist nur vordergründig verwendet und verstanden, sodass eine tiefere Bedeutungserschließung beeinträchtigt wird.238 Die einen assoziieren das Wort Tugend stark mit mangelnder Freiheit und mit der Treue zu einem moralischen Regelwerk, wobei vor einem »Tugendterror«239 gewarnt wird, welcher als Ausdruck einer Verhaftung in überholten Moralvorstellungen betrachtet wird.240 In der Umgangssprache wird diese Begrifflichkeit oft für ironische Zwecke benutzt: »Tugendwäch­ ter«.241 Andere erachten sie als egoistische, nur im Dienste der eigenen Glückseligkeit stehende Individualethik.242 Wieder andere preisen die Tugend als einen wesentlichen Glücksfaktor.243 Diese Befangenheit im deutschsprachigen Raum erachte ich als einseitig und plädiere für eine Neubesinnung. Ein Messer ist ein Instrument, das sich sowohl für positive als auch für negative Zwecke einsetzen lässt. Ein Hungriger kann damit eine Scheibe Brot abschneiden oder jemanden verletzen. Das Instrument an sich lässt sich also nicht per se als gut oder schlecht qualifizieren. Vor diesem Hintergrund mag der Tugend- und Charakterbegriff in einer bestimmten historischen Epoche pervertiert und Opfer eines exklusi­ ven Bedeutungsfeldes geworden sein, doch das bedeutet nicht, dass die semantische »Spielwiese« brachliegen muss, sondern sie kann neu bepflanzt werden. Vor allem aber wirft dieser Missbrauch natür­ lich die Begründungsnotwendigkeit aller tugendethischen Ideale in Erinnerung. Hierzu gilt es zunächst zu definieren, was Tugend bedeu­ ten kann und in welchem Maße diese Definition geeignet ist, ein

Vgl. Max Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1955, 15. Vgl. Hähnel, Ethos der Ethik, 52. 239 Siehe hierzu Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, München 2014. 240 Vgl. William Hoye, Tugenden. Was sie wert sind – warum wir sie brauchen, Grü­ newald 2010, 9; vgl. Anselm Vogt, Sind Tugenden noch zeitgemäß? Online-Skript, VHS Essen am 21.06.2015. 241 Vgl. Martin Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff Tugend. In: Klaus P. Rippe/Peter Schaber (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 166–184, hier 166. 242 Vgl. Matthias Gatzemeier, Philosophie als Theorie der Rationalität: Analysen und Rekonstruktionen, Bd. 2, Würzburg 2007, 206. 243 Siehe hierzu Martin Seligmann, Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben, Bergisch Gladbach 2005. 237

238

75 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

arbeitsfähiges Verständnis von Tugend zu skizzieren, das sich für pädagogische Überlegungen operationalisieren lässt.

2. Tugendethik als Referenzpunkt für ein gemeinsames Leben Unter den Bedingungen religiöser und kultureller Vielfalt und mithin komplexer werdender Situationen wird es zunehmend notwendig und wichtig, über Eigenschaften zu verfügen, die für ein angemessenes Handeln hilfreich sind. Zwar schafft der Rechtsstaat Gesetze und benennt Bürgerpflichten für eine friedliche und gewaltfreie Koexis­ tenz der Gesellschaftsmitglieder, aber er kann nicht die moralischen Voraussetzungen schaffen, die ein kooperatives Zusammenleben erfordert.244 In diesem Zusammenhang sind jene Ansätze einzuord­ nen, die den Kommunitarismus und den tugendethischen Moralan­ satz miteinander in ein Gespräch zu bringen versuchen und die Not­ wendigkeit bspw. von bürgerlichen Tugenden geltend machen.245 Eine Version von kommunitaristischer Tugendethik, die mit demokrati­ schem Republikanismus sympathisiert, findet sicherlich ihre Berech­ tigung in Diskursen, die hohe Ansprüche an die Werthaltungen der Gesellschaftsmitglieder in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen.246 In diesem Zusammenhang trat Alasdaire MacIntyre mit seinem Buch After Virtue in Erscheinung, in dem er den Verfall der Tugenden in einem größeren Kritikrahmen des modernen Moralverständnisses systematisch erklärte. Wenn auch gegenwärtig Ethik und Politik nicht in derselben Weise miteinander verknüpft betrachtet werden wie bei den antiken Griechen, ist die grundsätzliche Frage nach einer guten und gerech­ ten staatlichen Ordnung aktueller denn je.247 Diesen insbesondere im Bereich der politischen Philosophie diskutierten Fragekontexten Vgl. Sandel, Die Grenzen der Gerechtigkeit und das Gut der Gemeinschaft, 252. Vgl. Simone Abendschön, Die Anfänge demokratischer Bürgerschaft: Sozialisa­ tion politischer und demokratischer Werte und Normen im jungen Kindesalter, Baden-Baden 2010, 63 f. 246 Siehe hierzu Don Eberly/Ryan Streeter, The soul of civil society: voluntary associations and the public value of moral habits, Lanham 2002. 247 Vgl. Walter Schweidler, Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis in die Gegenwart, Wiesbaden 2014, 30. 244

245

76 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Tugendethik als Referenzpunkt für ein gemeinsames Leben

werde ich mich allerdings nicht widmen, sondern meine Überle­ gungen hauptsächlich in bildungswissenschaftlicher Absicht fortan präzisieren: Welche moralisch erstrebenswerten und vortrefflichen Haltungen sollten im Menschen für ein gutes Leben und Zusammen­ leben in einer pluralen Gesellschaft ausgebildet werden?248 Welche Art von Mensch sollte jemand sein, um Bedingungen für ein friedli­ ches, respektvolles und gerechtes Miteinander zu setzen? Da es um Bedingungen eines friedvollen Miteinanders und der moralischen Verfassung geht, ist, wie bereits mehrfach erwähnt, nach dem Charak­ ter zu fragen; der Begriff des Charakters soll im Weiteren ebenso definiert werden wie personale Charaktereigenschaften im Sinne von Charaktertugenden. Dieser Fokus auf die Charaktertugenden (aretē ethikê), die einen Menschen befähigen können, auf gesellschaftliche Spannungen adäquat zu reagieren und ein gutes und glückliches Leben mit anderen anzustreben, bildet den Kern der Arbeit. Damit führe ich die These MacIntyres »Die Ausübung der Tugen­ den ist selbst ein entscheidender Bestandteil des guten Lebens für den Menschen«249 in einer anderen Ausrichtung fort. Im Mittelpunkt der Bemühungen von Axel Honneth, Charles Taylor und der Kommu­ nitaristen insgesamt steht die Erkundung der kulturellen »Freiheits­ bedingungen menschlicher Subjekte«250 bzw. der Voraussetzungen einer gelingenden personalen Identität und damit auch der Ermögli­ chungsbedingungen einer gerechten Gesellschaft.251 Mit ihnen sowie auch mit Aristoteles teile ich den Standpunkt, dass nur im Kontext von Gesellschaft und Gemeinschaft, in ihrer Einbettung in Kultur und Vorstellungen über das gute und gerechte Leben Tugenden erworben werden können. »Ein gewisses Maß der moralischen Qualitäten von Gesellschaften steht und fällt mit den Einstellungen und Haltungen der Gesellschaftsmitglieder, nicht zuletzt deren affektiven Möglich­ 248 Diese Frage impliziert zugleich die Antwort darauf, welche Laster man tunlichst vermeiden sollte. 249 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegen­ wart, Frankfurt/New York 2006, 247. 250 Für diese Bezeichnung siehe Axel Honneth, Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptueller Vorschlag. In: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemein­ schaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, 260–270, hier 261. 251 Vgl. Hartmut Rosa, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M. 1998, passim; vgl. Hartmut Rosa/Ulf Bohmann, Die politische Theorie des Kommunitarismus: Charles Taylor, Opladen 22016, 65–102, hier 66.

77 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

keiten.«252 Ein tugendethischer Ansatz fordert eine situations- und kontextbezogene Verhaltensentscheidung ein. Im Vergleich zur deon­ tologischen und teleologischen Ethiktradition setzt das tugendethi­ sche Denken die kritische Abwägung von Grundhaltungen und eine phronetische Ausbalancierung der rechten Mitte von Tugenden in das Zentrum ihres Denkens,253 wodurch Handlungsmöglichkeiten entstehen können. Daraus lässt sich für mich schließen, dass Tugen­ den nicht theoretisch, sondern in intersubjektiven Interaktionspro­ zessen erworben werden können. Ein weiterer Aspekt, der mich womöglich zu dieser Position führt, ist der mystischen Vorstellung und Metaphorik geschuldet, dass Menschen füreinander Schleifsteine darstellen und nur durch die Aneinanderreibung in ihrem Charakter reifen und wachsen können. Damit sei einem möglichen Vorwurf begegnet, ich würde einen egoistischen Ethikansatz zeichnen. Selbst­ werdungsprozesse können kaum in einem Vakuum stattfinden, son­ dern entscheidend in der Beziehung mit anderen, in Anbetracht fremder Interessen. Es bietet sich an dieser Stelle an, den häufig erwähnten formalethischen Einwand gegen die Tugendethik noch aufzuführen und zurückzuweisen, nämlich der Egoismus-Vorwurf, der wie folgt lautet: »Die tugendhafte Akteurin kümmert sich in erster Linie um ihre eigene Tugendhaftigkeit. Das ist falsch, denn im Mittelpunkt ihres Interesses sollte vielmehr stehen, dass sie für ihre Freunde sorgt, dass sie Schulden zurückbezahlt, eine Elternrolle gut ausfüllt.«254

Mit Bernard Williams ließe sich der Einwand jedoch zurückweisen. »Ziel ist das erstrebte Gut bzw. eine Haltung, die dem Streben nach dem erstrebenswerten Gut entspricht, und nicht die Tugendhaftigkeit um ihrer selbst willen.«255 Tugendhaft ist damit derjenige, der sich Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, 104. Vgl. Jean-Pierre Wils, Tugend und Strukturveränderung. In: JCSW, 30 (1989), 35–60, hier 37. 254 Vgl. Christine Swanton, Cultivating Virtue. Two Problems for Virtue Ethics. In: Nancy E. Snow (Hrsg.), Cultivating virtue. Perspectives from Philosophy, Theology, and Psychology, Oxford/New York 2015, 111–134, hier 112; in der Übersetzung nach Jochen Schmidt (Hrsg.)/Idris Nassery, Moralische Vortrefflichkeit in der plu­ ralen Gesellschaft. Tugendethik aus philosophischer, christlicher und muslimischer Perspektive, Paderborn 2016, 7–14, hier 7. 255 Jochen Schmidt/Idris Nassery, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Moralische Vortreff­ lichkeit in der pluralen Gesellschaft. Tugendethik aus philosophischer, christlicher und muslimischer Perspektive, Paderborn 2016, 7–14, hier 8. 252

253

78 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Tugendethik als Referenzpunkt für ein gemeinsames Leben

nach dem richtet, was gut genannt zu werden verdient, und nicht nach seiner eigenen Tugendhaftigkeit. Ein weiterer disparater Vorwand, der den Bedeutungskern der Tugendethik verzerrt, lautet action-guiding-objection, der Handlungs­ orientierungsuntauglichkeitsvorwurf, der besagt, dass Tugendethik der Akteur*in nicht konkret sage, wie zu handeln sei, d. h., sie gebe keine Handlungsorientierung.256 Die Tugendethik lässt sich auch gegen diesen Einwand verteidigen. Nach Robert Solomon bieten keine Theorien der Tugend Algorithmen bzw. Rezepte zum Lösen praktischer Probleme, d. h., Tugenden sind keine Handwerksbeherr­ schung.257 Eine zuletzt zu nennende, prominente Kritik ist der Rich­ tig-aber-nicht-tugendhaft-Vorbehalt, der lautet, dass eine Akteur*in nicht notwendig tugendhaft sei, wenn sie Handlungen vollzieht, die als moralisch präferabel gelten können, weil sie sich die entsprechende Tugend vielleicht nicht angeeignet habe.258 Diese Kritik lässt sich damit relativieren, dass Akteur*innen, die sich im Lernprozess befin­ den und sich Tugenden aneignen, bereits an der Tugendhaftigkeit Anteil haben.259 Insgesamt lässt sich zeigen, dass formalethische Einwände zurückgewiesen werden können.260 Anschließen lässt sich zugleich auch die Zurückweisung eines möglichen Konservatismus­ vorwurfs gegen die Tugend. Der Vorwurf kritisiert, dass Tugenden an sich konservativ seien, weil sie durch Kulturen bzw. Gesellschaften fortlaufend transportiert werden. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass ein Mensch Tugenden, in die er hineinwächst, blind übernimmt und imitiert, sondern der Mensch insoweit kompetent wird, so Annas, dass man die in einer bestimmten Gesellschaft geübten Tugenden zu kritisieren im Stande ist.261 Aspekte bzw. personelle Ausdrucksformen, selbstbezogene Ein­ schätzungen wachsen durch die Austragung von Konflikten und den Umgang mit ihnen, wie durch das Erleben von Schwächen, Ausgren­ zung oder Zustimmung. Im Laufe der Zeit prägen wiederholende Vgl. Julia Annas, Why Virtue Ethics does not have a Problem with Right Action. In: Mark Timmons (ed.), Oxford Studies Normative Ethics, Oxford 2014, 13–33, hier 13, 33. 257 Vgl. David Solomon, Internal Objection to Virtue Ethics. In: Midwest Studies in Philosophy, Vol. 13, 1 (1988), 428–441, hier 432 ff. 258 Vgl. Christine Swanton, Cultivating Virtue, mit Verweis auf Robert N. Johnson, Virtue and Right. In: Ethics, 113 (2003), 810–834. 259 Schmidt/Nassery, Moralische Vortrefflichkeit, (Einleitung) 8. 260 Vgl. ebd., 8. 261 Vgl. Julia Annas, The Morality of Happiness, Oxford 1993, 445 ff. 256

79 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

Verhaltensmuster und die ihnen zugrunde liegenden Eigenschaften und Grundhaltungen die Persönlichkeit. Die Keimzelle der Verbesse­ rung und Kultivierung der Persönlichkeit liegt also in den inneren Kräften, in denen das für die Persönlichkeit Entscheidende, das Wol­ len und Handeln, seinen Sitz hat. Auf den Charakter ist nicht nur von Handlungen zurückzuschließen, es ist ebenfalls nach den seelischen Vorgängen zu fragen, aus denen Handlungen entspringen. Darum ist darzulegen, was unter einem »guten« Charakter zu verstehen ist bzw. welchen Inhalt eine angestrebte Form des Cha­ rakters haben muss, um erstrebenswert zu sein. Wenn ich folglich über die Kultivierung des Charakters spreche, meine ich damit die Ausbildung und Schulung von sicheren, festen Grundhaltungen, d. h. die Ausbildung und Einübung von dauerhaften, guten Dispositionen, die moralisch wünschenswerte Charaktereigenschaften sind. Mithilfe des tugendethischen Ansatzes sollen die Weichen dafür gestellt werden, Formen destruktiven Umgangs in intersubjektiven Bezügen aufzubrechen. Dieses Aufbrechen impliziert auch jenen Habitus im Sinne von Bourdieu, d. h. die Durchbrechung von ver­ knöcherten sozialen Strukturen, die durch einen bewusst oder auch unbewusst praktizierten Kulturchauvinismus im Laufe der Jahre ent­ standen sind.262 Das wären jene Positionen und sozialen Rollen, die gemäß Bourdieu aus dem Zusammenhang zwischen sozialen Prak­ tiken und Lebensstilen im sozialen Raum als angemessen erachtet werden.263 Jeglicher hieraus entstandene Habitus sollte hinsichtlich seiner Tauglichkeit für gutes Leben, für die Verwirklichung der Vielfalt kollektiv-individueller Lebensformen und für eine humane Gesell­ schaft infrage gestellt werden.264 In unseren Haltungen kristallisieren sich unsere Selbstverhält­ nisse und Weltbezüge heraus, respektive kommen sie durch unsere 262 Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, 165 f. 263 Vgl. Albert Scherr, Pierre Bourdieu. La distinction. In: Samuel Salzborn (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. 100 Schlüsselwerke im Portrait, Wiesbaden 22016, 313–316, hier 315. 264 »Soziale Benachteiligung in der kritischen Entwicklungsphase von Kindheit und Jugend prägen sich tief in den Charakter eines Menschen ein. Negative kritische Lebenserfahrungen und das Fehlen von Chancen in einer stressbehafteten Umwelt akzentuieren und verfestigen im weiteren Lebensverlauf zusätzlich bereits entstan­ dene ungünstige charakterliche Dispositionen, statt neue Verhaltensmuster herauszu­ fordern.« Helke Fiebig, Leistungsmotivation bei sozial benachteiligten Jugendlichen im Verlauf eines Computertrainings, Diplomarbeit 2001, 7.

80 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

Haltungen performativ zum Vorschein. Mit Rekurs auf Martin Bubers (Dialog-)Philosophie der reziproken Beziehungsfähigkeit lässt sich umso mehr nach der Kultivierung von angemessenen Grundhaltun­ gen und (Seh-)Gewohnheiten – konkret der Kultivierung der Wahr­ nehmung und personalen Eigenschaften – fragen, wenn sich mensch­ liches Bezogensein durch habituelle Tätigkeiten bestimmen lässt.265 Eine Voraussetzung der Wahrnehmung und möglichen Übernahme der Verantwortung stellt das anfangs erwähnte Bewusstsein dar, sich als Mensch zu verstehen und verhalten zu können.266 Hier lassen sich in Ansätzen ebenfalls Merkmale einer von Emmanuel Lévinas geprägten Ethik finden, in der der Anspruch des anderen eine Größe darstellt, die kritisch auf die eigene Position einzuwirken vermag.267 Die Infragestellung meines Selbst findet nach Lévinas durch die Gegenwart eines anderen statt.268 Ich verstehe folglich die Kultivierung des Charakters insgesamt als einen komplexen Prozess der ethischen Selbstwerdung und dies ist nicht nur eine die Lebensführung betreffende Frage der Philosophie, sondern auch der Theologie. Damit lässt sich ebenso verdeutlichen, dass meine philosophische und (noch folgende) theologische Refe­ renz auf die Tugendethik einerseits ihre Aktualität sowie Relevanz der ethischen Urteilsbildung anzeigt, wodurch sich ein wechselseitiger, bereichernder Dialog über »kulturelle Verwurzelung gesellschaftli­ cher Moralsysteme«269 eröffnen lässt.

3. Educating the whole person – Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ Nikomachische Ethik In der NE stellt Aristoteles seine Tugendlehre in den Kontext der Suche nach dem umfassenden Gut (eudaimonía). Im Ersten Buch der NE erklärt Aristoteles die Grundzüge seiner Konzeption des Siehe NE 1103b 7–30; vgl. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, 8. 266 Vgl. Frauke Kurbacher, Was ist Haltung? http://www.dgphil2008.de/programm /sektionen/abstract/kurbacher.html; letzter Aufruf: 28.11.2017. 267 Vgl. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992, passim. 268 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriori­ tät, Freiburg i.Br. 1987, 51. 269 Vgl. Schmidt/Nassery, Moralische Vortrefflichkeit, (Einleitung) 11. 265

81 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

guten Lebens. Er bestimmt darin die Ausrichtung des menschlichen Strebens auf das höchste Gut (eudaimonia) als letztes Endziel, um des­ sentwillen der Mensch alles andere möchte. Das höchste Gut bezeich­ net Aristoteles als etwas Vollendetes an der Spitze der menschlichen Zielhierarchie. Die philosophische Wortbildung eu-daimonía drückt aus, dass jemand einen guten Daimon hat, das besagt, »dass jemand ein wohlgeratenes, gesegnetes, wunschgemäßes und preisenswertes Leben führt«.270 Das gelingende und prosperierende Leben respektive gute Leben ist folglich das letzte Ziel menschlicher Handlungen. Das gute Leben ist das, was nicht als Mittel zu etwas anderem, sondern als Zweck an sich selbst angestrebt wird. Dieses Gut kann nach Aristote­ les der Mensch durch die Vortrefflichkeit seines Charakters erlangen. »Die Tugend ist also ein Verhalten (eine Haltung) der Entschei­ dung, begründet in der Mitte in Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie sie der Verständige bestimmen würde.«271 Im sechsten Buch der NE konkretisiert Aris­ toteles Tugend als die vernunftgemäße Haltung des Wählens, des Entscheidens.272 Damit meint er das Wählen zwischen zwei extremen Haltungen, Übermaß und Mangel, und benennt sie als Mitte bzw. das Halten der Mitte (mesótes).273 Dieses rechte Maß solle im Handeln gepflegt werden und bringe letztendlich die Tugend hervor.274 Ein Standpunkt zwischen zwei Extremen soll gesucht werden, z. B. die Großzügigkeit als Wert zwischen Verschwendung und Geiz oder die Tapferkeit, die zwischen Tollkühnheit und Feigheit liegt. Tugend ist nach Aristoteles eine vorzügliche und nachhaltige Haltung (hexis), die durch die Vernunft bestimmt wird und die eine Person durch Einübung bzw. Erziehung erwerben kann. Als Tugend­ haft gilt eine Person, die jeweils in einer konkreten Handlungssitua­ tion sich ethisch vortrefflich zu verhalten pflegt, um letztendlich einen Wert zu verwirklichen. »Deswegen heißt tugendhaft zu handeln, auf eine besondere Weise für den moralischen Wert bzw. das Gute als solches motiviert zu sein.«275

Horn, Lebenskunst, 65. NE 1106b36–1107a2. 272 Vgl. NE 1106b, 36. 273 Vgl. NE 1106b 16–1107a 8. 274 Vgl. NE 1106b. 275 Stephan Radić, Die Rehabilitierung der Tugendethik in der zeitgenössischen Philosophie eine notwendige Ergänzung gegenwärtiger Theorie in der Ethik, Berlin 270

271

82 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

Nach Aristoteles können feste Grundhaltungen erworben bzw. kultiviert werden, um ein gutes Leben zu führen. Hierzu gehört auch die Schulung von sinnlichen Eindrücken, Emotionen und Affekten, also die Kultivierung der Sinnlichkeit. Bekanntlich wird der Mensch nicht dafür getadelt, dass er erzürnt ist, wie Aristoteles exemplifiziert, sondern, dass er es auf eine bestimmte Weise tut.276 Wie können nun habituelle Gewohnheiten geändert, wie kann der Mensch sich umdisponieren, wie feste Grundhaltungen erwerben und sie pflegen? Grundhaltungen bauen auf Grundüberzeugen auf, die auf einem Zusammenspiel von Körper, geistigen sowie Eigenschaften und emo­ tionalen Dispositionen basieren. Die »menschliche Lebensform reali­ siert sich, differenziert sich und konkretisiert sich in Haltungen«.277 Eine Grundhaltung ist nicht die strikte Befolgung eines ethischen Prinzips, sondern eine Handlungsdisposition, ein Handlungsvermö­ gen oder eine Handlungskraft, die sich im Laufe des Lebens eines Menschen entwickelt. Eine charakterliche Disposition ist eine feste, gute, personale Grundhaltung, eine Verfassung, aus der ein Mensch auf Menschen und Situationen adäquat reagiert, d. h., eine gute Disposition ist eine wünschenswerte, zur Gewohnheit gewordene personale Einstellung des Einzelnen. Es ließe sich sagen, dass eine Disposition zu einer Anlage geworden ist, wenn ein Mensch aus diesem internalisierten Vermögen heraus gut handelt. Der Prozesscharakter bzw. der Habitualisierungsvorgang, aus dem jene (moralisch guten) Grundhaltungen erwachsen, ist ein ent­ scheidender Gesichtspunkt dieses Kultivierungsprozesses. Denn es geht bei der Habitualisierung um die Ausbildung von Haltungen und zeitgleich um die Schulung des Willens (bzw. Willenshabitus) (sowie der Seelenkräfte)278 mit dem Ziel der Vervollkommnung der eigenen personalen Anlagen. Eine habituelle Internalisierung guter persona­ ler Eigenschaften befähigt den Menschen infolgedessen, in komple­ xen Situationszusammenhängen angemessen zu reagieren und gute 2011, 61. An dieser Stelle zeigt sich mit Blick auf die Tugenden noch einmal die Korrespondenz von Werten und Grundhaltungen. 276 Vgl. NE 1106a. 277 Kurbacher, Was ist Haltung, http://www.dgphil2008.de/fileadmin/dow nload/Sektionsbeitraege/03-2_Kurbacher.pdf; letzter Aufruf 28.11.2017. Für eine Haltungstheorie, die das Verhältnis von Person zu Person als Interpersonalität sowie Interindividualität denkt, siehe Frauke Kurbacher, Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Berlin/Wuppertal 2017. 278 Auf die Seele und ihre genuinen Kräfte werde ich im Weiteren noch vertiefen.

83 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

Handlungen am sichersten aus einer festen Grundhaltung hervorzu­ bringen. Ich habe bereits in einer ersten Begriffsbestimmung den Begriff der Tugend nach Christine Swanton angeführt, die, in Anlehnung an Aristoteles, Tugend als Disposition bestimmt, durch die der Mensch auf Dinge, denen er begegnet, auf die beste Art und Weise zu reagieren im Stande ist.279 »A virtue is a good quality of character, more specif­ ically a disposition to respond to, or acknowledge, items within its field or fields in an excellent or good enough way.«280 Tugendhaft zu sein bedeutet, in konkreten Situationen eine bestimmte Art zu denken, zu fühlen und zu reagieren, was letztendlich ein erfülltes und sinnvolles Leben bedeutet.281 Im Weiteren soll diese Tugendbestimmung vertieft und konkretisiert werden. Allerdings ist eine Tugend nicht einfach eine Disposition: »Der Gebrauch von ‹Disposition› verführt zu dem Mißverständnis, Tugenden seien Gewohnheiten. Im Unterschied zu Gewohnheiten äußern Tugenden sich aber gerade nicht in festgelegten Verhaltenswei­ sen.«282

In der NE werden Dispositionen mit Grundhaltungen, Eigenschaf­ ten und Verhaltensweisen übersetzt.283 So kann es sich bei einer Disposition erst einmal um eine natürliche Anlage oder um eine durch Einübung und Gewohnheit erworbene Anlage handeln.284 Eine feste Haltung (hexis) ist nach Aristoteles (wie auch nach Kant) dem Menschen nicht schon als biologische Anlage mitgegeben, der Mensch ist also nicht durch seine Natur determiniert. Hexis ist eine bestimmte Grundeinstellung, die sich sowohl in Handlungen als auch in Emotionen ausdrücken kann,285 d. h., Haltungen als Emo­ 279 Erinnern möchte ich daran, dass es unterschiedliche Tugendbegriffe und Vorstell­ ungen von Tugenden gibt; für bspw. Homer versetzt eine Tugend den einzelnen in die Lage, seine sozialen Rollen zu erfüllen, für Thomas von Aquin versetzt es den Menschen in die Lage, sich auf das Erreichen des spezifisch menschlichen Telos zuzubewegen. Siehe hierzu Horst Afflerbach/Ralf Kaemper/Volker Kessler, Lust auf gutes Leben: 15 Tugenden neu entdeckt, Gießen 2014. 280 Swanton, Virtue Ethics, 19. 281 Vgl. Radić, Rehabilitierung der Tugendethik, 61. 282 Friedo Ricken, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem ‹Ethischen› ver­ zichten? In: ThPh, 59 (1984), 161–177, hier 165. 283 Vgl. NE 1108b11–13. 284 Vgl. Josef Schuster, Moralisches Können, Würzburg 1997, 7. 285 Vgl. NE 1105b3 ff.

84 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

tionsdispositionen hängen wiederum mit Handlungsdispositionen zusammen.286 Wer bspw. eine großzügige Haltung hat, gibt Geld oder andere Vermögenswerte mit freudiger Unbeschwertheit aus, und nicht nur das Nötigste, sondern sogar mehr.287 Mit Sicherheit handeln Menschen alltäglich auch spontan, intui­ tiv und eben mit Rückgriff auf (bewährte) Gewohnheiten. Eine einma­ lige, spontan getätigte moralisch gute Handlung aus Gewohnheit ist eher als mechanisch zu charakterisieren, da bei ihr blindlings auf kul­ turelle Kodierungen und Konventionen zurückgegriffen wird. Unre­ flektierte Gewohnheiten können eine Absage an die Reflexion des eigenen Tuns sowie eine Ausblendung des Bewusstseins bedeuten.288 Denn eine Tätigkeit, also ein gewöhnliches Tun oder ein moralisch begrüßenswertes Verhalten aus Zufall, ist in diesem Sinne weder eine Hexis im aristotelischen Sinne noch als Tugend bzw. tugendhaft zu charakterisieren. Ebenso wenig, wenn es für den Handelnden selbst gut ist, weil er es für sich so erwogen hat.289 Das Tun aus unreflektier­ ter Gewohnheit ist ein unbedachtes Tun anstelle eines verantworteten und verantwortbaren ethischen Tuns. Aber wenn Gewohnheit durch tugendhaftes Verhalten entwickelt wurde, so können auch die aktu­ ell unreflektierten Folgen einer solchen Gewohnheit als tugendhaft gelten. Eine Handlung gilt dann als tugendhafte Handlung, wenn sie auf einer festen, guten Grundhaltung basiert und aufgrund von wünschenswerten Motiven durchgeführt wird. »Die getanen Dinge werden dann also gerecht und mäßig genannt, wenn sie so beschaffen sind, wie sie der Gerechte und der Mäßige tun würde. Gerecht und mäßig ist aber nicht (schon), wer solche Dinge tut, sondern wer sie außerdem so tut, wie es die Gerechten und Mäßigen tun. Daher wird mit Recht gesagt, dass der Gerechte durch das Tun der gerechten Dinge entsteht und der Mäßige durch das Tun der mäßigen Dinge.«290

Vgl. Eva Weber-Guskar, Haltung als Selbstverhältnis. Am Beispiel der Würde. In: Frauke A. Kurbacher/Philipp Wünschner (Hrsg.), Was ist Haltung? Begriffsbestim­ mung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg 2016, 181–195, hier 186. 287 Ebd., 186. 288 Vgl. Ömer Demir, Din Eğitiminde Alışkanlık Bilinci. In: Sosyal Bilimler EKEV Dergisi, 18, 60 (2014), 73–96, hier 77. 289 Vgl. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 202. 290 NE 1105b 0–10. 286

85 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

Durch Gewöhnung können demnach sowohl Tugenden als auch Untugenden, also Laster, erworben werden. Ein Laster ist letztend­ lich ebenso eine charakterliche Gewohnheit, die im Laufe der Zeit durch ein entsprechendes, sich wiederholendes Handeln erworben worden ist.291 Aristoteles unterscheidet die Tugenden in verstandesmäßige (dianoētikēs), wie Weisheit, Klugheit, Auffassungsvermögen und ethische (ēthikēs) respektive charakterliche Tugenden wie Großzü­ gigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Sanftmut und Gerechtigkeit.292 Während die Verstandestugenden Ergebnisse von Belehrungen sein können, entstehen Tugenden des Charakters nicht durch Lehre und Unterricht. Charaktertugenden können lediglich durch Gewöh­ nung und Einübung ausgebildet und erworben werden, wobei beide Tugend-Kategorien miteinander verwoben sind.293 »Über jene Gewöhnung verwandelt sich die Verstandestugend der praktischen Klugheit, mit ihrer reflektierten Bestimmung der rechten Mitte, in die Charaktertugend des jeweiligen Lebensbereichs, die ab jetzt das richtige Handeln in automatisierter Weise vornimmt.«294

Nach Aristoteles lassen sich Charaktertugenden u. a. an beispielhaf­ ten Vorbildern lernen, die tugendhaft handeln. Das Einüben im Sinne eines blinden Imitationslernens würde jedoch den Selbstwer­ dungsprozess unterminieren, d. h., das Einüben von Tugenden ist kein blindes Imitationslernen und kein Abrichten von Subjekten. Dasselbe ließe sich für ungezügelte Triebe sagen, die sich mit der Zeit verknöchern und zur Gewohnheit werden. Sie gehören dann zum Wesenskern des Charakters, der ab einem gewissen Zeitpunkt wohl schwer veränderbar ist – wenn, dann kaum durch Belehrung. Dies würde wohl nur bei jenen Menschen funktionieren, die gelernt haben, auf sich selbst einzuwirken und ihren Charakter immerfort zu veredeln.295

Vgl. NE 1106b-1107a; 1129b I ff. Vgl. NE 1103a. 293 Vgl. NE 1103a 15. 294 Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 122. 295 Siehe zur Veränderbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen auch im fortgeschritte­ nen Alter bei Jule Specht, Charakterfrage: wer wir sind und wie wir uns verändern, Hamburg 2018. 291

292

86 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

3.1 Charaktertugenden – charakterlich das Beste ausloten Ich verstehe Charakter als einzigartiges und andauerndes Muster von Verhalten, Wahrnehmung und Emotion des Einzelnen, das zu konsis­ tenten Reaktionen in verschiedenen Situationen führt. Es handelt sich also um ein komplexes Gesamtgefüge von gleichbleibenden Eigen­ schaften, Merkmalen, Einstellungen und Handlungskompetenzen im Laufe eines Lebens, das den einzelnen Menschen charakterisiert.296 In Anlehnung an Humboldt ist die Leitfrage zu stellen: Wie zeigt sich eine edle Persönlichkeit?297 Die Schönheit298 im Sinne von Gutheit des menschlichen Charakters ist das, was Aristoteles als aretē (griech. ἀρετή) bezeichnet. Der Besitz der aretē macht die eudaimonia aus und kommt erst dann zustande, wenn der Mensch sein Vernunftver­ mögen richtig einsetzt.299 Die deutschen, veralteten Übersetzungen »Tüchtigkeit« oder »Tauglichkeit« für Tugend klingen, wie ich finde, funktionalistisch, womöglich weil sie sich an der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen Begriffes virtus orientieren, die eine cha­ rakterliche Befähigung bezeichnet und Bedeutungen konnotiert wie »Mannhaftigkeit«, »kriegerische Tüchtigkeit«, »soziale Verdienste« und »Ruhm«.300 Betrachtet man eine breitere Bedeutungsspanne, ist zu erkennen, dass aretē in Verwandtschaft mit agathē steht und das Gutsein des Menschen bezeichnet.301 Damit lässt sich eine gewisse Grundbedeutung destillieren, die der Vorzüglichkeit bzw. Vortrefflichkeit.302 Wenn Tugend als ein Grundbegriff die ethischen Qualitäten des Menschen zum Ausdruck bringt, lässt sich heuristisch formulieren, dass tugendhaftes Handeln vor dem Hintergrund des antiken Verständnisses als eine Erscheinungsart der Schönheit des Vgl. Klaus-Jürgen Tillmann, Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, Hamburg 12 2003, 11; vgl. Uwe Henrik Peters, Charakter. In: Ders. Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, München u. a. 41990, 86. 297 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 1, Stuttgart/Darmstadt 31980, 238. 298 Die Verwendungsbedeutung der Kategorie Schönheit wird im nächsten Kapitel noch expliziert. 299 Vgl. Radić, Rehabilitierung der Tugendethik, 15, 18. 300 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/Boston 2011, 934. 301 Vgl. Radić, Rehabilitierung der Tugendethik, 15. 302 Vgl. Ottfried Höffe, Art. aretē/Tugend. In: Ders. (Hrsg.), Aristoteles Lexikon, Stuttgart 2005, 76–80, hier 76. 296

87 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

menschlichen Charakters bzw. ein Ausdruck des guten Charakters zu verstehen ist.

Kurzer Exkurs: Aristoteles’ Seelenvorstellung In Aristoteles’ Vorstellung bildet die Seele (psychē), das Lebensprinzip aller Lebewesen, unterschiedliche Vermögen (dynameis) aus. Die Seele ist das aktive Korrelat des passiven Körpers, die ihn zur Bewe­ gung bringt.303 »Wir sagen nämlich von der Seele, dass sie Schmerzen empfindet, sich freut, mutig ist, sich fürchtet, ferner sich erzürnt, wahrnimmt und denkt; alle diese scheinen aber Bewegungen zu sein. Daher könnte man glauben, dass sie auch selbst bewegt werde.«304

Aristoteles weist der Seele eine Reihe von Funktionen zu. Sie ist der Ort der Begierden und Antriebe sowie das Steuerzentrum für Wachstum, Ernährung und Fortpflanzung.305 Anders als bei Platon, der über voneinander getrennte Seelen­ teile bzw. -kräfte spricht306, in der die Tugenden die Harmonie der Seelenkräfte sichern307, hat auch Aristoteles zwar eine einheitsbil­ dende, dreigliedrige Teilung, jedoch sind mit Blick auf die Tugenden zwei Seelenvermögen entscheidend: das Strebevermögen und das Erkenntnisvermögen.308 Da die muslimischen Philosoph*innen und Mystiker*innen in ihren tugendethischen Überlegungen den Aspekt der Seele stark betonen, seien in diesem Zusammenhang einige Akzente über die aristotelische Seelenvorstellung genannt. Ein Ver­ mögen bezieht sich auf das denkend-vernünftige (to dianoêtikon) Vermögen, also die Vernunft selbst, das Denken und Urteilen möglich

Vgl. Cathrine Newmark, Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg 2008, 37. Siehe Näheres über die Bewegungstheorie bei Aristoteles in De anima. 304 Aristoteles, De anima, I, 4, 208 b 1–4. 305 Vgl. Christoph Horn, Philosophie der Antike. Von den Vorsokratikern bis Augus­ tinus, München 2013, 60. 306 Vgl. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 117. Siehe Näheres über die Seele und ihre Vermögen in De anima, »Über die Seele« von Aristoteles, das zu den meistdiskutierten Texten der Philosophiegeschichte gehört. 307 Vgl. Radić, Rehabilitierung der Tugendethik, 15. 308 Vgl. NE I, 13; II 1–6; VI 5. 303

88 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

macht, und auf das sinnlich-strebende (to aisthêtikon, das Wahrneh­ mende) Vermögen. Dem vernünftigen Teil der Seele gehören Triebe, Emotionen und Begierden an und personale Tugenden werden ihr zugesprochen. Das dritte Vermögen ist kein Tugendträger. Der Ver­ nunft entsprechen die dianoetischen Tugenden, der Wahrnehmung entsprechen die Charaktertugenden. Da die menschliche Seele nicht allein von Vernunft geprägt ist, sondern auch einen emotionalen Bereich hat, müsse der vernünftige Teil die Kontrolle über den nichtvernünftigen Teil der Seele gewinnen und den Widerstreit der beiden Teile organisieren, um moralische Vortrefflichkeit zu erreichen. Diese Möglichkeit der Vervollkommnung und Höherentwicklung der Seele zeichne insbesondere den Menschen aus.309 Das Streben nach Selbstveredelung bedeutet gleichzeitig die Vervollkommnung des Seelenvermögens. So gehört zur Selbstbe­ herrschung und Selbsterkenntnis eine rechte Selbsteinschätzung und dies bedarf einer bewussten Wahrnehmung eigener Gefühle, Antriebskräfte, Neigungen und Affekte. Selbstbezogene Einschätzun­ gen wachsen durch das Austragen von Konflikten und den reflexi­ ven Umgang mit ihnen sowie durch das Erleben von Schwächen, Ausgrenzungen und auch von äußerlichen Zustimmungen; bspw. kategorisiere ich Sturheit als Charaktereigenschaft, der ein Denken und Handeln in dickköpfiger Weise innewohnt, dem eine gewisse Disposition zugrunde liegen müsste, die sich im Laufe der Zeit ent­ wickelt und gefestigt hat, aber durch Reflexion und Umdisponierung verändert werden kann.310 In der aristotelischen Tugendethik gilt es, ebenfalls über diese personalen Eigenschaften zu reflektieren und einen bewussten Umgang mit ihnen zu erlernen.311 Eine Charaktertugend kann sich nach Aristoteles mit dem Einsatz von Klugheit sukzessive entwickeln, v. a. wenn die Klugheit sich am höchsten Gut moralisch orientiert. Die Klugheit als Verstandestu­ gend des denkend-vernünftigen Seelenvermögens bildet die Quelle

Vgl. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 117 f. Vgl. Christian Miller/Angela Knobel, Some Foundational Questions in Philoso­ phy about Character. In: Ders./R. Michael Furr/dies./William Fleeson (ed.), Charac­ ter. New directions from philosophy, psychology, and theology, Oxford 2015, 19–40, hier 21. 311 Vgl. NE 1108a 30–35. 309

310

89 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

aller Moralität.312 Verfehlt die Klugheit die rechte Mitte, kann durch Gewöhnung eine schlechte Grundhaltung entstehen.313 Es lässt sich konstatieren: Eine Tugend kann erst nach einem lan­ gen Gewöhnungsprozess fest ausgeprägt werden. Der Gewöhnung zum Erwerb einer Haltung ist hierbei eine praktische, performative Umsetzung und Einübung vorangegangen. Das theoretische Wissen um gute Haltungen oder um das Gute allein reicht nicht aus, um als tugendhaft zu gelten, auch wenn es der erste Schritt in diese Richtung ist. Erst wenn die Handlungsdisposition zu einem festen Bestandteil des Charakters geworden ist, sich also als Charaktereigen­ schaft verfestigt hat, kann von tugendhaftem Handeln gesprochen werden. Wer aus Überzeugung tugendhaft lebt, hat die Tugenden beständig eingeübt. Dieses Einüben führt zur Entstehung von festen Grundhaltungen und prägt den Charakter eines Menschen, d. h., unter Kultivierung des Charakters ist folglich die Aneignung von Handlungsdispositionen und das Handeln nach ihnen zu verstehen. Charakterliche Eigenschaften haben ihren Sitz im Seelenvermögen und sind folglich veränderbar. »Charakter meint den Menschen als personales Gesamtkunst­ werk, das eine bestimmte ästhetische Anmutung hat wie die geprägte (!) Münze.«314 Im Laufe der Zeit prägen sich wiederholende Verhal­ tensmuster und Eigenschaften tief in den Charakter ein. Haltungen resultieren damit aus bestimmten Charakterstrukturen und umge­ kehrt verweisen Tugenden auf die Charaktereigenschaften eines han­ delnden Menschen.

3.2 Der Deliberationsprozess als Bedingung der Selbsterkenntnis Ein tugendethisches Handeln ist nach Swanton ein Handeln, das dem Menschen abverlangt, eine Situation hinreichend zu beurteilen und abzuschätzen. Moralisches Urteilen bedarf also deliberativer Abwägung. Für die Habitualisierung einer Disposition bedarf es der Gewöhnung, eine Situation sachgemäß abzuwägen und zu taxieren. Deliberation fußt, mit Hannah Arendt gesprochen, auf der Fähigkeit, 312 313 314

Vgl. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 122. Vgl. NE 1106b-1107a 10. Jochen Schmidt, Unveröffentlichtes Manuskript: Glaube und Charakter (2016).

90 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

zu denken.315 Denken ist das bewusste Wahrnehmen seiner Selbst und der Welt. Demnach ist Denken im Sinne von Deliberation ein »innerer Dialog«.316 Kant weist auf eine sehr brenzlige Gefahr hin: »Man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.«317 Damit der Mensch nicht dem toten Winkeln der Selbstwahrnehmung allzu verhaftet bleibt, scheint die Existenz eines Gegenübers hierfür sehr günstig zu sein und sich anzubieten. Insgesamt verdeutlicht sich erneut, dass die Welt, die Gesellschaft und andere, also das soziale Miteinander der richtige Lernort ethischer Abwägungen sind, wohingegen ethische Prinzipien als sekundär gel­ ten können. Die Deliberation ist, wie ich finde, die entscheidende Grundlage des moralischen Urteilens. Die adäquate Reaktion auf eine Situation kann als tugendhaft gelten, wenn sie die rechte Mitte zwischen Spontanität und überlegter Entscheidung findet, denn wenn die Tugend reine Spontanität wäre, würde das kritische Verhalten der Person fehlen. Die Reflexivität ist eine verbindliche Prämisse der Deliberation. Ich verstehe, wie wohl alle Tugendethiker*innen, die Mitte von zwei Extremen, die das Wesen (ousia) einer Tugend ausmacht, als die einer Situation angemessene und rechte Haltung. In ihrer Performanz bezweckt sie als moralisch begrüßenswerte Handlung das Gute für den Menschen. Diesen Habitus der Entscheidung trennt Aristoteles von der Begierde. Bei der Entscheidung handelt es sich um ein Bestreben, bei dem der Mensch ein Ziel vor Augen hat, das ihn motiviert bzw. bewegt, diese oder jene Entscheidung zu treffen. Zur bisherigen Tugendbe­ stimmung ist folglich zu ergänzen, dass Tugend eine Disposition zum Handeln aus der rechten Mitte wie auch Einsicht ist.318 Begierden wie Leidenschaften sind unter Maßgabe der Vernunft zu zügeln. Einen rechten Umgang mit Begierden nennt Aristoteles Mäßigkeit.

315 Vgl. Hannah Arendt, Das Denken. In: Dies., Vom Leben des Geistes, München/ Zürich 1998, 82. 316 Die Bezeichnung des inneren Dialogs verwende ich im Sinne Arendts; vgl. Arendt, Das Denken, 191. 317 Kant, RGV AA VI, 68, Bettina Stangneth (Hrsg.), Hamburg 2003, 88. 318 Vgl. NE 1144b 25.

91 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

3.3 Prosperieren für ein gelungenes Leben In ihrer Tugenddefinition lehnt sich Swanton an die englische Tugen­ dethikerin Rosalind Hursthouse an und schreibt: »A virtue is a char­ acter trait that a human being needs for eudaimonia, to flourish or live well.«319 Flourish/flourishing im Sinne von Gedeihen, Blühen oder Prosperieren bedeutet einerseits die Entfaltung persönlicher Eigenschaften, um das höchste Gut zu erreichen, und andererseits verdeutlicht es den Prozesscharakter der Übung einer Disposition. Ein sowohl moralisch gut geführtes als auch glückliches Leben im Sinne eines subjektiv wohlgeratenen Lebens zeugen von einem best­ möglichen Charakter einer Person. Wenn die Person in ihrem Tun und Sprechen so disponiert ist, das Gute zu erreichen und anzustreben, dann befindet sie sich auf dem Weg, ihren ergon zu erfüllen, ergon verstanden als die charakteristische Leistung eines Menschen.320 Das bedeutet zugleich, dass sich eine Vielzahl möglicher Handlungswei­ sen ergibt, wenn eine Person tugendhaft handeln möchte. Eine gute Person zeichnet sich dann darin aus, dass sie in entsprechenden Fällen anwendungsbezogen richtig urteilt, also erkannt hat, was situations­ spezifisch wahrhaft gut ist, und dementsprechend handelt.321 Dies vergleicht Aristoteles mit dem gesunden Menschen, der Maßstab dafür ist, was gesund ist,322 denn ein gesunder Körper zeigt, was wahrhaft gesund ist. »Damit ist einerseits ein objektiver Maßstab etabliert, anhand dessen sich beurteilen lässt, was das wahrhaft Gute ist; andererseits bleibt der Fall möglich, dass jemand etwas anderes als das wahrhaft Gute wünscht, und zwar wenn seine Seele sich nicht im optimalen Zustand, d. h. im Zustand des guten Menschen befindet.«323

Das Gutsein kann der Mensch erreichen, wenn er vernünftig ist. Diese Vernunftfähigkeit unterscheidet einen Menschen von anderen Lebewesen und verleiht ihm auch eine gewisse Verantwortung für sich und andere. Der Mensch gelangt also zur Vollkommenheit, zu seinem Gutsein, wenn er dem Mensch-Sein gerecht wird. Die Swanton, Virtue Ethics, 167. Vgl. Höffe, Art. aretē/Tugend, Aristoteles Lexikon, 77. 321 Vgl. NE 1113a 29–30. 322 Vgl. Béatrice Lienemann, Aristoteles’ Konzeption der Zurechnung, Berlin 2018, 321. 323 Ebd., 321.

319

320

92 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

menschliche aretē, das Gutsein, besteht damit in seinem ergon, d. h. in seinem Vernunftvermögen bzw. Vernunfttätigkeit. »Da für ihn nur das Vernunftgemäße angenehm ist, kann es für ihn niemals eine Motivation geben, das Glück in einer nicht vernunftgemäßen Lust zu suchen.«324 Indem der Mensch die Mitte findet, findet er den Weg zum moralisch und für ihn selbst besten Ergebnis. In einer angemessenen Weise des bspw. Empört-Seins verfolgt der Mensch in einer stimmigen Intensität das Gerechte und Gute für alle Beteiligten. Damit versucht die Tugendethik, normative Maßstäbe mit Eigeninteressen zu versöhnen und darzustellen, wie der Mensch durch Tugendhaftigkeit ein moralisch gutes und glückliches Leben führen kann. Die Tugend wird nicht deswegen verfolgt, damit der Mensch tugendhaft ist, sondern wegen der Werte und Güter, die in der Tugend verwirklicht werden. Dies hat nach Aristoteles zur Folge, dass der Mensch seine eigenen Kapazitäten in bestmöglicher Weise lebt und damit letztlich eudaimonia erreicht. Für Aristoteles scheint das tugendhafte Leben zugleich auch ein glückseliges Leben zu sein, v. a. wenn die seelische Verfassung des Menschen in einem Gleichgewicht steht.325 Denn das wahrhaft Gute ist, so Aristoteles, das Glück der Menschen. Für ihn stellt Glück das höchste Strebensziel dar, wenngleich die inhaltliche Bestimmung variiert.326 »Darüber jedoch, was das Glück ist, besteht Uneinigkeit und die Leute aus der Menge geben nicht dieselbe Antwort wie die Gebildeten.«327 Auch wenn »Glück« als eine Übersetzung für eudai­ monia verwendet wird, darf »Glück« womöglich nicht in unserem neuzeitlichen Verständnis verstanden werden. Das Glücksempfinden ist sehr subjektiv und Menschen haben unterschiedliche Vorstell­ ungen davon, was Glück ist.328 »That term [eudaimonia, Vf.] is usually translated ›happiness‹, but what it refers to in the hands of these philosophers is not the same as modern conceptions of happiness. For one thing, it makes sense now to

324 Friedo Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976, 99. 325 Vgl. NE 1177a; vgl. Christoph Horn, Antike Lebenskunst, 73. 326 Vgl. Horn, Lebenskunst, 64. 327 NE 1095a 20–22. 328 Siehe hierzu Philipp Brüllmann, Die Theorie des Guten in Aristoteles’ Nikomachi­ scher Ethik, Berlin/New York 2011.

93 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

say that you are happy one day, unhappy another, but Eudaimonia was a matter of the shape of one’s whole life.«329

Bedeutet der antike Begriff tatsächlich mehr als nur episodische Augenblicke von Hochgefühlen, nämlich das Glück, das aus der moralischen Vortrefflichkeit erwächst. Tugendhafte Verhaltensweisen bzw. Handlungen bringen folglich die Erscheinungsform des Glücks zum Vorschein.330 Für meinen Fokus ist die Verbindung einer tugendhaften Haltung mit dem Glück unerheblich. Da Aristoteles selbst problematisiert, wie unbestimmt die Vorstellung von eudaimonia ist, möchte ich an der Orientierung am Guten festhalten. Eine Tugend ist also eine gefestigte, gute Grundhaltung, die es dem Menschen ermöglicht, in einer Situation mittels der Vernunft und mit rechter Einsicht, die im Zusammenwirken von Einfühlungs-, Beobachtungs- sowie Abwägungsvermögen und Selbstreflexion entsteht, konstruktiv und adäquat zu handeln, also ein guter Mensch zu werden und zu sein. Moralisches Urteilen ist folglich bedingt durch bzw. bedarf der Verge­ wisserung des Guten in deliberativer Abwägung. Aristoteles zählt nicht nur äußere Güter, sondern auch günstige äußere Umstände zu den relevanten Glücksfaktoren. Zwar sind diese nicht hinreichend für die Glückseligkeit, ihr Fehlen schließt aber aus, dass jemand glücklich genannt werde; sie sind mithin glücksfördernd. An dieser Stelle ist mit Aristoteles zu bejahen, dass viele Menschen nicht allein durch charakterliche Beschaffenheit glücklich sind, son­ dern hierfür auch weitere Glücksfaktoren notwendig sind.331 In der Persönlichkeit gibt es Kräfte, die Teil des Deliberations­ prozesses sind und die die Disponierung zum Guten oftmals stören können. Innere Widerstände bzw. Motive wie Unlust können die Ein­ übung von Charaktertugenden aufhalten und erschweren. »Dadurch, dass wir uns der Lust enthalten, werden wir maßvoll, und wenn wir es geworden sind, sind wir am besten in der Lage, uns ihrer zu enthalten.«332 Ferner führt Aristoteles weiter: »Aufgrund der Lust tun wir das Schlechte, aufgrund der Unlust aber unterlassen wir das Gute

Bernard Williams, Ethics and the limits of philosophy, Cambridge 71994, 34. Vgl. Max Klopfer, Ethik-Klassiker von Platon bis John Stuart Mill. Ein Lehr- und Studienbuch, Stuttgart 2008, 143. 331 Vgl. NE 1096a 5–7. 332 NE 1104a-1104b. 329

330

94 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

(kalon).«333 Daher schließt sich Aristoteles Platon in dem Punkt an, dass der Mensch schon in der Kindheit angeleitet werden sollte, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, was Erziehende stärken oder schwächen wollen, denn das sei die rechte Erziehung.334

2.4 Gefühle als relevante Dispositionen moralischer Vortrefflichkeit Der Tugendethik, die ein gelungenes und zugleich als glücklich anzu­ sehendes Leben als Ziel hat, ist die Frage zu stellen, inwieweit Gefühle einer erfolgreichen Lebensführung zu- bzw. abträglich sind. Denn in der fokussierten Betrachtung der moralischen Verfasstheit einer Per­ son und der Veränderung der Persönlichkeit nehmen Gefühle einen wesentlichen Platz ein. Zur conditio humana gehören Gefühle, da der Mensch nicht nur ein kognitives und rationales, sondern ebenso ein emotionales Lebewesen ist. Denken, Fühlen und Handeln sind mit­ einander verwoben und beziehen sich aufeinander. Seit Hume kann diese starke Dependenz zwischen der Vernunft und Gefühlen nicht geleugnet werden.335 Eine personenzentrierte Ethik stellt die ganze Person in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, worin die Gefühle als eine motivationale Kraft moralischen Seins und Handelns eine ent­ scheidende Rolle spielen.336 Seit der Antike sind Emotionen, Affekte und Gefühle bekannte mentale Phänomene und psychische Erregun­ gen,337 die allesamt mit demselben Begriff bezeichnet werden: pathos (griech. Gefühl oder lat. affectus).338 Wenngleich Aristoteles keine eigene Schrift explizit über die Gefühle verfasst hat, hat die Frage nach einer aristotelischen Emotionstheorie eine lange Tradition.339 Nach Michael Krewet ist in Anlehnung an unterschiedliche Werke NE 1104b 10. Vgl. NE 1104b 10–15. 335 Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature (1739–40), Oxford 1978, 153. 336 Vgl. Fenner, Ethik, 232. 337 Da in der Antike, anders als in der heutigen Terminologie, nicht zwischen Affekt, Gefühl und Emotion differenziert wird, benutze ich alle drei Synonym. 338 Vgl. Marcel Humar, Antike Emotionstheorien. Philosophische Erklärungen von Emotionen im Kontext der Eudaimonie. In: Hermann Kappelhoff/Jan-Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt (Hrsg.)Emotion. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2019, 3–20, hier 3. 339 Vgl. Humar, Antike Emotionstheorien, 5. 333

334

95 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

bei Aristoteles durchaus eine Gefühlslehre erkennbar.340 In De anima sowie in der NE gibt Aristoteles Gefühle als Teil des seelischen Strebevermögens an.341 Auch wenn Aristoteles keine Definitionen im engeren Sinne leistet, enthält die NE die längste beschreibende Aufzählung folgender Emotionen: Begierde, Furcht, Zorn, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifer und Mitleid.342 Da es Aristoteles in der Ethik darum geht, das Gute zu tun, also ein moralisch guter Mensch zu werden343, macht er gleichsam deutlich, dass das Handeln primär affektiv oder emotional motiviert wird.344 Das bloße Besitzen von Gefühlen macht für Aristoteles eine Person jedoch noch nicht moralisch gut, solange diese Gefühle nicht verbunden sind mit Handlungen oder Überlegungen.345 Die Tugendhaftigkeit kann prinzipiell in Gefühlen bestehen. Ein Gefühl ist erst dann die Disposition dazu, situationsspezifisch im Anschluss an richtige Deliberation im richtigen Maße zu fühlen. Eine Person in diesem beschriebenen Zustand könnte theoretisch ihre Gefühle und ihre Repräsentanz kontrollieren und regulieren. Emotionale Präsenta­ tion wird über die Prüfung ihrer Situationsangemessenheit getroffen und kann moralisch bewertet werden, da es der Mensch in der Hand hat, seinen Gefühlen eine Stimme und Erscheinungsform zu geben, sie zu steuern, zu entschärfen oder zu verschärfen. Beispielsweise sind Schüchternheit, Eifersucht, Verschämtheit Dispositionen dazu, diese auf bestimmte Art zu empfinden, da sie individuelle Erscheinungsfor­ men und Ausprägungen, wie Erhöhung des Herzschlages, Grad und Ort des Errötens oder Tonqualität, annehmen können, d. h., Gefühle gehen mit körperlichen Veränderungen einher. Wenn eine Person vor Menschen ungern spricht oder exponiert ist, wirkt ihre Disposition, etwas unangenehm zu finden. In diesem Fall hat sich Schüchternheit mit der Gewohnheit zu einer Disposition 340 Siehe Näheres hierzu Siehe hierzu Michael Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg 2011. 341 In Buch II von De anima bezeichnet er das Strebevermögen, die die Seele in Bewegung hält, als dreiteilig in Begierde, Zorn und Wollen. Vgl. Aristoteles, De anima, II, 3, 414 b 1. 342 Vgl. NE II, 1105 b 21–24. 343 Vgl. NE 1103b 27. 344 Vgl. Notker Schneider, Vernunft und Gefühl. In: IZPP. Ausgabe 1/2018. Themen­ schwerpunkt »Gefühl und Vernunft«, 1–11, hier 4. 345 Vgl. Verena Mayer, Die Moralität der Gefühle, Berlin/Boston 2002, 128; vgl. Rosalind Hursthouse, Virtue Ethics and the Emotions. In: Daniel Statman (ed.), Virtue Ethics: A critical Reader, Washington 1997, 99–117.

96 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

entwickelt, in bestimmten Situationen schüchtern zu reagieren. Aber Schüchternheit ist ja grundsätzlich nichts Schlimmes. Schüchternheit ist die Furcht, kompromittiert zu werden.346 Sie ist eine charakterliche Disposition respektive erst dann eine Tugend, wenn ein Mensch in einer Situation im richtigen Maße schüchtern ist. Das bedeutet, kognitive Denk- und Entscheidungsprozesse sind durch Emotionen beeinflussbar und v. a. aber sind »nach Aristoteles die Gefühle kog­ nitiv vermittelt«.347 Diese These wurde in der Literatur weitergeführt und viele vertreten die Ansicht, dass nach Aristoteles Gefühle nicht nur Urteile voraussetzen, sondern dass Überzeugungen die Bedin­ gungen für das Entstehen von Gefühlen sind.348 Emotionen können das Denken unterstützen und lenken, ins­ besondere wenn es um persönliche und soziale Angelegenheiten geht.349 Aber auch umgekehrt kann ein Verhalten Emotionen auslö­ sen, wie Singen oder Tanzen bei Menschen Freude hervorruft, oder ein bestimmter »Trigger« provoziert vergangene Erfahrungen und Gefühle und versetzt einen Menschen in eine emotional instabile Situation, bspw. Trauer. Gefühle stellen eine Basis zwischenmenschlicher Beziehungen dar. Die kognitive Verhaltenstherapie bspw. geht davon aus, dass Menschen nicht durch etwas selbst affiziert Gefühle zeigen, sondern aufgrund ihrer subjektiven Einstellung und Interpretation gegenüber der Person, Sache oder/und Situation.350 Angenommen, jemand wird zornig: Ein gewisses Übel muss bereits fühlend erfasst sein, damit der Zorn erregt werden kann. Erst nachträglich richtet sich der Zorn auf einen Gegenstand, eine Gegebenheit oder Person.351 »Indem wir – in einer ungeheuren Mannigfaltigkeit von Reaktionswei­ sen – verschiedenste Gefühle wie Liebe, Hass, Scham, Schuld, Peinlich­ keit, Vergnügtheit, Gelassenheit, Melancholie, Heiterkeit, Stolz etc. Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik, Berlin 2017, 128. Humar, Antike Emotionstheorien, 5. 348 Vgl. Martha Nussbaum, Aristotle on emotion and rational persuasion. In: Amélie Oksenberg Rorty (ed.), Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley 1996, 303–323, hier 309–312. 349 Vgl. Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl: Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017, Teil II, Abschnitt 8, passim. 350 Bärbel Ekert/Christiane Ekert, Psychologie für Pflegeberufe, Stuttgart/New York 3 2014, 166. 351 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern 41954, 270. 346 347

97 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

leben – geben wir damit uns und anderen zu verstehen, in welcher spezifischen Position wir uns selbst jeweils zu bestimmten Objekten sehen und wie wir diese Objekte selbst und unsere Beziehung zu ihnen bewerten.«352

Gefühle können allerdings genauso wie Handlungen reflektiert und gegebenenfalls geändert werden. Hierzu bedarf es in erster Linie des Vermögens der Introspektion. Denn der Mensch hat die Wahl zu entscheiden, wie er sich fühlen möchte. Bekanntlich sind Gefühle durch Bilder, Vorstellungen und Gedanken beeinflussbar sowie erzeugbar,353 bspw. kann das Gefühl Ärger in Gelassenheit verwandelt werden, indem sowohl personale als auch physische oder eine Neuinterpretation der Situation (z. B. durch Reframing354) mental wahrgenommen werden. Die aristotelische Tugendethik impliziert mit Blick auf eine umfassende Deliberation der eigenen moralischen Verfassung sowie der jeweiligen Situation auch die Gefühle. Zur Wahrnehmung der eigenen Verfasstheit gehört ebenfalls eine emo­ tionale Selbstreflexion, d. h. ein Reflexionsprozess der emotionalen Disponiertheit.355 Denn zu dieser praktischen Deliberation gehören nach Aristoteles eine weitreichende Wahrnehmung, Gewichtung und ein rechtes Einschätzen der einzelnen Aspekte.356 Eine Tugend ist dann vielmehr die Grundhaltung, aus der heraus eine Person moralische Gefühle im angemessenen Maße hat. Das angemessene Maß bzw. die Ausgewogenheit der emotio­ 352 Micha Brumlik, Ethische Gefühle: Liebe, Sorge und Achtung. In: Vera Moser/Inga Pinhard (Hrsg.), Care – Wer sorgt für wen? Opladen/Farmington Hills 2010, 29–46, hier 36. 353 Vgl. Udo Baer/Gabriele Frick-Baer, Das ABS der Gefühle, Weinheim 2008, 105 ff.; vgl. Claus Haring, Hypnose und Autogenes Training. In: Hans-Jürgen Möller (Hrsg.), Therapie psychischer Erkrankungen, New York/Stuttgart 32006, 23–30, hier 24; vgl. Aristoteles, De motu animalium, VII, 701b19–22. 354 Die Bedeutung, die ein Ereignis, eine Aussage, ein Verhalten, ein Glaubenssatz, ein Auslöser oder ein Reiz hat, hängt vom Kontext bzw. vom Rahmen (engl. frame) ab, in den es eine Person hineinstellen. Reframing bedeutet, einen neuen Rahmen zu konstruieren und damit der Sache eine neue Bedeutung zu geben. Siehe Näheres bei Hans J. Markowitsch/Margit M. Schreier (Hrsg.), Reframing der Bedürfnisse: psychische Neuroimplantate, Wiesbaden 2019. 355 Emotionale Selbstreflexion genießt in aktuellen Kompetenzdiskursen und domi­ nanten Bildungsverständnissen einen sehr hohen Stellenwert. Siehe hierzu Bernhard Sieland/ Tobias Rahm, Personale Kompetenzen entwickeln. In: Thomas Fleischer (Hrsg.), Handbuch Schulpsychologie: Psychologie für die Schule, Stuttgart 2007, 197–210, hier 207. 356 Vgl. Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, 104.

98 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

nalen Reaktion wird durch die mesotes-Lehre bestimmt und soll das Entstehen von exzessiven Gefühlen, die ein vernünftiges Maß überschreiten, unterbinden. »Es wird aber auch noch Folgendes klar, wenn wir betrachten, wie die Natur dieser Tugend ist. In jedem teilbaren Kontinuum gibt es ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches, und dies sowohl an und für sich wie auch im Bezug auf uns. Das Gleiche ist die Mitte zwischen Übermaß und Mangel. […] Die Mitte in Bezug auf uns ist das, was weder Übermaß noch Mangel ist.«357

Die Mitte in Bezug auf uns zu finden erfordert eine besondere Kunst bzw. Tugend, d. h., beim Ausführen der Tugend bedarf es einer künstlerisch erübten Fertigkeit. »[… dasselbe gilt für Laufen oder Ringen]. So wird der Fachmann Übermaß und Mangel meiden und die Mitte suchen und wählen, die Mitte aber nicht der Sache nach, sondern in Bezug auf uns. […] So wird die Tugend eine die Mitte erstrebende Kunst sein. Ich meine dabei die ethische Tugend.«358

Bei der Tugend gehe es um ein Ausdrücken von Emotionen und um ein Handeln auf diese hin. Die Tugend ist dann die Mitte zwischen zu stark und zu wenig ausgeprägten Gefühlen. Es ist jedoch nicht allein eine Mitte zwischen zwei Extremen auf der Skala von Intensi­ täten desselben Gefühls, sondern auch eine Mitte z. B. zwischen zu weiten oder zu engen Extensionen eines Gefühls.359 Beispielsweise ist die Tugend der Tapferkeit eine bestimmte Art des Umgangs mit Furcht vor gefährlichen Situationen.360 Der Mensch bedarf hierzu der Ausbildung einer gewissen Wahrnehmungsfähigkeit, die im Zusammenspiel mit der Klugheit (phronesis) steht, moralische Regeln situationsgemäß anzuwenden oder in richtigem Maß emotional zu reagieren bzw. zu handeln. Unangemessene Gefühle können eine Person gegebenenfalls von einem tugendhaften Handeln ablenken. Die Beurteilung einer Emotion und ihres Wirkens bezieht deswe­ gen Aristoteles auf den Erwerb der Klugheit. Schließlich geht es beim moralischen Sehenlernen nicht nur um die Wahrnehmung

357 358 359 360

NE 1106a; vgl. NE II 5, 1106b18–23. NE 1106b. Vgl. NE 1108b. Vgl. Christof Rapp, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 42011, 26.

99 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

von Lebensumständen, sondern um die Entwicklung multiperspekti­ vischer Wahrnehmungskompetenz. »So kann man mehr oder weniger Angst empfinden oder Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und überhaupt Freude und Schmerz, und beides auf eine unrichtige Art; dagegen es zu tun, wann man soll und in welchen Lagen man es soll und wem gegenüber und wozu und wie, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Tugend. Ebenso gibt es auch bei den Handlungen Übermaß, Mangel und Mitte. Denn die Tugend betrifft die Leidenschaften und Handlungen, bei welchen das Übermaß ein Fehler ist und der Mangel tadelnswert, die Mitte aber richtig und gelobt wird. Diese beiden Dinge gehören eben der Tugend.«361

Tugend ist die Fähigkeit, richtig zu handeln und zugleich richtig gegenüber Gegebenheiten, Personen und Dingen in der Welt zu fühlen. Aristoteles lehnt deshalb das Empfinden von Gefühlen nicht ab, sondern favorisiert einen angemessenen Umgang mit ihnen. Emo­ tionen sind bekanntlich sehr individuell, weil sie von der personalen Disposition abhängen.362 Jene Person, die eine richtige Meinung über einen Sachverhalt hat, kann angemessen fühlen (»kultiviertes Gefühl«363). »Nur derjenige, der in der Lage ist, seine Affekte ange­ messen zu kontrollieren und in angemessenen Situationen zu entwi­ ckeln, kann erkennen, wie er sich in der jeweiligen Situation richtig verhalten soll.«364 Damit nehmen Gefühle einen wichtigen Platz in der Kultivierung des Selbst ein.

3.5 Die Kultivierung des Charakters In Korrespondenz zum Dispositionsbegriff zeichnet sich ein Cha­ rakter darin aus, dass ein Mensch eine grundsätzliche Verfassung hat, in einer bestimmten Situation der Handlungsentscheidung das Adäquate in einer bestimmten Weise zu wählen.365 Durch häufiges, NE 1106b. Vgl. Christof Rapp, Aristoteles. Bausteine für eine Theorie der Emotionen. In: Ursula Renz/Hilge Landweer (Hrsg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin/New York 2008, 45–68, hier 61. 363 Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle, 176. 364 Vgl. Humar, Antike Emotionstheorien, 7; vgl. u. a. NE VI 5, 1140b11–20; NE VI 10, 1142b33; NE VI 13, 1144a29–b1. 365 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993, 104 f. 361

362

100 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

wiederholtes Tun entsteht eine Befähigung bzw. eine Qualifizierung, d. h., durch Gewöhnung entsteht eine Charaktereigenschaft, ein Habitus der emotionalen Eigenschaften und kognitiven Potenziale. Orientiert sich eine Charaktereigenschaft am sittlich gut Erkannten, handelt es sich um eine Tugend. Dies ist nach Erich Fromm weder durch Zwang noch Zufall möglich, sondern lediglich durch Freiheit und freien Willen.366 Denn eine Wahlfreiheit bzw. Entscheidungsfrei­ heit ermöglicht dem Willen erst das Abwägen der auf den Menschen einwirkenden Motive und Aspekte. Dieses Abwägen erfordert aber auch, dass der Mensch ihr Vorhandensein erkennt, also wird ein aktives Wahrnehmen konstitutiv. Erst dann besitzt der Mensch das Vermögen, in seiner Entscheidung Ja oder Nein zu sagen. Handelt ein Mensch aus freier Wahl tugendhaft, empfindet die Seele Lust und Freude, aber nicht bei dem, was dabei herauskommen könnte, sondern an der Handlung selbst. Dann wird der Wille der Selbstgestaltung eine Gestaltung des eigenen Strebens nach Maßgabe der Vernunft, seine Leidenschaften zu mäßigen. Die Beschäftigung mit den Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen Willens ist bedeutsam, da dieser als wesentliche Voraussetzung moralischer Entscheidungen gilt. Der Mensch kann allerdings immer wieder scheitern (akrasia, bei Aristoteles Willensschwäche genannt)367; Neigungen, Triebe oder eingefahrene Gewohnheiten zu ändern ist ein schwieriges Verlan­ gen. Eben diese menschliche Schwachheit bedingt einen ethischen Reifungsprozess. Er impliziert den Aspekt, dass die menschlichen Anlagen, Kräfte oder Potenziale nicht ausreichend ausgebildet sein können und es weiterer Anstrengung bedarf, um der ethischen Ver­ vollkommnung bzw. Veredelung nahezukommen. Dieser Habituali­ sierungsprozess fordert die Innenwelt des Menschen immens heraus. Über sein Selbst zu reflektieren, sich zu sich selbst zu verhalten und sein Verhalten in Anlehnung an angemessenen Grundhaltungen zu leiten und dabei am höchsten Gut zu orientieren, ist ein schwie­ riger wie anspruchsvoller Prozess. Hierzu gehört es nicht allein, Erich Fromm setzte in der Entwicklung der Psychologie einen wichtigen Akzent, in dem er in der Erforschung des menschlichen Willens konstatierte, dass das, was der Mensch für eine freie Willensentscheidung hält, de facto auch ein äußerlicher Zwang sein könne. Siehe hierzu Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a.M. 51972. 367 Siehe hierzu Jens Timmermann, akrasia/Unbeherrschtheit, Willensschwäche, Handeln wider besseres Wissen. In: Otfried Höffe/Rolf Geiger (Hrsg.), AristotelesLexikon, Stuttgart 2005, 21–23. 366

101 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel II: Theorien zur Kultivierung des Selbst

beständige, wünschenswerte Grundhaltungen auszubilden, sondern auch (Handlungs-)Intentionen im Vorfeld zu schulen. Intentionen und Gefühle befinden sich in einer Art Warteraum von Handlungs­ entscheidungsprozessen. Der Charakter der In-Bewegung-Setzung einer Intention und eines Gefühls ist wesentlich, dadurch wird eine erhebliche Wirkung auf die Form und Ausführung einer Handlung ausgeübt. Ist der Charakter negativer Art, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine moralisch begrüßenswerte Handlung folgt, sehr gering. Ebenfalls ist aus pädagogischer Alltagserfahrung bekannt, dass »das Wissen um das moralische Gut nicht konsequenterweise dazu führt, dass Menschen das Gute auch tun – selbst wenn es ihnen möglich wäre«.368 Die Selbstbesinnung muss nicht unmittelbar zu einer Bes­ serung, zum moralisch Guten führen. Sie ist dem ersten Schritt jedoch vorgeschaltet, wobei der erste und schwierigste Schritt ist, wie mir scheint, Gewohnheiten durchbrechen zu können, um sie dann (längerfristig) zu ändern. Jede Tugend lässt sich als Ausdruck ihres Exzesses und ihres Mangels betrachten. Diese zwei Eigenschaften sind der Schatten einer jeden Tugend und es gilt, uns diese Exzesse und Mängel in uns selbst genau anzusehen. Einen Überblick über die eigene komplexe Innenwelt zu bekommen, ist ein entscheidender erster Schritt der Selbstreflexion, die dazu befähigen kann, einen Situationszusammenhang adäquat zu kalkulieren und zu ermessen. Diesem Revival der Tugenden folgt nun eine theologisch-islamisch eingebettete Perspektivierung des Personenseins. Theologische Per­ spektiven auf Tugend können einen eigenen Beitrag für bildungswis­ senschaftliche und philosophische Diskussionen leisten.369 Es wird zu erörtern sein, ob die islamische Geistesgeschichte weitere oder andere Denkimpulse und Perspektiven für die Entwicklung des aktu­ ellen Tugendbegriffs bereitstellt. Denn auch der Islam verfügt über Potenziale und Ressourcen, die auf die moralische und motivationale Verfassung des Menschen einwirken. Dieses Vorgehen soll nicht als Hinwendung zu einer religiös fundierten Moraltheorie oder unter diesem Vorzeichen zu einer neu aufgelegten Tugendethik verstanden 368 Claudia Gerdentisch, Zur Aktualität von Herbarts Ästhetik- Ästhetische Erzie­ hung und moralische Urteilskraft. In: Alexandra Schotte (Hrsg.), Herbarts Ästhetik. Studien zu Herbarts Charakterbildung, Jena 2010, 127–139, hier 129. 369 Vgl. Nancy E. Snow, Introduction. On: Dies. (Hrsg.), Cultivating virtue. Perspec­ tives from philosophy, theology, and psychology, Oxford/New York 2015, 1–16, hier 2.

102 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Revival der Tugenden in Anlehnung an Aristoteles’ NE

werden. Meinem Anliegen liegt der Gedanke zugrunde, dass das religiös-ethische Denken heute wie schon im Mittelalter mit dem griechischen Gedankengut zwar amalgamiert wurde, sich aber weiter­ hin durch eine eigene Färbung auszeichnen konnte. Diese Färbung möchte ich akzentuiert nachzeichnen, um sie für das gegenwärtige Bildungsdenken sprachfähig und fruchtbar zu machen.

103 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Die Kultivierung des Selbst im Bildungsverständnis der Islamischen Geistesgeschichte des 9. – 12. Jahrhunderts

1. Adab und aḫlāq – zwei Kategorien ethischer Bildungsbestrebungen Für die gegenwärtige Diskussion um die Persönlichkeitsentwicklung soll ein historisch-hermeneutischer Blick auf Zusammenhänge von Religion und Bildung, insbesondere von Bildung und Charakter, in der islamischen Geistesgeschichte geworfen werden. Die Bestrebun­ gen dieses pädagogischen Denkens und die Forschung, die es ausge­ löst hat, sind bislang mehr oder weniger unbeachtet geblieben. Zu Recht konstatiert der Islamwissenschaftler Sebastian Günther, dass – trotz der aktuellen Diskussion um den islamischen Religionsunter­ richt und der sich sukzessive etablierenden neuen Wissenschaftsdis­ ziplin der Islamischen Religionspädagogik – der arabischsprachigen Literatur und den Konzeptionen der Pädagogik, Bildung und Didaktik im Bildungsdenken der islamischen Geistesgeschichte kaum Beach­ tung geschenkt wird.370 Das ist in der Tat verwunderlich, weil die arabischsprachige Literatur einen reichen Fundus an Bildungsden­ ken bereits ab dem 9. Jahrhundert aufweist. Im Folgenden sollen deswegen zwei zentrale Termini des muslimischen Bildungsdenkens behandelt werden, die arabischen Begriffe adab und aḫlāq. Ein maßgeblicher Literatur-Bestand ist die als schöngeistig cha­ rakterisierte adab-Literatur. Sie wird oft kategorisiert als eine Gat­ tung der Verhaltensliteratur, weil sie sich mit alltäglichen Manieren,

370 Vgl. Sebastian Günther, Islamische Bildung im literarischen Gewand: Unterwei­ sung in religiösen und weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī. In: Abbas Poya/Farid Suleiman/Benjamin Weineck, Bildungskulturen im Islam. Islami­ sche Theologie lehren und lernen, Berlin/Boston 2022, 137–183, hier 137.

105 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Umgangsformen, guten Sitten, Bildung und Etikette befasst.371 Ideen­ geschichtlich fließen viele Bedeutungskontexte in adab zusammen. Vor allem lassen sich anhand des historischen Bedeutungswandels des Begriffs tragende Merkmale der arabischen Kultur von der präislami­ schen Zeit bis in die Moderne identifizieren. Folgendes Zitat skizziert das Spektrum ganz treffend: »Right conduct (adab) constitutes the sum of prudential knowledge that shields one from all error in speech, acts, and character. It signifies all the Arabic sciences, for they cumulatively promote etiquette. Adab is thus a habitus or disposition (malaka) that protects one from disgrace. A perfectly urbane and cultivated person (adīb) is one who possesses this habitus. Therefore it is said: ›the way to ultimate reality is through [the practice of] right conduct.‹«372

Interessant für das hiesige Forschungsanliegen ist die Zeit zwischen dem 8. bis 11. Jahrhundert. Als adab-Werke charakterisierte Schriften aus dieser Zeit sind zumeist Kompilationen aus Poesie und stilistisch oft kunstvollen Prosatexten zu bestimmten Themen, so auch über die ethische Bildung des Menschen.373 In ihnen lässt sich die Tendenz ausmachen, in Erzählungen Wissenselemente und Regeln für die Umsetzung ethischer Maximen in den Alltag der Menschen zu inte­ grieren. Dies wird für diese Epoche als typisch charakterisiert. Daher lassen sich in der adab-Literatur gewisse Textsorten zu einem Genre klassifizieren, die sich mit der Kultivierung von Charaktereigenschaf­ ten beschäftigen. »Denn in ihren Werken mit belehrenden Inhalten geben Gesellschaften jene Elemente ihrer Wissensstrukturen und Moralsysteme weiter, die sie als besonders wichtig, konsensfähig und erhaltenswert einschätzen.«374 Dieses spezielle Genre wurde 371 Vgl. Orfali/Baalbaki, The Book of Noble Character, 1; vgl. Isabel Toral-Niehoff, »Sei seine Dienerin, dann wird er dein Diener sein!« Auf der Suche nach der idealen Ehefrau: Ibn ʿAbdrabbih und sein Buch über die Frauen. In: Regula Forster/Romy Günthart (Hrsg.), Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident, Frankfurt a.M. 2010, 255–275, hier 257; vgl. Çağrıcı, Ahlak. In: TDV, 1–9, hier 1. 372 Uways Wafā Ḫānzādah, Minhāǧ al-yaqīn. Šarḥ adab ad-dunyā wa-d-dīn, Beirut 1980, 4, zit. n. Ebrahim Moosa, Muslim Ethics? In: William Schweicker (Hrsg.), The Blackwell Companion to Religious Ethics, Oxford 2005, 237–43, hier 238. 373 Vgl. Wiebke Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur. Von der voris­ lamischen Zeit bis zur Gegenwart, München 2004, 106. 374 Bea Lundt, »Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident«. Besprechung in: Fabula (2011), Vol. 52 (3), 325–327.

106 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Adab und aḫlāq – zwei Kategorien ethischer Bildungsbestrebungen

als makārim al-aḫlāq klassifiziert. Werke mit diesem Titel, die uns erreicht haben, werden auf über 10 beziffert.375 Makārim-al-akhlāqWerke sind Anthologien des »guten Verhaltens« und von Zitaten, die für den sozialen und literarischen Diskurs geeignet sind. Nach Orfali und Baalbaki enthalten makārim-Werke drei thematische Schwerpunkte von adab: Verhalten, literarische Kultur und Lernen.376 Ein weiterer Bestandteil der makārim-Werke sind vor allem der Prophet Muḥammad und die Hadithe, die ebenfalls praktische Emp­ fehlungen zu Themen des alltäglichen Lebens wie auch zur Festigkeit des Glaubens, angenehme Sprache, Wahrhaftigkeit, Schmuck und vieles mehr lieferten; sie beeinflussten auch persönliche Gewohnhei­ ten wie die Sauberkeit von Körper und Kleidung, das Essen sowie Reisen.377 ʿAbdallāh Ibn-Muḥammad Ibn Abī l-Dunyā (823–894) wusste religiösen adab mit den Eigenschaften des allgemeinem adab zu verschmelzen, die ihren Niederschlag in unzähligen Werken fan­ den. Ibn Abī l-Dunyā war nicht nur Asket, Traditionalist und Jurist, sondern auch gut bewandert in Poesie. Ihm werden zwischen 100 und 300 Bücher zugeschrieben, von denen etwa fünfzig Werke in den Bereich adab fallen. Wie bereits oben erwähnt, ist dieses besondere Feld der ethisch und religiös ausgerichteten adab-Literatur aus einer bildungstheoretischen Perspektive für die Gegenwart kaum erarbeitet worden. Das Werk von Ibn Abī l-Dunyā, Kitāb Makārim al-aḫlāq, das älteste erhaltene Werk dieses adab-Genres, soll vor diesem Hin­ tergrund untersucht werden. Welche Bedeutung kommt adab für die Bildung zu, wenn man die ethisch-religiösen Texte zugrunde legt? Enthält diese als belehrend oder didaktisch klassifizierte Textsorte Handlungsanweisungen und ethische Prinzipien, die auf praktische Umsetzung zielen, oder thematisieren sie doch eher Tugenden und sollen die Lesenden vielmehr zum theoretischen Reflektieren über Werte und Tugenden anregen? Lassen sich Aspekte entdecken, die auf tugendethische Lehren hinweisen, und wie ist das zu deuten? Was ist Abī l-Dunyās Verständnis von Tugend und welche Rolle spielt diese für die Bildung des Charakters? Vor diesem Fragenhorizont soll Vgl. Bilal Orfali/Ramzi Baalbaki, The Book of Noble Character. The Book of Noble Character. Critical Edition of Makārim al-akhlāq wa-maḥāsin al-ādāb wa-badāʾiʿ alawṣāf wa-ghāraʾib al-tashbīhāt, Attributed to Abū Manṣūr al-Thaʿālibī (d. 429/1039), Leiden/Boston 2015, 2 f. 376 Vgl. ebd., 2. 377 Vgl. Azarnoosh, Adab. In: EI2. 375

107 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

auf Spurensuche gegangen werden. Hierzu soll vor allem der Zweck dieser Literatur in ihrem eigenen gesellschaftlich kulturellen sowie literarischen Kontext erarbeitet werden. Interessanterweise weisen verschiedene Wissenschaftler*innen, insbesondere Peter Brown und Barbara Metcalf, auf die Bedeutsamkeit eines Vergleichs und einer Untersuchung des Begriffs adab im Lichte der klassischen Studien zur paideia hin.378 Darin wird adab als das griechische Äquivalent zum Begriff paideia interpretiert, weil adab in seinem Kern auch die Formung des Charakters durch eine Vielzahl von intellektuellen, spi­ rituellen und körperlichen Praktiken intendiere, was sich in der Früh­ periode der ethischen und paränetischen adab-Literatur illustrieren lasse.379 Mit der Betrachtung eines bestimmten makārim-al-aḫlāqWerkes werde auch ich dieses Gebiet nicht erschöpfen können, doch zumindest im Horizont meines Interesses exemplarisch an einem Werk nachgehen. Neben dem Begriff adab verdient auch der Begriff aḫlāq Beach­ tung, nicht nur weil sich ihre Bedeutungen überschneiden, sondern weil sich beide Termini prinzipiell auf die Charakterbildung beziehen. Zudem enthalten alle großen ḥadīth-Sammlungen Abschnitte über Ethik und Etikette, was darauf hindeutet, dass das Thema im zweiten und dritten Jahrhundert nach der Hidschra einen hohen Stellenwert hatte. Der am häufigsten verwendete Begriff für Ethik ist jedoch aḫlāq und weniger adab. Da adab und aḫlāq Ähnliches bezwecken, gilt es, Differenzen, Gemeinsamkeiten zwischen beiden und jeweilige Besonderheiten herauszuarbeiten, die für das muslimische Bildungs­ denken von Bedeutung scheinen. Dem soll nachgekommen werden, indem eine ethische Entwicklungslinie der islamischen moralphiloso­ phischen Tradition nachgezeichnet wird, die mit der Erstrezeption der tugendethischen Lehre des Aristoteles durch arabische Gelehrte beginnt. Schriften dieser Richtung, die ihren Anfang insbesondere bei Miskawayh findet, werden als tahḏīb al-aḫlāq klassifiziert. In einer Zusammenschau soll insbesondere herausgearbeitet werden, wie muslimische Philosophen und später auch Mystiker über die Kultivierung des Selbst nachgedacht haben und welche Tugenden sie Siehe hierzu insbesondere die bahnbrechende Arbeit von Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York 1973. 379 Vgl. Ivanyi, Katharina, Adab, akhlāq and Early Modern Ottoman Paraenesis: Bir­ givī Meḥmed Efendī’s (d. 981/1573) al-Ṭarīqa al-muḥammadiyya. In: Mayeur-Jaouen, Catherine (ed.), Adab and Modernity A »Civilising Process«? (Sixteenth–TwentyFirst Century), Leiden/Boston 2020, 49–62, hier 49. 378

108 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

für die Selbstkultivierung als wichtig erachteten. Vielleicht lässt sich aus den tugendethischen Ansätzen der muslimischen Philosophen ein islamisches Spezifikum herauskristallisieren, das im Vergleich zur aristotelischen Tugendlehre bislang wenig Beachtung fand. Dieser geografische, literarische und zeitliche Querschnitt soll verdeutlichen, dass pädagogische Schriften seit jeher Teil der islamischen Kultur gewesen sind und sich muslimische Gelehrte ganz unterschiedlicher Couleur mit verschiedenen Facetten von Bildung beschäftigt haben. Abschließend soll ein Seitenblick auf die Mystik und das mysti­ sche »Konzept« der tazkiyya an-nafs geworfen werden. Die inneren Kräfte und menschlichen Anlagen werden seit der Kanonisierung der islamischen Theologie (in den ersten Jahrhunderten nach der Hiǧra) vor allem in den Lehren des Sufismus behandelt.380 Im 9. Jahrhundert hat adab seine vielfältigen Wurzeln in der islamischen Ethik, die der Sufismus mit Methoden der Erziehung des nafs und der Ethik ausstattet, die auf die Sunna des Propheten und namentlich auf die griechische Ethik (vor allem Miskawayhs Tahḏīb al-aḫlāq) zurückgeht. Die Vermutung liegt nahe, dass die mystischen Vorstell­ ungen von körperlichen Praktiken, die auf die innere charakterliche Beschaffenheit und konkret auf das dynamische Seelenleben ausge­ richtet waren, interessante Aspekte und Ergänzungen der hiesigen Fragestellung anzubieten haben.

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt Für die Beschäftigung mit hochsprachlicher arabischer Literatur zwi­ schen dem 8. und dem 10. Jahrhundert und später ist das Studium von adab-Werken unverzichtbar. Der Terminus adab selbst, besser seine Etymologie, impliziert vielfältige Textgruppen und stellt diese unter eine bestimmte Betrachtungsweise. Für Philolog*innen der mittelalterlichen Literatur ist daher die Rekonstruktion der Entste­ hungs- und Begriffsgeschichte von adab von großem Interesse. Große Rekonstruktionsbestrebungen versuchten, insbesondere die 380 Vgl. Florian Lützen, Mit dem sehenden Herzen in den Islamischen Religionsun­ terricht – Über die inneren Kräfte des Menschen. In: Fahima Ulfat/Ali Ghandour (Hrsg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule. Theologische und didaktische Über­ legungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunter­ richt, Wiesbaden 2020, 65–93, hier 66.

109 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Entwicklung des Terminus im Laufe der Jahrhunderte nachzuzeich­ nen.381 Die Bedeutungsgeschichte des Begriffs adab ist in der Tat lang und umfangreich. Die Entstehungsgeschichte fußt, um einen groben Überblick zu nennen, wesentlich auf der Verschiebung der Begriffssemantik, die sich über »Tradition«, »traditionelle Bildung« und »Bildung allgemein« zu »Bildungsliteratur« und schließlich im modernen Arabisch allgemein zu »Literatur« entwickelte.382 Wenn auch im 7. Jh. der Begriff spärlich verwendet wird, schluss­ folgerte Carlo Nallino, dass adab damals die Bedeutung sunna (im Sinne von Tradition) inne hatte, und schreibt ihm mitunter gute Eigenschaften des Geistes und der Seele, Moral und Verhaltenskon­ formität der eigenen Vorfahren zu.383 Es wird angenommen, dass sich adab vom Plural ādāb ableitet, der ursprünglich den Plural zu daʾb bildete.384 Durch die häufige Verwendung der Pluralform ādāb, geriet die Singularform daʾb in Vergessenheit und adab als Singular wurde durch ādāb ersetzt.385 Nallino zufolge bezeichnete adab damit nicht nur die Erkenntnisse aus Poesie und Literatur, aus Weisheiten oder arabischen Genealogien, sondern auch die erhabene und hochstehende Wesensart.386 In den ersten Jahrhunderten des Islam findet sich ferner das Verb addaba bzw. adaba in der Bedeutung von »erziehen«, »aufzie­ hen« und moralisch »formen«.387 Dadurch erfuhr der Begriff eine Bedeutungserweiterung.388 Während in der umayyadischen Epoche der semantische Schwerpunkt von adab auf der Summe des Wissens Die erste und umfangreichste Darstellung geht auf den italienischen Arabisten Carlo Alfonso Nallino zurück, siehe hierzu Carlo Alfonso Nallino, La letteratura araba, Rom 1948. Ausgehend von der Wurzel a-d-b kommen weitere Bedeutungen hinzu wie einladen, gute Haltung, Höflichkeit, Galanterie, bewundern und wertschätzen, vgl. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Bd. 1, 43. 382 Edwald Wagner, Die literarische Gestaltung von at-Tahtāwīs Bericht über seinen Aufenthalt in Paris (1826–1831). In: Xenja von Ertzdorff (Hrsg.)/Rudolf Schulz, Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums 1998, Bd. 31, Atlanta 2000, 427–446, hier 433. 383 Vgl. Carlo Alfonso Nallino, La letteratura araba, Rom 1948, 10; vgl. Azarnoosh, Adab. In: EI2. 384 Vgl. Nallino, La letteratura araba, insb. 7 ff. 385 Vgl. ebd., 13. 386 Vgl. ebd., 18. 387 Vgl. Bonebakker, Adab, 18. 388 Vgl. Isabel Toral-Niehoff, Erzählen im arabischen adab. Zwischen Fiktionalität und Faktualität. In: Johannes Franzen et.al., Geschichte der Fiktionalität: Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept, Baden-Baden 2018, 117–132, hier 119. 381

110 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

lag, lag er in der abbasidischen Epoche auf guter Erziehung, guten Sitten sowie der Verfeinerung der Verhaltensgewohnheiten. Bis zum 8. Jahrhundert bezieht sich adab überwiegend auf die Verhaltenstra­ dition eines Kulturraums, der sich aus arabischen, persischen, grie­ chischen wie auch indischen Kulturidealen zusammensetzt. In der literarischen Anreicherung v. a. der persischen Kultur ist zu beobach­ ten, dass adab ein Synonym für Verfeinerung (ẓarf, das Äquivalent von urbanitas), Höflichkeit und Geselligkeit war, wie sie von den Hofgesellschaften praktiziert wurden.389 In einem intellektuellen und technischen, fast professionellen Verständnis wurde adab bald zur Bezeichnung für die allgemeine Kultur und bezeichnete mit der Entstehung großer Sammlungen arabischer Prosa- und Poesiewerke aus dieser Verhaltenskultur im weiteren Sinn »(schöne) Literatur«,390 d. h., mit adab wurden im Zuge der Literaturschöpfung auch lite­ rarische Erzeugnisse bezeichnet, wie auch die Beschäftigung mit Literatur selbst als Zeichen feiner Bildung gewertet wurde.391 Diese Literatur spiegelt zugleich die jeweiligen Rezeptionen von ethischem, politischem und sozialem Denken aus anderen Kulturen wie der griechischen, indischen und insbesondere der altpersischen.392 In der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Kontroverse, ob adab als eigenständige Literaturgattung zu charakterisieren sei, da der Begriff im Zuge der Jahrhunderte und durch Begegnung der Araber mit anderen Kulturen und religiösen Traditionen unterschiedliche Konno­ tationen und Bedeutungshorizonte aufweist, überwiegt die bejahende Ansicht. Adab-Literatur legt Zeugnis über Unterhaltung, Belehrung und gedankliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen ihrer Zeit ab. Zur adab-Literatur werden einige umfangreiche Enzyklopädien gezählt, die vielmehr ein hybrides Genre aus Enzy­ klopädien und belles-lettres darstellen, sowie viele monothematische Werke insbesondere aus der schöngeistigen, belehrenden und dabei Vgl. Catherine Mayeur-Jaouen/Luca Patrizi, Ethics and Spirituality in Islam: Sufi adab. In: Catherine Mayeur-Jaouen (ed.), Adab and Modernity A »Civilising Process«? (Sixteenth–Twenty-First Century), Leiden/Boston 2020, 1–44, hier 3. 390 Vgl. Renate Würsch, Rhetorik und Stilistik im arabischen Sprachraum. In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, Bd. 2, Berlin 2009, 2040– 2052, hier 2046. 391 Vgl. Bonebakker, Adab, 19 f. 392 Vgl. Toral-Niehoff, »Sei seine Dienerin, dann wird er dein Diener sein!«, 257; vgl. Bonebakker, Adab, 257 ff. 389

111 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

ästhetisch unterhaltenden Literatur gerechnet, wodurch Präzisierun­ gen in den Unterschieden zwischen den adab-Genres notwendig werden.393 Die Zusammenstellung und Struktur von Texten werden in Gattungen geordnet. Während aḫbār, eine Textsorte des Genres Anekdoten, oft in einem einfachen Erzählstil gehalten sind, werden Themen in Enzyklopädien mit narrativen Elementen und poetischen Beispielen angereichert und enthalten eine sehr individuelle, nach der Intention des Autors selbst angeordnete Systematik der Informa­ tionseinheiten.394 Träger des adab war der adīb, ein wohlgebildeter, urbaner, höflicher Mensch, der in den verschiedensten Lebenssituationen gewandt war und sich kultiviert zu artikulieren wusste.395 Hierzu gehörte die Versiertheit in Dichtung, Rhetorik, arabischer Kulturge­ schichte, Grammatik, Philologie, islamischen Wissenschaften und weiteren Disziplinen. Neben dem breiten Bedeutungsspektrum von feiner Sitte, (Schöngeist-)Literatur und Bildung konnte adab auch die »Fertigkeit eines bestimmten Berufes« bedeuten.396 Diese prag­ matische Seite der Literatur beleuchtet ihre gesellschaftsbezogene Rolle; Wissen ist nicht nur Gegenstand philosophisch-theologischer Spekulation, sondern ein Erzeugnis der muslimischen Gesellschaft selbst.397 Das führt zu der Überlegung, dass mit Bildung und Wis­ sensbesitz als Distinktionsmerkmalen398 eine neue soziale Gruppe, eine Bildungselite, sich in der Gesellschaft etablierte. Das heißt, gebildet, also ein muʾaddab zu sein, implizierte auch immer den Wunsch nach kultureller Distinktion und sozialer Anerkennung. Die adab-Literatur stellte dem adīb das notwendige und angemessene Wissen zur Verfügung, das von ihm erwartet wurde.399 Ein adīb war somit nicht nur eine gebildete Person mit verfeinerten Sitten, kulti­ viertem Auftreten, sondern auch mit Liebe zur Kunst, zu Wissenschaft Vgl. Toral-Niehoff, »Sei seine Dienerin, dann wird er dein Diener sein!«, 257. Vgl. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 107, 109. 395 Vgl. Nallino, La letteratura araba, 12. 396 Vgl. Fedwa Malti-Douglas, Structures of Avarice. The Bukhalā’ in Medival Arabic Literature, Leiden 1987, 7–16. 397 Siehe Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant. The Concept of Knowledge in Medieval Islam, Leiden 1970. 398 Vgl. Toral-Niehoff, Erzählen im arabischen adab, 119. 399 Vgl. Ralf Elger, Die Reise des Murtadā b. Mustafa b. Hasan al-Kurdī von Damas­ kus nach Ägypten im Jahre 1127/1714. In: Xenja von Ertzdorff (Hrsg.)/Rudolf Schulz, Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums 1998, Bd. 31, Atlanta 2000, 367–388, hier 380. 393

394

112 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

und Poesie; darüber hinaus konnte sie im Dienst des Herrschers stehen.400 Das Betragen eines adīb entsprach der kulturellen Etikette und den Sozialnormen, folgte den gesellschaftlichen Konventionen und stilisierte eine städtische Lebensart.401 Im europäischen Kulturkreis ist die Anstandsliteratur – im angelsächsischen Sprachraum conduct literature402 – eine mit dieser adab-Textsorte vergleichbare Gattung, die allerdings erst Jahrhun­ derte später entstehen sollte. Sie enthielt Anleitungen zum richtigen Verhalten in der Gesellschaft. Erinnert sei an das Benimmbuch De civilitate des Erasmus von Rotterdam (1529), den Curieusen Affekten­ spiegel (1715) von Johann Gottfried Gregorii oder an Über den Umgang mit Menschen (1788) von Adolph Knigge sowie an Emma Kallmanns Der gute Ton (1891).

2.1 Sorten der adab-Literatur Die Araber zeichneten sich durch ihre Neigung aus, die Erfahrungen des menschlichen Lebens durch Aphorismen, Weisheiten, Dichtung und Prosa auszudrücken. Deshalb ist ihr literarisches Erbe seit Anfang der vorislamischen Epoche sehr reich. Die Generationen haben diese Tendenz weiter verfolgt. Die Weitergabe der Überlieferungen der Vor­ fahren war tief verwurzelt und wurde, wenn nicht zu dem wichtigsten, so doch zu einem zentralen Element der Kultur.403 Diese formative Epoche zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert hat die islamische Tradition in ihren Anfängen und all ihren Wissenschaftszweigen konstitutiv geprägt und begründete die lange Tradition einer genuinen Bildungs- und Unterhaltungsliteratur. Insofern ist es lohnenswert, Vgl. The Editors of Encyclopaedia Britannica, Art. Adab, Encyclopaedia Britannica Online, 2014. 401 Vgl. Catherine Mayeur-Jaouen/Luca Patrizi, Ethics and Spirituality in Islam: Sufi »Adab«. In: Francesco Chiabotti/Eve Feuillebois-Pierunek/dies., Ethics and Spir­ ituality in Islam, Leiden/Boston 2016, 1–46, hier 3; vgl. Çağrıcı, İslam Düşüncesinde Ahlâk, 79. 402 Bspw. Frances Burney, Evelina (1778) und Hester Chapone, Letters on the Improve­ ment of the Mind Addressed to a Young Lady (1773). Diese Schriften prägten die englische Literaturlandschaft des 18. Jahrhunderts. Darin wurden Bilder von Weib­ lichkeit konstruiert und verbreitet. 403 Vgl. Gotthard Strohmeier, Ethical Sentences and Anecdotes of Greek Philoso­ phers in Arabic Tradition. In: Actes du XIV Congrès International dʾArabisant et dʾIslamisant, Paris 1970, 463–471. 400

113 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

jene adab-Werke, die einen religiös-ethischen Bildungscharakter zugesprochen bekamen näher zu betrachten. »The public discourse of adab, grounded in philosophical and moral language and concerns, represents a significant part of the cosmopoli­ tan heritage of ethics in Islam and reflects efforts to reconcile religiously and scripturally derived values with an intellectually and morally based ethical foundation.«404

Zu den adab-Werken gehören Kompilationen von einzelnen Gedich­ ten, Anekdoten und Episoden, so auch Enzyklopädien oder verschie­ dene Textsorten, wie philosophische und wissenschaftliche Abhand­ lungen, als auch die Rezeption von Qurʾān-Versen und prophetischen Überlieferungen, die sich vor allem als didaktische und oder ethische Literatur qualifizieren lassen.405 Bekanntlich wurden nicht nur aus dem Griechischen, sondern auch aus dem Mittelpersischen (Pahlavi) und Sanskrit Werke ins Arabische übersetzt.406 Auf diesem Wege gelangt manches Erzählgut aus Indien und Persien in die arabische Literatur (und teilweise auch nach Europa). Hierzu gehören Fabeln und Märchen (hikaya, qiṣṣa), Weisheitsliteratur (hikam) sowie Apho­ rismen, d. h. vor allem Textsorten, die einen normativ-präskriptiven Charakter haben oder/und sich des Stils des didaktischen Erzählens bedienen. Eine einflussreiche Persönlichkeit in diesem Zusammen­ hang ist der frühe Prosaautor und Übersetzer aus dem Mittelpersi­ schen ins Arabische ʿAbdullah ibn al-Muqaffaʿ (gest. um 756), der aus einer vornehmen persischen Familie stammt, macht mit seinem Werk Kitāb al-adab al-kabīr (Das große Buch über gutes Benehmen) den arabischen Kulturraum mit den persischen Denktraditionen über adab und Weisheit bekannt.407 Darin entwirft er ein Modell der bestmöglichen Selbstdarstellung, welche die besten Merkmale der persischen Aristokratie und der arabischen Kultur zu verbinden sucht, und beschreibt ferner Möglichkeiten und Bedingungen von Erfolg und glücklichem Leben. Hierbei gibt er auch Ratschläge, wie man mit seinen Mitmenschen gute Beziehungen aufbauen und pflegen

Nanji, Islamic Ethics, 114. Vgl. Elger, Die Reise des Murtadā b. Mustafa b. Hasan al-Kurdī, 380. 406 Vgl. Georg Bossong, Das maurische Spanien: Geschichte und Kultur, München 2 2016, 74. 407 Im vierten Kapitel seines Werkes geht es bspw. hauptsächlich um das Stiften von Freundschaft und die Vermeidung von Feindschaft in einer Gesellschaft. 404

405

114 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

kann.408 Er definiert den adab-Begriff als ethisch fundierte Selbstdar­ stellung von Tugenden wie Wortgewandtheit, Höflichkeit, Klugheit und Selbstbeherrschung.409 Für ihn steht adab mehr für einen Cha­ rakter, den jemand entwickelt, und die Ehre, die jemanden wegen seines adab respektive Charakters zuteilwird, als die Position, in die jemand hineingeboren wurde.410 Ibn al-Muqaffaʿ schreibt eine Reihe von Essays und Episteln, übersetzt Schriften, wie die berühmte indische Tierfabel Kalīla wa dimna aus dem Mittelpersischen ins Arabische.411 Dieser Fürstenspie­ gel ist ein gutes Exempel einer schöngeistigen adab-Literatur, die sowohl Unterhaltungswert als auch Unterweisungscharakter besitzt und im Zuge der politischen Entwicklungen entstand. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der mit sozialem und politischem Aufstieg verbun­ dene Beruf des kātib (Schreiber, Sekretär).412 Von 747 bis 759 bricht im Ostiran gegen die umayyadischen Herrscher wegen ihrer Vergnü­ gungssucht und Diskriminierung der Nichtaraber ein Aufstand mit der Wucht einer Revolution aus, die alle Bereiche des Gemeinwesens und der Kultur erfasst.413 In diesen Zeiten politischer Umbrüche übersetzen Hofsekretäre wie der bereits erwähnte Ibn al-Muqaffaʿ und später der Linguist Ibn Qutayba al-Dīnawarī (828–889) ihre persisch verfassten Fürstenspiegel (bspw. pers. Siyāsatnāma, Buch der Staatskunst)414 ins Arabische, wodurch sie die arabischen Theo­ Vgl. Çağrıcı, İslam Düşüncesinde Ahlâk, 80; vgl. Rkia Elaroui Cornell, Rabi’a from narrative to myth: The tropics of identity of a Muslim woman saint, London 2013, 54. 409 Vgl. Michael Cooperson, Ibn al-Muqaffaʿ. In: ders. (ed.), Dictionary of Literary Biography, Arabic Literary Culture 500–925, Vol. 311, Detroit 2005, 156–158. 410 Vgl. Cornell, Rabi’a from narrative to myth, 54. 411 Panchatantra ist eine Sammlung von Fabeln, die Kenntnisse in der Staatsverwal­ tung enthalten. Sie befassen sich nicht mit Tugenden für ein gutes Leben und der Staatskunst, sondern beschreiben Wege für junge Prinzen, Macht zu erwerben und wie diese beizubehalten ist. Vgl. Arthur B. Keith, A History of Sanskrit Literature, Oxford 1961, 248 f.; Näheres dazu bei Ludwig Alsdorf (Hrsg.), Panschatantra. Fünf Bücher altindischer Staatsweisheit und Lebenskunst in Fabeln und Sprüchen, Mün­ chen 1952. 412 Vgl. Würsch, Rhetorik und Stilistik, 2047. 413 Vgl. Tilman Nagel, Das Kalifat der Abbasiden. In: Ulrich Haarmann/Heinz Halm (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 52004, 101–165, hier 101. 414 Als ein bekanntes Beispiel aus dem 18. Jahrhundert des Osmanischen Reiches wäre bspw. Nâbī zu nennen, der das berühmteste Werk der türkischen Fürstenspie­ gelliteratur seiner Zeit unter der Kategorie nasihatname (Kunst der Ratschläge) veröf­ fentlichte. Im Spiegel seiner nasihatname lassen sich moralische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Missstände ablesen. Nâbī kritisiert die mangelhaften Aspekte der 408

115 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

rien der Regierungsführung sowie die Militärverwaltung erheblich beeinflussen.415 Nach dem Vorbild Ibn al-Muqaffaʾs nahmen in den nächsten Generationen adab-kātib-Werke zu: adab für Prinzen, Fürs­ tenspiegel (ādāb al-mulūk) und Lehrbücher (naṣīḥa), die von den Gelehrten an die Herrscher verteilt wurden und einen integralen Bestandteil des islamischen adab bildeten, adab für Richter (adab al-qāḍī), im 11. Jahrhundert v. a. adab für Lehrer (adab al-ʿālim wa-l-mutaʿallim) sowie adab für Mystiker. So wird unter jene adabLiteratur ebenfalls Prosa subsumiert, die sich als ethische, religiöse oder mystische Literatur charakterisieren lässt, die jeweils bestimmte Personengruppen behandelt. »Bücher über Untugenden und Tugenden oder Fehler und Vorzüge von Personen, Stämmen, Berufsständen, auch Städten oder Regionen, zu unterhaltsamen wie propagandistischen oder tendenziösen Zwecken verfaßt, sind in der adab-Literatur nicht selten.«416

Zu den ältesten und mustergültigsten Werken des 9. Jahrhunderts gehört die Schrift Kitāb al-adab al-kātib (Das Benehmen/Leitfaden des Sekretärs) des oben bereits genannten Theologen und Linguisten Ibn Qutayba.417 In seinem Handbuch, einem der ersten Untertanen­ spiegel mit pädagogischem Anspruch zur Erziehung von Hofbeam­ ten,418 führt er vorislamische, persische, sowie qurʾānische Beiträge und Hadithe inhaltlich zusammen.419 In diesem Leitfaden kritisiert er die mangelnde Bildung und den fehlenden Bildungsdrang der Hof­ beamten und fordert die Beamten auf, ihren sprachlichen Ausdruck und einen guten arabischen Sprachstil zu pflegen. Zugleich erzählt er mit einer gewissen Warnfunktion zahlreiche Anekdoten über Entlas­ sungen von Hofsekretären.420 Sein darin bezeugtes adab-Verständnis osmanischen Staatsführung, die verzerrte Gesellschaftsstruktur, die neuen Formen menschlicher Beziehungen und versucht, das Bild eines »vorbildhaften Menschen« seinen jungen Lesern vor Augen zu stellen. Vgl. Iskender Pala, Nasihatname. In: TDV, Bd. 32, 409–410, hier 410. 415 Vgl. Carlo Scardino, Edition antiker landwirtschaftlicher Werke in arabischer Sprache, Bd. 1, Boston/Berlin 2015, 47. 416 Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 147. 417 Siehe hierzu ʻAbd Allāh ibn Muslim Ibn Qutaybah, Ibn Kutaiba's Adab-al-kātib, Max Theodor Grübert (ed.), Leiden 1900. 418 Vgl. Al-Qāḍī an-Nuʿmān b. Muḥammad, The Epistle of the Eloquent Clarification Concerning the Refutation of Ibn Qutayba, Avraham Hakim (ed.), Leiden 2012, 19. 419 Vgl. Çağrıcı, İslam Düşüncesinde Ahlâk, 79. 420 Vgl. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 147.

116 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

kann als Verbindung von Erziehung und Moral verstanden werden, die allerdings nicht auf ein antikes Konzept von Moralerziehung Bezug nimmt, sondern wie bei den bisher erwähnten adab-Literaten vielmehr auf die Befolgung konventioneller Soll-Sätze und damit im Sinne einer moralischen Belehrung Verhaltenslehre, (berufliche) Lebenshilfe und Orientierung zu sein beansprucht. Da Ibn Qutayba auch in religiösen Wissenschaften geschult war, hinterlässt er mit dieser Schrift die ersten Spuren einer vorphilosophischen islamischen Ethik, die zur Adaptation des adab-Begriffes durch den Islam und einem islamisch geprägten adab-Verständnis führten.421 Er vertritt die Ansicht, dass die Kultivierung der Seele (nafs) eine wichtige Dimen­ sion eines ganzheitlichen Bildungsprozesses sei und mit der Arbeit am Selbst die Kultivierung und Verfeinerung der Zunge respektive der Sprachkultur einhergehen müsse.422 Er benennt im Zusammenhang mit der Arbeit am Selbst konkrete Charaktereigenschaften, die er mithin als Tugenden bezeichnet, wie bspw. Ehrenhaftigkeit (ʿiffa), Sanftmütigkeit (ḥilm), Geduld (ṣabr), Ernsthaftigkeit/Würde (waqār) und Barmherzigkeit (raḥma).423 Auch in seinem Kitāb ʿuyūn al-aḫbār (Quintessenzen der Berichte), das für nachfolgende Essayisten und Enzyklopädisten eine Inspiration wurde, versucht er eine Verbindung zwischen adab und Ethik herzustellen.424 Darin gibt er »in poetischer Form mannigfaltige Einblicke in die sozialen Bezie­ hungen, Denk- und Verhaltensweisen der heterogenen muslimischen höfisch-städtischen Gesellschaft seiner Zeit mit ihren Bildungs- und Kommunikationsschwerpunkten, ihrer Vielseitigkeit, ihren Wider­ sprüchen, ihren religiösen und ethischen Idealen«.425

Die adab-Literatur weist als wichtiges Kompositionsprinzip Abwechslung und Vielfalt von Formen und Themen auf, wodurch der Langeweile der Leserschaft vorgebeugt werden soll.426 Sie ist belletristisch und soll der Leserschaft neben Kenntnissen sprachlichphilologischer Art auch ethische Verhaltensnormen in der Form von Mahnworten, Sprichwörtern und Maximen vermitteln.427 Daher gibt 421 422 423 424 425 426 427

Vgl. Walzer/Gibb, Akhlaq. In: EI2. Vgl. Ibn Qutaiba, Adab al-kātib, Max Grünert (ed.), Leiden 2000, 14, 20. Vgl. Çağrıcı, İslam Düşüncesinde Ahlâk, 79. Vgl. Mayeur-Jaouen/Patrizi, Ethics and Spirituality in Islam, 3. Vgl. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 145. Vgl. Elger, Die Reise des Murtadā b. Mustafa b. Hasan al-Kurdī, 380. Vgl. Würsch, Rhetorik und Stilistik, 2046.

117 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

es eine Vielzahl von Themen und Textsorten, die Lebensregeln und Lehrsprüche im konventionellen Sinne beinhalten und das gemein­ same Leben zu ordnen versuchen. Es sind Imperative, die das Leben nach den Konventionen der eigenen Gemeinschaft vorgeben.428 Unter den adab-Werken lassen sich breit angelegte Sammlungen finden, die nicht nur einen reichen Überblick über das arabische und früh­ islamische Leben liefern, sondern auch Sitten und Gebräuche, wie bspw. das Kitāb al-aġānī (Buch der Lieder) von ʿAlī Ibn-al-Ḥusayn Abū-ʾl-Faraǧ al-Iṣfahānī (897–967), der zu den herausragenden Lite­ raten und Gelehrten der mittelalterlichen arabisch-islamischen Kultur zählt.429 Aus seiner wertvollen Sammlung, die von Dichtern- und Musikbiografen handelt, stammen größtenteils unsere Kenntnisse über die frühislamische Gesellschaft, ihre Sitten und Gebräuche.430 Als der wohl bedeutendste Prosaschriftsteller des 8./9. Jahr­ hunderts begegnet uns al-Ǧaḥiẓ (777–869), der zu den wichtigsten Repräsentanten zählt und an dessen Werken sich die Semantikvielfalt von adab illustrieren lässt. Er war nicht nur ein politisch interes­ sierter Theologe. Er wird häufig als Polyhistor bezeichnet, da er gerne über alles schrieb, was einen Menschen umtreibt.431 Al-Ǧaḥiẓ war durch seine Krankheit (Basedow) physiologisch eingeschränkt und acht Jahre vor seinem Tod linksseitig gelähmt. Daher griff er körperliche Behinderungen in Anekdoten und vielen Gedichten auf, wie beispielsweise in seinem enzyklopädischen (es lassen sich jedoch keine Stichworte nachschlagen) mehrbändigen Buch über Tiere (Kitāb al-ḥayawān):

Vgl. Horn, Lebenskunst, 200. Siehe auch Yasemin Gökpinar, Der ṭarab der Sängersklavinnen: »Masālik al-abṣār fī mamālik al-amṣār« von Ibn Faḍlallāh al-ʿUmarī (gest. 749/1349): textkritische Edition des 10. Kapitels »Ahl ʿilm al-mūsīqī« mit kommentierter Übersetzung, Baden-Baden 2021. 430 Sebastian Günther, Quellenuntersuchungen zu den »Maqātil aṭ-Ṭālibiyyīn« des Abū-ʾl-Faraǧ al-Iṣfahānī (gest. 356/967): ein Beitrag zur Problematik der mündlichen und schriftlichen Überlieferung in der mittelalterlichen arabischen Literatur, Hildes­ heim 1991, 10. 431 Lale Behzade, Die Fauna als Gottesbeweises – eine arabische Enzyklopädie aus dem 9. Jahrhundert. In: Miorita Ulrich/Dina De Rentiis (Hrsg.), Animalia in fabula. Interdisziplinäre Gedanken über das Tier in der Sprache, Literatur und Kultur, Bamberg 2013, 247 – 267, hier 249; siehe hierzu auch Charles Pellat, Arabische Geisteswelt. Ausgewählte und übersetzte Texte von Al-Jahiz (777–869), übertragen v. Walter W. Müller, Bibliothek des Morgenlandes, Zürich/Stuttgart 1967. 428

429

118 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

»Hüte dich also, eine Tiergattung wegen einer Unschönheit der Art und wegen einer Disharmonie der Beschaffenheit schlecht zu beurteilen, nur weil sie dem Auge hässlich erscheint und von geringem Vorteil und Nutzen ist.«432

Diese Stelle weist nicht nur auf einen sensiblen Umgang mit »unschö­ nen« Geschöpfen hin, sondern betont in gänzlicher Gottverbunden­ heit, so Lale Behzade, dass jedes Geschöpf eine Bestimmung habe und lästige oder »hässliche« Tiere auch eine Art Geduldprüfung für den Menschen sein können.433 Zugleich kritisiert er das Urteilsvermögen der Menschen, weil er sie mahnt, sich nicht durch einen ästhetischen Eindruck über den ethischen Wert eines Geschöpfes hinwegtäuschen zu lassen.434 In einem anderen Werk, der Satire Über die Geizigen (Kitāb al-buḫalā)435, behandelt al-Ǧaḥiẓ anekdotenhaft sowohl die Freige­ bigkeit, die schon in der vorislamischen Zeit bei den Beduinen als wichtige Tugend galt, als auch die Untugend des Geizes, den er als hemmungsloses egoistisches Sich-Ausleben beschreibt, weil er Gedanken an andere und ihre Nöte sukzessive beseitige.436 Als Kontrast mahnt er u. a. zum Maßhalten und Nachdenken über die Verlogenheit einer Großzügigkeit, die bloß strategische Absichten hat.437 Nach al-Ǧaḥiẓ ist in der Verwendung der Sprache (lisān), die sich des besserwisserischen sprachkünstlerischen Gebrauchs und eitler Rhetorik enthalten müsse, das rechte Maß zu beachten.438 Angemessenheit und das rechte Maß sind für al-Ǧāḥiẓ sowohl für die verwandte Sprache als auch für die Bestimmung der Mitte einer Disposition ein wichtiges Bezugskriterium.

432 Abū ʿUthmān ʿAmr al-Jāhiz, Kitāb al-Ḥayawān, Bd. III, Beirut 1988, 299; vgl. Pellat, Arabische Geisteswelt, 246. 433 Vgl. Behzade, Die Fauna als Gottesbeweises, 260. 434 Die Bedeutung von adab als Charakter, Disziplin, Disposition und Habitus im religiösen Kontext ist in der (westlichen) islamwissenschaftlichen Forschung insbe­ sondere von Franz Rosenthal (1970), Ira Lapidus (1984), Claude Gilliot (1999) und Sebastian Günther (2020) beleuchtet worden. Vgl. Sebastian Günther, Islamische Bildung im literarischen Gewand, 147. 435 Liest sich wie ein Vorreiter von Molières Der Geizige. 436 Vgl. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 125. 437 Vgl. ebd., 125. 438 Vgl. Lale Behzadi, Sprache und Verstehen. al-Ğaḥiẓ über die Vollkommenheit des Ausdrucks, Wiesbaden 2009, 166.

119 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

»Die Schamhaftigkeit ist der Name für ein bestimmtes Maß; was darüber hinausgeht, kannst du nennen, wie es dir beliebt. Ebenso ist die Freigebigkeit ein Maß, Verschwendung ist jedoch der Name für das, was darüber hinausgeht. Die Klugheit hat ein Maß, und Feigheit ist der Name für das, was darüber hinausgeht. Auch die Wirtschaftlichkeit hat ein Maß, und Geiz ist der Name für das, was darüber hinausgeht. Die Tapferkeit hat ein Maß, und Leichtsinn ist der Name für das, was über dieses Maß hinausgeht.«439

Er mahnt ebenso, dass die Übertreibung der Selbstkultivierung die Gefahr berge, dass das vornehme Verhalten in Herrschaftsgebaren umschlägt, und ein affektiertes Verhalten niemals dem eleganten gleichkommen könne.440 Er vertrat die Ansicht, dass religiöses Wis­ sen mit Moralerziehung (ḫulūq) und der religiösen Überlieferungs­ tradition (riwāya) verknüpft sein sollte und adab eine Subkategorie dieser reichen Überlieferungstradition sei, die er als unterhaltende und bildende Prosa verstand.441 Laut Behzadi wollte er mit seinen Schriften die Leserschaft in jeglicher Hinsicht belehren und hierfür allgemeingültige Kriterien entwerfen und betonte abermals, dass jeder in der Verantwortung für seinen Umgang mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln stehe.442 Im selben Jahrhundert findet das Bildungsdenken im Islam seinen literarischen Ausdruck und festen Platz unter den adab-Wer­ ken. Ibn Saḥnūn (817–870), ein malikitischer Rechtsgelehrter, zählt mit seinem Werk Kitāb adāb al-muʻallimīn (die Verhaltensregeln für Lehrer) zu den ersten muslimischen Erziehern, die für Lehrer handbuchähnliche Werke über das Lehren verfassten. Die Entstehung von Werken, die sich mit einer islamischen Theorie von Erziehung und Bildung beschäftigen, bezeugt ebenfalls Rezeptionen des helle­ nistischen Erbes wie auch anderen kulturellen Traditionen.443 Spuren des hellenistischen Erbes v.a. lassen sich finden in den Schriften 439 ʿAmr ibn Baḥr al-Ǧāḥiẓ, Kitāb al-Bayān wa-l-tabyīn, ed. Muḥammad ʿAbd alSalām Hārūn, Vol. I, Beirut 1998, 202 f. 440 Al-Ǧāḥiẓ skizzierte in einer seiner Sendschriften ein spöttisches Porträt eines Sekretärs, mit dem er auf dieses Gefahrenpotenzial aufmerksam machen möchte. Siehe hierzu Susanne Enderwitz, Liebe als Beruf: al-ʿAbbās Ibn-al-Aḥnaf und das Ġazal, Stuttgart 1995, 60. 441 Vgl. Chiabotti/Patrizi, Ethics and Spirituality in Islam, 41. 442 Vgl. Behzadi, Sprache und Verstehen, 169. 443 Vgl. Franz Rosenthal, The Classical Heritage in Islam, London 2003, 79; vgl. Günther, Islamische Bildung im literarischen Gewand, 137–183, hier 174.

120 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

muslimischer Autoren, die sich aus philosophisch-ethischer Sicht mit den Entwicklungsstufen der menschlichen Charakter- und Persön­ lichkeitsbildung in der frühkindlichen Erziehung befassen.444 Ähnli­ ches ist beim Pädagogen Burhān ad-Dīn az-Zarnūǧī (gest. um 1223) zu lesen, der in seinem weitverbreiteten Werk Taʿlīm al-mutaʿallim (Die Unterweisung der Lernenden) Ratschläge für das Theologiestu­ dium, für Lehrinhalte und Lerntechniken sowie Empfehlungen zum respektvollen Miteinander gibt. Nach Bonebakker wird adab allerdings zum ersten Mal durch den abbasidischen Dichter und Anthologen Abū Tammām (um 788-um 845) mit sozialen und ethischen Tugenden assoziiert. In Abū Tammāms Anthologie al-Ḥamāsah, einer altarabischen Gedicht­ sammlung, stellt er altarabische Tugenden (wie Heldenhaftigkeit, Geduld, Treue) vor und befasst sich mit moralischen Grundsätzen und guten Eigenschaften der Seele (wie Freundschaft, Höflichkeit oder Milde gegenüber Schuldzuweisungen). Wenn auch nur exemplarisch anhand von einigen bekannten Namen aus der islamischen Geistesgeschichte konnte das breite Bedeutungsspektrum von adab aufgezeigt werden. Diese Autoren machten durch die Rezeption von ethischen Ideen und religiösen Überzeugungen und gelegentlich auch durch die Zitation des Qurʾān und der prophetischen Sunna auf die Relevanz des richtigen Verhal­ tens aufmerksam. Das folgende Zitat resümiert die Bedeutung von adab in diesem Zusammenhang sehr trefflich: »Right conduct (adab) constitutes the sum of prudential knowledge that shields one from all error in speech, acts, and character. It signifies all the Arabic sciences, for they cumulatively promote etiquette. Adab is thus a habitus or disposition (malaka) that protects one from disgrace. A perfectly urbane and cultivated person (adīb) is one who possesses this habitus. Therefore it is said: ›the way to ultimate reality is through [the practice of] right conduct.«445

444 Vgl. Sebastian Günther, Advice for teachers: the 9th century Muslim scholars ibn Saḥnūn and al-Jāḥiẓ on pedagogy and didactics. In: Claude Gilliot (ed.), Education and Learning in the Early Islamic World, London 2012, 89–128, hier 90. 445 Uways Wafā Ḫānzādah, Minhāǧ al-yaqīn. Šarḥ adab ad-dunyā wa-d-dīn, Beirut 1980, 4, zit. nach Ebrahim Moosa, »Muslim Ethics?«. In: William Schweicker (Hrsg.), The Blackwell Companion to Religious Ethics, Oxford 2005, 237–43, hier 238.

121 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Ist adab tatsächlich nur ein Sammelbegriff446 für eine intellektuelle Geisteshaltung oder versuchen diese Texte, mithilfe von moralphilo­ sophischen und/oder theologischen Anleihen praktische Handlungs­ anweisungen zu geben? Eine weitere Frage nach der Funktion solcher Texte drängt sich berechtigterweise mitunter auf: Können diese Texte tatsächlich auch als didaktische Zeugnisse des Bildungsdenkens ein­ geordnet werden, die weniger praktische Handlungsprinzipien ver­ mitteln als den Menschen in einen Denkprozess verwickeln sollen? »Hier sei nur zusammenfassend darauf hingewiesen, dass es der ethisch-normierende Aspekt des Begriffs adab (im Sinne von ›gutes Benehmen, Bildung, urbanitas‹) war, der dazu geführt hat, dass eine allgemeine didaktische Intention der gesamten adab-Literatur behaup­ tet wird.«447

Angesichts der Bedeutungsvielfalt dieses facettenreichen Begriffs und des Mangels an Vorarbeiten in der islamisch-religionspädagogischen (Bildungs-)Forschung bzw. Aufarbeitung kann mit dem exemplari­ schen Werk von Ibn Abī l-Dunyā nur ein sehr vorläufiger Einblick gegeben werden. Der Fokus ist dabei auf das Zusammenspiel von Religion, Ethik und Bildung gerichtet und fragt nach ihrem funktio­ nalen Verhältnis zueinander. In diesen adab-Werken sind die Verbin­ dungen zwischen Ethik und Narrationen jeglicher Natur gegeben, d. h., menschliche Handlungen sind in Erzählformen und Darstel­ lungsweisen eingebettet, die sich zum Reflektieren und Eruieren gut anbieten. Exemplarisch veranschaulicht werden soll dies anhand der ethischen und pädagogischen Perspektive, die sich aus einem beson­ ders prominenten muslimischen adab-Werk herausarbeiten lassen.

2.2 Ibn Abī l-Dunyā (823–894) Abū Bakr ʿAbdullah bin Muḥammad bin Ubayd al-Qurašī Ibn Abī lDunyā wurde in das große 9. Jahrhundert Bagdads geboren. Er erhielt bereits sehr früh im Familienkreis die Möglichkeit, von zahlreichen 446 Vgl. Fedwa Malti-Douglas, »Playing with the Sacred. Religious Intertext in Adab Discourse«. In: Asma Afsaruddin und A. H. Mathias Zahniser (Hrsg.), Humanism, Culture, and Language in the Near East. Studies in Honor of George Krotkoff, Indiana 1997, 51–9, hier 52. 447 Toral-Niehoff, »Sei seine Dienerin, dann wird er dein Diener sein!«, 257 f.

122 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

Gelehrten wie Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855) zu lernen, und da sein Vater selbst ein muhaddiṯ (jemand, der sich mit den Hadithen beschäf­ tigt) war, ist sein breites Wissen im Hadith-Feld nicht weiter verwun­ derlich.448 Er verreiste nicht wie andere, um seinen Wissensreichtum zu vergrößern, sondern lernte von lokalen Gelehrten. Ibn Abī l-Dunyā war ein kenntnisreicher und erfahrener Prosaschriftsteller (adīb), hanbalitischer Traditionarier und langjähriger muʾaddib (Lehrer) am Abbasidenhof, dem die späteren Kalifen, Vater und Sohn, al-Muʿtaḍid (reg. 892–902) und al-Muqtafī (reg. 902–908) bereits in frühen Jahren zur Erziehung anvertraut waren,449 wenn er auch als Umay­ yaden-Sympathisant bekannt war.450 Ihm wird nachgesagt, dass er ein sehr frommes, »gottgeweihtes« sowie spartanisches Leben führte (zuhd).451 Seine asketische Haltung kam in seiner Lebensführung in einer gelassenen Zurückhaltung gegenüber den weltlichen Genüssen zum Ausdruck.452 Am Hof erhielt er die nötige Schaffensfreiheit, um über hundert Werke an Erbauungsliteratur mit asketischem Charak­ ter und didaktischer Zielsetzung zu schreiben.453 Der in der Schöngeistliteratur als Protagonist der islamischen Ethik und Paränese geachtete Ibn Abī l-Dunyā schuf mit seinem Kitāb makārim al-aḫlāq454 (Buch edler Charaktereigenschaften) eine neue

448 Vgl. Ibrahim Hatiboğlu, Ibn Ebüʾd-Dunyâ. In: TDV, Bd. 19, 457–462, hier 457. Aḥmad b. Ḥanbal verfasste ein faḍāʾil-Werk mit dem Titel Kitāb al-faḍāʾil al-ṣaḥāba, indem die Vorzüge der Prophetengefährten in ihren Erfahrungen mit dem Propheten dargestellt werden. Vgl. Sellheim, Faḍīla. In: EI2. 449 Vgl. Leonard Librande, Ibn Abī al-Dunyā: Certainty and Morality. In: Studia Islamica, No. 100/101 (2005), 5–42, hier 7. 450 Vgl. James A. Bellamy, Ibn Abī d-Dunyā, The Noble Qualities of Character. In: Hans Daiber, From the Greeks to the Arabs and Beyond, Wiesbaden 1973, 414–415, hier 414. 451 Vgl. Jacqueline Chabbi, Remarques sur le développement historique de mouve­ ments ascétique et mystiques au Khurasan. In: Studia Islamica, 46 (1977), 5–72, hier 24. Dies war sicherlich auch ein Grund dafür, über Pietät bzw. Frömmigkeit Kitāb al-taqwā zu schreiben und hierfür ethische Sprüche von christlichen Mönchen zu sammeln. Vgl. David Thomas/Barbara Roggema, Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History, Vol. 1 (600–900), 829–831. 452 Vgl. Albert Dietrich, Zur Überlieferung einiger Schriften des Ibn abī d-Dunyā. In: Studia Orientalia (1968), H. 2/3, 35–44, hier 35. 453 Vgl. Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, Schöngeistige Literatur, Bd. XVI, Leiden 1967–2015, 99. 454 Für meine Untersuchung habe ich die editierte Version von James Bellamy ver­ wendet.

123 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Prosagattung, die die Bildung und Verschönerung des Charakters bezweckt. Er starb im Jahre 894 in Bagdad.

2.3 Kitāb makārim al-aḫlāq Abī l-Dunyāʾs makārim ist das früheste erhaltene Exemplar dieses speziellen Themenkomplexes.455 Der Text ist in klarem Prosa ver­ fasst.456 Kompilatoren dieser Werke widmeten dem Thema makārim al-aḫlāq oft einzelne Kapitel in ihren Sammlungen, in denen sie prinzipiell eine Verbindung zwischen ethischen Werten, wünschens­ wertem Verhalten, Tradition und/oder beredter Rede herstellten und somit ihrer ethischen Vorstellungswelt Ausdruck verliehen. Ein typisches Kennzeichen dieser Gattung ist die umfangreiche Rezeption von Hadithen.457 In seinem Buch, das vielfältige und beherzigens­ werte Lebensweisheiten für die Leserschaft bereithält, führt Ibn Abī l-Dunyā das vorbildliche Verhalten des Propheten und die aḫbār der Gefährten und der Nachfolgegenerationen sowie anderweitig wich­ tiger Persönlichkeiten zusammen. Nach James Bellamy bedient sich Ibn Abī l-Dunyā auch einer Art »religiöser Fiktion«, weil er in einigen Fällen den Namen eines Protagonisten oder Weisen nicht erwähnt.458 Anders als ein Ibn Qutayba oder al-Ǧāhiz rezipiert Ibn Abī l-Dunyā weder aus dem persischen noch aus dem griechischen Gedankengut. Der Titel seines Buches Kitāb makārim al-aḫlāq ist zugleich Programm. Das Hauptmerkmal besteht darin, islamische Ethik in einer populäreren, menschennahen und unmittelbareren Form zu präsentieren als dies bei spezifisch juristischen oder theologischen Texten über ethische Prinzipien der Fall war.459 Ibn Abī l-Dunyā gibt seiner Schrift weder eine literarische noch philologische, sondern explizit religiöse Note.460 Der Titel im Sinne eines Text-Typs wurde von Kompilatoren auch deswegen benutzt, um explizit ihre Samm­ lungen von anekdotischem Material zu unterscheiden, ihnen einen Vgl. Orfali/ Baalbaki, The Book of Noble Character, 1. Vgl. Rudolf Sellheim, Buchbesprechung. In: Der Islam, Berlin 53/1976, 127–129, hier 129. 457 Vgl. Orfali/ Baalbaki, The Book of Noble Character, 3. 458 Vgl. Bellamy, The Makārim, 109. 459 Vgl. Bellamy, The Makārim al-Aḫlāq, xiii, 110, 174. 460 Vgl. Orfali/ Baalbaki, The Book of Noble Character, 1, 43. 455

456

124 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

ernsthaften Charakter und den Anschein äußerer Ordnung zu verlei­ hen,461 da die arabische Prosa und Lyrik, wie bereits dargelegt, von ihrem präislamischen Ursprung bis zum 9. Jahrhundert weitgehend anekdotisch und unterhaltsam war, die aber auch fiktional sein konn­ ten.462 Den Titel selbst übersetzt Bellamy, der bislang als Einziger eine umfangreiche und kritische Edition dieses Werkes vorlegte,463 als »Book of Noble Qualities« oder schlägt alternativ »Book of Noble Character« vor.464 Die Islamwissenschaftlerin Wiebke Walther über­ setzt den Titel mit »Vorbildliche Eigenschaften«. Die konzeptionelle und begriffliche Bestimmung des Attributs makārim (Pl. zu karīm) sowie des aḫlāq-Begriffs ist recht schwierig. Die von der Autorin gewählte Übersetzung »Lobenswerte Charaktereigenschaften« greift einerseits den etymologischen Bedeutungskern von aḫlāq (Pl. von ḫulūq), der Naturell, Wesensart, Charakter bedeutet, und andererseits von karīm auf, der die Bedeutung großzügig sein, gut, edel und wertvoll sein sowie lobenswerte Eigenschaften einer Person hat.465 Abī l-Dunyā betitelt sein Buch wohl ganz bewusst nicht wie Ibn Qutayba oder Ibn Muqaffaʿ mit »adab«, weil er vermutlich sein Werk als einen anderen Typ des adab-Genres verstanden haben möchte. Insofern geht es für Abī l-Dunyā weder um eine trockene, religiöse Belehrung im Gewande der Hadith- und aḫbār-Tradition noch um die Vermittlung von allgemeinen Lebensregeln moralischer Natur.466 Abī l-Dunyā trifft eine recht subjektive Wahl an für ihn als wichtig erachteten Werten und Charaktereigenschaften, die er in seinem Buch veran­ schaulicht. Die zehn edlen Charaktereigenschaften in seinem Werk

Vgl. Librande, Ibn Abī al-Dunyā, 8. Vgl. Bellamy, The Makārim al-Aḫlāq, 107; vgl. Gernot Rotter/Abu l-Faradsch, Und der Kalif beschenkte ihn reichlich, Tübingen/Basel 1977, 13. 463 Bellamy liegen zwei voneinander deutlich abweichende Ausgaben vor, die auf Versionen einer älteren und einer jüngeren Ausgabe von ad-Dunyā selbst zurückge­ hen. 464 Bellamy, The Makārim Al-Akhlāq By Ibn Abīʾl-Dunyā, 107 [im Folgenden: Bellamy, The Makārim]. 465 Vgl. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 1985, 362; vgl. Bekir Topaloğlu, Kerîm. In: TDV, Bd. 25, 287–288. 466 Wie in anderen adab-Werken, z. B. dem bereits genannten Kitāb al-Adab al-kabīr von Ibn al-Muqaffaʿ oder dem Buch Ādāb an-nikāḥ (Das rechte Verhalten in der Ehe) von Zainaddīn ʿAbdallāh ʿArab aus dem 16. Jh. 461

462

125 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

leitet er zwar von einem von Āʾiša überlieferten mawqūf-Hadith (Ziffer 36 im Buch) ab, gibt seinen Kapiteln jedoch eigene Titel.467 »Die Qualitäten des Charakters sind zehn: ehrlich zu sein (ṣidq alḥadīṯ), Schwierigkeiten im Gehorsam gegenüber Allah zu begegnen (ṣidq al-baʿs fī ṭāʾāt Allāh), Bittenden zu geben (iʿṭāʾ al-sāʾil), Ver­ gelten von Taten (mukāfāt al-ṣanīʿ), Verwandtschaften pflegen (ṣilat ar-raḥim), Anvertrautem treu bleiben bzw. unversehrte Rückgabe des Anvertrauten (ʿadā al-amānah), Verantwortung gegenüber dem Nachbarn (al-taḏammum li-l-ǧār) sowie Verantwortung gegenüber dem Freund (al-taḏammum li-l-ṣāḥib), Gastfreundschaft (qirā al-ḍayf) und an deren Spitze steht Scheu/Schamgefühl (ḥayāʾ).«468

Das Buch der lobenswerten Charaktereigenschaften ist in zehn Kapitel eingeteilt: 1. Unterschiedliche Hadithe, 2. Die Scheu/Schamhaftigkeit und das, was über ihre Vorzüglichkeit vorliegt, 3. Die Aufrichtig­ keit/Ehrlichkeit und das, was über ihre Vorzüglichkeit vorliegt, 4. Die Standhaftigkeit (wörtl. dem Unglück begegnen), 5. Stärkung der Familienbande, 6. Über das Anvertraute, 7. Die Verantwortung gegenüber dem Freund, 8. Die Verantwortung gegenüber dem Nach­ barn, 9. Die Belohnung guter Taten, 10. Großzügigkeit und dem Bittenden geben. Die Reihenfolge der Darstellungen in den Kapiteln beginnt mit thematischen Hadithen – ihre Anzahl variiert von Kapitel zu Kapitel – und vereinzelt Gott zugesprochenen Worten (hadith qudsī), im Anschluss folgen aḫbār, Erzählungen oder Berichte der Propheten­ gefährten (ṣaḥāba) und der Nachfolgegenerationen (tābiʿūn) und anschließend vereinzelte Berichte oder Weisheiten von Persönlichkei­ ten des frühen Islam, die namentlich nicht genannt werden; verstreut sind ebenso auf einige wenige Qurʾān-Verse zu stoßen. Den aḫbār stellt der Autor eine einzige Quellenangabe voran und verzichtet auf den vollständigen isnād. Das Text-Material ist chronologisch grob geordnet. Diese Anordnung wird nicht mit großer Strenge befolgt, wodurch etwas von der sauberen Ordnung verloren geht.469 Abī l-Dunyā ist Vertreter eines späten Stadiums frühislamischer adab-Werke, die nach dem Vorbild der klassischen Hadith-Sammlun­ 467 Die Nummerierung folgt der im Original zugeordneten Bezifferung, allerdings handelt es sich um leicht paraphrasierte Eigenübersetzungen. 468 Ibn Abī al-Dunyā, Makārim al-Aḫlāq, 41 [Eigenübersetzung]. 469 Zu einer detaillierten Edition sei erneut auf das einzigartige Werk von James A. Bellamy verwiesen.

126 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

gen aufgebaut sind. Es gibt keinen erkennbaren Unterschied in Struk­ tur oder Stil zwischen den Hadithen des Propheten Muḥammad und den aḫbār, den Berichten der Gefährt*innen und Folgegenerationen, außer dem Zusatz des isnād (Autoritäten- bzw. Überliefererkette) bei den Hadithen. Als konstitutiver Unterschied zwischen den Hadithen und den aḫbār lässt sich lediglich die Inklusion des isnād für die Hadithe festmachen. Bei den aḫbār gibt es jeweils kurze Angaben zum Überlieferer. Wenn man sich vor Augen führt, dass der isnād eines Hadith seit dem 8. Jahrhundert sowohl in der mittelalterlich hocha­ rabischen Literaturlandschaft als auch in der Geschichtsschreibung einen eigenen Raum erhielt, ist anzunehmen, dass dieser isnād-Inklu­ sion eine Funktion zukommt. Das Merkmal isnād ist eben nicht nur ein konstitutiver Bestandteil eines Hadith, sondern folgt einer Authentifizierungslogik, wodurch die Gültigkeit des Hadith plausibi­ lisiert werden soll.470 Dieser stilistische Brauch von muslimischen Geschichtsschreibern, ihre Berichte mit Überliefererketten einzulei­ ten, erweckt in diesem Kitāb – mit Formulierungen wie »... von dem und dem hat Soundso erfahren, dass der und der ...« – beim Lesenden den Anschein, es handele sich um eine mündliche Weitergabe des Berichts, wodurch die Lesenden wissen, dass es sich um historisch als wahr verbürgte Berichte handelt.471 Mit dieser Referenzialität entsteht ein Wirklichkeitsbezug, der die Leserschaft in den matn (Hadith-Text) einführt. Der überwiegende Teil von Abī l-Dunyāʾs makārim besteht aus einem Fundus an Hadithen, in denen, wie der Titel bereits verspricht, der Prophet Muḥammad in seinem tugendhaften Verhalten porträtiert wird, was durch die Authentifizierungskette die nötige theologische Grundlage erhält. Mit Blick auf die aḫbār der Nachfolgegenerationen ist der isnād weder nützlich noch schadet sein Fehlen, da es sich um kontextunabhängige Texte handelt, die sowohl einen bildenden als auch universellen Charakter haben kann.472 Der den Hadithen vorangestellte isnād kennzeichnet einerseits den faktualen Charakter

470 Siehe Näheres zur Funktion des isnād bei Jonathan A. C. Brown, Hadith, Oxford 2009, 67–122. In seiner Edition kritisiert Bellamy an einigen Stellen die isnād-Ketten bzw. gibt zusätzliche Informationen über die Überlieferer. 471 Vgl. Rotter/Abu l-Faradsch, 13. 472 Vgl. Walter Werkmeister, Quellenuntersuchungen zum Kitāb al-ʿIqd al-Farīd des Andalusiers Ibn ʿAbdrabbih (246/840–328/940), Berlin 1983, 44.

127 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

der Narration insgesamt,473 ein Kriterium der Plausibilität, das eine historische Erzählung, ein Bericht oder eine Überlieferung aufweisen muss, sofern sie Geltung im gesellschaftlichen Umgang mit erzählter Vergangenheit erlangen sollen. Andererseits verleiht es dem Autor zugleich ein gewisses Maß an Gewicht in seiner Rolle als religiös gebildete Persönlichkeit, die sein religiöses Wissen und seine Kennt­ nisse vorführt und unter Beweis stellt.474

2.4 Narrative Konstruktionen einer Vision des Tugendhaften Abī l-Dunyā beginnt sein kitāb mit einem Hadith, der einen Referen­ tialcharakter für die inhaltliche Struktur liefert. Nach Bellamy ist die Berufung auf Āʾišaʾs Überlieferung von zentraler Bedeutung und verleiht dem Buch seinen thematischen Rahmen und eine eigene Note. Das rezipierte und zitierte Material kommentiert Abī l-Dunyā grundsätzlich zwar nicht, nur wenige Zeilen später nennt er jedoch einmalig seine Motivation in Anlehnung an die Āʾišaʾs Überlieferung (Nummer 38 im Buch): »In diesem Buch werden wir alle Eigenschaften zitieren sowie die von der ›Mutter der Gläubigen‹ überlieferten Gewohnheiten [ḫasalāt, Vf.] von unserem Propheten, seinen Gefährten und den Nachfolgegenerationen der Nachfolgegeneration [tābiʿūn, Vf.] und von den Gelehrten des Tugend­ haften [faḏl, Vf.] und der Andacht [ḏikr, Vf.] anführen. Daher sollte der Umsichtige [baṣara, Vf.] seine Umsichtigkeit erhöhen, von seiner langen Nachlässigkeit aufwachen, die seine Schuld ist, und sich dem guten Charakter [aḫlāq al-karīma, Vf.] zuwenden, in schönen Handlungen wetteifern, die Gott erschaffen hat als Zierde der Religion und als Zierde für die Gottesfreunde. Es gibt nichts, das gut wäre, es sei denn, es ist mit Religion verbunden!«475

Der Adressatenkreis ist breit angesetzt, doch sind explizit all jene angesprochen, die auf ihr Verhalten und auf ihr Inneres schauen wol­ len, also umsichtig sind. Ein umsichtiger Mensch besitzt die Fähigkeit, 473 Vgl. Toral-Niehoff, Erzählen im arabischen Adab, 129. Nach Toral-Niehoff und anderen ist die Ausbreitung, Funktion und Verwendung des isnād im Kontext von adab-Sammlungen weitestgehend unterforscht. 474 Dies scheint für die Zeit Abī l-Dunyās im 8. und 9. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wenn man bedenkt, dass mit dem 10. Jahrhundert viele Autoren sich nicht mehr an diese Regeln hielten und lediglich von anderen abschrieben. 475 Ibn Abī l-Dunyā, Makārim al-Aḫlāq, 40 [Eigenübersetzung].

128 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

aktuelle Wünsche, Bedürfnisse, Emotionen zu abstrahieren und alles zu berücksichtigen, was Auswirkungen in der Zukunft haben könnte. Umsichtigkeit wird verknüpft mit der Verantwortung und Selbstbe­ stimmung des Menschen, sich selbst und sein Handeln ändern zu kön­ nen, in dem er sich ethisch begrüßenswerten Charaktereigenschaften zuwendet und gute Taten vollbringt. Deren Verwirklichung ist an die Haltung der Umsicht gebunden, die im Sinne von Bedachtsamkeit, Besonnenheit und Weitsicht gedeutet werden kann. Abī l-Dunyā zitiert in den einzelnen Kapiteln überwiegend Hadithe und aḫbār. Dadurch erhält jedes einzelne Kapitel den Charak­ ter einer kurzen Anthologie kürzerer und längerer Erzählungen über wünschenswerte Charaktereigenschaften. In diesem Sinne können die v. a. kurzen Hadithe als prophetische Lehrsprüche verstanden werden, die einerseits Grundverständnisse im Islam formulieren (wie bspw. Bescheidenheit ist ein Teil des Glaubens) und zum anderen Lebensweisheiten in der Form ethischer Narrationen mitteilen (wie bspw. Der Prophet Muḥammad sagte zu einem Mann, der sich über seinen Nachbarn beschwerte: »Tu ihm nichts und ertrage nicht, dass er dir etwas antut, denn der Tod ist ein ausreichender Trenner«). Durch die Omission der Quelle bei den aḫbār werden die Inhalte vom histori­ schen Kontext entbunden und erhalten einen allgemeingültigen Cha­ rakter. Auf diese Weise wird das Vergangene verfügbar gemacht, womöglich mit dem Ziel der Repräsentation von Wertvorstellungen, die in diesem historischen kulturellen Kontext zum einen relevant waren und zum anderen kulturell verhandelt wurden. Die Leserschaft wird mit diesen historischen Erfahrungen eingeladen, sie zu ihren eigenen Erfahrungen in Bezug zu setzen. Durch die Erzählungen sollen die Lesenden in die erzählte Situation versetzt werden, damit sie das Erzählte mit ihrem eigenen inneren Auge wahrnehmen, sodass sie an der Erlebnisqualität teilhaben können. Ihre Außenperspektive ermöglicht ihnen, den beschriebenen Standpunkt im Erzählten kri­ tisch zu hinterfragen, diesen mit dem eigenen abzugleichen und gegebenenfalls in die eigene Wertewelt zu integrieren. Die Material-Wahl und die Zuordnung von Hadithen seitens des Kompilators sind keineswegs willkürlich, sondern stellen bereits eine Form der Bearbeitung dar. Die individuelle Auswahl und Zuordnung des Materials ist zugleich ein Spiegel des Denkens und der Persönlich­

129 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

keit des Autors selbst.476 Das ausgewählte Material, die Bedeutung der ausgewählten Überlieferungen legen zugleich auch Zeugnis über die individuelle Wertzuschreibung des Autors selbst ab. Mit der spe­ zifischen Anordnung und Auswahl, so kann gedeutet werden, sollen für die Leserschaft verschiedene Denkweisen aufgezeigt werden.477 Durch die Anordnung der unterschiedlichen Textsorten mit ethischer Konnotation lässt der Autor moralische Implikationen hervortreten. Es werden durch den Autor subjektiv gesetzte Betrachtungs- sowie Beurteilungsmaßstäbe offeriert und gleichzeitig spiegelt er zeitgenös­ sische Moralauffassungen seiner Zeit und der Literatur, in der er gut bewandert ist. Auch der Inklusion des isnād kommt, wie bereits kurz erwähnt, mehr Bedeutung zu, als das Überlieferte auf den Propheten Muḥammad zurückzuführen oder lediglich ein Vorspann zu sein. In der Überlieferungskette liegt eine Dynamik, da die Handlung des Überlieferns bzw. der Wiedergabe fortgeführt wird. Diese Dynamik selbst unterstützt die Verlebendigung des matn. Der »erzählende isnād« ist lediglich eine Ouvertüre des Hadith, den Tilman Nagel als ein »Nachspiel einer kleinen Szene« bezeichnet.478 Die Worte, das Handeln sowie die Gestik werden im Vortragen des Hadith (mit beiden Bestandteilen) aus der Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart geholt. Daher verwundert es nicht, dass Abī l-Dunyā sich dieses Brauchs bedient. In dieser Lebendigkeit gibt er einen Einblick in menschliche Beziehungen, Denk- und Verhaltensweisen als auch in die Mimik und die Empfindungen, die das prophetische Exemplum für modellhaftes Verhalten stützen und in ihren je individuellen Erfahrungen lebendig machen. Dieses als Kulturtechnik zu bezeichnende Erzählen hat sicherlich mehrere Funktionen wie u. a. der Sinnstiftung, doch gemäß der zitierten Intention des Autors ist davon auszugehen, dass er wün­ schenswerte Charaktereigenschaften für den interessierten Menschen zu narrativieren und zu illustrieren versucht. Im Grunde zeichnet Ibn Abī l-Dunyā seine Vision eines moralisch wünschenswerten und

Vgl. May A. Yousef, Das Buch der schlagfertigen Antworten von Abī ʾAwn. Ein Werk der klassisch-arabischen Adab-Literatur, Berlin 1988, 44, 47. 477 Gustave E. von Grunebaum, Medieval Islam, Chicago 1969, 255. 478 Vgl. Tilman Nagel, »Ḥadīth – oder: Die Vernichtung der Geschichte«. In: ZDMG Supplement 10, XXV, Deutscher Orientalistentag, Vorträge (1994), 118–128, hier 125 f. 476

130 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

gottgefälligen Lebens.479 Zum einen wird religiöses Wissen vermittelt und zum anderen wird die Leserschaft in die beherzigenswerten Charaktereigenschaften, für die der Prophet Muḥammad vorbildhaft steht, in einer Literaturgattung eingeführt. An dieser Stelle seien einige wenige, arbiträre ausgewählte Bei­ spiele aufgeführt: Nr. 72: Schamgefühl gehört zum Glauben und der Glaube führt ins Paradies. Unverschämtheit/Hemmungslosigkeit führt zum Leid und Leid führt zur Hölle. Nr. 47 (Weisheitsspruch):480 Die Nacht und der Tag arbeiten an Dir (lassen Dich altern, Vf.), so arbeite auch an der Nacht und am Tag (ver­ geude nicht deine Zeit, Vf.). Nr. 203 (ein Hadith qudsī): Ich bin Gott und ich bin die Barmherzigkeit. Ich habe die Barmherzigkeit erschaffen und habe sie von meinem Namen abgetrennt. Wer zu ihr gelangt, zu dem gelange ich; wer sich davon abschottet, von dem schotte ich mich auch ab. Nr. 320: Ein Junge hatte ein Schaf geschächtet und war dabei, ihm die Haut abzuziehen. ʿAbdullāh bin ʿAmr sagte zu ihm: »Wenn Du damit fertig bist, beginne das Fleischausteilen bei deinem jüdischen Nach­ barn.« Das wiederholte er drei Mal, sodass ein anderer Mann dort sagte: »Du hast den jüdischen Nachbarn aber sehr oft erwähnt!« ʿAmr ant­ wortete: »Der Prophet legte uns den Nachbarn so nahe, dass wir dachten, er würde ihn zum Erben erklären.« Nr. 358: Beschenkt euch gegenseitig. Nr. 376: Es gab keine Bitte, der der Prophet Muḥammad nicht gefolgt wäre.

479 Vgl. Leonard Librande, Ibn Abī al-Dunyā. Certainty and Morality. In: Studia Islamica, 100/101 (2005), 5–42, hier 17; vgl. James A. Bellamy, The Makārim al-Aḫlāq by Ibn Abīʾl-Dunyā. In: The Muslim World Journal, 53/2 (1963), 106–119, hier 109. 480 Die Quellenangabe sei aufgrund ihrer Unität an dieser Stelle übersetzt: Gemäß dem, was Gelehrte (ʿalīm) überlieferten, dass einige der Weisen sagten.

131 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Diese Erzählungen laden die Lesenden in eine gewisse Spannung von Identifikation und Abgrenzung von diesen je individuellen Erfah­ rungen ein. Dadurch werden sie Teil der historischen Erinnerung und können als Positivfolie für die kritische Selbstreflexion identitätssowie charakterbildende Bedeutung für die Lesenden gewinnen. Die Selbstreflexion besteht demnach nicht nur darin, wer oder was jemand ist, sondern impliziert auch immer die Frage danach, wer und wie jemand sein möchte. Konkrete Erzählungen über historisch-kulturelle Formen menschlicher Praxen und Traditionen halten die Kultur und die Tradition für die Lesenden bereit.481 Denn Charaktertugenden sind immer in Erzählungen, Dichtungen und Kulturen eingebettet und eine Art ständiger Selbstvergegenwärtigung.482 Dies geschieht besonders in ästhetischen Formen, die als schön oder unschön empfunden wer­ den. Der Autor versucht mit seiner Kompilation aufzuzeigen, welche Haltungen, Intentionen und Charaktereigenschaften, denen Wertori­ entierungen zugrunde liegen, zu einem schönen, lobenswerten Cha­ rakter führen können. Die Charaktereigenschaften bringt er mit dem Glauben dahingehend in ein Verhältnis, dass Menschen in Anbetracht der Modellhaftigkeit des Propheten und seiner Gefährten darum wett­ eifern sollen, ihren Charakter zu verschönern.483 Diese Erzählungen zeigen folglich auf, wie sich Umsichtigkeit ausbilden lässt. Ibn Abī l-Dunyā stellt eine themenbezogene, übersichtliche Kompilation aus Anthologien vor, die in erbaulichen Erzählungen, Berichten und Weisheitssprüchen diese zentralen Charaktereigen­ schaften, eine Wirklichkeit des Guten und des Schlechten, des Rich­ tigen und des Falschen spiegeln.484 Die Bezeichnung Tugend im Sinne von faḏāʾil (Vorzüglichkeit) verwendet Ibn Abī l-Dunyā in seiner Motivationsverkündung nicht, sie erscheint explizit im zitier­ ten Hadith über Āʿiša.485 Ein aufmerksamer Blick auf die Charakter­ eigenschaften Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Schamhaftigkeit bzw.

481 Dies impliziert eben keine unkritische Übernahme dieser Werte, sondern eine kritische Auseinandersetzung. 482 Siehe hierzu erste Konzepte der Narrativen Ethik ihrer Protagonisten wie Alasdair MacIntyre, Martha Nussbaum und Richard Rorty. 483 Vgl. Ibn Abī al-Dunyā, Makārim al-Aḫlāq, 44. 484 Vgl. Sellheim, Buchbesprechung, 128 f. Es ist anzunehmen, dass dem Autor ins­ besondere die muʿtazilitischen Diskussionen über individuelle Verantwortung und moralische Entscheidungen bekannt gewesen waren. 485 Vgl. Ibn Abī al-Dunyā, Makārim al-Aḫlāq, 12.

132 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

Bescheidenheit486, der achtvolle Umgang mit Nachbarn, Freunden und Verwandten sind den Hadith-Gelehrten (muḥaddiṯūn) zur Zeit der Wende zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert geläufig.487 Es ist des­ halb nicht verwunderlich, dass Parallelen zwischen Ibn Abī l-Dunyāʾs makārim, aber auch seinem Werken wie dem Kitāb al-waraʾ, mit Blick auf die Hadith-Zusammenstellungen zu Werken seines Lehrers Aḥmad b. Hanbal zu verzeichnen sind.488 Ihm gelingt es, mit der Anordnung der Erzählungen und der Themen ein kathartisches Moment herzustellen, sodass »das Elende und Falsche uns vors Auge tritt und wir dadurch eine Läuterung erfahren, die unser Leben bereichert«.489 Vor diesem Hintergrund qualifiziere ich dieses Werk nicht als eine religiöse Belehrung, auch wenn es, wie ich finde, ungerechterweise oft als paränetisch qualifi­ ziert worden ist. Das Werk des Autors wurde, v. a. auch weil er dem gängigen Klischee eines Asketen entsprach, der die Menschen erin­ nert, ermahnt und ihnen das religiös Richtige anrät, wohl deswegen der Paränese zugeordnet.490 Auch Walther, die die makārim-al-aḫlāqWerke unter »Ethische, religiöse und mystische Literatur« fasst und vorstellt, ist der Ansicht, dass das Charakteristikum dieses Genres darin liege, Regeln für ein als islamkonform verstandenes Verhalten, die sowohl in Hadithen als auch Qurʾān-Versen präsentiert werden, festzulegen.491 Ob das besprochene Werk, wie Walther formuliert, Regeln aufstellt, lässt sich bestreiten. Der Autor scheint vielmehr seine Vision eines wünschenswerten Lebens in religiöser Perspektive 486 Auch ḥayāʾ hat ein breites Bedeutungsspektrum, was die Übersetzung sehr erschwert. So kann ḥayāʾ auch Anstand, Demut und Zaghaftigkeit bedeuten. 487 Vgl. Bellamy, Ibn Abī d-Dunyā, 414. In den kanonischen Hadith-Sammlungen sind explizit Abschnitte mit Titeln wie Kitāb al-adab (Buch des Benehmens) oder Kitāb al-birr (Buch des Schönen) enthalten, die sich mit ethisch richtigem Benehmen und ethisch begrüßenswerten Charaktereigenschaften beschäftigen. 488 Sowohl zum Kitāb az-zuhd als auch seiner Hadith-Sammlung Musnad. Vgl. Christoph Pitschke, Skrupulöse Frömmigkeit im frühen Islam das »Buch der Gewis­ sensfrömmigkeit« (Kitab al-Waraʾ) von Ahmad b. Hanbal, Wiesbaden 2010, 14. 489 Ruth Hagengruber, Darstellung, Anordnung und implizite Schlussfolgerung. Über das Verhältnis von Dichtung und Moral aus philosophischer Perspektive. Eine platonische Kritik der Postmoderne. In: Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009, 64–78, hier 77. 490 Vgl. Heribert Horst, Bildung- und Unterhaltungsliteratur. In: Helmut Gätje (Hrsg.), Grundriss der Arabischen Philologie, Bd. 2, Wiesbaden 1987, 208–263, hier 211; vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Bd. 2, Berlin 1991, 289. 491 Vgl. Wiebke, Kleine Geschichte, 193.

133 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

zu skizzieren. Ähnlich wie Doren Wohlleben Hannah Arendts Ethik profiliert »als eine Bewegung des Denkens, die zu Handlungen sti­ mulieren kann, indem sie sich die Freiheit nimmt, neue Anfänge zu setzen und eine Zäsur zu schlagen, welche die Handlungskette der Moral unterbricht«492, kann Abī l-Dunyā verstanden werden. Er lädt mit seinem Buch seine Leserschaft dazu ein, über den eigenen Alltag zu reflektieren und in aller Freiheit sich dafür oder dagegen zu ent­ scheiden, das eigene Leben im Lichte dieser Texte auszulegen und zu handeln. In diesem Lichte lese ich bspw. den Hadith über das Fleischausteilen an den jüdischen Nachbarn. Die Betonung der guten Nachbarschaftlichkeit hat eine große Bedeutung und eine gemein­ schaftsbildende Funktion.

2.5 Die Bedeutung der ethisch-religiösen adab-Literatur für das gegenwärtige Bildungsdenken Ibn Abī l-Dunyā führt mit seinem Werk zwei Bildungs- und Literatur­ traditionen zusammen, die der ʿulamāʾ (der theologischen Gelehrten) und die der udabāʾ (der literarisch Gebildeten), die sich gegenseitig ergänzende Protagonisten derselben Bildungstradition sind.493 Sein adab-Werk zeichnet sich dadurch aus, dass er dem Profil des adīb eine stärkere religiöse Färbung gibt. Ein*e gebildete*r Muslim*in des 9. Jahrhunderts sollte aus seiner Sicht auch im religiösen Wis­ sen bewandert sein, das sich konsequenterweise im Handeln und Sprechen ausdrückt. Ibn Abī l-Dunyā bezweckt weder eine Demons­ tration seiner sprachlichen Geschicklichkeit noch die Unterhaltung der Leserschaft, auf die bspw. al-Ǧāḥiẓ in seinen Texten so viel Wert legt,494 sein pädagogisches Ziel sehe ich vielmehr darin, an konkreten Erzählungen die eigene arabisch-islamische Moralkultur zu reflektieren. Ansatzartig lassen sich erste Hinweise einer narra­ tiven Ethik finden. Erbauliche Narrationen fungieren als Medium einer Begegnung mit dem Ethischen. Charaktereigenschaften lassen 492 Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009, 17 (Vorbe­ merkung). 493 Siehe hierzu Bernd Radtke, Die Literarisierung der mamlukischen Historiografie. Versuch einer Selbstkritik. In: Arnoud Vrolijk/Jan P. Hogendijk, O ye Gentlemen. Arabic Studies on Science and Literary Culture, Leiden 2007, 263–274, hier 265. 494 Vgl. Günther, Islamische Bildung im literarischen Gewand, 157.

134 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

sich nicht durch Belehrungen aneignen, sondern durch Reflexion, Deliberation und Einübung. Charaktereigenschaften müssen dafür allerdings erzählt werden, aus dem Leben, mit Menschen. Deswegen ist der Gegenstandsbereich einer Narration im Sinne einer literari­ schen Erzählung in erster Linie nicht die Handlung, sondern die handelnde Person, ihre Absichten, Emotionen und Motive sowie der Charakter, aus dem sich diese Absichten und Motive, die das Handeln in einer konkreten Situation leiten, hervorgehen. Hadithe sowie aḫbār sind schriftliche Zeugnisse einer religiösen Tradition, denen per se eine Dimension der moralischen Deutung immanent ist und die enormes Potenzial für ethische Bildung bieten. Die Verzahnung der Prosagattung mit tugendethischen Ideen ist insbesondere bei al-Ǧāḥiž oder Abū Manṣūr Ṯaʿālibī (1039) deutlich erkennbar, doch für Abī l-Dunyāʾs makārim geht es nicht darum, religiöse Normen und Gebote zu explizieren, zu reflektieren und zu begründen, sondern das Gespür der Leserschaft für Handlungsstrukturen zu schärfen. Ganz ähnlich argumentieren Rüdiger Bittner und Susanne Kaul, die dafür plädieren, dass Geschichten »einem nicht sagen [müssen], was man tun sollte, um einem dabei zu helfen, herauszufinden, was man tun sollte«.495 In diesem Sinne kommt nach Abī l-Dunyā religiösliterarischen Erzählungen eine Modellfunktion zu.496 Anhand dieser literarischen Modelle können Menschen eigene Überzeugungen und Haltungen prüfen, verändern oder bestätigen.497 Die Leserschaft wird in ihrem religiösen Selbstverständnis angesprochen. Erkennbar wird, dass dieses adab-Genre im Sinne eines pädagogischen Anspruches im Verhältnis zwischen Kultur, Religion und Ethik wirkt. Edle Cha­ raktereigenschaften und ihre Kultivierung fasst Abī l-Dunyā als Teil einer äußerlich verordneten Lebensführung. Sowohl soziale Verhal­ tensnormen als auch genannte (religiöse) Charaktereigenschaften wie Vgl. Rüdiger Bittner/Susanne Kaul, Moralische Erzählungen (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, Göttingen 2014, 72; vgl. Jannis Giese, Narrative Ethik. Konturen eines (un-)einheitlichen Konzepts. In: Jochen Schmidt, Erzähltes Selbst/The Narrated Self: Narrative Ethik aus theologischer und literari­ scher Perspektive, Leipzig 2020, 183–195, 187 f. 496 Siehe hierzu Dieter Mieth, ›Literaturethik als narrative Ethik‹. In: Karen Joisten (ed.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17, Berlin 2007, 215–233, hier 225. 497 Siehe hierzu Walter Lesch, Art. ›Hermeneutische Ethik/Narrative Ethik‹. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 231–242. 495

135 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Bescheidenheit, Aufrichtigkeit und Großzügigkeit sind eng verknüpft mit bestimmten Verhaltens- und Umgangsformen mit Freunden, Verwandten und Nachbarn.498 Die exemplarisch aufgeführten Beispiele aus der adab-Literatur haben verdeutlicht, dass durch beständige Bemühung um gepflegte Sprache, Bildung und personale Eigenschaften wie Höflichkeit, Auf­ richtigkeit, Feinheit und Eleganz, die Kultivierung von Umgangsfor­ men nicht nur zur Ausbildung eines besonderen sozialen Verhaltens­ modus führt, sondern auch zu einer Moralkultur, die sich im Umfeld einer bestehenden Religionskultur, die genau in diesen ästhetischen Formen auftritt, erst entwickeln konnte.499 Diese adab-Genres haben insgesamt zur Entstehung einer eigenen Moralkultur beigetragen und damit eine eigene Spielart der Kultivierung ausgebildet. Diese Kultur der Moral ist als Moment der Bildung zu begreifen und zuweilen mit religiösen Inhalten verknüpft worden,500 d. h., die Leserschaft wird durch die Erzählungen in eine bestimmte Moralkultur eingebettet, die von außen auf das Innere wirken soll. Dem steht der Einwand gegen­ über, dass durch Äußerlichkeiten, seien es die akkurate Befolgung der religiösen Praxis oder des sozialen Benehmens, das Erreichen eines gesunden/vernünftigen Charakters (ṣāliḥ al-aḫlāq) nicht möglich sei, denn der Mensch beginne, Charaktereigenschaften erst durch Deliberation zu internalisieren und im Anschluss einzuüben und sich anzueignen.501 Mit der besonderen Auswahl der unterschiedlichen Überlieferungen präsentiert Abī l-Dunyā hingegen sehr anschaulich seine Vorstellung von einer Synergie zwischen dem Ethischen, Ästhe­ tischen und Religiösem. Ästhetik verbindet sich mit der Ethik auf eine sinnliche Weise, die die Gefühlswelt anspricht und hilft, Werte Vgl. Horst, Die Entstehung der adab-Literatur, 208. Siehe hierzu ebenso Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systema­ tischen Ort von Kants »Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft«, Würzburg 2000, v. a. 18 f.; vgl. Allen W. Wood, Kant’s ethical thought, Cambridge/New York 1999, 295; vgl. Schmidt, Religion, Kultur und Moral, 168. 500 Zu ähnlichen Gedanken in Bezug auf Kants Moralkultur siehe: Jochen Schmidt, Religion, Kultur und Moral. Überlegungen im Anschluss an Kant und Wittgenstein. In: Michael Hofmann/Klaus von Stosch/Sabine Schmitz (Hgg.), Religion und Kultur, Bielefeld 2016, 163–173, hier 169 f. 501 Vgl. Ahmet Yaman, Fıkıh – Ahlâk İlişkisi İslâm Amelî Ahlâkının İlke ve Uygula­ maları Çerçevesinde. Bir Giriş. (Fiqh-Moral Relation: An Introduction Within the Concept of the Principles of Practical Islamic Moral and the Applications). In: Usûl İslam Araştırmaları, 9, 9 (2008), 87–118, hier 101. 498

499

136 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Adab und seine Bedeutungsvielfalt

und Normen zu verinnerlichen. Denn die Religion spricht, so Navid Kermani, eben nicht nur in »schlüssig begründeten Normen, Wertvorstellungen, Grundsätzen und Lehren, sondern [sprechen] in Mythen und damit in Bildern, kaum in abstrakten Begriffen, binden ihre Anhänger weniger durch die Logik ihrer Argumente als die Ausstrahlung ihrer Träger, die Poesie ihrer Texte, die Anziehung ihrer Klänge, Formen, Rituale, ja ihrer Räume, Farben, Gerüche«.502

Bei Abī l-Dunyā zeigt sich, wie dicht das Gefüge von Ethik, Ästhetik und Pädagogik ist. Damit kommt dieser adab-Literatur eine pädagogi­ sche und didaktischen Bedeutung zu. Ob Abī l-Dunyā dies bezweckte, kann jedenfalls nicht ausdrücklich beantwortet werden, aber nichts destotrotz wird sehr evident, dass es sich bei v.a. diesem adab-Genre um eine Bildungstradition und nicht um eine bloße literarische Tradi­ tion handelt. Die Textbeispiele dieses ethisch-religiösen adab-Typs erinnern insbesondere an den Gesichtspunkt der ästhetisch-literari­ schen Vergegenwärtigungsformen und stellen einen Gegenpol zu vermeintlich rein rationalen Vergegenwärtigungsformen dar. Ein bspw. höflicher Umgang, in dem sich ein ästhetischer Moment finden ließe, ist kein Selbstzweck, sondern gründet auf einer tiefen Überzeu­ gung. Er nimmt die pädagogischen Züge der Ästhetik zusammen mit ihren ethischen Implikationen. Dadurch erweisen sich ästhetische Darstellungen auch als pädagogische Mittel, die zur Vermittlung und Anregung von Tugenden dienlich sind. Die Ästhetik tritt wie eine Kraft in Erscheinung, mit der das Gute eingeübt und an der das Gute wie das Schlechte äußerlich erkannt werden kann. Auf diese Weise kann die Ästhetik das gute Leben beeinflussen und ermöglichen, und zwar nicht nur das eigene, sondern auch das Leben der anderen. Das gute und gelingende Leben wird sozusagen geweitet zu einem »schönen Leben«, das nicht nur subjek­ tiv bejaht wird, sondern auch kollektiv, da alle gemeinsam in eine stilisierte Gestaltung ihrer Existenz eingebunden sind und hierfür aus derselben Moralkultur schöpfen. Diese, von ihm womöglich idea­ lisierte, Moralkultur mit ihren fundamentalen Stützen in der sozialen Interaktion hat Abī l-Dunyā, wie ich finde, exemplarisch mit seinem Werk abzubilden versucht. In diesem Lichte ist zu konstatieren, dass Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2007, 9.

502

3

137 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

uns das vielschichtige, ethisch-religiöse adab-Genre eine ästhetische Kultivierung des Charakters vorschlägt. Dass er seinem Buch den Titel Kitāb makārim al-aḫlaq gegeben hat, drückt, wie ich finde, das Bestreben aus, deutlich zu markieren, dass das Werk die edlen Eigenschaften thematisiert; denn das ist für ihn ein wichtiger Punkt, den er auch in seinem Werk deutlich macht: Alles Handeln sollte im Sinne Gottes gut und schön sein, wenn die Absicht besteht, ihm nahezukommen und seine Liebe und Güte zu erlangen. Das reicht für Abī l-Dunyā als Beweggrund auch schon aus. Das ethisch Gelobte und Gewünschte ist auch das, was Gott lobt und sich vom Menschen wünscht, und die Voraussetzung für eine gute Lebensführung und ein gutes gemeinsames Leben in der Gesellschaft. Abī l-Dunyā horizontiert diese Lebensführung nicht auf ein »glückliches« Leben oder das Ziel, Glück dadurch zu erlangen. Damit wird erkennbar, dass er die griechische oder muslimisch rezi­ pierte moralphilosophische Glücksvorstellung nicht aufgreift. Er hat versucht, eine neue Gattung zu schaffen. Ich vermute, er war sehr daran interessiert, die Menschen an ein ethisches und gottgefälliges Leben zu erinnern. Er wusste, die Wenigen lesen Hadith-Sammlun­ gen, aber sie lesen Prosa, die unterhaltend ist. Mit dem Anekdotischen konnte er sich wohl nicht anfreunden, und sein Selbstverständnis eines Gelehrten hat sicherlich auch sein Eigenes dazu beigetragen, dass er ein Werk kompiliert hat, das seiner Intention nahekam, nämlich: die Menschen an grundlegende Hadithe zu erinnern, sie damit zu mahnen und aufzurufen, sich selbst in deren Lichte zu reflektieren. Hierzu ergänzte er die Hadithe mit aḫbār, denn dadurch bekam das Werk eine andere Note. Ohne die aḫbār wäre es eine kleine Kompilation von Hadithen über einen vorzüglichen Charakter. Durch die aḫbār und auch den Titel wurde es zu einer Bildungsliteratur und damit für ein größeres Publikum interessant und lesenswert. Denn bekanntlich ist der tahḏīb-al-aḫlāq-Diskurs ein Nischendiskurs in intellektuellen Kreisen, wie wir noch sehen werden. Die adab-Litera­ tur hatte hingegen unterschiedliche und weite Leserkreise.

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition In der mittelalterlichen islamischen Gelehrsamkeit entwickeln sich unterschiedliche Schulen des moralphilosophischen Denkens.

138 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Diese neue moralphilosophische Denkrichtung eröffnet eine weitere Dimension des allgemeinen Bildungsdenkens, das bis dahin dem Wissenserwerb den Vorrang gegeben hatte. Die Bestimmung des Verhältnisses von Bildung und Ethik,503 die im religiösen Bildungs­ denken aufs engste miteinander verbunden sind, wurde nun auch Gegenstand des philosophischen Denkens. Das Werk, das dem moral­ philosophischen Denken eine eigene Richtung vorgab und den wohl umfassendsten Entwurf einer philosophisch begründeten Ethik in der islamischen Ideengeschichte darstellt, trägt den Titel Tahḏīb al-aḫlāq (Die Läuterung des Charakters) von Miskawayh.504 Mit den aktiven Rezeptionsbewegungen des griechischen Gedankenguts von muslimischen Denkern wurde sukzessive das religiöse Denken mehrperspektivisch. Die Frage Wie soll der Mensch sein? sollte konkret aus einer moralphilosophisch religiösen Perspek­ tive erörtert werden. Wie sich noch zeigen wird, ging es den muslimi­ schen Moralphilosophen weniger um eine Formung des Menschen, sondern um die Befähigung des Menschen zur theoretischen Refle­ xion über Gott, um Charaktereigenschaften und die Potenziale, die sich dem Menschen als Mensch boten.505 Diese offene Haltung und der hieraus resultierende neue Zugang ließen in der islamischen Welt ein tugendethisch interessiertes Philosophietreiben, Philosophiezir­ kel und denkspezifische Merkmale entstehen. Auch wenn zuvor viele, allerdings unsystematische Überlegungen von einzelnen Autoren oder vereinzelte Texte als prägnante Beispiele für religiös-ethisches Denken aus der islamischen Geistesgeschichte bekannt waren, wurde dieser vorherrschende tugendethische Entwurf von muslimischen Denkern und Philosophen rezipiert und schließlich als tahḏīb-Philo­ sophie wirkmächtig ausgearbeitet. Die vollständige Entstehungsgeschichte des tugendethischen Denkens samt einer detaillierten Rezeptionslinie kann in diesem

Zur Verknüpfung zwischen Bildung und Ethik siehe: Sebastian Günther, Bildung und Ethik im Islam. In: Rainer Brunner (Hrsg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, 210–236. 504 Vgl. Topkara, Umrisse, 57. 505 Es wäre wohl nicht verkehrt zu behaupten: Während der Bildungsbegriff in den adab-Werken als Einweisung in eine sozio-kulturelle Tradition und ihre ethischen Vorstellungen verstanden wurde, tritt nun in den aḫlāq-Diskursen die Selbstbildung in der Auseinandersetzung mit Tugenden in den Vordergrund wie sich noch zeigen wird. 503

139 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

begrenzten Rahmen nicht skizziert werden.506 Der nächste Abschnitt bietet daher keine Gesamtübersicht, doch ist intendiert, die für den Forschungsgegenstand relevanten Gelehrten und ihre Schriften, die in diesem thematischen Zusammenhang klassische Beispiele darstel­ len und zur Entwicklung einer islamisch-tugendethischen Traditions­ geschichte beigetragen haben, exemplarisch vorzustellen sowie mit ihnen auch den Stellenwert der Kultivierung des Charakters in der islamischen Geistesgeschichte skizzenhaft darzustellen. Für eine solide Beschäftigung bedarf es einer intensiven Erarbeitung des fol­ genden Fragenkontextes: Was sind Ziel und Zweck der Ausbildung von Tugenden und was bedeutet das für das Bildungsdenken? Kann das islamisch-philosophische Tugenddenken als eine wichtige Ergän­ zung oder gar als ein Teil des islamischen Bildungsdenkens gewertet werden? Was wird unter dem Begriff der Tugend gefasst? Geht es um die Kultivierung des Selbst? Wie wird Kultivierung verstanden? Stellt der Begriff nafs (Selbst) ein Synonym für Charakter dar? Welches Verhältnis wird zwischen der Kultivierung von personalen Eigen­ schaften und Gott gesehen? Mit einem geschärften Blick gilt es ferner einerseits zu ergründen, welche Tugenden von muslimischen Gelehr­ ten mit welcher Begründung und Zielsetzung benannt wurden. Ande­ rerseits gilt es zu zeigen, inwieweit die vier Charaktertugenden der griechischen Antike, d. h. Weisheit (sophia), Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sophrosynê) und Gerechtigkeit (dikaiosynê), Einzug in das religiös-ethische Denken hielten. Dem philosophischen Begriff »Ethik« scheint der genuin islami­ sche Terminus ʿilm al-aḫlāq zu entsprechen. Um eine sichere Aussage hierüber machen zu können, gilt es zuerst den Begriff des aḫlāq zu bestimmen, bevor der Fokus auf die tugendethische aḫlāq-Tradition gerichtet wird.

Als ein systematischer Anfang können m. E. zwei Werke angeführt werden: Ufuk Topkara, Umrisse einer zeitgemäßen philosophischen Theologie im Islam. Die Verfeinerung des Charakters, Wiesbaden 2018, sowie Sebastian Günther/Yassir El Jamouhi, Islamic Ethics as Educational Discourse. Thought and Impact of the Classical Muslim Thinker Miskawayh (d. 1030), Tübingen 2021. 506

140 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

3.1 Aḫlāq als konnotatives Konzept der islamischen Ethik In seiner modernen Bedeutung bezeichnet der Begriff Ethik eine akademische Fachrichtung der Philosophie, die sich sowohl mit Wissensgebieten, wie ethischen Methoden und Theorien, als auch mit Gegenstandsbereichen, wie z. B. ethischen Fragen und Phäno­ menen, beschäftigt.507 Für die antiken Griechen hatte Ethik immer mit Charakter, Sitte, individueller Haltung und Gewohnheit zu tun, wie bereits aufgezeigt wurde.508 Einen Kognat für den Sammelbe­ griff »Ethik« im modernen Sinn gibt es daher in der islamischen Geistesgeschichte nicht. Im deutschen oder englischen Sprachraum finden sich häufig die Äquivalente Islamic oder Muslim Ethics bzw. islamische Ethik. Die deutsche Bezeichnung »islamische Ethik« sub­ sumiert eine Bandbreite an ethischen Theorien und Ansätzen, die sehr unterschiedlich systematisiert und geordnet sind.509 Als »islamische Ethik« werden meistens jene Bestrebungen gefasst, die sich durch die islamische Geistesgeschichte hindurch bis in die Gegenwart mit Konzepten und Fragen um die moralische Verfassung des Menschen und sein ethisches Handeln beschäftigen.510 Diesen Ansätzen geht die Ausgangsvorstellung voraus, dass der Mensch sich vor einer Instanz verantworten muss, die größer ist als das eigene Selbst, d. h., die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Glauben und vernünf­ tigem Handeln wird zum Gebiet der theologischen Ethik.511 Eine theologische Ethik, die sich aus der Dialektik mit der sie umgebenden Geistesgeschichte entwickelte und ihre Reflexion auf den Menschen als ethisches Sozialwesen vertieft, lässt sich in den philosophischen sowie mystischen aḫlāq-Konzepten entdecken. Doch wie ist aḫlāq nun zu verstehen? Vgl. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 17 f. Vgl. ebd., 11. 509 Die grundsätzliche Schwierigkeit lässt sich bspw. an drei zeitgenössischen Wer­ ken demonstrieren, die für ihre ethische Kategorisierung unterschiedliche Kriterien aufstellen sowie Persönlichkeiten und ihre Werke unterschiedliche einordnen. Es handelt sich um George Hourani und sein Werk Reason and Tradition in Islamic Ethics, Majid Fakhrys Ethical Theories in Islam, und Cafer Sadık Yarans İslam Ahlak Felsefesine Giriş. Siehe: George F. Hourani, Reason and Tradition in Islamic Ethics, Cambridge/New York 2007; Majid Fakhry, Ethical Theories in Islam, Leiden/New York/Köln 21994; Cafer S. Yaran, İslam Ahlak Felsefesine Giriş, Istanbul 2011. 510 Vgl. Zeki S. Zengin, Islam, Ahlâk ve Etik. In: Yıldırım Beyazıt Üniversitesi Bülten, 4 (2016) Ankara, 5–11, hier 5. 511 Vgl. Cafer S. Yaran, İslam Ahlak Felsefesine Giriş, Istanbul 2011, 45. 507

508

141 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Etymologisch bildet der Begriff aḫlāq die Pluralform des Wortes ḫuluq und hat ein Bedeutungsspektrum wie Charakter, natürliche Veranlagung, Qualität, sittliche Haltung, Eigenschaften, Disposition sowie Angewohnheit.512 Er bezieht sich zusammenfassend gespro­ chen auf die inneren Potenziale bzw. Qualitäten des Menschen, d. h. auf Eigenschaften und Haltungen, die sowohl lobens- als auch tadelnswert sein können. Aus derselben Wortwurzel ḫ-l-q leitet sich das Verb ḫalaqa (schaffen, formen) sowie die qurʾānischen Begriffe ḫallāq für Schöpfer sowie ḫalq für Schöpfung und körperliche Beschaf­ fenheit ab. Der Körper im Sinne eines Mediums steht folglich im Verhältnis zur Kultivierung von Charaktereigenschaften, es besteht eine Interdependenz zwischen den beiden Entitäten Körper und Seele, die besonders in der mystischen Denktradition zur Entfaltung gekom­ men ist, die aber auch im Zusammenhang von Medizin und Ethik Gegenstand wurde.513 Aus dem geläufigen Gebet des Propheten Muḥammad »Oh Gott, Du hast meine erschaffene Form (ḫalqī) verschönert, verschönere ebenso meinen Charakter (ḫulūqī)«514 ist zu schließen, dass der Begriff aḫlāq den Menschen mit der physischen und der psychischen/seelischen Komponente als personales Gesamt­

Vgl. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Bd. 10, 88 f.; vgl. Wehr, Wörterbuch, 360 ff.; vgl. Dwight M. Donaldson, Studies in Muslim Ethics, London 1953, 108. 513 Der griechische Arzt Galen (Claudius Galenus, 129–199) gilt nach Hippokrates als der bedeutendste Mediziner der Antike und verfasste ebenfalls Abhandlungen zur Philosophie und Ethik. Wie viele antike Mediziner war auch Galen ein Philosoph und beschäftigte sich nicht nur mit der körperlichen Gesundheit, sondern auch mit der psychischen, d. h., er sorgte sich um die Gesundheit der Seele. Galen schrieb einige ethische Werke in diesem Zusammenhang, wobei als einziges Fī’l-Aḫlāq (Über Charaktereigenschaften) in der arabischen Übersetzung erhalten geblieben ist. Darin stellt Galen den Zusammenhang zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit dar. Der ethischen Vorstellung liegt ein medizinischer Ansatz zugrunde. Menschliche Laster werden – dem Ansatz Galens folgend – für eine Krankheit gehalten, während Tugenden als »Gesundheit der Seele« dargestellt werden. Inspiriert durch Galen sowie Platons Positionen über den Staat und der ihre Tugenden verfasst Abū Bakr ar-Rāzī (854–925) seine ethische Abhandlung aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī (Die geistige Medizin). Er widmet dieses Werk als Ergänzung zum Kitāb al-Manṣūrī, einem medizinischen Werk zur Heilung des Körpers, dem Herrscher Abū Sālih al-Manṣūr. Abu Said Bakhtishu, ein im 11. Jh. lebender Arzt, bspw. nannte sein Buch Ṭibb al-nafs wa mudawat al-aḫlāq (Die Medizin der Seele und die Heilung der Verhaltensweisen). Siehe Näheres hierzu Peter Adamson, Abū Bakr al-Rāzī (d. 925): The Spiritual Medicine. In: Khaled El-Rouayheb/Sabine Schmidtke (ed.), The Oxford Handbook of Islamic Philosophy, Oxford 2017, 63–82. 514 Vgl. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad, Hn. 24392. 512

142 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

kunstwerk bezeichnet.515 Da das etymologische Bedeutungsfeld von aḫlāq variiert, sind unterschiedliche Übersetzungen und Deutungen möglich und auch anzutreffen. In dieser Arbeit wird von der Grund­ definition für aḫlāq als dem Menschen innewohnender personaler Charaktereigenschaft bzw. Qualität ausgegangen, die den gesamten Charakter formt. Aḫlāq-Konzepte eröffnen Möglichkeiten der Schulung und Übung der personalen Grundausstattung, d. h. der charakterlichen Veredelung, ähnlich wie Schiller es in seinem 4. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen hinsichtlich des menschlichen Charakters schreibt.516 Vor diesem Hintergrund ließe sich also fest­ halten, dass der aḫlāq-Ansatz das Augenmerk nicht auf die richtige Handlung legt – wie adab es größtenteils vorsieht –, sondern darauf, wie und dass der Mensch eine Disposition trainiert, das ethisch Richtige zu wählen und diese Wahl auf ästhetisch schöne Weise mit Leben erfüllt. Aḫlāq-Konzepte werden gegenwärtig als Teilgebiet der praktischen islamischen Philosophie gesehen,517 die u. a. konkrete Fragen nach dem Charakter, der Seele, dem guten und ethischen Handeln sowie dem Zusammenleben der Menschen stellt sowie die Verfassung der Seele und damit die Verschönerung der bestehenden Charaktereigenschaften zu moderieren und zu schulen sucht.518 Nach

515

Vgl. Mahmud Erol Kılıç, Sufi ve Sanat. Makaleler – Konferanslar 2, Istanbul 2015,

4 f. 516 Siehe hierzu Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, aufgrund der Originaldrucke hrsg. v. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert mit Herbert Stubenrauch, Bd. 1–5, München 31962, 24. 517 Vgl. Walzer/Gibb, Akhlaq. In: EI2. 518 Den Begriff der Verschönerung gilt es in Zusammenhang mit der Ästhetik zu explizieren. Huṣn (schön, griech. aisthesis) kann als das sinnlich Wahrnehmbare und künstlerisch Erfahrbare verstanden werden, das mit allen Formen sinnlicher Wahr­ nehmung verknüpft ist (vgl. Heinz von Foerster, Wahrnehmen wahrnehmen. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, 434–443). Der Prophet Muḥammad stellt Gott als schön vor und dass Gott das Schöne liebt (Innallaha ǧamīlun wa yuḥibbuʾl-ǧamīl (vgl. Ibn Hanbal, Musnad). Daraus lässt sich folgern, dass die menschliche Beziehung zu Gott ihrem Wesen nach eine schöne ist (vgl. Kılıç, Sufi ve Sanat, 4 f.). Damit verbunden sind wünschens- und erstrebenswerte Eigenschaften des menschlichen Charakters als ein Teil dieses auf Schönheit basierenden Beziehungskerns, d. h., wünschenswerte Eigenschaften sind in ihrem Kern immer auch schön.

143 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Ebrahim Moosa ist ʿilm al-aḫlāq das Wissen um die inneren Anlagen, die die Kultivierung und Veredelung dieser Anlagen impliziert.519 Ethik, verstanden als die Wissenschaft der Beurteilung mensch­ licher Handlungen, kann m. E. nicht als Äquivalent des aḫlāq-Begriffs gesetzt werden. Die Ethik fragt in ihren unterschiedlichen Ansät­ zen nach der Begründung dieser Beurteilungskriterien und damit nach ihrer Rechtfertigung. Diese Bestrebungen lassen sich in der islamischen Tradition in verschiedenen Diskursen unterschiedlicher Wissensdisziplinen finden. Aḫlāq-Diskurse wurden in vielen Wis­ senszweigen mit unterschiedlichen Implikationen geführt. Die Epis­ temologie der Ethik fragt – wie die islamische Jurisprudenz – nicht danach, welche Handlungsweisen in einem konkreten Fall moralisch geboten oder abzulehnen sind, sondern beschäftigt sich mit Ansätzen, wie man überhaupt zu solchen Urteilen kommen kann oder/und welche menschliche Verfasstheit hierfür notwendig ist. Grundsätzli­ che Fragen der Ethik lassen sich in einer Vielzahl an Schriften der Philosophie, Theologie, Literatur und Mystik finden. Vor diesem Hin­ tergrund ist die Bezeichnung ʿilm al-aḫlāq das Äquivalent der Ethik als Wissenschaftszweig. Als ʿilm al-aḫlāq, Wissen um den Charakter, sind jene Werke und Traktate zu fassen, die sich mit Eigenschaften des Charakters, erstrebenswerten Gewohnheiten und Dispositionen oder auch menschlichen Trieben und Affekten beschäftigen.520 Die moralphilosophische tahḏīb-Literatur ist einer der Stränge dieser Wissenschaft über den Charakter, die explizit über Tugenden spricht. Das arabische Äquivalent, das für den Tugendbegriff in dieser Lite­ ratur verwendet wird, bildet das Wort faḍīla (Sg., Pl. faḍāʾil), das ein weites Bedeutungsspektrum von »überschüssig sein« bis hin zu »vorzüglich sein«, »gut sein«, »angemessener sein«, »vortrefflich sein« und »um den Vorrang streiten« umfasst.521 Es gibt bislang wenige Versuche eines systematischen Gesamt­ entwurf zur islamischen Ethik522 und bei der Bandbreite an ethischen

519 Vgl. Ebrahim Moosa, »Muslim Ethics?«. In: William Schweicker (Hrsg.), The Blackwell Companion to Religious Ethics, Oxford 2005, 237–243, 237 f. 520 Vgl. Muḥammad b. Mukarrim Abū Faḍl Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Beirut 31993, Bd. 10, 88 f.; vgl. Hans Wehr, Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 62009, 360 ff. 521 Vgl. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, 524 f.; vgl. Wehr, Wörterbuch, 969. 522 Vgl. Yasien Mohamed, The Evolution of Early Islamic Ethics. In: American Journal of Islamic Studies, 18, 4 (2001), 89–133, hier 91. Für eine deutschsprachige Einfüh­

144 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Schriften scheint dies ein kompliziertes Unterfangen zu sein.523 In der Retrospektive verdeutlicht sich die Schwierigkeit, ethische Strömun­ gen, Ansätze und Diskurse zu systematisieren, da weder in der islam­ wissenschaftlichen noch theologischen Forschung genügende Vorar­ beiten existieren. Während in den Werken der makārim al-aḫlāq (Lobenswerte Charaktereigenschaften) – grob gesprochen – an den Erwerb von religiösen Tugenden appelliert wird, lässt sich für die tahḏīb al-aḫlāqWerke wohl eher konstatieren, dass darin eigene Vorstellungen ihren Ausdruck finden, wie der Erwerb und die Ausbildung von Tugenden auf das Seelenleben wirken und was deren übergeordnetes Ziel sei. Das gilt es nach einem historischen Introitus darzulegen.

3.2 Phase der Übersetzung der antiken philosophischen Schriften In der frühislamischen Zeit begann die Beschäftigung mit der antiken Philosophie in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und mit ihr zugleich eine intensive Übersetzungsphase. Neben philosophischen Werken wurden ebenso naturwissenschaftliche und medizinische Werke des antiken griechischen, iranischen und indischen Erbes über­ setzt. Die Anfänge der falsafa (Philosophie), die an das griechische Erbe anschloss, begannen hingegen im 9. Jahrhundert im Hause der Weisheit (dār al-ḥikma), manchmal auch »Übersetzerschule mit Bibliothek« genannt, der großen Bibliothek sowie dem Lehrhaus, dem geistigen Zentrum Bagdads, in dem jüdische, christliche und muslimische Gelehrte arbeiteten.524 Dieser Übersetzungsschule ist es zu verdanken, dass die Texte der griechischen Antike bis heute erhalten geblieben sind. Dort widmete sich der als faylasūf al-ʿarab (der Philosoph der Araber)525 bezeichnete muslimische Philosoph al-Kindī (um 800–870) als Erster systematisch dem Studium der rung in die islamische Ethik siehe Reza Hajatpour, Islamische Ethik. Einführung, Baden-Baden 2022. 523 Vgl. Dimitri Gutas, Review of ›Ethical Theories in Islam‹ by Majid Fakhry. In: Journal of the American Oriental Society, 117, 1 (1997), 171–175, hier 175. 524 Näheres hierzu bei Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture: the GraecoArabic translation movement in Baghdad and early ›Abbasid society (2nd -4th/ 8th-10th c.), London 1998. 525 Vgl. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-Fihrist, Gustav Flügel (ed.), Bd. 2, Leipzig 1871–1872, 22, 225.

145 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

übersetzten philosophischen Texte526 und hinterließ seinen Nachfol­ gern ein breites Kompendium mit der wohl anspruchsvollsten These seiner Epoche: Die griechische Philosophie sei imstande, Probleme ihrer Zeit und innerhalb der Theologie zu erhellen527 und eine Mehr­ perspektivität zu eröffnen. Er konnte auf die altgriechischen Werke zugreifen, die im 8. Jahrhundert aus dem Syrischen und später unmit­ telbar aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt worden waren.528 Diese Übersetzer beförderten durch ihre Übersetzerleistungen den Wissenstransfer. Philosophie, Medizin und die exakten Wissenschaf­ ten, die bis in den Späthellenismus überdauert hatten, wurden in den arabischen Lehrstätten vollständig aufgenommen.529 Eine Zeit der kulturellen Blüte und der Affinität für wissenschaftlich-philoso­ phische Gelehrsamkeit begann. Die im 9. Jahrhundert im Rahmen des philosophischen Denkens begonnenen Bestrebungen, die griechische Moralphilosophie mit dem religiös-ethischen Denken zu amalgamie­ ren, kann dahingehend gedeutet werden, dass muslimische Philoso­ phen die ethischen Implikationen des Qurʾān und der Hadithe zu einer eigenständigen islamischen Moralphilosophie entfalten und entwickeln wollten. Die arabisch-islamische Welt stieg sukzessive zu einer Hoch- und Schriftkultur auf. Im 10. Jahrhundert entstanden infolge der aktiven und intensiven Rezeptionen philosophischer Texte weitere kulturelle als auch philosophische Zentren und Lernorte, wie bspw. die Universität Kairo. Aber auch philosophische Kreise formierten sich, wie z. B. die geheime Philosophengruppe Iḫwān aṣ-Ṣafaʾ wa ḫillān al-wafa (Die Brüder der Lauterkeit und Freunde der Treue), die sich aus persischen und arabischen Philosoph*innen zusammensetzte und mit ihrem Denken die damals dominierende zeitgenössische Philosophie repräsentierte. In dieser Phase der Über­ setzung des antiken philosophischen Schrifttums entstanden auch die ersten arabisch-philosophischen Schriften, die den Wert der griechi­

526 Vgl. Hamid Reza Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn 2014, pas­ sim. 527 Vgl. Peter Adamason, Al-Kindī und die frühe Rezeption der griechischen Philoso­ phie. In: Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 143–161, hier 156. 528 Vgl. Frederick S. Carney, Focus on Muslim Ethics: An Introduction. In: The Journal of Religious Ethics, 11, 2 (1983), 167–169, hier 167. 529 Vgl. Franz Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich 1965, 25.

146 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

schen Philosophie anfangs vorurteilsfrei anerkannten, sie intensiv kommentierten und kreativ weiterentwickelten.530 Ein Problemfeld kristallisierte sich in der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie heraus, da Letztere einen absoluten Wahrheitsanspruch erhob und als einziger Weg zur Erkenntnis betrachtet wurde. Auch wenn sich in der Überset­ zungsphase kritische Reaktionen seitens der Theologen abzuzeichnen begannen, war zum Ende der Übersetzungszeit eine Konsolidierungs­ phase der philosophischen Lehren zu verzeichnen.531 Obwohl auch im 10. Jahrhundert nachdrücklich bezweifelt wurde, dass das griechische geistige Erbe und seine Kultur zur Religion tatsächlich etwas beitragen könnten, und postuliert wurde, die Aufgabe der Theologie liege darin, diese Ansammlung von häretischen und irreführenden Behauptun­ gen zu widerlegen532, überwog lange Zeit ein Verhältnis gegenseitiger Anerkennung.533 So ist das geistesgeschichtliche Erbe des Islam eben nicht nur ein arabisches, sondern eines von mindestens zwei weiteren Quellen: Die durch territoriale Expansion der islamischen Welt eroberten die arabischen Muslime die großen Zivilisationen des Byzantinischen Reiches und des Sassanidenreiches.534 Der kulturelle und theologische Austausch, die Begegnungen und die gegenseitige geistige Befruchtung scheinen ein idealer Boden gewesen zu sein, auf dem die rege Geisteskultur blühen konnte und sich die islamische Kul­ tur zu entwickeln begann. Abgesehen davon, dass die Biografien der antiken Gelehrten den Muslimen zur Verfügung standen535, gehörte es wohl auch zum Habitus der damaligen Gelehrsamkeit, prominente Werke u. a. von christlichen und jüdischen Zeitgenossen zu kennen, wenn nicht gar sie positiv zu rezipieren oder zumindest dazu Stellung zu beziehen.536 Ein v. a. neuplatonisch interpretierter Aristoteles fand Vgl. Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie, 36. Vgl. Hans Daiber, Islamic Thought in the Dialogue of Culture: a historical and bibliographical survey, Leiden 2012, 172 ff. 532 Vgl. Ulrich Rudolph, Einleitung. In: ders. (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd. 1, Basel 2012, xxxi. 533 Vgl. Matthias Perkams, Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie. In: Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 13–31, hier 15. 534 Vgl. Carney, Focus on Muslim Ethics, 167. 535 Vgl. Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, 42. 536 Siehe hierzu: Francis E. Peters, The Greek and Syrian Background. In: Seyyed Hossein Nasr (Hrsg.), History of Islamic Philosophy, New York 1996, 40–51. 530 531

147 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Eingang sowohl in das philosophische als auch theologische Denken der Muslime.537 Er wurde eingeführt »im Prozess der Rezeption aristotelischer Schriften, vermittelt durch den Platonismus der alex­ andrinischen Aristoteles-Kommentatoren und der Überlieferung der Neuplatoniker unter Aristoteles’ Namen«538, sodass er für al-Fārābī (gest. 970) zum Repräsentanten neuplatonischer Modelle wurde. Eine aktive Rezeptionsgeschichte begann. Im 12. Jahrhundert führten hingegen muslimische und jüdische Philosophen wie Ibn Sina (980– 1037), Ibn Rušd (1126–1198) und Moses Maimonides (1135–1204) die Schriften des Aristoteles wieder in das Abendland ein.539 In diesem geistigen Rahmen entstand eine arabisch-islamische Philosophie, und Ethik war eine wichtige Diskursgröße sowohl in der Philosophie als auch in weiteren Wissenschaftszweigen. Die griechische Philosophie galt den Intellektuellen in den Lehr­ zentren, z. B. in Bagdad, als vorbildlich. Insbesondere kam ethischen Schriften für die Entstehung der islamischen aḫlāq-Philosophie eine entscheidende Bedeutung zu, obwohl sie sich, wie schon festgestellt, im Grunde von den adāb-Werken unterschieden. Mit den Schriften von Pythagoras, Platon, Aristoteles und Galen stellte der tugendethische Ansatz die herrschende Moralphilosophie in der Antike sowie Spätantike dar.540 Im Zentrum dieser griechischen Moralphilosophie standen Glücks- und Tugendkonzeptionen541, die sich bei Platon hauptsächlich in seinen Werken Politeia und Nomoi542, bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik und bei Galen in seinem

537 Vgl. Cornelia Schöck, Möglichkeit und Wirklichkeit menschlichen Handelns. ›Dynamis‹ (qūwa/qudra/istitā’a) in der islamischen Theologie. In: Traditio, 59 (2004), 79–128, hier 80. 538 Vgl. Cleophea Ferrari, Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus. In: Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 218–232, hier 222. 539 Vgl. Alain de Libera, Die mittelalterliche Philosophie, München 2005, 23; siehe die Werke des Aristoteles bei Hermannus Allemannus. 540 Vgl. Hüseyin Karaman, Islam Ahlak Filozofları. In: Müfit Selim Saruhan (ed.), İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, Ankara 22014, 171–194, hier 171; vgl. Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, Göttingen 2014, 99. 541 Vgl. Christoph Horn, Moralphilosophie. In: ders./Jörn Müller/Joachim Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 22017, 160–169, hier 161. 542 Im Nachschlagewerk des bekannten Bibliografen und Buchhändlers Ibn an-Nadīm (gest. um 995) sind bis dato auch Parmenides und die Briefe von Platon übersetzt, vgl. Ibn an-Nadīm, Fihrist, in der Ausgabe von Flügel 1871/1872, 251 f.

148 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

in Arabisch erhaltenen Werk Fīʾl-aḫlāq (Über Charaktereigenschaf­ ten) finden. In der gegenwärtigen Diskussion über ethische und moralpäd­ agogische Konzepte kommt insbesondere Aristoteles und Kant als Referenzautoren seit der Moderne eine bedeutende Rolle zu. Neben der Tatsache, dass eine wichtige Hauptquelle für die philosophische Ethik die Schriften des Aristoteles waren,543 stellte die NE das bedeu­ tendste und einflussreichste Werk für die islamische aḫlāq-Philoso­ phie dar.544 Eine sehr starke Rezeption und der Einfluss der NE sind in unterschiedlichen Literatur-Genres und Wissensdisziplinen belegt – sowohl in der systematischen, der philosophischen und nicht zuletzt in der mystischen. Erste Spuren einer arabischen Version der NE lassen sich bei al-Kindī und dem Bibliografen und Gelehrten Ibn an-Nadīm (gest. um 995) entdecken.545 An-Nadīm erwähnt die NE als das Buch der Ethik, das er als Kitāb al-aḫlāq546 (Buch der Charaktereigenschaften) in seinem Bücherverzeichnis unter den aris­ totelischen Schriften auflistet bzw. als solche kategorisiert.547 Auch al-Fārābī (870–950) schrieb einen Kommentar zur Einführung der NE.548 Andere Philosophen, wie al-ʿĀmirī (gest. 991), der sich in die philosophische Tradition al-Kindīs stellte und ein Freund Miskawayhs (932–1030) war, sowie Ibn Baǧǧa (1095–1138) und Ibn Rušd (1126– 1198) rezipierten ebenfalls die NE.549 Es ist davon auszugehen, dass eine arabische Übersetzung der NE, die in ihren kulturellen Nuancen Vgl. Hans Daiber, From the Greeks to the Arabs and Beyond, Vol. I, Leiden/Bos­ ton 2021, 117. 544 Ein kleiner rezeptionsgeschichtlicher Hinweis sei an dieser Stelle kurz angemerkt: Miskawayh ist der erste und wichtigste Rezipient des tugendethischen Gedankenguts Aristotelesʾ. Alle anderen Rezipienten, in dessen Werken sich aristotelische Tugend­ lehre ausfindig machen lässt, rezipieren wohl weniger oder kaum Aristoteles selbst, sondern einen miskawayhisch verstandenen Aristoteles. 545 Vgl. Manfred Ullmann, Die Nikomachische Ethik des Aristoteles in arabischer Übersetzung, Teil 1, Wortschatz, Wiesbaden 2011, 13. Von Aristotels’ Schüler Theo­ phratus (371–287 v. Chr.) war in der islamischen Welt die Interpretation der NE bekannt, und zwar kapitelweise unter verschiedenen Titeln wie Kitab al-nafs oder Kitāb al-adab, vgl. Hilmi Ziya Ülken, Uyanış Devirlerinde Tercümenin Rolü, Istanbul 2011, 140. 546 Weitere Übersetzungen waren bspw. Nīqūmākhiyā oder Kitāb Nīqūmākhiyā. 547 Vgl. Ernst A. Schmidt/Manfred Ullmann, Aristoteles in Fes. Zum Wert der arabischen Überlieferung der Nikomachischen Ethik für die Kritik des griechischen Textes, Heidelberg 2011, 7. 548 Vgl. Walzer/Gibb, Akhlaq. In: EI2. 549 Vgl. Schmidt/Ullmann, Aristoteles in Fes, 8. 543

149 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

dem arabischen Kulturraum angepasst wurde,550 also mit inhaltlichen und sprachlichen Abweichungen vom Original, im 9. Jahrhundert bekannt war und rezipiert wurde.551 Eine erste Übersetzung mit dem Kommentar von Porphyrios (233-um 303) wird auf den (christlichen) eminenten Übersetzer Ishāq ibn Ḥunayn (gest. 873) zurückgeführt.552 Er hatte sich durch die Übersetzung verschiedenster Werke, u. a. auch der Schriften des griechischen Arztes Galen (um 129–200), besonders verdient gemacht. Zur arabischen Übersetzung der NE ist zu vermerken, dass sie bis vor wenigen Jahren als verloren galt, bis zwei Manuskripte in der reichen Handschriftenbibliothek Maktabat al-Qarawīyīn in Fès entdeckt wurden. Daraus folgt, dass die Rezeption der NE durch muslimische Philosophen sowohl aus dem Griechischen wie auch aus unterschiedlichen arabischen Übersetzungen stammen kann.

3.3 Tugendethische Tradition In der arabisch-religiösen Denkgeschichte wird TA in erster Linie als wichtigste Quelle der Ethikforschung angesehen. Die wesentlichen Inhalte dieser Werke thematisieren Charaktereigenschaften, ihren Sitz in der Seele und stellen Überlegungen zu ihrer Verfeinerung an. Die Wortwurzel (von tahḏīb) h-ḏ-b bedeutet »stutzen«, »glätten«, »reinigen«, »säubern« oder »berichtigen« und deutet auf die Prozess­ haftigkeit und auf das Veränderungspotenzial der Charaktereigen­ schaften hin.553 Der Begriff tahḏīb meint demnach Bereinigung, Ver­ besserung, Korrektur, Revision, Überarbeitung, Verfeinerung, gute Erziehung, Belehrung, wohlerzogene, höfliche Art.554 Prozesshaftig­ 550 Vgl. Anna Akasoy, The Arabic and Islamic reception of the Nicomachean Ethics. In: Jon Miller (Hrsg.), The Reception of Aristotle’s Ethics, Cambridge 2012, 85–106, hier 92. 551 Eine ausführliche und übersichtliche Textgeschichte der arabischen Editionen ist zu lesen in: Schmidt/Ullmann, Aristoteles in Fes, Heidelberg 2011, eine kürzere Zusammenfassung bei Ufuk Topkara, Umrisse einer zeitgemäßen philosophischen Theologie im Islam, Wiesbaden 2018. 552 Vgl. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-Fihrist, Bd. 1, Leipzig 1871, 252. 553 Vgl. Ahmet Özel, Tehzib. In: TDV, Bd. 40, 325–328, 325; vgl. Wehr, Wörter­ buch, 1345. 554 Vgl. Wehr, Wörterbuch, 1345. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann die arabische Bezeichnung für Reinigung auf den griechischen Begriff der katharsis (καθαρότης, καθαρισμός, κάθαρσις) zurückgeführt werden, der sich auf einen symbolischen Rei­

150 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

keit bedeutet, in bildungstheoretischer Perspektive, dass Tugenden lediglich in einem allmählichen Prozess durch Handlungen erworben werden können.555 Sie nimmt den ganzen Menschen in Anspruch, physisch wie auch psychisch. Die moderne Forschung zur Persönlich­ keitsentwicklung, die sich v. a. für die Stabilität oder Veränderbarkeit individueller Eigenschaften von Menschen interessiert, betont heute, dass der Mensch das Potenzial in sich trage, Persönlichkeitseigen­ schaften zu ändern.556 Die Änderung im Selbst kann demnach aber erst im Handeln, im Tätigwerden aktiviert werden. Das spezifische Merkmal der tugendethischen Tradition ist die Herstellung einer Beziehung zwischen der Kultivierung der Charak­ tereigenschaft und der Läuterung der Seele. Der aristotelische Begriff der Tugend (aretē) wird in den klassischen arabischen Texten mit faḍīla wiedergegeben, eine Bezeichnung, die weder im Qurʾān noch in den Hadith-Sammlungen vorkommt.557 Der Vollständigkeit halber darf der christliche Philosoph, Theo­ loge und Übersetzer Yaḥyā bin ʿAdī (893–974) in diesem Zusam­ menhang nicht unerwähnt bleiben, der einer der großen christlichen Aristoteles-Rezipienten seiner Zeit war.558 Er verfasste noch vor Miskawayh sein Werk mit dem Titel Tahḏīb al-aḫlāq (Läuterung des Charakters). Auch wenn bislang keine Arbeiten über das Verhältnis der beiden gleichnamigen Werke vorliegen, behandeln beide prinzipi­ ell dasselbe Thema.559 Ibn ʿAdī wird von Gerhard Endress als Lehrer der theoretischen Lebensform und der philosophischen Wahrheitsnigungsprozess des Körpers wie auch der Seele (oder auch von Objekten) bezieht. Vgl. Martin Arndt et al., Art. Reinheit/Reinigung. In: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie online. 555 Vor allem zeigt sich in den mystischen Praktiken die Korrelation zwischen der Physis und der Seele, nach der in der physischen Reinigungstätigkeit die Reinigung des Selbst erlangt werden soll. In dieser Überzeugung dürfte die erste Aufgabe eines Derwisches wie auch eines Novizen das Kehren des Ordensgartens oder der Tempel­ stufen oder das Wischen des Bodens gewesen sein. Eine ähnliche Sichtweise lässt sich auch auf die Reinigungsriten anwenden, die erforderlich sind, um am religiösen Ritus teilzunehmen. Weniger ist damit die hygienische Reinheit bezweckt, als dass ein pädagogisches Ziel dahintersteckt, das ebenso die Reinheit als Körperpflege wie als ersten Schritt zur moralischen Reinheit betrachtet. 556 Siehe Näheres dazu in Jule Sprecht (ed.), Personality development across the lifespan, London 2017. 557 Vgl. Mustafa Çağrıcı, Fazilet. In: TDK, Bd. 12, 268–71, hier 269. 558 Vgl. Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam: Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart 2008, 247. 559 Vgl. Topkara, Umrisse, 72.

151 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

und Gotteserkenntnis charakterisiert, der jedem Menschen mit seiner Schrift den Weg habe eröffnen wollen, mit Mitteln der Vernunft den universal gültigen Weg zur Vollkommenheit zu finden.560 Seinem Werk ist zu entnehmen, dass die tragende Idee der Läuterung der Seele die Überzeugung ist, dass jeder Mensch eine vernunftbegabte Seele habe, die es zu läutern gelte, d. h. die von allem Ballast, der das See­ lenleben störe, ja ins Ungleichgewicht bringe, zu reinigen sei.561 Die Verwirklichung einer Tugend führe den Menschen, so Ibn ʿAdī, zur Glückseligkeit.562 Ibn ʿAdī hatte sozusagen eine neue Richtung begründet, der viele muslimische Philosophen folgten, wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit noch zeigen wird. Die Auswahl der muslimischen Denker wurde in den vorange­ gangenen Betrachtungen nach dem Kriterium getroffen, Konzepte von Gelehrten vorzustellen, die zwar nicht ausschließlich als aḫlāqPhilosophen zu charakterisieren sind, aber weitestgehend die aristo­ telische Perspektive der Tugendlehre rezipiert haben oder zumindest davon inspiriert wurden und mit ihren einschlägigen Schriften über Ethik teilweise der klassischen TA-Literatur zugeordnet werden kön­ nen.

3.3.1 Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī (um 872–950) Fārābī war Musiktheoretiker, Mediziner sowie Philosoph. Als ein sehr politischer Mensch vertrat er die aristotelische Ansicht, dass jeder Mensch zoon politikon sei, d. h. jeder Mensch ist ein politisches und soziales Wesen, das an der Gesellschaft partizipieren soll. So sah sich auch Fārābī mit der Herausforderung konfrontiert, die durch die Übersetzungsarbeiten ermöglichten Rezeptionen und hierdurch erlangten neuen Wissensinhalte mit den in der islamischen Gesell­ schaft als verbindlich geltenden Wissensbeständen in ein Verhältnis zu setzen.563 Aus diesem Bestreben heraus entstand sein Werk Ihsāʾ al-ʿulūm (Aufzählung der Wissenschaften). In seinem letzten und bedeutendsten Werk Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila (Prinzipien der Ansichten der Bewohner der 560 Vgl. Gerhard Endress, Yaḥyā Ibn ʿAdī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.-10. Jahrhundert, Basel 2012, 301–325. 561 Vgl. Topkara, Umrisse, 75. 562 Vgl. Sidney Griffith, Yahyā Ibn ʿAdī, The Reformation of Morals, Utah 2002, 131. 563 Vgl. Ferrari, Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus, 220.

152 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

vortrefflichen Stadt)564 thematisiert er einerseits den Zusammenhang zwischen Metaphysik und Politischer Philosophie, andererseits ent­ hält dieses Werk auch eine Abhandlung über eine ideale städtische Verwaltungsform und die Möglichkeit des glücklichen Zusammenle­ bens in einer Gesellschaft.565 »Al-Fārābī war ein Aristoteliker durch und durch, der auf Grundlage des Corpus Aristotelicum zahlreiche Kommentare und Übersetzungen verfasste und sich selbst als den Wiederentdecker der aristotelischen Hinterlassenschaft präsentierte, welche bis zu seiner Zeit größtenteils verloren gegangen sei.«566

Über einige Abschnitte der NE schreibt er einen umfangreichen Kommentar und übernimmt die aristotelische Zweiteilung der Tugen­ den in Verstandestugenden und Charaktertugenden.567 So bespricht er in seinem letzten Werk die Verstandestugenden zwar aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive, allerdings stehen sie in einer Interdependenz mit den Charaktertugenden der Bürger einer Stadt. Tapferkeit, Großzügigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit zählt er zu den Charaktertugenden. Sein Verständnis von Tugend bildet er nach dem Vorbild von Aristoteles: Sie bildet sich durch wiederholte Aus­ übung bzw. durch Gewöhnung an eine tugendhafte Handlung. Er setzt im tugendhaften Bürger die Möglichkeit voraus, das Wohl des Einzelnen mit dem Wohl des Gemeinwesens und dem der Menschheit in Einklang zu bringen, und an oberster Stelle stehe der tugendhafte Herrscher. In diesem Zusammenhang stellt er sich, nach dem Vorbild von Platons Politeia, die Frage nach den Bedingungen einer vollkommenen Regierung oder nach dem Ideal eines gerechten Herrschers. Dem Herrscher und seiner Politik obliege es, Strukturen zu schaffen, die seine Bürger zu einem tugendhaften und gerechten Leben anleiten, wodurch die menschliche Vollkommenheit erreicht werden könne.568 Denn die geistige Vervollkommnung sei das Endziel 564 Siehe hierzu Ulrich Rudolph (Hrsg.), Abū Naṣr al-Fārābī: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt, Berlin/Boston 2022. 565 In dieser Linie stehend werden später Ibn Bāǧǧa und Ibn Ṭufayl (1110–1185) eben­ falls die Frage nach der Möglichkeit einer guten Lebensführung in einer schlechten Gesellschaft stellen. Vgl. Perkams, Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie, 22. 566 Adamson, Abū Bakr ar-Rāzī, 199. 567 Vgl. NE 1103a 10. 568 Vgl. Charles E. Butterworth, Ethics in Medieval Islamic Philosophy. In: The Journal of Religious Ethics, 11, 2 (1983), 224–239, hier 229.

153 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

menschlichen Lebens. So entwirft Fārābī kein systematisches Werk über die Tugenden, sondern verbindet »eine neuplatonische Welt­ interpretation bewusst mit der Ausformulierung einer politischen Theorie«569 und inkludiert einen didaktisch-ethischen Anspruch in politischer Absicht. In seinem Traktat Taḥṣīl al-saʿāda (Über die Erlangung der Glückseligkeit), in dessen Einleitung er einen würdi­ genden Kommentar zur Philosophie Platons und zur NE schreibt, konstatiert er, dass Bürger von Städten und Ländern zur Glückselig­ keit im Diesseits und Jenseits durch den Erwerb von theoretischen Tugenden (nazarī faḍila) gelangen könnten.570 So führt Fārābī weiter aus, dass der Mensch durch Wahrheitserkennung die höchste Stufe des Glücks erreichen könne, indem er sich vom irdischen Ballast und von körperlichen Trieben befreie.571 Diese Stufe sei das höchste Gut, das gute Leben, das um seiner selbst willen erstrebenswert sei. Ibn Rušd oder auch Ibn Bāǧǧa (latinisiert Avempace) übernahmen diese Position. Von al-Fārābī sowie Abū al-Ḥasan Muḥammad ibn Yūsuf al-ʿĀmirī wurde der Begriff des Glücks (als Übersetzung von eudaimonia) mit dem arabischen Begriff der saʿāda eingeführt und bis heute weitgehend in der islamischen Ideengeschichte rezipiert.572 Saʿāda als zentrales Konzept der islamischen Philosophie verknüpfte diesseitiges Glück mit jenseitigem. Nicht vergänglicher Genuss oder Vergnügen, die subjektive Glücksmomente lieferten, sollten Ziel der Tugendhaftigkeit sein, sondern Glückseligkeit bedürfe der Verwirk­ lichung um ihrer selbst willen. Fārābīs Verständnis von Glück (saʿāda) findet ebenfalls eine breite Rezeption unter den muslimischen Philo­ sophen, wie wir noch lesen werden.573 Das ethische Lernen erkennt er in der Befähigung des Einzelnen, seine Neigungen und Haltungen zum Guten hin zu schulen und zu lenken. Dieser Prozess sei prinzipiell durch die Läuterung, Reinigung bzw. Besserung der Seele möglich. Das Ziel der Philosophie, wie es

Hendrich, Arabisch-Islamische Philosophie, 63. Vgl. Al-Fārābī, The Attainment of Happiness. Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Muhsin Mahdi, Ithaca/New York 2001, 13. 571 Vgl. Ferrari, Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus, 228. 572 Vgl. Maraş, Mutluluk, 245. 573 Vgl. Ibrahim Maraş, Mutluluk. In: Müfit Selim Saruhan, İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, Ankara 22014, 245–264, hier 247. 569

570

154 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

al-Fārābī beschreibt, ist die Vollendung des Intellekts, was letztendlich die Glückseligkeit schlechthin darstelle.574

3.3.2 Abū ʿAlī Miskawayh (932–1030) Der wohl einflussreichste Philosoph und Historiker, der die philoso­ phische Ethik am nachhaltigsten beeinflusst hat, ist Miskawayh mit seinem Werk Tahḏīb al-aḫlāq wa-tathīr al-aʿrāq (Die Läuterung des Charakters und die Reinigung der Anlagen), welches er zwischen 982–985575 verfasste. Er ist der erste muslimische Moralphilosoph, der ein klares und in vielerlei Hinsicht gründliches analytisches System der Moralethik im Islam ausgearbeitet hat. Es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass die meisten späteren Werke, die von Ethik handeln, die TA als autoritative Quelle benutzten und einige von ihnen sogar darauf basieren.576 Nun ist bis in die Gegenwart hinein über Miskawayh und sein für die Philosophiegeschichte der aḫlāq-Tradition außerordentlich wichtiges Werk sehr viel geschrieben worden, daher konzentrieren sich meine Ausführungen zur TA gemäß dem Forschungsinteresse auf seine Deutung der Tugend.577 Auch Miskawayh stand im Dienst unterschiedlicher Herrscher und bewegte sich in Intellektuellenzirkeln des Irak und des Iran. Phi­

Vgl. Al-Fārābī, Risālā fī al-ʿaql, S. J. Maurice Bouygues (ed.), Bd. 2, Beirut 1983, 4–6, hier 31; vgl. Aristoteles, Über die Seele: De anima, hrsg. u. übers. Klaus Corcilius, Hamburg 2018, Buch III (151–120). 575 Vgl. Mohammed Arkoun, L'Humanisme arabe au IVe/Xe siècle, Miskawayh, philosophe et historien, Paris 21982, 115 f. In meinen Bezugnahmen auf Miskawayhs TA folge ich der Übersetzung von Constantine K. Zurayk, Miskawayh. The Refine­ ment of Character (Tahḏīb ̣ al-aḫlāq), Chicago 2002 [im Folgenden: Miskawayh, Refinement]. Miskawayh schrieb sowohl auf Persisch als auch auf Arabisch, allerdings nicht nur über Geschichte und Philosophie, sondern auch über Theologie und Medizin. In seinem TA sind bspw. Reminiszenzen an die galenische Ethik aufzufinden. Vgl. Peter Adamson, Ethik als Medizin in der arabischen Tradition. In: Schmidt/Nassery, Moralische Vortrefflichkeit, 65–90, hier 73. 576 Siehe hierzu Sebastian Günther/Yassir El Jamouhi, Islamic Ethics as Educational Discourse. Thought and Impact of the Classical Muslim Thinker Miskawayh (d. 1030), Tübingen 2021. 577 In präziser Feinarbeit hat Ufuk Topkara in seiner Dissertationsschrift Umrisse einer zeitgemäßen philosophischen Theologie im Islam. Die Verfeinerung des Charakters (Wiesbaden 2018) u. a. die einzelnen Rezeptionslinien des Tahḏīb ̣ al-Aḫlāq nachge­ zeichnet. 574

155 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

losophisch wird er der Fārābī-Schule zugeordnet578, er war mit Zeit­ genossen wie dem Sufi-Philosophen at-Tawḥīdī (gest. 1010/1023), Ibn Sīnā sowie dem bereits erwähnten Übersetzer und Kommentator Yaḥyā bin ʿAdīy (893–974) befreundet. So schreibt Cleophea Ferrari, dass es nicht verwunderlich sei, dass in den Werken Miskawayhs al-ʿĀmirīs und as-Siǧistānīs bin ʿAdīy Einfluss erkennbar werde, da sie und weitere sich an denselben Höfen und in denselben intel­ lektuellen Kreisen bewegten und sich auch möglicherweise persön­ lich kannten.579 Hieraus lässt sich schließen, dass ihre Werke wohl auch überwiegend von Menschen gelesen wurden, die sich in jenen intellektuellen Kreisen bewegten oder zum Herrscherhaus gehörten. Dieser kulturelle und intellektuelle Reichtum der Gedankenwelt mus­ limischer Philosophen fand seinen Niederschlag in ihren Schriften und vermutlich auch in ihrem Zusammenleben. Dies kann nur in einer Atmosphäre des respektvollen Miteinanders und gelebter gegenseiti­ ger Würdigung möglich gewesen sein. Miskawayh vereint die persische und arabische Kultur in sei­ ner Feder. Nicht nur das TA, sondern auch seine Weisheitsschrift al-Ḥikma al-ḫālida (Die beständige Weisheit)580, in der persischen Übersetzung unter Jāvīdān Ḫarad bekannt, decken Passagen aus der griechischen Philosophie und dem persisch-politischen Erbe ab und betonen die Ähnlichkeit dieser Literatur mit den Versen des Qurʾān und der prophetischen Tradition.581 Das Werk besteht aus morali­ schen Sprüchen, Aphorismen, Sprichwörtern, gnomischen Weishei­ ten und ethischen Maximen der Perser, der Hindus, der Araber, der Griechen (wie Hermes, Diogenes, Ptolemäus, Platon, Aristoteles und Pythagoras), der Muslime (wie Ibn Muqaffaʿ und al-Fārābī) und schließt mit Hadithen des Propheten Muḥammad und Aussagen sei­ nes Schwiegersohns und Cousins ʿAli Abū Ṭālib.582 Miskawayh bringt Näheres siehe Richard Netton, Al-Fārābī and his School, London/New York 1992. Vgl. Ferrari, Al-Fārābī, 239. 580 Auch unter dem arabischen Titel Kitāb ādāb al-ʿarab wa-l-furs (Buch des Beneh­ mens der Araber und der Perser) bekannt. 581 Vgl. Miskawayh, Ḥikam al-Furs, übers. Alma Giese, »Perennial Philosophy«. In: Seyyed Hossein Nasr/Mehdi Aminrazavi (ed.), An Anthology of Philosophy in Persia, Vol. I, London/New York 2008, 326–387, 326–336 für Jāvīdān Khirad. Vgl. Walter Bruno Henning, Eine arabische Version mittelpersischer Weisheitsschriften. In: ZDMG, 106 (1956), 73–77. 582 Vgl. Ahmad ibn Muḥammad ibn Miskawayh, Al-Hikmah al-khalidah: Javidan khirad, Abd al-Rahman Badawi (ed.), Cairo 1952, 179; vgl. Roxanne D. Marcotte, Ibn Miskawahy’s Al-Saʿādāt (The Order of Happiness). In: Y. Tzvi Langermann (ed.), 578

579

156 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

also nicht nur Weisheitsliteratur verschiedener Kulturen zusammen, er kann sie überzeugend an die islamische Denkweise assimilieren. Im Fazit versucht er, die allen Religionen innewohnende Gemeinsam­ keit eines ethischen und friedvollen Lebens herauszustellen. Dieses Vorgehen Miskawayhs legt sein Bewusstsein für den bestehenden kulturellen, religiösen und ideellen Reichtum seiner Zeit und Bagdads offen, den er in einer würdigenden Art für das gesellschaftliche Mit­ einander fruchtbar zu machen versucht. Seine Philosophie beschränkt sich allerdings nicht auf Aphorismen, leicht einprägsame Sinnsprüche sowie ethische Grundsätze und Lebensregeln. Ganz im Gegenteil: Er sucht nach Bedingungen und Grundlagen des glücklichen und tugendhaften Lebens. Miskawayh bietet mit TA eine holistische mus­ limische Perspektive an, in der das Wohl des Einzelnen – ungeachtet konfessioneller und kultureller Differenzen – das der Gemeinschaft bedingt und umgekehrt. In einer Zeit und Region, in der die Scharia dominierend war, erscheint es umso erstaunlicher, dass Miskawayh versucht hat, inspi­ riert durch die griechische Philosophie Ethik weitestgehend zu ratio­ nalisieren. Anders als Aristoteles, der behauptete, dass Menschen aufgrund ihrer rationalen Kapazitäten die Fähigkeit besitzen, mora­ lisch zu handeln, betont Miskawayh die Relevanz der Existenz und Einheit Gottes in diesem Zusammenhang. Dies mag ein wesentlicher Grund für al-Ġazālī (1058–1111) gewesen sein – der Philosophen wie Fārābī und Ibn Sina aufgrund derselben Vorgehensweise zu Ungläu­ bigen erklärte583 –, keine Kritik gegen Miskawayhs zu erheben. Als einen möglichen Grund führt Elizabeth Bucar an, dass Miskawayh die griechischen Ideen nicht unmittelbar adaptiert, sondern in sein theologisch fundiertes Weltbild integriert habe; insbesondere sei es die anthropologische Frage nach der Bestimmung des Menschen, auf die Miskawayh eine theologische Antwort zu geben wusste: Das Streben nach einem guten Charakter nicht nur als das Richtige zu erkennen, sondern sich auch als Kalifa in einer Beziehung mit Gott auf Erden zu verstehen. Miskawayhs TA wurde später von Ġazālī sehr

Monotheism and Ethics. Historical and Contemporary Intersections among Judaism, Christianity and Islam, Vol. II, Leiden/Boston 2012, 141–161, hier 144. 583 Vgl. Abu-Hamid Muhmmad al-Ġazālī, Der Erretter aus dem Irrtum. al-Munqid min ad-dalāl, übers. ʿAbd-Elsamad ʿAbd-Elhamid Elschazlī, Hamburg 1988, 18 [im Folgenden: Ġazālī, Erretter].

157 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

geschätzt, der sich, bspw. in Bezug auf Gerechtigkeit584, in seinem Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) sowie in seinem Mīzān al-ʿamal (Kriterien des Handelns) davon inspirieren ließ.585 Da Miskawayh im TA dem strukturellen Vorbild der NE grund­ sätzlich folgt, widmet er sich hauptsächlich der persönlichen Ethik und dem häuslichen Leben des Einzelnen und nicht dem Verhältnis zwischen Ethik und den Regeln und Gesetzen der Politik. Allerdings vertritt auch er die aristotelische Ansicht, dass ein tugendhaftes Leben nur dann gelingt, wenn es in eine polis (politischen Gemeinschaft) mit ihren Gesetzen und Regeln integriert ist.586 Ganz unabhängig von der politischen Einrahmung ist der entscheidendste Aspekt der Tugende­ thik der unmittelbare Bezug zur Lebenspraxis, d. h. die Kultivierung von Tugenden kann nur in sozialen Interaktionen stattfinden. Auch wenn die Kultivierung auf den ersten Blick auf das Selbst und das eigene Glück ausgerichtet zu sein scheint, ist Tugend bei Miskawayh am Du ausgerichtet, ohne das es kein tapferes, gerechtes, mildes Handeln geben kann. Ohne ein Du könne der Mensch eben nicht werden, so Miskawayh.587 Der Mensch brauche Freunde, denn der Mensch sei ein »civic being by nature«.588 So auch Aristoteles, der unter Herrschaft (archê) Ordnung und Lenkung verstand und hierfür gute Gesetze als Bedingung voraussetzt.589 Daran anschließend argu­ mentiert Miskawayh, dass für ein gelingendes Leben die politischen Strukturen und Gesetze dieses Vorhaben begünstigen sollten und auch der Herrscher selbst tugendhaft sein solle. Miskawayh zufolge, der die Glückskonzeption von al-Farābī übernimmt, stellt sich Glück dann ein, wenn der Mensch nach demje­ nigen Gut und Glück trachtet, das ewig sei. Mit dieser Zielsetzung, d. h. das Gut aller zu berücksichtigen, stelle sich saʿāda ein.590 Das Gute scheinen die muslimischen Philosophen, wie noch bei Tūsī zu zeigen sein wird, auf Gott zu transzendieren. Er ist das Gute, nach Vgl. Miskawayh, Refinement, 106. Vgl. Walzer/Gibb, Akhlaq. In: EI2; vgl. Mehmed Aydın, Ahlak. In: TDV, Bd. II, 11. 586 Vgl. NE 1179b; Nikolaus Knoepffler, Angewandte Ethik, Paderborn 2018, 32 f. 587 Vgl. Miskawayh, Refinement, 123. 588 Ebd., 25. 589 Vgl. Otfried Höffe, Aristoteles’ Politik: Vorgriff auf eine liberale Demokratie. In: ders. (Hrsg.), Aristoteles. Politik, Berlin 2011, III 16, 1287a. 590 Vgl. İbn Miskevey, Ahlaki Olgunlaştırma, übers. A. Şener/İ. Kayaoğlu/C. Tunç, Ankara 1983, 45 ff., 80–88. 584 585

158 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

dem der Mensch strebt, indem er tugendhaft die Mitte zwischen zwei Extremen zu finden und die seelischen Vermögen in Balance zu halten versucht.591 Mit dieser Glücksvorstellung boten die muslimischen Philosophen eine Alternative zur vertretenen Ansicht an, der Mensch brauche strenge und ernsthafte Anstrengungen und Überlegungen, um Gottes Nähe zu erreichen.592 El-Fadl schließt sich den muslimi­ schen Philosophen an und vertritt die Ansicht, dass die Einschätzung des Stellenwerts der Glückseligkeit mit zahlreichen historischen Nar­ rationen übereinstimme, die den Propheten Muḥammad nicht nur als fröhliche, heitere sowie ruhige Person darstellen, sondern auch als jemanden, der das Glück liebte und feierte.593 Die breite Rezeption der Kategorie Glück in der Philosophie sowie in der Ideengeschichte dürfte auch daran liegen, dass der Qurʾān diese Einstellung bestärkt, indem er die Wichtigkeit des Glücks für den Glauben an Gott an vielen Stellen unterstreicht.594 Dieser Ansatz bestimmt Glück bzw. das gelungene Leben inhaltlich als das wählenswerteste Gut, also das abschließende Strebensziel. Gehorsam bedeutet in diesem Zusam­ menhang, die Güte Gottes anzustreben, um diese bemüht zu sein, hierfür seine Seele zu befreien und so aus einem Zustand der Gottlo­ sigkeit in einen Zustand der Gottähnlichkeit zu gelangen.595 Dies sei für Miskawayh nur durch und mit der Liebe zu Gott möglich.596 Für die in sechs Kapitel eingeteilte TA zieht Miskawayh Konzepte der aristotelischen Ethik und weitere Texte heran, die mit den pla­ tonischen Prämissen harmonisiert sind.597 So beginnt Miskawayh mit einem Vorwort bzw. einer Einleitung, in der er seine Ergeben­ heit gegenüber Gott kundtut, und charakterisiert sein Vorhaben als Anstrengung auf diesem Weg zu ihm. Dadurch erfährt die Schrift eine eigene Einrahmung: Die tugendethische Schrift ist nun ausgewiesen als Prozess der Vervollkommnung der Seele für Gott, der allein 591 Vgl. Miskawayh, Refinement, 112; vgl. Marcotte, Ibn Miskawayh’s Tartīb alSaʿādāt, 159; vgl. Nasîreddin Tûsî, Ahlak-ı Nâsırî, übers. A. Gafarov/Z. Şükürov, Istanbul 2007, 60–69. 592 Vgl. El-Fadl, When Happiness Fails, 122. 593 Vgl. ebd., 122 f. 594 Vgl. Q 11:108; Q 13:28–29; Q 16:97; Q 41:34–35; Q 52:19–21. 595 El-Fadl, When Happiness Fails, 123. 596 Vgl. Miskawayh, Refinement, 148 f. 597 Vgl. Gerhard Endress, Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesellschaft: Abū ʿAlī Miskawaih. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd. 1, Basel 2012, 210–238, hier 232.

159 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

perfekt ist. Das Ziel seines Buches sei, eine praktische Anleitung für seine Theorie des guten Charakters zu liefern.598 Er fragt nach der Möglichkeit, wie ein solcher Charakter entwickelt werden könne, der mit Leichtigkeit gute Handlungen hervorbringe.599 Der Weg dorthin führe über die Selbsterkenntnis bzw. über das Verstehen und Erkennen der Seele (nafs), d. h., hierzu gehöre es, die Seele rein zu halten, damit sie sich entwickeln könne, und hierfür sollte alles Schlechte und Böse, das diesem Wachstum hinderlich sei, abgewehrt und abgewöhnt werden.600 An dieser Stelle erinnert er an die Sure 91, Verse 7–10: »Betrachte die menschliche Seele (nafs)601 und wie sie in Übereinstim­ mung mit dem geformt ist, was es sein soll, und wie sie erfüllt ist von moralischen Schwächen wie auch Bewusstsein von Gott.«

Die Seele ist nach Miskawayh ihrer Verfasstheit nach nicht körperlich, wie er in der ersten Abhandlung konstatiert. Die Abkehr von körper­ lichen Neigungen, Wünschen und Handlungen mache ihre Tugend aus. Dieser Prozess der Abkehr, der Selbstzuwendung liegt in der Reinigung der Seele von Lastern bzw. Untugenden (razāʾil)602, eine Zielsetzung, die Miskawayh bei al-Kindī aufgreift603 und die auch bei Platon und Aristoteles in der Aufforderung des Delphischen Orakels zu Selbsterkenntnis schon tief verankert ist.604 Die Seele sei folglich eine unsterbliche und selbständige Einheit, die für das moralische Leben grundlegend ist.605 Die Seele unterteilt Miskawayh in Anlehnung an Platon in drei Vermögen bzw. Kräfte (arab. quwwā, griech. dynamis)606: die ver­ Vgl. Miskawayh, Refinement, 1. Vgl. ebd., 1. 600 Vgl. ebd., 10. 601 Nafs bedeutet an dieser Stelle das Selbst als Einheit aus physischem Körper und Seele. Vgl. Asad, Die Botschaft des Koran, 1165. 602 Vgl. Miskawayh, Refinement, 10. 603 Vgl. Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegen­ wart, München 32013, 38. 604 Vgl. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike. Eine Einführung, Darmstadt 4 1996, 37. 605 Vgl. Oliver Leaman, Miskaway. In: ders. (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 22015, 323–327, hier 324. 606 Im spätantiken Weltbild wird jedem Teil der Wirklichkeit, irdisch oder tran­ szendent, tote Materie oder lebendiges Wesen, ein spezifisches Maß an Dynamis zugemessen. Vgl. Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion; Bd. 1–2, 598

599

160 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

nünftige Kraft der Seele bzw. die Vernunftseele (an-nafs an-nātiqa), die mutige (an-nafs al-ġaḍabiyya, auch as-sabuʾiyya) und die begeh­ rende, triebhafte Seele (an-nafs aš-šahawiyya, auch al-bahīmiyya).607 Jede Seelenkraft entspricht einer Tugend, die sich im Falle von Einsicht und maßvollem Einsatz zeigt, und schließlich die höchste Kardinaltu­ gend hervorruft, nämlich Gerechtigkeit. Das Zusammenwirken der vier Kardinaltugenden Weisheit (ḥikma), Mut (šaǧāʿa), Mäßigung (ʿiffa) und Gerechtigkeit (ʿadāla) bestimmt Miskawayh nach aristote­ lischen Vorgaben und sieht die Tugend als Mitte (iʿtidāl) oder Maß (nisbah) zwischen zwei Extremen an.608 Er schließt sich der einhelli­ gen Meinung anderer muslimischer Philosophen bezüglich der Laster an. Der Weisheit (die Tugend der rationalen Seele) steht die Ignoranz gegenüber, der Enthaltsamkeit bzw. Keuchscheit die Zügellosigkeit, der Tapferkeit die Feigheit und der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit. Den vier Tugenden ordnet er jeweils weitere Sekundärtugenden zu.609 Bei Übermaß oder Mangel kann eine Tugend nicht entstehen. Die Tugendhaftigkeit erhöht sich, wenn die Fähigkeit entwickelt und verbessert wird, über das eigene Leben zu reflektieren und vernünftig zu handeln. Hierzu hilft das Tugendverständnis der Mitte, denn wenn der Mensch es schafft, das Gleichgewicht zu halten, resultiert hieraus Gerechtigkeit610, was allerdings nur in zwischenmenschlichen Beziehungen performativ gelebt werden kann. Damit ist Gerechtig­ keit immer auf ein Äußeres ausgerichtet. Sie ist demzufolge nicht nur auf eine Charakterdisposition zurückzuführen, sondern auch auf eine Bestimmung des Verhältnisses der verschiedenen menschlichen Seelenkräfte (arab. qābiliyya, griech. hexeis).611 Gerechtes Handeln resultiert in einer gesunden Seele so, wie geeignete Sportübungen und HAW 5,2/1 u. 5,2/2, München 41988, 704. Vor diesem Hintergrund erscheint mir neben den weiteren möglichen Übersetzungen wie Vermögen oder Fähigkeit, die der Kraft am plausibelsten. 607 Vgl. Endress, Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesellschaft, 221. 608 Vgl. Miskawayh, Refinement, 22; vgl. Fakhry, Ethical Theories, 113. 609 Vgl. Ebd., 20, 170 ff. Es ist zu beobachten, dass insbesondere Tusī, so wie der osmanische aḫlāq-Philosoph Kınalızâde /1511–1571) und der osmanische Sufi Muhyîi Gülşenî (1528–1604) nicht nur Miskawayhs Primärtugenden, sondern trotz mini­ maler Modifikationen auch seine Sekundärtugenden weitestgehend übernahmen. Vgl. Ramazan Turan, Ibn Miskeveyh’de Erdem Kavramı ve Temel Erdermler. In: Namık Kemal Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi, 1, 2 (2015), 7–35, passim. 610 Vgl. Miskawayh, Refinement, 17. 611 Vgl. Platon, Phaidon. Politeia, in d. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, hrsg. v. Ernesto Gtrassi/Walter F. Otto, Hamburg 1958., 443c-444a.

161 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

entsprechende Medizin körperliche Gesundheit herstellen können.612 Zu erkennen sind die Spuren der klassischen Dynamis-Lehre von Aristoteles, welche auf den dynamischen Charakter des Seelenlebens hinweist. Die Seele scheint wie ein Urelement, das nicht nur den Men­ schen, sondern alle Lebewesen sowie die Pflanzen in Bewegung setzt, eine strebende Bewegung, welche dem Menschen die Möglichkeit des Werdens schenkt. Der Mensch steht in einem dialektischen Prozess des Werdens, d. h., er ist auf dem Weg, er ist aber noch nicht angekom­ men. Der Verfeinerungsprozess des Charakters verläuft erfolgreich, wenn die Vernunftseele über die anderen Seelenvermögen siegt, was zugleich die Tugenden in Balance bringt. Die zweite Abhandlung betitelt Miskawayh mit »Charakter und seine Verfeinerung« und beginnt mit einer Definition von ḫuluq in Anlehnung an Galens Werk De moribus. Hierin bespricht er, wie Aristoteles im zweiten Buch der NE, dass die gewünschten Charakt­ erhaltungen, also Dispositionen, durch Übung erworben werden kön­ nen. Das bedeutet für ihn, dass der Charakter keine Naturanlage ist, sondern eine mit der Zeit gewonnene Prägung, die zur Ausgewogen­ heit (iʿtidāl al-mizāǧ) der Seelenvermögen führt.613 Für Miskawayh ist es kraft der Güte Gottes möglich, im Charakter durch kontinuier­ liche und allmähliche Übung bestimmter Eigenschaften eine entspre­ chende Disposition auszubilden. Die Wiederholung von moralisch guten Handlungen bedingt die Bildung von Gewohnheiten.614 Der Charakter ist nach Miskawayh somit der praktische Lernort, der allerdings eines Schauplatzes bedarf, nämlich der interpersonalen Sphäre, um tugendhaft handeln zu können.615 Bei Form und Art der Einübung jener Charakterdispositionen ist zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden. An dieser Stelle spricht Miskawayh von der Verfeinerungskunst des Charakters (sināʾat al-aḫlāq). Zu dieser Kunst zählt er bspw. das Memorieren von Gedichten, die er als wichtiges kognitives Hilfsmittel des Deliberationsprozesses (tašāwur) erachtet.616 Vgl. Horn, Antike Lebenskunst, 72. Vgl. Miskawayh, Refinement, 29, 31, 32. 614 Vgl. ebd., 29. 615 Miskawayh betont ebenso, dass religiöse Verpflichtungen eine tugendethisch-kul­ tivierende Dimension haben können, wie bspw. das rituelle Gebet in der Gemein­ schaft. Vgl. Oliver Leaman, An Introduction to Classical Islamic Philosophy, Cam­ bridge 22004, 154. 616 Vgl. Miskawayh, Refinement, 52. 612

613

162 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

In Anlehnung an die von al-Kindī etablierte Definition spricht auch Miskawayh von faḍīla.617 Mit Blick auf die ursprüngliche Bedeu­ tung von aretē, dem Gutsein, stellt Aristoteles die grundsätzliche Frage nach der menschlichen aretē, d. h. die Frage danach, was das Spezifische oder das Gutsein im Menschen ausmache. Für Miskawayh ist eine Tugend die bestmögliche Erfüllung des menschlichen Zwe­ ckes, die der Einsicht, Deliberation und Reflexion entspringe, sich allerdings performativ in Taten und Handlungen zeigen müsse.618 Bevor Miskawayh zum Ende der zweiten und hauptsächlich in der dritten Abhandlung über das höchste Gut und das Glück schrieb, hatte er den Weg zur Perfektion der Seele schon ca. 12 Jahre vor der Niederschrift des TA in seinem Werk namens Tartīb as-saʿādāt619 (Die Anordnung des Glücks) skizziert. Darin erörtert er die Natur des Menschen und des Glücks und erhebt ganz nach aristotelischem Vorbild die Weisheit zu jener Tugend, mit deren Hilfe die höchste Glückseligkeit erreicht werden könne.620 Denn im Sinne einer ständigen Kontemplation über die Welt und das Leben ist sie das höchste Vermögen des Geistes, das jederzeit ausgeübt werden kann. Damit legt Miskawayh die Grundlage für die TA, in der er die Bedingungen der menschlichen Glückseligkeit aufzeigt. Das höchste Glück verwirklicht sich im höchsten Maß der Erkenntnis, d. h., die Handlungen des Menschen sind auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit als göttlich zu betrachten.621 Auf dieser Stufe sei das Wesen des Handelns mit dem Intellekt identisch und der Mensch handle nicht, um das Wohlwollen Gottes zu erlangen, oder weil er Glück empfinde, sondern er sei tugendhaft um der Tugendhaftigkeit selbst willen.622 An vielen Stellen der TA betont Miskawayh, dass Vgl. Gerhard Endress/Peter Adamson, Abū Yūsuf al-Kindī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.-10. Jahrhundert, Basel 2012, 92–148, hier 128 f. 618 Vgl. Miskawayh, Refinement, 13. 619 Näheres siehe Aḥmad b. Muḥammad b. Miskawayh, Tartīb as-saʿādāt wa-manāzil al-ʿulūm, ʿAlī aṭ-Ṭūbǧī (ed.), Kairo 1928. 620 Vgl. NE 1179b. Vgl. Elvira Wakelnig, Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs. Al-ʿĀmirī, al-Isfizārī, Miskawayh, as-Sijistanī und at-Tawhīdī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd. 1, Basel 2012, 233–252, hier 238. 621 Vgl. Miskawayh, Refinement, 78. 622 Vgl. Miskeveyh, Tertîbü’s-saâdet ve menazilü’l-ulûm, Ebû’l Kasım İmami (ed.), Tehran 2000, 106; vgl. Endress, Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesell­ schaft, 223. 617

163 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

der Mensch nicht allein in der Lage sei, tugendgemäße Tätigkeiten des Seelenvermögens ohne die barmherzige Unterstützung Gottes zu verwirklichen. Die Einübung einer Charaktereigenschaft allein reiche nicht aus, um eine Disposition auszubilden, sondern erst mithilfe göttlicher Gnade sei es möglich, eine hinreichende Tugend zu erlan­ gen.623 Für die Vervollkommnung braucht die geistige Kontemplation Gott.624 Für wahrhafte Glückseligkeit sind der Gottesglaube und der Glaube an die Gnade Gottes als tragende Kraft unabdingbar.625 Miskawayh geht wie Aristoteles in seiner NE nicht von Geboten und ethischen Pflichten aus, sondern erkennt das Streben nach Glück und nach dem Guten als implizites Leitziel des menschlichen Handelns. Den erreichten Zustand umschreibt er mit saʿāda.626 In der vierten Abhandlung betont Miskawayh, dass ein tugend­ hafter Akt mit der inneren Haltung übereinstimmen müsse, damit er als tugendhaftes Handeln charakterisiert werden könne. Dabei richtet Miskawayh den Blick erneut auf den Menschen: Auf seine Motive, Haltungen, Empfindungen und personalen Einstellungen, denn auch gemäß seiner Tugendethik geht es um den Charakter des Menschen und darum, ein guter Mensch zu werden. Denn ein guter Mensch sei letztendlich ein glücklicher Mensch. Das glückselige Leben ist dem­ nach ein tugendhaftes Leben.627 Weiter in diesem Abschnitt diskutiert er in Anlehnung an Aristoteles, aber auch mit Qurʾān-Stellen628 die Tugend der Gerechtigkeit (ʿadl) und erhebt sie zum Inbegriff aller Tugenden.629 Im TA sowie in seiner Epistel Risāla fī māhiyyat al-ʿadl (Schreiben über das Wesen der Gerechtigkeit) definiert Miskawayh die voluntative Gerechtigkeit als Zweck der Ethik.630 Miskawayh verbindet Liebe und Freundschaft miteinander und widmet diesem Thema eine eigene Abhandlung. Darin verdeutlicht er, dass Liebe für ihn von besonderer Bedeutung ist. Kein Mensch könne ohne Liebe leben. Wahre Liebe und Freundschaft gründeten Vgl. Miskawayh, Refinement, 62. Leaman, Miskaway, 325. 625 Vgl. Miskawayh, Refinement, 77, 79; vgl. Peter Adamson, Miskawayh’s Psychol­ ogy. In: ders. (Hrsg.), Classical Arabic Philosophy: Sources and Reception, London 2007, 39–55, hier 50. 626 Miskawayh, Refinement, 69. 627 Vgl. NE 1177a. 628 Q 16:90; Q 2:177. Vgl. Turan, Ibn Miskeveyh’de Erdem Kavramı, 30. 629 Endress, Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesellschaft, 223. 630 Vgl. ebd., 224. 623

624

164 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

nicht auf Zweck, Vorteil, Lust und Utilität, sondern seien begründet in der gemeinsamen Absicht, nach dem Guten und der Tugend zu streben. Hierfür sei es selbstverständlich, dass Liebende/Freunde einander zum Guten ermahnen, d. h., Mäßigung und Selbstbegren­ zung werden in Zusammenhang mit Freundschaft und Gemeinschaft gebracht.631 Miskawayh schließt seine Schrift mit Ausführungen zur Gesund­ heit der Seele.632 Er referiert wiederholt Galen und spricht über spiri­ tuelle Medizin, Seelenhygiene und Selbstprüfung. Die Kultivierung der moralischen ist vergleichbar mit der Kultivierung der körperli­ chen Gesundheit; sie erfordert Maßnahmen, die unser moralisches Gleichgewicht wahren.633 Den Tod sieht er nicht als Abschreckung vor schlechten Taten, sondern charakterisiert ihn als Erlösung der Seele vom Körper.

3.3.3 Ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. 1108) Über den Isfahaner Philosophen, Literaten und adīb ist recht wenig bekannt, doch bekannt ist der Einfluss seiner Werke auf viele Per­ sönlichkeiten sowie die Rezeption durch andere Persönlichkeiten. Zwei Ethikwerke sind bekannt, Kitāb aḏ-ḏarīʿa ilā makārim aš-šārīʿa (Das Buch der Mittel zu den edlen Eigenschaften des Religionsgeset­ zes) und das Kitāb tafṣīl an-našʾatayn wa tahṣīl as-saʿādatayn.634 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund der textlichen Übereinstimmungen zwischen seinem bekanntesten Ethikwerk Kitāb aḏ-ḏarīʿa und Ġazālīs Mīzān al-ʿamal (sowie Teilbereichen im Iḥyāʾ 631 In der klassischen Vorstellung spielt eine weitere Dimension von Liebe eine ent­ scheidende Rolle, nämlich das Liebesleid. Es könne den Menschen bspw. in der Ent­ haltsamkeit schulen. Vgl. Thomas Bauer, Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhunderts, Wiesbaden 1998, 73 f. 632 An dieser Stelle zitiert Miskawayh umfangreich al-Kindī, der als erster und bedeutendster muslimischer Philosoph arabischer Sprache gilt, und zwar aus der Risāla fī l-ḥīla li-dafʾ al-aḥzān (Sendeschreiben über den Kunstgriff zur Abwehr von Betrübnissen), was insbesondere die stoischen und platonischen Einflüsse in seinem Denken offenlegt. Vgl. Roy Jackson, What is Philosophy, New York 2014, 36; vgl. Çağrici, İslam Düşüncesinde Ahlâk, 124; vgl. Sebastian Günther/Yassir El Jamouhi, Einführung. Der Moralphilosoph und Historiker Miskawaih: Traditionsbindung und Neubestimmung im Bildungsdiskurs des Islams, 32. 633 Vgl. Leaman, Miskawayh, 325. 634 Vgl. Carl Brockelmann, Geschichte der arabischen Literatur, 1. Supplementband, Leiden 21937, 505 f.

165 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

ʿulūm ad-dīn) die Frage nach dem wechselseitigen Einfluss beider Schriften gestellt und erforscht wurde.635 Wilfred Madelung führt aus, dass Ġazālī, ohne Iṣfahānī als seine Quelle zu nennen, diesen vielfach mit wenigen Änderungen und manchmal im Wortlaut zitiert.636 Nach Madelungs Angabe ist schätzungsweise die Hälfte von Ġazālīs Mīzān aus Iṣfahānīs Werk entlehnt. Die Vermutung liegt nahe, dass Ġazālī von dieser Schrift begeistert war, da es Iṣfahānī gelang, auf einzigartige Weise die Offenbarungsreligion mit der griechischen Philosophie zu verbinden. »In his attempt to Islamize Greek ethics he has reinterpreted Islamic ideals in terms of their ethical philos­ ophy.«637 Seine Philosophie soll »islamisierter« gewesen sein als diejenige Miskawayhs, da er intensiver den Qurʾān zitierte und Hadithe einbaute.638 Hans Daiber charakterisiert Iṣfahānīs Werk als »eine selbständige Weiterführung von Gedanken der griechischen Ethik in islamischem Gewande« und argumentiert, dass es mit seiner Vorgehensweise im Grunde der TA Miskawayhs ähnelt, allerdings sind keine textlichen Überschneidungen und Parallelen ausfindig zu machen. Die Gedanken Miskawayhs sind zwar adaptiert, aber deutlich weitergedacht worden.639 An vielen Stellen verwendet er eigene Bezeichnungen und Begriffe.640 Iṣfahānī bestimmt die Tugenden nach einer miskawayhischen Rezeption Aristoteles’ als die Mitte zwischen zwei Extremen und folgt in seiner Ethik der platonischen Dreiteilung der Seele.641 Er

635 Vgl. Wilfred Madelung, Ar-Rāgib al-Iṣfahānī und die Ethik al-Ġazālīs. In: ders. (Hrsg.), Religious Schools and Sects in Medieval Islam, London 1985, 152–163, hier 152. 636 Vgl. ebd., 153. 637 Vgl. Yasien Mohamed, The Ethical Philosophy of Al-Rāghib Al-Iṣfahānī, Journal of Islamic Studies, January (1995), Vol. 6, pp. 51–75, hier 54. 638 Vgl. ebd., 162; vgl. Rowson, Ar-Rāgib al-Iṣfahānī. In: EI2. 639 Vgl. Hans Daiber, Griechische Ethik in islamischem Gewande. Das Beispiel von Rāgib al-Isfahānī (11. Jh.). In: Burkhard Mojsisch/Olaf Pluta (Hrsg.), Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 60. Geburtstag, Bd. 1, Amsterdam 1992, 181–192, hier 182. 640 Vgl. Mohamed, The Ethical Philosophy of Al-Iṣfahānī, 51–75. 641 Vgl. Yasien Mohamed, The Path to Virtue: The Ethical Philosophy of Al-Raghib Al-Esfahani, An Annotated Translation with critical introduction of Kitab Al-Dhari’ah ila Makarim Al-Shariah, Kuala Lumpur 2006, 464 f.

166 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

rezipiert ebenfalls die vier Kardinaltugenden (makārim) als Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Enthaltsamkeit.642 »Ihr Anfang ist die Reinigung der Seele durch Lernen, Übung von Ent­ haltsamkeit, Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit und ihr Ende die Aneignung von Weisheit, Freigiebigkeit, Milde und Wohltun. Durch Lernen gelangt man zu Weisheit, durch die Übung von Enthaltsamkeit zu Freigiebigkeit, durch die Übung von Selbstbeherrschung erreicht man Tapferkeit und Milde, und durch Übung von Gerechtigkeit werden alle Handlungen berichtigt.«643

Iṣfahānī gelingt es überzeugend, die philosophische Denkwelt in eine religiöse Sprache zu übersetzen: »›Die Vollendung von Vernunft‹, sagt er, ›ist (religiöses) Wissen (ʿilm). Die Vollendung von Enthalt­ samkeit ist Gottesfurcht (waraʿ). Die Vollendung von Tapferkeit ist Glaubenskampf (muǧāhada). Die Vollendung von Gerechtigkeit ist Redlichkeit (insāf)‹.«644 Er zählt ähnlich wie Aristoteles als Vorzüg­ lichkeit (faḍāʾil) auch äußere Güter wie Reichtum, Ehre, Familie und vornehme Herkunft auf, die für den Erwerb und die Übungen einer Tugend gleichermaßen wichtig seien wie die seelischen Vorzüge, d. h. Kardinaltugenden, sowie körperliche Vorzüge wie Gesundheit, Kraft, Schönheit und langes Leben.645 Die Reinheit der Seele assoziiert er mit dem qurʾānischen Konzept des Kalifen, d. h., für Iṣfahānī ist nur ein Mensch mit rei­ ner, geläuterter Seele (ṭahārāt an-nafs) zur Stellvertretung Gottes fähig, so wie die religiösen Pflichten eben nur mit reinem Körper gültig seien.646 Denn erst durch die Seelenläuterung sei es einem Kalifa möglich, Gott in seiner Lenkerfunktion (as-siyāsa) und der Verwirklichung der edlen Gesetzeshandlungen nachzueifern, so in Anlehnung an den Gedanken, dass der Mensch ein Mikrokosmos des großen Kosmos sei.647 Daiber resümiert mit Isfahānī die Zielsetzung

Vgl. Madelung, Ar-Rāgib al-Iṣfahānī und die Ethik al-Ġazālīs, 161. Ebd., 161. 644 Ebd., 162 f. 645 Vgl. ebd., 163. 646 Vgl. Daiber, Griechische Ethik in islamischem Gewande, 184. 647 Die Metapher vom Menschen als Mikrokosmos ist der Philosophen-Gruppe der Iḫwan aṣ-Ṣafāʾ entlehnt, Näheres hierzu siehe: Detlef Quintern/Kamal Ramahi, Qarmaṭen und Iḫwān aṣ-Ṣafā’. Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbasiden und die Universalistische Geschichtstheorie, Hamburg 2006, 161. 642

643

167 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

seiner Ethik wie folgt: »Ihr Ziel ist es, zur Glückseligkeit (saʿāda) im Diesseits und vor allem im Jenseits hinzuführen.«648 Im Hinblick auf Iṣfahānī wie auch auf Fārābī stellt Daiber fest, dass beide einen universalistischen Religionsbegriff zugrunde legen, wonach sich Religionen nicht in ihrem inneren (bātin) Sinngehalt (maʾānī), sondern in ihrer äußeren (zāhirī) Form voneinander unter­ scheiden, und folglich religiöse Wahrheit nicht einer einzelnen Religi­ onsgemeinschaft vorbehalten sei.649 Entscheidend für den Erwerb von Tugenden und die Erlangung der jenseitigen Glückseligkeit ist die Vorstellung, dass dies ausschließlich mit Gottes Erlaubnis (tawfīq) möglich ist. Ifahānīs Werk inspirierte neben al-Ġazālī viele muslimische Ethiker wie aṭ-Ṭūsī oder al-Dawwānī (1502), die ihn intensiv rezipierten.650

3.3.4 Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī (um 1055–1111) Al-Ġazālī ist eine facettenreiche Persönlichkeit und zählt zu den bedeutendsten Gelehrten der islamischen Geistes-, Kultur- und Theo­ logiegeschichte. Er ist für den vorliegenden Zusammenhang der Kultivierung des Selbst wichtig, weil er in seinem späteren Denken theologische, philosophische und mystische Denkansätze miteinan­ der verwob. Ġazālī scheint daher grundsätzlich und im Rahmen dieser Arbeit ein interessanter Gesprächspartner zu sein, weshalb ihm auch an dieser Stelle etwas mehr Platz eingeräumt wird. Ġazālī wuchs zu einem Gelehrten heran in einer Zeit, deren religionspolitische Grundorientierung nicht mehr die Unterstützung von prorationalistischen und proschiitischen Denken begünstigte, sondern eine prosunnitische und restriktive Richtung eingeschlagen hat.651 Die seldschukische Religionspolitik begründete sogenannte Daiber, Griechische Ethik in islamischem Gewande, 184 f. Nicht anders als in den philosophischen Zirkeln Bagdads und Isfahans ist auch in Andalusien im 11. und 12 Jahrhundert durch Ibn Rushd und seine Reaktionen auf Ibn Sina und Ġazālī die inten­ sive Diskussion um philosophische Glücksmodelle nach aristotelischem Vorbild und die Frage nach dem guten Leben zu verzeichnen. Vgl. Dag Nikolaus Hasse, Arabic Philosophy and Averroism. In: James Hankins (ed.), The Cambridge Companion to Renaissance Philosophy, Cambridge 2007, 113–136, hier 113. 649 Vgl. Daiber, Griechische Ethik in islamischem Gewande, 189 f. 650 Vgl. Mohamed, The Ethical Philosophy of Al-Rāghib Al-Iṣfahānī, 55. 651 Vgl. Frederek Musall, Vom ›Schlüssel der Wissenschaften‹ zum ›Schlüssel des Gesetzes‹. Wissenskultur und Wissenstransfer im europäischen Mittelalter am Bei­ 648

168 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Niẓāmīya madāris (theologische und rechtswissenschaftliche Semi­ nare), wodurch im 11. und 12. Jahrhundert die ashʿaritische Theologie starke Verbreitung fand. Auch Ġazālī lehrte an der einflussreichen Hochschule der Niẓāmīya. Nach vielen Jahren der Lehrtätigkeit wid­ mete er sich verstärkt der Mystik, womit eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit verschiedenen intellektuellen und kulturel­ len Traditionen begann. Ebrahim Moosa charakterisiert diese Phase seines Denkens als geistige Kreativität, als in-between-ness (Dazwi­ schen-Sein), in der er verschiedene Disziplinen in einen Dialog zu bringen versuche.652 »Zwei persönliche Krisen, die wahrscheinlich durch grundsätzliche Fragen der Epistemologie und seinen Zweifel an der Zuverlässigkeit von Vernunftsanstrengungen ausgelöst wurden, brachten al-Ġazālī 1095 dazu, seine universitäre Position aufzugeben und seine Familie und seinen Besitz zurückzulassen, um mit dem Ziel auf Wanderschaft zu gehen, über den praktizierten systematischen Weg der islamischen Mystik zu innerer Erkenntnis zu gelangen.«653

Diese Wanderschaft führte ihn von Syrien, über Jerusalem nach Ägypten sowie zum Pilgern nach Mekka und Medina und anschlie­ ßend wieder zurück nach Tus, wo er noch eine Weile lehrte und dann 1111 verstarb.654 In der Literatur wird Ġazālī als Philosophiekritiker dargestellt, was allerdings nicht der Tatsache gerecht wird, dass er die falsafa zugleich differenziert kritisiert und würdigt. Er verwendet den Begriff falsafa nicht, um die Philosophie insgesamt zu bezeichnen, sondern als Kenntlichmachung einer intellektuellen Bewegung, nämlich der

spiel Moshe ben Maimons. In: Michael Borgolte et al. (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008, 210–227, hier 215 f. 652 Vgl. Ebrahim Moosa, Ġazālī and the Poetics of Imagination, North Carolina 2005, 28. 653 Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Versuch einer islamisch begründeten Positionsbestimmung, Müns­ ter 2016, 123. 654 Seine persönliche Entwicklung und wissenschaftlichen Denkwege beschreibt er in seiner einer Autobiografie ähnlichen Schrift al-Munqid min aḍ-ḍalāl (Der Erretter aus dem Irrtum), verfasst zwischen 1106–1109. Vgl. Al-Ġazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, 45–48.

169 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Ibn Sīnās, seiner Schüler und Anhänger.655 Dieser islamisch-philo­ sophischen Denktradition (tāʾifa) sowie einem bestimmten Erkennt­ nisanspruch der Philosophie gilt im Besonderen seine Kritik.656 Er beanstandet an dieser Gruppe, dass sie die religiösen Gesetze des Islam und dem performativen Anspruch der Orthopraxie nicht nach­ komme. Weiterhin kritisiert er jene muslimischen Denker, welche die Philosophie zur alleinigen Lebenskunst für sich erhoben hätten. Diese Form der falsafa verwirft er als alternative Religion zum Islam (ġayr dīn al-islam).657 Ġazālī selbst gilt die Kritik, dass er kein kohä­ rentes Konzept entwickelt habe. Demgegenüber muss festgehalten werden, dass sein Anspruch darin bestand, dem Verstehenshorizont unterschiedlicher Leserschaften gerecht zu werden und methodisch eine neue Arbeitsweise vorzustellen.658 Die eigenen philosophischen und theologischen Grundlagen, die sich bis zu seinem Lebensende kaum verändern, legt Ġazālī in seinem Werk der Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) nieder. Als eine Neuheit und »Verfechtung einer aristotelisch gepräg­ ten Tugendethik« bezeichnet Frank Griffel Ġazālīs Opus magnum Die Wiederbelebung/Erneuerung der religiösen Wissenschaften (Iḥyaʾ ʿulūm ad-dīn), das grundlegende und meistzitierte religiöse Werk Ġazālīs, das um 1095 entstanden sein muss, und charakterisiert es als »Handbuch zur Alltagsethik«659. Zu differenzieren ist die Aussage Griffels insofern, als Ġazālīs Spezifikum nicht darin liegt, eine aristotelisch verstandene Tugendethik als Novum zu forcieren. Das eigentlich Neue an seiner Überlegung besteht vielmehr darin, dass er im Gedenken Gottes eine Möglichkeit der Verfeinerung des guten Charakters (ḥusn al-ḫulūq) sieht und den tugendethischen Ansatz dahingehend erweitert. Zudem ist die Kultivierung eines guten Charakters nach Ġazālī nicht ausschließlich durch menschliches Tun möglich, sondern ist eine Entwicklung des menschlichen Vermö­ gens als Antwort auf die Befähigung bzw. Barmherzigkeit (raḥma)

655 Vgl. Frank Griffel, Al-Gazālī als Kritiker. In: Heidrun Eichner/Matthias Per­ kams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Hand­ buch, Darmstadt 2013, 289–313, hier 289. 656 Vgl. ebd. 657 Vgl. Abū Ḥāmid Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers/Tahāfut alfalāsifa. A parallel English-Arabic text, Michael E. Marmura (ed.), Provo 2000, 2, 4. 658 Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 122. 659 Griffel, Kritiker, 293.

170 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Gottes.660 Das bedeutet, Ġazālī verknüpft eine aus antikem philo­ sophischem Material entwickelte tugendethische Tradition mit der auf Qurʾān und Sunna basierenden traditionellen aḫlāq-Tradition zu einer handlungsorientierten Theologie, die er vor einem spirituellen Erfahrungshorizont unter mystischen Vorzeichen neu ausformuliert. In seinem Meisterwerk findet eine Verschmelzung von Glaube und Erkenntnis, ritueller Praxis, Ethik und mystischer Erfahrung statt. Er vereint damit drei Wissensstränge zu einem synergetischen Ganzen: Theologie, Philosophie und Mystik. Der Theologe Darius AsgharZadeh fasst dies treffend zusammen: »Al-Gazālīs Vervollkommnungsdenken hat überdies eine handlungsund tugendethische Konsequenz, die in der Forderung einer gesunden Synthese aus intellektuell-spiritueller Geistesformung und existenti­ ell-praktischer Selbstoptimierung liegt.«661

Ganz offensichtlich sind ihm die TA-Werke bekannt gewesen, da er in seiner Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften nicht nur Mystiker wie Ḥasan al-Baṣrī (642–728)662, al-Muhāsibī (um 781– 857) und al-Makkī (gest. 996), sondern auch Philosophen wie Mis­ kawayh, Iṣfahānī und Ibn Sīna663 rezipiert und sich damit in die tugendorientierte aḫlāq-Tradition stellt. Die Wiederbelebung ging aus den Erfahrungen seiner spirituellen Lebensphase und seinem auf Gott ausgerichteten Streben nach Wis­ sen hervor. Sie entstand 1095 und stellt mit dem kurzen Handbuch Mizān al-ʿamal (Die Waage des Handelns) Ġazālīs bedeutendste Arbeit über aḫlāq dar, weil er sich der Thematik nicht mit seinem philosophischen Selbstverständnis nähert, sondern mit seinem theo­ logischen Profil, wobei er ausgiebig aus seiner mystischen Erfah­

Vgl. Ghazali, Erretter, 45; vgl. Q 13:28. Darius Asghar-Zadeh, Arabisch-islamische Philosophie: Ibn Sīnā, al-Gazālī und Ibn Rušd. In: Aaron Langenfeld/Martin Breul (Hrsg.), Kleine Philosophiegeschichte. Eine Einführung für das Theologiestudium, Paderborn 2017, 54–66, hier 63. 662 Ḥasan al-Baṣrī war ebenso bewandert in Theologie und moralischer Theologie. Aufgrund seiner Leidenschaft zur Mystik wird er hauptsächlich als Mystiker charak­ terisiert, vgl. Fakhry, Ethical Theories, 152. 663 Vgl. Griffel, Kritiker, 121; siehe hierzu Timothy J. Winter, Ihyā ʿulūm al-dīn. On Disciplining the Soul and On Breaking the Two Desires, Kitāb Riyāḍat al-nafs und Kitāb Kasr al-shahawatayn, Books XXII and XXIII of the Revival of the Religious Sciences, übers. T. J. Winter, Islamic Texts Society, Cambridge 1997. 660 661

171 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

rungswelt und seinem Rechtswissen schöpft.664 Das für Ġazālī bedeu­ tendste Referenzwerk war die bereits erwähnte Abhandlung Ḏarīʿa ilā makārim aš-šariʿa von Rāġib al-Iṣfahānī. Für beide Werke liegen in der Forschung bislang gründliche Vorarbeiten vor, weshalb sie an dieser Stelle lediglich bündig vorgestellt werden.665 Die »Wiederbelebung« besteht aus vier Kapiteln, die jeweils zehn Abschnitte bzw. Bücher umfassen, also insgesamt 40 Bücher, was Annemarie Schimmel keineswegs als Zufall, sondern als intendiert betrachtet, da es die Anzahl jener Tage sei, die ein Mystiker am Anfang seines Pfades in Klausur lebe.666 Im ersten Kapitel formuliert Ġazālī einerseits wie in einem juristischen Kompendium die notwendige Kenntnis der religiösen Praxis (ʿibādāt) und betont, dass ihre Erfüllung zusammen mit den sozialen Pflichten (ʿadāt) zu einem guten Charakter führen kann. Denn zumeist sind diese äußerlich wahrnehmbaren Taten Ausdruck einer Internalisierung der Verbundenheit mit Gott.667 Aber anders als es in fiqh-Werken der Fall ist, bespricht er die aḫlāq-Dimension von Handlungen und ihren Einfluss auf die Entwicklung von moralisch guten Charaktereigenschaften. Das zweite Kapitel und andere Stellen ähneln den adab-Werken, die konkrete Handlungsanleitungen (wie bspw. Tischmanieren, Pflichten des Lernenden und des Lehrenden, richtiger Umgang mit Geld) für die unterschiedlichsten Lebensberei­ che geben. Das dritte und vierte Buch behandelt Möglichkeiten der Kultivierung von Tugenden und der Vermeidung von Lastern, die die Gläubigen davon abhalten, eine höhere Stufe in ihrer Charakter­ entwicklung zu erlangen. Der dritte Teil spricht im Konkreten über jene Dinge, die zum Verderben führen, während er im letzten und vierten Kapitel jene Dinge entfaltet, die zum Heil führen. Jedes Gebot oder jede Thematik wird durch qurʾānische Verse, Berichte aus der

664 Vgl. Rajendra Prasad, A Historical-developmental Study of Classical Indian Philosophy of Morals, New Delhi 2009, 524. 665 Vgl. Ulrich Rudolph, Abū Ḥāmid al-Ġazālī. In: ders./Renate Würsch/Amos Bertolacci, Grundriss der Geschichte der Philosophie: Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 2: 11. und 12. Jahrhundert. Zentrale und östliche Gebiete, Basel 2021, 253–345, hier 277. 666 Vgl. Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, München 3 1995, 143. 667 Vgl. Farina, Theological Ethics of Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 161.

172 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

prophetischen Tradition und anderweitige Narrationen, wie die der Sufis und weiterer Gläubiger, eingeleitet und ausgeführt.668 Im 22. Buch des vierten Kapitels, dem Riyaḍāt an-nafs wa tahḏīb al-aḫlāq wa muʾālaǧātī amrāḍ al-qalbī (Die Erziehung der Seele, die Verfeinerung des Charakters und die Heilung der Erkrankung des Herzens)669, entfaltet Ġazālī seine aḫlāq-Philosophie, die er unter elf Überschriften darlegt. Diese lauten wie folgt:670 1.

Die Vorzüglichkeit des guten Charakters und das Tadeln des schlechten 2. Das Wesen (ḥaqīqa) des guten und des schlechten Charakters 3. Die Veränderung des Charakters durch Erziehung (tarbiya) 4. Wie kann ein guter Charakter erlangt werden? 5. Der Weg zur Läuterung 6. Anzeichen für die Krankheiten des Herzens und Anzeichen der Genesung 7. Der Weg, Schwächen zu erkennen 8. Belege und Zeugnisse zum Thema 9. Merkmale eines guten Charakters 10. Über die Kindererziehung 11. Voraussetzungen für das Streben nach dem Jenseits und das Fortschreiten auf dem Weg der Übung

In diesem Buch beschäftigt Ġazālī sich im Wesentlichen mit den Tugenden und den Bedingungen, unter denen ein guter Charakter ausgebildet werden und wie die Seele zur Vervollkommnung gelangen kann. Er argumentiert manchmal religiös-mystisch, indem er unmit­ telbar Qurʾān-Verse, Hadithe und Sentenzen von Sufis aufführt, wodurch der spirituellen Dimension im ġazālīsch-ethischen Denken eine dominierende Rolle zukommt.671 Manchmal argumentiert er Vgl. Schimmel, Die mystischen Dimensionen, 143. Imam-i Ġazālī, Ihya-i Ulum-id-din, (türk. Übers.) Ali Arslan, Bd. 6, Istanbul 1972, 8 [im Folgenden: Arslan, Ihya]. Riyāḍat bedeutet, wie vorher schon ausgeführt, mit mystisch-spirituellen Übungen die Seelenkräfte zu schulen und zu erziehen. 670 Vgl. Rudolph, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 275. 671 Es sind nämlich, so Ġazālī, die Mystiker, die die Seele, das Herz und den Charakter zum Ausgangspunkt ihrer Übungen machen. Sie betrieben ihre Übungen systematisch und unter Anleitung, um die Seele zu läutern, die ethische Gesinnung zu verbessern und das Herz für die Anrufung des erhabenen Gottes vorzubereiten, da der mystische Weg nicht durch theoretisches Wissen, sondern in seiner praktischen Wirksamkeit nachvollziehbar ist. Vgl. Ġazālī, Erretter, 40, 46. 668

669

173 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

philosophisch, z. B. wenn er im 2. Teil ganz verständlich feststellt, dass der Charakter eine Disposition der Seele sei, die zum Guten oder zum Schlechten neige, und dass Tugend als das Maß der Ausgewohnheiten zu verstehen sei. In der klassischen Auffassung wurden Übung, Ausbildung und Schulung im Sinne einer regelmäßigen und überlegten Praxis mit einem bestimmten Endziel verstanden, nämlich die Liebe Gottes im Diesseits und Jenseits zu erreichen.672 In dieser Vorstellung stellte Gott einen Geliebten dar, dessen Liebe der Gläubige im Angesicht einer vollbrachten Sünde oder dem Insistieren auf einer schlechten Charaktereigenschaft zu verlieren befürchtet. Es ist weniger die Angst vor einer eschatologischen Bestrafung Gottes, sondern die Angst, Gottesnähe und -liebe zu verlieren – darüber schreibt Ġazālī in Teil 10. Im 2. und 10. Teil des iḥyāʾ unterscheidet er die äußere Konsti­ tution (Physis) (ḫalq) von der inneren (moralischen) Veranlagung (ḫulq), der er ein Veränderungspotenzial zuschreibt. Ġazālī verwendet wie Miskaway den Begriff faḍīla für Tugend und versteht ihn ganz in seiner etymologischen Bedeutung der Vermehrung und des Zuwach­ ses, und zwar des Glaubens und der guten Charaktereigenschaften. Es ist das Maß (iʿtidāl) zwischen zwei Extremen. Auch er nennt vier Kardinaltugenden, die er als ummahāt al-aḫlāq (Mütter des Charak­ ters) bezeichnet: Weisheit (ḥikma), Tapferkeit (šaǧāʿa), Mäßigung (ʿiffa) und Gerechtigkeit (ʿadl). Aus der Ausgewogenheit dieser vier Prinzipien (uṣūl) lassen sich weitere Sekundärtugenden (furūʿ) ablei­ ten.673 Nur diejenigen, die insbesondere am Vorbild des Propheten, der die ideale Verkörperung der Tugenden ist, einen guten Charakter ausbilden, haben die Möglichkeit des höchsten Glücks. Zorn (ġaḍab), Begierde (šahwa) und Laster, die die Entwicklung zum guten Cha­ rakter stören könnten, sollen nicht vollständig entwöhnt werden, son­ dern das richtige Maß zur Beherrschung soll vermittelt werden. Reli­ giöse Riten und Pflichten versteht er als Teil der praktischen Übung, sie tragen zur Ausbildung von Tugenden bei, sofern der Mensch auf Gott ausgerichtet ist.674 Ġazālī unterstreicht das Abwägen und Bewusstmachen der Intentionalität. Das ist eine Aufforderung an den Menschen, vor 672 673 674

Vgl. Schimmel, Die mystischen Dimensionen, 42–46. Vgl. Rudolph, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 275. Vgl. ebd.

174 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Ausführung der Handlung innerlich Handlungsmaßstäbe, Motive, Wünsche und Neigungen zu überdenken und sich währenddessen durchweg die Präsenz Gottes zu vergegenwärtigen. Es ist sozusagen die Aufforderung zur Deliberation, der es für eine adäquate Hand­ lungsentscheidung unausweichlich bedarf. Im Mīzān al-ʿamal, seiner Abhandlung zur Ethik, verbindet er die explizit philosophischen Überlegungen mit Anliegen des Sufis­ mus.675 In der Einleitung macht Ġazālī deutlich, dass das richtige Handeln in Verbindung stehe mit wahrer Erkenntnis (ʿilm) und Glückseligkeit (saʿāda). Der Drang, Wissen zu erwerben, gehört für ihn zur Natur des Menschen.676 Da der Mensch mit seinem Streben nach Wissen im Grunde auf Vollkommenheit ausgerichtet ist und Gott das vollkommene Wesen ist, liegt die Vollkommenheit des Wissens demnach in der Gotteserkenntnis.677 Die Gotteserkenntnis ist für Ġazālī das höchste Glück des Menschen. Diesen Zustand des Erkennens deutet er als Geschenk Gottes, das der Mensch eben nicht über die Erfüllung bestimmter religiöser Pflichten erwirken kann, sondern das Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit ist.678 Neben den intellektuellen Anstrengungen zum Wissenserwerb spielt die mystisch begründete Herzenserkenntnis eine entscheidende Rolle, die Ġazālī als weitere Erkenntnisquelle nach der Vernunft erachtet. Das Herz ist für Ġazālī Sitz der Vernunft mit koordinierender Funktion.679 Es ist ferner ein konstitutives Vermögen des Für-wahrHaltens (tasdīq) des Glaubens (imān). Das bedeutet, dass Menschen der Expertise und der Kompetenzen ihres Herzens bedürfen, um ihren Weg zur göttlichen Heimat und damit zur Glückseligkeit (zurück) zu finden.680 Entscheidend auf diesem Weg sei allerdings die Liebe zu Gott. »Rather, love of God is the expression of knowledge of God, and while mystical inspiration (ilhām) plays a role in attaining the highest degree of knowledge of God, as we have seen, al-Ghazālī advises Vgl. ebd., 277. Vgl. Binyamin Abrahamov, al-Ghazālī’s Supreme Way to know God. In: Studia Islamica, 77 (1993), 141–168, hier 149. 677 Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 126. 678 Vgl. ebd., 127. 679 Ġazālī nimmt keine klare Begriffstrennung vor, sondern verwendet Seele (nafs), Herz (qalb) und Vernunft (ʿaql) offensichtlich austauschbar. Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 133. 680 Vgl. Arslan, Ihya, Bd. 6, 8. 675

676

175 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

the most qualified aspirants, the ones most likely to attain their goal, to pursue mystical insight only after careful preparation through rational investigation.«681

Ġazālī unterteilt die Seele ebenfalls in drei Kräfte (quwwa), die begeh­ rende Seelenkraft, die zornige Seelenkraft und die Vernunftseele. Er gesteht ein, dass dies zwar eine Übernahme von Ibn Sīna sei (im Grunde ja eine platonische und aristotelische), ihn dies jedoch nicht zu einem neuplatonisch geprägten Mystiker mache.682 Auch im Mizān greift Ġazālī die vier Kardinaltugenden auf und differenziert zwischen ihnen als dianoetische und ethische Tugenden.683 Er bekräf­ tigt zugleich die Veränderbarkeit der ethischen Anlagen (ḫulq) des Menschen. Der Weg zur Vervollkommnung der Seele führt über gute Handlungen, die kontinuierlicher Anstrengung sowie gleichsam der göttlichen Güte (ǧūd) bedürfen. Die Aufgabe des Menschen mit Blick auf seine Seele besteht also darin, die Kräfte in eine rechte Verfassung (mizān) zu bringen.684 Denn Ġazālī hielt die Mystik nicht für eine Denkweise, die eine Ver­ zichtsleistung im christlich-asketischen Sinne verlangt, mit dem Ziel, triebhafte und begehrliche Neigungen niederzukämpfen.685 Vielmehr ist sie für ihn ein allumfassender Lernort, da es für die Vervollkomm­ nung der Seele der Anstrengung bedarf. Zudem ist er überzeugt, dass die Kenntnis der islamischen Rechtslehre einem Menschen hilft, ein besonderes Gleichgewicht der Tugend anzustreben und damit die Seele zu vervollkommnen. Die Harmonie der Seele könne durch andere Menschen gestört werden und bedürfe daher der Schulung (riyaḍāt) und Übung (tarbiya), um die Charaktereigenschaften in einem Gleichgewicht zu halten.686 Den Propheten Muḥammad stellt Ġazālī als jene Person vor, die in ihrem Streben Vollkommenheit erreichte, um die Gläubigen zu inspirieren, selbst das Tugendhafte anzustreben. Für Ġazālī kann ein Mensch nur tugendhaft in seinen Taten sein; das theoretische Wissen über Tugenden und deren Ausbildung mache jemanden dagegen 681 Kenneth Garden, The First Islamic Reviver: Abū Ḥāmid Al-Ġazālī and His Revival of the Sciences, Oxford 2014, 92. 682 Vgl. Griffel, Kritiker, 293. 683 Vgl. Rudolph, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 277. 684 Vgl. Al-Ġazālī, Das Kriterium des Handelns, 124. 685 Vgl. Horn, Antike Lebenskunst, 32. 686 Vgl. Arslan, Ihya, Bd. 3, 78.

176 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

noch nicht tugendhaft. Der entscheidende Punkt für ihn – und im Grunde für die meisten mystisch geprägten Autoren – war nicht, dem Weltlichen den Rücken zu kehren, sondern dem Profanen im eigenen Herzen keinen bedeutenden Stellenwert zu geben, sich also nicht in Abhängigkeit von materiellen Dingen zu begeben.687 Das Streben nach Glück hat bei Ġazālī die Gemeinschaft mit Gott zum Ziel.688 Erfüllung an den falschen Stellen zu suchen (auch an durch vernünftige Betrachtung als falsch ausweisbaren Stellen), könnte den Menschen in Zusammenhänge und Strukturen verstri­ cken, die moralisch fragwürdig sind und ihn derart blenden, dass er genau dies nicht mehr erkennen kann.689 Daher spielt die Offen­ barung als Kriterium eine entscheidende Rolle. Dementsprechend scheint mir die ġazālīsche Ethik eine mit Mitteln der Vernunft begründbare Glaubensmoral zu sein, die auf einer tugendorientierten Grundlage basiert. Denn ethische Bildung spielt sich für Ġazālī in einem Rahmen von Glaube, Vernunft und Streben nach Gotteser­ kenntnis sowie der Liebe des Schöpfers für seine Schöpfung ab. Vor diesem Hintergrund vermag ich vorsichtig zu resümieren, dass es Ġazālī gelingt, das Mystische in das rationale Denken gewinnbrin­ gend zu integrieren. Die Vernunft, die dem menschlichen Wesenskern zugrunde liegt, verbindet den Menschen mit Gott. Auf dem Weg, sein Innerstes zu entfalten, bewegt er sich auf die Einheitserfahrung zu. Mit Ilona Kock lässt sich folglich konstatieren, dass sich der Mensch vervollkommnet, indem er seine Aufgabe der Selbst- und Vernunftentfaltung erfüllt und in dieser Schau seines Seins, also der tiefen Gotteserkenntnis, eine Grundlage für eine an Liebe, Gerechtigkeit und Verantwor­ tung orientierte Lebensführung verwirklicht.690 Das Innerste des Menschen besteht aus einer Korrespondenz zum Göttlichen, die nach Ġazālī über folgende Anstrengungen erreicht werden kann: Die Verfeinerung des Charakters, das engagierte Bemühen um eine ethische Lebensweise und religiös-spirituelle Kontemplation. Konse­ Vgl. Ġazālī, Erretter, 42. Siehe auch: »flourishing according to God’s plan for human beings to experience infinite happiness with God«, Farina, Theological Ethics of Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 180. 689 Diese Erfahrung ergibt sich aus seinen Reflexionen über den Status als junger Gelehrter an einer Nizamiya madrasa, seinem Verhältnis zum Seldschukenstaat sowie seinem Zwang, die Lehrtätigkeit wiederaufzunehmen. 690 Vgl. Ilona Kock, Ontologische Begründungen von Ethik durch Einheitserfahrung im Denken Plotins und Ghazalis, Nordhausen 2011, 9, 162 f. 687

688

177 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

quent weitergedacht, verspielt jeder »Mensch, der sich absichtlich unethisch verhält und Gott (damit) leugnet« seine Ansprechbarkeit für Gottes Barmherzigkeit.691 Die Vernunft des Menschen sei auf die ewig transzendente und erleuchtete Urvernunft Gottes verwiesen. Der Wille ist zwar dasjenige Vermögen, welches das als vernünftig Erkannte in die Tat umsetzt, aber das kann er nur auf Basis der Vernunft. Die Vernunft ist sozusagen wie ein Regulator, doch sie kann sich auch irren und bedarf eines Kriteriums. Dies ist die Offenbarung, welche die mensch­ liche Vernunft ggf. korrigieren kann. Das heißt, die menschliche Vernunft, die Ort und Medium des Wissens ist, bleibt für Ġazālī angewiesen auf die erleuchtete Vernunft Gottes, die nicht irren kann. Die Synergie der Herzens- und Vernunfterkenntnis kulminiert für ihn im mystischen Erlebnis des Schmeckens (ḏawq).692 Er versteht also den Weg der intellektuellen Anstrengung und den des Schmeckens als gleichwertige Wege zur Gotteserkenntnis.693 Die Reflexion über die menschliche Wesensart im Lichte der islamischen Lehren, so Ġazālī, ermöglicht es dem Gläubigen, gut zu leben (im Sinne der eudaimonia), was mit dem Erwerb der Fähigkeit einhergeht, dem Einen nachzusinnen, der sie ins Dasein gebracht hat. Das Gedenken Gottes ist also ein zentraler Aspekt in Ġazālīs Moralvorstellung. »Those who possess beautiful character are firm in a certitude (yaqīn) concerning God’s active presence, and this gives birth to contentment (riḍā): a peace in the heart resulting from being attentive to God’s will.«694

Die ġazālīsche Ethik scheint eine theologische Tugendethik zu sein und unterscheidet sich, wie Marianne Farina in einem aus komparati­ ver Perspektive geschriebenen Aufsatz über den Vergleich von Ġazālīs und Thomas von Aquins theologischen Tugenden treffend konsta­ tiert, von einem deontologischen Ansatz.695 Ġazālī überbaut seine Tugendethik mit mystischer, in der Gottesliebe gipfelnder Ethik. Die Aufforderung zum ethischen Handeln erfolgt durch Gott, wodurch Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 78. Vgl. Asghar-Zadeh, Arabisch-islamische Philosophie, 62 f. 693 Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 133. 694 Marianne Farina, Theological Ethics of Abū Ḥāmid al-Ġazālī. In: Bülent Uçar/ Frank Griffel (Hgg.), 900 Jahre al-Gazālī im Spiegel der islamischen Wissenschaften, Göttingen 2015, 155–184, hier 178. 695 Vgl. Farina, Theological Ethics of Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 155. 691

692

178 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

der Mensch unter den Anspruch verantwortungsbewussten Handelns gestellt wird. Handeln ist im ġazālīschen Denken hinsichtlich der Aneignung des theoretischen Wissens eine notwendige Bedingung. »Daraus lässt sich im Sinne al-Ġazālīs folgern, dass das Glück eines Menschen bedingt ist durch eine Ethik, die (auch) die Rechte des Anderen zu erfüllen strebt.«696

3.3.5 Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (1201–1274) Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī ist zwar hauptsächlich als Philosoph bekannt, doch hat er sich auch auf den Feldern Kalām, Mathematik, Astronomie und Sufismus verdient gemacht und zählt zu jenen Persönlichkeiten, die in der philosophischen Ethik das moralphilosophische Denken von anderen nachhaltig prägten. Seine theologischen und metaphysischen Ansichten spiegeln sich in seinem persischen Werk al-Fuṣūl und seinem Kitāb al-taǧrīd (Das Buch der Katharsis) wider, das zu einer der wichtigsten Quellen für das Studium der schiitischen Theologie geworden ist und infolgedessen zu seinen meistkommentierten Wer­ ken zählt.697 Ṭūsī verfasste auch Texte zum Sufismus, u. a. bekundete er seine Verehrung bspw. für den Mystiker Ibn Manṣūr al-Ḥallāǧ (857– 922) und stand mit dem großen Sufi-Meister Ǧallāl al-Dīn Rūmī (1207–1273) sowie dem Sufi Sadraddīn Qunawī (1207–1274) in Korrespondenz.698 Sicherlich kann man davon ausgehen, dass sein auf Persisch verfasstes tugendtheoretisches Buch Aḳlāq-e nāṣerī (pers.) (arab. Aḫlāq an-naṣīrī, Der nasirinische Aḫlāq) durch diese Beziehun­ gen geprägt worden ist. Nun war Ṭūsī bekanntlich eine schiitische Persönlichkeit, weshalb er seine Ideen im Lichte der schiitischen Prägung weiterentwickelte.699 Daher erscheint mir Ṭūsīs Werk als Ergebnis einer gelungenen philosophischen Synergie zwischen den Sprachen und Denominationen. Als Ṭūsī nämlich in aufgewühlten Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 136. Vgl. Mehdi Aminarazavi, Nasir al-Din Tusi. In: Oliver Leaman (ed.), The Bio­ graphical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 22015, 482–484, hier 483. 698 Vgl. ebd., 483; zum Briefwechsel siehe Gudrun Schubert, Annäherungen. Der mystisch-philosophische Briefwechsel zwischen Ṣadr ud-Dīn Qonawī und Nāṣir ud-Dīn Ṭūsī, Bibliotheca Islamica, Bd. 43, Stuttgart 2011. 699 Vgl. Nanji, Islamic Ethics, 115. 696

697

179 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

politischen Zeiten gebeten wurde, Miskawayhs TA aus dem Arabi­ schen ins Persische zu übersetzen, war er von dieser Arbeit – wie er in seinem Vorwort ausführt – derart begeistert, dass er befürchtete, mit seiner Übersetzung dem Autor sowie seinem Werk nicht gerecht werden zu können. Daraufhin entschied er sich, zwar in enger Anleh­ nung an das TA, aber nicht im Sinne eines Duplikats sein eigenes Buch auf Persisch niederzuschreiben, das später Quelle für weitere aḫlāq-Werke sein wird.700 Sein im Jahre 1235 fertiggestelltes Buch ist in drei Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel widmet er sich der Verfeinerung des aḫlāq, im zweite der Hausverwaltung und im dritten Kapitel der Staatsphilosophie. Ṭūsī ergänzt folglich sein Werk im Vergleich zur TA um zwei ihm als wesentlich erscheinende Bereiche der Philosophie, was seine avicennische Prägung zeigt. Mit Blick auf die politische Philosophie orientiert er sich weitestgehend an den Vorstellungen von Fārābī und legt damit offen, dass seine Ethik auf dem Grundsatz des gesellschaftlichen Zusammenlebens beruht, das von der Liebe der Menschen zueinander als Zeichen ihres Strebens nach Eintracht getragen wird.701 Für Ṭūsī ist aḫlāq eine Disposition (malaka) sowie die Ganzheit aller Gewohnheiten, aus der heraus der Mensch auch spontan richtig zu handeln in der Lage ist.702 Er vertritt wie Aristoteles und andere Moralphilosophen die Ansicht, dass jede Disposition und schlechte Angewohnheit durch Übung verändert werden kann. So sei es das Ziel der Charakterverfeinerung und der Gewöhnungen, Tugenden auszubilden. Dem Vorbild Galens und Abū Bakr ar-Rāzīs folgend stellt Ṭūsī eine Verbindung zwischen der Medizin und der Veredelung von Charaktereigenschaften her: Er ist der Ansicht, dass medizinische Methoden in der Ausbildung und Wahrung von Tugenden und der Behandlung von Untugenden hilfreich seien.703 Daher bezeichnet er Krankheit als Verfehlung der Tugend.704 Sein Ansatz beruht auf einem dreiteiligen Seelenmodell: der Ver­ nunft, dem Strebevermögen und dem Begehren. Zu diesen rechnet er entsprechende Tugenden,705 welche mit denen von Miskawayh iden­ Vgl. Nasîruddin Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 12 f. Vgl. Mohamed Turki, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie, Mün­ chen 2015, 174. 702 Vgl. Nasîruddin Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 81 ff. 703 Vgl. ebd., 133 f. 704 Vgl. Karaman, Islam Ahlak Filozofları, 185. 705 Vgl Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 20–80. 700

701

180 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

tisch sind. Die Tugend definiert auch Ṭūsī als Mitte (iʿtidāl) von zwei Extremen (ifrād wa tafrīd), die in ihrer Ausdrucksform gemäß Zeit, Ort und Personen variieren können.706 Die Laster (raḏīlāt) seien die jeweiligen extremen Eigenschaften, die von der Mitte abweichen.707 Demnach sei Weisheit die Mitte zwischen Torheit und List, Tapferkeit zwischen Aggression und Feigheit, Besonnenheit zwischen Zügello­ sigkeit (der Lust) und Stumpfheit, Gerechtigkeit die Mitte zwischen Tyrannei und der Hinnahme von Tyrannei.708 Den vier Tugenden ordnet er jeweils weitere Sekundärtugenden zu, wobei er wesentliche Strukturen leicht modifiziert von Miskawayh übernimmt.709 Auch wenn Ṭūsī die Gerechtigkeit, die sich aus der Realisierung der anderen Tugenden ergibt, allen anderen Tugenden voranstellt, wohl auch des­ wegen, weil sie die zentrale Tugend für das politische Zusammenleben ist, bedeutet Gerechtigkeit doch die Einhaltung der richtigen Mitte selbst. Die Realisierung der Gerechtigkeit ermöglicht eine Annähe­ rung an die Glückseligkeit, denn erst sorgfältiges Abwägen zieht ein gerechtes Handeln nach sich. Demnach ist der Mensch tugendhaft, wenn sich die Seelenkräfte an der Gerechtigkeit orientieren, und das ist lediglich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Gesell­ schaft möglich. Im Vollzug der Gerechtigkeit sieht er die Spiegelung der Einheit Gottes in der Welt, die über die Verbindungslinie verfolg­ bar ist, welche die Gerechtigkeit mit der Gleichheit, die Gleichheit mit der Einheit und die Einheit mit Gott zusammenführt. Denn es sei eine natürliche Konsequenz der Statthalterschaft Gottes, zu sich selbst und zu anderen gerecht zu sein.710 Das Ziel der menschlichen Schöpfung verstand er in der Erkenntnis des absolut Guten bzw. in der Vereinigung mit Gott711 und dem Streben danach, ein guter Mensch zu werden und dadurch erst die Nachfolge Gottes (ḫalīfa) anzugehen. Dies sei auf dem Weg der Einsicht und Reflexion sowie der Reinigung von schlechten Charaktereigenschaften möglich. Im Vgl. Anar Gafarov, Nasirüddin Tûsî. In: TDV, 442–445, hier 443. Vgl. Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 66–67, 108–109, 117–119. 708 Im Anschluss an Aristoteles zählt Ṭūsī Freundschaft ebenso zur Tugend, vgl. Tusî, Ahlâk-i Nâsirî 314 f. 709 Vgl. Turan, Ibn Miskeveyh’de Erdem Kavramı, passim. 710 Vgl. Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 108 f., 131 f., 145 f. 711 Vgl. Hajj Muhammad Legenhausen, Intention, Faith and Virtue in the Shi’i Moral Philosophy. In: Jochen Schmidt/Idris Nassery (Hrsg.), Moralische Vortrefflichkeit in der pluralen Gesellschaft. Tugendethik aus philosophischer, christlicher und muslimi­ scher Perspektive, Paderborn 2016, 113–131, hier 117. 706

707

181 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

dritten Teil seiner Schrift beschreibt er, dass der Mensch ein soziales Wesen sei und die notwendige Folge davon die Gemeinschaft. Das Motiv, das hinter diesem Prinzip der sozialen Verhältnisse stecke, sei die Liebe.712 Das gemeinschaftliche Miteinander steht folglich auf der Grundlage der Liebe, die sich im Streben der Menschen nach einem gelungenen Zusammenleben ausdrückt. Es verwundert nicht, dass Ṭūsī die Stellung der Liebe höher einschätzt als Aristoteles, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass er in der sufischen Tradition zu Hause ist, in der Gott die Liebe selbst verkörpert.713 Wie Miskawayh misst Ṭūsīs religiösen Überzeugungen und der religiösen Praxis für die Charaktereigenschaften Bedeutung zu. Er erachtet das religiöse Gesetz als Heilmittel bzw. Abhilfe angesichts negativer Wünsche des Selbst. Denn das göttliche Gesetz verordne nur Gutes und verbiete Tugendlosigkeit und Schlechtes.714 Daher stößt man in seinem Werk mitunter auf qurʾānische Zitate und theologische Positionen. Den ethischen Tugenden fügt er Ergebung, Vertrauen und das Bedürfnis nach Orthopraxie hinzu. Auf die Bitte des politischen Denkers Šamsaddīn al-Ǧuwaynī (gest. 1284) schreibt Ṭūsī im Anschluss an sein Aḫlāq-e naṣerī das Werk Awsāf al-ašrāf (Die Attribute des Edlen), in welchem er aus einer sufischen Perspektive einen Weg für die Seelenbereinigung auf­ zeigt.

3.4 Kurzes Resümee Es ließen sich weitere muslimische Tugendphilosophen aufführen, doch gewähren die bisher vorgestellten einen ausreichenden Einblick in die Thematik. Die hier vorgestellten Autoren und ihre einschlägi­ gen Werke aus dem 9.-12. Jahrhundert verdeutlichen die ausführliche Behandlung der Tugendethik im islamisch philosophischen Denken. Auf der begrifflichen Ebene lassen sich im philosophischen Konzept der Tugendethik Differenzen identifizieren.715 In den vorgestellten Vgl. Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 247 f. Die Vermutung liegt nahe, dass eine gewisse Prägung Rūmīs spürbar ist. 714 Vgl. Tusî, Ahlâk-i Nâsirî, 105 f., 135 f., 278 f. 715 Vgl. Cleophea Ferrari, Antike Tugendethik in der mittelalterlichen Philosophie der islamischen Welt. In: Cleophea Ferrari/Dagmar Kiesel, Tugend, Frankfurt a. M. 2016, 109–129, hier 109 f. 712

713

182 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Werken sowie vielen weiteren ist zu entdecken, dass sie das aristoteli­ sche Verständnis von Tugend als die Mitte von zwei falschen Extremen in den Einstellungen bzw. Lastern mit der platonischen Seelenlehre amalgamieren, was beispielhaft offenlegt, wie unterschiedlich musli­ mische Philosophen das Verhältnis von Körper und Seele, Seele und Charakter bestimmten, v. a., aber wie unterschiedlich sie den Begriff der Seele verstanden. Den drei Seelenteilen werden Tugenden und Laster zugeordnet, die nicht unmittelbar einem antiken Vorbild gleich kommen.716 Einig sind sich indes alle, dass Tugend eine relativ stabile psychische Disposition (hexis/malaka)717 oder Charaktereigenschaft (ēthos/ḫulq) ist, die sich nach unzähligen Übungen erst einstellen kann. Das Einüben von Dispositionen vollzieht sich praxisbezogen im Umgang mit anderen und wirkt sich reflexiv in der Kultivierung der eigenen Person aus. Die altruistische Verantwortung für den anderen sowie die Überwindung von egozentrischen Motivationen wird hierbei betont. Zwar hielten sich die Philosophen im Prinzip an die vier Kardinaltugenden des Aristoteles718, im Verlauf der Rezeption ist aber (auch bei den Mystikern) eine fortschreitende Auffächerung in Sekundär- bzw. Untertugenden bzw. Qualitäten zu beobachten. Menschlichkeit differenziert sich beispielsweise in Sanftmut, Respekt, Bescheidenheit und Freundlichkeit. Es zeigt sich am islamischen Philosophiedenken sehr deutlich, dass sich die islamische tugendethische Arbeit am Selbst nicht auf das Konzept einer Lebensform als Lebenskunst einschränken lässt. Sie lässt sich vielmehr als eine gesellschaftlich engagierte wie körperlich involvierte Selbstkultivierungspraxis charakterisieren, d.h. die Arbeit am Selbst ist ausschließlich in Interaktion mit einem Gegenüber möglich. Auch schmerzhafte Erfahrungen wie Zurückweisungen, Diskriminierungen oder Degradierungen zu sammeln, gehört zu diesem Kultivierungsweg dazu. Auch diese Erfahrungen nähren das eigene Sein. Kurzum: für die muslimischen Tugendphilosophen ist der Grundzug aller Tugendkonzepte die Selbstkultivierung und die

Vgl. Ferrari, Antike Tugendethik, 117. Siehe hexis NE 1105b25–1106a13. In der arabischen Übersetzung der NE wird hexes üblicherweise als ḥāl, ein Zustand, sowie als hayʾa, eine Disposition der Seele, wiedergegeben. Malaka, eine Veranlagung, wird in der arabischen Übersetzung weniger häufig, aber durchgängig von al-Fārābī verwendet, während Miskawayh, Yaḥyā ibn ʿAdī, Gazali hayʾa verwendet. 718 Vgl. Yaran, İslam Ahlak Felsefesine Giriş, 42. 716

717

183 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

menschliche Vergesellschaftung. Die tugendethische Kultivierung des Selbst ist Mittel der Vergesellschaftung. Es wird an den philosophischen Denkern deutlich, dass das Arbeiten am Selbst nach einer Aktivität des Menschen verlangt, schließt aber in theologischer Perspektive die göttliche Gnade und Barmherzigkeit mit ein, die den Menschen in seinem Bestreben zum Gutem befähigt. Die Überzeugung und der Glaube an die Angewie­ senheit des Menschen auf Gott, lädt den Menschen zu einer gewissen anthropologischen Gelassenheit ein. Diese anthropologische Gelas­ senheit verweist auf die ambivalente Natur des Menschen, die die Neigung zum Guten wie zum Schlechten in sich birgt.719 Der Mensch besitzt das Potenzial zur Veränderung bzw. er ist veränderungsbedürf­ tig. Diese anthropologische Perspektive verlangt ein wiederholtes Tun des Tugendhaften in der Überzeugung, dass Gott dem Menschen diese Befähigung schenkt. Die Gelassenheit bezieht sich auf den Aspekt, dass der Mensch sich in seinem Tun einerseits nicht zu eilen braucht, denn Gewohnheiten zu ändern, benötigt Beständigkeit und Dauerhaftigkeit. Der Mensch soll andererseits auch nicht verzagen, wenn das aktive Tun nicht unmittelbar in einer persönlichen Resonanz endet. Die muslimischen Denker zeigen mit ihren Tugendkatalogen dem Menschen, wie er sein könnte, wenn er sich auf die Suche begibt, sein eigentliches Wesen zu erkennen. Ein weiterer Grundzug des tugendethischen Denkens der musli­ mischen Philosophen ist die Überzeugung, dass Laster nicht vollstän­ dig entwöhnt oder »getötet« werden (können), sondern das Einüben der guten Charaktereigenschaft solle zugleich das richtige Maß zur Beherrschung der tadelnswerten Eigenschaften vermitteln. Religiöse Riten und Pflichten als Teil der praktischen Übungen betreffen sowohl die äußeren als auch die inneren Aspekte des Menschen. Der religiöse (qurʾānische) Ansporn, zu spenden bzw. großzügig zu sein, ist bspw. aus dieser Warte betrachtet, eine Übung für den Menschen, die Disposition des Gebens zu trainieren. An dieser Stelle wird erneut die Praxisbezogenheit der Tugendkultivierung deutlich. Die Tugendkulti­ vierung erhält durch einen Ritus seine sozialisierte Form und äußert sich in Mitmenschlichkeit. Die Kultivierung bezeichnet Miskawayh als Kunst der Verfeine­ rung des Charakters (sināʾat al-aḫlāq), die uns als Verschönerung des Im Qurʾān wird der Mensch nämlich als schwach beschrieben, der zum Schlechten tendieren könne, siehe Q 4:28; 12:53.

719

184 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Ethische Bildung in der tugendethischen Denktradition

Charakters im Mystik-Kapitel begegnen wird; für diese Kunst wer­ den jedem menschlichen Entwicklungsstand eigene Übungsformen anempfohlen. Als grundsätzliches Medium für die Verfeinerung bzw. Verschönerung des Charakters nennt Miskawayh beispielhaft zwar das Memorieren von Gedichten, doch das lässt sich nicht nur durch weitere Hilfsmittel wie Musizieren, Literatur oder künstlerische Betä­ tigungen ergänzen, sondern auch durch tugendhafte Freunde selbst. Während in der Antike die Emotionen eine philosophische Geringschätzung erfuhren, kam ihnen in der arabisch-islamischen Rezeption eine positive Bewertung zu. Jeder Mensch verfügt über die Fähigkeit, bspw. in Zorn zu geraten. Aus dieser natürlichen Anlage ergibt sich aber noch nicht, wie stark, wie häufig, worüber jemand in Zorn gerät. Gefühle wie Zorn, die bspw. ein erhabenes religiöses Ziel anstreben und nicht aus selbstbezogenen Motiven zutage treten, sind ebenfalls wünschenswert, sofern der Zorn bspw. gezeigt wird, um eine Ungerechtigkeit zu hemmen oder zu stoppen, d. h., auch ein Gefühl ist im Werden inbegriffen, in der Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen. Ein Gefühl ist zugleich ein Anzeigeschild (im Falle von Zorn oder Wut sogar ein Warnsignal), das etwas über den aktuellen Gemütszustand des Menschen aussagt und den Menschen damit zur achtsamen Selbstwahrnehmung einlädt. Damit werden auch Gefühle, die im Seelenleben verortet sind, zum aktiven Kultivierungsprozess gezählt. Zugleich handelt es sich um die wichtige anthropologische Ansage, dass der Mensch seinen Gefühlen nicht ausgeliefert ist oder sie bekämpfen soll, sondern dass er sie kultivieren kann und soll. Gefühle sind für die muslimischen Tugendphilosophen ein natürli­ cher Bestandteil der Selbstwahrnehmung, wenn nicht die Indikatoren für das Verstehen und wenn nicht sogar die Erkenntnis geradezu der je eigenen Verhaltensweisen und Antriebe.

185 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze »Auch die Wissenschaft des Sufismus (ʿilm at-taṣawwuf) entwickelte sich parallel zu den anderen Wissensfeldern und verband die struktu­ relle Reflexion des Islams mit der ihm innewohnenden Spiritualität. Diese Verbindung von Theologie und Spiritualität sah sich im Lauf der Geschichte immer wieder unter Druck gesetzt und wurde mehrfach verteidigt (...).«720

Der Sufismus hat vielfältige ethische Vorstellungen kultiviert und spielte in der moralischen Prägung muslimischer Gesellschaften eine integrale Rolle.721 Nicht nur durch ihre reiche Literatur, sondern auch durch ihre praktische Dimension bietet die islamische Mystik unter­ schiedliche Zugänge zur Kultivierung des Selbst, die im Letzten die Einswerdung (fanāʾ) mit Gott bezweckt. In diesem Zusammenhang interessieren die mystischen Konzepte, die sich mit der persönlichen Kultivierung ethischer Grundhaltungen und ihrer Verbindung mit praktischen Formen oder Riten beschäftigen. In der Mystik bekam der nafs-Begriff allerdings eine andere Charakterisierung als in der Phi­ losophie, die aber auch nicht als etwas Konstantes begriffen werden kann, sondern als ein polysemantischer Begriff, dessen Verwendungs­ weise eine eigene Entwicklung aufzeigt. Der Fokus der Kultivierung wurde auf das Seelenleben gelegt. Der nafs-Begriff bezeichnete in ers­ ter Linie, vereinfacht gesprochen, eine negative, weltliche, ungestüme Entität, die ständig ermahnt und überwacht werden muss.722 Denn das Leben wird in der Mystik begriffen als ein unendliches Ringen, das darauf gerichtet ist, den nafs, die als Ego, Seele oder leidenschaftliches Selbst verstanden wurde, zu überwinden, zu besiegen und sich von ihm zu lösen, um dadurch dem Göttlichen immer näher zu kommen und letztlich nach der Erkenntnis oder der Vereinigung mit Gott zu streben.723 Demnach kann der Mensch in sufischer Vorstellung erst dann zu Gott finden, wenn er sich als Mensch im Sieg über das Selbst bewährt. Engelhardt, Islamische Theologie, 74. Vgl. Paul L. Heck, Mysticism as Morality. The Case of Sufism. In: The Journal of Religious Ethics, Vol. 34, 2 (2006), 253–286, hier 253. 722 Vgl. Sara Sviri, The Self and its Transformation in Ṣūfīsm, 13. 723 Vgl. Maria Massi Dakake, »Walking upon the Path of God like Men«? Women and the Feminine in the Islamic Mystical Tradition. In: Jean-Louis Michon/Roger Gaetani (eds.), Sufism: Love and Wisdom, Indiana 2006, 131–153, hier 133. 720 721

186 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

Wie bereits erwähnt, wird der Weg der Mystiker als ʿilm al-sulūk (Das Wissen des Wanderers) bezeichnet. In dieser Vorstellung ent­ hält die mystisch-ethische Lehre praktische Anweisungen über die Wanderschaft (sayr) und den spirituellen Weg (sulūk), die sowohl die Innenwelt des Mystikers als auch das äußere Verhalten betreffen.724 Derartige Abhandlungen beschäftigen sich ebenfalls mit adab im Sinne von feinen Umgangsformen, die den Umgang zwischen dem Meister und seinem Schüler betreffen und als zentraler Erziehungs­ fokus in der mystischen Praxis für den jeweiligen Weg bezeichnet werden kann.725 Allerdings weiss auch eine Katze, wo und wann sie vor der Metzgerei zu stehen und zu warten hat. Rechtes Verhalten ist wichtig, aber die Mystiker wollen im Menschen noch ein anderes Feuer entfachen. Ihr Ziel ist die maʿrifa (Erkenntnis), die als obers­ tes Ziel religiöser Lebensführung betrachtet wird.726 Daher sind in diesem Zusammenhang ausschließlich jene Praktiken zur Diszipli­ nierung der Seele, zur Kultivierung des Selbst und zur Verschönerung des Charakters interessant. Nasr beschreibt den Zusammenhang zwischen Tugenden und Sufismus wie folgt: »If the discussion of spiritual states in Sufism is inseparable from that of the virtues (mahāsin or faḍāʾil), it is precisely because in Sufism a virtue is seen not as an act or external attribute but as a manner of being.«727

Eine Tugend wird im Sufismus nicht als zufällige Charaktereigen­ schaft verstanden, sondern »as a manner of being«, d. h., sie ist eine Lebenshaltung. Nasr beschreibt eine Tugend, wie bspw. Geduld (ṣabr) oder Zuversicht in Gott (tawakkul), als Station (maqām), die erreicht wird, wenn die Seele diese Tugend nicht zufällig besitzt, sondern das Seelenwesen entsprechend transformiert ist.728 Eine Tugend in mystischer Perspektive ist also eine Seinsweise, die mit dem spirituellen Zustand korrespondiert. So ist Nasr zufolge die Vgl. Seyyed Hossain Nasr, Persian Sufi Literature: Its Spiritual and Kultural Significance. In: Leonard Lewisohn (ed.), The Heritage of Sufism. The Legacy of Medieval Persian Sufism, Vol. II, Oxford 1999, 1–18, hier 5. 725 Vgl. Erik S. Ohlander, Adab in Ṣūfism. In: EI3, 40–43, hier 41 f. 726 Dem in der scholastischen Theologie vorherrschenden ʿilm-Begriff setzen die Mystiker den Gegenbegriff maʿrifa entgegen. Vgl. Amir Dziri, Über die Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen Ideengeschichte. In: Abbas Poya/Farid Sulei­ man/Benjamin Weineck, Bildungskulturen im Islam, Berlin/Boston 2022, 19–41, hier 31. 727 Nasr, Sufi Essays, 70. 728 Vgl. ebd. 724

187 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

mystische Lehre insgesamt dahingehend zu verstehen, dass sie nicht den Besitz von diversen Tugenden und das Erreichen von Zuständen zu lehren versucht, sondern über den Erwerb dieser Tugenden Gott erreichen will. Die anfänglichen Wurzeln des Sufismus lassen sich in den weit verbreiteten asketischen Tendenzen von kleinen Gruppen finden, die im ersten Jahrhundert (also 7. Jh.) in Basra und anderen isla­ mischen Gebieten auftraten.729 Unter der kritischen Haltung der Umayyadenpolitik gegenüber der asketischen Lebensweise wurde von vielen, z. B. von al-Ḥasan al-Baṣrī (642–728) Enthaltsamkeit und die Besinnung auf sie wie eine Tugend gelebt und gepredigt.730 Als Wesenskern des Glaubens sahen sie die Ablehnung von Welt­ anhaftungen jeglicher Art an.731 Zu den ältesten Mystikern gehört bspw. al-Ḥāriṯ al-Muhāsibī (um 781–857), der, auf dem Boden der Orthodoxie stehend, Entsagung, Selbstbeherrschung und Gotterge­ benheit predigte.732 Diese spirituelle Bewegung, die den vorzeitlichen (also diesseitigen) Bund mit Gott und ihre Vollendungshoffnung auf das Diesseits ausrichtete, war nicht nur von fremden Einflüssen wie aristotelischen, platonischen und neuplatonischen, gnostischen, bud­ dhistischen und persischen Quellen geprägt, sondern beruhte primär auf der qurʾānischen Motivik.733 Aufgrund dieser unterschiedlichen Einflüsse und der geografischen Expansion der Muslime kann der Sufismus auf mehrere ethische Traditionen zurückblicken.734 Vor dem Hintergrund einer breiten Quellenlage scheint es fast schon unmöglich, die Aneignungslinien des antiken Erbes der Tugendethik innerhalb der islamischen Mystik nachzuzeichnen.735 Der Anspruch dieses Abschnittes ist hingegen bescheidener und sucht nach Indizien tugendethischen Denkens und diesbezüglicher Übungsformen, da der Vgl. Schimmel, Sufismus, 15; vgl. Reynold A. Nicholson, A historical enquiry concerning the origin and development of Sufism. In: Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland, Cambridge 1906, 303–348, hier 304. 730 Vgl. Reza Hajatpour, Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Per­ fektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg/München 2013, 45; vgl. Michael Schwarz, The Letter of Al-Haṣanl al-Baṣrī. In: Oriens, 20 (1967), 15–30, hier 15 f. 731 Vgl. Schimmel, Sufismus, 15 f. 732 Vgl. Brockelmann, Geschichte der arabischen Litteratur, 133. 733 Vgl. Nicholson, A historical inquiry, 320, 328 f. 734 Vgl. Knysh, Islamic Mysticsm, 13 ff. 735 Vgl. Heidrun Eichner, Philosophie. In: Rainer Brunner (Hrsg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, 191–209, hier 201. 729

188 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

Sufismus bekanntlich immer eine praktische Dimension in sich ver­ einte. Aus der Entstehungsphase (ca. 7.-11. Jh.) sind Textsammlungen bekannt, in denen aphorismenartige Begriffsbestimmungen aufgelis­ tet sind, die Fragen wie Wer ist ein Sufi? und Was ist tasawwuf bzw. Sufimus? beantworten.736 Sayyed Hussain Nasr zufolge dominierten die Sufis das Feld des ethischen Denkens mit ihren Schriften in der Frühphase des Islam, dazu wird bspw. Abū Tālib al-Makkī (gest. 990) mit seiner Schrift Qūt al-qulūb (Die Nahrung für die Herzen) und Jahrzehnte später das berühmte Werk Risāla al-Qušayriyya von Abūʾl Qāsim al-Qušayrī (gest. 1072) gezählt.737 Laut Nasr sind alle zentralen Werke über Ethik, die er mit dem Begriff aḫlāq gleichsetzt, der Sunniten wie auch Schiiten bis in das 13. Jahrhundert durch die islamische Mystik inspiriert worden.738 Bei der Bestimmung des Begriffs tasawwuf variieren die Ant­ worten und geben einen ersten Eindruck von seiner Kernidee. Sarī al-Sakatī (772–867) soll die Frage nach der Bedeutung von tasawwuf mit einem Wortspiel beantwortetet haben: tasawwuf sei eine edle/ noble (karīm) Disposition, die Gott bzw. der Begünstiger (al-Karīm) im begünstigten Menschen (kirām) hervorbringe.739 Es gab in dieser Zeit zwei mystische Schulen in Bagdad; al-Sakatī vertrat einen gnos­ tischen Sufismus trotz seiner Bindung an den Qurʾān und die Sunna, wohingegen die mystische Schule von al-Muḫāsibī ausschließlich einen traditionellen Sufismus vertrat, der seinen Ausgangspunkt im Qurʾān und der Sunna fand.740 Mystische Größen wie Abū al-Qāsim al-Ǧunayd (827-um 909), Sarī al-Sakatī oder Ibn Muǧīb sollen tasaw­ wuf als ḫulūq, moralischen Charakter oder edle Disposition, gedeutet haben.741 Diese Bestimmungen von aḫlāq sind in al-Sulamīs Tabaqāt ebenfalls zu finden, so zitiert er Abūʾl-Husayn al-Nūrī (840–908), der gemeinsam mit Ǧunayd bei Sakatī zur Schule ging und zu Sakatīs Vgl. Knysh, Islamic Mysticism, 5 ff.; vgl. Frank, »Tasawwuf Is ...«, 73 f.; vgl. Richard Gramlich, Abū Sulaymān ad-Dārānī. In: Oriens, 33, Leiden 1992, 22–85, hier 25. 737 Vgl. Nasr, The Rise and Development of Persian Sufism, 5. 738 Vgl. ebd. 739 Vgl. Abū Nuʿaym, Ḥilyat al-awliyāʾ, Bd. I, Cairo 1932, 23. 740 Vgl. Maha Al-Kaisy, Abu al-Qasim al-Junayd. In: Oliver Leaman (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 22015, 263–266 hier 264. 741 Vgl. Frank, »Tasawwuf Is ...«, 77. 736

189 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Mystik-Schule gehörte:742 Sufismus bestehe weder aus (buchstäbli­ chen) Zeichen (rusūm) noch aus Wissen (ʿilm), sondern sei aḫlāq, welches das Streben nach guten Eigenschaften sei.743 Hierbei nahm er wohl Bezug auf das sufische Sprichwort »Qualifiziere dich mit den göttlichen Qualitäten bzw. Eigenschaften Gottes (tahkallaqū bi-aḫlāq Allah).«744 Über al-Nūrīs Ausdruckweise soll man gesagt haben, dass sie »latīf ẓarīf«, fein und elegant sowie poetisch gewesen sei, und al-Sulamī behauptete, dass es keinen besseren Repräsentanten des sufischen Weges noch jemanden mit edleren Ausdrücken gegeben habe als ihn.745 Abū Nuʿaym al-Iṣfahānī (gest. 1038) bespricht in seinem Werk Ḥilyat, das sowohl als Hadith- als auch tasawwuf-Quelle erachtet wird, das Leben wohlbekannter Mystiker und Asketen.746 Darin ist bspw. zu lesen, dass Sufismus die Ernsthaftigkeit beim Wandern (sulūk) zum König der Könige ausdrücke.747 So schreibt er: »Hüte dich vor Iblis, indem du deinem Lustverlangen widerstehst. Schmücke dich für Gott durch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Öffne dich der Vergebung durch die Scham vor Gott und das Gott-vor-AugenHaben. Gewinne die Mehrung der Gaben durch die Dankbarkeit. Suche die Dauerhaftigkeit der Gnade durch die Furcht vor ihrem Aufhören. Es gibt keine Tat wie das Suchen nach dem Heilsein. Es gibt kein Heilsein wie das Heilsein des Herzens. Es gibt keine Einsicht wie der Widerstand gegen das Lustverlangen. Es gibt keine Armut wie die Armut der Herzen. Es gibt keinen Reichtum wie der Reichtum der Seele. Es gibt keine Stärke wie die Abwehr des Zorns. Es gibt kein Licht wie das Licht der Gewissheit. Es gibt keine Gewissheit wie die Geringschätzung des Diesseits. Es gibt keine Erkenntnis wie die Selbsterkenntnis. Es gibt keine Gnade wie die Bewahrung vor den Sünden. Es gibt keine Bewahrung wie den Beistand der Gotteshilfe. Es gibt keinen Verzicht wie das Kurzhalten der Hoffnung. Es gibt kein Begehren wie das Wetteifern in den geistlichen Stufen. Es gibt keine Gerechtigkeit wie das Rechtverschaffen. Es gibt keine Rechtsverletzung wie die Unter­ Vgl. al-Sulamī, Tabaqāt al-sufiyya, übers. Johannes Pedersen, Leiden 1960, 155. Vgl. Richard Gramlich, Alte Vorbilder des Sufitums, Bd. 1, Wiesbaden 1995, 394 f. 744 Annemarie Schimmel, Abū al-Husayn al-Nūrī, Qibla of the Lights. In: Leonard Lewisohn (ed.), The Heritage of Sufism, Oxford/Boston 1999, 60. 745 Vgl. Schimmel, Nurī, 63; vgl. al-Sulamī, Tabaqāt as-sufiyya, 156. 746 Vgl. Yusuf Z. Keskin, Abū Nuʿaym al-Iṣfahānī. In: Oliver Leaman (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 22015, 248–249, hier 248. 747 Vgl. Abū Nuʿaym, Ḥilyat, 31. 742

743

190 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

drückung. Es gibt keinen Gehorsam wie die Erfüllung der Pflichten. Es gibt keine Gottesfürchtigkeit wie das Meiden des Verbotenen. Es gibt kein Fehlen wie das Fehlen des Verstandes. Es gibt kein Fehlen des Verstandes wie der Mangel an Gewissheit. Es gibt keine Tugend wie der Kampf. Es gibt keinen Kampf wie der Kampf gegen das Ich. Es gibt keine Schmach wie die Gier. Es gibt keine Vergeltung wie die Vergebung. Es gibt keinen Lohn wie das Paradies.«748

Abū Nuʿaym qualifiziert den Weg der großen Sufis (ʿabdāl) dahinge­ hend, dass auf ihrem Weg (tarīq) nicht nur gefastet und gebetet wurde, sondern sie durch Großzügigkeit, Kühnheit des Herzens und Tadel an sich selbst zu Gott gefunden hätten.749 Ein weiterer bekannter und vielseitiger Gelehrter aus dem 11. Jahrhundert ist ʿAbdullah Ansārī al-Harawī (1006–1089), der mit 74 erblindete und seine Schriften über den Qurʾān und den Sufismus seinen Schülern diktierte.750 Al-Harawī favorisierte einen Sufismus, der in seinem Wesen dem Qurʾān und der Sunna nicht widersprach.751 Mit seinem späten, auf Arabisch diktierten Werk Manāzil al-sāʾirīn (Die Stationen der Wanderer) schrieb er einen spirituellen Führer, der durch seine Originalität, Systematik und Prägnanz beeindruckte752 und die einzelnen Wegstationen eines Sufis beschreibt.753 In seinem Werk listet er die schlechten Eigenschaften der paganen Araber wie »Strenge, Arroganz, Zügellosigkeit, Unter­ drückung, Frechheit, Hochmut« auf und stellt ihnen die Charakterei­ genschaften des Propheten wie »Geduld, Bejahung (was von Gott kommt), Dankbarkeit, Schamgefühl (aufgrund der eigenen Fehler­ haftigkeit im Angesicht Gottes), Ehrlichkeit, das Wohlwollen des Anderen sich selbst vorziehen (iṯhār), gute Gewohnheiten (Dispo­ sitionen) besitzen, Bescheidenheit, Großzügigkeit, lächelndes und freundliches Sprechen« gegenüber.754 Moralische Vortrefflichkeit ist 748 Abū Nuʿaym, Hilyat 9/270,3–14, zit. n. Richard Gramlich, Abū Sulaymān adDārānī. In: Oriens, 33, (1992), 22–85, hier 82 f. 749 Vgl. ebd. 750 Vgl. Oliver Leaman, ʿAbdullah Ansari al-Harawi. In: ders. (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, New York 22015, 139–141, hier 140. 751 Vgl. ebd. 752 Vgl. de Beaurecueil, al-Anṣārī al-Harawī. In: EI2. Allein die Zahl der Kommen­ tatoren dieses Werkes nimmt in der Geschichte des Sufismus eine herausragende Stellung ein. 753 Vgl. Abdürrezzâk Tek, Tasavvufî Mertebeler: Hâce Abdullah el-Ensârî el-Herevî Örneği, Bursa 2008, passim. 754 Vgl. Abū Ismail al-Harawī, Manāzil al-Sā’irīn, Beirut o.J., 49.

191 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

vor allem durch eine gemeinschaftsbezogene Lebensorientierung charakterisiert. Auch wenn die Tugendkataloge von Epoche zu Epoche sowohl im Umfang als auch in der Konkretisierung variieren, legen ihre Überschneidungen, wie bisher erkennbar wurde, Zeugnis von ihrer Anerkennung zu allen Zeiten ab. Mit Blick auf die frühen Sufis lässt sich beobachten, dass sie auf ihrem mystischen Weg im Wesentlichen danach strebten, eine Haltung der Gemeinschaft und des Dienstes für die Menschheit zu fördern und hierfür die Entwicklung positiver Charaktereigenschaften und Werte unter ihren Schülern forcierten, wobei sie mit ihrem eige­ nen Leben dieses Ideal vorzuleben versuchten.755 In seinem Mathnawi teilt u. a. Rūmī eine ähnliche Einstellung: »Der Dienst am Menschen (ḫidma) ist Gebet (ʿibada). Die Anbetung Gottes ist nicht getan mit Rosenkranzperlen (tasbiḥ), Frömmigkeitsge­ wändern oder Gebetsteppichen.«756

Rūmī unterstreicht an dieser Stelle, dass vermeintliche äußerliche Erkennungsmerkmale wie eine Rosenkranzperle und eine bestimmte Art, sich zu kleiden, einerseits noch kein Indiz für einen frommen Menschen seien und andererseits die Anbetung Gottes mehr Aus­ drucksformen habe, als es die orthodoxen Lehren vorgäben. Anderen Menschen zu helfen und zu dienen gilt ihm als praktische Form, um seine Seele zu formen und schlechten Eigenschaften wie bspw. dem Hochmut den Kampf anzusagen.757 Viele Historiker trennen die islamische Mystik bis zum großen Meister Ibn ʿArabī (gest. 1240) von der islamischen Philosophie im 9. und 10. Jahrhundert.758 Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts ging es für die Mystiker nicht mehr ausschließlich um die praktische Lebens­ führung in philosophischer oder sufischer Plausibilisierung, sondern vielmehr um die Bedingungen der Erkenntnis.759 So entwickelte sich Vgl. Javad Nurbaksh, The Key Features of Sufism in the Early Islamic Period. In: Leonard Lewisohn (ed.), The heritage of Sufism in the Early Islamic Period, Vol. I, Oxford/Boston 1999, xvii-xli, hier xxiv. 756 Vgl. Jalaluddin Rumi, The Mathnawi of Jalalu'ddin Rumi, übers. Reynold A. Nicholson (ed.), London 1925, V I:845. 757 »Hochmütig ist, wer sich überschätzt und andere unterschätzt; und das tut der Zyniker genauso wie der Heuchler, auf plumpe oder auf subtile Weise, je nachdem.« Frithjof Schuon, Esoterik als Grundsatz und als Weg, Paris 1997, Abschnitt 11. 758 Vgl. Rudolph, Philosophie in der Islamischen Welt, xxix; siehe hierzu auch Ali Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabis, Hamburg 2018. 759 Vgl. Schimmel, Die mystischen Dimensionen, 144. 755

192 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

die tasawwuf-Tradition verstärkt zu einer praktischen Ausgestaltung des tahḏīb-Gedankens. Tahḏīb, das uns aus dem philosophischen Dis­ kurs als Läuterung bekannt ist, unterscheidet sich hier grundlegend durch die spirituelle und ethisch-praktische Dimension.760 Die Schriften, die als Pionierwerke dem institutionalisier­ ten Sufismus vorausgingen und sich mit Frömmigkeit beschäftig­ ten, wurden kutub al-zuhd (Bücher der Abgewandtheit/Askese) genannt.761 Den Begriff zuhd mit Askese zu übersetzen, wie häufig zu lesen, zieht ein gängiges Missverständnis nach sich: Zuhd wird mit dem Asketismus der christlichen Praxis assoziiert und auf dieser Linie verstanden.762 Doch zuhd als Begriff wie auch Konzept sollte gemäß den Parametern islamischer Tradition betrachtet werden. Daher argu­ mentiert Leah Kinberg dafür, zuhd auf Grundlage des Qurʾān zu bestimmen, nämlich als Zurückhaltung und Mäßigung gegenüber der Welt und als erreichbar für jeden Muslim, der moralisch gut sein möchte.763 Während zuhd von einigen als radikale Distanzierung von weltlichen Gütern verstanden wurde, haben andere deutlich gemacht, dass Güter in der Praxis nicht vollkommen bedeutungslos waren. Es galt, eine vernünftige Einstellung zu ihnen und eine vernünftige Art des Umgangs mit ihnen dahingehend zu schulen, dass weder ihr Besitz noch ihr Verlust den Menschen glücklich oder unglück­ lich stimmt. Denn sowohl die Überantwortung ihres Besitzes als auch ihres Verlustes in den göttlichen Willen machte das Wesen dieser mystischen Tugend aus. In diesem lebenspraktischen und bewusstseinsschulenden Sinne wurde zuhd überwiegend verstanden. Nach an-Nasafī (gest. 1287) drückt zuhd konkret Verzicht, aber nicht

760 Vgl. Yaran, İslam Ahlak Felsefesine Giriş, 29; vgl. Paul L. Heck, Friendship in the Service of Governance: Makārim al-Aḫlāq in Abbaside Political Culture. In: Maurice A. Pomerantz/Aram A. Shahin (ed.), The Heritage of Arabo-Islamic Learning, Leiden 2015, 73–90, hier 74 f. 761 Siehe Näheres hierzu Hacı Bayram Başer, Tasavvufu Önceleyen Dönemde Ahlâk Literatürü: Kitâbü’z-zühd’ler. In: Ömer Türker/Kübra Bilgin (Hrsg.), İslâm Ahlâk Literatürü: Ekoller ve Problemler, Ankara 2015, 139–162. 762 Vgl. Tor Andrae, Zuhd und Mönchtum. Zur Frage von den Beziehungen zwischen Christentum und Islam. In: Le Monde Oriental, 25 (1931), 296–327, hier 327; vgl. Ute Pietruschka, Apophthegmata Patrum im muslimischen Gewand. Das Beispiel Mālik ibn Dīnār. In: Claudia Rammelt/Cornelia Schlarb/Egbert Schlarb, Begegnungen in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge dialogischer Existenz, Berlin 2015, 160–171, hier 160. 763 Vgl. Kinberg, What is Meant by Zuhd?, 27 f.

193 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

im Sinne von Armut (faqīr) aus.764 Es ist die Beschränkung auf das Wesentliche im Leben, die Absicht, mittelbar und unmittelbar Bewusstsein und Lebensweise zu kultivieren, um verzichten zu kön­ nen. Demnach erhält zuhd einen doppelten Wortsinn: Zum einen ist es die Fähigkeit, auf weltliches Vermögen ohne Anhaftung zu verzichten, und zum anderen die Vertiefung in den Glauben dahin­ gehend, sich von allem fernzuhalten, was den Menschen von Gott entfernen könnte.765 Kitāb az-zuhd wa raqāʾiq (Das Buch über den Asketismus und die Feinheiten des Herzens) von ʿAbdullah bin Mubārak Marwāzī (736– 797), der vielen im Zusammenhang mit Hadith-Wissenschaften als Poet, Kämpfer und in seiner Frömmigkeit (zuhd) als Vorbild galt, gehört zu den ersten Beispielen einer praktischen Erbauungsliteratur über die »Verfeinerung der Seele«, mit der die Grundlage für die zuhdLiteraturgattung der kommenden Jahrhunderte gelegt wurde.766 Es hat den Status eines Nachschlagewerkes eingenommen, worin er zuhd als ethische Praxis beschreibt, die auf qurʾānischen Grundlagen basiert.767 »It contains hundreds of pious aphorisms, moral and ethical precepts which became the building blocks of later Sufi tradition.«768 Die Perfektionierung des Charakters findet ihren Höhepunkt im vorbildlichen Charakter des Propheten Muḥammad. Er gilt als mora­ lisch vollkommener Mensch (aḫlāq al-nubuwwa) in der Frömmigkeit, steht als Vorbild für ethisches Verhalten und nimmt eine wesentli­ che Rolle auf dem Weg zur Gotteserkenntnis ein.769 Hierfür wird insbesondere Sure 3, Vers 31 angeführt, in der Gott den Propheten auffordert, seinen Zuhörern zu sagen, dass sie sich an ihm orientieren

764 Vgl. ʿAzīz an-Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, Marijan Molé (Hrsg.), Teheran 2000, 330. 765 Vgl. Reza Hajatpour, Die Kontroverse zwischen islamischer Mystik und Theologie bezüglich der Glaubensinhalte. In: Erdal Toprakyaran/Hansjörg Schmid/Christian Ströbele, Dem Einen entgegen. Christliche und islamische Mystik in historischer Perspektive, Berlin 2018, 27–44, hier 41; vgl. Schimmel, Sufismus, 19. 766 Vgl. Salem, The Emergence of Early Sufi Piety, 1, 37; vgl. Ahmad Mahdavi Damghani, Persian Contributions to Sufi Literature in Arabic. In: Leonard Lewisohn (ed.), Classical Persian Sufism from its Origins to Rumi (700–1300), Vol. I, Oxford 1999, 33–57, hier 35. 767 Vgl. ebd., 37. 768 Knysh, Islamic Mysticism, 21. 769 Vgl. Isik, Die Bedeutung des Gesandten, 203–215.

194 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

bzw. ihm folgen sollen, denn dann werde Gott auch sie lieben.770 Dementsprechend kommt dem Propheten Muḥammad im Sufismus eine konstitutive Bedeutung zu, nicht nur dergestalt, dass die pro­ phetische Tradition und Lebensweise einen regulativen Charakter für die Lebensführung des Sufischülers (und der meisten Muslime) einnimmt, sondern auch dahingehend, dass Muḥammad nicht nur Stellvertreter Gottes auf Erden ist, sondern als sein Mandatar zu charakterisieren ist. In dieser Funktion ist Muḥammads Sprechen und Handeln nämlich mit dem Willen Gottes identisch.771 Vor diesem Hintergrund ist die breite Literatur, die den Propheten in seinem Menschsein bzw. seiner Menschlichkeit lobt und seine Charakterei­ genschaften hervorhebt,772 wenig verwunderlich.773 Der Weg (ṭarīq) zu diesem Ziel führe auf der Grundlage des Qurʾān und der Sunna (in ihrer Gesamtheit als šarīʾa gefasst) über die Läuterung des Herzens und die Veredelung des nafs, der Seele bzw. Psyche774 als Sitz des Willens und der Kraft des Menschen.775 Für die Beschreitung dieses Weges, dessen theoretisch-didaktische Grundlage jeder mystische Orden eigens hervorbrachte und daher mit jeweils einem Meister auf Grundlage des Beziehungsverhältnisses subjektiv unterschiedlich aussehen konnte, bedurfte es einer bestimmten Lebensweise.776 Die­ ser Weg hat in der islamischen Mystik den Namen tazkiyya an-nafs 770 Q 3:31 »Sprich: ›Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir. Dann wird euch Gott lieben und euch eure Sünden verzeihen; denn Gott ist verzeihend und barmherzig.‹«. 771 Diese Vorstellung stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Sufi-Meister des Rifaī Kadirī Strömung in Istanbul Kahraman Özkök. Für Özkök hat der Prophet Muḥammad das Göttliche, das Gott jedem Menschen eingehaucht hat, auf die best­ mögliche Weise verkörpert und zum Ausdruck gebracht. Istanbul 2017. 772 Vgl. Isik, Die Bedeutung des Gesandten, 100–106. 773 Im deutschen Sprachraum versuchte diese Tradition Annemarie Schimmel in ihrer Schrift Und Muhammad ist Sein Prophet: Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit zu erfassen und dem Leser näherzubringen. 774 Vgl. Chittick, Sufism, 61. Nafs wurde von Schrift zu Schrift, von Epoche zu Epoche sehr unterschiedlich gebraucht und wird oft auch entsprechend variabel übersetzt, sodass es kaum möglich ist, von einer allgemeingültigen Bedeutung zu sprechen. 775 Vgl. Muna Tatari, Mystik im Islam und die Frage des Friedens, Publikation der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft e. V., online zugänglich 2007, 1–9, hier 2. 776 Jeder Meister hat seine Art und Weise der Wegbegleitung und hierzu gehö­ ren äußere Formen wie das Einüben des Verhaltens und Tätigkeiten wie im Falle des bekannten türkischen Sufis Yunus Emre (um 1240-um 1321), dessen Meister ihn hauptsächlich mit dem Sammeln und Tragen von Brennholz für den Orden beauftragte. Dieses Sammeln von Holz ist seine äußerlich betrachtete Aufgabe und zugleich in der Bedeutungsdimension ein Sinnbild des Werdeprozesses. Siehe hierzu Annemarie Schimmel, Yunus Emre. In: Numen, 8, 1 (1961), 12–33.

195 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

erhalten und einen eigenen Platz in der aḫlāq-Philosophie eingenom­ men.

4.1 Tazkiyya an-nafs: Körperpraktiken als tugendethische Praxis Die Praktiken im Sufismus konzentrieren sich auf einen wesentlichen Punkt, nämlich in jedem Moment Gottes gewahr zu werden und überall die Schönheit Gottes zu erkennen suchen.777 Es geht also darum, den Menschen die Augen für diese Wirklichkeit zu öffnen. Auf diesem Weg spielt die Vorstellung der Reinigung des Selbst (tazkiyya an-nafs) eine wesentliche Rolle. Die von einer Qurʾān-Stelle abgeleitete Bezeichnung,778 eröffnet die Perspektive zwar auch auf eine eschatologische Vollendungshoffnung, doch liegt der Fokus auf der Reinigung der Seele. Mittlerweile hat sich etabliert, tazkiyya an-nafs als »Reinigung der Seele« zu bezeichnen, obwohl tazkiyya zugleich die Bedeutungen von Verfeinerung und Vergrößerung inne hat.779 Damit bedeutet tazkiyya an-nafs einerseits die Reinigung der Seele von Dingen, die den Menschen zu einer maßlosen Weltanhaftung führen, und andererseits die Verfeinerung der Seele, damit er sich zum Schöneren entwickeln, d. h. wachsen und gedeihen kann.780 Die Verfeinerung des nafs, bestimmt als das Wesen des personalen Seins, bedeutet folglich, die Seele sowie den Charakter zu sublimieren, zu verfeinern bzw. zu verschönern. Dieser Kultivierungsbegriff aus dem 8./9. Jahrhundert überschneidet sich mit dem gegenwärtigen Bildungsbegriff. Denn unter Kultivierung wird in Europa ab der Neuzeit »nicht nur die Pflege bzw. Veredelung einzelner Anlagen und Fähigkeiten, sondern des ganzen Menschen, der ganzen Persönlichkeit« verstanden.781 Die Begriffe tazkiyya (Reinigung, Kultivierung) und riyāḍa (Maßhalten) implizieren entscheidende Methoden, die Seele und ihre (lüsternen) Bewegungen in ein harmonisches Gleichgewicht zu Vgl. Chittick, Sufism, 49. Vgl. Q 91:7–10 »Bei der Seele und Dem, Der sie geformt hat und sie zu Verdorbenheit wie Gottesfurcht anregte. Erfolgreich ist der, der sie vervollkommnet, und erfolglos der, der sie vergräbt.« 779 Vgl. Chittick, Sufism, 50. 780 Vgl. ebd. 781 Maria Nühlen, Kultur – also sind wir!: Eine Einführung in die Kulturphilosophie, Münster 2016, 72. 777

778

196 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

bringen, damit dem Menschen die intuitive Erkenntnis Gottes bzw. das »Schmecken« Gottes möglich wird (maʿrifa). Ar-riyāḍa (Maßhal­ ten), so Süleyman Uludağ, hat u. a. auch die Bedeutungen »ein wildes Tier domestizieren« sowie »ein wildes Pferd zureiten« und bedeutet im Kontext der Mystik die Säuberung der Seele von Wünschen, um sie auf diesem Wege zu erziehen und sie von Extremen fernzuhalten.782 Die Übung, sich von extremer Emotionalität und entsprechenden Handlungen zu entfernen, stärkt die Willenskraft, die sich dann auf die Beherrschung der Dispositionen auswirkt und die Reifung der Seele vorantreibt. In diesem Zusammenhang spielt das individuelle Gericht (muḥāsaba), vor dem sich der Mensch selbst bekennen muss und das mit einem Deliberationsprozess gleichgesetzt werden kann, eine entscheidende Rolle.783 Muḥāsaba ist ein intensiver Moment der Selbstbetrachtung, wodurch der Mensch sich den Weg zur Selbst­ reflexion und Selbstvergebung eröffnen kann.784 So schrieb bspw. der Mystiker ʿAzīz an-Nasafī im 13. Jahrhundert über die mystische Didaktik exemplarisch: »(14) Wisse, der Aufruf der Propheten und die Erziehung der Got­ tesfreunde diente dazu, dass die Menschen den guten Worten, dem guten Handeln und dem guten Charakter folgen und dass ihr Äußeres aufrichtig wird. Denn wenn das Äußere nicht aufrichtig wird, kann das Innere nicht aufrichtig werden. Denn das Äußere ist wie eine Form und das Innere ist wie etwas, was man in eine Form hineingießt, auch gerade. Wenn die Form schief ist, wird das, was man hineingießt, auch Vgl. Süleyman Uludağ, Riyazet. In: TDV, Bd. 31, 440–441. Vgl. Q 2:284; 7:6; 21:1,47; 75:36; 55:31; 91:7–9. 784 Um ein Beispiel zu nennen: al-Muhasibī (gest. 857), der die Rechenschaftspflicht der Seele im Kontext der Moral thematisiert, führt die Rechenschaft auf Wissen (maʿrifa), Furcht (hawf) und Hoffnung (raǧāʾ) zurück. Ihm zufolge hat Wissen in diesem Kontext vier Dimensionen: Das Wissen um Gott, um den Teufel, um die Triebseele (nafs al-ammara) und um die für Gott vollbrachten Taten. Für ihn stellt Wissen ein Erleben dar, welches gegenüber dem auf Imitation basierenden, von einem Mangel an Bewusstsein gekennzeichneten Leben der Sufis auf Aufrichtigkeit abzielt. Hinsichtlich der Rechenschaft der Seele erachtet al-Muḥāsibī Elemente wie die folgenden als erforderlich, stets unter der Bedingung, dass sie von einem ent­ sprechenden Wissen begleitet werden: richtige Absicht (niyya), Willenskraft (irāda), Verzicht auf Lüsternheit, Reue (tawba), Zurückgezogenheit (ḫalwa), Masshalten (riyāḍa), Gedenken an Gott (ḏikr); Nachdenken (tafakkur); Frömmigkeit (taqwa), Selbstkontrolle (murāqaba) und Zurückhaltung (waraʿ), vgl. Ishak Tekin, Der Ansatz des Tahḏīb al-aḫlāq in der islamischen Moralerziehung. In: Yaşar Sarıkaya/Adem Aygün, Islamische Religionspädagogik: Leitfragen aus Theorie, Empirie und Praxis, Münster 2016, 83–108, hier 104. 782

783

197 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

schief. (15) Oh Derwisch! Es besteht kein Zweifel, dass das Äußere auf das Innere und das Innere auf das Äußere wirkt. Wenn das Äußere durch Askese und lange Anstrengungen in Begleitung des Weisen aufrichtig wird, wird das Innere auch aufrichtig. Wenn das Äußere und das Innere aufrichtig werden, dann wird das Innere in beiden Welten rein. Auf einer Seite ist die Welt des Sichtbaren und auf der anderen Seite ist die Welt des Verborgenen. D.h. auf einer Seite ist der Körper, der die Welt des Sichtbaren und Sensitiven ist, und auf der anderen Seite ist der Körper, der die Welt des Sichtbaren und Sensitiven ist, und auf der anderen Seite ist die Welt der Engel und der reinen Gesichter, die die Welt des Verborgenen und der Intelligiblen [maqulat] sind. Die Seite, auf der sich die Welt des Verborgenen befindet, ist immer rein und deutlich. Auf der Seite des Inneren gibt es nie Qual, Finsternis und Trübnis. Auf der Seite des Körpers ist Trübung und Finsternis, solange dieser von Genüssen und Begierden abhängig und Sklave der Gier und des Zorns ist, und so fällt das Innere in Trübnis und Finsternis (...).«785

An dieser Stelle wird sehr schön deutlich, dass sich äußere Formen auf das Innere des Menschen auswirken können und das Innere sich im Äußeren zeigen kann, geleitet von der Vorstellung, dass der Mensch ein göttliches Gesamtkunstwerk darstellt, in dem Inhalt und Form eine reziproke Einheit bilden. Seelisches Wachsen steht damit im unmittelbaren Zusammenhang mit Körperübungen und -haltungen. Übungen für die Seele, wie die Entsagung, können Lust und Triebe an den richtigen Platz rücken.786 Hierzu gehören auch äußerliche Übungen, um gewisse Haltungen und Eigenschaften zu kultivieren und zu kontrollieren.787 So ist bspw. das Fasten nicht nur eine Übung, um Leiblichkeit zu überwinden, sondern zugleich auch Begierden und Leidenschaften bändigen zu lernen. Ebenso sind Dürsten und Hungern das Fördern des Mitgefühls für hungernde Menschen. Fasten ist folglich auch eine empathiefördernde Übung, die im Menschen den göttlichen Anspruch wecken soll, kreativ zu werden, indem er nach Lösungen gegen ungerechte Strukturen sucht, die Hunger verursachen. Zu den weiteren, wichtigen praktischen An-Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, 140, n. d. Übers. v. Reza Hajatpour, Sufismus und Theologie. Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeu­ tung, Freiburg/München 2017, 90. 786 Eine weitere Übung insbesondere im Kontext der sufischen Traditionen und bei einigen muslimischen Philosophen ist das Denken an den Tod: Sich regelmäßig die Begrenztheit des Lebens vor Augen zu halten, bietet die Chance zu einer Haltung, in der Ärgernisse des Alltags schnell an Bedeutung verlieren können. 787 Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, 168. 785

198 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

Übungen gehörte das Durchwachen der Nächte bspw. zugunsten von Gebet oder das Gottesgedenken (ḏikr)788, das Schweigen, das Sitzen und die Beobachtung der Seele, nafs, welche die Konzentration der Mystiker auf die Gottesschau konditionieren und zugleich die Seele für den Tugenderwerb freimachen soll.789 Das Wachen bspw. wird als besondere Tugend hervorgehoben, die in Verbindung mit dem Sitzen beim Sufi al-Ḥallāǧ ihren Höhenpunkt zu finden scheint.790 Der ḏikr impliziert eine weitaus größere Erfahrungsdimension als dem Wortsinn einer wiederholenden Aktivität nach, die in einer Leib-Seele-Vibration die Gottesgegenwart hervorrufen soll.791 »Full remembrance means actualizing all the perfections latent in the original human disposition (fiṭra) by virtue of its being a divine image.«792

Ḏikr stellt implizit eine Vergegenwärtigungsform und -erfahrung dar, welche durch die vom Menschen angerufenen Gottesnamen herbeige­ führt werden sollen. Es sind jene Namen, die Gott dem Menschen eingehaucht hat.793 Der Mensch als göttliches Gesamtkunstwerk794 soll über diese Übung lernen, wie man Gott in sich selbst und in den Dingen schauen kann.795 Zugleich ist es das Weniger-ich-Werden, d. h. das Lossagen von persönlichen Zuschreibungen und Anhaftun­ gen wie »Ich bin klug« oder »Ich bin Ärztin« oder »Ich bin ein Vgl. Q 7:180. Vgl. Schimmel, Sufismus, 18 f.; vgl. Serafim Seppäla, In speechless Ecstacy. Expression and Interpretation of Mystical Experience in Classical Syriac and Sufi Lit­ erature, Helsinki 2003, 61 f. 790 Vgl. Bettina Krönung, Gottes Werk und Teufels Wirken. Traum, Visionen, Ima­ gination in der frühbyzantinischen monastischen Literatur, Berlin/Boston 2014, 63; vgl. Annemarie Schimmel, »O Leute, rettet mich vor Gott«. Texte islamischer Mystik, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1995, 57 ff. 791 Vgl. Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam, München 32002, 150. 792 Chittick, Sufism, 69. 793 »Ich habe den Menschen vollständig geformt und ihm von meinem Geist (ruh) eingehaucht, (...).« Q 15:29 in Verbindung mit den 99 Namen Gottes Q 2, 31 »Und Er [Gott] lehrte Adam die Namen aller Dinge (...)«, sowie Q 59, 24 »Er ist Gott, der Schöpfer, der Erschaffer, der alle Formen und Erscheinungen gestaltet! Sein (allein) sind die schönen Namen (Attribute der Vollkommenheit). Alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, lobpreist Seinen grenzenlosen Ruhm: denn Er allein ist allmächtig, wahrhaft weise«. 794 Vgl. Kılıç, Sufi ve Sanat, 5. 795 Vgl. Chittick, Sufism, 49. 788

789

199 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

gerechter Mensch«. Dadurch kann mehr Raum für das Wirken Gottes geschaffen werden. Farīduddīn ʿAttār (gest. 1221) schreibt, dass die Kultivierung der Seele und ihre Befreiung von Leidenschaften der Integrierung von Tugenden bedürfen, um die spirituellen Stationen durchlaufen zu können.796 ʿAttār zitiert Šāh Šuǧāʿ al-Kirmanī (gest. um 890), auf den folgender Ausspruch zurückgeht: »Die Tugendhaften sind tugendhaft, solange sie ihre Tugend nicht sehen [...], die Heiligen sind heilig, solang sie ihre Heiligkeit nicht sehen [...].«797 Eine weitere Überlieferung über den Prophetengefährten Abū ad-Dardāʾ (gest. 700) sei ebenfalls angeführt: »Abū ad-Dardāʾ erhob sich des Nachts, verrichtete das Ritualgebet, begann zu weinen und sprach zu Gott: Du hast meine Natur gut gemacht, mache auch meine Moralqualitäten gut – bis zum Morgen. Umm ad-Dardāʾ berichtet: Ich fragte ihn; Abū ad-Dardāʾ, war dein Bittgebet diese Nacht nur um schöne Moralqualitäten? Er antwortete: Umm ad-Dardāʾ, der Muslim kann einen so schönen Charakter errei­ chen, dass dieser ihn in das Paradies eingehen lassen wird, und er kann seinen Charakter so schlecht machen, dass er ihn in das Höllen­ feuer bringt.«798

Einen vorläufigen Höhepunkt finden diese Bemühungen im Wirken von Ġazālī. Er wird zum Eckstein der islamischen Wissenschaftstradi­ tion. Er bringt die ethischen Ideen seiner philosophischen Vorgänger, die schon erwähnte ʿilm al-aḫlāq, in Verbindung mit Theologie und Mystik. Ġazālī führt mystische Elemente sowie eine ganzheitliche Betrachtung der Welt in die Theologie ein, die bis heute ein konsti­ tutiver Bestandteil des mehrheitlich praktizierten Islam sind. Das entscheidende Element, das er dem theologischen Denken einverleibt, ist das der Liebe (maḥabba)799. Ġazālī vertrat die Meinung, dass Liebe ohne Erkenntnis unmöglich sei, denn man könne nur lieben, was man kenne.800 Die Liebessymbolik geht allerdings als Erstes

Vgl. Farīd ad-Dīn ʿAttar, Tadkhirat al-awliyāʾ, Reynold Nicholson (ed.), Teil II, Leiden 1944, 54 f. 797 Farīd-ad-Dīn ʿAṭṭār, Frühislamische Mystiker. Aus: Fariduddin Attars Überliefe­ rungen und Äusserungen, übers. u. komm. von Gisela Wendt, Amsterdam 21984, 65. 798 Bernd Radtke, Materialien Zur Alten Islamischen Frömmigkeit, Leiden/Bosten 2009, 14. 799 Vgl. Tatari, Der Mensch im Spannungsverhältnis, 225. 800 Vgl. Schimmel, Die mystischen Dimensionen, 191. 796

200 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Ethisches Denken in der islamischen Mystik: eine knappe Skizze

auf die bescheidenen Verse der frühen Mystikerin Rābiʾa (gest. 801) zurück.801 In der mystischen Vorstellung beginnt demnach der spiri­ tuelle Weg damit, Gott lieben zu lernen, was zugleich bedeutet, dass der Mensch das Göttliche, Besondere in sich zu suchen und zum Pros­ perieren zu bringen versucht. Die Freude bzw. das Glück (saʾāda), die sich durch diese Liebe einstellen, gleichen sehr den philosophischen Beschreibungen des Zustandes, der sich nach Verbesserung des eige­ nen Charakters einstellt. Der Körper wird ausdrücklich mit bewusstseinstheoretischen Begriffen wie Reflexion und Erkenntnis ins Verhältnis gesetzt, sowie auch mit kulturanthropologischen Kategorien wie Bewegung und Rhythmus. Die Besinnung auf das Selbst erfolgt unter expliziter Bezugnahme auf den eigenen Körper, d.h. nur auf der Basis kör­ perlicher Selbsterfahrung ist Selbstreflexion bzw. Selbstanschauung erst möglich. Der Körper ist nicht nur ein Medium der Einübung von Tugendhaftem, sondern auch das Medium, wodurch sich eine Gewöhnung erst bilden kann bzw. Dispositionen erworben werden können. Körperlich ausgeführte Praktiken, wie bspw. das Kehren des Innenhofes eines mystischen Konvents, entfaltet nicht nur eine hand­ lungstheoretische oder soziale Wirksamkeit, sondern eine selbstbe­ zogene, die das Innere betrifft. Die physische Reinigungstätigkeit soll zu einer inneren Reinheit führen. Reinheit wird unmittelbar in die Nähe von charakterlicher Reinheit sowie weiteren Eigenschaf­ ten wie Aufrichtigkeit und/oder Redlichkeit gestellt. Die mystische Dimensionierung bezieht sich besonders auf die Befreiung von der Ichbezogenheit und von Gier. Mit Ġazālī gesprochen, können nur die mit reinem Herzen Gott schauen können, bzw. in ihren Herzen kann Gott wahrnehmbar werden.

4.2 Ein kurzer Ausblick Der Sufismus ist eine Institution im weitesten Sinne, die dem Menschen zum Menschwerden einen kontemplativ-praktischen Weg anbietet. Dass der klassische Sufismus als bildende Institution in der Moderne noch besteht, bestreite ich, aber diese Frage steht auf einem anderen Blatt. Gegenwärtig verstehen bedauerlicherweise immer 801

Vgl. Reynold, A historical enquiry, 323.

201 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

mehr Menschen, die sich den sufischen Lehren zuwenden, diese in der Adaptation des New-Age-Sufismus oder im Spezifischen als einen persönlichen Entwicklungsweg mit spirituell-kontemplativen Methoden, die man sich losgelöst vom Gesamtsystem zu eigen machen kann und die damit zu Übungen der Selbstoptimierung verkommen.802 Beiden Strömungen ist gemein, dass ihre Sympa­ thisanten ihre sufische Anbindung von Grundvollzügen religiöser Theologie und Praxis, sprich einem qurʾānischen Rahmen lösen. Daher scheinen mir viele gegenwärtige Strömungen eher Wege zur Selbstmanie zu sein,803 als tatsächliche Lernorte beständiger Grund­ haltungen und einer bestimmten Lebensweise, die in der Konsequenz eine Wirkung auf die Umwelt haben sollte. Summa summarum lässt sich festhalten, dass Tugenden aus mys­ tischer Perspektive zunächst einmal charakterliche Veranlagungen sind, die mit der Unterstützung Gottes trainiert werden können. Tugenden bedeuten wünschenswerte Eigenschaften bzw. die Disposi­ tion, sich tugendhaft zu verhalten sowie im rechten Maße Emotionen zu empfinden und auszudrücken. Tugendhaft zu werden erfordert Unterstützung von und Interaktion mit anderen. Nicht nur eine*n spi­ rituellen Führer*in, sondern auch Freunde. Erst in einer Gemeinschaft entstehen Möglichkeiten zu tugendhaften Verhalten. In der mystischen Vorstellung bilden diejenigen, die Tugenden durch persönliche Anstrengung, Habitualisierung und Gewöhnung in ihren Charakter integrieren können, einen guten Charakter aus und haben gleichzeitig ihre Seele geläutert und kultiviert. Im Pro­ zess der spirituellen Verfeinerung der personalen Wesensmerkmale vollendet der Mensch sein Menschsein. Der spirituelle Weg dient zur Vervollkommnung des moralischen Charakters und autorisiert

802 Eine ähnliche Kritik siehe Annemarie Schimmel, Sufismus und Volksfrömmig­ keit. In: Der Islam III. Volksfrömmigkeit, Islamische Kultur, Zeitgenössische Strö­ mungen, Peter Antes (Hrsg.) u. a. Stuttgart 1990, 157–266, hier 157 f. »Sufismus ist aber auch in den letzten Jahren zu einem Sammelbegriff von Bewegungen geworden, die nichts mehr mi seinen islamischen Grundlagen zu tun haben, und man kann in Europa und Nordamerika »Sufis« treffen, deren Kenntnisse vom Koran oder vonLeben und Lehre des Propheten gleich Null sind.« Siehe auch hierzu Mark Sedgwick, Western Sufism: From the Abbasids to the New Age, Oxford 2016. 803 Selbstmanie im Sinne eines Wahns der Selbstoptimierung ist eine Anlehnung an die Stilisierung des Körpers im Sinne der Körpermanie.

202 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst

den Menschen erst, sich in die Nachfolge Gottes zu verstehen und zu stellen.804 Die Kultivierung des Selbst in mystischer Perspektive entspringt einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen, wozu der Körper, die Seele und der Geist gehören, die sich auf den Menschen und die Pflege seiner personalen Fähigkeiten konzentrieren.

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst Vor dem Hintergrund des Erarbeiteten ist zu resümieren, in wie fern und welchen Beitrag der Tugendbegriff und die Vorstellungen der Selbstkultivierung für den gegenwärtigen Bildungsbegriff und die Persönlichkeitsentwicklung leisten kann. Zunächst sei eine Bemerkung für den innerislamischen Ethikdis­ kurs erlaubt. Das Nachdenken über ein tugendorientiertes Leben und die Kultivierung des Selbst im Kontext eines exklusiv philosophischen Diskurses bildete eine radikale Denkalternative zu den systemati­ schen und rechtsnormativ geführten Diskursen über Ethik in der isla­ mischen Theologie. Dass nur wenige Hadith- und Qurʾānrezeptionen in den philosophischen aḫlāq-Werken auftreten, verstehe ich als Vorwand, mit dem der Autor der Leserschaft und dem Auftraggeber ein gewisses Maß an Traditionsbewusstsein und -verbundenheit des Autors signalisieren wollte. Innovativ war dieser Diskurs v. a. darin, dass das diesseitige Leben nicht mit einer eschatologischen Vollen­ dungshoffnung überblendet wird, sondern dass der Blick auf das Diesseits gerichtet und die Idee des Guten als Zielbestimmung gesetzt wird. Für einen bislang in den Bahnen des religiösen Rechts geführten Diskurs über den Menschen, sein Handeln und dessen Konsequenzen stellte dieser Paradigmenwechsel eine Neuheit dar. Der Ethikdiskurs der genannten Philosophen wurde anthropozentrisch geführt. Die Mystiker transformierten die Idee des Guten in das Schöne, aber auch in die Liebe. Die Erfahrung der Glückseligkeit bildet die Klimax des Seelenzustandes, die mit dem Erkennen Gottes zusammenfiel. Damit wurde nicht mehr allein Gott im Zentrum des diesseitigen Lebens Dieser Gedanke stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Sufi-Meister des Rifai-Ordens in Istanbul, Kahraman Özkök, Istanbul 2017; vgl. Hajatpour, Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf, 287. 804

203 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

platziert, sondern die Beziehung Gott-Mensch als Ganzes. An dieser Stelle ist die Überlieferung der bekannten und bereits erwähnten Mystikerin Rābiʾā von Basra zu nennen, die eine größere Bekanntheit verdienen würde: Man sah Rabiʾa durch die Straßen Basras gehen. Eine Fackel in der einen, einen Eimer Wasser in der anderen Hand; nach dem Sinn ihres Tuns befragt, antwortete sie: »Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet, sondern allein um Seiner ewigen Schönheit willen.«805

Die Kernmotivation ethischen Handelns ist für Rabiʾa, Abī l-Dunyā, Miskawayh, Ġazālī, Ibn ʿArabī, Rumī und zahlreiche andere Gelehrte die Liebe. Das beste Beispiel, die bestmögliche Hinwendung zu Gott, ja die höchstmögliche und schönste Verkörperung dieser Liebe war für die Mystiker der Prophet Muḥammad. Es heißt in einem Hadith, Muḥammad sei entsandt, um den schönen Charakter zu vervollkommnen.806 Die Kultivierung des Charakters, d. h. die Aus­ bildung moralisch begrüßenswerter Charaktereigenschaften gehörte zu diesem Vervollkommnungsprozess, dessen Ziel nicht die mora­ lische Perfektion war. Entscheidend war vielmehr, sich auf diesen Weg begeben zu haben, den prophetischen Spuren nachzugehen und sich auf seinem eigenen Weg der Arbeit am Selbst zu widmen, was als großer Jihad betrachtet wurde. Eine bleibende anthropologische Inkompetenz bzw. menschliche Fehlbarkeit, ja Imperfektibilität galt als gottgewollt und damit als selbstverständlich hinzunehmen.807 Mit der Kultivierung des Selbst aus der Liebe zu Gott war der Mensch bestrebt, sein Selbst zu einem bestmöglichen zu verändern, nicht gottgleich, sondern durchlässig für Gott zu werden und hierfür seine destruktiven Kräfte zu bändigen.808 Die philosophische Idee der Tugend nimmt im Verhältnis zwischen Gott und Mensch vor allem den Menschen in den Blick. Die Mys­ tiker*innen taten dies auf Basis des Qurʾān, indem sie dem Men­ Vgl. Schimmel, Sufismus, 16. Vgl. Buḫārī, Musnad, Hn. 8939. 807 Zu dem Konzept und dem Begriff der Perfektibilität siehe Reza Hajatpour, Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf: Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg/München 2013. 808 Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 14 f.

805

806

204 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst

schen, weil ihm der Geist Gottes mitsamt seiner schönen Namen eingehaucht wurde, etwas Göttliches zusprachen. Die Philosophen taten es mithilfe des ergon-Arguments, das nach der dem Menschen entsprechenden Wirksamkeit oder Tätigkeit fragt. In ihren Begrün­ dungen gewann das Argument, dass der Mensch eine spezifische Wirksamkeit, eine Bedeutung, ja einen Sinn habe, an Priorität. Als Wirksamkeit galt es nämlich, Mensch zu werden und zu sein. Der Mensch sollte weder wegen Gott, aus Liebe zu ihm noch aus Furcht vor der Hölle zum Menschen werden, sondern aufgrund seiner spezifischen personalen Beschaffenheit: Menschwerden qua Menschsein. Mit Nietzsche gesprochen, geht es um die Bejahung des Lebens bzw. ein Diesseitsbekenntnis des Menschen.809 Für die muslimischen Philosophen ist diese Wirklichkeit allerdings nicht als gottlose gedacht. Dieser Punkt ist insofern eine zu würdigende Leistung der muslimischen Philosophen, als sie nicht dazu einluden, mit Gott zu brechen, sondern den Gläubigen aufforderten, auf sich und ihr moralisches Selbst zu schauen. Damit war und ist eine Perspektive eröffnet, islamische Anthropologie neu zu denken. Auch wenn das Vorbild des Propheten nicht unmittelbar relativiert wurde, war den Philosophen bewusst, dass eine autoritative Persönlichkeit allein für diesen Prozess der Selbstwerdung nicht ausreichen würde. Für sie war evident, dass ethische Tugenden sich durch Gewöhnung entwickeln und dies kaum mit Belehrungen und der Befolgung von Normen zu schaffen war. Förderlich waren verschiedenste Vorbilder, die tugendgemäß lebten und einen Prozess der Reflexion über gute personale Eigenschaften anregen konnten. Deshalb wurde in den philosophischen Traktaten wie auch adab-Werken nichtprophetischen Erzählungen breiter Raum zur Reflexion gegeben. Die adab-Werke unterstützten diese neue Entwicklung mit der ihnen eigenen litera­ rischen Vielfalt, da in ihnen religiöse Bildung narrativ zumeist in anekdotischen Erzählungen, (nach-)prophetischen Narrationen oder Fabeln vermittelt wurden, die für den Einzelnen große ethische und interpretative Spielräume und Identifikationsmöglichkeiten eröffne­ ten. Während die ethisch-religiöse adab-Bildungsliteratur wertelei­ tend war, unterschied sich die philosophische aḫlāq-Literatur bzw. tahḏīb-Literatur darin, dass sie rationale Fragen des ethisch richtigen

809 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bän­ den, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrgs.), Bd. 6, Berlin/New York 1999, 355.

205 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

Handelns mit der Kultivierung personaler Eigenschaften und der Herstellung der Seelenharmonie verband. Eine Innovation des tugendethischen aḫlāq-Diskurses war, dass der Mensch angeregt wurde, nachzudenken und zu überlegen – ganz im Sinne des Qurʾān. Ethischen Prinzipien und Normen unüberlegt zu folgen, war und ist einfacher, als sich mit der Frage zu konfrontie­ ren, wie jemand sein sollte, um als ein guter Mensch gelten zu kön­ nen. Dies drückt eine oft als Hadith zitierte Prophetenüberlieferung explizit aus: »Eine Stunde vertieftes Nachdenken/Kontemplation ist allemal besser als ein Jahr im (rituellen) Gebet zu verbringen.« In Verbindung mit dem ergon-Argument kam es nun zur stärkeren Betonung der Vernunft, nach welcher der Mensch sein Streben und Tun ausrichten sollte.810 Kontemplation bzw. die Selbstanschauung bildet eine Schnittstelle zum Sufismus, denn die Mystiker waren Meister darin. Doch die Mystiker offerierten auch Wege, Methoden und Übungen, die einerseits auf eine transzendente Ebene ausgerich­ tet waren und im Letzten das Ziel der Gotteserkenntnis hatten, und andererseits, um wünschenswerte Tugenden praktisch und leibhaftig zu schulen und umzusetzen. Ihre Stoßrichtung war, dies hatten sie mit den Philosophen gemein: der Weg geistiger Übung und Seelenpflege. Als interessanter Aspekt, der in dieser Arbeit bedauerlicherweise etwas zu kurz gekommen ist, erscheinen auch jene mystischen Bil­ dungseinrichtungen des Sufismus, die sich der gemeinsamen Kulti­ vierung des Menschen mit Mitteln der Kunst, Musik und Dichtung widmeten. Über die inhaltliche Lehrausrichtung des Sufismus kann zusammenfassend gesagt werden, dass sie in ihren sozialen Einrich­ tungen sowohl adab- als auch aḫlāq-Schulen waren.811 In beiden Kategorien erhält körperliche Betätigung jeglicher Natur,812 d. h. die Arbeit am und mit dem Körper, eine ethische Bedeutung und wird wichtig als wesentliches Mittel für die Kultivierung des Selbst. Unreflektierte, routinierte Handlungsvollzüge der Adepten sollen mithilfe körperzentrierter Praxis aufgebrochen werden. In diesem Sinne kommt der (ethischen) Habitualisierung und Ritualisierung die Funktion einer Grundtechnik zu. Innere Haltungen sollten durch Ohne an dieser Stelle auf den langen Schulstreit einzugehen, sei lediglich bemerkt, dass bis heute die Bestimmung des Verhältnisses von Offenbarung und Vernunft einen wichtigen Diskussionspunkt in der Kalāmwissenschaft darstellt. 811 Vgl. Heck, Mysticism as morality, 245. 812 Neben bspw. Achtsamkeitsübungen wird in Ordenshäusern und sozialen Einrich­ tungen dem Kochen, Waschen, Putzen usw. dieselbe Bedeutung beigemessen. 810

206 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst

äußerliche Übungen verschiedener Formen ausgeprägt und gefestigt werden. Nicht allein in einer meditativen Innenschau bestand wahre Selbstwerdung, sondern in der Einheit von Wirklichkeitserleben und Introspektion, im Erwerb der Befähigung und des Bewusstseins, die es dem Menschen ermöglichen, seinen Charakter mit seinen Tugenden und außermoralischen Eigenschaften in der Auseinandersetzung mit den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit auszuprägen. So galt es, die Welt in ihrer Komplexität und Mannigfaltigkeit als Sphäre der Herausforderungen zu begreifen. Im Vollzug ethisch-kultureller Muster, welchen vor dem theore­ tischen Wissen ein gewisser Vorrang zukommt, wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine geistige Kultivierung des Menschen, sondern im Rahmen eines umfassenden Vorgehens auch um die Kultivierung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit handelt. Wenn auch die philo­ sophischen Tahḏīb-Werke überwiegend von intellektuellen Zirkeln gelesen wurden, zielt die mystische Schule nicht auf Etablierung einer Bildungselite, sondern die Etablierung einer integrativen sozialen Praxis. Mit Abī l-Dunyā, den aufgeführten Philosophen und den mystischen Konzepten stach der dialogische Charakter der Religion hervor, der ethische Bildung weniger als individuelle Kompetenz­ entwicklung in Richtung Selbstoptimierung begreift, sondern das gemeinschaftsbezogene Denken und Handeln in den Vordergrund stellt. Im Prozess der Entfaltung der eigenen Potenziale wirkt der Mensch gestaltend und kreativ unmittelbar in seine konkrete Lebens­ wirklichkeit hinein. Die Kultivierung des Selbst soll die Kultivierung der Welt nach sich ziehen, da sich die Entwicklung in der jeweiligen Lebenswirklichkeit des Einzelnen abspielt. In diesen Zusammenhang kam auch das Motiv der Ästhetik als eine konstruktive Impression auf.813 Im Zusammenhang mit den aḫlāq-Konzepten und der Bezeichnung der Literaturgattung »Verfei­ nerung des Charakters« (Tahḏīb al-aḫlāq) gerät nicht nur das Stre­ ben nach Tugendhaftigkeit in den Blick, sondern dem tugendhaften Sein wird auch eine Schönheitserfahrung zugesprochen. Tugend und Charakter treten als Konzepte mit ästhetischen Implikationen in Erscheinung, die eine sinnlich wahrnehmbare Wirkung haben, da sie immer mit einem entsprechenden Stil und Lebensformen verwoben 813 Siehe dazu auch Doris Behrens-Abouseif, Beauty and Aesthetics. In: Josef W. Meri, Medieval Islamic Civilization: An Encyclopedia, Bd. 1, London 2006, 103, hier 103.

207 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel III: Kultivierung des Selbst im Bildungsv. der Isl. Geistesg. (9.–12. Jh.)

sind. So sind Verhaltensweisen keine Äußerlichkeiten, sondern sinn­ lich wahrnehmbare Erscheinungsformen personaler Eigenschaften. Die Erkenntnis ihrer guten Qualität wird durch sinnliche Erfahrung hervorgerufen, d. h., sie sind mehr von einer ästhetischen als von einer diskursiven Art.814 Von der ästhetischen Erfahrung erscheint der nächste Schritt zum moralisch Guten einfach, wobei an dieser Stelle eine Parallele zu Schiller nicht übersehbar ist. Das Werk, in welchem seine ästhetischen Überlegungen in den Bereich der Ethik münden, ist die philosophische Schrift Über Anmut und Würde. Darin bestimmt Schiller die Anmut als »die Schönheit der durch Freiheit bewegten [menschlichen] Gestalt«815 und die Würde als den »Ausdruck einer erhabenen Gesinnung«816. Ein zentraler Entstehungsgrund seines Werkes liegt in seiner Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik und Ethik. Er versucht darin, Kants strengen Pflichtbegriff und die damit zusammenhängende rigorose Trennung zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit durch die Konzeption der schönen Seele aufzuheben, in der Pflicht und Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit miteinander in Harmonie zu stellen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Anlei­ tungen der adab-Literatur sowie die mystischen Übungen dahinge­ hend verstehen, dass äußere ästhetische Formen nicht in der Intention eingehalten werden, Gott nicht zu verärgern, sondern die Liebe Gottes zu erreichen und ihn zu »schmecken«: Einer »liebt nur um Gott willen und in Gott, nicht um von dem Geliebten Belehrung und Erziehung zu genießen oder durch ihn zu irgendetwas anderem zu gelangen«.817 Damit wird die Durchlässigkeit der vermeintlich autoritären Hand­ lungsanweisungen (wie bspw. die qurʾānische Aufforderung des Seiaufrichtig)818 für den Prozess der Charakterbildung evident. Gott kann im Sinnlichen erfahrbar werden.819 Das Erkennen Gottes vermittelt sich in Ausdrucksformen der charakterlichen Schönheit; zuweilen Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2018, 9. 815 Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, Klaus L. Berghahn (Hrsg.), Stuttgart 1997, 104. 816 Schiller, Über Anmut und Würde, 113. 817 Al-Ghasâli, Das Elixier der Glückseligkeit, übers. Hellmut Ritter, Wiesbaden 2016, 90. 818 Vgl. »Sei aufrichtig, wie dir befohlen ist, und mit dir alle, die umkehrten. Und seid nicht aufsässig! Siehe, er sieht, was ihr tut«, Q 11:112. 819 Vgl. Milad Karimi, Die Bedeutung der Koranrezitation. Zur inneren Verwobenheit von Ästhetik und Offenbarung im Islam. In: ThPQ , 164 (2016), 265–271, hier 265 ff. 814

6

208 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

5. Resümierende Überlegungen über die Kultivierung des Selbst

als ein galantes Auftreten, in Höflichkeit und Freundlichkeit oder in einem vornehmen Sprachstil. Die islamische aḫlāq-Tradition als Ganzes macht mitunter das Angebot einer ästhetischen Kultivierung von Tugend und Charakter. Veredelung bzw. Verfeinerung des Charakters bzw. der Charakterei­ genschaften lassen sich folglich als Integral eines schönen und guten Lebens lesen. Damit ist nicht nur das sinnliche Wahrnehmen, Bemer­ ken oder Erfahren von Gegenständen gemeint, sondern auch das Phänomen des Tuns.820 Die ästhetische Dimension ruft auf, gegen­ wärtige Denk-, Seh- und Handlungsweisen, die zur Abstumpfung von Wahrnehmungen und Kreativität geführt haben, zu durchbrechen und die Wahrnehmung neu zu schulen sowie Veränderungspoten­ ziale freizulegen. In Bezug auf die Verbindung zwischen Ästhetik und Offenbarung macht Milad Karimi bspw. auf die Öffnung des Menschen zum Transzendenten aufmerksam, d. h., die Ästhetik der Qurʾānrezitation wird durch eine Schönheitserfahrung vermittelt.821 Die Herstellung eines gerechten, freundschaftlichen, respektvol­ len, aufrichtigen (es ließen sich noch viele weitere Primär- und Sekundärtugenden nennen) Verhältnisses zur Umwelt ist das struk­ turbildende Element eines neuzeitlichen Bildungsgedankens, sofern Bildung sich tugendethisch orientieren möchte. Wer im Hier und Jetzt Tugenden ausbildet, macht sein Leben und das Leben anderer zu Orten des guten und glücklichen Miteinanders, denn Charaktertugen­ den lassen sich lediglich im sozialen Miteinander ausbilden, einüben sowie trainieren und nicht in Abgeschiedenheit.

820 Als ein Beispiel unter vielen ließe sich das Konzept des Almosensteins (sadaka taşı) aus der osmanischen Kultur anführen. Diese Säulen, die auf ihrer oberen Fläche eine Mulde hatten, standen überwiegend in der Nähe von großen Moscheen oder bekannten Ordenshäusern. Großzügige Menschen legten in die Mulde Geld oder leg­ ten neben der Säule Proviant sowie Kleidung ab. Bedürftige nahmen sich so viel, wie sie benötigten. Die Idee hinter diesem Almosenstein bestand darin, dass der Groß­ zügige den Bedürftigen, dem er mit seiner Spende half, nicht sah und nicht kennen­ lernte. Damit sollte einerseits unterbunden werden, dass der Großzügige der Gefahr anheimfällt, nicht aufgrund des Selbstzweckes großzügig zu sein, sondern weil er vom Gebenden dafür Dank und Lob erntet. Andererseits soll er verhindern, den Bedürfti­ gen in Verlegenheit zu bringen. Vgl. Aşk İle Hakk'a Yürüyenler, Vakıf Medeniyetimiz, Keşkül Dergisi, 38 Jg., Istanbul 2016, 124 f. 821 Vgl. Karimi, Die Bedeutung der Koranrezitation, 269.

209 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendethischer Konzeptionen zum modernen Bildungsverständnis

1. Gesellschaft, Tugend und Kompetenz In der Einleitung der Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass es eine dringliche Aufgabe der Schule ist, die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, vor allem auf emo­ tionaler und sozialer Ebene, zu fördern und zu stärken, damit sie befähigt werden, das eigene Leben auch mit ihren Mitmenschen aktiv zu gestalten. Wie ersichtlich wurde, gehört zu diesem Entwick­ lungsprozess in erster Line, dass der junge Mensch einerseits lernt, sich selbst wahrzunehmen und sich in dieser Selbstwahrnehmung zu üben, und dass er anderseits Werte, Tugenden und Kompetenzen für eine gelingende Beziehungsgestaltung erwirbt. Kompetenzen sind, wie sich gezeigt hat, mit Tugenden zwar nicht identisch, in ihrer Zielsetzung und Ausrichtung können beide allerdings den Menschen befähigen, selbstbestimmt und sozial verantwortlich zu handeln. Wenn Kompetenzen darauf angelegt sind, zur Bewältigung von Herausforderungen zu befähigen, und Tugenden, brachliegende anthropologische Potenziale zu aktivieren, dann lohnt es sich, der Frage nachzugehen, welchen Beitrag sie am Lernort Schule zum Erwerb ethischer Kompetenz leisten können.822 Die vorausgegangenen Überlegungen zur Tugendethik und zum seelischen Innenleben hat den Blick für die inneren Aushandlungs­ prozesse und ihre Bedingungen von tugendhaftem Handeln geschärft, verbunden mit der übergeordneten Frage, wie der Mensch seine Menschlichkeit zur bestmöglichen Entfaltung bringen kann. Der Dreh- und Angelpunkt im Reifen und Wachsen liegt demnach im Kern des Selbst. Der Umgang mit dem Selbst schult, wie mit Aristoteles und 822 An dieser Stelle ließen sich noch viele weitere Kompetenzen, allen voran die Urteilskompetenz, die Kompetenz des Perspektivenwechsels, aufführen.

211 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

weiteren deutlich geworden ist, v. a. die Fähigkeit, mit den eigenen Gefühlen umzugehen, positive Emotionen sowie Charakterdisposi­ tionen zu kultivieren und hierfür das Beobachten zu lernen. Die tiefere Beschäftigung mit den Tugenden hat nochmals verdeutlicht, dass dieses Bestreben mit der Arbeit am eigenen Selbst ansetzt und dass mit der Kultivierung personaler Eigenschaften die Läuterung der Seele zusammenhängt, die den Menschen zur Selbstwerdung führt. Die muslimischen Philosophen und Mystiker, die das griechische Denken in die eigene Glaubensreflexion hereinholten, verstehen den Glauben als ein konstitutives Element einer glücklichen und gelingenden Lebensführung.823 Der Rekurs auf muslimische udabā, Philosophen und Mystiker*innen hat den Blick auf den Menschen und seine Entwicklungs- wie auch Beziehungsbedürftigkeit geweitet und hierfür das Selbst des Menschen in das Zentrum gerückt. Für sowohl Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene lässt sich zunächst einmal festhalten, dass die prozesshafte Arbeit am Selbst einer aktiven und bewussten Auseinandersetzung des Men­ schen mit sich selbst bedarf. Mit der Arbeit und der Kultivierung des Selbst lernen nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen, die es in jeder menschlichen Natur gibt, um ihnen entgegenzuarbeiten. Dass es wichtig ist, mit diesem Prozess bereits bei Kindern zu beginnen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Schon früh kann mit der Sprache der Tugend Kindern ermöglicht werden, sich als Handelnde zu erleben, ein Gefühl dafür und ein Echo darauf zu bekommen, um ihnen im Anschluss bewusst zu machen, dass sie alle notwendigen Anlagen und Kräfte in sich tragen, an sich zu arbeiten. Nur auf dieser Grundlage und dem Bewusstsein, wer man ist, kann tugend­ haftes Handeln gelernt werden. Vor allem auf der Voraussetzung der Selbsterkenntnis, die von den muslimischen Philosophen und Mystikern so stark betont wurde, gründet die Erkenntnis, dass man niemand anderen für die eigenen Sorgen und Gemütsverfassung verantwortlich machen soll, sondern seine eigenen Haltungen, Emo­ tionen, Wertpräferenzen und Gewohnheiten bewusst macht und an ihnen arbeitet. »Immer wieder ersetzt er [Miskawayh, Vf.] die religionsunabhängigen Termini des Aristoteles durch theologische Begriffe und ruft koranische Narrative auf. Religion erscheint ihm als Katalysator philosophischer Erkenntnisse, immer wieder wird sie aber auch produktiv, um diese Erkenntnisse zu bereichern und herauszufordern«, Topkara, Umrisse, V. 823

212 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Gesellschaft, Tugend und Kompetenz

Zu einem gelingenden und glücklichen Leben und mit der Gemeinschaft führt der Weg des Individuums über die Selbsterkennt­ nis. Die Selbstwahrnehmung beginnt bereits im Kindesalter. Bereits im Schulkontext können Kinder darin unterstützt werden, sich selbst kennenzulernen, ihre Gefühle wahrnehmen und verstehen zu ler­ nen sowie Wert auf sich selbst als auch auf ihre Einstellungen zu legen. Wenn die Kompetenz der Selbstreflexion sukzessive mit dem Alter aufgebaut werden kann, können angehende Erwachsene darin befähigt werden, ihr Denken und Handeln kritisch zu beurteilen, einzuschätzen und einzuordnen. Damit ist Selbstreflexion ein erster wichtiger Schritt bzw. Voraussetzung für die Selbsterkenntnis und die persönliche Arbeit am Selbst. In diesen Prozessen spielt, wie bereits vielfach ausgeführt, die Gewahrwerdung bzw. Bewusstmachung jeg­ licher Facetten, die das Selbst konstruieren, eine große Rolle. Zur Selbsterkenntnis gehört folglich die richtige Selbsteinschätzung, die Kompetenz, das eigene Selbst wahrzunehmen und eigene Fehler und Unzulänglichkeiten sowie auch Wünsche an die Gemeinschaft so zu formulieren, dass andere sich darauf beziehen können. So werden Menschen entlastet und von der Bürde befreit, das unendliche Gefecht um Selbstvervollkommnung allein austragen zu müssen. Durch das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit bekennt der Mensch – aus islamischer Perspektive – die anthropologische Schwachheit, die göttlich gewollt ist und sein darf. Das Bekenntnis seiner Fehler und Sünden (bzw. das Moment ethischer Reflexion) ist Vorbereitung auf die Befreiung von seelischer Unstimmigkeit zur Wiederherstellung seelischer (und ggf. körperlicher) Gesundheit und personaler Stim­ migkeit. Wenn der Mensch seine eigene anthropologisch ambivalente Verfassung annimmt, wird er sich seiner wesensmäßigen Selbstver­ vollkommnungsinkompetenz bewusst werden. Während Erwachsene für diese Arbeitsprozesse auf Freunde, Verwandte oder professionelle Menschen zurückgreifen, um an ihrem Selbst zu arbeiten, kann für Kinder und Jugendliche der Schulkontext mittelbar und unmittel­ bar einen entscheidenden Ort für ihre Persönlichkeitsentwicklung spielen, sofern entscheidende Prozesse initiiert und ihnen Raum gegeben wird: innere Prozesse und die Auswirkung des Verhaltens auf andere (Selbstwahrnehmung) wahrnehmen sowie sich selbst bewerten (Selbstwertgefühl). Dadurch wird dem angehenden Erwach­ senen auch bewusst, dass jede Person über die eigene Entwicklung selbst bestimmt und keinen anderen für Persönlichkeitsmängel und unerwünschte Eigenschaften verantwortlich machen kann. Für junge

213 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

Menschen wie auch für Erwachsene ist in einer Gesellschaft, in der der Mensch durch den Anblick des anderen zur inneren Besserung angehalten wird, bereits vorausgesetzt, dass es nach Tugenden stre­ bende Mitmenschen gibt, die stabilisierend auf das eigene Streben einwirken können. Das Streben nach Selbstvervollkommnung, das in der tahḏīb-Literatur als anthropologische Bestimmung des Menschen gilt, ist als Mahnung zu verstehen, trotz Selbstvervollkommnungs­ inkompetenz die Kompetenz zur expliziten Selbstkritik zu kultivie­ ren.824 Auf dieser Grundlage verstehe ich auch (religiöse)825 Bildung als Bildungsarbeit am Menschen. Moralisch zu wachsen, ist jedoch eine schwierige Angelegenheit und ist nicht nur eine wichtige Phase in der frühkindlichen und kindlichen Phase, wenn nicht sogar ein Bestandteil lebenslangen Lernens. In Anlehnung an Kant stellt Jochen Schmidt fest: »Die Schwierig­ keit der Arbeit am eigenen moralischen Charakter liegt darin begrün­ det, dass dem Menschen sein eigenes Herz nicht durchsichtig ist.«826 Die Arbeit am Selbst erschwert sich durch die Undurchsichtigkeit des Herzens, die eben nur durch die Seelen- und Herzensreinigung zu verändern ist. Das Arbeiten an der Seele, dem Herzen und infolge­ dessen am Charakter birgt als große, doch verborgene Schwierigkeit den Selbstbetrug in sich. »Im toten Winkel der Selbstreflexion«827 lauern nun einmal Schwächen, Neigungen, der Hang zum Bösen und Laster, die der Mensch ungewollt oder gewollt übersieht. Die größte Last liegt allerdings in der moralischen (oft auch verdeckten) Arro­ ganz828 begründet, mit Kant gesprochen im »Tugendstolz«829. Auch die Vernunft kann in diesem Tugendrausch zuweilen keine große Die Anerkenntnis einer Sünde ist also zugleich Verherrlichung der göttlichen Unbedingtheit und Erkenntnis der eigenen menschlichen Bedingtheit. 825 Die Erträge des bisher Vorliegenden können ebenfalls in religiös konturierten Bildungszusammenhängen situiert werden. 826 Schmidt, Überlegungen zum Sinn theologisch-ethischer Arbeit im interreligiösen Horizont, online: https://www.academia.edu/30558032/Selbstbekenntniskom petenz_als_interreligi%C3%B6se_Schl%C3%BCsselkompetenz, letzter Aufruf 31.1.2019 (Varia), 1–17, hier 4. 827 Zur Bezeichnung »toter Winkel der Selbstreflexion« siehe: Schmidt, Selbstbe­ kenntniskompetenz, 4. 828 Arroganz gilt nach dem Koran als eine der schwerwiegendsten Sünden (vgl. Q 4:173; 7:166; 16:29). Bspw. wurde Iblis aufgrund seiner Hochmütigkeit aus dem Paradies verbannt (Q 38:71–77). 829 Zur Bezeichnung arrogantia moralis bei Kant siehe MS, AA VI, 435: »Die Überre­ dung von einer Größe dieses seines Werths, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit 824

214 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

1. Gesellschaft, Tugend und Kompetenz

Hilfe sein, insofern sie scheinvernünftige Gründe (er-)finde, um die eigene herablassende Haltung zu rechtfertigen. Damit sei ein weiteres Argument dafür angeführt, die Kultivierungsarbeit am Selbst mit der Selbsterkenntnis zu beginnen. Sowohl die Philosophen als auch die Mystiker*innen formulieren, dass erst nach der Selbsterkenntnis die Gotteserkenntnis folgen könne. Selbsterkenntnis in religiöser Per­ spektive bedeutet mitunter die subjektive Anerkennung der mensch­ lichen Bedingtheit und die göttliche Unbedingtheit und zum ande­ ren das Bewusstwerden seiner Besonderheit als Mensch;830 in der Gewahrwerdung der eigenen Geschöpflichkeit gründet das Bewusst­ werden des Schöpfers und damit des Schöpferischen im Selbst. »Der Mensch ist eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit.«831 Die Geschöpflichkeit impliziert einerseits die Gewissheit der moralischen Anlage, ein wertvolles Geschöpf zu sein, und andererseits den Aufruf, mit Kant gesprochen, in seiner Pflicht der Selbstachtung nicht gegen sich selbst zu geizen.832 Weiß der Mensch jeden anderen Menschen als von Gott gewollt, so weiß er auch, dass der andere gleichermaßen wertvoll ist. Die Rückbindung an den göttlichen Ursprung ermöglicht es dem Menschen, sich auf die Verantwortung für sich selbst und den anderen zu besinnen. Kant drückt diese Kernaussage wie folgt aus: »Religion ist mir eine Gewissenssache, die Heiligkeit der Zusage und Wahrhaftigkeit dessen, was der Mensch sich selbst bekennen dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt werden.« Gegenüber dem Tugendstolz wäre ein Egoismusvorwurf dann berechtigt. 830 In Anlehnung an die Adamserzählung (Q 2:30–38) und weitere Stellen im Qurʾān wird das Menschenbild mit der Schilderung konkretisiert, dass Gott dem Menschen bei seiner Erschaffung seinen Atem und damit zugleich seine 99 schönen Namen einhauchte. »Die qurʾānischen Schilderungen haben in der islamischen Theo­ logie zu der Schlussfolgerung geführt, dass der Mensch in gewisser Weise in der Lage ist, mit seinen Fähigkeiten auf der Erde Lebenszusammenhänge zu gestalten und kreativ zu handeln und damit als Diener Gottes auch in seinem Namen handeln zu können«, Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, 61. »Die Namenskorrespondenz islamischerseits zwischen Gott und Mensch bereitet zum einen den Boden dafür, einen partnerschaftlichen Aspekt in die Gott-Mensch-Relation zu implementieren, und die Vorstellung, Gott zu dienen, wird damit um die Idee der menschlichen Kreativität und relativen Eigenständigkeit, die mit Freiheit und Verantwortung verbunden ist, bereichert. Damit einher ginge dann zum anderen die Vorstellung, dass die so verbürgte Würde des Menschen einen Imperativ birgt, diese für jeden Menschen in lebensweltlichen Bezügen auch erfahrbar zu machen«, Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 225. 831 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997, 13. 832 Vgl. Kant, AA, VI 432.

215 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

muss. Bekenne dir selbst.«833 So haben in einer globalisierten Welt Handlungen nicht nur mittelbar Auswirkungen auf andere, sondern immer öfter auch unmittelbar. Der sorgsame Blick für den anderen kann erst dann aufrechterhalten werden, wenn (Mit-)Menschlichkeit und Mitgefühl kultiviert werden.834 Auch Bildungsarbeit findet daher ihren Anfang in der Arbeit am Selbst. In Anlehnung an Kant, für den die Arbeit am Selbst Arbeit hin auf eine Kultur ist, benennt Bettina Stangneth dies als Kultur der Aufrichtigkeit. Ferner habe ich Avishai Margalit erwähnt, der eine decent society favorisiert. Konstitutiv für eine derart gedachte Gesell­ schaft scheint mir vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse die Kultivierung bestimmter Eigenschaften, Haltungen und Emotionen für das soziale Miteinander zu sein, die in ihrer Begründung, wie diese Arbeit zu zeigen versucht hat, auch religiös orientiert sein können. Dies macht die Förderung von Verbundenheit und Bezogenheit der Menschen zueinander notwendig, wodurch sich erst die im Menschen angelegten Potenziale entfalten können, um zum Guten zu transfor­ mieren und transformiert zu werden. Denn ein gelungenes Leben zeigt sich in der Praxis.

2. Vier mögliche Tugenden Die angestellten Beobachtungen und Ausführungen, die im Zuge der Reflexion philosophischer und pädagogischer auf der einen Seite und muslimischer islamisch-theologischer Diskurse auf der anderen Seite gewonnen wurden, können nun in den Horizont weitreichen­ der moralischer Begriffe bzw. zentrale Tugenden gestellt werden. Entscheidendes Auswahlkriterium ist der Aspekt ihrer Wirkungskraft für den Prozess ihrer Menschwerdung. Vor dem Hintergrund der vielen erwähnten Tugenden, die insbesondere eine sozialfördernde Dimension implizieren, möchte ich die vier Metatugenden Gerech­ 833 Immanuel Kant, Opus postum. Handschriftlicher Nachlass. Erste Hälfte, Berlin 1936 (AA XXI, 81); Kant AA, VI 441. 834 Mitgefühl für andere lässt sich mit der Voraussetzung entwickeln, dass Mitgefühl immer Identifikation und Bezogenheit impliziert. Mit Bezogenheit meine ich, dass Menschen nicht voneinander entzweit sind, denn alle Seelen sind aus einer göttlichen Urseele (vgl. Q 15:29). Mit Mitgefühl meine ich, die Fähigkeit, den anderen wie sich fühlen zu können; siehe hierzu auch Martin Buber und die Mystik in: Paul A. Schilpp/ Maurice Friedman (Hrsg.), Martin Buber, Stuttgart 1963, 40 f.

216 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

tigkeit, Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Freundschaft ausführen, die besonders für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, v. a. aber für das Miteinander im Schulkontext und auch darüber hinaus bedeutsam sind. Unter der Prämisse, die Persönlichkeitsentwicklung zu stärken, möchte ich die Tugenden inhaltlich kurz bestimmen, um abschließend ganzheitlich zu resümieren. Ich beginne mit der Königin der Tugenden: der Gerechtigkeit.

2.1 Gerechtigkeit Bei der Thematisierung des Begriffs der Gerechtigkeit scheint es kaum möglich, Bezüge zur polis auszuklammern, da er in der Antike, in mittelalterlichen-islamischen sowie neuzeitlichen Ansätzen stets in Verbindung mit der Idee einer gerechten Gemeinschaft gebracht und insofern mit einer politischen Ordnung zusammengedacht wurde. Onora O’Neill fragt zu Recht, wie und wodurch sich Gerechtigkeit besser institutionalisieren lasse: Durch eine Kultur des Vertrauens oder durch formalisierte Strukturen der Rechenschaftspflicht?835 Die Frage, ob in einem ungerechten Staat die Bürger in der Lage seien, Gerechtigkeit zu erwerben und zu kultivieren, hat ihre Aktualität – auch in der islamischen Bildungsgeschichte – nie verloren.836 Den politischen Bezugsrahmen werde ich allerdings im Weiteren ausklam­ mern und Gerechtigkeit nicht als gesellschaftliche Strukturnorm, sondern als personale Grundhaltung auf den intersubjektiven Kon­ text beziehen. Gerechtigkeit als Charaktertugend ist eine Grundhaltung, von der man sich wünschen würde, dass sie jeder Mensch hat. Gerechtig­ keit ist die Disposition, Gerechtes zu tun, gerecht zu urteilen und auf gerechte Weise zu handeln.837 Die gegenteilige Disposition sind ungerechte Haltungen wie das Streben nach dem eigenen Vorteil, Parteilichkeit, Egoismus, all jene Haltungen, die auf den eigenen 835 Vgl. Onora O’Neill, Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortlichkeit. In: Neu­ maier Otto/Clemens Sedmak/Miachel Zichy (Hrsg.), Gerechtigkeit. Auf der Suche nach einem Gleichgewicht, Frankfurt a.M. 2005, 33–55, hier 33. 836 Vgl. NE 1179b, 31 ff.; vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 2005; vgl. Manuel Knoll, Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Phi­ losophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, Pader­ born 2009. 837 Vgl. NE 1128b 5–10.

217 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

Vorteil bedacht sind und das Leben nach egoistischen Motiven aus­ richten.838 Doch ist es nicht nur das Bedachtsein auf den eigenen Vorteil, sondern auch die Konzentration und Priorisierung der eige­ nen Wünsche und Bedürfnisse. Eine Art von Selbstliebe würde dann die Form des Handelns bestimmen. Gerechtes Handeln impliziert den Ausgangspunkt bzw. die Haltung, jedem sein Recht zukommen zu lassen. Demnach ist Gerechtigkeit ein mittlerer Habitus, der ein Zuviel und ein Zuwenig vermeidet, denn sie ist auch die Mitte zwischen »Unrecht tun und Unrecht leiden«. Gerechtigkeit zeigt sich also in intersubjektiven Handlungen. Um die Mehrdeutigkeit und inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs aufzudecken, stellte Aristoteles Kriterien für (un-)gerechtes Handeln auf. Er unterscheidet zwischen allgemeiner und partikularer Gerechtigkeit. Die allgemeine Gerechtigkeit bezieht sich auf die tugendhafte Haltung hinsichtlich des Verhältnisses zu anderen Men­ schen. Die partikulare Gerechtigkeit bezieht sich auf einen Bereich der allgemeinen Gerechtigkeit, den der Verteilung von materiellen wie immateriellen Gütern. So bedarf Gerechtigkeit als Charakterdis­ position – wie andere Tugenden auch – situationsangemessener Handlungen, die bestimmte Wahrnehmungsevidenzen voraussetzen. Denn nicht nur die Anreicherung von Macht und Gütern muss mit der Frage konfrontiert werden, wie gerecht dieses Handeln ist, wenn auf der anderen Seite Menschen Hunger erleiden, sondern auch die Bevormundung von Menschen, indem man autoritativ vorgibt, wie sie ihr Leben zu leben haben, ist ungerechtes Handeln. Denn wenn ich das Recht besitze, so zu leben, wie ich will, muss ich anderen dieses Recht ebenfalls einräumen.839 Die Disposition, gerecht zu handeln, bedeutet also die Fähigkeit, dem einzelnen Menschen in seiner besonderen Situation gerecht zu werden.840 Aus befreiungstheologischer Sicht ist hierbei zu ergänzen, dass dieser Anspruch insbesondere auf diejenigen bezogen ist, die nicht selbst für ihr Recht einzutreten in der Lage sind. Für den muslimischen Befreiungstheologen Farid Esack ist Gerechtigkeit eine Grundvoraussetzung für das Leben überhaupt.841 Er wertet passive Vgl. NE 1128b 5–10. Vgl. NE 1129a. 840 Vgl. auch Q 55:5–9; Q 4:135. 841 Vgl. Farid Esack, Qurʾān, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity against Oppression, Oxford 1997, 98. 838

839

218 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

Neutralität im Sinne einer abwartenden Haltung in einer handlungs­ bedürftigen Situation als eine Sünde. Denn unterlassenes gerechtes Handeln widerspricht nach Esack dem göttlichen Ziel einer gerech­ ten Welt. Auf dieses Ziel soll der Mensch als Kalifa und in seiner Verantwortung als Kalifa bestmöglich hinarbeiten.842 Gerechtigkeit hat daher m. E. den Charakter einer sozialen Tugend. Insbesondere diese Spielart der Gerechtigkeit kann Fürsorge und Anteilnahme fördern, wodurch Formen von Solidarität oder sogar Freundschaften aufgebaut werden können.843 Der Gerechtigkeitsbegriff aus islami­ scher Perspektive legt offen, dass im Mittelpunkt sowohl der gerecht Handelnde und seine gerechten Motive sowie Intentionen als auch die gerechte Handlung stehen. Den Kernpunkt des gerechten Handelns bildet die Gemeinschaft und diese hat als wesentlichen Referenzpunkt das Gemeinwohl. In Bezug auf die Gerechtigkeitsrelation steht für mich also die Beziehung zum anderen im Vordergrund. Daher verstehe ich Gerech­ tigkeit als (Mit-)Verantwortung, die mir auferlegt, den Anspruch des anderen zu wahren oder, anders formuliert, die Realisierung der Gerechtigkeit des anderen zu schützen und mein Handeln daran zu orientieren.844 Um ein Beispiel anzuführen: Der Lebensschutz der Mitfahrenden sollte die Priorität des Autofahrers sein. Die vermeintliche Freiheit, keinen Gurt anzulegen, die auf seiner Über­ zeugung beruht, ein aufmerksamer und erfahrener Fahrer zu sein, wäre der Gerechtigkeitsfrage zuzuordnen, d. h., Gerechtigkeit ist auf andere bezogen und hat damit immer einen »Sozialbezug«845. Damit eine egozentrische Sichtweise abgelöst werden kann, die anderen Vgl. Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis, 212. Vgl. O'Neill, Tugend und Gerechtigkeit, 258 f. 844 Diese Vorstellung gründet auf meiner religiösen Sozialisation, in welcher das (An-)Recht des Nachbarn, also des anderen eine wesentliche Bedeutung und Rolle in der Lebenspraxis hat. Hierfür sei beispielhaft die prophetische Empfehlung angeführt, in der der Prophet Muhammad darauf aufmerksam macht, dass der Nachbar ein Anrecht auf das Essen besitze, wenn er auch nur, aufgrund geöffneter Fenster, den Geruch dieses Essens erhasche. Dieser Hadīth ist wohl auch der Entstehungsgrund für das türkische Sprichwort: Einer isst, der andere schaut zu, aus diesem Grund geht die Welt unter. Womöglich würde es einem nicht-muslimischen Europäer nicht in den Sinn kommen, in der Gruppe seine Bretzel mit anderen zu teilen, weil er anderen Aspekten in seiner Deliberation den Vorrang gibt und eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit und (Rechts-)Anspruch besitzt. 845 Für die Bezeichnung Sozialbezug siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Stuttgart 22006, 254. 842

843

219 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

dieselben Rechte zugesteht, die man für sich selbst in Anspruch nimmt, bedarf es vielschichtiger Aspekte. Einerseits bedarf das Ein­ beziehen aller in die Gerechtigkeitsvorstellung eines Gemeinschafts­ gefühls und andererseits die Fähigkeit zum Argumentieren, aber vor allem auch Zeit, um egozentrische Besitzansprüche zu überwinden. Vorstellungen von Gerechtigkeit können sich erst im Handeln zeigen, wenn Kinder auch eine Vorstellung von Gerechtigkeit in sich selbst entwickeln.

2.2 Aufrichtigkeit ,Aristoteles führt in seinem vierten Buch der NE gesellschaftliche Einzeltugenden auf, hierzu zählt auch die Wahrhaftigkeit respektive Aufrichtigkeit.846 Mit Ibn Abī l-Dunyā und weiteren udabā ist Auf­ richtigkeit als wesentliche Verbindung der Sprache (lisān) und ihrer Kultivierung deutlich hervorgetreten. Sie wurde korreliert mit der Aufrichtigkeit des Herzens (ṣidq al-qalb), die hervortreten kann, wenn sich eine Stimmigkeit von Denken, Fühlen und Handeln ein­ stellt. Das Herz, das als Ort der Seele auch unter den Mystiker*innen gilt, könne nur die Wahrheit spiegeln. Die Aufrichtigkeit des Herzens ist, das Gute zu tun. Denn ein aufrichtiges Herz schließt Eigeninter­ esse und Egoismus stets aus. Die Wahrhaftigkeit bezieht sich auf die Aufrichtigkeit in Wort und Tat, wobei die Aufrichtigkeit wiederum die Wahrheit als Bezugs­ punkt hat. Sie stellt die Mitte zwischen betrügerischer Angeberei bzw. Prahlerei und der gespielten Bescheidenheit bzw. dem Ironischen dar.847 Die Wahrhaftigkeit eines Menschen ist seine Disposition dazu, aufrichtig und ehrlich zu sein. Der Prahler hingegen erhöht sein Selbst und macht sich größer, als er ist. Die Eigen-Aufwertung ist zugleich eine verstellte Form der Arroganz. Die Ironie ist eine Geistes­ haltung, die zu etwas Wahrhaftem oder der Wirklichkeit oppositionär eingesetzt werden kann. Im sokratischen Sinne mag sie zwar ein gutes Hilfsmittel sein, doch ohne Fingerspitzengefühl in sensiblen Situationen kann Ironie destruktiv wirken. Ist das Ironische mehr im Sinne von gespielter Bescheidenheit zu verstehen, handelt es sich um einen Menschen, der sein Licht gerne unter den Scheffel stellt. Im 846 847

Beide Übersetzungen sind anzutreffen, daher verwende ich sie synonym. Vgl. NE 1127a 12–15; NE 1108a 20–24.

220 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

Gegenteil hierzu sind aufrichtige, ehrliche Menschen für gewöhnlich gefestigt, selbstsicher und daher nicht auf Aufmerksamkeit angewie­ sen. Selbstsichere Menschen sind ehrlich zu sich sowie zu ihrer Umwelt und können mit Zurückweisungen oder Kritik gut umgehen. Sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein heißt, sich selbst treu zu sein, fähig zu sein, das eigene Verhalten nicht primär daran zu orientieren, anderen zu gefallen. Um anderen zu gefallen, wird ein Mensch agieren und handeln, wie die anderen es von ihm erwarten, und das führt zum Verlust einer aufrichtigen Haltung gegenüber sich selbst, was sich auch in der Körperhaltung erkenntlich machen kann.848 Mit Aufrichtigkeit können sich viele weitere Primärtugenden wie Gerechtigkeit und Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Authenti­ zität, Mitgefühl, Sanftmut sowie Integrität paaren. Den Gegensatz bzw. das Antonym von Aufrichtigkeit bildet Heuchelei. Jemand ist heuchlerisch, wenn er Emotionen vorgibt oder etwas sagt, das Emo­ tionen vortäuscht. Jemand ist ein Heuchler, der ein Bild von sich gibt, das nicht seinem wahren Selbst entspricht. Wenn die Konsistenz und Kongruenz zwischen dem eigenen Wertekodex und dem äuße­ ren Ausdruck in Worten und Handlungen nicht gegeben ist, wird eine Sache falsch und unwahr. Außerdem erzeugt Heuchelei eine 848 Exemplarisch für Aufrichtigkeit und Authentizität sei eine Erzählung des berühm­ ten Humoristen Nasreddin Hodscha angeführt. Die Erzählung trägt den Titel »Iss, mein Pelz, iss!« Eines Tages ist der Hodscha zu einem Bankett eingeladen. Er trägt sein Alltagsgewand und wird von niemandem begrüßt oder beachtet. Das macht ihn betroffen. Er eilt nach Hause, wirft seinen prächtigen Pelzmantel um und kehrt zu der Festgesellschaft zurück. Schon am Eingang wird er ehrenvoll in Empfang genommen und zu einem Podest geführt, wo man ihm den besten Platz zuweist. Als die Suppe serviert wird, tunkt der Hodscha das Revers seines Mantels in die Schüssel und sagt: »Bitte, bedien‘ Dich. Iss, mein Pelz, iss, mein Pelz!« Den erstaunten Gästen, die ihm zusehen, erklärt er: »Die Ehre gilt ja doch dem Pelz, dann soll der auch das Essen haben!« Im Falle Juhas bedarf es einer entsprechenden Kleidung, durch die er sich Ehre, Respekt und Aufmerksamkeit der Gastgeber verschaffen kann. Interessanter ist, was Juha mit seinem Verhalten seinen Mitmenschen und folglich dem Leser (als Lehre) mitgeben möchte, nämlich ihnen ihre Falschheit und Unaufrichtigkeit bewusst zu machen. Der Person Juhas gebührt kein Respekt, der Mensch mit seiner Persönlichkeit wird überflüssig. Dafür wird der durch die Kleidung ausgedrückte Status zum Gegenstand von Wertschätzung und Achtung. Nasreddin Hodscha (er-)achtet sich als einzigartiges Individuum, was die Gastgeber offensichtlich nicht tun. Um seine Selbstachtung aufrechtzuhalten und das ethisch falsche Verhalten der Gastgeber zu spiegeln, tunkt er deshalb das Revers seines Mantels in die Suppe und möchte mit dieser Tat seinen Mitmenschen ihre Unachtsamkeit in aller Konsequenz vor Augen halten. Wenn die Achtung dem Pelzmantel gilt, steht es diesem auch zu, die Suppe zu verzehren.

221 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

positive Erscheinung, die andere über seine Persönlichkeit täuscht. Ein Täuschungsversuch zwischen Sein und Schein, zu dem sich viele Menschen in den »sozialen Medien« verleiten lassen, torpediert den Aufbau einer Vertrauensbasis. An der Aufrichtigkeit lässt sich gut zeigen, dass der Mensch ohne die dianoetische Tugend der Klugheit Tugendhaftigkeit grundsätzlich verfehlen kann. Sie erfordert geistige Beweglichkeit, in der man bereit ist, bisher Erprobtes und Bewähr­ tes nötigenfalls auch hinter sich zu lassen. Sie erfordert Fantasie und Vorstellungskraft, um über das Eingefahrene hinaus alternative Wege zu entdecken. Die Klugheit ist in der Rolle eines Akteurs, der die innere Zielbestimmung anderer Tugenden koordiniert, da sie auf das Vermögen der Phronesis verweist, moralische Regeln situationsgemäß anzuwenden849 und daher im Zusammenspiel mit Charaktertugenden eine wesentliche Rolle besitzt.850 »Solche Wahlen verlangen ein Urteil und die Ausübung der Tugenden erfordert daher die Fähigkeit zu urteilen und am richtigen Ort zur richtigen Zeit in der richtigen Weise das Richtige zu tun.«851

Der wirklich tugendhaft Handelnde agiert auf der Grundlage eines wahren und rationalen Urteils als Konsequenz einer bewussten Wahrnehmung sowie eines deliberativen Denkprozesses mithilfe der Klugheit, da sie das Tor für neue Möglichkeiten darstellt. Zur Aufrichtigkeit als Disposition gehört es auch, in einer Situation abwägen zu können, ob es nicht vielleicht klüger ist, den Mund zu halten, als ehrlich zu sein, wenn dadurch Schaden angerichtet werden würde. Ich denke hier an das klassische Beispiel der Notlüge.852 Die Klugheit hilft angesichts der Wirklichkeit, nach einem realistischen und ethisch begrüßenswerten Weg zu suchen. Aufrichtig zu sein, bedeutet zugleich nicht zwangsläufig, jemandem die nackte Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, der nicht danach gefragt hat oder sie womöglich diese in dieser Form nicht ertragen kann. Das wäre ein grobes Verhalten, aber kein aufrichtiges in erster Linie. Neben Heuchelei wären weitere Gegensätze Falschheit, Unehr­ lichkeit, Korrumpierbarkeit und Verlogenheit. All diese Laster mani­ festieren tadelnswerte Eigenschaften, durch die moralisches Handeln unmöglich wird. Der Versuch, um mit Bettina Stangneth zu argumen­ 849 850 851 852

Schmidt, Unveröffentlichtes Manuskript: Glaube und Charakter (2016). Vgl. Hähnel, Das Ethos der Ethik, 71. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 202. Siehe hierzu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten.

222 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

tieren, das Böse zu überwinden, würde im Grund die Überwindung der moralischen Verderbtheit erfordern. »Denn wenn das radikal Böse die Unaufrichtigkeit selbst ist, dann ist Aufrichtigkeit nicht nur eine Tugend unter anderen, sondern die Überwindung der grundlegenden Korruption der Moralität, also die Bedingung der Möglichkeit, das moralische Bewußtsein überhaupt zu nutzen und das heißt: Aufrichtigkeit ist die subjektive Voraussetzung der Möglichkeit von Moralität überhaupt.«853

Daher erscheint Aufrichtigkeit als konstitutive Minimalvorausset­ zung für die Möglichkeit einer moralischen Entwicklung. Ferner korreliert mit Aufrichtigkeit auch Respekt, eine Eigen­ schaft, die man schon fast als Mega-Tugend zu bezeichnen vermag. Ich beziehe die Primärtugend der Aufrichtigkeit als Ordnungsdisposition auf Respekt und möchte diesen unter Sekundärtugenden subsumie­ ren, da er von sich aus noch nicht notwendig auf ein ethisch gutes Ziel hingeordnet sein muss – dies werde ich im Weiteren thematisieren.

Exkurs: Respekt als wichtige Sekundärtugend Das Entgegenbringen von Respekt ist eine Form der Anerkennung und geht mit Aufrichtigkeit einher. Wenn jemand seinem Vorgesetz­ ten Respekt erweist, nur weil er Angst hat, seine Anstellung zu verlieren, ist das nicht aufrichtig. Wenn ein Mensch freundlich zu anderen Menschen ist, bedeutet das ebenso wenig, dass er die anderen respektiert oder er bescheiden ist. Es kann auch bedeuten, dass er die sozialen Normen, also das, was man Etikette im allgemeinen Umgang mit Menschen nennt, befolgt und seine innere Geisteshaltung dem eigentlich konträr gegenübersteht, d. h. Denken, Fühlen und Handeln eine Dissonanz aufweisen. Das wäre kein Respekt im Sinne einer Tugend, sondern lediglich Toleranz, die die Andersheit bloß aushält, erträgt oder auch nur hinnimmt. »Morality also differs from etiquette, which concerns form and style rather than the essence of social existence. Etiquette determines what is polite behavior rather than what is right behavior in a deeper sense.«854

853 854

Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, 209. Louis P. Pojman, Discovering what is right and wrong, Belmont 32005, 5.

223 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

Höfliche Manieren oder auch adab sind zwar für das soziale Miteinan­ der fundamental, entscheidend aber ist, ob sie auch den Menschen in seinem Charakter zu formen vermögen, was ich im Schluss reflektie­ ren werde.855 Respekt als aretē ist die mittlere Disposition zwischen Las­ tern wie Grobianismus, Verachtung, Einschränkung des religiösen und kulturellen Eigenrechts856, Demütigung, Entwürdigung, Arro­ ganz und Ablehnung auf der einen und Gleichgültigkeit gegenüber Andersheit, Dienerei, Handlungslähmung und Falschheit auf der anderen Seite. Diese Art von Laster ignoriert den anderen in sei­ ner nach außen gezeigten Individualität und Selbstdarstellung. Eine übertriebene Art und Weise von Respekterweisung ist jene, die in Dienerei, kunstfertige Schmeichelei und innige Unterwürfigkeit übergeht. Mit dem Begriff der Dienerei lässt sich Kants Plädoyer für die Würde des Menschen einspielen. In diesem Plädoyer, das er mit »Von der Kriecherei« betitelt, beschreibt er sein Würde-Begriff, die für Kant jegliche Form der Selbsterniedrigung verbietet.857 Darin erweist er bestimmte Formen des sich »Bücken(s) und Schmiegen(s)« bei denen sich jemand selbst »zum Wurm macht« als unwürdig.858 Die Unwahrhaftigkeit gegenüber sich selbst stellt für Kant die größte Verletzung gegenüber der Pflicht zur Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung dar, unabhängig davon, so der klassische Topos der Stoa, als Sklave vernutzt und als Kaiser verehrt wird.859 Die Krieche­ rei, und hierunter fällt eben auch die Dienerei, Schmeichelei oder auch Demütigung, ist für Kant ein Laster. Ferner wird durch künstli­ che, unaufrichtige Zugewandtheit, unechtes Verhalten und Gefühle die Vertrauensbasis zerstört und Gemeinschaftlichkeit konterkariert. Vgl. Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frank­ furt a.M. 1994, passim. 856 Vgl. Karl-Otto Apel, Anderssein, ein Menschenrecht? In: Hilmar Hoffmann/Die­ ter Kramer (Hrsg.), Anderssein, ein Menschenrecht. Über die Vereinbarkeit universa­ ler Normen mit kultureller und ethnischer Vielfalt, Weinheim 1995, 1065. 857 Vgl. Andreas Brenner, Bioethik und Biophänomen: den Leib zur Sprache bringen, Würzburg 2006, 236. 858 Vgl. Kant, MS A, 92 ff. 859 Wie folgt drückt es Kant aus: »Er [der Vernunftmensch, Vf.] soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewusstsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und sie Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.« MS AA VI, 434. 855

224 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

Eine herablassende Haltung zeugt von Geringschätzung und der Überzeugung des Minder- oder Unwertes meines Gegenübers. Dies verhindert jedwede Möglichkeit, Freundschaft und Vertrauen zu initi­ ieren und den anderen als denkendes und souverän handelndes Wesen ernst zu nehmen. Josef Schönberger führt in seinem Buch Die Wiederentdeckung des Respekts. Wie interkulturelle Begegnungen gelingen Respekt ins Feld als eine wesentliche Kategorie im kulturellen Austausch und unterscheidet zwischen der Verhaltens- und Einstellungskompo­ nente.860 Für Schönberg gilt es, den Menschen als Mitmenschen und in seinem Menschsein zu respektieren, wovon dessen Verhalten aus­ genommen sei. 861 Respekt sollte nicht als etwas verstanden werden, dessen Gewährung unter Menschen im Alltagsleben erst auszuhan­ deln ist. Anderen Respekt zu erweisen, verstehe ich daher weder als Pflicht noch als Schuld. Sie sollte aus einer tiefen Überzeugung, der inneren Einsicht herrühren. Kant thematisierte die Sichtweise, dass Respekt die anthropolo­ gische Grundlage von Moralität ist, zum ersten Mal im 18. Jahrhun­ dert. Eine umfassende Definition der Achtungswürdigkeit und der Menschenwürde an sich findet sich bei Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Das Grundprinzip der Menschenwürde besteht für Kant darin, »dass alle Personen eine Würde haben, die unter allen Umständen und zu jeder Zeit respektiert werden« müsse.862 Nach Kant ist Menschenwürde ein wesentlicher Gegen­ stand von Respekt. Würde gebietet eine kategorische Achtung vor dem anderen als Handlungsrahmen aller Intersubjektivität, in der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und in der Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Sie ist prinzipiell unverlierbar, sie kann nicht von außen zuerkannt werden und sie ist ausnahmslos jedem Menschen immanent. Nach Kant ist der Mensch ein Zweck an sich, daher wird seine Würde immer dann verletzt, wenn ein Mensch einen anderen Menschen als Mittel instrumenta­

860 Siehe Josef Schönberger, Die Wiederentdeckung des Respekts. Wie interkultu­ relle Begegnungen gelingen, München 2010. 861 Vgl. Schönberger, Die Wiederentdeckung des Respekts, 14. 862 Lisa Linder, Respekt. In: Dieter Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte. Von Acht­ samkeit bis Zivilcourage – Basiswissen aus Psychologie und Philosophie, Berlin/Hei­ delberg 2016, 167–175, hier 169.

225 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

lisiert und für seine eigenen Zwecke benutzt.863 Jede Behandlung des Menschen, die seine Subjektivität verdinglicht und grundsätzlich unterwandert und hierzu gehört auch die Integrität des Menschen, verletzt seine Würde. »Das Verständnis für die Würde des Menschen wurzelt in einem mora­ lischen Gefühl. Dieses Gefühl ist moralisch, weil es Beurteilungsmaß­ stäbe für Handlungen und Unterlassungen bereitstellt, es ist indes ein Gefühl, weil es sich bei ihm nicht um einen kalkulatorischen Maßstab, sondern um eine umfassende, spontan wirkende, welterschließende Einstellung handelt.«864

Respekt im Sinne einer Charakterdisposition hat ebenso die Aner­ kennung des anderen in seiner Identität zur Folge. Anerkennung ist eine wesentliche Komponente von Respekt. Im Gegensatz zur Toleranz865 zeigt sich die positive Anerkennung des anderen darin, dass die Identität, die Besonderheit, die Andersheit des Gegenübers, wie sie präsentiert wird, nicht einfach hingenommen oder verspottet wird, sondern als Andersheit gewürdigt wird. Das Gegenteilige ist verletzend und der Anfang aller Unmenschlichkeit.866 »Missachtung und Entwürdigung sind schwere Vergehen, weil Menschen durch das Erleiden von Missachtung in ihrer Selbstachtung Schaden nehmen können.«867 Ein solches Verhalten zeigte der amerikanische Präsident Donald Trump, als er während einer Wahlkampfveranstaltung den Journalisten Serge Kovaleski, der mit Arthrogryposis, einer angebore­ nen Gelenkversteifung, lebt, nachäffte und sich über seine Krankheit vor laufender Kamera lustig machte und ihn zu demütigen versuchte. In Anlehnung an Kants Selbstzweckformel wurde die Menschen­ würde Kovaleskis immens verletzt, indem Trump ihn auf diese Art 863 »Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Kant, GMS, AA IV, 429. 864 Brumlik, Ethische Gefühle, 44. 865 Wenn es um sozialen Zusammenhalt und um Zusammenleben in einer Ein­ wanderungsgesellschaft geht, ist Toleranz der falsche Begriff und die falsche Erwar­ tungshaltung. Toleranz erhält die Ungleichheit und die Hierarchie innerhalb einer Gesellschaft weiterhin aufrecht. Heute lässt sich sagen, dass die Strukturprinzipien der Toleranz intergenerativ über längere Zeit weder gesichert werden konnten noch zu einer authentischen Anerkennung verholfen haben. 866 Vgl. Margalit, Politik der Würde, 7. 867 Jochen Schmidt, Wahrgenommene Individualität. Eine Theologie der Lebensfüh­ rung, Göttingen 2014, 40 f.

226 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

zu diskreditieren und zu verhöhnen versuchte.868 An diesem Beispiel verbinden sich diverse Haltungen. Ich möchte nur andeuten, dass es unterschiedliche Ansätze zum Würdebegriff gibt, was an dieser Stelle nicht vertieft werden kann.869 An manchen Stellen mag das Instrumentalisierungsverbot eine hilfreiche normative Orientierung für die Anwendung der Menschenwürde als Norm darstellen. Doch Würde nicht ausschließlich als immanente Qualität, sondern auch als kontingente Haltung zu verstehen, im Sinne einer umfassenden Gestaltung von Dispositionen und damit als oberstes Gut, scheint mir adäquater zu sein.870 Trumps Verhalten bzw. Auftritt war wür­ delos, d. h., er hat seine Würde im Sinne der Haltung verloren. Wie ich bereits resümiert habe, ist eine Haltung der authentische, performative Ausdruck der inneren Beweggründe. Bei der Würde als Haltung spiegelt sich eine Übereinstimmung von »innen und außen und ein Selbstverhältnis wider, was den Menschen würdevoll erscheinen lässt«.871 »Wenn ich das arme oder reiche, schwarze oder indigene Kind diskrimi­ niere, wenn ich die Frau, die Bäuerin oder die Arbeiterin diskriminiere, kann ich ihnen folglich nicht zuhören, und wenn ich ihnen nicht zuhöre, kann ich mit ihnen nicht auf gleicher Ebene reden, sondern nur zu ihnen von oben herab. Vor allem verhindere ich, dass ich sie verstehe. Wenn ich mich den von mir Unterschiedenen gegenüber überlegen fühle, wem auch immer, weigere ich mich, ihm oder ihr zuzuhören.«872

Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire konstatiert, dass es für aufrichtigen Respekt der Bescheidenheit bedarf. Denn Bescheidenheit bringt die innere (Geistes-)Haltung zum Ausdruck, »dass keiner

Der zweite Teil des kategorischen Imperativs lautet wie folgt: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«, Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (AA IV), 429. 869 Für eine umfassende Abhandlung zum Thema Würde siehe Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschen­ würde, Berlin 2017. 870 Vgl. Eva Weber-Guskar, Menschenwürde: Kontingente Haltung statt absoluter Wert. In: Mario Brandhorst/dies. (Hrsg.), Menschenwürde: eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, Berlin 2017, 206–233, hier 214. 871 Vgl. Weber-Guskar, Menschenwürde, 216. 872 Paulo Freire, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspra­ xis, Münster 2008, 110. 868

227 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

dem anderen überlegen ist«873, sie bedeutet eine Enthierarchisierung. Bescheidenheit drückt sowohl das Verhältnis des Menschen zu sich als auch zu anderen Menschen aus. Sie ist das Gegenteil von Selbstliebe, Hochmut, Überheblichkeit sowie Arroganz. Ein rassistischer Mensch bspw. hat die innere Haltung der Arroganz, denn er klassifiziert Men­ schen, indem er fremdzugeschriebene negative Eigenschaften über die selbstzugeschriebenen Charakteristika der anderen stellt.874 Ein Ras­ sist positioniert sich selbst höher als andere, er handelt überheblich. Eine ähnliche Form der Diskriminierung, bei der dieselben negati­ ven personalen Eigenschaften zum Tragen kommen, kann ebenfalls mit Blick auf Migranten stattfinden. Das othering beginnt mit einer diffamierenden Stereotypisierung und den damit einhergehenden Fremdzuschreibungen über den anderen. Die Freundschaft, die ich für eine Kultur des Miteinanders präferiere, beruht auf Gleichheit875, sie kennt keine Überlegenheit. Respekt als Sekundärtugend möchte ich als eine ethische Grund­ haltung bestimmen, die Pluralität nicht unterminiert, Differenzen ernst nimmt und jeden Menschen als Ganzes von einem ethischen Standpunkt aus wertzuschätzen in der Lage ist. Es geht um Respekt als Bedingung eines würdevollen Miteinanders und um den Lernprozess, dem Menschen als Mensch zu begegnen. Dies eröffnet und ermöglicht erst Offenheit für die Wahrnehmung der Persönlichkeit des Gegen­ übers. Wie diese Wertschätzung im Konkreten aussieht, lässt sich aus einer tugendethischen Perspektive nicht sagen, doch das ist auch nicht notwendig. Denn jede Situation beansprucht eine entsprechende Art der Aufmerksamkeit, um sie angemessen zu bewerten und richtig zu handeln. Basale Gesten des Respekts können eine gute Übung zum Erwerb einer grundsätzlich respektvollen Disposition sein. Wenn, wie bereits deutlich beschrieben, Gewohnheiten aus der Wiederholung entstehen, dürfte das wiederholte Bemühen um Höflichkeit – die unterschiedlichen Formen annehmen kann – zu der Tugend der Menschenliebe und des Respekts führen. Hierzu zähle ich bspw. freundliches Hin- und Anschauen, wenn angemessen, als Zeichen der achtsamen Zuwendung zum Gegenüber. Respekt vor anderen zu haben, daran können Kinder und Jugendliche gewöhnt werden, wenn sie sich u. a. um andere kümmern. Ebd., 111. Vgl. Birgit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung: Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, 132 f. 875 Vgl. NE 1158b. 873

874

228 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

»Es ist falsch, allzu falsch, die anderen, am Rande der Gesellschaft Ste­ henden, zu demütigen. Um als Menschen behandelt zu werden, müs­ sen sie aber nicht als kostbar, rein oder seelenvoll gelten. Bei der Ach­ tung von Menschen geht es um nichts anderes: Sie hängt nicht davon ab, dass Menschen etwas besonders Edles wären.«876

Verachtung hingegen spiegelt eine defizitäre Selbstachtung wider. »Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden.«877 Wenn jemand keine Selbstachtung besitzt und diese selbst nicht erfahren hat, kann er diese Haltung auch niemand anderem entgegenbringen. Die Ausbildung von Empathiefähigkeit wird dadurch fast schon unmöglich. »Wer in aller Aufrichtigkeit und mit aller Aufmerksamkeit auf seine eigenen Versuche und Verirrungen schaut, wer sich selbst in all sei­ ner Ambivalenz zu sehen und zu achten lernt, bildet zugleich seine Fähigkeit aus, andere Menschen in je ihrer individuellen Besonderheit wahrzunehmen und zu achten.«878

Aufrichtigkeit kann also soziale Bindungen und Freundschaft erzeu­ gen und soziale Beziehungen wachsen und sich erweitern lassen. Aufrichtigkeit gewinnt folglich einen konstitutiven Wert zwischen­ menschlicher Beziehungen.

2.3 Mitgefühl Die Möglichkeit zum Mitgefühl (taʾāruf), die bedingt wird auch durch gelungene Achtsamkeit, ist in religiöser Perspektive eine wichtige Komponente einer gelingenden Lebensführung. Es ist auffällig, dass Emotionen kaum explizit Erwähnung unter den muslimischen Den­ ker*innen finden, die es zu kultivieren gälte, sondern sie schwingen durch die Thematisierung von Charaktereigenschaften im Grunde immer mit, sind impliziter Bestandteil aller Tugenden. Mitgefühl ist selbstverständlicher Teil der theologischen Tugend Barmherzigkeit 876 Avishai Margalit, Menschenwürde zwischen Kitsch und Vergötterung. In: Otto Neumaier/Clemens Sedmak/Michael Zichy (Hg.), Gerechtigkeit, Lancaster 2005, 13–32, hier 19. 877 Brumlik, Ethische Gefühle, 44. 878 Schmidt, Wahrgenommene Individualität, 36.

229 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

oder der Tugend der Nachbarschaftlichkeit und Freundschaft als auch der Gerechtigkeit und der Mäßigung. Eine synonyme Bezeichnung, die die Reichweite und Referenzialität von Mitgefühl am besten zum Ausdruck bringt, ist Menschlichkeit. Am Mitgefühl kann sich Menschlichkeit messen lassen. Diese Überlegungen führen zu dem Bezugskriterium, dass jede Tugend an »Menschlichkeit als Leitprin­ zip« gemessen werden müsste. Bereits qurʾānisch gibt es eine starke Betonung der geschwisterlichen Verbundenheit aller Muslime, die es zu stärken gelte, aber alle Menschen als Menschheit sind adres­ siert, Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu bewerkstelligen.879 Menschen sind aufeinander bezogen, das Gemeinwohl ist ihr Refe­ renzpunkt. Die Beschäftigung mit den Sorgen seiner Mitmenschen und das Einfühlen in diese (pers. hamdardī, arab. taʿāruf) kann die Entwicklung von Vertrauen, Respekt und im Zuge dessen Mitgefühl erst ermöglichen.880 Dasselbe lässt sich auch für jene religiöse Praktiken des wohltä­ tigen Handelns sagen, zu denen der Qurʾān und die Sunna aufrufen. Bei der Wohltätigkeit drückt das Mitgefühl Hilfsbereitschaft aus. Wohltätig zu sein, bildet in islamisch geprägten Ländern ein zentrales Strukturelement der Sozialität einer Gesellschaft ab881 und zugleich ist es gepaart mit Emotionen wie Mitgefühl, Liebe, Freundlichkeit und Demut – Emotionen, die ihren natürlichen Ort insbesondere in Überlieferungen der prophetischen und nachprophetischen sowie in Narrationen dieser Kulturen haben. Durch diese können Kinder und junge Heranwachsende Erfahrungen und Positionen darüber kennenlernen, was ethisch gut ist und was glücklich macht. Dadurch können sie eine Vorstellung davon erhalten, was u. a. auch Liebe, Freundschaft und Mitgefühl bedeutet und wie sie sich zeigen. Mitgefühl zu entwickeln, ist m. E. für das gelingende zwischen­ menschliche Miteinander eine zentrale Emotion. Mitgefühl ist, mit Martha Nussbaum gesprochen, die Grundvoraussetzung für das Zusammenleben mit anderen und entscheidende Basis für morali­ sches Handeln.882 Mitfühlend bzw. freundschaftlich und liebevoll Vgl. Q 49:9–13. Vgl. El-Fadl, When happiness fails, 117. 881 Vgl. Mahmud el-Wereny, Wohltätigkeit im Islam. Theologisch-rechtliche Grund­ lagen und interreligiöse Perspektiven. In: Hans-Georg Babke/Heiko Lamprecht, Islam-Erkundungen Einheit und Vielfalt muslimischen Selbstverständnisses zwi­ schen Tradition und Moderne, Berlin 2017, 99–127, hier 99. 882 Vgl. Martha Nussbaum, Upheavals of Thought, Cambridge 82008, 4 ff. 879

880

230 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

miteinander umzugehen setzt die Überzeugung voraus, dass ein anderer dieselbe Daseinsberechtigung hat wie wir, mit anderen zu kooperieren und auf andere Rücksicht zu nehmen.883 Das Gegenteil wäre die egoistische Konzentration des Menschen auf seine persön­ lichen Belange und Gefühle. Mit anderen leben zu können, setzt nach Nussbaum voraus, eine Einschätzung der Lage der anderen zu erhalten, um deren Bedürfnisse in Bezug auf ein gutes Leben ken­ nenzulernen, v. a. deswegen kennenzulernen, weil das Wohlergehen anderer ein wichtiger Bestandteil des Zusammenlebens darstellt.884 Ähnlich formuliert es Anita Allen in ihrem Buch über die Bedeutung von Ethik, »a lifelong quest to respond to others with a willingness to forego brazen self-interest«.885 Um dies bewerkstelligen zu können, bedarf es einer besonderen Form der Anteilnahme, nämlich des Mit­ gefühls. Den anderen in seiner Andersheit anzunehmen und die Welt mit den Augen des anderen betrachten zu können, setzt u. a. Mitgefühl voraus. Hierzu reicht allein Respekt als personale Grundhaltung nicht immer aus, denn Respekt kann sich zwar ehrlich, aber ebenso distanziert ausdrücken. Wenn Respekt mit positiven Bildern der Gerechtigkeit sowie Emotionen der Freundlichkeit oder Dankbar­ keit886 begleitet und verknüpft wird, kann eine andere Atmosphäre im Umgang miteinander entstehen. Um einen achtsamen Umgang in uns zu kultivieren, bedarf es m. E. der konstruktiven Emotionsdisposition des Mitgefühls. Um als Disposition kultiviert zu werden, ist die Erfah­ rung der Gemeinschaft der gemeinsamen Teilhabe an Lasten hilfreich. Durch das Einfühlen in die Bedürfnisse, Gefühle und Interessen anderer formiert sich aber noch keine moralische Persönlichkeit. Da Mitgefühl eine Sekundärtugend ist, bedarf es eines Zusammenspiels mit zumindest einer weiteren Tugend, wie der Klugheit. Sie hilft zu entscheiden, in welchem Maße jemand mitfühlend sein sollte und in welcher Form diesem Mitgefühl Ausdruck verliehen werden 883 Näheres hierzu siehe Giacomo Rizzolatti, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M. 2008. 884 Näheres hierzu Martha Nussbaum, Upheavals of Thought, Cambridge 82008. 885 Anita L. Allen, The new Ethics. A Guided Tour of the Twenty First Century Moral Landscape, New York 2004, 7. 886 Mit Blick auf die Dankbarkeit sei lediglich angemerkt, dass sie eine der nach­ weislich gesündesten Geisteshaltungen im Leben ist, da die Erfahrung der Reziprozität mit dem Glücksempfinden einhergeht – auch in islamisch-theologischer Perspektive. Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle: von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 124 f.

231 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

darf. Dies gilt auch, da es grundsätzlich möglich ist, Mitgefühl in unrichtigem Maße, gegenüber den falschen Personen oder in einer die Empfänger kränkenden Weise zu empfinden. Zu unterscheiden ist Mitgefühl von Empathie, sowohl emotiona­ ler Empathie als auch kognitiver. Während das Konzept der kognitiven Empathie das Verstehen der Emotionen, Gedanken und Gefühle des Gegenübers durch bewusste, kognitive Prozesse, aber keine Gefühl­ steilung bezeichnet, erhebt das Konzept der emotionalen Empathie den Anspruch, sich in den anderen Menschen einfühlen zu können, die Gefühle des Gegenübers teilen zu können, um so auch eine emotionale Reaktion auf das Gegenüber geben zu können. Dass das nicht immer funktionieren kann, liegt auf der Hand.887 Mit Paul Bloom teile ich ferner die Kritik, dass Empathie unseren moralischen Blick auf bestimmte Personen in der Gegenwart und auf unserer Blickweite verengt. Unsere moralischen Entscheidungen und Handlungen werden maßgeblich durch Empathie geformt. Bloom argumentiert, dass Empathie im Wesentlichen und unausweichlich partiell oder voreingenommen ist.888 Beim Mitgefühl liegt die Betonung auf der (einfühlsamen) Anteilnahme an Schmerz, Leid, Trauer oder Freude und dies ist erst möglich, wenn man imstande ist, tatsächlich mit-zu-fühlen, d. h., die empathische Reaktion, Gefühle unseres Gegenübers zu teilen, kann in Mitgefühl transformiert werden oder sich aber in empathiebedingter Erschöpfung ausdrücken.889 Mitgefühl scheint u. a. die Disposition zu sein, für einen (bspw.) traurigen Menschen teilnehmende Sorge zu empfinden und zugleich die Intention zu haben, in irgendeiner Form Leid zu lindern890, während empathische Menschen lediglich in der Lage sind, Dinge mit den Augen ihres Gegenübers zu sehen und sich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen. Dieser Vorgang kann neutral ablaufen, auch wenn man intuitiv mit Empathie etwas Positives assoziiert.

887 Ich denke da an schwangere Frauen. Eine Frau, die noch nie schwanger war, kann nicht das Gefühl des Schwanger-Seins wie eine werdende Mutter fühlen. Jemand kann bestenfalls eine Freude, Schmerz oder Trauer einfühlsam begleiten. 888 Vgl. Paul Bloom, Against Empathy, London 2017, 9. 889 Siehe hierzu Tania Singer/Matthias Bolz, Mitgefühl. In: Alltag und Forschung, Max Planck Society 2013. 890 Laut neurowissenschaftlichen Studien soll diese Haltung auch Selbstheilungspro­ zesse initiieren. Siehe Näheres dazu Kristin Neff, Self-Compassion, New York 2011.

232 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

Doch kann man tatsächlich mit den Augen des anderen Men­ schen sehen? Die Möglichkeit, Mitgefühl zu empfinden, hängt stark mit unserer Persönlichkeit zusammen sowie unseren Fähigkeiten, mit Emotionen und Situationen umgehen zu können. Die Fähigkeit, mit eigenen Emotionen umzugehen, ermöglicht das Erleben positiver sozialer Interaktionen und ist entscheidend für den Aufbau stabiler Beziehungen zu anderen Menschen. Hinzu kommt auch die Wahr­ nehmungsfähigkeit, die sich im Laufe des Lebens durch die eigenen Erfahrungen entwickelt. Vor diesem Hintergrund kann es manchen Menschen leichter fallen, sich in die Vorstellungs-, Gedanken- und Gefühlswelt ihres Gegenübers hineinzuversetzen und dessen Per­ spektive (vollständig) zu teilen, während es für andere Menschen schwerer ist, weil es ihnen an persönlichen Erfahrungen fehlt.891 Hat sich eine gemeinsame Denk- und Gefühlswelt (vielleicht auch trotz unterschiedlicher Realitätswahrnehmungen) hergestellt, fällt das Ich mit dem Du zusammen, d. h., das Ich entfremdet sich von seinem Selbst und wird durch Einfühlung zum Du. Das Ich verändert sich, da es in die Denk- und Gefühlswelt des anderen versetzt wird und dessen Stimmung teilt. Trotzdem ist eine Gradualität dieser Perspek­ tivenverschmelzung einzuräumen, in der die Verschmelzung von Ich und Du im engen Sinne zumeist in vertrauten Freundschaften oder romantischen Beziehungen stattfinden kann. Auch wenn das Ein- und Mitfühlen nicht nur bei Menschen, die einem sympathisch sind, mög­ lich ist,892 ist diese Fähigkeit in eine Prozesshaftigkeit eingebunden. Wenn man als Kind den Habitus des Mitgefühls sozialisationsbedingt entwickelt hat, ist das Einfühlen und Verstehen des Gefühlslebens der anderen grundsätzlich möglich. Mitgefühl scheint auch die Disposition dazu zu sein, prosozial, also menschenbezogen und aufrichtig interessiert zu handeln. Es weist eine Motivation auf, den Schmerz und das Leiden des anderen zu lindern oder auch seine Freude zu teilen. Der Mitfühlende ist lösungsorientiert; er kreiert und antizipiert Lösungen und macht sie nicht an Sympathien für die jeweilige Person abhängig. Hierzu muss der Einfühlende vollständig präsent sein. Reagiert ein Mensch allerdings mit empathiebedingter Erschöpfung, also einer ichbezo­ genen Haltung, bedeutet das, dass er von der eigenen Traurigkeit Vgl. Thomas Fischl, Mitgefühl – Mitleid – Barmherzigkeit: Ansätze von Empathie im 12. Jh., Mainz 2017, 14. 892 Vgl. Hans Walter Gruhle, Verstehen und Einfühlen: Gesammelte Schriften, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953, 283. 891

233 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

so überwältigt ist, dass er die Situation möglichst meidet und den schmerzempfindenden anderen alleine lässt. Im Zusammenhang von Mitgefühl spielt ebenso Achtsamkeit eine wichtige Rolle. Achtsamkeit ist die »praktizierte Empfindung von Achtung« und setzt »die innere Haltung empfundener Achtung« vor dem Gegenüber voraus und darf als »Element interpersonalen Handelns verstanden werden«.893 Achtsamkeit und Achtung sind damit ebenfalls prosoziale Emotionen. Mitgefühl ist folglich ein achtsames Gewahrwerden des anderen. Fühlt sich jemand ge- und beachtet, empfindet er sich als Mensch bemerkt und angenommen, denn wer selbst sein Umfeld beachtet, möchte in seinem Wesen ebenso beachtet werden. Der Moment der Beachtung, der Moment der In-Bezug-Setzung des anderen mit sich – auch wenn das anfäng­ lich wohl mit einem flüchtigen Blickkontakt beginnt –, ist wie eine ungefeierte Zeremonie des Entdecktseins, des Erkanntwerdens und des Bejahtseins, wohingegen grundsätzlich auch das aktive Moment, das frei von Entdecken und Erkennen ist, gedacht werden sollte. Es ist zugleich die Bejahung von Freiheit und Würde,894 denn wird das So-Sein nicht geachtet, kann das Ich nicht wirklich frei sein. In diesem Zusammenhang sei ein Diskurs aus der Lern- und Bildungsforschung exemplarisch genannt: die Bildung zur Achtsam­ keit in der Schule.895 Auf die Schule bezogen wird Achtsamkeit in Verbindung gebracht mit der Entwicklung sozio-emotionaler Kompe­ tenz, mit Stressreduktion, der Gesundheits- und Resilienzförderung von Lehrpersonen und Schüler*innen, der Steigerung von Konzen­ tration und Wohlbefinden.896 In dem Konzept der Pädagogin Vera Kaltwasser geht es um die Schulung der Fähigkeit der Selbstregula­ tion und Impulskontrolle, die auf einer mit der Zeit entwickelten Selbstwahrnehmung fußt. Mit Übungspraktiken, wie bspw. formaler 893 Jochen Schmidt, Achtsamkeit. Versuch zur Ethischen Theologie. In: Neue Zeit­ schrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 54, 1, (2012) Berlin, 23–38, hier 24 f. 894 Vgl. Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde. In: Ernst Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschenwürde. His­ torische Voraussetzungen, säkulare Gestalt, christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 295–314, hier 299. 895 Siehe hierzu Vera Kaltwasser, Achtsamkeit in der Schule. Stille-Inseln im Unter­ richt. Entspannung und Konzentration, Weinheim 2008. 896 Vgl. Ute Koglin/Franz Petermann, Kindergarten- und Grundschulalter: Entwick­ lungsrisiken und Entwicklungsabweichungen. In: Franz Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie, Göttingen 72013, 101–118.

234 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

Übungspraxis und Achtsamkeitsübungen, die sich problemlos in den Unterricht einbauen lassen, soll die Fähigkeit zur Präsenz entwickelt werden und die Wahrnehmung eigener eingefahrener Muster.897 Mit diesem Ansatz zielt sie insbesondere auf die Selbstbildung ab. Johann Baptist Metz prägte den Begriff der »Mystik der offenen Augen Gottes«,898 welche ich nicht nur in befreiungstheologischer Perspektive relevant finde, sondern auch mit Blick auf die Entwick­ lung von sozial-emotionaler Kompetenz. Das Einfühlen bedarf der Achtsamkeit, also des achtsamen Blickens auf sich selbst und andere. Wenn jedoch die Wahrnehmung des anderen Menschen, wenn also Achtung unmöglich geworden ist, deutet dies auf eine Selbstverfeh­ lung hin, von der der Mensch erst erlöst werden muss, damit »einge­ standene Verfehlungen, Missachtungen und Beschämungen den Blick nicht mehr bleischwer im Weg stehen, so dass die Sicht wieder frei werden kann«.899 Miskawayh betonte die kultivierende Dimension religiöser Pra­ xis, die die Mystiker in eine Hochform bringen. Vor diesem Hinter­ grund kann bspw. die Pflichtabgabe (zakāt) als mögliche Kultivie­ rungsübung sowohl der Handlungsdispositionen Gerechtigkeit und Freigiebigkeit als auch der Emotionsdisposition Mitgefühl erachtet werden.900 Mitgefühl kann folglich positive und gute Gefühle für den anderen und für sich aktivieren. Mitgefühl lässt sich mithilfe von Narrationen veranschaulichen. An dieser Stelle bietet es sich an, eine Narration aus der islamischen Tradition aufzuführen, die sich gut als Exempel eignet, um über Handlungs- und Emotionsdispositionen nachzudenken. Wie bereits dargelegt, gehört es zur traditionellen Lernform des Islam, anhand von religiösen Erzählungen personale und emotionale Grundhaltungen diskutierend (deliberierend) zu kul­ tivieren:

897 Vgl. Vera Kaltwasser, Persönlichkeit und Präsenz. Achtsamkeit im Lehrerberuf, Weinheim 22018, 10 f.; vgl. Irina Spiel, Empathie- und Compassion-Training. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Thiedemann (Hrsg.), Handbuch Philo­ sophie und Ethik, Bd. I, Paderborn 2017, 245–251, hier 246. 898 Siehe hierzu: Johann Baptist Metz, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Johann Reikerstorfer (Hrsg.), Freiburg i.Br. 22013. 899 Jochen Schmidt, Wahrgenommene Individualität, 97. 900 Mehr hierzu siehe Tuba Isik, Die Bedeutung des Gesandten Muḥammad für den Islamischen Religionsunterricht. Systematische und historische Reflexionen in reli­ gionspädagogischer Absicht, Paderborn 2015, 251 f.

235 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

Ein Mann kam auf seiner Reise an einem Dattelgarten vorbei, in dem eine schwarze Sklavin arbeitete. Nach ihrer Arbeit erhielt sie 3 Laibe Brote. Der Mann beobachtete, dass sich der Sklavin währenddessen ein Hund näherte. Die Sklavin gab dem Hund einen Laib Brot zu fressen. Dann gab sie ihm den zweiten Laib, den der Hund genüsslich fraß. Schließlich gab sie ihm auch das letzte Stück. Daraufhin sprach der Mann die Sklavin an und fragte sie: »Was ist dein Tageslohn?« Die Sklavin antwortete: »Wie Sie sahen: 3 Laibe Brot.« »Warum hast Du dann alle drei dem Hund zum Fressen gegeben?« Sie sagte: »Hier kam noch nie ein Hund vorbei. Dieser Hund muss von Weitem gekommen sein. Ich konnte nicht mitansehen, dass er so hungrig ist.« Daraufhin fragte der Mann: »Gut, aber was wirst Du heute essen?« »Ich werde geduldig sein, denn ich habe mein heutiges Recht auf 3 Laibe Brot an dieses Geschöpf abgegeben.« Der Mann dachte sich: »Siehe an, und ich dachte, dass ich sehr großzügig sei. Wahrhaftig, diese Sklavin ist großzügiger als ich!« Anschließend kaufte der Mann die Sklavin und den Dattelgarten. Er ließ die Sklavin frei und überließ ihr den Garten.901

Zum einen lassen sich am Verhalten der Sklavin viele personale Eigenschaften und Haltungen ablesen, die einerseits das entscheidend Islamische verdeutlichen und andererseits die Möglichkeit bieten, über Differenzen zwischen dem aristotelisch gefärbten islamischen Tugendverständnis und Aristoteles’ Verständnis selbst zu diskutieren und sie in ein Gespräch zu bringen. Zu diesen personalen Eigenschaf­ ten gehören Großherzigkeit, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Geduld, Aufrichtigkeit und Altruismus. Die diese Eigenschaften steuernde zentrale Emotion ist allerdings das Mitgefühl. Der Erzählung liegen zwei differierende Vorstellungen von Frei­ gebigkeit zugrunde. Das Verhalten des Mannes, den Garten zu kaufen und die Sklavin freizukaufen, um ihr dann den Garten zu schenken, ist recht tugendhaft. Der Mann schöpft seine Großzügigkeit aus seinem offensichtlich großen Vermögen, während aber die Sklavin aus dem Nichts gibt. Aus dem Wenigen zu geben, gründet einerseits auf einem tiefen Vertrauen in die Welt oder Gott, andererseits weist es ein hohes Maß an Abwägungsroutine sowie Urteilskraft auf, die aus Achtsamkeit und Mitgefühl herrühren. Ihr Verhalten ist also weder gespielt noch berechnend. Der Mann ist von ihrem Verhalten und ihrer aufrichtigen Haltung überwältigt und so beeindruckt, dass Vgl. Gazâlî, Kimyâ-yı Saâdet, Istanbul 1977, 467. Strittig ist, um wen es sich bei diesem Reisenden gehandelt haben soll, ʿAbdullah bin Ǧaʿfār oder Imām Zayn alʿĀbidīn. 901

236 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

er sie befreit. Wie hätte wohl Aristoteles die Handlung der Sklavin und ihre Haltung bewertet? Nach seiner Mesotes-Lehre dürfte die Sklavin die angemessene Mitte verfehlt und eine extreme Haltung an den Tag gelegt haben, denn sie hätte auch nur ein Brot verschenken können; dann wären sowohl der Hund als auch sie satt geworden. Zudem hätte Aristoteles ihre Haltung und ihr Handeln wohl als Resultat einer unsachgemäßen Abwägung der Umgebungsvariablen und als Übermaß erachtet. Die Sklavin bringt sich nämlich durch ein überdurchschnittliches Geben in Lebensgefahr. Dieser Delibera­ tion fehlt nach Aristoteles auch die Vernunfttugend Klugheit als Referenzkriterium. Die Klugheit ist in der Rolle eines Betrachters, der die innere Zielbestimmung anderer Tugenden koordiniert, da sie auf das Vermögen der Phronesis verweist, moralische Regeln situationsgemäß anzuwenden,902 und im Zusammenspiel mit den Charaktertugenden eine wesentliche Rolle besitzt.903 »Solche Wahlen verlangen ein Urteil und die Ausübung der Tugenden erfordert daher die Fähigkeit zu urteilen und am richtigen Ort zur richtigen Zeit in der richtigen Weise das Richtige zu tun.«904 Auch Arendt formte die aristotelische Phronesis-Lehre zu einer Theorie der Urteilskraft. Ihr zufolge dürfte die Sklavin ein schwaches Urteilsvermögen an den Tag gelegt haben. Denn die wirklich tugendhaft Handelnde handelt auf der Grundlage eines rationalen Urteils als Konsequenz einer bewussten Wahrnehmung und Abwägung. Nach der Motivation der Sklavin gefragt, ist ihre Antwort: Mitgefühl (in diesem Fall Mitleid) und Gottvertrauen. Dieses Mitgefühl tritt in Erscheinung, d. h., diese Emotionsdisposition zeigt sich in einer ganz bestimmten Weise. Emotionen können sich »atmosphärisch« auswirken.905 Sie gibt freundlich, liebevoll und fürsorglich. Daran wird sie moralisch bewertet und beeindruckt durch ihr Beispiel. Diese Haltung lässt sich als eine theologische Tugend bezeich­ nen, die als īṯār (arab.) bekannt ist. Iṯār ist eine potenzierte Spiel­ art der Perspektivübernahme. Sie ist die höchstmögliche Form der Auflösung der Differenz zwischen Ich und Du. Das mit dem Du Vgl. Schmidt, Unveröffentlichtes Manuskript: Glaube und Charakter (2016). Vgl. Hähnel, Das Ethos der Ethik, 71. 904 MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/New York 2006, 202. 905 Zum Begriff »atmosphärisch« siehe: Johannes Fischer, Emotionen und die reli­ giöse Dimension der Moral. In: Roderich Barth/Christopher Zarnow (Hrsg.), Theo­ logie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 191–205, hier 195. 902

903

237 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

verbundene Ich erfährt eine solche Einheit, dass das Wohl des anderen zugleich als das eigene erkannt wird. Damit ist der andere nicht mehr der andere, dessen Wohl an erster Stelle gesetzt wird, sondern er selbst, d. h., die Differenz hebt sich auf, sodass das Ich sich im Du auflöst.906 Insbesondere der frühe Sufi al-Nurī wurde in Biografien für diese Haltung sehr gelobt.907 Sie erfordert neben Mitgefühl das Zusammenspiel von weiteren Tugenden, die ich eher als theologische Tugenden klassifizieren würde: Liebe und Vertrauen. Mit Blick auf diese beiden Tugenden lässt sich īṯār daher auch nicht als Altruismus übersetzen. Während der Altruismus nämlich versucht, ein Ziel zu erreichen, hat Liebe das ihre gefunden. In den aḫlāq-Werken ist īṯār ausschließlich als Sekundärtugend anzutreffen. Darin wird sie als umfassende Realisation von Dispo­ sitionen wie Mitgefühl, Liebe, Großzügigkeit und Vertrauen darge­ stellt. Das Geben aus dem Nichts ist eine Ausdrucksform dieser Haltung, die Bedürfnisse des anderen vorzuziehen, denn ihre Motiva­ tion fußt auf der Liebe zu Gott. Dass Kinder lernen, dass die Welt sich nicht nur um die eigene Person dreht und dass die eigenen Interessen, Wünsche und Aktivitäten auch hintangestellt werden (sollten/müssen/können), gehört zu diesem Lernprozess. Wie kön­ nen die Gefühle des anderen (besser) verstanden werden, wie kann jemand sich in andere hineinversetzen? Der Schulkontext bietet viele Gelegenheiten, mitfühlendes Verhalten zu üben und die Perspektiven anderer zu übernehmen.

2.4 Freundschaft Freundschaft (griech. philia, arab. sadāqa) werde ich ausschließlich auf ihre Wichtigkeit für ein gutes und gelingendes Leben einer gene­ rellen Betrachtung unterziehen und Freundschaftsformen sowie ihre genderspezifischen Möglichkeiten u.w. ausklammern. Für meinen Kontext ist zu diskutieren, welcher Aspekte eine Freundschaft für ein gelingendes Leben miteinander bedarf. In der arabischen Übersetzung der NE werden die Begriffe maḥabba und sadāqa abwechselnd und synonym benutzt. Mit dieser abwechselnden Verwendung tritt an Vgl. Q 59:9. Vgl. Schimmel, Abū’l-Husayn al-Nūrī, 60; zu den Biografien der bereits erwähn­ ten Werke siehe: Sulamī, Tabaqāt al-sufiyya und Abū Nuʿaym, Ḥilyāt al-awliyāʾ. 906

907

238 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

bestimmten Stellen die Dimension der Liebe (maḥabba) in den Vor­ dergrund, die bereits in der NE hergestellt ist.908 Das ureigene Motiv von Freundschaft ist Liebe. Nach Aristoteles, der in seinem achten Buch der NE Freundschaft als Primärtugend thematisiert, stellt Freundschaft das Notwendigste im Leben dar, weil niemand ohne Freunde leben möchte, auch wenn man alle Güter besäße.909 In ihrer Plausibilität scheint diese Behaup­ tung keine philosophische Argumentation zu benötigen, da es wohl jeden Menschen glücklich macht, eine Freundin/einen Freund zu haben und nicht allein in der Welt zu stehen.910 Freundschaft ist nicht nur eine Tugend,911 sondern auch ein besonderes Gut und ein Selbstzweck. Nach Aristoteles verhalten sich Menschen zueinander nicht freundschaftlich, weil sie sich einen Vorteil oder Nutzen daraus versprechen – sofern ihr Bezugsrahmen Respekt und Liebe ist.912 Das Konzept der Freundschaft kann wie ein Axiom des glücklichen Lebens gedeutet werden. Sie wird selbst zur notwendigen Bedingung ihrer selbst. Freundschaft als Tugend ist die Disposition zur Fähigkeit, Freundschaft zu schließen und aufrechtzuerhalten. Mit Aristoteles betonen auch Ibn Abī l-Dunyā, Miskawayh und Ġazālī die soziale Funktion von Freundschaft, insofern Freundschaft Geselligkeit und Umgänglichkeit bedeute.913 Vor allem im Werk von Ibn Abī l-Dunyā wurde die Vehemenz von Freundschaft sowie Nachbarschaftlichkeit nicht nur durch die prophetischen Aussagen sehr deutlich, sondern durch die vielen Narrationen der Nachfolge­ generationen. Darin wird der Freund/die Freundin unmittelbar in das Zentrum des Interaktionsgeschehens gestellt und priorisiert. Wenn auch Freundschaft sich in ihrer expliziten Erwähnung von der Nachbarschaftlichkeit darin unterscheidet, dass sie einerseits Freundschaften unter Gleichen im engeren Sinne ist, kann sich Nach­ 908 Vgl. Topkara, Umriss, 164; vgl. auch Ullmann, Die Nikomachische Ethik, Teil 1, 97. 909 Vgl. NE 1154b. 910 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im weiteren Textverlauf die männliche Form gewählt. 911 »Denn sie [Freundschaft] ist eine bestimmte Tugend (aretē) oder mit Tugend verbunden, zudem ist sie äußerst notwendig für das Leben.« NE 1154b. 912 Vgl. NE 1155a 3 f. 913 Vgl. Lenn E. Goodman, Friendship in Aristotle, Miskawayh and al-Ġazālīālī. In: Oliver Leaman (ed.), Friendship East and West: philosophical perspectives, Richmond 1996, 164–191, hier 176, 181.

239 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

barschaftlichkeit auf viele persönliche Zugehörigkeiten, Beziehungen und institutionelle Formen beziehen.914 Die Tugend Freundschaft wie auch Liebe erscheinen gemeinsam als die Grundlage aller Tugenden und laufen auf die Menschenliebe hinaus. Ohne diese grundsätzliche Menschenliebe ist ein gesellschaft­ liches Zusammenleben unmöglich. In diesem Sinne leistet die Kulti­ vierung freundschaftlicher Haltungen einen maßgebenden Beitrag zum Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Soziabilität ist für die Denker*innen Indiz eines guten Charakters.915 Reziproke Zusam­ menarbeit unter Menschen im sozialen Raum scheint ein gutes Feld zu bilden, auf dem Freundschaft entstehen und gedeihen kann.916 Freundschaft als Möglichkeit, Menschen menschlich und zugleich in Freiheit zu verbinden, ist wohl der schönstmögliche Ausdruck ethischer Reife. Freiheit ist mit Verantwortung gepaart. Die beständigste Freundschaft besteht nämlich zwischen Tugendhaften bzw. wo sich Freunde in ihrer Tugendhaftigkeit gleichen. Freundschaft nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst wird zu einer wohlwollenden Haltung zur Mitwelt und dem selbst gegenüber. Um wirklich wohlwollend sein zu können, bedarf es einer klaren Entscheidung hierfür. Der tugendhafte Mensch bringt seinem Freund dahingehend Wohlwollen entgegen, dass er sich mit seinem Freund identifiziert und er glücklich ist, wenn der Freund glücklich, und traurig, wenn der Freund traurig ist.917 Ein echter Freund wird als ein »zweites Selbst« empfunden, das man wie sich selbst respektiert und schützt.918 »Dass der andere mir wichtig ist, bezieht die Dimension des Lobes und der Zurechtweisung ein.«919 Freundschaft impliziert folglich die Offenheit für freundschaftliche Kritik. Freundschaft als Anerkennungsverhältnis bedeutet dementsprechend, den anderen in seiner Partikularität, in seinem speziellen Anderssein zu achten und zu respektieren. Die Prämissen für reziproke Anerkennung, um Freundschaft überhaupt entstehen zu lassen, liegen in der Annahme der prinzi­ Vgl. Nathalie von Siemens, Aristoteles über Freundschaft. Untersuchungen zur Nikomachischen Ethik VIII und IX, Freiburg 2007, 38 f.; vgl. auch Höffe, Art. philia/ Freundschaft, Liebe, 446. 915 Vgl. ebd., 180 f. 916 Vgl. ebd., 170. 917 Elizabeth M. Bucar, Islamic Virtue Ethics. In: Nancy E. Snow, Oxford Handbook of Virtue, Oxford 2018, 206–223, hier 221. 918 Vgl. NE 1166a, 32. 919 Hähnel, Ethos der Ethik, 264. 914

240 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

2. Vier mögliche Tugenden

piellen Verstehbarkeit des anderen und der Bereitschaft, diese im Kennenlernen und Zuhören zu realisieren. Ein wichtiger Aspekt, den Freire verdeutlichen möchte, ist das Zuhören, denn Freundschaft gründet auf Zuhören. Die Ablehnung von anderen gründet oft auf Verständnisproblemen, die daher rühren, dass man einander nicht wirklich zuhört, in der eigenen Haltung verharrt sowie an der Über­ zeugung festhält, dass man den anderen ohnehin nicht verstehen könne. Mit der Begegnung ist der Mensch angerufen und aufgerufen, auf den anderen einzugehen, auf ihn zu hören. Mit Blick auf die Frage, welche Art von Freundschaft die wün­ schenswerte ist, spielt die Intention eine entscheidende Rolle. Die Freundschaft des Freundes wegen ist entscheidend.920 In dieser Art von Freundschaft wollen Freunde einander gleichmäßig das Gute. Derartige Freundschaften sind selten, denn es bedarf einer langen Zeit der Gewöhnung, bis man sich einander als zuverlässig, angenehm und liebenswert erwiesen hat. Denn Freundschaft ist eine vorausset­ zungsreiche und komplexe soziale Form der Beziehung. Für den öffentlichen Raum darf der Aspekt nicht übersehen werden, dass eine Freundschaft im hier beschriebenen Sinn ein Ereignis bleibt, das sich bei aller strukturellen Einbindung der Planbarkeit und Verfügbarkeit entzieht; Freundschaften entstehen oder sie entstehen nicht. Niemals können alle Teilhaber einer Gesellschaft miteinander befreundet sein. Individuelle Freundschaften, die Milieus, soziale Unterschiede und Communitys überwinden, müssen letztlich als exemplarische Brü­ ckenköpfe wirken und Begegnungen ermöglichen. Als Modell für das Aushandeln aller gesellschaftlichen Konflikte kann Freundschaft m. E. aber nicht dienen, zumindest als eine Idealvorstellung jedoch motivie­ ren. Abschließend ist festzuhalten, dass nicht nur der demografi­ sche Wandel, die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die immer loser werdenden Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch neue Formate von Freundschaften wie in den sozialen Medien die Beschäf­ tigung mit dieser Beziehungsform notwendig machen.921

920 Für Aristoteles ist die Freundschaft des gegenseitigen Wohlwollens die vollkom­ menste der Freundschaften. 921 Zu einer soziologischen Betrachtung des Phänomens Freundschaft siehe: Janosch Schobin et al., Freundschaft heute: Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie, Bielefeld 2016.

241 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik In diesem abschließenden Abschnitt soll fundiert werden, was die Reflexionsdimension der Tugend in den aktuellen Bildungsdiskurs einzubringen und zu einer Erweiterung des Bildungsverständnisses beizutragen vermag. Hierzu lässt sich nichts Abschließendes sagen, aber eine grundsätzliche Richtung andeuten. Tugendtheoretisch ist das Streben nach einem gelingenden Leben mit der Fähigkeit des Menschen verbunden, ein moralisch besserer Mensch zu werden, d. h. Tugenden zu entwickeln und aus­ zuüben. Wenn sich nun Bildung ganzheitlich auf den Menschen bezieht, sollte die ethische Bildungsdimension, die m. E. zu kurz kommt, denselben Stellenwert wie die kognitive Bildungsdimension erhalten.922 Das Grundelement dieser Dimension sehe ich im Erwerb von erstrebenswerten personalen Eigenschaften und Haltungen, die den Menschen so disponieren, dass er auf die bestmögliche Weise reagieren kann. Die Tugenden, die den Koordinierungsrahmen für die ethische Bildungsdimension ausmachen und den Menschen in seiner kritischen Selbstwahrnehmung anleiten, habe ich als Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Freundschaft und Mitgefühl diskutiert – wobei unter der Prämisse der Entwicklung einer Moralkultur der Mitmenschlich­ keit sicherlich noch weitere Sekundärtugenden genannt werden könn­ ten. Für den bildungswissenschaftlichen Kontext stellt sich etwa in Bezug auf die Schule die Herausforderung, dem Auftrag der Per­ sönlichkeitsentwicklung insofern gerecht zu werden, indem Möglich­ keiten und Hilfestellungen angeboten werden, um erstrebenswerte personale Eigenschaften ausbilden zu können. Das Sozialisationsum­ feld der Schule ist ein guter Nährboden für die Herausbildung von ethisch wünschenswerten Charaktereigenschaften und somit auch das Erfahrungsmuster, das nach Joas insbesondere im Blick auf die Werteerziehung einen wichtigen Aspekt darstellen. In Anlehnung an Aristoteles können Charaktertugenden am besten aus der Gewöhnung an eine entsprechende Praxis entstehen Vgl. Julian Nida-Rümelin, Die physische Dimension der Bildung. In: Michael Krüger/Nils Neuber (Hg.), Bildung im Sport, Beiträge zu einer zeitgemäßen Bil­ dungsdebatte, Wiesbaden 2011, 17–35, hier 23.

922

242 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik

und zur Entwicklung integrer Subjekte verleiten.923 Ein Impuls aus der mystischen Tradition für die tugendtheoretische Diskussion war der Blick auf das Verhältnis von Körper und Seele und in dieser Verflechtung konkret die Körperwahrnehmung. Es hat sich herausge­ stellt, dass sich Habitualisierungen im und am Körper auf das Selbst auswirken. Äußere, vor allem ästhetische Übungen besitzen aufgrund ihrer Erfahrungsweise eine Formkraft für die Innenwelt, wenn sie nicht auf ihre praktische Bedeutung eingeengt werden. Ästhetische Übungen sowie die sinnlichen Erfahrungen des Ästhetischen selbst können folglich helfen, die moralisch kompetente Wahrnehmung des eigenen Selbst zu kultivieren. »Ästhetische Erziehung beruht damit auf der Einübung eines Wahr­ nehmens sowie der darin enthaltenen Möglichkeiten, einer Einübung, der ein Genusscharakter ebenso innewohnt wie eine Wahrnehmungs­ kritik.«924

Für das Bildungsverständnis leiten sich hiervon zwei wichtige Impulse ab: erstens die Unverzichtbarkeit ästhetisch-kultureller Bildungspro­ zesse für die schulische Bildung im Rahmen einer Bildungstheorie. Der grundlegende Beitrag aus dem religiösen Bereich war die reli­ giöse Praxis, Körperpraktiken sowie Bereiche der Musik und Kunst, die sowohl die sinnliche als auch rituelle und damit die leibliche Dimension von Religion und religiöser Bildung betonen als auch die sinnliche Wahrnehmung als Ermöglichungspotenzial verstehen.925 Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass Gegenstände ästhetischkultureller Bildung Prozesse von (Selbst-)Bildung initiieren können. Vor dem Hintergrund, dass im tugendethischen Diskurs der Erwerb von Tugenden hauptsächlich auf ästhetischen Wegen angeregt wurde, 923 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013, 171 f.; vgl. NE 1103a, 21–22, 23–25. 924 Hartmut von Hentig, Allgemeine Lernziele der Gesamtschule. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 12, Stutt­ gart 1969, 29. Näheres hierzu siehe Stefan Altmeyer, Von der Wahrnehmung zum Ausdruck: zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen, Stuttgart 2006. 925 Musizieren wie auch das Singenlernen können nicht nur die geistige, kognitive, soziale, seelische und motorische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen fördern, sondern sie auch erbauen, kultivieren sowie die Weiterentwicklung von sinnlichen Fähigkeiten unterstützen. Vgl. Caroline Hopf, »Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten« – Musikalische Bildung als Herausforderung im Medienzeitalter. In: Leopold Klepacki/Andreas Schröer/Jörg Zirfas (Hrsg.), Der Alltag der Kultivierung. Studien zu Schule, Kunst und Bildung, Münster 2009, 207–215, hier 208.

243 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

lässt sich mit dem Kompositum Tugendästhetik diesem Phänomen wohl gerecht werden. Dieses Konzept der Tugendästhetik bedeutet eine Verbindung von zwei Vorstellungen: die ästhetische Tugendethik und die Ästhetik der Tugend. Letztere besagt, dass in der Ausdrucks­ form einer Tugend die Ästhetik den Referenzrahmen bildet. Am Beispiel der Freundschaft lässt sich das wie folgt exemplifizieren. Möchte eine Freundin ihre Freundin auf etwas aufmerksam machen, dass ihr unbestreitbar schadet, stehen ihr viele kommunikative Mög­ lichkeiten zur Verfügung. Eine Ästhetik der Tugend würde in einer Form erkennbar werden, die Anmut besitzt, d.h. schön in ihrer Ausführung ist und das Gegenüber weder kränkt noch beschämt. Eine ästhetische Tugendethik impliziert all jene Medien, wie bspw. die Literatur, in denen Tugenden durch Erzählungen oder Prosa vermittelt werden – wie am Beispiel von Abī l-Dunyā und vieler anderer adab-Werke deutlich wurde. Hierin kann die Ästhetik eine Kraft ausdrücken, in der das Gute eingeübt wird und wodurch das Gute in seiner ästhetischen Form äußerlich erkennbar wird. Das heißt, eine ästhetische Tugendethik betont die Bedeutsamkeit des äußeren, ästhetischen Verhaltens für das Innenleben und vice versa. Die innere, schöne und gute Haltung hat eine Auswirkung auf die äußerliche Handlungsform des Tugendhaften. Demnach hebt eine tugendästhetische Bildungspraxis auf eine wahrnehmungs- und gestaltungsbetonte Dimensionen von Bildungs­ prozessen ab. Besonders Literatur, Musik und Bildende Kunst kön­ nen ästhetische Erfahrungsräume eröffnen, in denen Kinder und Jugendliche sich sowohl reiben können als auch Sinn-, Deutungsund Empfindungswelten generieren. In diesem Sinne bietet deswe­ gen nicht nur ästhetisch-kulturelle, sondern auch religiöse Bildung wichtige Potenziale für die Persönlichkeitsbildung. Die Beschäftigung mit Künsten im weitesten Sinne kann den Menschen kultivieren. Das Erlernen eines Instruments bspw. schult nicht nur kognitive und körperliche Fähigkeiten, sondern auch sinnliche und personale Fähigkeiten, da Bewegung und Koordination, Fühlen und Tasten, Hören und Sehen beim Musizieren sehr intensiv miteinander verbun­ den sind. Ein Instrument zu beherrschen, führt sukzessive zu einer filigranen Körperbeherrschung, die sich jedoch nur im reflektierenden Zusammenspiel der Sinne einstellen kann. Das konsistente Üben eines Instrumentes trainiert zugleich auch das Vermögen der Geduld und lehrt jemanden, an einer Sache beständig dranzubleiben. Dieses Verhalten lehrt, die Motivation nicht zu verlieren und allzu schnell

244 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik

aufzugeben. Auch in diesem Lernprozess lernt der Mensch sich besser kennen; innere Widerstände tun sich auf oder Motive der Unlust zeichnen sich ab. Das beständige Einübung kann helfen, Unlust und innere Sperrigkeit aufzulösen. Dies bedarf der langen Übung und Ausdauer, die mit der Zeit ein Gefühl von Gleichgewicht und Balance vermitteln. Dadurch erwirbt der Musizierende ein gewisses Maß an Harmonie, Einklang und Gemütsruhe. Es ließen sich noch viele weitere Eigenschaften aufführen wie Achtsamkeit, Besonnenheit oder Taktgefühl, die sich durch das Spielenlernen trainieren lassen. Über die ästhetische Auseinandersetzung mit der Welt lernen Kinder und Jugendliche neue Perspektiven auf die Welt sowie sich selbst als auch ihre Potenziale besser kennen. Auf diese Weise können sie ihre Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen weiterentwi­ ckeln und stärken. Der zweite Impuls folgt aus dem ersten und verweist auf eine stärkere Einbeziehung von Körper und Bewegung in Bildungs­ prozessen respektive handlungsorientierten Unterrichtssettings, in denen Kopf und Körper unter der Beteiligung der Sinne zusammen­ wirken.926 Vor allem Gefühlswahrnehmungen und -veränderungen können durch Übungen so geschult werden, dass unangenehme Lebensumstände und -situationen einfacher akzeptiert werden.927 Beispielsweise ist das wertfreie Wahrnehmen und Beschreiben von Ereignissen eine sehr wichtige erste Fertigkeit dieser Art. Mitunter können auch Entspannungs- oder Achtsamkeitsübungen in Anbe­ tracht audiovisueller Überflutung von Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich ihrer selbst und der anderen, ihrer Gefühle, aber

Für eine ganzheitliche Bildung, die sowohl kognitiv-intellektuelle wie auch körperliche und affektiv-emotionale Aspekte berücksichtigt, ist es wichtig, dass die verschiedenen Fachbereiche in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Unterschiedliche Ansätze markieren den bildungstheoretischen Diskurs, der die Körper-Leib Dimension in der Bildung betont. Siehe dazu: Tobias Haas, Leib-körper­ liche Dimensionen von Bildung: Sichtweisen auf verborgene Aspekte im schulischen Kontext, Berlin 2018; vgl. Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung. 927 Wie bereits im 2. Kapitel ausgeführt, sind Gefühle wichtige Motivatoren und Triebfedern für unser Denken und Handeln. Kinder befinden sich bis zu ihrem Schul­ alter in der emotionalen Entwicklungsphase und bedürfen der Unterstützung, mit Gefühlen umzugehen und sie eigenständig zu regulieren als auch Gefühlsausdrücke anderer zu erkennen und zu verstehen. 926

245 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

auch der Vielfalt der Seins- und Handlungsoptionen gewahr und bewusst zu werden.928 Immerhin dürfte deutlich geworden sein, dass Wertbegriffen oder Tugenden wie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit oder Achtung nicht etwas Autoritäres anhaftet, solange sie nicht als Handlungsanweisun­ gen verstanden werden 929 Im Zusammenhang mit dem Kompetenz­ diskurs ist erkennbar geworden, dass Kompetenz eine »Schrumpf­ form«930 der Tugend darstellt und die wichtigste Dimension des Tugendbegriffes tatsächlich nicht erfasst, nämlich die moralische Verfassung des Menschen. Aus der Einsicht, was einen guten Cha­ rakter ausmacht, können sich moralisch wünschenswerte Haltungen, Überzeugungen und Eigenschaften ableiten, die ein rechtes Verhalten zur Konsequenz haben.931 Dieser Aspekt sollte in der ethischen Bildungsdimension eine stärkere Auswirkung haben bzw. sie konsti­ tutiv umgestalten. Anregungen der religiösen Einbettung des moralischen Perso­ nen-Seins in Narrationen als eine Art Moralpredigten in pädagogi­ schem Gewande abzutun, würde das Potenzial dieser Narrationen sowie den Ansatz der Narrativen Ethik völlig verkennen. Denn ganz im Gegenteil geht es hierbei weder um einen Werteappell noch um eine unmittelbare Wertevermittlung noch um die Vermittlung einer bestimmten moralischen Vorstellung noch vorrangig um die Vermittlung von Wissen, sondern um Narrative, die zu einer Haltung anstiften und in denen Werturteile in ihren konkreten lebensweltli­ chen Zusammenhängen zum Anlass von eigener vernunftgemäßer Reflexion werden. Ob diese Lernsettings unbedingt in einem Ethik-, Philosophie-, Kunst-, Musik- oder Religionsunterricht stattfinden sollten, möchte ich offen lassen, also ich möchte diese Lernprozesse keinem bestimmten Fach zuordnen.932 Denn der gesamte Schulkon­ Allerdings verlangen diese Übungen oder Körperpraktiken beständiges Training und Wiederholung, um ihre Wirkung entfalten und zu einer Gewohnheit ausreifen zu können. Die Umsetzbarkeit im Schulkontext mag auf den ersten Blick sehr kompliziert erscheinen, doch gibt es im musischen und bildnerischen Fachbereich, im Religionssowie Ethik- oder Philosophieunterricht u. w. optimale Möglichkeiten. 929 Vgl. Reinhold Mokrosch, Werte-Erziehung und Schule: Ein Handbuch für Unter­ richtende, Göttingen 2009, 122. 930 Zum Ausdruck »Schrumpfform« siehe Nida-Rümelin, Philosophie einer huma­ nen Bildung, 163. 931 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, 171. 932 Allzu schnell lassen sich Schulprojekte finden, die über Jahre hinweg mit Tugend(karten) arbeiten und die den gesamten Schulalltag und die Schulgemeinde als Ganzes 928

246 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

3. Überlegungen über den Bildungsdiskurs im Horizont von Tugendethik

text eignet sich durchaus mit seinem typischen, konfliktlastigen Schulalltag ebenfalls sehr gut, um Reflexionen über eigene Haltungen und personale Eigenschaften in Gang zu setzen – sofern diese von geschulten Lehrkräften entsprechend initiiert werden können. Die Thematisierung und Behandlung des Selbst in den tugende­ thischen Diskursen der islamischen Traditionen hat als Moralvorstel­ lungen einer Verantwortungsethik die Verantwortung für den Men­ schen und die Umwelt erkennbar werden lassen. Ohne dass ich mich in den Explikationen der vielschichtigen Verantwortungsbegriffe ver­ liere, soll Verantwortung im Sinn der Frage nach der rechten Lebens­ gestaltung verstanden werden. Verantwortung ist die Betonung der Tugend Menschlichkeit. Verantwortung ist damit im weitesten Sinne die Sorge und das Mitgefühl, wie sie in der Solidargemeinschaft zum Tragen kommen. Der Verantwortungsbegriff korreliert dabei zwar mit einer guten Lebensform, ist allerdings etwas radikaler, insofern dem anderen, seiner Lebensform und seinem Wohl Priorität vor sich selbst eingeräumt wird. Dies tut der tugendhafte Mensch um der Verwirklichung seines Menschseins willen, weil er Verantwortung als Teil seiner aretē begreift. In potenziellen Konfliktsituationen wird der Mensch lösungsorientiert vorgehen, denn er wird sich am Guten orientieren und die bestmögliche Lösung zu finden versuchen, die sowohl ihn selbst als auch sein Gegenüber glücklich stimmt, d. h., der Verantwortungsfaktor schult mithin das Urteilsvermögen. Die Beurteilungsinstanz der individuellen Verantwortung ist das eigene Gewissen, welches für viele religiöse Menschen in der Idee einer gött­ lichen Instanz mündet. Für die Kultur des Miteinanders ist insgesamt die Gradualität der tugendethischen Impulse zu betonen, die sich vom Einzelnen und seinem Umfeld auf die Gesellschaft auswirken können. Der religiös appellative Impuls, sich selbst zu erkennen, um Gott erkennen zu können, dürfte der Schwierigkeit in Humboldts Bildungsverständnis, dass der Antrieb aus dem Einzelnen selbst herauskommen müsse, positiv entgegenwirken: Religion kann eine motivierende Kraft darstellen, die den Menschen aus seiner Bequem­ lichkeit herausreißt.933 Der islamische Glaube kann den Wunsch wecken und die Menschen dazu reizen, durch die Bildung der eigenen Kräfte mehr Freiheit zu verwirklichen. Mit dieser Freiheit bleibt die prägt, weil die Thematisierung von Tugenden in ihren spezifischen Kontexten allge­ genwärtig ist. Siehe www.tugendprojekt.de. 933 In diesem Sinne bietet sich die Thematisierung der Tugenden im islamischen Religionsunterricht sehr gut an.

247 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

bewusste Wahrnehmung und Betrachtung der Umstände, vor allem aber der andere als primärer Orientierungspunkt im Abwägungspro­ zess des »Wie-man-sein-möchte« unerlässlich. Die eigene Freiheit findet ihre Grenzen nämlich in den Lebensinteressen des je anderen, wobei Aufrichtigkeit, Freundschaft und Respekt als Koordinaten hier­ für dienen können. Hierzu lädt eine religiös motivierte Ethik, die sich als eine tugendästhetische Lebensform versteht, ein.

4. Impulse für eine zeitgemäße Islamische Religionspädagogik in Deutschland Das tugendethische Denken in der islamischen Geistesgeschichte seit dem 9. Jahrhundert bietet für den hiesigen Kontext grundlegende Anknüpfungspunkte für die Konzipierung einer zeitgemäßen Islami­ schen Religionspädagogik für den schulischen Kontext. Ich werde mich in diesem begrenzten Rahmen auf zwei Impulse konzentrieren, die miteinander eng verknüpft sind. Der erste Impuls ist betitelt als Theologisch-Anthropologischer Anspruch und der zweite als Ethische Dimensionierung religiöser Bildungsinhalte. Die Beschäftigung mit dem Seelenleben und der Konzepte ihrer Kultivierung hat u.a. die ambivalente Verfassung des Menschen vor Augen geführt. Der theologisch anthropologische Anspruch referiert auf diesen Aspekt wie auch auf die Kalifen-Rolle, die in dieser Arbeit bereits angeklungen ist. Der Mensch, der aufgrund seiner natürlichen Veranlagung, sowohl zum Guten als auch zum Schlechten neigen kann bzw. ein Fehlerpotenzial in sich trägt, ist moralisch erziehungs­ bedürftig. Religiöse Bildung steht vor diesem Hintergrund vor der Aufgabe jene religiösen Bildungsinhalte dermaßen zu setzen, dass der Mensch die Rolle des Kalifen zu übernehmen in der Lage wird. Die göttliche Nachfolge-Position verlangt vom Menschen eine gewisse Qualifizierung ab, die ihn dann erst befähigt, diese gewichtige Verant­ wortung der sog. Stellvertretung Gottes auf Erden auf sich zu nehmen. Sich in die Nachfolge Gottes zu stellen, bedeutet nämlich, die Vision Gottes einer guten und gerechten Welt verwirklichen zu wollen. Sich hierfür zu qualifizieren, verläuft über den Weg der Selbsterkenntnis. Damit ist nicht nur gemeint, sein Wesen als bedingtes Geschöpf und die je eigenen Charaktereigenschaften kennenzulernen, sondern auch Wege zu suchen und zu finden, um die eigenen Anlagen bestmöglich in reziproker Auseinandersetzung mit der Welt auszubilden. Auf

248 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

4. Impulse für eine zeitgemäße Islamische Religionspädagogik in Deutschland

die Bestform seines Seins hin zu arbeiten, bedeutet, sich in einen charakterlichen Entwicklungsprozess zu begeben. Hierzu gehört nicht nur tugendethisches Lernen, sondern alle bereits zusammengeführ­ ten Formate der Arbeit am Selbst, kurzum: alle kulturellen Formen und Praxen der Inszenierung des Selbst (wie bspw. in Prosa oder Narrationen) spielen in den alltäglichen Lebensgestaltungen und -führungen eine herausragende Rolle. Sie dienen dazu, das eigene Potenzial zu entwickeln und zu präsentieren. Zugleich belegen sie die Intensität, mit der der Außenstehende bzw. Leser herausgefordert ist, an sich und seiner Erscheinung zu arbeiten. Religiös initiierte Lern­ prozesse können Kinder und Jugendliche darin unterstützen, Selbst-, Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenzen auszubilden. Die Qualifizierung für die Kalifen-Rolle verläuft über die Befähigung, ethisches Handeln vernünftig plausibilisieren zu können. Ethisches Denken und Handeln wird somit zum Grundelement der Selbst- und Weltgestaltung des Einzelnen. Dies führt mich zum zweiten Impuls der ethischen Dimensionie­ rung religiöser Bildungsinhalte. Die Beschäftigung mit insbesondere der adab-Literatur hat sehr deutlich gemacht, dass ethische und kulturell-ästhetische Bildung natürlicher Bestandteil islamischen Bil­ dungsdenkens war. Für die Bestimmung der religiösen Bildungsin­ halte für heute bedeutet dieser Aspekt, die Betrachtungs- und Beur­ teilungsperspektive rituell-normativer Bildungsinhalte zu weiten, um in ihnen sowohl ethische als auch ästhetische Dimensionierungen wahrnehmen zu können. Hierfür bedarf es der Ausbildung selbstre­ flexiver sinnlicher Wahnehmungsfähigkeiten, d.h. sie verlangt nach einer Beschäftigung mit der Thematik, die über eine reine Wissensan­ eignung hinausgeht. Die Pflichtabgabe (zakāt) eignet sich sehr gut als Beispiel, um das zu exemplifizieren. Das qurʾānische Gebot zakāt ist, in aller Kürze, eine einmalig jährliche monetäre Pflichtab­ gabe von Wohlhabenden an Bedürftige, anders gewendet es ist ein soziales Recht der Bedürftigen. Es handelt sich um eine praktisch auszuführende Handlung, die einen weitreichenden ethischen Radius einschließt.934 Zum Einen soll das Bewusstsein gestärkt werden, dass der Mensch etwas gibt, das ihm nicht gehört, sondern von Gott geschenkt worden ist und damit eigentlich nur ein Medium des göttlichen Gebens wird. Zugleich wird durch den Akt des Gebens das verbleibende Vermögen unter den Segen Gottes gestellt – was die 934

Vgl. Isik, Die Bedeutung des Gesandten Muḥammad, 251.

249 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

Kapitel IV: Beitrag tugendeth. Konzeptionen zum mod. Bildungsverständnis

Wortbedeutung von zakāt bereits impliziert. Diese Ausdrucksseite von einer religiösen Pflicht komplementiert die Grundgestalt des islamischen Glaubens, die die Solidarisierung mit Bedürftigen sowie mit den durch Armut Marginalisierten und am Rande der Gesell­ schaft Stehenden in das Zentrum des Glaubens stellt. Zum Anderen erstreckt sich die ethische Dimension des zakāt von der Idee sozialer Gerechtigkeit bis hin zu einer tugendethischen Übung, wodurch eine Motivation gelegt ist, die Verantwortung für Dritte nicht zu verlie­ ren und dadurch die Disposition auszubilden, durch wiederholendes Geben solidarisch und großzügig zu werden. Die einmalige Pflicht von seinem Vermögen »abzugeben«, macht einen Menschen aber noch lange nicht großzügig. Die Idee kann darin gesucht werden, dass mit dieser einmaligen Pflichtabgabe dem Menschen eröffnet wird, um zunächst ein Bewusstsein des freiwilligen Gebens zu entwickeln, um sukzessive die Gewohnheit des solidarischen Gebens auszubilden. Gleichzeitig wird durch dieses äußerliche Tun u.a. Menschlichkeit erfahrbar und Mitmenschlichkeit gestärkt. Damit wird ein Ritual bzw. ein Glaubenspfeiler zum Ausgangspunkt für eine grundsätzlich sozialethische Frage des Religionsunterrichts bereits in der Grund­ schule: Was würde unsere Gesellschaft gerechter, humaner, sozialer, ja schöner machen? Durch die ethische Dimensionierungen erhält die Tugendästhe­ tik Eingang in die islamische Religionspädagogik. Dadurch können Kindern und Jugendlichen ein neuer ästhetischer Zugang zur Reli­ gion, v.a. zu normativen Ritualen geschaffen werden. Unter dem Vorzeichen eines ästhetisch-ethisch-religiösen Lernens, die die Kör­ perlichkeit und Sinnlichkeit verbindet, soll für eine Lernkultur gewor­ ben werden, die die Wahrnehmungskompetenz für die Vielfalt von Wirklichkeit schult und religiöse Gestaltungs- und Urteilskompe­ tenz fördert.

250 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

ʿAttar, Farīd ad-Dīn, Tadkhirat al-awliyāʾ, Reynold Nicholson (ed.), Teil II, Leiden 1944. ʿAṭṭār, Farīd-ad-Dīn, Frühislamische Mystiker. Aus Fariduddin Attars Überliefe­ rungen und Äusserungen, übers. u. komm. Gisela Wendt, Amsterdam 21984. Abendschön, Simone, Die Anfänge demokratischer Bürgerschaft: Sozialisation politischer und demokratischer Werte und Normen im jungen Kindesalter, Baden-Baden 2010. Abī al-Dunyā, Abū Bakr ʿAbdullah ibn, Makārim al-Akhlāq, Beirut 1989. Abrahamov, Binyamin, al-Ghazālī’s Supreme Way to know God. In: Studia Islamica, 77 (1993), 141–168. Abū Ismail al-Harawī, Manāzil al-Sāʾirīn, Beirut o.J. Abū Nuʿaym, Hilyat al-awliyāʾ, Bd. I, Cairo 1932. Abū Nuʿaym, Ḥilyat, zit. n. Richard Gramlich, Abū Sulaymān ad-Dārānī. In: Oriens, 33, Leiden 1992, 22–85. Adamson, Peter, Ethik als Medizin in der arabischen Tradition. In: Jochen Schmidt/Idris Nassery (Hrsg.), Moralische Vortrefflichkeit in der pluralen Gesellschaft, Paderborn 216, 65–90. Ders., Al-Kindī und die frühe Rezeption der griechischen Philosophie. In: Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 143–161. Ders., Abū Bakr al-Rāzī (d. 925): The Spiritual Medicine. In: Khaled El-Rouay­ heb/Sabine Schmidtke (ed.), The Oxford Handbook of Islamic Philosophy, Oxford 2017, 63–82. Ders., Miskawayh’s Psychology. In: ders. (Hrsg.), Classical Arabic Philosophy: Sources and Reception, London 2007, 39–55. Adam, Gottfried, Ethisches und soziales Lernen. In: Gottfried Bitter/Rudolf Englert/Gabriele Miller/ Karl Ernst Nipkow, Neues Handbuch religionspäd­ agogischer Grundbegriffe, München 2002, 238–242. Afflerbach, Horst/Kaemper, Ralf/Kessler, Volker, Lust auf gutes Leben: 15 Tugenden neu entdeckt, Gießen 2014. Ahmad, Chaudhry Masroor, Keuschheit im Islam, Frankfurt a.M. 2016. Akasoy, Anna, The Arabic and Islamic reception of the Nicomachean Ethics. In: Jon Miller (Hrsg.), The Reception of Aristotle’s Ethics, Cambridge 2012, 85–106. al-Ashkar, Omar Sulayman, Maqasid al-mukallafīn, Kuwait 1981. al-Dawwānī, Jalāl al-Dīn, Akhlāq-i Jalālī, übers. S.H. Deen, The English Transla­ tion of the Akhlak-i Jalali: A Code of Morality in Persian, Lahore 1939.

251 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

al-Fārābī, Über die Wissenschaften/De scientiis, Lateinisch-Deutsch, Ham­ burg 2008. Ders., The Attainment of Happiness. Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Muhsin Mahdi, Ithaca/New York 2001. Ders., Risālā fī al-ʿaql, S. J. Maurice Bouygues (ed.), Bd. 2, Beirut 1983. Al-Firuzabadī, Basaʾiru zavit-tamyīz fi latāifī kitāb al-ʿaziz, Bd. II, Kairo o.J. Al-Ghasâli, Das Elixier der Glückseligkeit, übers. Hellmut Ritter, Wies­ baden 2016. Ders., The Incoherence of the Philosophers/ Tahāfut al-falāsifa. A parallel English-Arabic text, Michael E. Marmura (ed.), Provo 2000. Ders., Der Erretter aus dem Irrtum. al-Munqid min ad-dalāl, übers. ʿAbd-Elsa­ mad ʿAbd-Elhamid Elschazlī, Hamburg 1988. Ders., Kimyâ-yı Saâdet, Istanbul 1977. al-Jabri, Mohammed Abed, al-ʿAql al-ahlaqī al-ʿarabī, Beirut 2012. al-Jāhiz, Abū ʿUthmān ʿAmr, Kitāb al-Ḥayawān, Beirut 1988. Al-Kaisy, Maha, Abu al-Qasim al-Junayd. In: Oliver Leaman (ed.), The Bio­ graphical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 2006, 263–266. Al-Subkī, Tabaqāt al-Shāfiʾiyya, al-Kubrā, Bd. III, Kairo 1965. al-Sulamī, Tabaqāt al-sufiyya, übers. Johannes Pedersen, Leiden 1960. Allen, Anita L., The new Ethics. A Guided Tour of the Twenty First Century Moral Landscape, New York 2004. Alsdorf, Ludwig (Hrsg.), Panschatantra. Fünf Bücher altindischer Staatsweisheit und Lebenskunst in Fabeln und Sprüchen, München 1952. Altmeyer, Stefan, Von der Wahrnehmung zum Ausdruck: zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen, Stuttgart 2006. Aminarazavi, Mehdi, Nasir al-Din Tusi. In: Oliver Leaman (ed.), The Biograph­ ical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 2015, 482–484. Andrae, Tor, Zuhd und Mönchtum. Zur Frage von den Beziehungen zwischen Christentum und Islam. In: Le Monde Oriental, 25 (1931), 296–327. an-Nasafī, ʿAzīz, Kitāb al-Insān al-kāmil, Marijan Molé (Hrsg.), Teheran 2000. Nuʿmān, Al-Qāḍī b. Muhammad, The Epistle of the Eloquent Clarification Con­ cerning the Refutation of Ibn Qutayba, Avraham Hakim (ed.), Leiden 2012. Annas, Julia, Why Virtue Ethics does not have a Problem with Right Action. In: Mark Timmons (ed.), Oxford Studies Normative Ethics, Oxford 2014, 13–33. Dies., »Being Virtuous and Doing the Right Thing«. In: Proceedings of the American Philosophical Association, 78, 2 (2004), 61–75. Dies., The Morality of Happiness, Oxford 1993. Anscombe, G. Elizabeth M., Modern Moral Philosophy. In: Philosophy, XXXII (I958) hier zit. n. der dt. Übersetzung v. Günther Grewendorf/Georg Meggle (Hrsg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frank­ furt a.M. 1974, 217–243. Antes, Peter/Ceylan, Rauf (Hrsg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufname, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2017.

252 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Apel, Karl-Otto, Anderssein, ein Menschenrecht? In: Hilmar Hoffmann/Dieter Kramer (Hrsg.), Anderssein, ein Menschenrecht. Über die Vereinbarkeit universaler Normen mit kultureller und ethnischer Vielfalt, Weinheim 1995. Arendt, Hannah, Das Denken. In: Dies., Vom Leben des Geistes, München/ Zürich 1998. Arıcı, Mustakim, Ahlak Neyi Bilmektir? Bir İlim olarak Ahlak. In: Ömer Tür­ ker/Kübra Bilgin Tiryaki, Islam Ahlak Literatür. Ekoller ve Problemler, Ankara 2 2016, 43–78. Ders., »Erdemlerin Tasavvuru ve Tanımı: Taşköprizade’nin Erdem Semaları«, Divan Disiplinlerarası Dergisi, 38 (2015), 1–38. Ar-Rāzī, Abū Bakr, Aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī, übers. Arthur J. Arberry, The Spiritual Physics of Rhazes, London 1950. Aristoteles, Über die Seele: De anima, hrsg. u. übers. Klaus Corcilius, Ham­ burg 2018. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. u. übers. Ursula Wolf, Hamburg 52010. Aristoteles, De motu animalium. Über die Bewegung des Lebewesen. Grie­ chisch–Deutsch, Hamburg 2018. Arkoun, Mohammed, L'Humanisme arabe au IVe/Xe siècle, Miskawayhhh, philosophe et historien, Paris 21982. Arndt, Martin et al., Art. Reinheit/Reinigung. In: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie online. Asad, Muhammad, Die Botschaft des Koran, Ostfildern 32013. Asghar-Zadeh, Darius, Arabisch-islamische Philosophie: Ibn Sīnā, al-Gazālī und Ibn Rušd. In: Aaron Langenfeld/Martin Breul (Hrsg.), Kleine Philosophiege­ schichte. Eine Einführung für das Theologiestudium, Paderborn 2017, 54–66. Aşk İle Hakk'a Yürüyenler, Vakıf Medeniyetimiz, Keşkül Dergisi, 38. Jg., Istan­ bul 2016. Attia, Iman/Popal, Mariam (Hrsg.), BeDeutungen dekolonisieren: Spuren von (antimuslimischem) Rassismus, Münster 2018. Audehm, Kathrin, Art. »Habitus«. In: Christoph Wulf/Anja Kraus/Jürgen Budde/Maud Hietzge (Hrsg.), Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen, Weinheim 2017, 167–178. Aydın, Mehmet, Ahlak. In: TDV, Bd. 2, 10–14. Azarnoosh, Azartash, Adab. In: EI2, Vol. 6, 1–28. Back, Michael, Die sassanidischen Staatsinschriften (Acta Iranica 18), Lei­ den, 1978. Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele, Das ABS der Gefühle, Weinheim 2008. Bahr, Matthias, Erziehung zur Prosozialität bei Acht- bis Zehnjährigen am Lernort Religionsunterricht, St. Ottilien 1992. Balzer, Nicole/Ricken, Norbert, Anerkennung als pädagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Alfred Schäfer/ Christiane Thompson, Anerkennung. Paderborn 2010, 35–87. Banser, Ann-Kathrin/Bode, Philipp, Selbstwerden: über das Selbst als Aufgabe und die Möglichkeiten seiner Realisierung bei Søren Kierkegaard, Würz­ burg 2018.

253 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Başer, Hacı Bayram, Tasavvufu Önceleyen Dönemde Ahlâk Literatürü: Kitâbü’zzühd’ler. In: Ömer Türker/Kübra Bilgin (Hrsg.), İslâm Ahlâk Literatürü: Ekoller ve Problemler, Ankara 2015, 139–162. Bates, Agnieszka, Moral Emotions and Human Interdependence in Character Education. Beyond the One-Dimensional Self, New York 2021. Bauer, Thomas, Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin 2011 Ders., Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhun­ derts, Wiesbaden 1998. Bayertz, Kurt, Antike und moderne Ethik. Das gute Leben, die Tugend und die Natur des Menschen in der neueren ethischen Diskussion. In: ZPhF, 59 (2005), 114–132. Bayrakdar, Mehmet, İbn Miskeveyh. In: TDV, Bd. 20, 201–208. Behrens-Abouseif, Doris, Beauty and Aesthetics. In: Josef W. Meri, Medieval Islamic Civilization: An Encyclopedia, Bd. 1, New York/London 2006, 103. Behzade, Lale, Die Fauna als Gottesbeweises – eine arabische Enzyklopädie aus dem 9. Jahrhunderts. In: Miorita Ulrich/Dina De Rentiis (Hrsg.), Animalia in fabula. Interdisziplinäre Gedanken über das Tier in der Sprache, Literatur und Kultur, Bamberg 2013, 247 – 267. Dies., Sprache und Verstehen. al-Ğaḥiẓ über die Vollkommenheit des Ausdrucks, Wiesbaden 2009. Bellamy, James A., The Makārim al-Akhlāq by Ibn Abī l-Dunyā. In: The Muslim World Journal, 53, 2 (1963), 106–119. Ders., Ibn Abī d-Dunyā, The Noble Qualities of Character. In: Hans Daiber, From the Greeks to the Arabs and Beyond, Vol. I, Wiesbaden 1973, 414–415. Bengez, Rainhard Z., Bildung und Wissenschaft. In: Markus Fath (Hrsg.), Bildung und Ethik. Beiträge und Perspektiven jenseits disziplinärer Grenzen, Berlin 2013, 65–94. Berger, Peter L., Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, übers. Ruth Pauli, Frankfurt a.M. 2015. Berner, Hans, Aktuelle Strömungen in der Pädagogik und ihre Bedeutung für den Erziehungsauftrag der Schule, Stuttgart/Wien 21994. Bertelsmann-Stiftung: - Zusammenleben in kultureller Vielfalt (2018) - Religionsmonitor (2017), Sonderauswertung Islam; Ergebnisse und Länder­ profile: Muslime in Europa – Integriert, aber nicht akzeptiert? Birnbacher, Dieter, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/Boston 32013. Bittner, Rüdiger/Kaul, Susanne, Moralische Erzählungen (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, Göttingen 2014. Bloom, Paul, Against Empathy, London 2017. Bollnow, Otto Friedrich, Die Ehrfurcht; Wesen und Wandel der Tugenden, Würzburg 2009. Borchers, Dagmar, Die neue Tugendethik – Schritt zurück im Zorn. Eine Kontro­ verse in der Analytischen Philosophie, Paderborn 2001.

254 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Boschki, Reinhold, Persönlichkeits-Bildung in Beziehungen. Grundlegende Gedanken zum Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. In: ders./ Matthias Gronover/Monika Marose/Michael Meyer-Blanck/Hanne Schna­ bel-Henke/Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Person–Persönlichkeit–Bildung: Aufgaben und Möglichkeiten des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen, Münster/New York 2017, 69–82. Bossong, Georg, Das maurische Spanien: Geschichte und Kultur, Mün­ chen 22016. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Stuttgart 22006. Ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Bei­ träge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957–2002, Müns­ ter 2004. Ders., Fundamente der Freiheit. In: Erwin Teufel (Hrsg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt a.M. 1996, 88–98. Ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 21992. Ders., Entstehung und Wandel des Rechtsbegriffs. In: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, 65–92. Böhnisch, Lothar, Familie und Bildung In: Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt, Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden 22009, 339–350. Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976. Brezinka, Wolfgang, Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. Beiträge zur Praktischen Pädagogik, München 31993. Brinkmann, Heinz Ulrich, Erfolge und Probleme der Integration. Soziodemogra­ fische Hintergründe und Lebenslagen der Migrationsbevölkerung In: ders./ Haci Halil Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland, Wiesbaden 2013, 103–126. Brockelmann, Carl, Geschichte der arabischen Literatur, 1. Supplementband, Leiden 21937. Brown, Jonathan A.C., Hadith, Oxford 2009. Brumlik, Micha, Ethische Gefühle: Liebe, Sorge und Achtung. In: Vera Moser/ Inga Pinhard (Hrsg.), Care – Wer sorgt für wen? Opladen/Farmington Hills 2010, 29–46. Brüggemann, Theodor (Hrsg.)/Brunken, Otto/Steinlein, Rüdiger, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur – von 1570–1750, Stuttgart 1991. Brüllmann, Philipp, Die Theorie des Guten in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, Berlin/New York 2011. Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984. Bucar, Elizabeth M., Islamic Virtue Ethics. In: Nancy E. Snow (ed.), Oxford Handbook of Virtues, Oxford 2018, 206–223. Buer, Ferdinand/Brumlik, Micha, Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Buchbespre­ chung, 11. 2 (2004), 200–203.

255 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Bukow, Wolf-Dieterich, Wie viel Fremdheit verträgt das Land? Vom selbstver­ ständlichen Umgang mit einer längst alltäglichen Fremdheit. In: Yasemin Karakaşoğlu/Julian Lüddecke (Hrsg.), Migrationsforschung und Interkultu­ relle Pädagogik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis, Münster 2004, 171–187. Burckhardt, Titus, An Introduction to Sufism, Wellingborough 1990. Butterworth, Charles E., Ethics in Medieval Islamic Philosophy. In: The Journal of Religious Ethics, 11, 2 (1983), 224–239. Bürgel, Johann C., Der Islam im Spiegel zeitgenössischer Literatur islamischer Völker. In: Werner Ende/Udo Steinbach/Renate Laut (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München 52005, 797–826. Ders., Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, Berlin 22017. Carney, Frederick S., Focus on Muslim Ethics: An Introduction. In: The Journal of Religious Ethics, 11, 2 (1983), 167–169. Chabbi, Jacqueline, Remarques sur le développement historique de mouvements ascétique et mystiques au Khurasan. In: Studia Islamica, 46 (1977), 5–72. Chiapparini, Emanuela, Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersuchung der Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Züricher Volkshochschule, Opladen/Berlin/Toronto 2012. Chittick, William C., Sufism. A Beginner’s Guide, Oxford 2000. Cihan, Ahmet K., İslam Ahlakının Temel İlke ve Değerleri. In: Müfit Selim Saruhan, İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, 57–71. Cooperson, Michael, Ibn al-Muqaffa’. In: ders. (ed.), Dictionary of Literary Biog­ raphy, Arabic Literary Culture 500–925, Vol. 311, Detroit 2005, 156–158. Cornell, Rkia Elaroui, Rabi’a from narrative to myth: The tropics of identity of a Muslim woman saint, London 2013. Cornille, Catherine, Conditions for Inter-Religious Dialogue. In: Dies. (ed.), The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue, New York 2013, 20–34. Dies., The Im-possibility of Interreligious Dialogue, New York 2008. Crisp, Roger/Slote, Michael (Eds.), Virtue Ethics, Oxford 1997. Çağrıcı, Mustafa, Kur’anı’ın geliş ortamında ahlak ve insan ilişkileri, Istan­ bul 2017. Ders., İslam Düşüncesinde Ahlâk, Istanbul 72016. Ders., Ahlak. In: TDV, Bd. 2, 1–9. Ders., Fazilet. In: TDV, Bd. 12, 268–71. Daiber, Hans, From the Greeks to the Arabs and Beyond, Vol. I, Leiden/ Boston 2021. Ders., Islamic Thought in the Dialogue of Culture: a historical and bibliograph­ ical survey, Leiden 2012. Ders., Abū Bakr ar-Rāzī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der Islami­ schen Welt, 8.-10- Jahrhundert, Bd. 1, Basel 2012, 261–289.

256 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Ders., Griechische Ethik in islamischem Gewande. Das Beispiel von Rāgib al-Isfahānī (11. Jh.). In: Burkhard Mojsisch/Olaf Pluta (Hrsg.), Historia Phi­ losophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 60. Geburtstag, Bd. 1, Amsterdam 1992, 181–192. Daniel, Renate, Das Selbst. Grundlagen und Implikationen eines zentralen Konzepts der Analytischen Psychologie, Stuttgart 2018. Dakake, Maria Massi, »Walking upon the Path of God like Men«? Women and the Feminine in the Islamic Mystical Tradition. In: Jean-Louis Michon/Roger Gaetani (eds.), Sufism: Love and Wisdom, Indiana 2006, 131–153. Dallmann, Hans-Ullrich, Eine tugendethische Annäherung an Begriff und Päd­ agogik der Kompetenzen. In: ethik und gesellschaft, Bildung, Gerechtigkeit und Kompetenz, 1 (2009), 1–50. Damasio, Antonio, Im Anfang war das Gefühl: Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017. de Beaurecueil, Serge, al-Anṣārī al-Harawī. In: EI2, Vol. 3,. de Libera, Alain, Die mittelalterliche Philosophie, München 2005. de Spinoza, Baruch, Ethik, Berlin 2017. Delhees, Karl H., Soziale Kommunikation. Psychologische Grundlagen für das Miteinander in der modernen Gesellschaft, Opladen 1994. Demir, Ömer, Din Eğitiminde Alışkanlık Bilinci. In: EKEV Dergisi, 18, 60 (2014), 73–96. Demirci, Mehmet, Mevlânâ'dan Düşünceler, İzmir 1997. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge, Philosophie der Gefühle: von Ach­ tung bis Zorn, Stuttgart 2007. Dengel, Sabine/Kelch, Linda, »Es ist kompliziert. Dazu guter Pop«. Ambigui­ tät, politische Bildung und Kultur. In: Ansgar Schnurr/Sabine Dengel/Julia Hagenberg/Linda Kelch (Hrsg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeldt 2021, 55–90. Damghani, Ahmad Mahdavi, Persian Contributions to Sufi Literature in Arabic. In: Leonard Lewisohn (ed.), Classical Persian Sufism from its Origins to Rumi (700–1300), Vol. I, Oxford 1999, 33–57. Diehm, Isabell/Kuhn, Melanie/Machold, Claudia, Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Anfangsunterricht. Prämissen und Implikationen Interkul­ tureller Pädagogik und ihr anhaltendes Empiriedefizit. In: Eva Gläser (Hrsg.), Sachunterricht im Anfangsunterricht. Lernen im Anschluss an den Kindergar­ ten, Baltmannsweiler 2007, 177–191. Dietrich, Albert, Zur Überlieferung einiger Schriften des Ibn abī d-Dunyā. In: Studia Orientalia (1968), H. 2/3, 35–44. Donaldson, Dwight M., Studies in Muslim Ethics, London 1953. Draz, Abdullah, The Moral World of the Qurʾan, übers. Danielle Robin­ son/Rebecca Masterton, New York 2008. Dupré, Ben, Tugendethik. In: Ders., 50 Schlüsselideen Philosophie, Heidel­ berg 2010.

257 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Duncker, Christian, Verlust der Werte? Wertewandel zwischen Meinungen und Tatsachen, Wiesbaden 2000. Duncker, Ludwig, Wege zur ästhetischen Bildung. Anthropologische Grundle­ gungen und schulpädagogische Orientierungen, München 2018. Dupré, Ben, Tugendethik. In: 50 Schlüsselideen Philosophie, Heidelberg 2010. Dziri, Amir, Über die Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen Ide­ engeschichte. In: Abbas Poya/Farid Suleiman/Benjamin Weineck, Bildungs­ kulturen im Islam, Berlin/Boston 2022, 19–41. Eberly, Don/Streeter, Ryan, The soul of civil society: voluntary associations and the public value of moral habits, Lanham 2002. Eichner, Heidrun, Philosophie. In: Rainer Brunner (Hrsg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, 191–209. Ekert, Bärbel/Christiane Ekert, Psychologie für Pflegeberufe, Stuttgart/New York 32014. El-Fadl, Khaled Abou, Reasoning with God. Reclaiming Shari‘ah in the Modern Age, London 2014. Ders., When Happiness Fails: An Islamic Perspective. In: Journal of Law and Religion, 29, I (2014), 109–123. Elger, Ralf, Die Reise des Murtadā b. Mustafa b. Hasan al-Kurdī von Damaskus nach Ägypten im Jahre 1127/1714. In: Xenja von Ertzdorff (Hrsg.)/Rudolf Schulz, Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums 1998, Bd. 31, Atlanta 2000, 367–388. Elsenhans, Theodor, Charakterbildung, Leipzig 1908. El-Wereny, Mahmud, Wohltätigkeit im Islam. Theologisch-rechtliche Grund­ lagen und interreligiöse Perspektiven. In: Hans-Georg Babke/Heiko Lam­ precht, Islam-Erkundungen Einheit und Vielfalt muslimischen Selbstver­ ständnisses zwischen Tradition und Moderne, Berlin 2017, 99–127. Enderwitz, Susanne, Liebe als Beruf: al-ʿAbbās Ibn-al-Aḥnaf und das Ġazal, Stuttgart 1995. Endress, Gerhard, Yaḥyā Ibn ʿAdī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.-10. Jahrhundert, Basel 2012, 301–325. Ders., Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesellschaft: Abū ʿAlī Miska­ waih. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd.1, Basel 2012, 210–238. Ders./Peter Adamson, Abū Yūsuf al-Kindī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philoso­ phie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.-10. Jahrhundert, Basel 2012, 92–148. Engelhardt, Jan Felix, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdiszi­ plin, Wiesbaden 2017. Englert, Rudolf, Religion, Werte, Bildung ..., bla,bla,bla. Die Integrationsdebatte als Tauglichkeitstest für »Schwatzbegriffe«. In: Mirjam Schambeck/Sabine Pemsel-Maier (Hrsg.), Welche Werte braucht die Welt? Wertebildung in christlicher und muslimischer Perspektive, Freiburg i.Br. 2017, 79–99. Ernst, Stephan, Pluralität und Verbindlichkeit sittlicher Werte. In: Stimmen der Zeit 235 (8/2017), 518–530.

258 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Ernstson, Sven/Meyer, Christine (Hrsg.), Praxis geschlechtersensibler und interkultureller Bildung, Wiesbaden 2013. Esack, Farid, Qurʾān, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Inter­ religious Solidarity against Oppression, Oxford 1997. Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, hrsg. vom Bundesmi­ nisterium für Bildung und Forschung, Berlin 2003. Eykmann, Walter/Seichter, Sabine (Hrsg.), Pädagogische Tugenden. Winfried Böhm zum 22. März, Würzburg 2007. Fakhry, Majid, Ethical Theories in Islam, Leiden/New York/Köln 21994. Farina, Sr. Marianne, Theological Ethics of Abū Ḥāmid al-Ghazālī. In: Bülent Uçar/Frank Griffel (Hrsg.), 900 Jahre al-Gazālī im Spiegel der islamischen Wissenschaften, Göttingen 2015, 155–184. Feichtinger, Christian/Yagdı, Şenol, Tugendethik im christlich-islamischen Reli­ gionsunterricht. In: Österreichisches Religionspädagogisches Forum (ÖRF) 28 (2020) 1, 251–272. Fenner, Dagmar, Das gute Leben, Berlin/New York 2007. Dies., Ethik. Wie soll ich handeln? Tübingen 22020. Ferchl, Dieter, Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muham­ mad, Stuttgart 1991. Ferrari, Cleophea, Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus. In: Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 218–232. Fischer, Johannes/Gruden, Stefan/Imhof, Esther, Grundkurs Ethik: Grundbe­ griffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 22008. Ders., Emotionen und die religiöse Dimension der Moral. In: Roderich Barth/ Christopher Zarnow (Hrsg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 191–205. Fischl, Thomas, Mitgefühl – Mitleid – Barmherzigkeit: Ansätze von Empathie im 12. Jh., Mainz 2017. Foot, Philippa, Tugenden und Laster. In: Dies., Die Wirklichkeit des Guten, Frankfurt a.M. 1997. Dies., Virtues and Vices and other Essays in Moral Philosophy, Los Ange­ les/Berkeley 1978. Foroutan, Naika, Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgren­ zungen in der Integrationsdebatte, FES Dokumentation, Bonn 2012. Dies., Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demo­ kratie, Bielefeld 2019. Foucault, Michel, Technologien des Selbst. In: Luther H. Martin/Huck Gut­ man/Patrick H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, 24–62. Frank, Richard M., Moral Obligation in Classical Muslim Theology. In: Journal of Religious Ethics, 11, 2 (1983), 204–223. Frank, Tamar, »Taṣawwuf is ...«: on a type of mystical aphorism. In: Journal of the American Oriental Society, 104, 1 (1984), 73–80. Freire, Paulo, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungs­ praxis, Münster 2008.

259 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Frey, Dieter/Fladerer, Martin, Interview »Werteerziehung und Persönlichkeits­ entwicklung gehören neben der Wissensvermittlung auch auf den Lehrplan.« In: Randolf Rodenstock/Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Werte – und was sie uns wert sind. Eine interdisziplinäre Anthologie, München 2018, 165–168. Fromm, Erich, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a.M. 51972. Gabriel, Ingeborg, Persönlichkeit/Persönlichkeitsethik. In: Bertram Stuben­ rauch/Andrej Lorgus/Stiftung Pro Oriente Wien (Hrsg.)/Stiftung Russische Orthodoxie, Moskau (hrsg.), Handwörterbuch Theologische Anthropologie: Römisch-katholisch/Russisch-orthodox. Eine Gegenüberstellung, Freiburg 2016, 61–66. Gabrieli, Francesco, Adab. In: EI2, Vol. 1, 175–176. Kenneth Garden, The First Islamic Reviver: Abu Hamid Al-Ghazālī and His Revival of the Sciences, Oxford 2014. Gafarov, Anar, Nasirüddin Tûsî. In: TDV, 442–445. Gatzemeier, Matthias, Philosophie als Theorie der Rationalität: Analysen und Rekonstruktionen, Bd. 2, Würzburg 2007. Gaus, Detlef/Drieschner, Elmar, »Bildung« jenseits pädagogischer Theoriebil­ dung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der allgemeinen Pädagogik, Festschrift für Reinhard Uhle zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2010. Gelingende Wertebildung im Kontext von Migration. Eine Handreichung für die Bildungspraxis, Zentrum für Globale Fragen an der Hochschule für Philoso­ phie, München 2017. Gerdentisch, Claudia, Zur Aktualität von Herbarts Ästhetik- Ästhetische Erzie­ hung und moralische Urteilskraft. In: Alexandra Schotte (Hrsg.), Herbarts Ästhetik. Studien zu Herbarts Charakterbildung, Jena 2010, 127–139. Geyer, Carl-Friedrich, Philosophie der Antike. Eine Einführung, Darm­ stadt 41996. Ghandour, Ali, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabis, Hamburg 2018. Giese, Jannis, Narrative Ethik. Konturen eines (un-)einheitlichen Konzepts. In: Jochen Schmidt, Erzähltes Selbst/The Narrated Self: Narrative Ethik aus theologischer und literarischer Perspektive, Leipzig 2020, 183–195. Gogolin, Ingrid/Ursula Neumann/Hans-Joachim Roth, Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten für die Bund-Län­ der-Kommission Bildungsplanung und Forschungsförderung (2003). Letzter Zugriff 28.11.2018: http://www.bmbf.de/pub/studie_foerderung_migratio n.pdf. Gogolin, Ingrid/Krüger-Potratz, Marianne, Einführung in die interkulturelle Pädagogik, Leverkusen 22010. Goldziher, Ignaz, Muslim Studies, Vol. I, London 1967. Ders., Muhammedanische Studien, Bd. I, Halle 1889. Goodman, Lenn E., Friendship in Aristotle, Miskawayh and al-Ghazālī. In: Oliver Leaman (ed.), Friendship East and West: philosophical perspectives, Richmond 1996, 164–191. Göbel, Elisabeth, Der Mensch – ein Produktionsfaktor der Würde? In: ZfWU, 4, 2 (2003), 170–192. Görgün, Tahsin, İslam Ahlak Esasları, Eskişehir 2010.

260 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Gökpınar, Yasemin, Der ṭarab der Sängersklavinnen: »Masālik al-abṣār fī mamālik al-amṣār« von Ibn Faḍlallāh al-ʿUmarī (gest. 749/1349): textkri­ tische Edition des 10. Kapitels »Ahl ʿilm al-mūsīqī« mit kommentierter Übersetzung, Baden-Baden 2021. Dies., Wein, Weib und Gesang – Ein etwas anderes Bild des Islams. In: JUSUR, Zeitschrift für Orientalistik, Islamwissenschaft und Arabistik, (2020) H. 3, 19–26. Graf, Peter, Religiöse Bildung als individuelle Entfaltung der Person. In: Ders./ Bülent Uçar (Hrsg.), Religiöse Bildung im Dialog zwischen Christen und Mus­ limen (Interreligiöser Dialog in gesellschaftlicher Verantwortung 1, Stuttgart 2011, 55–72. Richard Gramlich, Alte Vorbilder des Sufitums, Bd. 1, Wiesbaden 1995. Ders., Abū Sulaymān ad-Dārānī. In: Oriens, 33, Leiden 1992, 22–85. Griffel, Frank, Al-Gazālī als Kritiker. In: Heidrun Eichner/Matthias Per­ kams/Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 289–313. Griffith, Sidney, Yahyā Ibn ʿAdī, The Reformation of Morals, A parallel ArabicEnglish text translated and introduced by Sidney H. Griffith, Utah 2002. Grittmann, Elke/Lobinger, Katharina/Neverla, Irebe/Pater, Monika (Hrsg.), Körperbilder – Körperpraktiken. Visua-lisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern in Medienkulturen. In: Ders., Köln 2018, 9–28. Gruhle, Hans Walter, Verstehen und Einfühlen: Gesammelte Schriften, Ber­ lin/Göttingen/Heidelberg 1953. Gugutzer, Robert, Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004. Gutas, Dimitri, Greek Thought, Arabic Culture: the Graeco-Arabic translation movement in Baghdad and early ʿAbbasid society (2nd -4th/8th-10th c.), London 1998. Ders., Review of ›Ethical Theories in Islam‹ by Majid Fakhry. In: Journal of the American Oriental Society, 117, 1 (1997), 171–175. Günther, Sebastian, Islamische Bildung im literarischen Gewand: Unterweisung in religiösen und weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī. In: Abbas Poya/Farid Suleiman/Benjamin Weineck, Bildungskulturen im Islam. Islamische Theologie lehren und lernen, Berlin/Boston 2022, 137–183. Ders./Yassir El Jamouhi, Islamic Ethics as Educational Discourse. Thought and Impact of the Classical Muslim Thinker Miskawayh (d. 1030), Tübingen 2021. Ders., Bildung und Ethik im Islam. In: Rainer Brunner (Hrsg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, 210–236. Ders., Advice for teachers: the 9th century Muslim scholars ibn Saḥnūn and al-Jāḥiẓ on pedagogy and didactics. In: Claude Gilliot (ed.), Education and Learning in the Early Islamic World, London 2012, 89–128. Ders., Quellenuntersuchungen zu den »Maqātil aṭ-Ṭālibiyyīn« des Abū-ʾl-Faraǧ al-Iṣfahānī (gest. 356/967): ein Beitrag zur Problematik der mündlichen und schriftlichen Überlieferung in der mittelalterlichen arabischen Literatur, Hildesheim 1991. Haas, Tobias, Leib-körperliche Dimensionen von Bildung. Sichtweisen auf verborgene Aspekte im schulischen Kontext, Berlin 2018.

261 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Habermas, Jürgen, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechts? In: ders./ Joseph Ratzinger (Hrsg.), Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i.Br./Wien u.a. 2011, 15–37. Ders., Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991. Hackl, Armin, Konzepte schulischer Werteerziehung. In: Armin Hackl/Olaf Steenbuck/Gabriele Weigand (Hrsg.), Werte schulischer Begabtenförderung. Begabungsbegriff und Werteorientierung, Frankfurt a.M. 2011, 19–25. Hadj-Abdou, Leila: Geschlechtergerechtigkeit oder Recht auf kulturelle Dif­ ferenz? Die Politisierung der Frage von Geschlechtergerechtigkeit, eine Herausforderung für egalitäres Denken. In: Eva Hausbacher/Elisabeth Klaus/ Ralph J. Poole/Ulrike Brandl/Ingrid Schmutzhart (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse: Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden 2012, 41–61. Hajatpour, Reza, Islamische Ethik. Einführung, Baden-Baden 2022. Ders., Die Kontroverse zwischen islamischer Mystik und Theologie bezüg­ lich der Glaubensinhalte. In: Erdal Toprakyaran/Hansjörg Schmid/Christian Ströbele, Dem Einen entgegen. Christliche und islamische Mystik in histo­ rischer Perspektive, Berlin 2018, 27–44. Ders., Sufismus und Theologie. Grenze und Grenzüberschreitung in der islami­ schen Glaubensdeutung, Freiburg i.Br./München 2017. Ders., Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg i.Br./München 2013. Halbig, Christoph, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013. Ḫānzādah, Uways Wafā, Minhāǧ al-yaqīn. Šarḥ adab ad-dunyā wa-d-dīn, Beirut 1980, 4, zit. n. Ebrahim Moosa, Muslim Ethics? In: William Schweicker (Hrsg.), The Blackwell Companion to Religious Ethics, Oxford 2005, 237–43. Hagengruber, Ruth, Darstellung, Anordnung und implizite Schlussfolgerung. Über das Verhältnis von Dichtung und Moral aus philosophischer Perspektive. Eine platonische Kritik der Postmoderne. In: Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009, 64–78. Hähnel, Martin, Alasdair MacIntyres Stein-Lektüre. In: Harald Seubert/Marcus Knaup (Hrsg.), Grundbegriffe und -phänomene Edith Steins, Freiburg i.Br. 2018, 151–163. Ders., Das Ethos der Ethik. Zur Anthropologie der Tugend, Wiesbaden 2015. Hajatpour, Reza, Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfekti­ bilität in der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg i.Br./München 2013. Haring, Claus, Hypnose und Autogenes Training. In: Hans-Jürgen Möller (Hrsg.), Therapie psychischer Erkrankungen, New York/Stuttgart 32006, 23–30. Hasse, Dag Nikolaus, Arabic Philosophy and Averroism. In: James Hankins (ed.), The Cambridge Companion to Renaissance Philosophy, Cambridge 2007, 113–136. Hatiboğlu, Ibrahim, Ibn Ebüʾd-Dunyâ. In: TDV, Bd. 19, 457–462.

262 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Heck, Paul L., Mysticism as Morality. The Case of Sufism. In: The Journal of Religious Ethics, 34, 2 (2006), 253–286. Heidari, Mohammed, Lernen durch Konflikte im Kontext des interkulturellen Zusammenlebens am Beispiel der Migranten und Migrantinnen aus musli­ mischen Herkunftsländern in Deutschland. In: Andreas Renz/Stephan Leim­ gruber (Hrsg.), Lernprozess Christen Muslime: gesellschaftliche Kontexte – theologische Grundlagen – Begegnungsfelder, Münster 2002, 246–265. Heinig, Hans Michael, Die Verfassung der Religion. Beiträge zum Religionsver­ fassungsrecht, Tübingen 2014. Heimken, Norbert, Migration, Bildung und Spracherwerb. Bildungssozialisation und Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien, Wiesbaden 2015. Hendrich, Geert, Arabische-Islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a.M. 22011. Henke, Roland W., Die Demokratie und der Streit um Werte – Anregungen für Wertediskurse im Unterricht, bpb. Henning, Walter Bruno, Eine arabische Version mittelpersischer Weisheits­ schriften. In: ZDMG, 106 (1956), 73–77. Herdt, Jennifer, Putting on Virtue. The Legacy of the Splendid Vices, Chicago 2008. Herzig, Bardo, Förderung ethischer Urteils- und Orientierungsfähigkeit. Grund­ lagen und schulische Anwendung, Münster/New York 1998. Hillmann, Karl-Heinz, Wertwandel, Würzburg 2008. Höhn, Hans-Joachim, Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugen­ dethik, Freiburg i.Br. 2014. Honneth, Axel, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahr­ hundert. In: APuZ, 1–2 (2011), 37–45. Ders., Anerkennung und moralische Verpflichtung, Zeitschrift für philosophi­ sche Forschung, 51, 4 1997, 25–41. Ders., Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptueller Vorschlag. In: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frank­ furt a.M. 1993, 260–270. Hopf, Caroline, »Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten« – Musika­ lische Bildung als Herausforderung im Medienzeitalter. In: Leopold Klepa­ cki/Andreas Schröer/Jörg Zirfas (Hrsg.), Der Alltag der Kultivierung. Studien zu Schule, Kunst und Bildung, Münster 2009, 207–215. Horkheimer, Max, Begriff der Bildung. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1985. Horn, Christoph, Moralphilosophie. In: Ders./Jörn Müller/Joachim Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 22017, 160–169. Ders., Philosophie der Antike. Von den Vorsokratikern bis Augustinus, Mün­ chen 2013. Ders., Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplato­ nikern, München 1989. Horn, Klaus, Dressur oder Erziehung. Schlagrituale und ihre gesellschaftliche Funktion, Frankfurt a.M. 1967.

263 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Horst, Heribert, Die Entstehung der adab-Literatur und ihre Arten. In: Helmut Gätje (Hrsg.), Grundriss der Arabischen Philologie, Bd. 2, Wiesbaden 1987, 208–263. Hourani, George F., Reason and Tradition in Islamic Ethics, Cambridge/New York 2007. Hoye, William, Tugenden. Was sie wert sind – warum wir sie brauchen, Grüne­ wald 2010. Hoyer, Timo, Tugend und Erziehung, Die Grundlegung der Moralpädagogik in der Antike, Bad Heilbrunn 2005. Höffe, Otfried, Aristoteles’ Politik: Vorgriff auf eine liberale Demokratie. In: Ders. (Hrsg.), Aristoteles: Politik, Berlin 2011. Ders., Art. aretê/Tugend. In: Ders. (Hrsg.), Aristoteles Lexikon, Stuttgart 2005, 76–80. Humar, Marcel, Antike Emotionstheorien. Philosophische Erklärungen von Emotionen im Kontext der Eudaimonie. In: Her-mann Kappelhoff/Jan-Hen­ drik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt (Hrsg.)Emotion. Ein inter­ disziplinäres Handbuch, Berlin 2019, 3–20. Hume, David, A Treatise of Human Nature (1739–40), Oxford 1978. Hurna, Myron, Was ist, was will, was kann Moral, Wiesbaden 2017. Hursthouse, Rosalind, Virtue Ethics and the Emotions. In: Daniel Statman (ed.), Virtue Ethics: A critical Reader, Washington 1997. Hübner, Dietmar, Einführung in die philosophische Ethik, Göttingen 22018. Ibn Hanbal, Aḥmad, Musnad, Ibn Hazm, Al-Ihkām fī usūl al-ahkām, Ahmad M. Shakir (ed.), Bd. II, Bei­ rut 1980. Ibn Manẓūr, Muḥammad b. Mukarrim Abū Faḍl, Lisān al-ʿarab, Beirut 31993. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-Fihrist, Gustav Flügel (ed.), 2 Bände, Leipzig 1871–72. Ibn Kathīr, Al-bidāya wa-n-nihāya, Beirut 1985. İbn Miskevey, Ahlaki Olgunlaştırma, übers. A. Şener/İ. Kayaoğlu/C. Tunç, Ankara 1983. Ibn Qutaybah, ʻAbd Allāh ibn Muslim, Ibn Kutaiba's Adab-al-kâtib, Max Theodor Grübert (ed.), Leiden 1900. Ibn Qutaiba, Adab al-kātib, Max Grünert (ed.), Leiden 2000. Ibn Rushd, Commentary on the Poetics of Aristotle, übers. u. hrsg. Charles W. Butterworth, Princeton 1988. Ibrahim, Gehan S.A., Virtues in Muslim Culture: An Interpretation from Islamic Literature, Art and Architecture, London 2014. Imam-i Gazālī, Ihya-i Ulum-id-din, (türk. Übers.) Ali Arslan, Istanbul 1972. Isik, Tuba/Kamcili-Yilidz, Naciye, »Ist Schweinegelatine halal oder haram?« – Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätsto­ leranz: In: Mirjam Zimmermann, Friedhelm Kraft, Oliver Reis, Hanna Roose, Susanne Schroeder (Hrsg.), Hauptsache, du hast eine Meinung und einen eigenen Glauben«, Jahrbuchs für Kinder- und Jugendtheologie, Bd. 5, Stuttgart 2022, 109–118.

264 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Dies./Langenfeld, Aaron, Religion und Bildung in der Einwanderungsgesell­ schaft. In: Dietmar Molthagen/Thilo Schöne (Hrsg.), Lernen in der Einwan­ derungsgesellschaft, Lern- und Arbeitsbuch, Bonn 2016, 211–224. Dies., Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den Islamischen Religions­ unterricht. Systematische und historische Reflexionen in religionspädagogi­ scher Absicht, Paderborn 2015. Dies., Bibel- und Korandidaktik in komparativer Absicht in einem koopera­ tiv-konfessionellen Religionsunterricht. In: Rita Burrichter/Georg Langen­ horst/Klaus von Stosch (Hrsg.), Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik, Paderborn 2015, 263- 275. Dies., Kultivierung des Charakters als Selbstverständnis des Islamischen Reli­ gionsunterrichts. In: Tarek Badawia/Said Topalovic (Hrsg.), Islamunterricht im Diskurs. Religions-pädagogische und fachdidaktische Ansätze, Göttingen (voraussichtlich im Herbst) 2022. Dies., Das Selbstwertgefühl türkischer Migrantenkinder in Deutschland. Ein empirischer Vergleich von türkischstämmigen Grundschulkindern in Deutschland und türkischen Grundschulkindern in der Türkei, Göttingen 2006. Online Ressource in der Niedersächsische Staats- und Universitätsbi­ bliothek: https://d-nb.info/1044178914/34. Izutsu, Toshihito, God and Man in the Qurʾan, Kuala Lumpur 22002. Ders., Ethico-Religious Concepts in the Qurʾan, Montreal 1966. Ders., The Structure of the Ethical Terms in the Koran, Montreal 1959. Jackson, Roy, What is Philosophy, New York 2014. Jaeger, Werner, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York 1973. Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 22006. Kahraman, Ahmet, Ahlâk-i Alâî. In: TDV, Bd. 2, 15–16. Kalın, Ibrahim, Ethics (Akhlāq). In: ders./Salim Ayduz/Caner Dağlı (ed.), The Oxford Encyclopedia of Philosophy, Science, and Technology in Islam, Bd. 1, Oxford 2014, 211–213. Kaltwasser, Vera, Persönlichkeit und Präsenz. Achtsamkeit im Lehrerberuf, Weinheim 22018. Dies., Achtsamkeit in der Schule. Stille-Inseln im Unterricht. Entspannung und Konzentration, Weinheim 2008. Kamali, Mohammed Hashim, The Middle Path of Moderation in Islam: The Qurʾanic Principle of Wasatiyyah, New York 2015. Kant, Immanuel, Opus postum. Handschriftlicher Nachlass. Erste Hälfte, Berlin 1936 (AA XXI). Karakaşoğlu, Yasemin/Massumi, Mona/Jacobsen, Sabine, Interkulturelle Öff­ nung im Spiegel von Schulkultur. Überlegungen aus einem Theorie-PraxisDialog. In: Sebastian Barsch/Nina Glutsch/Mona Massumi (Hrsg.), Diver­ sity in der LehrerInnenbildung. Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis, Münster/New York 2017, 217–238. Karaman, Hüseyin, Islam Ahlak Filozofları. In: Müfit Selim Saruhan (ed.), İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, Ankara 22014, 171–194.

265 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Karimi, Milad, Versuch einer ästhetischen Hermeneutik des Qurʾān. In: Mouha­ nad Khorchide/Klaus von Stosch (Hrsg.), Herausforderungen an die Islami­ sche Theologie in Europa – Challenges for Islamic Theology in Europe, Freiburg 2012, 14–30. Ders., Die Bedeutung der Koranrezitation. Zur inneren Verwobenheit von Ästhetik und Offenbarung im Islam. In: ThPQ 164 (2016), 265–271. Kauffeld, Simone, Kompetenzen messen, bewerten, entwickeln: ein prozessana­ lytischer Ansatz für Gruppen, Stuttgart 2006. Keith, Arthur B., A History of Sanskrit Literature, Oxford 1961. Keller, Bruno, Ethik – eine Annäherung. In: Ueli Merten/Peter Zängl (Hrsg.), Ethik und Moral in der Sozialen Arbeit: Wirkungsorientiert – kontextbezoge – habitusbildend, Opladen/Berlin/Toronto 2016, 21–48. Kermani, Navid, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, Mün­ chen 62018. Keskin, Yusuf Z., Abū Nu’aym al-Isfahanī. In: Oliver Leaman (ed.), The Bio­ graphical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 2006, 248–249. Kierkegaard, Søren, Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997. Kiesel, Doron/Volz, Fritz Rüdiger, »Anerkennung und Intervention«. Moral und Ethik als komplementäre Dimensionen interkultureller Kompetenz. In: Georg Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Wiesbaden 42013, 71–84. Kılıç, Mahmud Erol, Sufi ve Sanat. Makaleler – Konferanslar 2, Istanbul 2015. Kılıç, Recep, Ahlakın Din ve Hukuk ile ilişkisi. In: Felsefe Dünyası, 27 (1998), 49–53. Kimminich, Eva/Rappe, Michael/Geuen, Heinz/Pfänder, Stefan (Hrsg.), Express Yourself! Europas kulturelle Krea-tivität zwischen Markt und Under­ ground, Bielefeld 2007. Kınalızade, Ruhun üç kuvveti. Ahlak-i Alayi‘den Seçmeler, Istanbul 2011. Kinberg, Leah, What is Meant by Zuhd? In: Studia Islamica, 61 (1985), 27–44. Kleger, Heinz, Tugendethik ohne Tugendterror, Potsdam 22015. Klein, Ansgar, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demo­ kratietheoretische Folgerungen, Wiesbaden 2001. Klieme Eckhard/Hartig, Johannes, Kompetenzkonzepte in den Sozialwissen­ schaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Manfred Pren­ zel/Ingrid Gogolin/Hein-Hermann Krüger (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 10. Jg., 8 (2007), Wiesbaden, 11–29. Klopfer, Max, Ethik-Klassiker von Platon bis John Stuart Mill. Ein Lehr- und Studienbuch, Stuttgart 2008. Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/Boston 2011. Knoepffler, Nikolaus, Angewandte Ethik, Paderborn 2018. Knoll, Manuel, Martha C. Nussbaum. In: Information Philosophie, 1 (2018), 28–37.

266 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Ders., Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philo­ sophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, Paderborn 2009. Knysh, Alexander, Sufism: A New History of Islamic Mysticism, Oxford 2017. Ders., Islamic Mysticism. A Short History, Leiden/Köln/Boston 2010. Koch, Friedrich, Der Kaspar-Hauser-Effekt: Über den Umgang mit Kindern, Opladen 1995. Kock, Ilona, Ontologische Begründungen von Ethik durch Einheitserfahrung im Denken Plotins und Ghazalis, Nordhausen 2011. Koglin, Ute/Petermann, Franz, Kindergarten- und Grundschulalter: Entwick­ lungsrisiken und Entwicklungsabweichungen. In: Franz Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie, Göttingen 72013, 101–118. König, Karl, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen 102011. Körner, Felix, Der Koran ist mehr als die Aufforderung, anständig zu sein. Her­ meneutische Neuansätze zur historisch-kritischen Auslegung in der Türkei. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamverherrlichung: Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden 2010, 29–44. Ders., Kirche im Angesicht des Islam: Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart 2008. Krainer, Larissa/Heintel, Peter, Prozessethik. Zur Organisation ethischer Ent­ scheidungsprozesse, Wiesbaden 2010. Krewet, Michael, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg 2011. Krönung, Bettina, Gottes Werk und Teufels Wirken. Traum, Visionen, Imagina­ tion in der frühbyzantinischen monastischen Literatur, Berlin/Boston 2014. Kuld, Lothar/Gönnheimer, Stefan, Compassion – Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln, Stuttgart 2000. Kurbacher, Frauke, Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würz­ burg 2017. Kurnaz, Serdar, Hermeneutische Modelle der islamischen Tradition – Moderne Lesearten – Tore zum interreligiösen Gespräch. In: Bernd Schröder/Harry Harun Behr/Katja Boehme/Daniel Krochmalnik (Hrsg.), Buchstabe und Geist: Vom Umgang mit Tora, Bibel und Koran im Religionsunterricht, Berlin 2017, 99–123. Lambton, Ann K.S., al-Dawānī. In: EI2, Vol. 2, 33–34. Lapsley, Daniel/Yeager, David S., Moral-character education. In: Irving B. Weiner/William M. Reynolds/Gloria E. Miller (Eds.), Handbook of Psychol­ ogy: Educational Psychology, Hoboken 2013, 289–348. Leaman, Oliver, Dawwani. In: ders. (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, New York 22015, 402–404. Ders., Miskaway. In: Ders. (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, London/New York 2015, 323–327. Ders., ʿAbdullah Ansari al-Harawi. In: ders. (ed.), The Biographical Encyclopedia of Islamic Philosophy, New York 22015, 139–141. Ders./Rizvi, Sajjad, The developed kalam tradition. In: Timothy J. Winter (ed.), The Cambridge companion to classical Islamic theology, Cambridge/New York 2008, 77–96.

267 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Ders., An Introduction to Classical Islamic Philosophy, Cambridge 22004. Legenhausen, Hajj Muhammad, Intention, Faith and Virtue in the Shi’i Moral Philosophy. In: Jochen Schmidt (Hrsg.)/Idris Nassery, Moralische Vortreff­ lichkeit in der pluralen Gesellshaft. Tugendethik aus philosophischer, christli­ cher und muslimischer Perspektive, Paderborn 2016, 113–131. Lesch, Walter, Art. ›Hermeneutische Ethik/Narrative Ethik‹. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 231–242. Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i.Br./München 1992. Ders., Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität, Freiburg i.Br. 1987. Librande, Leonard, Ibn Abī al-Dunyā. Certainty and Morality. In: Studia Isla­ mica, 100, 101 (2005), 5–42. Lienemann, Béatrice, Aristoteles’ Konzeption der Zurechnung, Berlin 2018. Linder, Lisa, Respekt. In: Dieter Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte. Von Achtsamkeit bis Zivilcourage – Basiswissen aus Psychologie und Philosophie, Berlin/Heidelberg 2016, 167–175. Lundt, Bea, »Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident«. Besprechung in: Fabula (2011), Vol. 52 (3), 325–327. Lützen, Florian, Mit dem sehenden Herzen in den Islamischen Religionsunter­ richt – Über die inneren Kräfte des Menschen. In: Fahima Ulfat/Ali Ghandour (Hrsg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule. Theologische und didakti­ sche Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Wiesbaden 2020, 65–93. Lohmann, Georg, Werte, Tugenden und Urteilsbildung. Gegenstände und Ziele von Ethikunterricht und Politikunterricht. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Werte in der politischen Bildung, Didaktische Reihe der Landeszen­ trale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Schwalbach 2000, 202–216. Macintyre, Alasdair, Ethics in the Conflicts of Modernity: An Essay on Desire, Practical Reasoning, and Narrative, Cambridge 2016. Ders., Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 2006. Ders., After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981. Malti-Douglas, Fedwa, Structures of Avarice. The Bukhalā’ in Medival Arabic Literature, Leiden 1987. Diers., »Playing with the Sacred. Religious Intertext in Adab Discourse«. In: Asma Afsaruddin und A. H. Mathias Zahniser (Hrsg.), Humanism, Culture, and Language in the Near East. Studies in Honor of George Krotkoff, Indiana 1997, 51–59. Maraş, Ibrahim, Mutluluk. In: Müfit Selim Saruhan, İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, Ankara 22014, 245–264. Marcotte, Roxanne D., Ibn Miskawahy’s Al-Saʿādāt (The Order of Happiness). In: Y. Tzvi Langermann (ed.), Monotheism and Ethics. Historical and Con­ temporary Intersections among Judaism, Christianity and Islam, Vol. II, Leiden/Boston 2012, 141–161.

268 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Margalit, Avishai, Decent Society, Harvard 1996. Ders., Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt a.M. 1994. Ders., Menschenwürde zwischen Kitsch und Vergötterung. In: Otto Neu­ maier/Clemens Sedmak/Michael Zichy (Hrsg.), Gerechtigkeit, Lancaster 2005, 13–32. Markowitsch, Hans J./Schreier, Margit M. (Hrsg.), Reframing der Bedürfnisse: psychische Neuroimplantate, Wiesbaden 2019. Marotzki, Winfried/Bauer, Walter, Zur sittlich-patriotischen Erziehung in der DDR-Pädagogik. In: Heinz-Hermann Krüger/Ders. (Hrsg.), Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Zwischen Systemvorgaben und Pluralität, Opla­ den 1994. Marschütz, Gerhard, theologisch ethisch nachdenken, Bd. 1, Würzburg 2009. Mauermann, Lutz, Pädagogische Explikation. In: Lutz Koch et.al. (Hrsg.), Hand­ buch der Erziehungswissenschaft, Bd. I, Leiden 2019. Maurer, Hanspeter/Gurzeler, Beat, Handbuch Kompetenzen. Strategien zur Förderung überfachlicher Kompetenzen, Bern 2005. Mayer, Verena, Die Moralität der Gefühle, Berlin/Boston 2002. Ivanyi, Katharina, Adab, akhlāq and Early Modern Ottoman Paraenesis: Birgivī Meḥmed Efendī’s (d. 981/1573) al-Ṭarīqa al-muḥammadiyya. In: MayeurJaouen, Catherine (ed.), Adab and Modernity A »Civilising Process«? (Six­ teenth–Twenty-First Century), Leiden/Boston 2020, 49–62. Dies./Luca Patrizi, Ethics and Spirituality in Islam: Sufi adab. In: Catherine Mayeur-Jaouen (ed.), Adab and Modernity A »Civilising Process«? (Six­ teenth–Twenty-First Century), Leiden/Boston 2020, 1–44. Mayring, Philipp, Individuelle und situative Bedingungsfaktoren für Wohlbe­ finden – Ergebnisse psychologischer Glücksforschung. In: Hans-Peter Ecker (Hrsg.), Orte des guten Lebens. Entwürfe humaner Lebensräume, Würzburg 2007, 51–60. Mecheril, Paul, Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim/Basel 2004. Mendl, Hans, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015. Merton, Robert K., Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin/Bos­ ton 1995. Mesch, Walter, Die aristotelische Tugendethik und ihre Attraktivität aus heutiger Sicht. In: Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Grundbegriffe des Praktischen, Freiburg 2016, 229–252. Metz, Johann Baptist, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Johann Reikerstorfer (Hrsg.), Freiburg i.Br. 22013. Meulemann, Heiner, Kulturumbruch und Wiedervereinigung. Wertewandel in Deutschland in den letzten 60 Jahren. In: Frank Faulbaum/Christof Wolf (Hrsg.), Gesellschaftliche Entwicklungen im Spiegel der empirischen Sozial­ forschung, Wiesbaden 2010, 59–91. Mevlana, Mesnevi, Adnan Karaismailoğlu (Hrsg.), Bd. 1, Ankara 2007. Meyer-Drawe, Käte, Die Beziehung zum Anderen beim Kind. Merleau Pontys Konzeption kindlicher Sozialität. Bildung und Erziehung, Bd. 37, 2 (1984), 157–168.

269 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Micus-Loos, Christiane, Anerkennung des Anderen als Herausforderung in Bildungsprozessen. In: Zeitschrift für Pädagogik, 58, 3 (2012), 302–320. Mieth, Dieter, ›Literaturethik als narrative Ethik‹. In: Karen Joisten (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17, Berlin 2007, 215–233. Miller, Christian/Knoble, Angela, Some Foundational Questions in Philosophy about Character. In: Ders./R. Michael Furr/dies./William Fleeson (ed.), Character. New directions from philosophy, psychology, and theology, Oxford 2015, 19–40. Miskawayh, Ḥikam al-Furs, übers. Alma Giese, »Perennial Philosophy«. In: Seyyed Hossein Nasr/Mehdi Aminrazavi (ed.), An Anthology of Philosophy in Persia, Vol. I, London/New York 2008, 326–387. Ders., Tartīb as-saʿādāt wa-manāzil al-ʿulūm, ʿAlī aṭ-Ṭūbǧī (ed.), Kairo 1928. Ders., Al-Hikmah al-khalidah: Javidan khirad, Abd al-Rahman Badawi (ed.), Cairo 1952. Ders., Tertîbü’s-saâdet ve menazilü’l-ulûm, Ebû’l Kasım İmami (ed.), Tehran 2000. Mohamed, Yasien, The Path to Virtue: The Ethical Philosophy of Al-Raghib Al-Esfahani, An Annotated Translation with critical introduction of Kitab Al-Dhari’ah ila Makarim Al-Shariah, Kuala Lumpur 2006. Ders., The Ethical Philosophy of Al-Rāghib Al-Iṣfahānī, Journal of Islamic Studies, January (1995), Vol. 6, 51–75. Ders., Hilm. In: Oliver Leaman (ed.), The Qurʾan: an Encyclopedia, New York 2006. Ders., The Evolution of Early Islamic Ethics. In: American Journal of Islamic Studies, 18, 4 (2001), 89–133. Mokrosch, Reinhold, Werte-Erziehung und Schule: Ein Handbuch für Unterrich­ tende, Göttingen 2009. Moosa, Ebrahim, Muslim Ethics? In: William Shweiker (ed.), The Blackwell Companion to Religious Ethics, Oxford 2005, 237–243. Ders., Ghazālī and the Poetics of Imagination, North Carolina 2005. Moser, Susanne, Tugend als Wert. Christoph Halbig und Max Scheler im Vergleich. In: Labyrinth, 18, 2 (2016), 158–192. Madelung, Wilfred, Ar-Rāgib al-Isfahānī und die Ethik al-Gazalis. In: Ders. (Hrsg.), Religious Schools and Sects in Medieval Islam, London 1985, 152–163. Mayeur-Jaouen, Catherine/Patrizi, Luca, Ethics and Spirituality in Islam: Sufi »Adab«. In: Francesco Chiabotti/Eve Feuillebois-Pierunek/Dies./Dies., Ethics and Spirituality in Islam, Leiden/Boston 2016, 1–46. Mecheril, Paul/Varela, Castro et. al., Migrationspädagogik, Weinheim u.a. 2010. Möhring, Maren, Die Regierung der Körper. »Gouvernementalität« und »Tech­ niken des Selbst«. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2, 3 (2006), 284–290. Münker, Herfried/Loll, Anna, Das Dilemma von Tugend und Freiheit. Die Notwendigkeit von Eigenverantwortung in einer funktionierenden Bürgerge­ sellschaft. In: FES, betrifft: Bürgergesellschaft 17, Berlin 2005, 1–14.

270 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Musall, Frederek, Vom Schlüssel der Wissenschaften‘ zum,Schlüssel des Geset­ zes‘. Wissenskultur und Wissenstransfer im europäischen Mittelalter am Beispiel Moshe ben Maimons. In: Michael Borgolte et al. (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawis­ senschaft, Berlin 2008, 210–227. Nagel, Tilman, Das Kalifat der Abbasiden. In: Ulrich Haarmann/Heinz Halm (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 52004, 101–165. Nallino, Carlo Alfonso, La letteratura araba, Rom 1948. Nanji, Azim, Islamic Ethics. In: Peter Singer (ed.), A Companion to Ethics, Oxford/Cambridge (USA) 1993, 106–118. Nasr, Seyyed Hossain, Persian Sufi Literature: Its Spiritual and Kultural Signif­ icance. In: Leonard Lewisohn (ed.), The Heritage of Sufism. The Legacy of Medieval Persian Sufism, Vol. II, Oxford 1999, 1–18. Ders., Sufi Essays, New York 1972. Nassery, Idris/Ahmed, Rumee/Tatari, Muna (ed.), The Objectives of Islamic Law. The Promises and Challanges of the Maqasid al-Shariʿa, Lanham 2018. Neff, Kristin, Self-Compassion, New York 2011. Nekroumi, Mohammed, Tugend und Gemeinwohl. Grundzüge hermeneuti­ schen Denkens in der postklassischen koranischen Ethik am Beispiel der maqāṣid-Theorie von aš-Šāṭibī, Wiesbaden 2017. Netton, Richard, Al-Fārābī and his School, London/New York 1992. Neuwirth, Angelika, Eine »religiöse Mutation der Spätantike«: Von tribaler Genealogie zum Gottesbund. Koranische Refigurationen pagan-arabischer Ideale nach biblischen Modellen. In: Almut-Barbara Renger/Isabel Toral-Nie­ hoff (eds.), Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel, Berlin Studies of the Ancient World 2014, 201–230. Newmark, Cathrine, Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg 2008. Nicholson, Reynold A., A historical enquiry concerning the origin and develop­ ment of Sufism. In: Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland, Cambridge 1906, 303–348. Nida-Rümelin, Julian /Klaus Zierer, Bildung in Deutschland vor neuen Heraus­ forderungen, Baltmannsweiler 2017. Ders., Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013. Ders., Die physische Dimension der Bildung. In: Michael Krüger/Nils Neuber (Hrsg.), Bildung im Sport, Beiträge zu einer zeitgemäßen Bildungsdebatte, Wiesbaden 2011, 17–35. Ders., Verantwortung, Stuttgart 2011. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, Berlin/New York 1999. Nilsson, Martin P., Geschichte der griechischen Religion; Bd. 1–2, HAW 5,2/1 u. 5,2/2, München 41988. Nökel, Sigrid, Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld 2002.

271 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Nühlen, Maria, Kultur – also sind wir!: Eine Einführung in die Kulturphiloso­ phie, Münster 2016. Nurbaksh, Javad, The Key Features of Sufism in the Early Islamic Period. In: Leonard Lewisohn (ed.), The heritage of Sufism in the Early Islamic Period, Vol. I, Oxford/Boston 1999. Nussbaum, Martha, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt 2014. Dies., Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 82008. Dies., Women and Human Development. The Capabilities Approach, Cam­ bridge 2000. Dies., Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999. Dies., Aristotle on emotion and rational persuasion. In: Amélie Oksenberg Rorty (ed.), Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley 1996, 303–323. Dies./Sen, Amartya, The Quality of Life, Oxford 1993. Dies., Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, Cambridge 1992. O’Neill, Onora, Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortlichkeit. In: Neumaier Otto/Clemens Sedmak/Miachel Zichy (Hrsg.), Gerechtigkeit. Auf der Suche nach einem Gleichgewicht, Frankfurt a.M. 2005, 33–55. Ohlander, Erik S., Adab in Ṣūfism. In: EI3, 40–43. Orfali, Bilal/Baalbaki, Ramzi, The Book of Noble Character. The Book of Noble Character. Critical Edition of Makārim al-akhlāq wa-maḥāsin al-ādāb wa-badāʾiʿ al-awṣāf wa-ghāraʾib al-tashbīhāt, Attributed to Abū Manṣūr al-Thaʿālibī (d. 429/1039), Leiden/Boston 2015. Orkiszewska, Anna, Der Einfluss von Wertewandel auf die intimen Lebensfor­ men in der postmodernen Gesellschaft, Onlineressource in der Deutschen Nationalbibliografie, Hamburg 2010. Orlow, Dietrich, Die Adolf-Hitler-Schulen. In: Institut für Zeitgeschichte, 13, 3 (1965), 272–284. Öhlschläger, Claudia (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009. Özbal, Nurcan/Aydoğan, İsmail, Eğitimde Estetiğin gerekliliği ve oluşumu üzerine bir inceleme. In: DergiPark Akademik, 7, 2 (2017), 249- 260. Özturan, Hümeyra, İslam Ahlâk Düşüncesi Çalışmalarının Dünü ve Bugününe Dair Bir İnceleme. In: Ömer Türker/Kübra Bilgin Tiryaki, İslam Ahlâk Litera­ türü. Ekoller ve Problemler, Ankara 22016, 1–41. Pabst, Esther Suzanne, Die Erfindung der weiblichen Tugend: kulturelle Sinnge­ bung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. Pala, Iskender, Nasihatname. In: TDV, Bd. 32, 409–410. Parens, Joshua, An Islamic Philosophy of Virtuous Religions: Introducing Alfarabi, New York 2006. Pauer-Studer, Herlinde, Tugendethik. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spie­ gel/Markus Thiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Paderborn 22017, 79–84. Dies., Einführung in die Ethik, Wien 22010.

272 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Pellat, Charles, Arabische Geisteswelt. Ausgewählte und übersetzte Texte von Al-Jahiz (777–869), übertr. v. Walter W. Müller, Bibliothek des Morgenlan­ des, Zürich/Stuttgart 1967. Perkams, Matthias, Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie. In: Heidrun Eichner/Ders./Christian Schäfer (Hrsg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 13–31. Peters, Francis E., The Greek and Syrian Background. In: Seyyed Hossein Nasr (Hrsg.), History of Islamic Philosophy, New York 1996, 40–51. Peters, Uwe Henrik, Charakter. In: Ders. Wörterbuch der Psychatrie und medi­ zinischen Psychologie, München u.a. 41990. Pietruschka, Ute, Apophthegmata Patrum im muslimischen Gewand. Das Bei­ spiel Mālik ibn Dīnār. In: Claudia Rammelt/Cornelia Schlarb/Egbert Schlarb, Begegnungen in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge dialogischer Exis­ tenz, Berlin 2015, 160–171. Piper, Ernst, Preußische Tugenden im Zeitalter der totalitären Herausforderung. In: ZRGG, 53, (2001), 35–45. Pitschke, Christoph, Skrupulöse Frömmigkeit im frühen Islam das »Buch der Gewissensfrömmigkeit« (Kitab al-Waraʾ) von Ahmad b. Hanbal, Wiesba­ den 2010. Platon, Phaidon. Politeia, in d. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, hrsg. v. Ernesto Gtrassi/Walter F. Otto, Hamburg 1958. Pohlmann, Stefan/Vierzigmann, Gabriele/Winterhalder, Sven, Einführung. In: Stefan Pohlmann/Gabriele Vierzigmann/Thomas Doyé (Hrsg.), Weiter den­ ken durch wissenschaftliche Weiterbildung, Wiesbaden 2017, 19–69. Pojman, Louis P., Discovering what is right and wrong, Belmont 32005. Pomerantz, Maurice A./Shahin Aram A. (ed.), The Heritage of Arabo-Islamic Learning, Leiden 2015, 73–90. Prasad, Rajendra, A Historical-developmental Study of Classical Indian Philos­ ophy of Morals, New Delhi 2009. Precht, David Richard, Anna, die Schule und der liebe Gott, München 2013. Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechti­ gung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesba­ den 42019. Quinn, Regina Ammicht, »Gut« sein: Theorie und Praxis von Wertediskursen. In: Armin Hackl/Olaf Steenbuck (Hrsg.)/Gabriele Weigand (Hrsg.), Werte schulischer Begabtenförderung. Begabungsbegriff und Werteorientierung, Karg-Stiftung, Frankfurt a.M. 2011, 12–18. Quintern, Detlef/Ramahi, Kamal, Qarmaṭen und Iḫwān aṣ-Ṣafā’. Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbasiden und die Universalistische Geschichtstheo­ rie, Hamburg 2006. Radić, Stjepan, Die Rehabilitierung der Tugendethik in der zeitgenössischen Philosophie. Eine notwendige Ergänzung gegenwärtiger Theorie in der Ethik, Münster 2011.

273 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Radtke, Andreas, Offenbarung zwischen Gesetz und Geschichte, Quellenstu­ dien zu den Bedingungsfaktoren frühislamischen Rechtsdenkens, Wiesba­ den 2003. Radtke, Bernd, Materialien Zur Alten Islamischen Frömmigkeit, Leiden/Bos­ ten 2009. Ders., Die Literarisierung der mamlukischen Historiografie. Versuch einer Selbstkritik. In: Arnoud Vrolijk/Jan P. Hogendijk, O ye Gentlemen. Arabic Studies on Science and Literary Culture, Leiden 2007, 263–274. Rahman, Fazlur, Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradi­ tion, Chicago 1984. Ders., Functional Interdependence of Law and Theology. In: Gustave E. von Grunebaum (ed.), Theology and Law in Islam, Wiesbaden 1971, 89–97. Ramadan, Tariq, Muslimsein in Europa. Untersuchung der islamischen Quellen im europäischen Kontext, Köln 2001. Rapp, Christof, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 42011. Ders., Aristoteles. Bausteine für eine Theorie der Emotionen. In: Ursula Renz/ Hilge Landweer (Hrsg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Witt­ genstein, Berlin/New York 2008, 45–68. Raths, Louis E./Harmin, Merrill/Simon, Sidney B., Werte und Ziele. Methoden zur Sinnfindung im Unterricht, München 1976. Rawls, John, A Theory of Justice, Cambridge 2005. Reichenbach, Roland, Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung, Stuttgart 2007. Reinhart, A. Kevin, Ethics in the Qurʾān. In: Jane Dammen McAuliffe (ed.), Encyclopaedia of the Qurʾān, Vol. II, Leiden/Boston 2002, 55–79. Ders., Before Revelation. The Boundaries of Muslim Moral Thought, New York 1995. Reinmann, Gabi, Lehrkompetenzen von Hochschullehrern: Kritik des Kompe­ tenzbegriffs in fünf Thesen. In: Olaf Hartung/Marguerite Rumpf (Hrsg.), Lehrkompetenzen in der wissenschaftlichen Weiterbildung. Konzepte, For­ schungsansätze und Anwendungen, Wiesbaden 2015, 17–36. Reisenauer, Cathrin/UlseßSchurda, Nadine, Anerkennung in der Schule über Anlässe, Abläufe und Wirkweisen von Adressierungen, Bern 2018. Ricken, Friedo, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem ‹Ethi­ schen› verzichten? In: ThPh, 59 (1984), 161–177. Ricken, Friedo, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976. Riegler, Anna, Anerkennende Beziehung in der Sozialen Arbeit. Ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Wiesbaden 2016. Rippin, Andrew, Muslims: Their Religious Beliefs and Practices, New York 1990. Rizzolatti, Giacomo, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M. 2008.

274 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Rodonò, Aurora, Ambiguitätsdingsbums. Oder: Unordnung aushalten, Rassis­ mus bekämpfen im (ethnologischen) Museum. In: Ansgar Schnurr/Sabine Dengel/Julia Hagenberg/Linda Kelch (Hrsg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Päd­ agogik, Bielefeld 2021, 273–287. Roeger, Carsten, Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung, Opladen/Berlin/Toronto 2016. Rommelspacher, Birgit, Anerkennung und Ausgrenzung: Deutschland als mul­ tikulturelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002. Rommerskirchen, Jan, Das Gute und das Gerechte. Einführung in die praktische Philosophie, Wiesbaden 2015. Rosa, Hartmut/Bohmann, Ulf, Die politische Theorie des Kommunitarismus: Charles Taylor, Opladen 22016, 65–102. Dies., Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M. 1998. Rosenthal, Franz, The Classical Heritage in Islam, London 2003. Ders., Knowledge Triumphant. The Concept of Knowledge in Medieval Islam. Leiden: Brill 1970. Ders., Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich 1965. Rotter, Gernot/Abu l-Faradsch, Und der Kalif beschenkte ihn reichlich, Tübin­ gen/Basel 1977. Rowson, Everett K., Ar-Rāgib al-Isfahānī. In: EI2, 389–390. Rudolph, Ulrich, (Hrsg.), Abū Naṣr al-Fārābī: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt, Berlin/Boston 2022. Ders., Einleitung. In: ders. (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd.1, Basel 2012. Ders., Abū Ḥāmid al-Ġazālī. In: ders./Renate Würsch/Amos Bertolacci, Grund­ riss der Geschichte der Philosophie: Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 2: 11. und 12. Jahrhundert. Zentrale und östliche Gebiete, Basel 2021, 253–345. Ders., Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Mün­ chen 32013. Rumi, Jalaluddin, The Mathnawi of Jalalu'ddin Rumi, übers. Reynold A. Nichol­ son (ed.), London 1925. Salem, Feryal, The Emergence of Early Sufi Piety and Sunnī Scholasticism. ʿAbdullāh b. al-Mubārak and the Formation of Sunnī Identity in the Second Islamic Century, Leiden 2016. Sandel, Michael, Die Grenzen der Gerechtigkeit und das Gut der Gemeinschaft. In: Herlinde Pauer-Studer, Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Frankfurt a.M. 2000, 237–259. Sarrazin, Thilo, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, München 2014. Scardino, Carlo, Edition antiker landwirtschaftlicher Werke in arabischer Spra­ che, Bd. 1, Boston/Berlin 2015.

275 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Schambeck, Mirjam, Was religiöse Wertebildung zur Integration beitragen kann. Überlegungen aus der Religionspädagogik. In: Mirjam Schambeck/Sabine Pemsel-Maier (Hrsg.), Welche Werte braucht die Welt? Werte-bildung in christlicher und muslimischer Perspektive, Freiburg i.Br. 2017, 118–138. Scherr, Albert, Pierre Bourdieu. La distinction. In: Samuel Salzborn (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. 100 Schlüsselwerke im Portrait, Wiesbaden2 2016, 313–316. Scheler, Max, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1955. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern 41954. Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, aufgrund der Originaldrucke hrsg. v. Gerhard Fricke/ Herbert G. Göpfert mit Herbert Stubenrauch, Bd. 1–5, München 31962. Ders., Über Anmut und Würde, Klaus L. Berghahn (Hrsg.), Stuttgart 1997. Schilpp, Paul A./Friedman, Maurice (Hrsg.), Martin Buber, Stuttgart 1963. Schimmel, Annemarie, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 42008. Dies., Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam, München 32002. Dies., Abū al-Husayn al-Nūrī, Qibla of the Lights. In: Leonard Lewisohn (ed.), The Heritage of Sufism, Oxford/Boston 1999. Dies., Sufismus und Volksfrömmigkeit. In: Der Islam III. Volksfrömmigkeit, Islamische Kultur, Zeitgenössische Strömungen, Peter Antes (Hrsg.) u. a. Stuttgart 1990, 157–266. Dies., Und Muhammad ist Sein Prophet: Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit, München 31995. Dies., »O Leute, rettet mich vor Gott«. Texte islamischer Mystik, Freiburg i.Br./ Basel/Wien 1995. Dies., Mystische Dimensionen des Islam, München 31995. Dies., Yunus Emre. In: Numen, 8, 1 (1961), 12–33. Schmidt, Ernst A./Ullmann, Manfred, Aristoteles in Fes. Zum Wert der arabi­ schen Überlieferung der Nikomachischen Ethik für die Kritik des griechischen Textes, Heidelberg 2011. Schmidt, Jochen, Was erwartet der Staat von der Religion? Ein Versuch über Tugend und Religion. In: Rüdiger Althaus/ders. (Hgg.), Staat und Religion, Freiburg i. Br. 2019 [in Vorbereitung zur Drucklegung], 1–14. Ders. (Hrsg.)/Idris Nassery, Moralische Vortrefflichkeit in der pluralen Gesell­ schaft. Tugendethik aus philosophischer, christlicher und muslimischer Per­ spektive, Paderborn 2016. Ders., Religion, Kultur und Moral. Überlegungen im Anschluss an Kant und Wittgenstein. In: Michael Hofmann/Klaus von Stosch/Sabine Schmitz (Hgg.), Religion und Kultur, Bielefeld 2016, 163–173. Ders., Unveröffentlichtes Manuskript: Glaube und Charakter (2016). Ders., »Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder«. In: Luther, 86, (2015), 8–20. Ders., Critical Virtue Ethics. In: Religious Inquiries, 3, 5 (2014), 35–47.

276 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Ders., Selbstbekenntniskompetenz Überlegungen zum Sinn theologisch-ethi­ scher Arbeit im interreligiösen Horizont, online: https://www.academia.edu /30558032/Selbstbekenntniskompetenz_als_interreligi%C3%B6se_Schl% C3%BCsselkompetenz, letzter Aufruf 31.1.2019 (Varia). Ders., Wahrgenommene Individualität. Eine Theologie der Lebensführung, Göttingen 2014. Ders., Achtsamkeit. Versuch zur Ethischen Theologie. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 54, 1 (2012), Berlin, 23–38. Ders., Was erwartet der Staat von der Religion? Ein Versuch über Tugend und Religion. In: Rüdiger Althaus/Ders. (Hrsg.), Staat und Religion. Aspekte einer sensiblen Verhältnisbestimmung, Freiburg i.Br. 2019, 134–149. Schmidt-Tiedemann, Joachim, Wertekompetenz als Ziel der Ingenieurausbil­ dung. In: Heinz Duddeck (Hrsg.), Technik im Wertekonflikt, Wiesbaden 2001, 236–246. Schneider, Hans Julius, Einleitung: Ethisches Argumentieren. In: Hastedt von Heiner (Hrsg.)/Ekkehard Martens, Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, 13–47. Schneider, Notker, Vernunft und Gefühl. In: IZPP. Ausgabe 1/2018. Themen­ schwerpunkt »Gefühl und Vernunft«, 1–11. Schobin, Janosch/Leuschner, Vincenz/Flick, Sabine/Alleweldt, Erika/Heuser, Eric Anton/Brandt, Agnes, Freundschaft heute: Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie, Bielefeld 2016. Schöck, Cornelia, Möglichkeit und Wirklichkeit menschlichen Handelns. ,Dyna­ mis‘ (qūwa/qudra/istitā’a) in der islamischen Theologie. In: Traditio, 59 (2004), 79–128. Schönberger, Josef, Die Wiederentdeckung des Respekts. Wie interkulturelle Begegnungen gelingen, München 2010. Schreckenberg, Heinz, Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der deutschen Jugend unter Hitler. Anmerkungen zur Literatur, Münster/Hamburg/Lon­ don 2001. Schregle, Götz, Deutsch-Arabisches Wörterbuch, Wiesbaden 1977. Schubert, Gudrun, Annäherungen. Der mystisch-philosophische Briefwechsel zwischen Ṣadr ud-Dīn Qonawī und Nāṣir ud-Dīn Ṭūsī, Bibliotheca Islamica, Bd. 43, Stuttgart 2011. Schuon, Frithjof, Esoterik als Grundsatz und als Weg, Paris 1997. Schuster, Josef, Moralisches Können, Würzburg 1997. Schwarenegger, Christian/Hörtnagel, Jakob/Erber, Lena, Straffer Körper, gutes Leben? Fitnessinhalte auf Instagram zwischen Ideal und Selbst und deren Aneignung durch junge Frauen. In: Elke Grittmann/Katharina Lobin­ ger/Irebe Neverla/Monika Pater (Hrsg.), Körperbilder – Körperpraktiken. Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern in Medienkulturen, Köln 2018, 76–94. Schwarz, Michael, The Letter of Al-Haṣanl al-Baṣrī. In: Oriens, 20 (1967), 15–30.

277 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Schweidler, Walter, Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis in die Gegenwart, Wiesbaden 2014. Schwendemann, Nadja, Werthaltungen von Lehrkräften in der Erwachsenenbil­ dung: Eine rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2018. Sedgwick, Mark, Western Sufism: From the Abbasids to the New Age, Oxford 2016. Seligmann, Martin, Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben, Bergisch Gladbach 2005. Sellheim, Rudolf, »Faḍīla«. In: EI2, Vol. 3, 728–729. Ders., Buchbesprechung. In: Der Islam, Berlin 53/1976, 127–129. Selman, Robert L., Die Entwicklung des sozialen Verstehens: entwicklungspsy­ chologische und klinische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1984. Seppäla, Serafim, In speechless Ecstacy. Expression and Interpretation of Mysti­ cal Experience in Classical Syriac and Sufi Literature, Helsinki 2003. Sezgin, Fuat, Geschichte des arabischen Schrifttums, Schöngeistige Literatur, Bd. X-XVII, Leiden/Frankfurt a.M. 1967–2015. Shaikh, Sa'diyya, Sufi Narratives of Intimacy: Ibn ›Arabī, Gender, and Sexuality, North Caroline 2012. Singer, Tania/Bolz, Matthias, Mitgefühl. In: Alltag und Forschung, Max Planck Society 2013. Slote, Michael, Morals from Motives, Oxford 2001. Snow, Nancy E., Introduction. On: Dies. (Hrsg.), Cultivating virtue. Perspectives from philosophy, theology, and psychology, Oxford/New York 2015, 1–16. Solomon, David, Internal Objection to Virtue Ethics. In: Midwest Studies in Philosophy, 13, 1 (1988), 428–441. Sönmez, Ibrahim Kafi, Niyet. In: TDV, Bd. 33, 169–172. Speth, Rudolf/Klein, Ansgar, Demokratische Grundwerte in der pluralisierten Gesellschaft. In: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Werte in der politi­ schen Bildung, Didaktische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Schwalbach 2000, 30–55. Spaemann, Robert, Über den Begriff der Menschenwürde. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschen­ würde. Historische Voraussetzungen, säkulare Gestalt, christliches Verständ­ nis, Stuttgart 1987, 295–314. Specht, Jule/Gerstorf, Denis, Persönlichkeitsentwicklung und Coaching. In: Siegfried Greif et al. (Hrsg.), Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching, Springer Reference Psychologie, Wiesbaden 2018, 441–448. Dies., Charakterfrage: wer wir sind und wie wir uns verändern, Hamburg 2018. Dies. (ed.), Personality development across the lifespan, London 2017. Spiel, Irina, Empathie- und Compassion-Training. In: Julian Nida-Rüme­ lin/Irina Spiegel/Markus Thiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. I, Paderborn 2017, 245–251. Stangneth, Bettina, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants »Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft«, Würz­ burg 2000.

278 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Steenblock, Volker, Glück, Lust und Seelenruhe. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedeman (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Paderborn 22017, 142–147. Stichweh, Rudolf, Differenzierung der Wissenschaft, Zeitschrift für Soziologie, 8, 1 (1979), 82–101. Stocker, Michael, Die Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien. In: Klaus P. Rippe/Peter Schaber (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998. Stojanov, Krassimir, Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Ver­ teilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit. In: Michael Wim­ mer/Roland Reichenbach/Ludwig A. Pongratz (Hrsg.), Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007, 29–48. Ders., Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwick­ lung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006. Straub, Jürgen, Kompetenz. In: ders./Arne Weidemann/Doris Weidemann, Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien- Anwendungs-felder, Stuttgart 2007, 35–47. Ders., Kulturwissenschaftliche Psychologie. In: Friedrich Jäger/ders. (Hrsg.), Paradigmen und Disziplinen. Reihe Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2004, 568–591. Ders., Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften, Göttingen 1999. Strohmeier, Gotthard, Ethical Sentences and Anecdotes of Greek Philosophers in Arabic Tradition. In: Actes du XIV Congrès International dʾArabisant et dʾIslamisant, Paris 1970. Sutter, Barbara, Der Wille zur Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement und die Transformation des Sozialen, Köln 2018. Swanton, Christine, Cultivating Virtue. Two Problems for Virtue Ethics. In: Nancy E. Snow (Hrsg.), Cultivating virtue. Perspectives from Philosophy, Theology, and Psychology, Oxford/New York 2015, 111–134. Dies., Virtue Ethics. A pluralistic View, New York 2003. Dies., Cultivating Virtue, mit Verweis auf Robert N. Johnson, Virtue and Right. In: Ethics, 113 (2003), 810–834. Şahin, Ertuğrul, Europäischer Islam. Diskurs im Spannungsfeld von Universali­ tät, Historizität, Normativität und Empirizität, Wiesbaden 2017. Şahinoğlu,M. Nazif, Ahlâk- ı Muhsinî. In: TDV, Bd. II, 17. Taşköprizade, Ahmed Efendi, Ahlak ve Siyaset Risaleleri (Risale fi Beyani Esrari’l-Hilafeti’l-Insaniyye ve’s-Saltanati’l-Ma’neviyye, Risale fi Fazileti Mekarimi’l-Ahlak), Istanbul 2016. Tatar, Burhanettin, Din ve Ahlak İlişkisi. In: Müfit Selim Saruhan, İslam Ahlak Esasları ve Felsefesi, Ankara 22014, 17–36. Tatari, Muna, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Versuch einer islamisch begründeten Positionsbestimmung, Münster 2016. Dies., Mystik im Islam und die Frage des Friedens, Publikation der Internationa­ len Erich-Fromm-Gesellschaft e.V., Online https://www.fromm-gesellschaft .eu/images/pdf-Dateien/Tatari_M_2007.pdf, 2007, 1–9.

279 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Tautz, Monika, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart 2007. Taylor, Charles, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1993. Tekin, Ishak, Der Ansatz des Tahḏīb al-aḫlāq in der islamischen Moralerziehung. In: Yaşar Sarıkaya/Adem Aygün, Islamische Religionspädagogik: Leitfragen aus Theorie, Empirie und Praxis, Münster 2016, 83–108. Tek, Abdürrezzâk, Tasavvufî Mertebeler: Hâce Abdullah el-Ensârî el-Herevî Örneği, Bursa 2008. Terkessidis, Mark, Harte Verhandlungen: über die Wertpluralität in einer Gesell­ schaft der Vielfalt. In: Randolf Rodenstock/Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Werte – und was sie uns wert sind. Eine interdisziplinäre Anthologie, Mün­ chen 2018, 109–125. Thomas, David/Roggema, Barbara, Christian-Muslim Relations. A Biblio­ graphical History, Vol. 1 (600–900), 829–831. Thomas, Tanja/Maier, Tanja, Körper. In: Andreas Hepp/Friedrich Krotz/ Swantje Lingenberg/Jeffrey Wimmer (Hrsg.), Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden 2015, 285–295. Tillmann, Klaus-Jürgen, Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, Ham­ burg 122003. Timmermann, Jens, akrasia/Unbeherrschtheit, Willensschwäche, Handeln wider besseres Wissen. In: Otfried Höffe/Rolf Geiger (Hrsg.), AristotelesLexikon, Stuttgart 2005, 21–23. Todorov, Tzvetan, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Berlin 1996. Topaloğlu, Bekir, Kerîm. In: TDV, Bd. 25, 287–288. Topçu, Nurettin, İsyan Ahlakı, İstanbul 202016. Topkara, Ufuk, Umrisse einer zeitgemäßen philosophischen Theologie im Islam. Die Verfeinerung des Charakters, Wiesbaden 2018. Toral-Niehoff, Isabel, «Sei seine Dienerin, dann wird er dein Diener sein!» Auf der Suche nach der idealen Ehefrau: Ibn ʿAbdrabbih und sein Buch über die Frauen. In: Regula Forster/Romy Günthar (Hrsg.), Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident, Frankfurt a.M. 2010, 255–275. Dies., Erzählen im arabischen adab. Zwischen Fiktionalität und Faktualität. In: Johannes Franzen et.al., Geschichte der Fiktionalität: Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept, Baden-Baden 2018, 117–132. Trommsdorff, Gisela, Autonomie und Verbundenheit im kulturellen Vergleich von Sozialisationsbedingungen. In: Hans Rudolf Leu (Hrsg.), Zwischen Auto­ nomie und Verbundenheit: Bedingungen und Formen von Subjektivität, Frankfurt a.M. 1999, 392–419. Tugendhat, Ernst, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993. Turan, Ramazan, Ibn Miskeveyh’de Erdem Kavramı ve Temel Erdemler. In: Namık Kemal Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi, 1, 2 (2015), 7–35.

280 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Turki, Mohamed, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie, Mün­ chen 2015. Tûsî, Nasîreddin, Ahlak-ı Nâsırî, übers. A. Gafarov/Z. Şükürov, Istanbul 2007. Türker, Ömer/Bilgin, Kübra (Hrsg.), İslâm Ahlâk Literatürü: Ekoller ve Pro­ blemler, Ankara 2015. Ullmann, Manfred, Die Nikomachische Ethik des Aristoteles in arabischer Übersetzung, Teil 1, Wortschatz, Wiesbaden 2011. Uludağ, Süleyman, Riyazet. In: TDV, Bd. 34, 440–441. Ülken, Hilmi Ziya, Uyanış Devirlerinde Tercümenin Rolü, Istanbul 2011. van Doodewaard, William, Sufism: The Mystical Side of Islam, unveröff. Artikel, Universität Western Ontario Canada 1996, 1–13. van Ess, Josef, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Bd. 2, Berlin 1991. Varela, Castro/Mar, Maria do/Jagusch, Birgit, Geschlechtergerechtigkeit in der interkulturellen Jugendarbeit. In: IDA e. V. (Hrsg.), »Rassismus – eine Jugendsünde?« Aktuelle antirassistische und interkulturelle Perspektiven der Jugendarbeit. Tagungsdokumentation, Düsseldorf 2006, 45–55. von Braunmühl, Ekkehard, Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erzie­ hung, Leipzig 2015. von Foerster, Heinz, Wahrnehmen wahrnehmen. In: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, 434–443. von Grunebaum, Gustave E., Medieval Islam, Chicago 1969. von Hentig, Hartmut, Bildung. Ein Essay, Weinheim 2009. https://www.vhs-e ssen.de/pdf/cafephilo2015-06-21.pdf; letzter Zugriff: 01.02.2019. Ders., Allgemeine Lernziele der Gesamtschule. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 12, Stutt­ gart 1969. von Humboldt, Wilhelm, Theorie der Bildung des Menschen. In: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd.1, Stuttgart/Darm­ stadt 31980. Ders., Gesammelte Werke, Bd. I, Berlin 1841. von Stosch, Klaus, Der missverstandene Gott. In: Publik Forum (Dossier), März 2015, 3–5. Ders., Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Pader­ born 2012. Ders., Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit des interreligiösen Dialogs. Untersu­ chungen im Anschluss an Catherine Cornille. In: Ethik und Gesellschaft, 2 (2011), 1–14. Wagner, Edwald, Die literarische Gestaltung von at-Tahtāwīs Bericht über seinen Aufenthalt in Paris (1826–1831). In: Xenja von Ertzdorff (Hrsg.)/Rudolf Schulz, Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums 1998, Bd. 31, Atlanta 2000, 427–446.

281 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Wakelnig, Elvira, Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs. Al-ʿĀmirī, alIsfizārī, Miskawayh, as-Sijistanī und at-Tawhīdī. In: Ulrich Rudolph (Hrsg.), Philosophie in der Islamischen Welt, 8.-10. Jahrhundert, Bd. 1, Basel 2012, 233–252. Walther, Wiebke, Kleine Geschichte der arabischen Literatur: von der vorislami­ schen Zeit bis zur Gegenwart, München 2004. Walzer, Richard/Gibb, Hamilton R., Akhlaq. In: EI2, 325–329. Ders., »Islamic Philosophy: Introductory«. In: A. H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy, Part VIII, Cambridge 1991, 643–699. Weber, Verena, Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität – Universa­ lisierung – Moralische Dilemmata, Würzburg 2002. Weber-Guskar, Eva, Haltung als Selbstverhältnis. Am Beispiel der Würde. In: Frauke A. Kurbacher/Philipp Wünschner (Hrsg.), Was ist Haltung? Begriffs­ bestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg 2016, 181–195. Dies., Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde, Berlin 2017. Dies., Menschenwürde: Kontingente Haltung statt absoluter Wert. In: Mario Brandhorst/Eva Weber-Guskar (Hrsg.), Menschenwürde: eine philosophi­ sche Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, Berlin 2017, 206–233. Wehr, Hans, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 62009. Weinert, Franz E., Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrit­ tene Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim/Basel 22002. Wensinck, Arent J., Niyya. In: EI2, 66–67. Werkmeister, Walter, Quellenuntersuchungen zum Kitāb al-ʿIqd al-Farīd des Andalusiers Ibn ʿAbdrabbih (246/840–328/940), Berlin 1983. Wernstedt, Rolf/John-Ohnesorg, Marei, Der Bildungsbegriff im Wandel. Ver­ führung zum Lernen statt Zwang zum Büffeln, FES Dokumentation einer Konferenz des Netzwerk Bildung vom 5.-6. Juli 2007 Berlin. Westphal, Manon, Kritik- und Konfliktkompetenz. Eine demokratietheoretische Perspektive auf das Kontroversitätsgebot. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 13/14 (2018), 12–17. Williams, Bernard, Ethics and the limits of philosophy, Cambridge 71994. Wils, Jean-Pierre, Tugend und Strukturveränderung. In: JCSW, 30 (1989), 35–60. Winter, Timothy J., Ihyā ʿulūm al-dīn. On Disciplining the Soul and On Breaking the Two Desires, Kitāb Riyādat al-nafs und Kitāb Kasr al-shahawatayn, Books XXII and XXIII of the Revival of the Religious Sciences, übers. T. J. Winter, Islamic Texts Society, Cambridge 1997. Wittgenstein, Ludwig, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nach­ lass, hrsg. von Alois Pichler und Georg Henrik von Wright, Frankfurt a.M. 1994.

282 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Witsch, Monika, Das Subjekt als Korrelation von Individuation und Vergesell­ schaftung oder warum man auch bildungstheoretisch nicht auf einem Bein stehen kann, peDocs, 2011, 1–11. Wood, Allen W., Kant’s ethical thought, Cambridge/New York 1999. Würsch, Renate, Rhetorik und Stilistik im arabischen Sprachraum. In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik. Ein inter­ nationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, Bd. 2, Berlin 2009, 2040–2052. Yaman, Ahmet, Fıkıh – Ahlâk İlişkisi İslâm Amelî Ahlâkının İlke ve Uygulama­ ları Çerçevesinde. Bir Giriş. (Fiqh-Moral Relation: An Introduction Within the Concept of the Principles of Practical Islamic Moral and the Applications). In: Usûl İslam Araştırmaları, 9, 9 (2008), 87–118. Yaran, Cafer S., İslam Ahlak Felsefesine Giriş, Istanbul 2011. Yousef, May A., Das Buch der schlagfertigen Antworten von Abī ʾAwn. Ein Werk der klassisch-arabischen Adab-Literatur, Berlin 1988. Yousefi, Hamid Reza, Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn 2014. Zagzebski, Linda Trinkaus, Virtues of the Mind, Cambridge 1996. Zengin, Zeki S., Islam, Ahlâk ve Etik. In: Yıldırım Beyazıt Üniversitesi Bülten, 4 (2016) Ankara, 5–11. Zima, Peter V., Entfremdung: Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Paderborn 2017. Zirfas, Jörg/Jörissen, Benjamin, Phänomenologien der Identität. Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2007. Zurayk, Constantine K., Miskawayh. The Refinement of Character (Tahdhīb al-akhlāq), Chicago 2002. Zürker, Ramona, Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Analyse der Hin­ tergründe und eine didaktische Aufbereitung für den Geschichtsunterricht, Hamburg 2015. Zwick, Elisabeth, Bildung und Ethik. Präliminarien zu einer grundlegenden The­ matik aus historisch-systematischer Sicht. In: Markus Fath (Hrsg.), Bildung und Ethik. Beiträge und Perspektiven jenseits disziplinärer Grenzen, Berlin 2013, 13–40.

283 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .

V. Literaturverzeichnis

Internetquellen www.schulentwicklung.nrw.de/referenzrahmen Statistisches Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/ Pressemitteilungen/2016/03/PD16_105_12421.html;jsessionid=4AB21217 731D387C3FF8C08B02F65565.cae4; letzter Aufruf: 11.10.2018 Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/ansc ombe/ Anselm Vogt, Sind Tugenden noch zeitgemäß? Online-Skript, VHS Essen am 21.06.2015; https://www.vhs-essen.de/pdf/cafephilo2015-06-21.pdf; letzter Aufruf: 01.02.2019 Frauke Kurbacher, Was ist Haltung? http://www.dgphil2008.de/programm/s ektionen/abstract/kurbacher.html; letzter Aufruf: 28.11.2017. Abschiedspredigt: www.diyanet.be/Portals/0/VEDA%20HUTBESI.pdf; letz­ ter Aufruf: 28.01.2019. Adab: https://www.britannica.com/art/adab-literature; letzter Auf­ ruf: 01.02.2019. Javad Khiran: http://www.iranicaonline.org/articles/kaba-ye-zardost; letzter Aufruf: 01.02.2019. Elisabeth Naurath, Bildung, Werte-. In: WiReLex, http://www.bibelwissensch aft.de/stichwort/100191/. 15.8.2022

284 https://doi.org/10.5771/9783495998694 .