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German Pages 452 Year 2003
CHRIS MÖGELIN
Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 918
Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten Rechtlicher und politischer Wandel in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Russlands
Von
Chris Mögelin
Duncker & Humblot • Berlin
Die Juristische Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10882-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Oktober 2001 abgeschlossen. Im Rahmen der Drucklegung konnten vereinzelte Publikationen noch bis März 2002 berücksichtigt werden. Ich danke sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Jan C. Joerden für die vielfältige Förderung des Promotionsvorhabens. Ohne seine wertvollen Anregungen und kritischen Fragen hätte die Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Herrn Prof. Dr. Boguslaw Banaszak von der Universität Wroctaw und der Europa-Universität Viadrina gebührt Dank für die Erstattung des Zweitgutachtens. Die Arbeit entstand während meiner Tätigkeit am Frankfurter Institut für Transformationsstudien der Europa-Universtät Viadrina. Dem Direktor des Instituts Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Wagener und insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts ist für die vielfältigen Anregungen, kritischen Diskussionen und die persönliche Unterstützung zu danken. Ich danke auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren Stipendium erst die nötige Freiheit und Konzentration ermöglichte. Für die Unterstützung bei der Forschungsarbeit bedanke ich mich bei Agnieszka Morawska und Joanna Katarzyna Szymanska. Außerdem sei Patricia Bär und Ramona Böttcher für die Formatierung des Textes gedankt. Meiner Lebenspartnerin Agnieszka Zinger schulde ich Dank für den persönlichen Zuspruch. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern. Frankfurt (Oder), April 2002
Chris Mögelin
Inhaltsübersicht Einleitung
21
A. Einführung in die Thematik
21
B. Gang der Untersuchung
29
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
30
L Kapitel Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
45
A. Genese und Entwicklung des Begriffs „Unrechtsstaat"
45
B. Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat"
49
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
53
D. Zwischenergebnis
67
2. Kapitel Grundlagen für die Begriffsbildung: Thesen, Begriffe, Maßstab
70
A. Einleitende Thesen
70
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
74
C. Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat als Wertungsmaßstab
94
D. Zwischenergebnis
108
3. Kapitel Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat: das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell
110
A. Legitime Herrschaft
111
B. Legale Herrschaft
119
8
Inhaltsübersicht
C. Formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell - Zusammenhang von Legitimität und Legalität 143 D. Zwischenergebnis
151
4. Kapitel Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung auf die Staats- und Rechtsordnung Russlands resp. der UdSSR
154
A. Der Begriff des Unrechtsstaates
154
B. Zum Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
158
C. Die sozialistische Staats- und Rechtsordnung in der kritischen Analyse
195
D. Zwischenergebnis: Der sozialistische Staat ist grundsätzlich ein Unrechtsstaat Ausnahmen sind möglich 238
5. Kapitel Der Prozess und der Stand der Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten
248
A. Einleitende Gedanken zum Transformationsprozess
248
B. Transformation zu einer legalen Staats- und Rechtsordnung
257
C. Transformation zu einer legitimen Staats- und Rechtsordnung
307
D. Zwischenergebnis
343 Zusammenfassung und Ausblick
350
Literaturverzeichnis
363
Personenregister
428
Sachregister
438
Inhaltsverzeichnis Einleitung
21
A. Einführung in die Thematik
21
B. Gang der Untersuchung
29
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
30
I. Allgemeine methodologische Überlegungen II. Semiotische Vorüberlegungen
30 31
1. Ausdruck, Objekt und Bedeutung von Zeichen
32
2. Bildung von Begriffen
32
3. Vage Begriffe
35
4. Mehrdeutigkeit zwischen Varianz und Veränderung
36
5. Sprache und Wissenschaft
37
III. Vorläufige Begriffsbestimmungen
40
IV. Das Untersuchungsmaterial
42
1. Kapitel Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
45
A. Genese und Entwicklung des Begriffs „Unrechtsstaat"
45
B. Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat"
49
I. Erste Auffassung: Jeder Staat ist ein Rechtsstaat II. Zweite Auffassung: Jeder Staat ist ein Gerechtigkeitsstaat C. Begriffsbestimmungen in der Literatur I. „Unrechtsstaat" als Staat mangelnder Identität von Recht und Rechtswirklichkeit II. „Unrechtsstaat" als Staat, der Betroffenheit auslöst
49 52 53
54 55
10
Inhaltsverzeichnis III. „Unrechtsstaat" als Negation des Rechtsstaates
56
1. „Unrechtsstaat" als Negation des formalen Rechtsstaates
57
2. „Unrechtsstaat" als Negation des materialen Rechtsstaates
57
3. Rechtsstaat, Unrechtsstaat und Nichtrechtsstaat
59
IV. „Unrechtsstaat" als Staat des Unrechts
60
1. Der Begriff des Unrechts
60
2. Intensität des Unrechts
62
3. „Unrechtsstaat" als Staat strukturellen Unrechts
66
D. Zwischenergebnis
67
2. Kapitel Grundlagen für die Begriffsbildung: Thesen, Begriffe, Maßstab
70
A. Einleitende Thesen
70
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
74
I. Die Kategorie der Legitimität
75
1. Analyse der Begriffe „Legitimität", „Legitimation" und „Legitimierung" ..
76
2. Begriffsbestimmung: normative Legitimität, empirische Legitimation, prozedurale Legitimierung
77
3. Der Untersuchungsgegenstand: normative Legitimität
82
4. Exkurs: konkurrierende Legitimitätskonzepte
84
a) Legitimität durch faktische Herrschaft
85
b) Legitimität durch Herrschafts- bzw. Normeninhalt
86
(1) Mittelbar richtiger Herrschaftsinhalt
86
(2) Unmittelbar richtiger Herrschaftsinhalt
87
(3) Die Afarjtsche Auffassung
87
c) Legitimität durch Rechtsform
88
d) Legitimität durch Verfahren
89
II. Die Kategorie der Legalität
91
1. Analyse des Begriffs der Legalität
91
2. Bestimmung des Legalitätsbegriffs
93
Inhaltsverzeichnis C. Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat als Wertungsmaßstab
94
I. Demokratischer Rechtsstaat als Transformationsziel
95
II. Demokratischer Rechtsstaat als universaler Maßstab
96
III. Demokratischer Rechtsstaat als Ergebnis kultureller Evolution 1. Die europäisch-atlantische Kulturregion 2. Gründe und Folgen der kulturellen Evolution D. Zwischenergebnis
98 99 105 108
3. Kapitel Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat: das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell A. Legitime Herrschaft I. Legitimität durch Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit II. Legitimität durch Gewährleistung von Sicherheit und Verlässlichkeit
110 111 112 114
III. Legitimität durch demokratische Verfahren
115
IV. Teilergebnis
119
B. Legale Herrschaft
119
I. Zur Notwendigkeit der Legalität
120
1. Sicherung von Freiheit und Gleichheit durch positives Recht: Grundrechte und Allgemeinheit des Gesetzes 120 2. Sicherung von Sicherheit und Verlässlichkeit durch positives Recht: Rechtssicherheit 121 3. Sicherung demokratischer Verfahren durch positives Recht
122
4. Konsequenz: Rechtsbindung und Rechtsformenzwang
124
II. Anforderungen an eine legale Rechtsordnung
126
1. Voraussetzungen und Bedingungen positiven Rechts: juristischer und soziologischer Rechtsbegriff 127 2. Positives Recht und überpositives Bezugssystem: der ethische Rechtsbegriff 130 3. Subjektive Grundrechte
136
12
Inhaltsverzeichnis 4. Positives Recht zwischen Instrumentalisierung und Unverfügbarkeit
138
5. Gewaltenteilende Rechtsordnung
140
III. Teilergebnis
141
C. Formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell - Zusammenhang von Legitimität und Legalität
143
I. Gewährleistung material-prozeduraler Legitimität durch formale Legalität .... 145 II. Begründung formaler Legalität durch material-prozedurale Legitimität III. Ergebnis: formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell als Unrechts vermeidendes Modell D. Zwischenergebnis
147 147 151
4. Kapitel Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung auf die Staats- und Rechtsordnung Russlands resp. der UdSSR
154
A. Der Begriff des Unrechtsstaates
154
B. Zum Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
158
I. Die theoretischen Grundlagen des sozialistischen Staats- und Rechtsverständnisses 159 II. Rekonstruktion der sozialistischen Legitimitätsvorstellung
167
1. Herrschaft im sozialistischen Staat
167
2. Legitimität durch objektive gesellschaftliche Gesetze
168
3. Legitimität durch Interessenidentität
170
4. Die kommunistische Einheitspartei als Legitimitätsträger
171
III. Rekonstruktion der sozialistischen Rechtsordnung
173
1. Der Begriff des sozialistischen Rechts - juristische und ethische Aspekte .. 173 2. Subjektive Rechte - Grundrechte
175
a) Normative Ebene - die Verfassungen der UdSSR resp. Russlands
176
b) Theorie sozialistischer Grundrechte: das subjektive Recht
179
c) Theorie sozialistischer Grundrechte: individuelle Freiheit als materiales Element
181
d) Sogenannte materielle und formelle Garantien des Schutzes von subjektiven Grundrechten 182
Inhaltsverzeichnis 3. Instrumentalisierung und Politikvorbehalt des Rechts. Zur sozialistischen Gesetzlichkeit bzw. sozialistischen Rechtsstaatlichkeit 188 4. Das Prinzip der Gewalteneinheit und die funktionale Gewaltenaufteilung .. 193 IV. Teilergebnis
194
C. Die sozialistische Staats- und Rechtsordnung in der kritischen Analyse I. Zur Legalität sozialistischer Herrschaft
195 196
1. Aspekte des Begriffs und Bedingungen des positiven Rechts: Geltung, Normativität, Normenhierarchie 196 2. Subjektive Grundrechte als Rechte auf Mitgestaltung
201
3. Instrumentalisierung und Verfügbarkeit des positiven Rechts
205
4. Keine gewaltenteilende Staats- und Rechtsordnung. Die Rolle der Einheitspartei 208 5. Eingeschränkte Rechtsbindung ohne Rechtsformenzwang: Gesetzlichkeit vs. Parteilichkeit. Die sozialistische Verfassung 212 II. Legitimität von Herrschaft im Sozialismus
218
1. Zur Notwendigkeit der Legitimität im Sozialismus
219
2. Keine Legitimität durch Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit
220
3. Beschränkte Legitimität durch Gewährleistung von Sicherheit und Verlässlichkeit durch Rechtssicherheit 224 4. Keine Legitimität durch demokratische Verfahren III. Teilergebnis: Eingeschränkte Legalität und beschränkte Legitimität
227 235
D. Zwischenergebnis: Der sozialistische Staat ist grundsätzlich ein Unrechtsstaat Ausnahmen sind möglich 238
5. Kapitel Der Prozess und der Stand der Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten
248
A. Einleitende Gedanken zum Transformationsprozess
248
B. Transformation zu einer legalen Staats- und Rechtsordnung
257
I. Die Schaffung von Verfassungen als normative Grundlage allen positiven Rechts - Verfassungen im Transformationsprozess 257
14
Inhaltsverzeichnis 1. Legitimität der Verfassunggebung - die verfassunggebende Gewalt des Volkes 259 a) Anforderungen legitimer Verfassunggebung
261
b) Notwendigkeit legitimer Verfassunggebung
266
2. Verfassunggebung in den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten
268
a) Verfassunggebung oder Verfassungsänderung?
270
b) Der Prozess und das Ergebnis der Verfassunggebung: Verfassungsinitiative, Verfassungsentwurf, Verfassungsabstimmung
274
c) Legitimitätsmängel beim Verfassunggebungsprozess
280
II. Voraussetzungen und Bedingungen positiven Rechts. Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff in der Transformation 287 III. Positives Recht und überpositives Bezugssystem. Ethischer Rechtsbegriff in der Transformation
291
IV. Subjektive Rechte
293
V. Positives Recht auf dem Wege zur Unverfügbarkeit
294
VI. Von der Gewalteneinheit zur Gewaltenteilung
297
VII. Rechtsbindung und Rechtsformenzwang
305
VIII. Teilergebnis
307
C. Transformation zu einer legitimen Staats- und Rechtsordnung
307
I. Gewährleistung von individueller Freiheit und Gleichheit durch Grundrechte 308 II. Rechtssicherheit in der Transformation. Rechtsdiskontinuität und Unrechtsfolgen 316 1. Kontinuität der Rechtssubjektivität des Staates im Völkerrecht und Staatsrecht 317 2. Diskontinuität der Verfassung und Rechtsordnung. Kontinuität der Rechtsnormen 318 a) Rechtskontinuität, Rechtsdiskontinuität, partielle Rechtskontinuität
318
b) Zur Unterscheidung von Rechtskontinuität und Rechtsdiskontinuität
320
c) Diskontinuität der Verfassungs- und Rechtsordnung in Mittel- und Osteuropa 321 d) Kontinuität und Diskontinuität unterverfassungsrechtlicher normen
Rechts329
Inhaltsverzeichnis 3. Exkurs: Revolution in Mittel- und Osteuropa. Zur Natur des Systemwechsels 331 4. Juristischer Umgang mit den Unrechtsfolgen des Unrechtsstaates
334
III. Demokratische Verfahren der Herrschaftsausübung
338
IV. Teilergebnis
343
D. Zwischenergebnis
343
Zusammenfassung und Ausblick
350
Literaturverzeichnis
363
Personenregister
428
Sachregister
438
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Möglichkeiten von Unrechtshandlungen durch den Staat
65
Abbildung 2: Vermeidung von Unrecht im demokratischen Rechtsstaat
152
Abbildung 3: Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit der Begehung von Unrecht im Unrechtsstaat 157 Tabelle 1:
Staatsformen klassifiziert nach Legitimität und Legalität
Tabelle 2:
Konstitutive Elemente eines demokratischen Rechtsstaates: das formalmaterial qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell
73
142
Tabelle 3:
Konstitutive Elemente eines Unrechtsstaates am Beispiel der UdSSR vor 1985 241
Tabelle 4:
Erfüllung konstitutiver Elemente des demokratischen Rechtsstaates in Russland und Ungarn im Vergleich 348
Verzeichnis der Abkürzungen AA
Akademieausgabe (Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften: Kant's gesammelte Schriften)
a. A.
andere Ansicht, anderer Ansicht
Abs.
Absatz
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv für öffentliches Recht
AOS
Anzeiger des Obersten Sowjets (der UdSSR bzw. RSFSR)
ArchSWSP
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
ARWP
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
BDGV
Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen
BlOst
Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
CJIL
Connecticut Journal of International Law
CS SR
Tschechoslowakische Sozialistische Republik
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders.
derselbe
d. h.
das heißt
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
dt.
deutsch
DtZ
Deutsch-deutsche Rechtszeitschrift
DVPW
Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft
DZfPh
Deutsche Zeitschrift für Philosophie
ebd.
ebenda
2 Mögelin
18
Verzeichnis der Abkürzungen
ECPR
European Consortium for Political Research
EECR
East European Constitutional Review
engl.
englisch
etc.
et cetera
EuGRZ
Europäische Grundrechtezeitschrift
f.
folgende
ff.
fortfolgende
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
franz.
französisch
GA
Goltdammer's Archiv für Strafrecht
GG
Grundgesetz
GYIL
German Yearbook of International Law
HFR
Humboldt Forum Recht
Hrsg.
Herausgeber
HZ
Historische Zeitschrift
i.d.F.
in der Fassung
i.d.F.v.
in der Fassung vom, in der Fassung von
i.S.v.
im Sinne von
i.V.m.
in Verbindung mit
IJCS
International Journal of Comparative Sociology
JCLECE
Journal of Constitutional Law in Eastern and Central Europe
JGO
Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
JOR
Jahrbuch für Ostrecht
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JRE
Jahrbuch für Recht und Ethik
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
KJ
Kritische Justiz
KritV
Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
lit.
litera, Buchstabe
MEW
Karl Marx Friedrich Engels Werke
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
N.F.
Neue Folge
Verzeichnis der Abkürzungen NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
o. ä.
oder ähnlichem, oder ähnliches
poln.
polnisch
PVS
Politische Vierteljahreszeitschrift
RabelsZ
Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht
RCEEL
Review of Central and East European Law
Rdn.
Randnummer
resp.
respektive
ROW
Recht in Ost und West
RSA
Reglement über die staatliche Aufsicht der UdSSR
RuP
Recht und Politik
russ.
russisch
S.
Seite, Satz
SED
Sozialistische Einheitspartei Deuschlands
SJIL
Stanford Journal of International Law
StPO
Strafprozessordnung
st. Rspr.
ständige Rechtssprechung
u. a.
unter anderem, und andere
UdSSR
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
vgl.
vergleiche
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WGO-MfOR
WGO - Monatshefte für Osteuropäisches Recht
WiRO
Wirtschaft und Recht in Osteuropa
YJIL
Yale Journal of International Law
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
z.B.
zum Beispiel
ZEK
Zentralexekutivkomitee
ZfP
Zeitschrift für Politik
ZgS
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZPol
Zeitschrift für Politikwissenschaft
ZSR
Zeitschrift für Schweizerisches Recht
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
2*
19
Einleitung A. Einführung in die Thematik Alle einstmals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas haben das Ziel, sich in demokratische Rechtsstaaten zu transformieren. Dieser Prozess der Umgestaltung der Staats- und Rechtsordnungen der mittel- und osteuropäischen Staaten in demokratische Rechtsstaaten ist nicht abgeschlossen. Zwar sind schon einige Staaten in ihrem Transformationsprozess derart fortgeschritten, dass sie wesentliche Voraussetzungen eines demokratischen Rechtsstaates erfüllen, jedoch bestehen selbst bei diesen am weitesten fortgeschrittenen Ländern Defizite in einzelnen Bereichen. Viele der ehemals sozialistischen Staaten werden derzeit den Ansprüchen an einen demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Die vorliegende Arbeit versucht, die Transformation in demokratische Rechtsstaaten zu analysieren und theoretisch zu rekonstruieren. Dabei wird der Ausgangslage und dem eigentlichen Prozess der Umgestaltung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Als Ausgangspunkt der Transformation soll die These dienen, dass die sozialistischen Staaten Unrechtsstaaten waren. Der Begriff des Unrechtsstaates ist ein moderner Ausdruck nicht nur der Rechts- und Staatsphilosophie. Im Gegensatz zum Rechtsstaatsbegriff ist der Begriff des Unrechtsstaates jedoch keine primär rechtliche, sondern eher eine philosophische und eine politische Kategorie. Wohl gerade aus dieser Tatsache hat der Begriff des Unrechtsstaates seine ungewöhnliche Attraktivität und Anziehungskraft gewonnen. Folglich haben zahlreiche populäre, mitunter polemische und zuweilen politisch instrumentalisierte Beiträge Eingang in die Diskussion um den Unrechtsstaat gefunden. Zur rationalen Rekonstruktion des Begriffs und seiner Bedeutung haben diese Abhandlungen jedoch wenig beigetragen. Dabei ist Rationalität im Sprachgebrauch, im Sinne von Eindeutigkeit und inhaltlicher Konsistenz, nicht nur eine politische Forderung, sondern auch für die Wissenschaft unentbehrlich, da sie wissenschaftlichen Sprachgebrauch erst ermöglicht und Konfusionen begegnet, die wiederum politisch missbraucht werden können. In der hier vorgestellten Typologie bildet der demokratische Rechtsstaat das Gegenkonzept zum Unrechtsstaat. Der systemimmanente Unrechtscharakter des Unrechtsstaates folgt nicht aus der tatsächlichen Begehung von Unrecht, sondern aus der relativ hohen Wahrscheinlichkeit des Auftretens von staatlichem Unrecht. Die hohe Chance der Begehung von Unrecht wiederum ergibt sich aus dem Fehlen des formal-material qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodells, d. h. aus
22
Einleitung
dem Fehlen der Merkmale der Legitimität und der Legalität, in der Staats- und Rechtsordnung des Unrechtsstaates. Bezogen auf dieses im demokratischen Rechtsstaat vorhandenen Modells, zeigt sich der Charakter des Unrechtsstaates in der fehlenden Anpassung an den europäisch-atlantischen Kulturstandard. Der Unrechtsstaatscharakter folgt also nicht allein aus der Illegitimität des Systems oder aufgrund der Tatsache, dass der Staat rechtsstaatlichen Standards nicht gerecht wird. Auch lässt sich der Unrechtsstaat nicht auf die fehlende Gewährleistung von elementaren Grundrechten reduzieren. Vielmehr zeichnet sich der Unrechtsstaat durch das negative Zusammenspiel all dieser Elemente aus. Der demokratische Rechtsstaat als positiv bewerteter Gegensatz zum Unrechtsstaat soll keine Unfehlbarkeit des demokratischen Rechtsstaates implizieren. Zum einen existiert kein Staat, der der „Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entrückt" 1 wäre. Zum anderen gibt es keinen wahren, allseits gerechten, einzig richtigen Staat. Auch der demokratische Rechtsstaat kann kein solcher Staat sein.2 In der Anerkennung der eigenen Unzulänglichkeit liegt gerade ein Unterschied zwischen demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Der demokratische Rechtsstaat stellt sich strukturell auf das eigene (potenzielle) Unrecht ein, indem er effektive Verfahren vorhält, mit denen staatlichem Unrecht begegnet werden soll. Aus diesem Grund bindet der demokratische Rechtsstaat die Ausübung der Staatsmacht in ein System der Machtkontrolle ein.3 Im demokratischen Rechtsstaat ist folglich Unrecht im Staat zwar möglich, allerdings erheblich weniger wahrscheinlich als im Unrechtsstaat. Denn im Unrechtsstaat sind die Herrschenden von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihres Handelns überzeugt. Der Unrechtsstaat wähnt sich nach seinem Selbstverständnis immer im Recht.4 Der Unrechtsstaat anerkennt nur eine Gerechtigkeit und eine Wahrheit, wohingegen der demokratische Rechtsstaat mehrere Gerechtigkeitsprogramme und verschiedene Wahrheiten gelten lässt.5 Reine Staatstypen von demokratischen Rechtsstaaten und von Unrechtsstaaten existieren nur in der Theorie, in der Praxis gibt es sie nicht. Folglich muss es im sozialistischen Staat nicht nur staatliches Unrecht gegeben haben, selbst wenn dieser Staat als „Unrechtsstaat" bezeichnet werden sollte. So ist im Unrechtsstaat selbstverständlich Recht möglich. Spiegelbildlich hierzu ist nicht zu bezweifeln, dass auch im demokratischen Rechtsstaat staatliches Unrecht möglich ist. 6 Der 1 Arthur Kaufmann , Das Widerstandsrecht in Geschichte und Grundgesetz, in: ders., Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit, 1991, S. 44. 2 Vgl.: Werner Krawietz, Recht ohne Staat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 127. 3 Peter Schneider , Rechtsstaat und Unrechtsstaat, in: Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 18. 4 Vgl.: Erhard Denninger , Grenzen und Gefährdungen des Rechtsstaats, in: Rechtstheorie 24,1993, S. 8. 5 Thomas Kreuder , Rechtsstaat und Unrechtsregime, in: Heiner Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 44. 6 Insofern drückt sich Wassermann missverständlich aus, wenn er Unrecht im Rechtsstaat als „Zufallsprodukt" bezeichnet. Rudolf Wassermann , Wieviel Unrecht macht einen Staat
A. Einführung in die Thematik
23
demokratische Rechtsstaat stellt sich jedoch auf die Begehung von Unrecht ein und versucht deshalb, etwaige Unrechtsfolgen zu minimieren. 7 Erst recht bedeutet die Charakterisierung eines Staates als Unrechtsstaat nicht, dass dort allein Willkür und Terror 8 herrschten. 9 Zwar wird man jeden Terrorstaat als Unrechtsstaat bezeichnen können, jedoch ist nicht jeder Unrechtsstaat gleichzeitig ein Terrorstaat. Der Unrechtsstaat kennt verschiedene Stadien des Terrors und unterschiedliche Grade totalitärer Herrschaft. Durch die Bildung des Gegenbegriffspaares „Unrechtsstaat" einerseits und „demokratischer Rechtsstaat" andererseits wird es möglich, diese Gradualisierungen zwischen den Staatsformen aufzunehmen. Ein häufig genannter Einwand gegen die Anwendung des Begriffs des Unrechtsstaates auf die Länder mit sozialistischer Staats- und Rechtsordnung ist, dass damit eine Gleichsetzung von nationalsozialistischem und sozialistischem System bewirkt werde, was zu dem teilweise intendierten Resultat führe, dass die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus verharmlost werden. 10 Wenngleich an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Diskussion um die Wesensgleichheit von Sozialismus und Nationalsozialismus eingegangen werden soll, ist hierzu bereits jetzt Folgendes zu sagen. Es gibt eine Reihe von Gleichheiten und Unterschieden zwischen beiden Systemen, auf die zum Teil in der Arbeit eingegangen wird. Gleichwohl scheint selbst ohne Beantwortung dieser komplexen Frage eindeutig, dass Unrecht unteilbar ist. „Ein Mord wird nicht durch den Verweis auf den Mord eines anderen relativiert." 11 Moralisches Unrecht kann weder gegen- noch miteinander aufgerechnet werden. Nicht jeder Unrechtsstaat begeht gleich großes Unrecht. Es zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2153. Abstrakt besehen ist es kein Zufall, dass im demokratischen Rechtsstaat Unrecht geschieht. 7 Rzepka verweist darauf, dass sich die Ungerechtigkeit aus dem Wesen einer Rechtsordnung ergibt. Bestimmte, der Rechtsordnung immanente Eigenschaften (wie z. B. Lückenhaftigkeit, Abstraktion, Differenz von Wirklichkeit und Norm) stehen einer „Gerechtigkeitsautomatik" im Wege. Walter Rzepka, Unrecht durch gerechte Gesetze, in: BayVBl, 1995, S. 290 f. 8 Vgl. zum kommunistischen Terror: Stéphane Courtois /Nicolas Werth/Jean-Louis Panné/Andrzej Paczkowski/Karel Bartosek/Jean-Louis Margolin (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 1997 (franz.), 1999; Martin Pabst, Staatsterrorismus. Theorie und Praxis kommunistischer Herrschaft, 1997. 9 „Das Totalitäre zeigt sich nicht erst im Terror; dieser ist nur die letzte Konsequenz." Erk Volkmar Heyen, Totalitäre Aspekte des Verwaltungsbegriffs im Dritten Reich und in der DDR, in: ders., Die öffentliche Verwaltung im totalitären System, 1998, S. 238. Siehe auch: Thomas Kreuder, Rechtsstaat, Unrechtsstaat und politische Kultur individueller Vergangenheit, in: Thomas Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 68. 10 So: Udo Reifner, Institutionen des faschistischen Rechtssystems, in: Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaates, 1981, S. 19; Ingo Müller, Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, in: NJ, 1992, S. 282; Volkmar Schöneburg, Recht im nazifaschistischen und im „realsozialistischen" deutschen Staat - Diskontinuitäten und Kontinuitäten, in: NJ, 1992, S. 50, Anm. 9. 11 Eckhard Jesse y Die Wechselbeziehungen der beiden Großtotalitarismen im 20. Jahrhundert, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 141.
Einleitung
24
gibt eben Unrecht unterschiedlicher Schwere und Bedeutung. 1 2 Die Tötung eines Menschen ist größeres Unrecht, als es die bloße Verletzung des Körpers darstellt. Ungeachtet dieser Differenz bleiben beide Handlungen Unrecht. Ferner wäre es unlogisch, Unrecht allein deshalb nicht Unrecht zu nennen, weil es schon weitaus schlimmeres Unrecht gegeben hat. 1 3 Ein Unrechtsstaat muss als solcher benannt werden können, auch wenn es Unrechtsstaaten gegeben hat, die größeres Unrecht begangen haben. Unrechtsstaat ist nicht gleich Unrechtsstaat, ebensowenig wie demokratischer Rechtsstaat gleich demokratischer Rechtsstaat ist. Es wäre nicht einleuchtend, den Begriff des Unrechtsstaates dem nationalsozialistischen Regime vorzubehalten. Einige Bezeichnungen können die Singularität der nationalsozialistischen Staatsverbrechen besser ausdrücken, als es der allgemeine Begriff des Unrechtsstaates vermag. 1 4 Zudem wird mit der Kategorie des Unrechtsstaates zwar eine Vergleichbarkeit von nationalsozialistischem und sozialistischem Staat mögl i c h . 1 5 Eine Gleichsetzung geht hiermit jedoch nicht zwangsläufig einher. 1 6 A n diesem Punkt wird deutlich, dass die Auseinandersetzung um den Unrechtsstaat von großer Emotionalität geprägt ist, so wie es schon bei der Totalitarismusdebatte der Fall war. 1 7 Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten 12 Vgl. auch: Andrzej S. Walicki, Transitional Justice and the Struggles of Post-Communist Poland, in: A. James McAdams (Hrsg.), Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, 1997, S. 228 f. 13 Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, in: NJW48, 1995, S. 84. 14 Vgl. den von Jaspers geprägten Begriff „Verbrecherstaat". Karl Jaspers , Die Schuldfrage, 1946, 1987, S. 33. 15 Vgl. zur Vergleichbarkeit von Kommunismus (resp. Sozialismus) und Faschismus (resp. Nationalsozialismus) die Diskussion nach dem Erscheinen des „Schwarzbuch des Kommunismus" im Jahre 1997 (franz.) bzw. 1999 insbesondere die deutsche Aufsatzsammlung: Kommunismus und Nationalsozialismus, in: Europäische Rundschau 27, 1999, S. 5 ff. Sowie: Friedrich Pohlmann , Marxismus - Leninismus - Kommunismus - Faschismus, 1995. Siehe auch: Ludger Kühnhardt / Gerd Leutenecker / Martin Rupps/Frank Waltmann (Hrsg.), Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR - ein historisch-politikwissenschaftlicher Vergleich, 1994. Vgl. außerdem die Totalitarismusdebatte, die sich in einem ganz wesentlichen Teil auf diesen Systemvergleich bezog. Siehe hierzu: Hans Maier (Hrsg.), ,Totalitarismus' und »Politische Religionen', 1996; Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998. 16
Vgl. zu dieser Unterscheidung und zur Methode des Vergleichs: Ludger Kühnhardt, Zur Einführung, in: Ludger Kühnhardt/Gerd Leutenecker/Martin Rupps/Frank Waltmann (Hrsg.), Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR - ein historischpolitikwissenschaftlicher Vergleich, 1994, S. 11 f.; sowie: Heinz Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 207; Ludger Kühnhardt, Von der Last der Geschichte zur Last der Gegenwart, in: Ludger Kühnhardt / Alexander Tschubaijan (Hrsg.), Rußland und Deutschland auf dem Weg zum antitotalitären Konsens, 1999, S. 8. 17
Vgl.: Eckhard Jesse, Die Wechselbeziehungen der beiden Großtotalitarismen im 20. Jahrhundert, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 142.
A. Einführung in die Thematik
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sollte eine „tendenziell weniger emotional" 1 8 geführte Diskussion und damit eine rationalere Bewertung des sozialistischen Systems aus dreierlei Gründen möglich sein. Zum einen sollte der Kommunismus als Ideal seine Faszinationskraft verloren haben. Z u m anderen spielen aktuelle politische Interessen bei der Bewertung des sozialistischen Systems wohl nur noch eine sekundäre Rolle. Außerdem wird der rationale Blick in weit geringerem Maße durch positiv wie negativ Betroffene des sozialistischen Systems getrübt. Die Bezeichnung eines Staates als Unrechtsstaat kann grundsätzlich wenig über die individuelle Verantwortung derjenigen Personen aussagen, die in diesem System lebten. Die staats- und rechtsphilosophische Typisierung von Staaten lässt keinen unmittelbaren Schluss darauf zu, wie die Leistungen oder Verfehlungen des Einzelnen i m Unrechtssystem zu beurteilen sind. 1 9 Zudem kann es nicht darauf ankommen, ob die Bürger den Unrechtsstaat als solchen wahrgenommen oder empfunden haben 2 0 bzw. rückblickend wahrnehmen bzw. empfinden, 2 1 oder ob nicht vielmehr die „Normalität und Alltäglichkeit" 2 2 i m Mittelpunkt der Erfahrungen der Bürger des Unrechtsstaates gestanden hat. 2 3 Von einer gewissen Akzep18 Achim Siegel, Carl Joachim Friedrichs Konzeption der totalitären Diktatur - eine Neuinterpretation, in: ders. (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 274. Siehe zur Berücksichtigung von Emotionen in der Begriffsbildung Anm. 57 in diesem Kapitel. 19 Das scheint selbstverständlich, muss aber, wohl wegen des hohen Identifikationsgrades vieler Bürger mit dem sozialistischen Staat (insb. der DDR), deutlich gemacht werden. Der damalige Bundespräsident Herzog spricht von einer fehlenden „Mithaftung" der Bürger für ihren Unrechtsstaat. Vgl. Leipziger Volkszeitung v. 24. 6. 1998, S. 3. 20
Die Gegner der Ansicht, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, haben häufig mit der Behauptung argumentiert, dass der Unrechtsstaat „keineswegs der durchgängigen Erfahrung der gelernten DDR-Bürger" entsprochen habe. Reinhard Höppner, Gemeinsame Werte als Voraussetzung für Gemeinschaft - Erfahrungen aus dem Prozeß der deutschen Vereinigung, in: RuP 33, 1997, S. 63. Vgl. hierzu auch: Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur, 1999. 21 Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahre 1994 stimmen lediglich 33 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, dass der SED-Staat ein Unrechtstaat war. 50 Prozent lehnen die Bezeichnung „Unrechtsstaat" für die DDR ab. Dagegen billigen 73 Prozent der Westdeutschen die Bezeichnung „Unrechtsstaat", wohingegen das 15 Prozent ablehnen. Bei der Bewertung des nationalsozialistischen Staates lässt sich demgegenüber eine Übereinstimmung zwischen dem Meinungsbild der Ost- und der Westdeutschen feststellen. Im Jahre 1997 stimmten 83 Prozent der Bewertung des NS-Staates als Unrechtsstaat (Verbrecherregime) zu. Lediglich 19 Prozent lehnten diese Bewertung ab. Interessant, aber nicht erstaunlich, ist die Tatsache, dass die Zustimmung zur Aussage, dass der nationalsozialistische Staat ein Unrechtsstaat war, mit der Zeit stark zunimmt. Im Jahre 1964 unterstützten lediglich 54 Prozent der Befragten die Bezeichnung „Unrechtsstaat" für den nationalsozialistischen Staat. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993-1997, Band 10, 1997, S. 584, 515. 22 Inga Markovits, Die Abwicklung, 1993, S. 14. Markovits schildert eindrücklich die Alltagserfahrung in und mit der DDR-Justiz, wobei sie sich nahezu ausschließlich der „Normalität und Alltäglichkeit" des DDR-Rechts zuwendet und sich nicht der „Unterdrückungsfunktion" widmet.
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Einleitung
tanz 2 4 und Zustimmung 2 5 zum sozialistischen System muss schon aufgrund der jahrzehntelangen relativen Stabilität des Systems ausgegangen werden. 2 6 Ferner liegt es der Untersuchung fern, die geschichtliche Zwangsläufigkeit 2 7 oder „Unvermeidbarkeit" 2 8 von Unrechtsstaaten zu prüfen und damit einem geschichtsteleologischen Denken das Wort zu reden. Hierüber und über die historische Bedeutung von Unrechtsstaaten mögen die Historiker urteilen. 2 9 Das Urteil der Historiker vermag die staatsphilosophische Klassifikation jedoch nicht in Frage zu stellen. Die rationale Untersuchung und Bewertung des ehemaligen politischen und rechtlichen Systems der ost- und mitteleuropäischen Staaten ist in rechtsphilo23
Die Vermischung dieser Untersuchungskategorien kann fatale Folgen haben. So lehnt Höppner die Bezeichnung Unrechtsstaat für die DDR ab, denn „die DDR war mehr als nur ein Unrechtsstaat. Er war für eine schwer zu beschreibende Gruppe von Menschen auch der Versuch, eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten." Reinhard Höppner: Das Recht in Umbruchszeiten, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 44, 1997, S. 134. Abgehen davon, dass der Weg zur Hölle seit jeher mit guten Vorsätzen gepflastert ist, bleibt es Höppners Geheimnis, was das eine mit dem anderen zu tun hat. 24 Vgl. für Russland: Vladimir P. Buldakow, Die Ära der sowjetischen Diktatur in Rußland, in: Ludger Kühnhardt/Alexander Tschubaijan (Hrsg.), Rußland und Deutschland auf dem Weg zum antitotalitären Konsens, 1999, S. 99 ff. 25 Ein gewisser Grad an Zustimmung zum und Glaube an das System der DDR belegen neuere Untersuchungen. Vgl.: Heribert Seubert, Zum Legitimitätsverfall des militarisierten Sozialismus in der DDR, 1995, S. 49 ff., S. 302 f. Siehe zur Haltung der Bevölkerung anderer sozialistischer Systeme (Bulgarien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn): Daniel N. Nelson, The Rise of Public Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe, in: Sabrina Petra Ramet (Hrsg.), Adaptation and Transformation in Communist and Post-Communist Systems, 1992, S. 23 ff. 26 Der Legitimationsverlust, d. h. der Verlust des Glaubens der Bevölkerung an die Berechtigung des Systems, hat folglich eine wichtige Rolle beim Zusammenbruch des Systems geführt. Vgl.: Daniel N. Nelson, The Rise of Public Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe, in: Sabrina Petra Ramet (Hrsg.), Adaptation and Transformation in Communist and Post-Communist Systems, 1992, S. 11-40. 27 Das Argument, dass die sozialistischen Systeme historisch zwangsläufig waren bzw. eine historische Berechtigung besaßen, wird von den meisten Gegnern der Unrechtsstaatsthese vorgebracht. In der Regel wird von diesen Autoren „historische Konkretheit und Wahrheit" gefordert, was auch immer dies bedeuten mag. Vgl. u. a.: Detlev Joseph, Die DDR - das Unrechtsmonster der deutschen Geschichte?, in: Journal für Recht und Würde, 1992, S. 5. Mit Recht verweist Furet auf die Zusammenhänge der Revolutionen von 1789 und 1917. Als „katastrophale Illusion" bezeichnet er jedoch die hieraus abgeleitete historische Notwendigkeit des Kommunismus. François Furet, 1789-1917, Rückfahrkarte, in Transit 1,1990, S. 54,57. 28 Vgl.: Hans Albert, Ist der Sozialismus unvermeidbar?, in: ders., Freiheit und Ordnung, 1986, S. 60-103. 29 Eine Voraussetzung einer geschichtlichen Untersuchung hierzu besteht wohl darin, historisches Recht und Unrecht von moralischem Recht und Unrecht zu trennen. Vgl. hierzu: Ernst Nolte: Die drei Versionen der Totalitarismustheorie, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 122. Vgl. zur historischen Notwendigkeit von Revolutionen: Martin Drath, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone, 1954, S. 47 ff. Zur „historischen Legitimität" der DDR: Frank Wilhelmy, Der Zerfall der SED-Herrschaft, 1995, S. 64 ff.
A. Einführung in die Thematik
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sophischen Abhandlungen zu kurz gekommen. Neben der zum Teil ausgezeichneten empirischen und theoretischen Forschung an einzelnen Rechtsquellen meiden die meisten Untersuchungen die allgemeine Analyse der sozialistischen Staatsund Rechtsordnungen.30 Es hat den Anschein, als wollten sich Staatsrechtler und Rechtsphilosophen dieser grundsätzlichen Fragen entziehen. Die vor dem Systemwechsel erschienenen Abhandlungen konzentrierten sich auf die damalige Rechtsentwicklung der sozialistischen Länder. So wurden einzelne Rechtsinstitute analysiert und zuweilen auch allgemeine Begriffe wie „Staat", „Recht" oder „Herrschaft" expliziert. Auf die Unterschiede zum westlichen Staats- und Rechtssystem wurde mehr oder weniger deutlich hingewiesen. Es wurde jedoch kaum versucht, übergeordnete Kriterien zu entwickeln, die es ermöglicht hätten, Staats- und Rechtsordnungen anhand dieser Kriterien zu messen und zu vergleichen. Dieses Manko haben auch jene Abhandlungen, die nach dem Systemwechsel erschienen sind. Sie gehen in erster Linie von rechtspraktischen Problemen aus, die einer angemessenen Lösung zugeführt werden sollen. Der allgemeine Prozess der rechtlichen Transformation ist wissenschaftlich ebenfalls wenig bearbeitet. So fehlen vergleichende Untersuchungen zum Prozess der Verfassunggebung nahezu vollständig.31 Es mag an dem Begriffspaar „Rechtsstaat - Unrechtsstaat" liegen, dass die Diskussion um den Unrechtsstaat eine deutsche blieb. 32 Weder jener 33 noch dieser 34 30
Vgl. hierzu jedoch: Mario A. Cattaneo, Strafrechtstotalitarismus, 2001. Vgl.: Jon Elster, Die Schaffung von Verfassungen: Analyse der allgemeinen Grundlagen, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 37. 32 Vgl. aber aus dem Italienischen: Mario A. Cattaneo, Strafrechtstotalitarismus, 2001, S. 103 ff. 33 Siehe zum Vergleich der Konzeptionen der rule of law und des Rechtsstaates u. a.: Franz Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes, 1936 (engl.), 1980, S. 203 ff.; Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39, 1984, S. 65-70; Lidija R. Basta-Posavec, Anmerkungen zur Beziehung zwischen rule of law und Rechtsstaat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 227-229; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 328 ff.; Rainer Grote, Rule of Law, Rechtsstaat und „Etat de droit", in: Christian Starck (Hrsg.), Constitutionalism, Universalism and Democracy - a comparative analysis, 1999, S. 269-306; Gerald L. Neumann, The U.S. Constitutional Conception of the Rule of Law and the Rechtsstaatsprinzip of the Grundgesetz, in: Ulrich Battis/Philip Kunig/Ingolf Pernice/ Albert Randelzhofer (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozeß europäischer und globaler Verfassungsentwicklung, 2000,S. 253-268. Vgl. auch zur rule of law und zur due process clause: Dieter Waibel, Von der wohlwollenden Despotie zur Herrschaft des Rechts, 1996, S. 7 ff. Mit einem Bezug zur UdSSR siehe: Harold J. Berman, The Rule of Law and Law-Based State (Rechtsstaat), in: Donald D. Barry (Hrsg.), Toward the „Rule of Law" in Russia?, 1992, S. 43-60. 34 Mit den Begriffen „state of injustice" bzw. „state without law " beschäftigen sich keine englischsprachigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Der einzige hier bekannte einschlägige Artikel von Oliverio behandelt den Terrorismus in Italien und den USA und schenkt dem Begriff „ state of injustice" selbst keine Aufmerksamkeit. Annamarie Oliverio, The State of Injustice. The Politics of Terrorism and the Production of Order, in: IJCS 38, 1997, S. 4 8 63. Siehe zu der Ubersetzung von „Unrechtsstaat" als „state of injustice" auch: Kaarlo Tuori, 31
28
Einleitung
Terminus kennt adäquate Entsprechungen in der englischen Sprache. Zudem drängte sich die Diskussion um den Unrechtsstaat in Deutschland aus vier Gründen geradezu auf. Erstens besitzt der Rechtsstaatsbegriff eine überragende Bedeutung für die deutsche Staatsrechtswissenschaft, die im englischsprachigen Raum keine Parallele findet. Zweitens bildet der Begriff des (demokratischen) Rechtsstaates einen anschaulichen sprachlichen Gegensatz zu dem des Unrechtsstaates. Drittens hatte der Begriff des Unrechtsstaates seine Prägung schon durch die Kontroversen um den nationalsozialistischen Staat erhalten. Diese Auseinandersetzungen bildeten das Fundament für eine erneute Diskussion. Viertens hat die deutsche Wiedervereinigung eine Reihe von rechtspraktischen Schwierigkeiten nach sich gezogen, die nach einer theoretischen Einordnung verlangten und noch immer verlangen. Dagegen wird die Auseinandersetzung um das sozialistische System im englischsprachigen Raum überwiegend unter dem Begriff des Totalitarismus 35 geführt. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftsordnungen in Mittelund Osteuropa gewann der Totalitarismusbegriff eine bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vermutete Aktualität und Attraktivität. 36 Das Totalitarismuskonzept ist in seiner Entstehung und Weiterentwicklung eine genuin politikwissenschaftliche Konstruktion. Rechtswissenschaftliche und rechtsphilosophische Argumente spielen lediglich am Rande eine Rolle. Die Anziehungskraft des Totalitarismusbegriffs mag ein Grund dafür sein, dass auch im deutschsprachigen Raum die Beschäftigung mit der grundsätzlichen Einordnung des sozialistischen Systems der Politikwissenschaft vorbehalten blieb und bleibt. 37 Die hier vorgeschlagene Bestimmung des Unrechtsstaatsbegriffs anhand der Kategorien der Legitimität und der Legalität hat deshalb den Vorteil der universellen und multidisziplinären Anschlussfähigkeit. Obwohl die Konstellation „Legalität versus Legitimität" eine spezifisch deutsche Four Models of the Rechtsstaat, in: Werner Krawietz / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 456; zur Übersetzung „state without law": A. James McAdams, Communism on Trail: The East German Past and the German Future, in: ders. (Hrsg.), Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, 1997, S. 242. Siehe auch zu „no-law": Csaba Varga, Transformation to Rule of Law from No-Law, in: CJIL 8, 1993, S. 487-505; ders,: Transition to Rule of Law, 1995, S. 19ff. Vgl. aber auch die Bezeichnung „regimes of horror": Kim Lane Scheppele, Constitutional Interpretation after Regimes of Horror, in: University of Pennsylvania. Public Law and Legal Theory Research Paper Series, Nr. 1 - 5 , May, 2000. 35
Der Totalitarismustheorie wurde seit den 1960er Jahren die Modernisierungsthese entgegengehalten. Vgl. zur Geschichte und neueren Entwicklungen der Totalitarismusdiskussion: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998; Eckard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, 1996, 1999. 36 Vgl. u. a.: Ludger Kühnhardt/Alexander Tschubarjan (Hrsg.), Rußland und Deutschland auf dem Weg zum antitotalitären Konsens, 1999. 37 Vgl. zu den verschiedenen vom Totalitarismuskonzept her gewonnenen Begriffe und Ansätze für die DDR: Bernd Faulenbach: Die SED-Diktatur in der DDR, in: Ludger Kühnhardt/Alexander Tschubarjan (Hrsg.), Rußland und Deutschland auf dem Weg zum antitotalitären Konsens, 1999, S. 128 ff.
B. Gang der Untersuchung
29
Sicht ist, 38 sind die theoretischen und praktischen Beziehungen von Legitimität und Legalität Gegenstand universeller wissenschaftlicher Kontroversen nicht nur von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Juristen. 39 In der Untersuchung wird also versucht, den begrifflichen Ausgangspunkt der Transformation aus der Zielvorstellung zu gewinnen, d. h. der Begriff des Unrechtsstaates soll als konträrer Gegensatz aus dem Begriff des demokratischen Rechtsstaates gewonnen werden. Die Gegenüberstellung erlaubt die Einführung einer neuen Systematisierung von Staatstypen. Zudem hat diese Vorgehensweise den Vorteil, dass die Probleme bei der Transformation von dem einen zu dem anderen Staatstyp anhand der definierten Differenzen zwischen den Staatstypen präzise dargestellt und analysiert werden können. Ein erster Beitrag hierzu soll mit dieser Untersuchung geleistet werden.
B. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt mit notwendigen methodischen und semiotischen Vorüberlegungen. Im darauf folgenden ersten Kapitel werden die Meinungen des Schrifttums zum Begriff des Unrechtsstaates systematisiert und einer Kritik unterworfen (Kapitel 1). Hieran anschließend werden unter Rückgriff auf die europäisch-atlantische Staats- und Rechtskulturtradition eigene Überlegungen zum Begriff und zur Konzeption des Unrechtsstaates vorgestellt. Sodann werden die Grundlagen für die Begriffsbildung gelegt. Die Begriffe der Legitimität und der Legalität (bzw. deren Fehlen) werden als Merkmale von demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat eingefühlt. Ferner wird begründet, warum der demokratische Rechtsstaat Maßstab für die Bestimmung von Unrechtsstaaten sein kann (Kapitel 2). Im anschließenden Kapitel wird der begriffliche Rahmen genutzt, um 38 Die Dichotomie von Legitimität und Legalität ist der Wahrnehmung des Politischen im deutschen Kulturkreis geschuldet. Vgl.: Ernst Vollrath, Legalität und Legitimität als Kategorien der staatlichen Existenz, in: Klaus Held/Jochem Hennigfeld (Hrsg.), Kategorien der Existenz, 1993, S. 415. 39 Vgl. verschiedene Konferenzen: DVPW-Arbeitskreis „Interkultureller Demokratievergleich", Tagung „Demokratie und Rechtsstaat", Bamberg, Juni 2000, http://www.uni-bamberg.de/~ba6pll/interk.html, sowie u. a. die Paper von Pennings, Hitzel-Cassagnes und Pedersen bei ECPR, Joint Sessions, Kopenhagen, April 2000, http://www.essex.ac.uk/ecpr/ jointsessions/Copenhagen/papers.htm. Vgl. außerdem einzelne Beiträge in dem Konferenzband: Ulrich Battis/Philip Kunig/Ingolf Pernice/Albert Randelzhofer (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozeß europäischer und globaler Verfassungsentwicklung, 2000. Siehe auch die folgenden Arbeitspapiere: Thomas M. Franck, Democracy, Legitimacy and the Rule of Law: Linkages, in: New York University School of Law. Public Law and Legal Theory Working Paper Series 2, 1999; Michel Rosenfeld, The Rule of Law, and the Legitimacy of Constitutional Democracy, in: Cardozo Law School. Jacobs Bums Institute for Advanced Legal Studies. Working Paper Series 36, 2001.
30
Einleitung
den vollständigen Begriffsinhalt von Legitimität und Legalität mit Blick auf das positive (formal-material qualifizierte prozedurale) Modell des demokratischen Rechtsstaates zu entwickeln. Aus dem formal-material qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodell werden konstitutive Elemente eines demokratischen Rechtsstaates entwickelt. Es wird gezeigt, dass der demokratische Rechtsstaat aufgrund der Existenz von Legitimität und Legalität die relativ größte Gewähr dafür bietet, staatliches Unrecht zu verhindern (Kapitel 3). Im vierten Kapitel wird der Begriff des Unrechtsstaates vollständig definiert. Im Anschluss daran wird der Unrechtsstaatsbegriff auf die sozialistische Staats- und Rechtskonzeption angewendet. Nachdem das Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung in Russland resp. der UdSSR dargestellt wurde, soll gezeigt werden, dass der sowjetische Staat das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell nicht erfüllte, folglich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von staatlichem Unrecht relativ groß war und damit dieser Staat berechtigterweise als Unrechtsstaat bezeichnet werden kann (Kapitel 4). Im abschließenden Kapitel wird der Transformationsprozess zum demokratischen Rechtsstaat auf der Basis der erarbeiteten Begrifflichkeiten analysiert. Zugleich soll der Stand der Entwicklung zu demokratischen Rechtsstaaten anhand der entwickelten konstitutiven Merkmale eines demokratischen Rechtsstaates in Mittel- und Osteuropa, insbesondere in Russland, untersucht werden (Kapitel 5).
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen Im Folgenden sollen zunächst die tragenden methodologischen (Unterabschnitt I.) und sprachwissenschaftlichen (Unterabschnitt II.) Voraussetzungen der Untersuchung erläutert werden. Ferner ist es erforderlich, einzelne Begriffe vorläufig zu definieren (Unterabschnitt III.). Erwägungen zum verwendeten Untersuchungsmaterial schließen diesen Abschnitt ab (Unterabschnitt IV.).
I. Allgemeine methodologische Überlegungen Die Art und Weise, in der man wissenschaftliche Fragestellungen angeht und Antworten findet, richtet sich grundsätzlich nach dem Erkenntnisinteresse. Aus der Unterschiedlichkeit des Erkenntnisinteresses folgt zwar nicht zwingend die Unterschiedlichkeit des Erkenntnisweges, jedoch dessen eigenständige Begründung. Deshalb hat jeder Bereich des Denkens neben den allgemeinen seine speziellen Methoden.40 40
S. 17.
Vgl.: Innocent Marie Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 1954, 1993,
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
31
Die Untersuchung verlangt aufgrund der verschiedenen Erkenntnisinteressen eine Vielfalt von Methoden.41 Die logische Vorgehens weise ist selbstverständliche Grundlage aller Überlegungen. Damit muss sich die Untersuchung an den allgemeinen Anforderungen der Rationalität messen lassen. Diese Anforderungen sind insbesondere Widerspruchsfreiheit, Universalisierbarkeit im Sinne von Konsistenz, sprachlich-begriffliche Klarheit und empirische Wahrheit. 42 Für die Begriffsanalyse und Begriffsbildung bieten sich semiotische Methoden an. Nicht nur für die Untersuchung juristischer Texte, ist die Hermeneutik angebacht. Die Entscheidung für eine bestimmte Methode beruht auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die am Erkenntnisziel ausgerichtet sind. Folglich müssen methodologische Fragen bei den konkreten Sachproblemen diskutiert und einer Lösung zugeführt werden. Aus diesem Grund ist jedem Kapitel die Formulierung des Ziels und die Beschreibung des zu beschreitenden Weges vorangestellt. Die Untersuchung soll anhand nachprüfbarer Gründe dem Prinzip der Intersubjektivität 43 gerecht werden. Die entwickelte Argumentation hat folglich das Ziel, der Kritik prinzipiell zugänglich zu sein. Damit besteht die Möglichkeit, die aufgestellten Aussagen zu bestätigen oder zu falsifizieren. Sie setzt demnach voraus, dass normative Aussagen der rationalen Erkenntnis zugänglich sind und sich auf der Grundlage argumentativer Begründungen über praktische moralische Fragen kritisierbare Aussagen treffen lassen.44
IL Semiotische Vorüberlegungen Ein zentrales Ziel der Untersuchung ist es, den Begriff des Unrechtsstaates zu bestimmen. Hierfür ist es erforderlich, sich der sprachwissenschaftlichen Grundlagen der Analyse und der Bildung von Begriffen zu vergewissern. Obwohl in der Untersuchung auch andere Begriffe analysiert und definiert werden, sollen die semiotischen Erwägungen aus Gründen der Verständlichkeit am Begriff des Unrechtsstaates ausgerichtet werden. Zunächst werden grundlegende Begriffe der Semiotik geklärt (1.). Darauf aufbauend wird das Verfahren der Begriffsbildung beleuchtet (2.). Sodann werden die 41
Der Methodenpluralismus ist in der Philosophie mittlerweile anerkannt. Vgl.: Kurt Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie, 1977, 1987, S. 13. 4 2 Vgl.: Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S. 53; Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 130. 43 Vgl.: Achim Siegel, Carl Joachim Friedrichs Konzeption der totalitären Diktatur - eine Neuinterpretation, in: ders. (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 278. 44 Vgl. zur These vom Nonkognitivismus normativer Aussagen u. a.: Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 66ff.; Eike von Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus, in: Hans Albert/Niklas Luhmann/Werner Maihofer/Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 103 f.
32
Einleitung
Probleme der Vagheit von Begriffen (3.) und der Bedeutungsvarianz und Bedeutungsveränderung von Begriffen (4.) auf die Untersuchung bezogen. Gedanken zum Verhältnis von Sprache und Wissenschaften im Rahmen der Unrechtsstaatsdiskussion schließen die semiotischen Vorüberlegungen ab (5.).
1. Ausdruck, Objekt und Bedeutung von Zeichen Begriffe sind Werkzeuge der Erkenntnis 45 und deshalb ein unentbehrliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung. 46 Begriffe werden in Worten ausgedrückt, die eine bestimmte Bedeutung haben. In der Semiotik 47 werden grundlegend drei Begriffsbereiche voneinander unterschieden: Objekt, Bedeutung und Ausdruck. 48 Der hier verwendete Ausdruck ist das sprachliche Zeichen „Unrechtsstaat". Das mit diesem Ausdruck bezeichnete Objekt ist eine konkrete Staatsordnung. Unter Extension ist der Umfang derjenigen Objekte zu verstehen, die unter einem Begriff zusammengefasst sind. Dem Ausdruck „Unrechtsstaat" ist derzeit zumindest die nationalsozialistische Staatsordnung extensional zugewiesen. Hier wird die These vertreten, dass auch die sozialistische Staatsordnung Objekt des Ausdrucks „Unrechtsstaat" ist. Die Bedeutung ist die dritte grundlegende Begriffskategorie der Semiotik. Der Bedeutungsinhalt (Intension) bezeichnet die Menge von Merkmalen, Eigenschaften und Kriterien, anhand derer überprüft werden kann, ob ein Objekt unter einen Begriff fällt. Die Bedeutung des Ausdrucks „Unrechtsstaat" soll durch die Kategorien der Legitimität und der Legalität erfasst werden. Damit wird versucht, den Ausdruck intensional zu rekonstruieren. Im Anschluss an die Rekonstruktion der Bedeutung ist es möglich, die These zu überprüfen, ob dem Ausdruck „Unrechtsstaat" das Objekt der sozialistischen Staatsordnung zugewiesen ist.
2. Bildung von Begriffen Es gibt keine richtige Begriffsbildung an sich. 49 Denn die Bildung von Begriffen ist abhängig von den zu erfassenden Gegenständen. An Zweckmäßigkeitskrite45
Vgl.: Hans-Georg Gadamer, Begriffsgeschichte als Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 14, 1970, S. 139. 46 Siehe: Innocent Marie Bochenski , Die zeitgenössischen Denkmethoden, 1954, 1993, S. 38 f. 47 Hier werden ausschließlich semantische Fragen problematisiert. Die syntaktische oder pragmatische Dimension des sprachlichen Zeichens bleibe unberücksichtigt. 48 Die Bezeichnungen innerhalb des sog. semiotisches Dreieck sind indes verschieden. Vgl.: Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. lOff. 49 Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 141.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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den 5 0 orientiert, werden Begriffe und deren Bedeutung nach der nominalistischen Definitionsmethode 51 nicht erkannt, sondern konstruiert. 52 Begriffe können folglich weder falsch noch wahr, sondern allenfalls zweckmäßig oder unzweckmäßig für die Erfassung der gewünschten Gegenstände sein.53 Folglich kann eine Begriffsbestimmung nicht mit einem Wahrheitsanspruch verbunden werden. 54 Der Begriff „Unrechtsstaat" ist aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen System gebildet worden. Da der Begriff bereits existiert und auf einen bestimmten semantischen Gehalt referiert, ist er analysierbar. Schon bestehende Begriffe werden mit dem Verfahren der Begriffsanalyse untersucht und expliziert. 55 Angesichts verschiedener Verwendungsweisen eines Begriffs hat die Begriffsanalyse das Ziel, relativ stabile „Begriffskerne" 56 aufzudecken. Diese Begriffskerne bilden die Anschlussstelle für eine Rekonstruktion des Begriffs. Denn keine Begriffsrekonstruktion kann die vorhergehende Verwendung des Begriffs ignorieren. Das natürliche Sprachgefühl 57 und die Umgangssprache geben den Rahmen für die Extension des Begriffs vor. Ziel der Analyse des Begriffs „Unrechtsstaat" ist es, zu dem intuitiven Umfang - sowohl nationalsozialistische als auch sozialistische Staats- und Rechtsordnung - unter Berücksichtigung der intuitiven Intensionen einen passenden Inhalt zu finden. Zudem dient die im zweiten Kapitel vorzunehmende Begriffsanalyse einem weiteren Ziel. Sie soll deutlich machen, dass eine Rekonstruktion des Unrechtsstaatsbegriffs überhaupt notwendig ist. Die Untersuchung des Bedeutungsumfanges (Extension) und vor allem des Bedeutungsinhaltes (Intension) des Begriffs „Unrechts50
Hierzu: Tadeusz Pawlowski, Über Normen der Begriffsbildung, 1977, S. 60. Der essentialistische Weg der Bedeutungsbildung, der das Wesen oder die wahre Natur eines Begriffs auffinden will, hat sich in der Gesellschaftstheorie als unfruchtbar erwiesen. Siehe u. a.: Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (engl). 1945, 1992, S. 15 ff. Vgl. speziell für den Totalitarismusbegriff: Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 153 ff. 52 Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 157. 53 Vgl.: Hermann Lübbe, Die Historizität des Totalitarismus, in: Hans Maier (Hrsg.), ,Totalitarismus' und »Politische Religionen4, 1996, S. 285. Siehe außerdem hierzu: Tadeusz Pawlowski, Begriffsbildung und Definition, 1980, S. 82 ff. 54 Vgl. zu diesem Problem: Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 1945 (engl.), 1992, S. 25 ff. 55 Zur Methode der Explikation siehe insbesondere: Tadeusz Pawlowski, Begriffsbildung und Definition, 1980, S. 157 ff. 56 Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 160 ff. 57 An dieser Stelle können die mit dem Unrechtsstaatsbegriff verbundenen emotionalen Assoziationen in der Begriffsbildung berücksichtigt werden. In dieser Weise können Emotionen für die rationale Erkenntnis nützlich sein. Vgl. hierzu: Tadeusz Pawlowski, Methodologische Probleme in den Geistes- und Sozialwissenschaften, 1975, S. 1 ff.; Tadeusz Pawlowski, Über Normen der Begriffsbildung, 1977, S. 54 ff. 51
3 Mögelin
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Einleitung
Staat" wird Inkonsistenzen, Widersprüche und Unzulänglichkeiten aufdecken, die belegen, dass die bestehende Begrifflichkeit zur Erfassung der Wirklichkeit inadäquat ist. Die Rekonstruktion des Begriffs „Unrechtsstaat" soll anhand der Merkmale der Legitimität und der Legalität geleistet werden. Beide Merkmale sollen die Wirklichkeit der Herrschaftsordnung adäquater reflektieren, als es die derzeit verwendeten Merkmale des Begriffs tun. So wird die Untersuchung eine Definition anbieten können, die sich an die vorhandenen Bedeutungen anschließt und sich in ein „hinreichend konsequentes Begriffssystem" 58 einordnen lässt. Nach der Rekonstruktion des Bedeutungsinhaltes kann die Einbeziehung der sozialistischen Länder in den Bedeutungsumfang des Unrechtsstaatsbegriffs untersucht werden. Zur Kontrolle der Zweckmäßigkeit eines rekonstruierten oder neu konstruierten Begriffs bietet sich eine negative Prüfung an. Wenn es einen Begriff gibt, der die Extension und /oder die Intension des rekonstruierten Begriffs zumindest gleichwertig zu erfassen vermag, ist die Begriffsbildung nicht notwendig. Denn für die Begriffsbildung gilt grundsätzlich, dass neue fachtechnische Begriffe erst dann eingeführt werden sollen, wenn sie notwendig geworden sind. 59 Für die Rekonstruktion von schon vorhandenen Begriffen kann nichts anderes gelten. Die Begriffsanalyse und die sich anschließende Rekonstruktion wird zeigen, dass der Begriff „Unrechtsstaat" zur Kennzeichnung der sozialistischen Länder erfunden werden müsste, wenn es ihn nicht schon gäbe, da kein anderer Begriff existiert, der das Fehlen von Legitimität und Legalität im Staat adäquat bezeichnen kann. Es besteht außerhalb des Unrechtsstaatsbegriffs kein Ausdruck, der den konzeptionellen Gegensatz zum demokratischen Rechtsstaat wiedergibt. Abgesehen von den Voraussetzungen der wissenschaftlichen Nützlichkeit sind „formale Bedingungen des korrekten Definierens" 60 einzuhalten. Die Rekonstruktion des Begriffs des Unrechtsstaates muss zumindest adäquat bezüglich des bezeichneten Gegenstandes, ausführlich, präzise genug, zirkelfrei und konsistent sein.61 Dabei wird auf eine gewisse Vereinfachung nicht zu verzichten sein. Es kommt jedoch darauf an, im Begriff das Wesentliche gegenüber dem Zufälligen hervorzuheben. 62 Für die konkrete Bedeutungsrekonstruktion bedeutet das, typische Phänomene von Einzelerscheinungen zu trennen und grundlegende Strukturen zu explizieren.
58 Tadeusz Pawtowski , Begriffsbildung und Definition, 1980, S. 188. 59 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 1945 (engl.), 1992, S. 22. 60 Tadeusz Pawtowski, Begriffsbildung und Definition, 1980, S. 31.
Vgl. u. a.: Walter Dubislav, Die Definition, 1931, 1981, S. 15; Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozial Wissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 375; Tadeusz Pawtowski, Begriffsbildung und Definition, 1980, S. 31 ff. 62 Karl Dietrich Bracher , Schlüsselwörter der Geschichte, 1978, S. 27.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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3. Vage Begriffe Durch die Untersuchung kann die Vagheit des Unrechtsstaatsbegriffs zwar reduziert, jedoch nicht ganz beseitigt werden. Denn von der hier angebotenen Begriffsklärung ist keine naturwissenschaftlich exakte Definition zu erwarten, die einer einfachen empirischen Uberprüfung zugänglich wäre. Nachfolgend wird begründet, was vage Intensión und vage Extension für die Untersuchung bedeuten und warum eine vage Begriffsdefinition sinnvoll ist. Ziel dieser Untersuchung ist es, den Unrechtsstaatsbegriff durch die Begriffe „Legitimität" und „Legalität" zu klären. Die Bedeutungen dieser Begriffe bleiben recht unbestimmt, auch wenn sie einer Definition zugeführt werden. Es wird sich zeigen, dass es sowohl zwischen Legitimität und Illegitimität als auch zwischen Legalität und Nicht-Legalität einen Bereich gibt, der sich nicht vollständig bestimmen lässt. Die Begriffe haben also eine vage Intensión. Das wirkt sich selbstverständlich auf den zu erklärenden Hauptbegriff „Unrechtsstaat" aus. Jedoch ist in der Sprachwissenschaft unbestritten, dass es durch Verengung der semantischen Grenzen grundsätzlich möglich ist, die Unbestimmtheit eines Begriffs durch Angaben von selbst unbestimmten Begriffen zu vermindern. 63 Folglich ist es möglich, dass der Hauptbegriff „Unrechtsstaat" eine schärfere Kontur durch die Begriffe der Legitimität und der Legalität gewinnt. Trotzdem werden die Begriffe nicht in dem Maße operationalisierbar sein, dass sie auf quantitative Messskalen bezogen werden können.64 Diese Vagheit in den Bedeutungsinhalten ist jedoch lediglich Ausdruck der Wirklichkeit. Denn reine demokratische Rechtsstaaten oder Unrechtsstaaten existieren nicht. 65 Nicht in jedem einzelnen Fall wird es möglich sein zu bestimmen, ob ein bestimmter Staat zur Extension des Begriffs „Unrechtsstaat" gehört oder nicht (vage Extension). Die Begriffsbildung steht damit nicht im Widerspruch zur Konkretheit und Exaktheit der Wirklichkeit. 66 Zwar ist die Wirklichkeit also ungleich vielschichtiger, als es die Dichotomie der Begriffe „demokratischer Rechtsstaat" und „Unrechtsstaat" suggeriert, jedoch spiegelt sich die Vielschichtigkeit der Realität eben zu einem bestimmten Grad in der Vagheit der Begriffe wider. Auch wenn die verwendeten Begriffe in Teilen vage Begriffe sind, können sie folglich sinnvoll in rationalen Diskursen verwendet werden. 67 Da die Begrifflich63 Vgl.: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902, 1929, S. 50. 64 Vgl. hierzu: Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 373. 65 Vgl.: Hans Hattenhauer, Vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, 1990, Vortrag der Hermann-Ehlers-Akademie Kiel in Schwerin am 5. März 1990, 14; Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 4; Bozidar Markovic, Despotischer, ideologischer und demokratischer Staat, in: Rechtstheorie 24,1993, S. 231. 66 Siehe hierzu: Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter der Geschichte, 1978, S. 27. 67 Vgl. auch: Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 373.
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Einleitung
keiten eine inhaltliche Beurteilung und einen Vergleich von Staats- und Rechtssystemen möglich machen, kann trotz ihrer Vagheit nicht auf diese Begriffe verzichtet werden. 68
4. Mehrdeutigkeit zwischen Varianz und Veränderung Gleiche sprachliche Zeichen können in der Semantik differieren. Rechtsbegriffe machen von dieser Regel keine Ausnahme. Die sozialistische Rechtwissenschaft benutzte häufig die gleichen Termini, wie sie in der westlichen Rechtswissenschaft üblich sind. Die Unterschiede in den Bedeutungen sind zuweilen offensichtlich, manchmal bleiben sie verdeckt. Juristische Wissenschaft ist Hermeneutik. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn nationale Rechtsordnungen unterschiedliche Interpretationen und Auslegungen vornehmen, die auf andere Rechtsordnungen nicht übertragbar sind. Bei Rechtsordnungen, die unterschiedlichen Rechtssystemen angehören, ist die semantische Differenz noch größer als bei ähnlichen Rechtsordnungen. Hier werden sogar zentralen Begriffen unterschiedliche semantische Gehalte zugeordnet. Auch bei gleichem sprachlichen Zeichen ist demnach der möglichen unterschiedlichen Bedeutung Rechnung zu tragen. Umgekehrt kann es auch sein, dass gleiche Bedeutungsgehalte durch unterschiedliche Zeichen wiedergegeben werden. Da die Arbeit eine Reihe von Fragestellungen anderer Geistes- und Sozialwissenschaften berührt, ist ebenso in Bezug auf andere Wissenschaftsdisziplinen eine begriffliche Klärung vorzunehmen. Die zentralen Begriffe der Untersuchung „Legitimität" und „Legalität" sind aufgrund der Abhängigkeit vom Gebrauch und dem Erkenntnisinteresse mehrdeutig. Erst durch eine festgelegte Bedeutung werden die Begriffe für die wissenschaftliche Analyse nutzbar. Den sprachlichen Zeichen müssen außerdem aus Gründen der Bedeutungsveränderung bestimmte semantische Gehalte zugewiesen werden, denn Begriffsbedeutungen waren und sind ständigem Wandel unterworfen; 69 eine begriffliche Klärung ist folglich unabdingbar. Nicht allein der Bedeutungsinhalt und der Bedeutungsumfang von Begriffen verändern sich, sondern auch die vom Begriff bezeichneten Objekte wandeln sich, denn menschliche Institutionen sind „dynamischer Natur" 70 . Die Staats- und Rechtsordnung eines jeden Staates ist nicht statisch; sie ist andauernden Veränderungen unterworfen. Der sozialistische Staat Sowjetunion aus dem Jahre 1924 unterscheidet sich von dem Staat aus dem Jahre 1953 und dem aus dem Jahre 1985. Methodologisch folgt hieraus, dass neben der örtlichen Staats- und Rechts68
Vgl.: Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozial Wissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 382. 69 Vgl. insgesamt hierzu: Karl Dietrich Bracher , Schlüsselwörter der Geschichte, 1978. 70 Georg Jellinek , Allgemeine Staatslehre, 1900, 1959, S. 38.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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vergleichung ebenso der zeitliche (historische) Vergleich einbezogen werden muss. Die für die Begriffsverwendung entscheidende Frage ist, ob sich der Staat, gemessen am semantischen Gehalt eines Klassifikationsbegriffs, wesentlich oder unwesentlich verändert hat. Die Begriffsbildung muss folglich eine gewisse Flexibilität der Objekte absorbieren und Veränderungen aufnehmen können, sofern diese als unwesentlich bezüglich des definierten Bedeutungsinhaltes eingeordnet worden sind.
5. Sprache und Wissenschaft Dem Unrechtsstaatsbegriff wird zuweilen seine Wissenschaftlichkeit abgesprochen 71 und damit jedem Explikations- und Rekonstruktionsversuch eine Kontingenz ad libitum unterstellt. 72 Auch die Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und des positiven Rechts muss sich nicht selten den Vorwurf gefallen lassen, unwissenschaftlich zu sein.73 Ausgangspunkt derjenigen Autoren, die den Gebrauch des Begriffs „Unrechtsstaat" ausschließen wollen und ihn deshalb in den Bereich des Irrationalen und Metaphysischen verweisen, ist die Feststellung, dass der Unrechtsstaatsbegriff keine juristische Kategorie ist. Dem ist zunächst entgegen zu halten, dass nicht jeder rechtswissenschaftliche Begriff zugleich ein Rechtsbegriff sein muss.74 „Gerechtigkeit" und „Vernunftrecht" beispielsweise sind akzeptierte juristische Begriffe und Kategorien, ohne dass sie Eingang in das positive Rechts gefunden haben. Beide Begriffe transzendieren das positive Recht, sind aber dennoch Teil der rechtswissenschaftlichen Debatte. Dem Argument ist außerdem entgegenzuhalten, dass nicht ernsthaft zu bezweifeln ist, dass zwischen Staaten Differenzen bezüglich ihres Verhältnisses zum positiven Recht, zum überpositiven Recht und zum Unrecht existieren. Für die Kennzeichnung solcher Diffe71
Parallelen zur Auseinandersetzung um den Begriff „Totalitarismus" sind unverkennbar. Vgl. Leonard B. Schapiro, Totalitarismus, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Band 6, 1972, S. 480 f. Sowie: Klaus Müller, Totalitarismus und Modernisierung. Zum Historikerstreit in der Osteuropaforschung, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 37-79. Allgemeiner hierzu: Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, 1998, S. 157 ff. 72 So für den Begriff „SED-Unrechtsregime": Hermann Klenner, Die Rechtskonzeption der SED und ihre Widerspiegelung in der Rechtsordnung der DDR, in: Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hrsg.), Ansichten zur Geschichte der DDR, 1994, S. 162. Das meint wohl auch Schöneburg, wenn er schreibt, dass der Unrechtsstaat keiner „wissenschaftlichen", sondern einer „moralischen" Kategorie angehöre. Deshalb eigne sich der Begriff „Unrechtsstaat" nicht zur wissenschaftlichen Analyse. Abgesehen von der umstrittenen intendierten Grundaussage, ist die von Schöneburg behauptete Antinomie zwischen Wissenschaft und Morallehre schlicht falsch. Siehe: Volkmar Schöneburg, Recht im nazifaschistischen und im „realsozialistischen" deutschen Staat-Diskontinuitäten und Kontinuitäten, in: NJ, 1992, S. 49. 73
Hierzu: Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53, 1998, S. 332. 74 Vgl.: Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 376.
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Einleitung
renzen sind Begriffe notwendig, die diese Unterschiede verdeutlichen. Die Weigerung, diese Begriffe zu verwenden, führt zur Nivellierung der Differenzen, sofern keine anderen Begriffe in die Diskussion eingeführt werden. Die Ablehnung der wissenschaftlichen Analyse von staatlichem Unrecht führt zur Annahme der Formel „Staat ist gleich Staat" 75 . Der Begriff des Unrechtsstaates ist als Bezeichnung für den nationalsozialistischen Staat faktisch akzeptiert. 76 Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Begriff in einer neuen Konstellation von vornherein ausgeschlossen sein soll. Es ist Teil der Fragestellung, ob der Begriff für die sozialistische Staats- und Rechtsordnung Anwendung findet, nicht das Ergebnis. Verschiedene Rechtssysteme sollen also typisierend betrachtet werden, womit eine Voraussetzung für rationale Theoriebildung erfüllt wird. Die Schwierigkeit besteht darin, Gemeinsamkeiten und Differenzen von Unrechtsstaat und demokratischem Rechtsstaat zu isolieren. Mit dieser Untersuchung wird angestrebt, den Begriff „Unrechtsstaat" durch Zuschreibung einer eigenen Bedeutung rational zu fixieren und seinem Gebrauch als bloßes Manipulationsmittel entgegenzuwirken. Eine der Ursachen für den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ist die These, dass die Auseinandersetzung um die Einordnung und Bewertung der sozialistischen Vergangenheit politisch motiviert sei. So wurde die Kennzeichnung der DDR als „Unrechtsstaat" nicht selten als politische Propaganda („Kampfbegriff 4 7 7 , „Propagandaparole" 78, „Verdrängungsvokabel" 79) diskreditiert. Mit diesem Vorwurf ist die pauschale Entwertung der vorgebrachten Argumentation verbunden. Indessen sollte Klarheit darüber herrschen, dass, obwohl Sprache „Machtfaktor" 80 und Mittel der politischen Auseinandersetzung81 sein kann, 82 75 Vgl. Peter Schneider , Rechtsstaat und Unrechtsstaat, in: Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung 79, 1996, S. 20. Ferner führt Schneider zur Begründung der Notwendigkeit einer juristischen Argumentation rechtspraktische Gründe („Aufarbeitung der Vergangenheit") an. 76 Siehe zum Begriff des Unrechtsstaates für den nationalsozialistischen Staat: Kapitel 1, Abschnitt A. 77
Ingo Müller , Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, in: NJ 46, 1992, S. 282. Abwegig wird es, wenn Müller dem „Rechtsstaat" vorwirft, bloßer Kampfbegriff zu sein. Hierzu hat Sendler alles Nötige gesagt und kommt zum folgenden Schluss: „Aber Mißbräuche können nicht verdecken, dass solche »Kampfbegriffe' Rechtsbegriffe sind und trotz allen Mißbrauchs auch bleiben." Horst Sendler , Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 2. 78 Hermann Klemer , Die Rechtskonzeption der SED und ihre Widerspiegelung in der Rechtsordnung der DDR, in: Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hrsg.), Ansichten zur Geschichte der DDR, 1994, S. 162.
™ Für den NS-Staat: Richard Bäumlin/Helmut Ridder, Art. 20 Abs. 1 - 3 III, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Band 1: Art. 1 -37, 1989, S. 1359. 80 Karl Dietrich Bracher , Sprache und Ideologie, in: Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.): Wörter als Waffen, 1979, S. 85. 81 Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S. 49. S2 Vgl. hierzu: Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.), Wörter als Waffen, 1979.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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allein eine politische Motivation nichts über die Begründetheit der Argumentation 83
aussagt. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung muss die Kritik darauf gerichtet sein zu zeigen, dass die Argumentation widersprüchlich, unlogisch oder abwegig ist. Außerdem kann kritisiert werden, dass politisch-zweckmäßige mit juristischen, philosophischen oder logischen Begründungen vermengt werden. Ferner ist es möglich zu beanstanden, dass die Argumentation auf ideologischen und nicht auf diskursiven Gründen beruht. Über ideologische Gründe kann man nicht sinnvoll reden, da sie nicht rational sind und auf Interessen beruhen, 84 die gegebenenfalls offen gelegt werden können. Bei aller Kritik sollte die Vorbedingung eines jeden fairen und glaubwürdigen Diskurses auch hier gewährleistet bleiben. Diese Bedingung ist, dass kein Ergebnis präjudiziert wird, d. h. die hypothetische Möglichkeit eines positiven oder negativen Ergebnisses muss im Vorhinein erhalten bleiben. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unrechtsstaates birgt zweifellos die Gefahr in sich, politisch instrumentalisiert zu werden. Dabei ist zu beachten, dass politischen Diskursen ein gewisses Maß an Irrationalität eigen ist, da sie zum Teil auf nicht begründbaren Präferenzen beruhen. Mit der Rationalität geht dabei auch die Nachvollziehbarkeit der Argumentation, ein wesentliches Kriterium für Wissenschaftlichkeit, verloren. Diese Gefahr ist nicht grundsätzlich auszuschließen, denn „es gibt kein Verstehen, das von allen Vorurteilen frei wäre." 85 Der Wissenschaftlichkeit tut das keinen Abbruch. Der methodologischen Schwierigkeit ist durch wiederholtes Befragen der Argumente („permanente Reflexion" 86 ) Rechnung zu tragen. In dieser Weise ist eine „Vulgär-Apostrophierung" 87 des sozialistischen Staates als Unrechtsstaat zu verhindern. Die Einbeziehung des Kriteriums der Legitimität in die Begriffsbestimmung des Unrechtsstaates will auch dieser Gefahr Rechnung tragen. Denn die Legitimität stellt genau die Frage nach der Richtigkeit und Rechtfertigung politischer Systeme88 und ist deshalb sehr stark 83 Selbstverständlich ist es möglich, im Rahmen politischer Argumente sinnvoll von einem „Unrechtsstaat" zu sprechen. So z. B. Werkentin: „Nicht im Sinne einer analytischen Qualifizierung, wohl aber im Sinne einer politischen Bewertung, die ihre eigene Bedeutung hat, lässt sich begründet von der DDR als »Unrechtsstaat' reden." Falco Werkentin, Politische Justiz in der Ära Ulbricht, 1995, S. 404. 84 Siehe: Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 102. Vgl. zum Ideologiebegriff in Zusammenhang mit sozialistischen Staaten: Michael Peitzer, Sozialistische Herrschaft und materielle Interessen, 1987, S. 25 ff. 85 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, in: Gesammelte Werke, Band 1, 1990, S. 494. 86 Jürgen Klüver Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 374. 87 Für den NS-Staat: Richard Bäumlin/Helmut Ridder, Art. 20 AbS. 1 - 3 III, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Band 1: Art. 1-37, 1989, S. 1359. 88
Vgl.: Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 82.
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Einleitung
mit Politik und Ideologie 89 konfrontiert. An dieser Stelle kann auf umfangreiche wissenschaftliche Analysen politischer, philosophischer und soziologischer Art zurückgegriffen werden.
I I I . Vorläufige Begriffsbestimmungen Die Untersuchung beruht maßgeblich auf der Analyse und Bestimmung von Begriffsinhalten. Demnach gewinnen einzelne Begriffe erst im Laufe der Untersuchung an Kontur. Da die Untersuchung aber das vorhandene Begriffsinstrumentarium nutzen muss, wird es am Anfang nicht zu vermeiden sein, dass mit Begriffen gearbeitet wird, die erst mit fortschreitender Untersuchung endgültig definiert werden. Folglich ist es erforderlich, einzelne Begriffe in ihrem Inhalt vorläufig festzulegen. Zudem ist es notwendig, den Unrechtsstaatsbegriff von den Begriffen des Unrechtssystems und des Unrechtsregimes zu unterscheiden. Unter „positives Recht" und „Recht" werden die vom Staat gesetzten Normen verstanden. Mit „Unrecht" werden die Handlungen bezeichnet, die der Gerechtigkeit widersprechen. Unter „Gerechtigkeit" werden in erster Linie die dem europäisch-atlantischen Kulturstandard entsprechenden Grundwerte verstanden. Unrecht ist folglich der Verstoß gegen Gleichheit und Freiheit, d. h. insbesondere die Missachtung von individuellen Menschenrechten. Es wird angenommen, dass staatliches Unrecht sowohl in der Form einer Rechtsnorm als auch in der Form einer Rechtsnormverletzung auftreten kann. Rechtsnormen, die Unrecht darstellen, werden auch als „unrechte" bzw. „ungerechte" Normen bezeichnet. Der „demokratische Rechtsstaat" ist der Staat, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwirklicht. „Demokratisch" ist ein Staat, wenn er die Selbstbestimmung des Volkes aufgrund des Mehrheitsprinzips ermöglicht. „Rechtsstaatlich" agiert ein Staat, wenn er sein Handeln am positiven Recht ausrichtet, die Gewalten trennt und grundlegende Menschenrechte gewährleistet. Der „Unrechtsstaat" bildet den Gegensatz zum demokratischen Rechtsstaat. Der Unrechtsstaat ist weder demokratisch noch rechtsstaatlich organisiert. Der Unrechtsstaatsbegriff wird in der Literatur zumeist synonym mit den Begriffen „Unrechtsregime" 90 und „Unrechtssystem" 91 verwandt. Alle drei Begriffe unterscheiden sich im Grundwort. Folglich ist eine synonyme Verwendung der drei 89 Mit Hollerbach wird man gerade die Entwicklung von Legitimitätsansprüchen als „ideologieanfällig und ideologiegefährdet" betrachten können. Alexander Hollerbach , Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihofer, Ideologie und Recht, 1969, S. 55 f. 90 Vgl. u. a.: Art. 17 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. 8. 1990. Sowie: Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime, 2 Bände, 1986. 91 Hierzu: Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 683-745.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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Begriffe nur insoweit möglich, als auch die Grundwörter synonym gebraucht werden können. Der Begriff „System" kann in diesem Sinnzusammenhang als übergeordneter Begriff verstanden werden. Systeme können als mehr oder weniger organisierte Einheiten von vielen Menschen beschrieben werden. Staatliche Systeme sind lediglich eine mögliche Art von Systemen.92 Der Terminus „Regime" ist im Gegensatz zum Ausdruck „Staat" ein originär politikwissenschaftlicher Begriff. Vom juristischen und rechtsphilosophischen Staatsbegriff ist er zu unterscheiden. „Regime" bezeichnet die Herrschaftsinstrumentarien und die Herrschaftspraxis, der Staatsbegriff jedoch geht darüber hinaus. Häufig ist „Regime" mit einer negativen Konnotation verknüpft und wird als Ausdruck für eine bestimmte Regierungsoder Herrschaftsform verwandt. Mit dem Bestimmungswort „Unrecht" enthält der zusammengesetzte Begriff jedoch bereits ein negativ konnotiertes Teilwort. Durch die Verwendung des Grundwortes „Staat" wird folglich die doppelt abwertende Charakteristik des Begriffs „Unrechtsregime" vermieden. Ferner ist „Staat" ein Grundbegriff vieler Wissenschaften, sodass hier Anknüpfungspunkte entwickelt werden können. Unter „Legitimität" wird die normative Rechtfertigung von Herrschaftsausübung verstanden. Vorläufig wird angenommen, dass Herrschaft dann legitim ist, wenn sie den Ideen der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung entspricht, wenn sie also auf der Grundlage der persönlichen Freiheit demokratisch ausgeübt wird. Dagegen soll mit „Legalität" die Übereinstimmung der Herrschaftsausübung mit dem positiv gesetzten Recht bedeuten. Herrschaft ist legal, wenn sie auf der Grundlage des positiven Rechts ausgeübt wird. Der hier verwendete Begriff der Legalität ist also nicht deckungsgleich mit dem Begriff der Rechtsordnung. Legalität soll eine bestimmte Qualität ausdrücken, d. h. eine Rechtsordnung kann legal oder nicht-legal sein. Bezogen auf eine konkrete Staats- und Rechtsordnung ist es vorübergehend angemessen, davon zu sprechen, dass Legalität eine interne, Legitimität dagegen eine externe Kategorie ist. 93 „Herrschaft" wird hier ausschließlich als staatliche Herrschaft, d. h. als die Möglichkeit der Ausübung von staatlicher Macht verstanden. „Herrschende" sind diejenigen Menschen, die Macht ausüben können, da sie die staatlichen Zwangsmittel besitzen. „Herrschaftsunterworfene" sind die Individuen, die keine staatliche Macht ausüben, sondern diese, aufgrund ihres mangelnden Zugriffs auf staatliche Gewalt, dulden müssen. 92
So auch Lampe, der für das Strafrecht vier relevante Unrechtssysteme ausmacht, zu denen auch der kriminell pervertierte Staat gehört. Siehe: Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 683. Dagegen lässt sich der Begriff „Unrechtssystem" auch im Sinne eines ungerechten Rechtsystems verstehen, sodass das Un-Rechtssystem als Teil eines Unrechtsstaates betrachtet werden müsste. Siehe zu dieser Verwendung: Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 443. 93 So: Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53, 1998, S. 331.
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Einleitung
IV. Das Untersuchungsmaterial Die Untersuchung beschränkt sich auf die ehemals sozialistischen 94 Länder Mittel- und Osteuropas. I m Mittelpunkt des Interesses steht Russland bzw. die UdSSR. Diese typisierende Betrachtung ist möglich, obwohl der Sozialismus weltweit viele unterschiedliche Ausprägungen kannte und kennt. 9 5 Die theoretische Entwicklung der Theorien von Marx und Engels ist ebenso heterogen, wie es die Erscheinungen der Realität Sozialismus sind, sodass global betrachtet zuweilen eher die Unterschiede, denn die Gemeinsamkeiten in den Blick fallen. 9 6 Gleichwohl kann aufgrund „formal-struktureller und inhaltlich-ideologischer Grundgegebenheiten" ein „einheitlicher Typ kommunistischer Herrschaft" 9 7 auf einer allgemeinen Ebene feststellt werden. Diese tatsächlichen 98 gemeinsamen Eigenschaften 99 sozialistischer Länder sollen hier analysiert werden. Für die sozialistischen Länder Mittelund Osteuropas gilt außerdem, dass sie wegen ihres ideologischen Selbstverständnisses, ihrer Herrschaftspraxis und ihres Staats- und Gesellschaftsaufbaus einen relativ homogenen Untersuchungsbereich 100 darstellen. 1 0 1 Der hier bearbeitete Untersuchungsgegenstand Staats- und Rechtstheorie befindet sich auf einer allgemeinen Ebene. Das Staats- und Rechtssystem der mittel94 Die Bezeichnung des politischen Systems in Russland (resp. UdSSR) von 1917 und in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas Länder von 1945 bis zum Beginn der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht einheitlich. Neben Begriffen wie „Sozialismus", „Kommunismus" werden auch die Termini „Staatssozialismus", „Marxismus" und/oder „Leninismus" sowie deren adjektivische Form verwendet. Hier wird das Wort „Sozialismus" als Bezeichnung für ausreichend gehalten. Die intensionale wie auch die extensionale Bedeutung der verschiedenen Ausdrücke ist in aller Regel die gleiche. Mit den vorgenannten Begriffen wird dasjenige staatliche System bezeichnet, das einer Partei die politische Führung in Staat und Gesellschaft sicherte und vorwiegend planwirtschaftlich agierte. Mit diesen Begriffen sollten und sollen die Staaten Mittel- und Osteuropas, die Sowjetunion, China, Nordkorea, Kuba und einige andere Länder bezeichnet werden. 95
Vgl.: Georg Brunner, Einleitung, in: Georg Brunner/Boris Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980, S. 7 ff. 9 6 Florian Raunig, Herrschaft ohne Grenzen, 1996, S. 19. 97 Florian Raunig, Herrschaft ohne Grenzen, 1996, S. 19 f. 98 Untersucht werden die Strukturen der tatsächlichen sozialistischen Staats und Rechtsordnungen, so wie sie von 1917 bis zum Ende der achtziger Jahre in Mittel- und Osteuropa bestanden. Dagegen ist irrelevant, welche Zukunftsaussichten die sozialistischen Staaten versprachen oder welche Ziele sie verfolgten. 99 Vgl. hierzu: Jänos Kornai , Das sozialistische System, 1992 (engl.), 1995, S. 5. 100 Vgl.; Florian Raunig, Herrschaft ohne Grenzen, 1996, S. 97. Dabei kann nicht unbeachtet bleiben, dass die Differenzen in der konkreten Umsetzung des „realsozialistischen" Modells teil erhebliche - positive wie negative - Konsequenzen für die Herrschaftsunterworfenen hatten. Die Unterschiede in der Genehmigungspraxis von Reisen in das westliche Ausland (vgl. Polen, DDR, UdSSR) ist hierfür nur ein Beispiel. 101 So auch: Georg Brunner, Einleitung, in: Georg Brunner/Boris Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980, S. 7.
C. Methodologische und semiotische Vorbemerkungen
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und osteuropäischen Länder wurde nach der Machtübernahme durch die kommunistischen Parteien zumeist ohne Berücksichtigung nationaler Traditionen 102 dem der Sowjetunion nachgebildet.103 Sie rezipierten das sowjetische Verfassungsrecht, 104 sodass sich die Bestimmungen (insb. Grundrechte) in den mittel- und osteuropäischen Verfassungen nicht wesentlich von denen der Verfassung der UdSSR unterschieden. 105 Folglich kann und muss das Staats- und Rechtssystem der Sowjetunion als „Referenzpunkt" 106 für das Verständnis der mittel- und osteuropäischen sozialistischen Systeme dienen. Deshalb gab es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit der formellen Institutionen in den sozialistischen Ländern. Obwohl sich das sozialistische Recht in Mittel- und Osteuropa eng am sowjetischen Vorbild 107 orientierte, 108 kann von einer gedankenlosen Rezeption der sowjetischen Institutionen und Methoden in den mittel- und osteuropäischen Ländern nach 1945 nicht ausgegangen werden. 109 Mitunter sind erhebliche Differenzen bei den informellen Institutionen zu verzeichnen. Insoweit kommt der Betrachtung jedoch entgegen, dass die mittel- und osteuropäischen Länder eine gewisse kulturelle Homogenität besitzen. Zeitlich ist offensichtlich, dass der Sozialismus während seiner über siebzigjährigen Herrschaft kein unbeweglicher, unveränderlicher Block war. 110 Die Veränderungen nicht nur im Rechtssystem sind unübersehbar. Das sozialistische System brachte sowohl bloßen Terror und uneingeschränkte staatliche Willkür als auch 102 Vgl.: Csaba Varga, Transition to Rule of Law, 1995, S. 66 f. 103 Vgl. u. a.: Viktor Knapp, Comparative Law and the Fall of Communism, in: Parker School Journal of East European Law 2, 1995, S. 527 ff. Andrzej Rzeplinski, Principles and Practice of Socialist Justice in Poland, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999 1; Christina Tassev, Recht und Rechtspflege in Bulgarien nach dem Sozialismus, in: JOR 37, 1996, S. 82 f. 104 Vgl. hierzu auch: Péter Paczolay ; Constitutional and Legal Change during the Transition from Socialism to Democracy in Hungary, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 274 f. 105 Vgl.: Georg Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, 1963, S. 30.
106 David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 180. 107
Die Reformen in den siebziger und achtziger Jahren gingen dagegen von den mitteleuropäischen Ländern aus. Somit ist Ajani zuzustimmen: „The monodirectional flow that has spread ... from the Soviet East towards other European socialist countries, progressively changed its direction." Gianmaria Ajani , Transfer of Legal Systems from the Point of View of the „Export Countries", in: Ulrich Drobnig/Klaus J. Hopt/Hein Kötz/Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa und ihre Folgen für Banken, Börsen und Kreditsicherheiten, 1998, S. 45. 108 Andrâs Sajô/Vera Losonci, Rule by Law in East Central Europe, in: Douglas Greenberg/Stanley N. Katz/ Melanie Beth Oliviero / Steven C. Wheatley (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy, 1993, S. 324. 109 Vgl. für die DDR: Karl A. Mollnau, Sozialistische Gesetzlichkeit in der DDR, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hrsg.): Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 70.
no Vgl.: Leszek Kolakowski, Einige Bemerkungen über den Kommunismus und den Nationalsozialismus, in: Europäische Rundschau 27, 1999, S. 44.
Einleitung
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Phasen relativer Rechtssicherheit hervor. Diese Veränderungen müssen in die Untersuchung einbezogen werden. Die Untersuchung stützt sich auf staats- und rechtsphilosophische Grundlagentexte zum Staats und Verfassungsverständnis, Rechtstexte (in erster Linie Verfassungen), und Analysen der Rechtswirklichkeit. Der Vergleich von Staats- und Rechtsordnungen verfasster Staaten kann sich nicht auf die Verfassungstexte beschränken, da nicht der Ausschnitt einer Rechtsordnung analysiert wird, sondern deren Grundlegung. Zudem kann die Verfassungswirklichkeit nicht allein als Abweichung vom Verfassungsrecht betrachtet werden. Die Verfassungspraxis ist konkretisierte Verfassung und wirkt in dieser Weise auf das Verfassungsrecht zurück. 111 Der Verfassungsvergleich insbesondere zwischen Ländern unterschiedlicher politischer Systeme112 ist auch aus diesem Grund komplexer als Rechtsvergleichung herkömmlicher Art. 1 1 3 Für die Rekonstruktion des Unrechtsstaatsbegriffs wird allein auf Aufsätze in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zurückgegriffen. 114
111
Vgl. u. a.: Michael Kirn , Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität?, 1972, S. 222. Vgl. zu methodischen Fragen des Rechtsvergleichs zwischen demokratischen Rechtsstaaten und sozialistischen Staaten: Klaus Westen , Methodische Fragen der Ostrechtsforschung, in: Dietrich Frenzke / Alexander Uschakow (Hrsg.), Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, 1965, S. 299-325; Friedrich-Christian Schroeder, Gefahren der rechtsvergleichenden Methode in der Ostrechtswissenschaft, in: Klaus Westen/Boris Meissner/Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Der Schutz individueller Rechte und Interessen im Recht sozialistischer Staaten, 1980, S. 235-238. 112
113
Vgl. hierzu: Rainer Wahl , Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, 2000, S. 163-182. 114 Die zahlreich erschienen Artikel in Tageszeitungen und anderen Periodika konnten nicht systematisch ausgewertet werden. Ihr wissenschaftlich verwertbarer Gehalt ist in der Regel gering, sodass keine Defizite für die Literaturanalyse zu erwarten sind.
1. Kapitel
Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum Der Begriff „Unrechtsstaat" findet in der wissenschaftlichen Literatur vielfach Verwendung. In diesem ersten Teil wird versucht, die Genese (Abschnitt A.) und die verschiedenen Verwendungen des Begriffs und die dahinter stehenden Konzeptionen zu systematisieren und zu analysieren. Bevor eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Vorstellungen begonnen werden kann, ist es erforderlich, sich mit der These auseinander zu setzen, dass der Begriff „Unrechtsstaat" einen logischen Widerspruch darstellt (Abschnitt B.). Daran anschließend können die verschiedenen Definitionsversuche untersucht und kritisiert werden (Abschnitt C.).
A. Genese und Entwicklung des Begriffs „Unrechtsstaat" Der Begriff des Unrechtsstaates entwickelte sich zunächst in der Auseinandersetzung mit der Staats- und Rechtsordnung des deutschen Nationalsozialismus.1 Das Bundesverfassungsgericht verwendet den Begriff „Unrechtsstaat" schon in seiner Entscheidung vom 18. 12. 1953.2 Nach Etablierung des Begriffs wurde 1 Vgl. u. a.: Gustav Radbruch , Fünf Minuten Rechtsphilosophie, 1945, in: Gesamtausgabe, Band 3, 1990, S. 78; Gustav Radbruch , Gesetzliches Recht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1, 1946, S. 107. Rolf Gewaltig , Rechtsstaat und Unrechtsstaat, 1962; vgl. auch: Bundesinnenminister Robert Lehr im 1952 verfassten Geleitwort zu: Hans Royce (Hrsg.), 20. Juli 1944, 1953. Selbst mit dem nationalsozialistischen Regime sympathisierende Autoren bestritten nicht, dass der nationalsozialistische Staat ein Unrechtsstaat war. Siehe: Walter Leon, Kämpften wir im Hitlerreich tatsächlich für einen „Unrechtsstaat"?, 1959, S. 13. Kritisch zur Verwendung des Begriffs des Unrechtsstaates („Verdrängungsvokabel"): Richard Bäumlin/Helmut Ridder, Art. 20 Abs. 1 - 3 III, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Band 1: Art. 1-37, 1989, S. 1359ff. Wo der Begriff „Unrechtsstaat" zum ersten Mal auftaucht und wer ihn als erster verwendete konnte nicht geklärt werden.
2 BVerfGE 3, 225, 233. Vgl. auch: BGHZ 13, 265, 297. Diese frühe Verwendung des Begriffs wird häufig nicht gesehen. Vgl.: Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 3. Müller meint sogar, dass der Begriff erst mit dem Ende der siebziger Jahre auftaucht. Ingo Müller , Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, in: NJ 46, 1992, S. 282.
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
dieser auch für die sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas verwendet.3 Eine umfassende Diskussion über den nationalsozialistischen Unrechtsstaat entwickelte sich jedoch erst Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. 4 Zum Unrechtsstaat sind seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme Ende der achtziger Jahre eine Vielzahl von Abhandlungen erschienen, die sich primär 5 dem deutschen sozialistischen Staat widmen.6 Hinzu kommen ungezählte 3 Siehe u. a.: Willi Brundert, Grundfragen zur Wirtschafts- und Arbeitsverfassung in der SBZ, in: Willi Brundert/ Josef Durstewit, Rechtsstaat und Unrechtssystem, 1963, S. 63. 4 Vgl. beispielhaft für die zahlreiche Literatur: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Der Unrechts-Staat, 1979; Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaates, 1981; Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, 1984; Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime, 2 Bände, 1986; Michael Kilian, Das Recht des Unrechtsstaates: Die „Nürnberger Gesetze", in: Recht und Politik 22, 1986, S. 110-114; Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Der UnrechtsStaat. Band II, 1984; Felix Ecke. Die braunen Gesetze. Über das Recht im Unrechtsstaat, 1990; Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Der Unrechts-Staat. Band III, 1990; Bernd Wehner, Vom Unrechtsstaat ins Desaster, in: Kriminalgeschichte, 1989, S. 258 ff., 335 ff., 401 ff., 546 ff., 583 ff., 665 ff., 697 ff. 5 Vgl. zum Unrechtsstaatsbegriff für die anderen mittel- und osteuropäischen Länder: Miroslaw Wyrzykowski, Die Wege zur Rechtsstaatlichkeit in mittel- und osteuropäischen Staaten, in: Christian Tomuschat/Hein Kötz/Bernd von Maydell (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskulturen, 1995, S. 155. 6 Hans Hattenhauer, Vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, 1990, Vortrag der Hermann-Ehlers-Akademie Kiel in Schwerin am 5. März 1990. Den eigentlichen Ausgangspunkt der Kontroverse um den Unrechtsstaat bildete das Editorial der neuen Herausgeber der früheren DDR-Zeitschrift Neue Justiz. Horst Sendler et al., Editorial, in: NJ 45, 1991, S. 137. Dem folgend: Horst Sendler, Uber Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, in: NJ 45, 1991, S. 379-382; Volkmar Schöneburg, Recht im nazifaschistischen und im „realsozialistischen" deutschen Staat - Diskontinuitäten und Kontinuitäten, in: NJ 46, 1992, S. 49-54; Thomas Klein/Udo Wolf, Rechtsstaatliches Unrecht oder unrechtsstaatliches Recht?, in: Utopie kreativ, 1992, Heft 21-22, S. 17-28; Michail Nelken, „Unrechtsstaat" - ein Ideologem am „Ende der Geschichte". Für die Fortsetzung des Historikerstreits; in: Utopie kreativ, 1992, Heft 21 -22, S. 29-38; Volkmar Schöneburg, Unrechtsstaat: Wissenschaft, Moral oder Ideologie?, in: Utopie kreativ, 1992, Heft 21-22, S. 39-47; Thomas Kreuder, Rechtsstaat, Unrechtsstaat und politische Kultur individueller Vergangenheit, in: Thomas Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 65-76; Ingo Müller, Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, in: NJ 46, 1992, S. 281-283; Herwig Roggemann, Die deutsche Einigung als rechtsund verfassungspolitische Herausforderung, in: NJ 46, 1992, S. 377-383; Christian Starck/ Wilfried Berg/Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992; Detlev Joseph, Die DDR - das Unrechtsmonster der deutschen Geschichte?, in: Journal für Recht und Würde, 1992, S. 1-11; Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 1 - 5 ; Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 15-26; Volkmar Schöneburg, Rechtsstaat versus Unrechtsstaat?, in: Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hrsg.), Ansichten zur Geschichte der DDR. Band 5, 1994, S. 149-161; Ingo Wagner, Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, 1994; Lothar Bisky/Uwe-Jens Heuer/Michael Schuhmann (Hrsg.), „Unrechtsstaat"?, 1994; Thomas Kreuder, Rechtsstaat und Unrechtsregime, in: Heiner Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 42-49; Michael Pawlik, Das Recht im Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 25, 1994, S. 101-117; Jan C. Joerden, Überlegungen zum
A. Genese und Entwicklung des Begriffs
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politische Äußerungen. Doch kaum7 ein Autor vermochte es, den „Unrechtsstaat" einer befriedigenden Begriffsbestimmung zuzuführen. In der mangelnden Grundlegung machten weder Befürworter 8 noch Gegner9 der These, dass die sozialistischen Staatssysteme Unrechtsstaaten waren, einen grundsätzlichen Unterschied. 10 Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 253-265; Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 435-461; Horst Sendler, Unrechtsstaat und Amnestie, in: NJ 49, 1995, S. 225-226; Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, in: Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung 79, 1996, S. 5 - 2 7 ; Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 299-314; Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2152-2153; Reinhard Höppner, Gemeinsame Werte als Voraussetzung für Gemeinschaft - Erfahrungen aus dem Prozeß der deutschen Vereinigung, in: RuP 33, 1997, S. 6 3 72; Rudolf Wassermann, Die SED-Diktatur kein Unrechtsstaat?, in: RuP 33, 1997, S. 102104; Eike von Hippel War die DDR kein Unrechtsstaat?, in: RuP 33, 1997, S. 150-154 (um ein Nachtrag erweitert in: Eike von Hippel, Willkür oder Gerechtigkeit, 1998, S. 18-25); Jürgen Aretz, Die DDR - ein Unrechtsstaat?, in: Kirche und Gesellschaft, 1997, Nr. 242, S. 3 - 1 6 ; Reinhard Höppner, Das Recht in Umbruchszeiten, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 44, 1997, S. 131-135; Joachim Lege, Der Konkurs eines Unrechtsstaates, in: Der Staat 38, 1999, S. 1 -19, Mario A. Cattaneo, Strafrechtstotalitarismus, 2001; S. 103 ff. 7 Einzige Ausnahmen, die sich an einer Begriffsbestimmung versuchen: Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 253 ff.; Werner Krawietz'. Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 435 ff.; Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 299 ff.; sowie sehr kurz: Joachim Lege, Der Konkurs eines Unrechtsstaates, in: Der Staat 38, 1999, S. 1. 8
Vgl. Ernst Gottfried Mahrenholz, Justiz - eine unabhängige Staatsgewalt?, in: NJ 46, 1992, S. 3. Die Befürworter der Unrechtsstaatesthese beschieden sich allzu oft damit zu zeigen, dass der sozialistische Staat, nicht die Elemente des Rechtsstaates erfüllte. So: Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2152 f. Zuweilen sollte die Evidenz anschaulicher Beispiele (Waldheim-Prozesse, Internierungslager in Buchenwald und Sachsenhausen, obwohl diese lange vor der Gründung der DDR von der Besatzungsmacht errichtet wurden) hinreichen, eine theoretische Begründung überflüssig zu machen. Vgl. auch Karl Dietrich Bracher, Vierzig Jahre Diktatur (SED-Unrecht), in: Recht und Politik 27, 1991, S. 138. 9 Nachdem z. B. Müller die Nichtexistenz rechtsstaatlicher Elemente in der DDR aufgezeigt hat, kommt er zu der folgenden Erkenntnis: „Das rechtfertigt aber noch immer nicht, sie (die DDR, d. A.) einen ,Unrechtsstaat' zu nennen." Ingo Müller, Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, in: NJ, 1992, S. 282. Müller unterlässt es jedoch, sich überhaupt mit der Bestimmung des Begriffs des Unrechtsstaates zu beschäftigen. Wie kann er eine negative Relation feststellen, wenn er das Relationsobjekt nicht bezeichnet? Vgl. auch Limbach ohne weitere Erläuterungen zum Unrechtsstaat: „Gleichwohl wäre es unangemessen, das gesamte Rechtswesen der DDR mit dem Etikett des Unrechtsstaates zu belegen." Jutta Limbach, Recht und Unrecht in der Justiz der DDR, in: ZRP 25, 1992, S. 170. Außerdem Höppner, „Dass in der DDR Unrecht geschehen ist, wird niemand bezweifeln. Aber das zeichnete diesen Staat nicht aus. ... Die DDR war mehr als nur ein Unrechtsstaat." Reinhard Höppner, Das Recht in Umbruchszeiten, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 44, 1997, S. 134. 10
Eine teilweise Unrechtsstaatlichkeit sieht Roggemann, der als Unrechtsregime nur „diejenige Teile ... innerhalb des SED-Herrschaftssystems ... qualifizieren ... (will, d. A.), die durch Unrechtshandlungen ... Unrechtstatbestände gesetzt haben." Herwig Roggemann,
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
Systematische Abhandlungen zum Verhältnis von Rechtsstaat und Unrechtsstaat fehlen fast vollständig. 1 1 Insofern ist es zur Rekonstruktion des Schrifttums erforderlich, etwaige Lücken durch eigene Interpretationen zu schließen. Zur Kennzeichnung der Staats- und Rechtsordnung der sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas wurden auch folgende Bezeichnungen verwendet: „Vor-Rechtsstaat" 12 , „Nicht-Rechtsstaat" 1 3 bzw. „Nichtrechtsstaat" 1 4 , „heilloser Unrechtsstaat" 15 , „ i m Kern Unrechtsstaat" 16 , „Unrechtsstaat par excellence" 1 7 , „Un-Rechtsstaat" 1 8 , „Unrechts-Staat" 19 , „autokratischer Unrechtsstaat" 20 . Richterwahl und Rechtspflege in den Ländern der früheren DDR, in: NJW 44, 1991, S. 456464. 11 In den Lehrbüchern des Staatsrechts gibt es in der Regel keine Kapitel hierzu. Dagegen widmet sich Brinkmann eingehend der Verfassung und ihrem Verhältnis zu Recht und Unrecht. E. v. Hippel versucht, sich dieser Problematik anzunehmen, indem er in seiner Staatslehre auf „rechtswidrige Bildungen und Tendenzen" eingeht und insbesondere zwischen „moralischen" und „satanischen" Staaten unterscheidet. Lampe unterscheidet nach Unrechtsstaaten im „staatspolitischen" und „rechtsethischen" Sinne. Siehe: Karl Brinkmann, Verfassungslehre, 1994, S. 141 ff., Ernst von Hippel, Allgemeine Staatslehre, 1963, S. 204 ff; Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 26. 12 So der Titel der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1991 sowie die nachfolgende Veröffentlichung der Berichte und Diskussionen (zahlreiche Diskutanten kritisierten den Titel der Tagung und benutzen den Begriff Unrechtsstaat/Unrechtssystem): Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992. Sowie: Herwig Roggemann, Die deutsche Einigung als rechts- und verfassungspolitische Herausforderung, in: NJ 46, 1992, S. 382. 13 Michael Pawlik, Strafrecht und Staatsunrecht, in: G A 191, 1994, S. 474. 14
Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 299-314. 15 Ernst Gottfried Mahrenholz, Justiz - eine unabhängige Staatsgewalt?, in: NJ 46, 1992, S. 3. 16 Horst Sendler, Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, in: NJ, 1991, S. 379. 17 Ignatow bezeichnet hiermit das russische bzw. das sowjetische System. Assen Ignatow, Vergangenheitsaufarbeitung in der Russischen Föderation, in: Berichte des BiOst 42, 1997, S.7. 18 Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 26; Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 260. 19
Erhard Denninger, Grenzen und Gefährdungen des Rechtsstaates, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 8; Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 26. 20 Karl Dietrich Brache, Schlüsselwörter der Geschichte, 1978, S. 114.
B. Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat"
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B. Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat" Der Begriff „Unrechtsstaat" kann weder analysiert, interpretiert noch rekonstruiert werden, wenn sein Gebrauch ein contradictio in adiecto darstellt. Wäre der Begriff in sich selbst widersprüchlich, müsste er als wissenschaftlicher Terminus ausscheiden. Folglich verlangt die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Unrechtsstaat" die Auseinandersetzung mit der These, dass Unrecht in einem Staat formallogisch ausgeschlossen sei. Die Konstruktion der Widersprüchlichkeit kann theoretisch von zwei Seiten her erfolgen. Beide Auffassungen halten Unrecht durch den Staat, d. h. staatliches Unrecht, für ausgeschlossen. Die erste Auffassung ist der Meinung, dass der Staat grundsätzlich kein Unrecht begehen könne, da er bei allen seinen Handlungen innerhalb des Rechts stehe und deshalb stets Rechts-Staat sei. Ein Urteil über die Ungerechtigkeit staatlicher Maßnahmen sei nicht möglich (Unterabschnitt I.). Die zweite Auffassung hält Unrecht in Gesellschaften für möglich, meint jedoch, dass sich die Staatlichkeit auflöse bzw. nicht existiere, sobald sich Unrecht dauerhaft durchsetze (Unterabschnitt II.). Während im ersten Fall der Staat von der Bindung an eine transzendente Ordnung freigestellt wird, ist er im zweiten Fall einer strengen Gerechtigkeitsordnung nachgeordnet.
I. Erste Auffassung: Jeder Staat ist ein Rechtsstaat Die rechtsphilosophische Schule des Rechtspositivismus ist grundsätzlich der Meinung, dass ein Staat kein gesetzliches Unrecht begehen könne. Schon Hobbes meinte, dass kein Gesetz Unrecht sein könne.21 Mit den staatlichen Gesetzen verhalte es sich so wie mit den Spielregeln: alles, was die Spieler untereinander abmachen, könne für keinen von ihnen Unrecht sein. 22 Folglich sei der Staat als Quelle jeglichen Rechts nicht antastbar. Sehr früh hat Kelsen 23 versucht, die Möglichkeit staatlichen Unrechts als „unlogisches Monstrum" 24 auszuschließen. Aufgrund eines „einheitlichen Staatswillens"25 und der fehlenden Zurechnung durch einen Rechtssatz sei staatliches Unrecht per se auszuschließen. „Das Problem des Staatsunrechtes verschwindet damit als solches."26 21 Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 1966, S. 264: Kapitel 30. 22 Ebd. 23 Das Spätwerk von Kelsen bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt. Vgl. hierzu kurz: Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18,1987, S. 233. 24 Hans Kelsen, Über Staatsunrecht, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart - Grünhuts Zeitschrift 40, 1914, S. 18. 25 Hans Kelsen, Über Staatsunrecht, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart - Grünhuts Zeitschrift 40, 1914, S. 8. 26 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 79. 4 Mögelin
50
1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
Der Staat sei rechtlich unfehlbar. 27 Erst später 28 relativierte Kelsen selbst diese Position, 2 9 behielt sie aber i m Grundsätzlichen bei. Diese Auffassung nimmt logisch konsequent Kelsens Argumentation vorweg, dass jeder Staat (mit seiner Zwangs- und Rechtsordnung) als Rechtsstaat betrachtet werden könne. 3 0 Folge dieser Auffassung ist es, dass jedes staatliche Handeln als Recht betrachtet werden müsse. Demnach müsste selbst der Holocaust an der jüdischen Bevölkerung als legal und rechtmäßig betrachtet werden. 3 1 Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus 32 , vorwiegend mit der Reinen Rechtslehre Kelsens, setzt die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral voraus. Für Kelsen sind Recht und Moral zwei völlig verschiedene Systeme, die nichts miteinander zu tun haben, sog. Trennungsthese 33 . Gegen diese positivistische Argumentation Kelsens ist insbesondere das von Radbruch 34 formulierte „Unrechtsargument" 35 vorgebracht worden. 3 6 „Das Unrechtsargument besagt, dass es Normen und Normensysteme gibt, die in einem solchen Maße ungerecht sind, dass ihnen die Rechtsgeltung und/oder der Rechtscharakter abgesprochen werden müsse."37 Das Unrechtsargument hat seinen tatsächlichen Anknüpfungspunkt in der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Es nimmt die Erfah27 Hans Kelsen, Über Staatsunrecht, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart - Grünhuts Zeitschrift 40,1914, S. 114. 28 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 307 f. 29
Vgl. hierzu: Horst Dreier, Rechtslehre, Soziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1990, S. 118 f., 204 ff. 30 Vgl.: Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? In: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe für Zaccaria Giacometti, 1953, S. 155. 31 Vgl.: Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 97. 32 Vgl. zu den verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus: Klaus Füßer, Rechtspositivismus und „gesetzliches Unrecht", in: ARSP 78, 1992, S. 309 ff. 33 Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: NJW 39, 1986, S. 2480-2482. 34 Gustav Radbruch, Gesetzliches Recht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1, 1946, S. 105-108. 3 5 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 99. Für das Argument Radbruchs sind unterschiedliche Begriffe geprägt worden: Totalitarismusargument, Tyrannisargument, Hitlerargument. 36 Vgl. hierzu auch: Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat Vernunft, 1991, S. 99 ff. Dagegen: Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 103; Gerald Grünwald, Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, in: StrafV, 1991, S. 36. 37 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders.: Recht-Staat-Vernunft, 1991,S. 99.
B. Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat"
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rung auf, dass totalitäre Staaten das positive Recht als Instrumentarium ihrer Herrschaft gebrauchen und dabei schwerstes Unrecht gegen Menschen begehen. Der Staat schaffe Gesetze, aber nicht immer Recht.38 Das Unrechtsargument kann in die sog. Wehrlosigkeitsthese transformiert werden. Es ist aber nicht mit dieser identisch. Die Wehrlosigkeitsthese macht den Rechtspositivismus dafür verantwortlich, dass Juristen ungerechte Gesetze befolgen und anwenden. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine rechtspositivistische Haltung allein nicht dazu führen musste und muss, allen Gesetzen und Maßnahmen eines Unrechtsstaates unbedingten Gehorsam zu schulden.39 Von der Wehrlosigkeitsthese mag aus diesem Grunde Abschied genommen werden 40, dagegen verliert das Unrechtsargument gegen die Reine Rechtslehre nichts von seiner Überzeugungskraft. Denn Rechtssysteme erheben stets einen Anspruch auf Richtigkeit, der die Verbindung zwischen Recht und Moral herstellt. 41 Als zweiter Einwand gegen den Rechtspositivismus ist insbesondere von Dworkin 42 und Alexy 43 das Prinzipienargument vorgeschlagen worden. 44 „Das Prinzipienargument besagt, dass allen entwickelten Rechtssystemen Prinzipien immanent sind, die kraft ihrer Struktur und/oder ihrer Geltungsbegründung den positivistischen Rechtsbegriff sprengen." 45
Eine ausführliche Untersuchung der Argumente und Gegenargumente kann an dieser Stelle 46 unterbleiben, da es weder darum geht, den Rechtspositivismus zu bestätigen noch ihn zu widerlegen. Ziel dieser Überlegungen ist es lediglich zu zeigen, dass staatliches Unrecht möglich ist.
38 Vgl.: Karl Geiler, Legalität und Legitimität, in: Die Gegenwart 2, 1947, Nr. 3/4, S. 15. 39 Vgl. zur Wehrlosigkeitsthese die ausgezeichnete Kritik bei: Klaus Füßer, Rechtspositivismus und „gesetzliches Unrecht", in: ARSP 78, 1992, S. 301-331. Außerdem: Monika Frommel, Die Kritik am „Richtigen Recht" durch Gustav Radbruch und Hermann Ulrich Kantorowicz, in: Lothar Philipps/Heinrich Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus. Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, 1989, S. 44 ff. 40 So die überzeugende Schlussfolgerung von Füßer. Klaus Füßer, Rechtspositivismus und ,gesetzliches Unrecht", in: ARSP 78,1992, S. 327. 41 Siehe hierzu ausführlich: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 18 ff. 4 2 Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 28 ff. Vgl. auch: Neil MacCormick, Wie ernst soll man Rechte nehmen?, in: Rechtstheorie 11, 1980, S. 1 - 7 . 43 Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 21 ff. Siehe ferner: Robert Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, 1979, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 177-212. 44 Vgl. hierzu auch: Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat Vernunft, 1991, S. 103 ff. 4 5 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 103. 46 Siehe zur Verbindung von positivem Recht und überpositivem Bezugssystem (ethisches Minimum im Rechtsbegriff) auch: Kapitel 3, Abschnitt B, Unterabschnitt II, 2.
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
Zumindest lässt sich mit Hilfe des Unrechtsarguments, das Eingang in die Rechtspraxis 47 gefunden hat, die dogmatische Position Kelsens anzweifeln. Dass selbst staatliche Akte in demokratischen Rechtsstaaten Unrecht sein können, wird im gesamten europäisch-atlantischen Rechtskulturkreis anerkannt. 48 Deshalb ist von Rechtspositivisten auch das Relativitätsargument plausibel vorgebracht worden. „Es spricht jedoch im allgemeinen nichts dafür, dass die moralischen Vorstellungen irgendeines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa »humaner' oder »gerechter') sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates."49
Die Relativität von Überzeugungen schließt jedoch nicht aus, dass staatliches Unrecht möglich ist. Es besagt allein, dass im Voraus nicht entschieden werden kann, welche Vorstellung Unrecht ist. Weder der Staat noch die Gesellschaft oder Teile von ihr haben ein Privileg darauf, moralisch richtige Vorstellungen zu entwickeln und staatliches Unrecht als solches zu kennzeichnen. Mit dem Relativitätsargument kann allenfalls eine rechtspositivistische Haltung begründet werden. Die Relativität moralischer Anschauungen hätte demnach zur Folge, dass die Geltung des positiven Rechts nicht an sie geknüpft werden kann. Recht und Moral werden getrennt. Dies hat jedoch nicht zwangsläufig zur Folge, dass staatliches Unrecht ausscheidet. Aus der Trennungsthese folgt allein, dass sich staatliches Unrecht als moralisches Problem und nicht als Rechtsproblem darstellt. Der Zugang zum Problem wird hierdurch ein anderer, das Problem aber bleibt bestehen.
II. Zweite Auffassung: Jeder Staat ist ein Gerechtigkeitsstaat Nach dieser Ansicht ist ein Staat ohne Gerechtigkeit nicht möglich. Herrschaftsordnungen, die Unrecht begehen, können keine Staaten sein, so Augustinus: „Reiche ohne Gerechtigkeit sind große Räuberbanden."50
Jeder Staat müsse also ein Gerechtigkeitsstaat sein. Allerdings ist nicht jede Ungerechtigkeit mit der völligen Abwesenheit von Gerechtigkeit identisch. Folglich muss die Ungerechtigkeit durch qualitative und/oder quantitative Kriterien näher bestimmt werden. Sie könnten unter Umständen aus einer Bestimmung des Staates 47
Vgl. Björn Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, 1985. Vgl.: Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 14. 4 9 Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: NJW 39, 1986, S. 2482. 50 Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. Buch 1-10, 1978, S. 413-417, 173: Buch 4, Kapitel 4. Vgl. zur differenzierten Interpretation des Zitats: Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, 1984, S. 4 ff. 48
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
53
als Gottesstaat gewonnen werden. Die weitere Bestimmung ist jedoch entbehrlich, da das moderne Staats- und Völkerrecht die Definition des Staates von allen materialen Kriterien freigestellt hat. 51 Gesellschaften werden zu Staaten, sofern sie bestimmte formale (d. h. organisatorische) Anforderungen 52 erfüllen. Dem Staat bleibt seine Staatlichkeit selbst dann erhalten, wenn seine Organe schwerstes Unrecht begehen.53 In modernen Ansichten wandelt sich das ursprüngliche Argument von Augustinus in ein Geltungsargument. Diese stellen die Staatlichkeit ungerechter Systeme nicht per se in Frage, negieren jedoch die Geltung von Akten dieser Gemeinwesen. Noch radikaler sind Positionen, die Akten eines Staates jeden Rechtscharakter absprechen, sofern diese ungerechte Staaten sind. 54 Danach seien Unrechtsstaaten zwar Staaten, diese können jedoch keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Alle Entscheidungen, Maßnahmen und Anordnungen (auch Entscheidungen zur Regelung des Straßenverkehrs) eines Unrechtsstaates würden ihren verpflichtenden Charakter verlieren, weil das gesamte System als „illegitim" 5 5 zu betrachten sei. Der Unrechtsstaat verliere seinen Anspruch, Rechtsakte mit Geltungskraft zu setzen. Damit würde der Unrechtsstaat der wichtigsten Funktion seiner staatlichen Macht beraubt. Der wichtigste Vertreter diese Auffassung, Dibelius, hat seine Auffassung allein theologisch begründet. Sie ist in ihrer Radikalität deshalb wohl ohne spürbare Wirkung für die Argumentation in der juristischen Staats Wissenschaft geblieben.56
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur Im Schrifttum werden grundsätzlich vier verschiedene Unrechtsstaatsdefinitionen vertreten, die sich zum Teil überschneiden, sich dennoch voneinander unterscheiden lassen. Zunächst wird vertreten, dass in der mangelnden Konkurrenz von 51
Zu den Gründen vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994. S. 74 ff. Die bekannte Drei-Elementen-Lehre (Gebiet, Volk, Gewalt) ist herrschende Meinung in Lehre und Völkerrechtspraxis. Vgl.: Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, S. 55. 53 Eine andere Frage betrifft die Souveränität von Staaten. Diese kann von anderen Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft angetastet werden, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen (Völkermord, Sklaverei) vorliegen. 54 Dibelius bestreitet die Geltung jeglichen Rechts in totalitären Staaten. Otto Dibelius, „Obrigkeit?", 1959, in: ders. (Hrsg.), Dokumente zur Frage der Obrigkeit, 1960, S. 28. 55 Otto Dibelius, „Obrigkeit?", 1959, in: ders. (Hrsg.), Dokumente zur Frage der Obrigkeit, 1960, S. 29 f. 56 Vgl. aber Schachtschneider, der „die Einheit von Freiheit, Recht und Staat" fordert und behauptet, dass im Gegensatz zur Despotie nur der Rechtsstaat ein Staat sein könne. Karl Albrecht Schachtschneider, Diskussionsbeitrag in der Aussprache der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom 2. - 5. Oktober 1991, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 152. 52
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
Recht und Rechtswirklichkeit das entscheidende Merkmal für den Unrechtsstaatsbegriff zu sehen ist (Unterabschnitt I.). Die zweite Ansicht macht die Qualifikation eines Staates als Unrechtsstaat von der Betroffenheit der Bürger bzw. eines Beobachters abhängig (Unterabschnitt II.). Dagegen streiten einige Autoren für die These, dass der Unrechtsstaatsbegriff nur in Abgrenzung zum und als Negation des Rechtsstaatsbegriffs zu erfassen ist (Unterabschnitt III.). Die vierte Auffassung versucht, den Unrechtsstaat als Staat des Unrechts zu definieren (Unterabschnitt IV.).
I. „Unrechtsstaat44 als Staat mangelnder Identität von Recht und Rechtswirklichkeit Nach Leutwein 57 ist der sozialistische Staat ein „System des Unrechts", weil „eklatante Verstöße auf allen Gebieten des Rechts" zu verzeichnen seien. Bei den Rechtsbrüchen handele es sich nicht um „gehäufte Zufälligkeiten" 58 , denn sie würden eine grundsätzlich rechtsfeindliche Haltung, d. h. eine „pervertierte Auffassung vom Wesen des Rechts" 59 , widerspiegeln. In ähnlicher Weise hat Sendler 60 versucht, den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat zu unterscheiden. Im Rechtsstaat werde „die Verwirklichung des Rechts angestrebt und im Großen und Ganzen erreicht" 61 , wohingegen im Unrechtsstaat das Gegenteil der Fall sei. 62 Dort sei das Recht „Wachs in den Händen" 63 der Herrschenden. Es gelte der Vorbehalt des Politischen.64 Dies führe im Unrechtsstaat (zumindest teilweise) zu einer „Perversion des Rechts" 65 , die sich vor allem in laufenden Verstößen gegen die Menschenrechte zeige. Dieser Aufzählung ist zu entnehmen, dass die Merkmale nicht klar voneinander zu trennen sind. So muss man annehmen, dass die mangelnde Kongruenz von 57
Alfred Leutwein, Die Ideologie des Unrechts, 1955. 58 Alfred Leutwein, Die Ideologie des Unrechts, 1955, S. 5. 59 Alfred Leutwein, Die Ideologie des Unrechts, 1955, S. 24. 60 Horst Sendler et al, Editorial, in: NJ 45, 1991, S. 137; Horst Sendler, Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, in: NJ 45, 1991, S. 379-382; Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 1 - 5 ; Horst Sendler, Unrechtsstaat und Amnestie, in: NJ49, 1995, S. 225-226. 61 Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26,1993, S. 4. 62 Die DDR habe „aufs Recht gepfiffen". Horst Sendler, Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, in: NJ 45, 1991, S. 380. 63 Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 4. Mit Verweis auf Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 17 f. 64 Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2153. 65 Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26,1993, S. 4.
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
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gesetztem Recht und Rechtsanwendung nach Sendler das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat darstellt. Die beiden letztgenannten Merkmale (Perversion des Rechts, Menschenrechtsverletzungen) stellen eher Untergruppen des ersten Kriteriums dar bzw. sollen es näher kennzeichnen. Gegen diese Auffassungen hat u. a. Lampe56 vorgebracht, dass das Unrecht staatlicher Systeme nicht im Bruch von Rechtsnormen liege. Staatliche Unrechtssysteme würden sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie erstens nicht gegen staatliche Gesetze verstoßen und zweitens Rechtsnormen schaffen, die Unrecht darstellen. Dieser Auffassung ist jedenfalls teilweise zuzustimmen. Zieht man das nationalsozialistische System als Beispiel für ein Unrechtssystem heran, so lässt sich zweifellos zeigen, dass die Schaffung von positivem Unrecht ein wesentliches Element nationalsozialistischer Herrschaft war. 67 Aus der Tatsache, dass das nationalsozialistische Herrschaftssystem positives Recht zu seinen Zwecken gebraucht respektive missbraucht hat, ergeben sich erst die rechtlichen und moralischen Probleme im Umgang mit diesem System. Folglich ist es nicht plausibel, den Unrechtsstaat auf die mangelnde Identität von Recht und Rechtswirklichkeit zu reduzieren. Jedoch ist wohl auch nicht zu bestreiten, dass es im nationalsozialistischen System eine Diskrepanz von Recht und Rechtswirklichkeit gegeben hat. Dies muss in der Begriffsbestimmung des Unrechtsstaates Berücksichtigung finden (siehe Kapitel 2 und 4).
II. „Unrechtsstaat44 als Staat, der Betroffenheit auslöst Einige Autoren machen die Definition des Unrechtsstaates davon abhängig, ob es eine vom Unrecht betroffene Person gibt. Für den Nachweis der Betroffenheit wird entweder eine Außen- oder eine Innenperspektive gewählt. Roellecke ist der Meinung, dass die Differenz zwischen Nichtrechtsstaat und Unrechtsstaaten von der „Betroffenheit des Beobachters" 68 abhänge. Dagegen ist Krawietz der Überzeugung, dass der Unrechtsstaat ein Staat sei, in dem die Teilnehmer (Bürger) unter rechtsstaatswidrigen Gesetzen und Maßnahmen „gravierend zu leiden" 69 hätten. Für beide Autoren ist die Definition des Begriffs „Unrechtsstaat" davon abhängig, welche Eindrücke und Empfindungen Individuen haben. Beide wählen 66
Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 683-745. Vgl. auch: Günther Jakobs, Untaten des Staates - Unrecht im Staat, in: GA 191, 1994, S. 9 f. 67 Vgl. hierzu die Gesetzessammlungen: Ingo von Münch (Hrsg.), Gesetze des NS-Staates, 1994; Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, 1996. Siehe auch in diesem Kapitel: Abschnitt C., Unterabschnitt IV., 2. 68 Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 310. 69 Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 443.
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
eine soziologische Perspektive, die auf Urteilen über Unrecht beruht. Für Roellecke ist die subjektive Perspektive eines außenstehenden, beobachtenden Dritten entscheidend. Die Stellung des Dritten wird nicht objektiviert, sondern bleibt subjektiv. Der Beobachter muss vom Unrecht entsetzt sein. Aus diesem Grund, so Roellecke, pflegen wir „Gemeinwesen, die zeitlich, räumlich oder kulturell weit von uns entfernt liegen, nicht Unrechtsstaaten zu nennen"70. Die Opferperspektive nimmt Krawietz ein. Ihm geht es um das subjektive Empfinden der Bürger des Unrechtsstaates, und zwar um den Vergleich und die Bewertung des subjektiven Leidens der vom Unrechtsstaat unmittelbar Betroffenen. Weder Innen- noch Außenperspektive können befriedigende Antworten auf die Begriffsbestimmung geben. Beide Perspektiven entgehen nicht der Gefahr, dass der Unrechtsstaatsbegriff in die subjektive Beliebigkeit des Betrachters gestellt wird. Versucht man die Innenperspektive einzunehmen, stellt sich sogleich die Frage, wer das Leiden und wer die Opfer bestimmen soll. In vielen sozialistischen Staaten der achtziger Jahre haben sich nur wenige Bürger als Opfer des Staates betrachtet. Heute mögen einige Bürger das anders sehen. Wiederum andere verklären das sozialistische System und würden das Leiden prinzipiell ablehnen. Wenn es allein auf das Leiden oder die Empfindungen der Mehrheit ankäme, müsste eine unterdrückte Minderheit unberücksichtigt bleiben. Zudem kann man nicht abstreiten, dass in Massengesellschaften generell ein individuelles Leiden möglich und u. U. gar nicht zu vermeiden ist. Dieses Notopfer ist im demokratischen Rechtsstaat zwar durch unveräußerliche Rechte beschränkt, kann aber auch hier von der Gesellschaft dem Einzelnen aufgebürdet werden. Die Außenperspektive ist in gleicher Weise subjektiv. Die Ansichten der Beobachter können sich ändern, sodass eine einmal getroffenen Entscheidung der Qualifikation keine Gültigkeit mehr besitzen würde. Das Argument, dass historische Gemeinwesen in der Regel nicht als Unrechtsstaaten qualifiziert werden, liegt wohl weniger an der Betroffenheit des Beobachters, als an der staatsrechtlichen und rechtsphilosophischen Entwicklung. Die Begehung von herrschaftlich organisiertem Unrecht hat eine bei weitem längere Tradition, als es die Kritik an der absoluten Souveränität des Staates und die Bindung der Herrschenden an normative Standards hat.
I I I . „Unrechtsstaat" als Negation des Rechtsstaates Einige Autoren versuchen, den Begriff „Unrechtsstaat" negativ in Abgrenzung zum Begriff „Rechtsstaat" zu bestimmen. Aufgrund der unterschiedlichen Definitionen des Rechtsstaatsbegriffs sind theoretisch eine Reihe von Möglichkeiten der Negation des Rechtsstaatsbegriffs denkbar. Grundsätzlich sind jedoch zwei Varianten zu unterscheiden. Der Begriff „Unrechtsstaat" kann entweder als Gegensatz 70 Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 310.
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
57
zum „formalen Rechtsstaat" (1.) oder als Kontrast zum „materialen Rechtsstaat" (2.) dargestellt werden. Da einige Autoren die Dichotomie „Rechtsstaat - Unrechtsstaat" für unangemessen halten, ist der Begriff „Nichtrechtsstaat" entwickelt worden (3.).
1. „Unrechtsstaat" als Negation des formalen Rechtsstaates Reifner 71 hat mit Blick auf die vergleichende Staatsanalyse kritisiert, dass der „bürgerlich formale Rechtsstaatsbegriff 472 das Modell sei und dieses zum Leitbild jeder Gesellschaftskritik gemacht werde. Ausgehend vom formalen Rechtsstaat seien alle Rechtssysteme Unrechtsstaaten, die weder eine formale Gleichheit und Freiheit vorschreiben noch Gewaltenteilung garantieren. 73 Die Quellenanalyse hält dieser These jedoch nicht stand. Von keinem Autor wird explizit oder implizit vertreten, dass der Unrechtsstaat mit der bloßen Negation des formalen Rechtsstaates zu erfassen ist. Zwar wird konstatiert, dass der Unrechtsstaat eine rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechende „Staatsorganisation" 74 (keine Unabhängigkeit der Gerichte, keine Gewaltenteilung, keine Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, keine kommunale Selbstverwaltung 75) besitze. Dem wird jedoch stets hinzugefügt, dass der Unrechtsstaat materiale Prinzipien verletzen müsse, um als solcher bezeichnet werden zu können.
2. „Unrechtsstaat" als Negation des materialen Rechtsstaates Dagegen ist die Einbeziehung materialer Komponenten in die Bestimmung des Unrechtsstaates auf breite Resonanz gestoßen. Nach diesen Auffassungen ist der Staat als Unrechtsstaat zu definieren, der weder die formalen noch bestimmte materiale Elemente des Rechtsstaates erfüllt. Die Anforderungen an das materiale Kriterium differieren. Zum Teil wird gefordert, dass die Philosophie des betreffenden Staates der „Idee des Rechts" 76 widersprechen müsse. Hiermit dürfte der Verstoß gegen elementare Grundsätze der Gerechtigkeit (Gleichheit, Willkürverbot) 71 Udo Reifner, Institutionen des faschistischen Rechtssystems, in: Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaates, 1981, S. 12-85. 72 Udo Reifher, Institutionen des faschistischen Rechtssystems, in: Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaates, 1981, S. 19. 73 Vgl.: Udo Reifner, Institutionen des faschistischen Rechtssystems, in: Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaates, 1981, S. 19. 74 Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 701. 75 So: Rudolf Wassermannn, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW50, 1997, S. 2153. 76 Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 701.
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
gemeint sein. Andere Autoren legen sich nicht genau fest und verlangen neben der Verletzung formaler Prinzipien schlicht die Begehung von Unrecht. 7 7 Nur wenige Autoren machen die mit dem materialen Rechtsstaatsbegriff verbundenen Annahmen explizit. Für den materialen Rechtsstaatsbegriff ist die Geltung elementarer Grundrechte konstitutiv. Folglich müsste der Unrechtsstaat die Geltung dieser Grundrechte ablehnen, sofern man ihn als Negation des materialen Rechtsstaates begreifen will. In Anlehnung an Kant entwirft Joerden 78 vier Staatstypen, die sich unterschiedlich zu den Kategorien „Freiheit", „Gesetz" und „Gewalt" (i.S.v. Staatsgewalt) verhalten. Der Republik Kants vergleichbar, 79 besitze der Rechtsstaat alle drei Merkmale: Gewalt, Freiheit und Gesetz. Dagegen zeichne sich der Unrechtsstaat durch Gewalt ohne Freiheit und Gesetz aus. 8 0 Für den Unrechtsstaat sei maßgeblich, dass keine „durchgängige Gesetzmäßigkeit des staatlichen Gebarens" gewährleistet sei, also die „Willkürentscheidung zum P r i n z i p " 8 1 erhoben werde. Damit könne der Unrechtsstaat mit der von Kant als Barbarei bezeichneten Staatsform identifiziert werden. I m Unterschied dazu sei die Despotie durch Gesetz und Gewalt, aber ohne individuelle Freiheit gekennzeichnet. 82 Die Anarchie sei ein Zustand mit Gesetz und Freiheit, aber ohne Gewalt. 8 3 77 Siehe u. a. Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2153. 78 Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3,1995, S. 253-265. 79 Vgl. zur Identifizierung der Kantschen Republik mit dem Rechtsstaat u. a.: Edin Sarcevic, Der Rechtsstaat, 1996, S. 112; Karl Vorländer, Kant und Marx, in Zwi Batscha, Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, 1976, S. 419. 80 Vgl.: Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 256, 258. 81 Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 261. 82 Die Abgrenzung zwischen Despotie und Barbarei ist bei Kant indes nicht so einheitlich. Letztlich ist somit fraglich, ob sich eine kantische Lesart des Unrechtsstaates ausmachen lässt. Es lassen sich z. B. Belege finden, dass auch die Despotie zur Willkürherrschaft eines Einzelnen, einer Gruppe oder des gesamten Volkes verkommen kann. Vgl. nur die folgenden beiden Zitate: „Aber die (despotische) Regierungsart oder Staatsform ist gewiß schlecht eben darum, dass die Bonität der Regierung auf den Willen des Einzigen ankommt, ob er gut ist oder nicht." Immanuel Kant, Reflexion 7687, in: AA, Band 19, 1934, 1971, S. 490. „Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie im eigentlichen Verstände des Wortes notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist." Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, in: AA, Band 8, 1912, 1969: Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden, S. 352. 83 Vgl.: Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 256, 258.
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
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Die Systematik Kants bringt neben der Verletzung individueller Freiheiten weitere strukturelle Elemente in die Untersuchung von Unrechtsstaaten ein. Die Kategorie des Gesetzes wird zweifellos eine wichtige Rolle spielen müssen. Schon bei kurzer empirischer Betrachtung der nationalsozialistischen Staats- und Rechtsordnung zeigt sich jedoch, dass die schlichte Negation der Gesetzeskategorie eine Vereinfachung der rechtlichen Wirklichkeit von Unrechtsstaaten darstellt. Folglich ist eine detaillierte Analyse des Merkmals notwendig.
3. Rechtsstaat, Unrechtsstaat und Nichtrechtsstaat Der kontradiktorische Dualismus von Rechtsstaat einerseits und Unrechtsstaat andererseits ist auf breite Kritik gestoßen.84 Es widerspreche der Rechts Wirklichkeit, dass Staaten, die keine Rechtsstaaten sind, stets Unrechtsstaaten sein sollen. Mit einer kontradiktorischen Anwendung des Begriffs „Unrechtsstaat" würde dieser entleert und entwertet. Vielmehr lassen sich „Stufen der Rechtlichkeit und Unrechtmäßigkeit" 85 differenzieren, die einer angemessenen Begrifflichkeit zugeführt werden müssen. Für die Bezeichnung einer dritten staatsrechtlichen Kategorie wurde insbesondere der Begriff „Nichtrechtsstaat" 86 in die Diskussion eingeführt. 87 Im Nichtrechtsstaat mangele es am Primat des Rechts, so die meisten Autoren. 88 Roellecke meint aus soziologischer Perspektive, dass Nichtrechtsstaaten Gemeinwesen seien, in denen die Politik nicht auf der „Basis des positiv gesetzten Rechts" 89 kommuniziere. Für die Untersuchung ist von Bedeutung, dass es plausibel ist, Stufen der Unrechtmäßigkeit zu unterscheiden, und diese aufgrund ihrer Wesentlichkeit auch in 84 U. a.: Horst Sendler, Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, in: NJ 45, 1991, S. 380. 85 Bozidar Markovic, Despotischer, ideologischer und demokratischer Staat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 231. 86 Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 299-314. Von Pawlik wird der Begriff „Nichtrechtsstaat" als Alternative zum Begriff „Unrechtsstaat" verwendet. Michael Pawlik, Das Recht im Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 25, 1994, S. 101. 87 Von Joerden wird der Begriff „Un-Rechtsstaat" verwendet. Jan C. Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: JRE 3, 1995, S. 260. Markovic arbeitet mit anderen Begriffen und unterscheidet nach dem unterschiedlichen Grad der Garantie und Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Achtung der Menschenrechte drei Staatstypen: despotischer, ideologischer und demokratischer Staat. Die Basis seiner Abgrenzung verlässt er jedoch in der Anwendung, um maßgeblich auf Legitimationskriterien zurückzugreifen. Bozidar Markovic, Despotischer, ideologischer und demokratischer Staat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 231 ff. 88
U. a.: Michael Pawlik, Das Recht im Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 25, 1994, S. 114f. Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 208. 89
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1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
die Begriffsbildung aufzunehmen. Die von der Literatur vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen Rechtsstaat, Nichtrechtsstaat und Unrechtsstaat sind indes nicht einheitlich und in der Regel nicht systematisch fundiert. 90
IV. „Unrechtsstaat" als Staat des Unrechts In Abgrenzung zu der oben dargestellten negativen Methode ist von vielen Autoren versucht worden, den Unrechtsstaat positiv als Staat des Unrechts zu definieren. Diese aus der Etymologie des Wortes als zusammengesetztes Substantiv gewonnene Definition scheint nahe zu liegen. Eine solche Theorie geht von der Annahme aus, dass staatliches Unrecht möglich ist. Im Gegensatz zur Reinen Rechtslehre Kelsens ist der Staat nicht frei zu bestimmen, was Recht und rechtens ist. Es wird vorausgesetzt, dass zwischen positivem Recht und überpositiven Normen eine Verbindung besteht, die es möglich macht, positives Recht als Unrecht zu erkennen. 91 Im Folgenden wird zunächst der Unrechtsbegriff geklärt (1.). Daran anschließend wird der Frage nach dem notwendigen Ausmaß des Unrechts nachgegangen, das für eine Charakterisierung als Unrechtsstaat für notwendig erachtet wird (2.). Im letzten Teil dieses Unterabschnitts wird den Auffassungen nachgegangen, die eine bestimmte Struktur der Unrechtsbegehung im Unrechtsstaat fordern (3.).
1. Der Begriff des Unrechts
Die Definition des Begriffs „Unrecht" wird in der Unrechtsstaatsdiskussion häufig übergangen. Die eindeutige Festlegung der Bedeutung des Unrechtsbegriffs ist jedoch notwendige Voraussetzung für die Definition des Unrechtsstaates als Staat des Unrechts. Diese Lücke in der Literatur soll durch eigene Interpretation geschlossen werden. Dem Unrechtsbegriff kann man sich am Besten in negativer Weise nähern. Unrecht ist der Gegensatz von Recht. Recht kann zum einen als gerechtes und richtiges Recht verstanden werden. Diese Bedeutung findet ihren Ausdruck in den gegensätzlichen Adjektiven „gerecht" und „ungerecht". Zum anderen kann Recht als positives Recht begriffen werden, wobei je nach der Stellung zum positiven Recht die Antonyme „rechtmäßig" und „rechtswidrig" Verwendung finden können. Der Terminus „Unrecht" bringt in diesem doppelten Dualismus eher den Gegensatz zur Gerechtigkeit als den Widerspruch zur Rechtsordnung zum Ausdruck. Der Begriff „Unrecht" drückt also primär den Verstoß gegen sittliches Recht (sittliches Unrecht) und nicht den Verstoß gegen positives Recht (rechtliches Unrecht) aus. Damit gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass Unrecht auf ein überpositives 90 91
Eine Ausnahme bildet Joerden, siehe hierzu in diesem Kapitel: Unterabschnitt III., S. 2. Vgl. hierzu in diesem Kapitel: Abschnitt B, Unterabschnitt II.
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
61
Bezugssystem referiert. Unrecht sind all jene Handlungen und Anordnungen, die im Widerspruch zu überpositiven Rechtsgrundsätzen stehen. Staatliches Unrecht lässt sich theoretisch auf den folgenden verschiedenen Stufen vermuten: Verfassung, Gesetzgebung, staatlicher Einzelakt.92 Die Überprüfung aller Akte staatlichen Handelns kann anhand überpositiver Normen stattfinden. Da überpositive Normen zumeist in kodifizierter Form vorliegen, d. h. in der Regel in der Verfassung normiert sind, genießt das positive Recht den Vorrang als Referenzpunkt. Überpositive Rechtsgrundsätze ihrerseits können kein Unrecht darstellen. 93 Sie sind Axiome oder Ableitungen aus Axiomen, die nicht überprüfbar sind. 94 Allenfalls lassen sich Widersprüche zwischen Axiomen aufzeigen und durch die Einführung einer Hierarchie lösen. Ferner können bestimmte Ableitungen präzisiert oder modifiziert werden. Unrecht im hier verwendeten Sinn ist demnach der Verstoß gegen Gerechtigkeitsgrundsätze. Die konkreten überpositiven Rechtsgrundsätze lassen sich allein aus einer spezifischen Tradition heraus ermitteln. Aus der europäisch-atlantischen Kulturtradition sind u. a. folgende Grundsätze ableitbar: Garantie von Menschenrechten, Trennung der Staatsgewalten, Gesetzesherrschaft, Unabhängigkeit der Gerichte und einige andere mehr. Diese Elemente entsprechen der europäischatlantischen Rechtskulturtradition, die sich auf einem „rational-individualistischen Theorieparadigma" 95 gründet. Diesem Paradigma liegen die Grundwerte „Freiheit, selbständiges Individuum, Menschenwürde, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz, Privateigentum, Widerstandsrecht sowie Gewissens- und Religionsfreiheit" 96 zugrunde. Diese Gerechtigkeitsgrundsätze müssen jedoch bezogen auf ein Individuum verletzt werden, um Unrecht darzustellen. Die Verletzung rein staatsorganisatorischer Grundsätze kann kein Unrecht bewirken. Hieraus lässt sich eine Phänomenologie entwickeln,97 die es zulassen würde, Unrecht als solches zu 92
Vgl. hierzu auch die Abbildung in diesem Unterabschnitt: 2. Hierin besteht der Unterschied zwischen überpositivem Bezugssystem und ranghöchster positiver Norm (Verfassung). Weimar hat drei Rechts Widrigkeitsrelationen der Verfassung festgestellt. Erstens: die Verfassung widerspricht vorstaatlichem (überpositivem) Recht. Zweitens: zwischen einzelnen Verfassungsnormen besteht ein Widerspruch. Drittens: Normen der Verfassung widersprechen Prinzipien oder Grundsätzen der Verfassung. Robert Weimar, Staatsakt und Unrecht, 1972, S. 107. 93
94
Vgl. zum Begründungsproblem überpositiver Rechtsgrundsätze Kapitel 3. 5 Sarcevic unterscheidet vier Paradigmen, die eine Begründung des Rechtsstaates aus deutscher Sicht unternehmen: das rational-individualistische, das irrational-konservative, ein gemischtes sowie das kritisch-marxistische Theorieparadigma. Aus den vier Paradigmen entwickelt er das „universelle materiell-formelle Paradigma", das ein theoretisches Substrat darstellen soll. Sarcevic postuliert jedoch selbst die Dominanz des individualistischen Paradigmas, sodass das universelle Paradigma ohne eigenständigen Wert bleibt. Edin Sarcevic, Der Rechtsstaat, 1996, S. 294 ff., 302 f., 306 f. 96 Edin Sarcevic, Der Rechtsstaat, 1996, S. 294. 9
97 Siehe: Edin Sarcevic, Der Rechtsstaat, 1996, S. 308.
62
1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
identifizieren. Staatliche Maßnahmen, die Unrecht darstellen, greifen in folgende Rechtsgüter von Individuen ein: Leben, Gesundheit, Freiheit, Persönlichkeit, Eigentum, Elternrecht, berufliche Bildung, 98 denn in einem empirischen Rechtsvergleich lassen sich diese gemein-europäischen Grund- und Menschenrechte nachweisen.99 Obwohl im Einzelfall über die Einordnung gestritten werden kann, 100 sind folglich staatliche Gesetze oder Maßnahmen, die diesen Rechtsgrundsätzen widersprechen, als Unrecht zu bewerten. 101
2. Intensität des Unrechts Für die Definition eines Unrechtsstaates ist es erforderlich, die Intensität des Unrechts zu bestimmen. Die meisten Autoren lassen es nicht zureichen, dass der Staat einmalig oder lediglich leichtes Unrecht begeht, um als Unrechtsstaat bezeichnet zu werden. Für den Begriff des Unrechtsstaates kommt es folglich darauf an, wie intensiv die Verletzungen überpositiver Normen sind. Die Frage nach der notwendigen Intensität des Unrechts lässt sich analytisch in qualitative und in quantitative Anforderungen unterteilen. 102 In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass allein schwere, „grobe" 103 und „gröbliche" 104 Verletzungen überpositiver Rechtsgrundsätze einen Staat zum Unrechtsstaat qualifizieren können. Totalitärer Terror und reine Willkür seien dagegen nicht erforderlich. Den Autoren ist in aller Regel bewusst, dass die qualitativen Abstufungen zwischen leichtem, schwerem und schwerstem bzw. zwischen grobem oder gröblichem Unrecht lediglich unscharf zu treffen sein werden. Dieses „Evidenzproblem" 105 könnte allenfalls unter Rückgriff auf die Radbruchscht 98 Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51,1992, S. 20. 99 Seihe hierzu u. a.: Rainer Hofmann, Die Bindung staatlicher Macht, in: Rainer Hofmann/Joseph Marko/Franz Merli/Ewald Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 12 ff. 100 Zu streitigen Einzelfällen von Unrecht siehe: Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 712 f. 101 So: Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 16. 102 So auch: Ingo Wagner, Die DDR - ein „Unrechtsstaat"?, 1994, S. 38. 103
Joachim Lege, Der Konkurs eines Unrechtsstaates, in: Der Staat 38, 1999, S. 1. Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51,1992, S. 16. 105 Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 21. 104
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
63
F o r m e l 1 0 6 gelöst werden. Ein Unrechtsstaat könnte demnach als solcher bezeichnet werden, wenn „evident schweres" 1 0 7 , „extremes" 1 0 8 , „krasses" 1 0 9 bzw. „unerträgliches" 1 1 0 Unrecht vorliegt. 1 1 1 Das in dieser Weise qualifizierte Unrecht würde genau dann vorliegen, wenn es evident und für jedermann erkennbar i s t . 1 1 2 Ergänzend zur Qualifizierung ist staatliches Unrecht zu quantifizieren, um Unrechtsstaaten von anderen Staaten zu unterscheiden. „Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?" 113 Z u unterscheiden sind eine „große Z a h l " 1 1 4 von einer „größeren Z a h l " 1 1 5 von ungerechten Gesetzen oder Maßnahmen. „Laufende Verstöße" 1 1 6 gegen Menschenrechte sind von „gehäuften Zufälligkeiten" 1 1 7 abzugrenzen. Diese Formulierungen machen die Abgrenzungsprobleme deutlich. Die Literatur hat für die quantitative Dimension der Unrechtsbegehung noch keine geeigneteren Abgrenzungskriterien angeben können. Dieses Manko kann auch nicht
106 Siehe u. a.: BVerfGE 3, 58, 119; BGHZ 3, 94, 106f.; BGHSt 2, 173, 177. Vgl. auch: Björn Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, 1985, S. 69 ff.; Walter Ott, Die Radbruch'sche Formel. Pro und Contra, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F. 107, 1988, S. 335-357. 107
Martin Kriele, Diskussionsbeitrag in der Aussprache der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom 2 . - 5 . Oktober 1991, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51,1992, S. 132. 108 BVerfG 95, 96, 133; sowie: Robert Alexy, Diskussionsbeitrag in der Aussprache der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom 2 . - 5 . Oktober 1991, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 133. 109 BVerfGE 54, 53, 67. 110
Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, in: NJW48, 1995, S. 84. 111 Ohne dass er der Unrechtsstaatsthese zustimmt, zählt Joseph z. B. über 20 „Unrechtsstaatanklagen" bezogen auf die DDR auf. Detlev Josep, Die DDR - das Unrechtsmonster der deutschen Geschichte?, in: Journal für Recht und Würde, 1992, S. 5. 112 Vgl.: Robert Alexy, Diskussionsbeitrag in der Aussprache der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom 2. - 5. Oktober 1991, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 133. 113 Vgl.: Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2152-2153; Reinhard Höppner, Das Recht in Umbruchszeiten, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 44, 1997, S. 134. 114 Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 443. 115 Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck /Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 16. 116 Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26,1993, S. 4.
117 Alfred Leutwein, Die Ideologie des Unrechts, 1955, S. 5. Vgl. zu Leutwein auch in diesem Kapitel: Abschnitt C, Unterabschnitt I.
64
1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
durch eigene Interpretation gelöst werden. Letztlich würde nur eine genaue Bestimmung der notwendigen Zahl von Unrechtstaten zur erforderlichen Exaktheit führen. Die Anzahl der Unrechtstaten müsste im Vergleich zur Gesamtbevölkerung betrachtet werden. Zudem müssten die Vertreter dieser Auffassung zwischen Qualität und Quantität eine Korrelation aufstellen, da Unrecht unterschiedlicher Schwere möglich ist. Selbst wenn man theoretische Merkmale für die quantitative Unrechtsbestimmung isolieren könnte, so würde die Analyse der tatsächlichen Unrechtslage umfangreichen rechtssoziologischen Schwierigkeiten begegnen. Denn es fehlen schlicht die entsprechenden Daten und Statistiken, um Unrecht messen zu können. Um diese Aussagen zu begründen, bedarf es weiterer Ausführungen zur Phänomenologie von staatlichem Unrecht. Staatliches Unrecht ist grundsätzlich auf allen Stufen der Rechtsetzung und auf der Ebene der Normendurchsetzung zu vermuten. 118 Auf der Ebene der Rechtsetzung lassen sich Rechtsnormen in gerechte (rechte) und ungerechte (unrechte) 119 Rechtsnormen einteilen. Sofern sich das Handeln der Staatsorgane an Rechtsnormen orientiert, kann dieses Handeln der Rechtsnorm entsprechen oder widersprechen. Ungerechte Rechtsnormen führen bei normenkonformer Anwendung zu Unrecht, bei normeninkonformer Anwendung zu Recht 120 oder Unrecht. Bei gerechten Rechtsnormen dagegen hat rechtmäßiges Handeln Recht zu Folge, rechtswidriges Handeln kann zu Unrecht oder Recht führen. 121 Folglich ist theoretisch auch Unrecht aufgrund gerechter Rechtsnormen möglich. 122 Wahrscheinlich wird jedoch Recht das Ergebnis des Handelns auf der Grundlage einer gerechten Rechtsnorm und Unrecht das Resultat von Handlungen auf der Grundlage einer ungerechten Rechtsnorm sein. Außerdem ist der Fall denkbar, dass es Rechtsnormen gibt, bei denen nicht entschieden werden kann, ob sie gerecht oder ungerecht sind. Diese Rechtsnormen verhalten sich zu Recht und Unrecht indifferent. Erst in der Normenanwendung kann eine Entscheidung über Recht und Unrecht getroffen 118
Siehe zu dieser Klassifizierung auch in diesem Unterabschnitt: 1. Der Ausdruck „gerecht" soll hier den adjektivischen Widerspruch zum Wort „Unrecht" wiedergeben, wohingegen der Terminus „ungerecht" die Übereinstimmung mit dem Substantiv „Unrecht" ausdrückt. Deshalb werden Rechtsnormen, die kein Unrecht sind, als „gerechte Rechtsnormen" und Rechtsnormen, die Unrecht darstellen, als „gerechte Rechtsnormen" bezeichnet. Die direkten adjektivischen Ableitungen aus dem Wort „Unrecht" sind zwar „recht" und „unrecht", deren Verwendung würde jedoch zur Verwirrung beitragen. Da Unrecht als Verstoß gegen individuelle überpositive Grundsätze der Gerechtigkeit definiert wurde, scheinen die vorgeschlagene Begrifflichkeiten besser geeignet zu sein, den Inhalt und die Bedeutung klarzumachen. 119
120
Beachte die differierende Bedeutung von „Recht" in diesem Teil und in der Abbildung. Von rechtmäßiger und rechtswidriger Normenanwendung kann vorerst nur bei gerechten Rechtsnormen gesprochen werden, da bei ungerechten Rechtsnormen zusätzlich das Problem der juristischen Geltung zu behandeln ist. 122 Im demokratischen Rechtsstaat wird dieses Problem mit einer umfassenden gerichtlichen Nachprüfbarkeit staatlicher Normenanwendungen gelöst. 121
C. Begriffsbestimmungen in der Literatur
65
werden. Daneben kann staatliches Unrecht auch ohne rechtliche Grundlage durch nichtrechtsförmiges Handeln geschehen (Abbildung 1).
Handeln des Staates durch seine Organe
rechtsförmiges Handeln auf der Grundlage
nichtrechtsförmiges Handeln
Recht
gerechter Rechtsnormen
rechtmäßige Anwendung
Recht 122 *
indifferenter Rechtsnormen
rechtswidrige Anwendung
Unrecht
Unrecht
ungerechter Rechtsnormen
normeninkonforme normenkonforme Anwendung Anwendung
Recht
Unrecht
Recht
Unrecht
Abbildung 1: Möglichkeiten von Unrechtshandlungen durch den Staat
Die Abbildung macht deutlich, dass Unrechtshandlungen des Staates auf mannigfachen Grundlagen beruhen können. Diese Variabilität hat zur Folge, dass staatliches Unrecht statistisch nur fragmentarisch zu erfassen ist. Auf der Ebene der Rechtsnormen lässt sich Unrecht z. B. durch Rechts vergleich mit international kodifizierten Menschenrechten erkennen. 123 Ob diese Rechtsnormen auch tatsächlich Unrecht bewirken, könnte anhand entsprechender Statistiken nachgeprüft werden. Allerdings führt kein Staat der Welt eine Statistik über eigenes ungerechtes Verhalten. Allenfalls sind Statistiken im Strafrecht bzw. Strafprozessrecht üblich. 124 Anhand der Verurteilung aufgrund eines als Unrecht identifizierten Straftatbestandes könnte sich auf diese Weise eine Unrechtsstatistik zusammenstellen lassen, sofern die Statistiken im Unrechtsstaat als verlässlich eingestuft werden können. Das Problem entsteht jedoch an dem Punkt, an dem die Strafrechtsstatistiken enden. Denn Unrechtsnormen existieren auch in anderen Rechtsgebieten, 122a Beachte die differierende Bedeutung von „Recht" in dieser Abbildung. 123 So u. a. die Rassengesetze des deutschen NS-Staates und des südafrikanischen Apartheidregimes. Siehe hierzu u. a.: Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NSStaat, 1996; Christoph Sodemann, Die Gesetze der Apartheid, 1986. 124 Vgl. zu einer Unrechtsstatistik bezüglich der Verurteilung nach ausgewählten Strafnormen der DDR: Detlev Joseph, Die DDR - das Unrechtsmonster der deutschen Geschichte?, in: Journal für Recht und Würde, 1992, S. 8.
5 Mögelin
66
1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
z. B. im Arbeits- oder Verwaltungsrecht. In diesen Rechtsgebieten gibt es in der Regel keine verlässlichen Statistiken. Zudem kann ebenso das Unterlassen von Bestrafung Unrecht darstellen. Auch hierüber werden keine Statistiken geführt. Ferner zeigt die Abbildung, dass die Anwendung rechter Rechtsnormen ebenfalls zu Unrecht führen kann. Diese Fälle können nur über die genaue Betrachtung des Einzelfalls erfasst werden. Weiterhin ist problematisch, dass sich Unrechtsstraftatbestände nicht immer identifizieren lassen. Es gibt eine Reihe indifferenter Normen, die erst in der Anwendung ihren Charakter als Unrechtsnorm annehmen.125 Diese Fälle lassen sich statistisch ebenso schwer erfassen. Hinzu kommt außerdem, dass nichtrechtsförmiges staatliches Handeln, das zu Unrecht führt, 126 nicht hinreichend exakt erfasst werden kann. Folglich bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Begriff „Unrechtsstaat" in befriedigender Weise durch die quantitative Intensität des begangenen Unrechts zu definieren ist. Diesem Schluss liegt im Wesentlichen die Erkenntnis zugrunde, dass in jedem Staat - auch im demokratischen Rechtsstaat - staatliches Unrecht möglich ist. 1 2 7 Das Schrifttum ist uneins und zumeist wenig konkret, wenn es darum geht, welche staatlichen Akte, wie oft, in welcher Art und Weise Unrecht darstellen müssen. Die Qualifizierung des notwendigen Maßes an Unrecht lässt sich allenfalls mit Rückgriff auf die Radbruchsche Formel bestimmen. Hingegen ist die quantitative Seite der notwendigen Intensität des Unrechts weder theoretisch eindeutig festzulegen noch praktisch überprüfbar.
3. „Unrechtsstaat" als Staat strukturellen Unrechts Eindeutig ließe sich staatliches Unrecht qualifizieren, wenn man dem Staat ein bestimmtes System der Unrechtsbegehung nachweisen könnte. Unrechtsstaaten sind dann jene Staaten, die Unrecht strukturell 128 , „systematisch"129, oder „system125 So z. B. Straftatbestände über Hoch- und Landesverrat. Diese Normen verstoßen nicht grundsätzlich gegen internationale Menschenrechtsabkommen. In sozialistischen Staaten wurden diese Normen jedoch häufig dazu benutzt, politisch missliebige Personen ins Gefängnis zu bringen. 12 6 Diese Problematik ist sehr wesentlich. Da Unrechtsstaaten in der Regel den Gesetzesvorbehalt nicht akzeptieren (siehe hierzu Kapitel 5), handeln sie häufig nicht in der Rechtsform, ohne Rechtsgrundlage und folglich ohne rechtliche Restriktionen.
™ Vgl. u. a.: Karl Brinkmann, Verfassungslehre, 1994, S. 149. 128 Von Strukturunterschieden zwischen Diktatur und Demokratie und „Strukturen der Ungerechtigkeit" spricht auch Hippel, jedoch ohne dass er sie explizit aufzeigt. Eike von Hippel, War die DDR kein Unrechtsstaat?, in: RuP 33, 1997, S. 150, 153 (um ein Nachtrag erweitert in: Eike von Hippel, Willkür oder Gerechtigkeit, 1998, S. 19, 23). 129
So spricht Wassermann von systematisch begangenem Unrecht in der DDR. Als System scheint Wassermann die Instrumentalisierung der Rechts zum Zwecke der Liquidierung der Bourgeoisie und des Aufbaus des Sozialismus zu identifizieren. Ausdrücklich bestimmt er die Systematik des Unrechts in der DDR nicht. Rudolf Wassermann, Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat?, in: NJW 50, 1997, S. 2153.
D. Zwischenergebnis
67
konsequent"130 begehen. Starck 131 schlägt vor, solche Staaten als Unrechtsstaaten zu bezeichnen, die „mangels systeminterner Kontrollen" 132 Unrecht beständig hervorbringen. In gleicher Weise ist Geismann zu verstehen, der staatliches Unrecht dann annimmt, wenn der Staat den Rechtsschutz verweigere und den Grundsatz der Gleichheit verletze. 133 Der fehlende Rechtschutz ist zwar als strukturbildendes Merkmal geeignet. Das Vorliegen dieses Merkmals bedeutet aber nicht zwingend, dass tatsächlich Unrecht geschieht. Empirisch lässt sich lediglich zeigen, dass die mangelnde Kontrolle Unrecht begünstigt. Ein Staat ohne Kontrolle staatlicher Akte muss noch kein Staat des Unrechts sein. Aus diesem Grund bleibt es grundsätzlich bei dem Quantitätsproblem. Die Struktur des Unrechtsstaates lässt sich auch nicht auf „menschenrechtswidrige" 134 Maßnahmen, d. h. auf die Verletzung subjektiver Rechte beschränken, genauso wenig wie sich der demokratische Rechtsstaat auf den Schutz von Grundrechten reduzieren lässt. Das Quantitätsproblem wird solange nicht zu lösen sein, wie man den Unrechtsstaat als Staat tatsächlich vorliegenden Unrechts definieren will. Die Häufigkeit der Unrechtsbegehung spielt jedoch dann eine geringere Rolle, wenn der Begründungsanspruch reduziert wird. Dann müsste man den Unrechtsstaat nicht als Staat des faktischen Unrechts, sondern als Staat definieren, in dem die Begehung von Unrecht wahrscheinlicher ist, als in jedem anderen Staat. Sodann müssten Bedingungen angegeben werden, die die Begehung von staatlichem Unrecht begünstigen. Das Fehlen systeminterner Kontrollmechanismen wird als strukturbildendes Merkmal hierfür nicht ausreichend sein.
D. Zwischenergebnis Die in der Literatur angebotenen Definitionen des Begriffs „Unrechtsstaat" sind durchweg nicht geeignet, die intensionale und extensionale Begriffsbedeutung zweckmäßig und sinnvoll festzulegen. Wie in den einzelnen Unterabschnitten gezeigt wurde, halten sie der Kritik nicht stand. Viele der im Schrifttum vorgeschla130 Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, 1984, S. 10. 131 Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 7 - 4 5 ; Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 297 ff. 132 Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck /Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 16, 43. So auch: Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 443; vgl. zu Krawietz aber auch in diesem Kapitel: Unterabschnitt III. 133 Vgl.: Georg Geismann, Menschenrecht, Staat und materiale Gerechtigkeit, in: JRE 3, 1995, S. 232. 134 Günther Jakobs, Untaten des Staates - Unrecht im Staat, in: GA 191, 1994, S. 9. 5*
68
1. Kap.: Der Begriff „Unrechtsstaat" im Schrifttum
genen Begriffsbestimmungen können lediglich als Versatzstücke für eine notwendige Begriffsrekonstruktion verwendet werden. Andere Vorschläge der Begriffsfestlegung bieten zwar einen systematischen Erklärungsversuch und diverse interessante Anschlussstellen, können jedoch alles in allem nicht überzeugen, da sie wichtige Aspekte unberücksichtigt lassen. Die meisten Definitionen des Unrechtsstaates lassen Charakteristika unberücksichtigt, die als wesentlich für die Begriffsbestimmung erscheinen. So wird die Genese des positiven Rechts und die Art und Weise der Rechtsanwendung fast vollständig außer acht gelassen. Unrechte Gesetze werden weder einer kritischen Uberprüfung unterzogen noch in einen systematischen Zusammenhang gestellt, obwohl sie einen bedeutenden Anteil am staatlich organisierten Unrecht haben. Auch im Unrechtsstaat gilt - mitunter partiell - positives Recht, weil kein moderner Staat umhinkommt, seine Angelegenheiten mit den Mitteln des Rechts zu regeln. 135 Das heißt aber nicht, dass der Unrechtsstaat diese Rechtsakte auch erlassen durfte. Die Tatsache, dass die Herrschenden wirksame Gesetze erlassen können, beweist nicht, dass sie es auch dürfen, 136 d. h. von der Faktizität kann nicht auf die Normativität geschlossen werden. 137 Anderenfalls käme es lediglich darauf an, ob die Herrschenden die Normen gegenüber den Herrschaftsunterworfenen durchsetzen können. Dieses Problem soll mit der Analyse der Legitimität des Unrechtsstaates angegangen werden (siehe nächstes Kapitel). Die Illegitimität als Voraussetzung der Unrechtsstaatlichkeit wird als Begründungsansatz im Schrifttum fast vollständig ausgeklammert. 138 Außerdem werden die rechtlichen Probleme im Unrechtsstaat häufig auf die mangelhafte Gewährleistung subjektiver Rechte reduziert. Den Rechtsnormen selbst und ihrer Geltung im Unrechtsstaat wird zu wenig Bedeutung beigemessen. Die einfache Negation des Merkmals des positiven Rechts wird der Rechts-Wirklichkeit in Unrechtsstaaten nicht gerecht. Diese Rechtsprobleme sollen mit Hilfe der Legalitätskategorie analysiert werden (siehe ebenfalls nächstes Kapitel). Ungeachtet der dargestellten Defizite, lassen sich im Schrifttum zahlreiche anschlussfähige Gedanken zur Begriffsbestimmung aufgreifen. So ist sowohl mit dem Unrechts- als auch mit dem Prinzipienargument theoretisch fundiert worden, dass staatliches Unrecht möglich ist und folglich auch der Begriff „Unrechtsstaat" 135 Siehe hierzu: Kapitel 4, Abschnitt B., III. Vgl. zur grundsätzlichen Notwendigkeit von positivem Recht: Werner Maihofer, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 25 ff. 136 Vgl. hierzu auch: Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 23. 137 Vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatlehre, 1975, 1994, S. 38 ff. 138
Eine Ausnahme bildet: Ernst-Joachim in: ZStW 106, 1994, S. 709 f.
Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme,
D. Zwischenergebnis
69
grundsätzlich sinnvoll sein kann. Die Analyse der Literatur zum Unrechtsstaatsbegriff hat zudem eine Reihe von Aspekten hervorgebracht, die in eine Begriffsrekonstruktion einfließen müssen. So wird neben der Diskrepanz von Recht und Rechtswirklichkeit eine Rolle spielen müssen, dass der Unrechtsstaat Unrecht durch positives Recht schafft. Außerdem scheint es unabdingbar, den kontradiktorischen Gegensatz von Rechtsstaat einerseits und Unrechtsstaat andererseits aufzugeben und durch ein abgestuftes Modell zu ersetzen. Zur schlüssigen Analyse der Schrifttums war es notwendig, etwaige Lücken durch eigene Interpretation zu schließen. So wurde der Unrechtsbegriff als Verstoß gegen überpositive individuelle Rechtsgrundsätze festgelegt und die mannigfachen Möglichkeiten staatlicher Unrechtshandlungen untersucht. Diese Aspekte werden für die folgende eigene Begriffsbestimmung von Nutzen sein. Für den weiteren Gang der Untersuchung erscheint die Bestimmung des Unrechtsstaates als Staat strukturellen Unrechts am ehesten Erfolg zu versprechen. Eine theoretisch abgesicherte Unterscheidung von staatlichem Unrecht im demokratischen Rechtsstaat und im Unrechtsstaat ist ausschließlich dann möglich, wenn dem Staat bei der Unrechtsbegehung ein systematisches Vorgehen unterstellt werden kann. Diese Möglichkeit ist aber nur dann eröffnet, wenn der Begründungsanspruch reduziert wird, denn nur so ist das oben beschriebene Quantitätsproblem zu lösen. Als Unrechtsstaat ist nicht der Staat zu bezeichnen, der rein faktisch Unrecht begeht, sondern Unrechtsstaat ist der Staat, der aufgrund seiner Strukturen die Begehung von Unrecht wahrscheinlicher macht als jeder andere Staat. Folglich müssen zur Begriffsbestimmung Bedingungen angegeben werden, die staatliches Unrecht strukturell ermöglichen. Als strukturbildende Möglichkeitsbedingungen von staatlichem Unrecht werden die Kategorien „Legitimität" und „Legalität" eingeführt. Es wird im nächsten Kapitel zu zeigen sein, dass diese Definition der Kritik am besten stand hält und von allen Begriffsbestimmungen die größte Erklärungskraft besitzt. 139
139 Vgl. zum Fallibilismus: Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, 1972 (engl.), 1994, S. 277.
2. Kapitel
Grundlagen für die Begriffsbildung: Thesen, Begriffe, Maßstab In diesem Kapitel sollen die Grundlagen für die Bestimmung des Begriffs des Unrechtsstaates gelegt werden. Zunächst werden Thesen zum Verhältnis von demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat aufgestellt und eingehend erläutert (Abschnitt A.). Die Abgrenzung beider Staatsformen ist erforderlich, weil der Unrechtsstaatsbegriff in Abgrenzung zum Begriff und Modell des demokratischen Rechtsstaates bestimmt werden soll. Die substantielle Differenz zwischen demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat wird anhand der Merkmale der Legitimität und der Legalität dargestellt. Folglich ist es erforderlich, beide Begriffe zu definieren (Abschnitt B.). Im letzten Teil des Kapitels wird zum einen begründet, warum der demokratische Rechtsstaat ein normativ-kritischer Maßstab für die Bestimmung von Unrechtsstaaten sein kann. Zum anderen sollen die Grundlagen für die detaillierte Ausarbeitung dieses Maßstabes gelegt werden (Abschnitt C.).
A. Einleitende Thesen Im Folgenden werden die Thesen der Untersuchung eingehend vorgestellt. Ziel dieses Abschnitts ist es, die Untersuchungsmerkmale den Staatstypen zuzuordnen sowie die theoretischen und praktischen Konsequenzen der Thesen deutlich zu machen. Außerdem wird dargestellt, wie sich die Thesen in die allgemeine Staatsformenlehre einordnen lassen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die These, dass der Unrechtsstaat ein Staat ist, in dem die Begehung von staatlichem Unrecht aufgrund des Fehlens von Legitimität und Legalität sehr wahrscheinlich ist. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der demokratische Rechtsstaat durch die Merkmale der Legalität und der Legitimität sowie deren wechselseitige Bezüglichkeit aus. Der demokratische Rechtsstaat sichert die Legitimität von politischer Herrschaft und Rechtsetzung durch Gewährleistung individueller Freiheit und Gleichheit, Sicherheit und Verlässlichkeit sowie die Etablierung demokratischer Entscheidungsverfahren. Rechtsbindung und das gesetzte Recht bilden das Fundament der Legalität im demokratischen Rechts-
A. Einleitende Thesen
71
Staat.1 Der Unrechtsstaat zeichnet sich demgegenüber durch das Fehlen von Legitimität und Legalität aus. Weder die Ausübung der politischen Herrschaft noch die vom Unrechtsstaat verabschiedeten Rechtsnormen sind normativ legitim. 2 Da der Unrechtsstaat keine Legitimität besitzt, bringt er grundsätzlich illegitimes Recht hervor. Denn legitime Systeme generieren grundsätzlich legitimes Recht, illegitime Systeme dagegen generieren illegitimes Recht. Die Vermutung der Illegitimität der Herrschaftsausübung kann im Unrechtsstaat von Fall zu Fall durch eine konkrete Ordnungsleistung der Herrschaftsmaßnahme widerlegt werden. Obwohl im Unrechtsstaat auch Rechtsnormen gelten, gründet sich der Unrechtsstaat nicht auf das positive Recht, sondern in der Regel auf ein politisches Programm. Vor allem aus diesem Grund fehlt dem Unrechtsstaat auch das Merkmal der Legalität. Das Fehlen von Legitimität und Legalität im Staat hat zur Folge, dass die Begehung von staatlichem Unrecht möglicher und wahrscheinlicher ist als in einem Staat, in dem diese Merkmale vorhanden sind. Der demokratische Rechtsstaat besitzt die relativ größte Gewähr dafür, Unrecht zu vermeiden bzw. zu minimieren. Im Unrechtsstaat dagegen besteht eine relativ große Wahrscheinlichkeit für staatliches Unrecht. Legitimität und Legalität sind demnach negative Möglichkeitsbedingungen für staatliches Unrecht. Hieraus folgt, dass jeder Staat, der diese Bedingungen nicht erfüllt, als Unrechtsstaat bezeichnet werden kann. Die hier vorgenommene Begriffsbestimmung gibt bezogen auf einen Staat einen qualifizierenden und keinen klassifizierenden Zusammenhang wieder. 3 Ein Zusammenhang ist in diesem Sinne qualifizierend, wenn behauptet wird, dass Staaten, die ein Kriterium (Legitimität oder Legalität) nicht erfüllen, zwar Staaten sein können, aber fehlerhaft sind. Im Gegensatz dazu ist ein klassifizierender Zusammenhang gegeben, wenn gesagt wird, dass Staaten, die ein Kriterium nicht erfüllen, keine Staaten sind. Ein klassifizierender Zusammenhang wird z. B. vom juristischen Staatsbegriff behauptet. Nach der juristischen Staatsdefinition im Völkerrecht ist ein Gebilde dann ein Staat, wenn es ein (Staats-) Gebiet, ein (Staats-) Volk und organisierte (Staats-) Gewalt vorweisen kann („Drei-Element-Lehre"). 4 Auf der Grundlage des juristischen Staatsbegriffs sollen Staaten in dieser Untersuchung ethisch-normativ qualifiziert werden.5 Staaten bleiben also grundsätzlich Staaten, 1
Siehe zum demokratischen Rechtsstaat ausführlich: Kapitel 3. Siehe zum Unrechtsstaat und die Anwendung auf die sozialistische Staats- und Rechtsordnung: Kapitel 4 und 5. 3 Vgl. zu dieser methodischen Unterscheidung: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 13 (dort noch als „qualifizierender" bzw. „definierender" Zusammenhang bezeichnet); sowie: Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs: Werner Krawietz/ Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 89. 2
4 Vgl. u. a.: Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, S. 55; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 76. 5 Vgl. zu den Typen von Staatsbegriffen: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 73 ff.
2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
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auch wenn sie die Merkmale der Legitimität und der Legalität nicht erfüllen. Gesellschaftliche Gebilde, die keine Staaten sind, werden demnach nicht untersucht.6 Folge der hier vorgeschlagenen qualifizierenden Begriffsbestimmung ist, dass grundsätzlich Staaten möglich sind, die weder den Grundsätzen der Legitimität noch denen der Legalität entsprechen. Die qualifizierende Begriffsbestimmung wirkt sich auch auf das Verständnis der Rechtsordnung eines Staates aus, der das Merkmal der Legalität nicht erfüllt. Diese Rechtsordnung kann nach der hier verwendeten Definition als „nicht-legale Rechtsordnung"7 bezeichnet werden. Staaten, die weder das Merkmal der Legitimität noch das der Legalität besitzen, sollen „Unrechtsstaaten" genannt werden. „Demokratischer Rechtsstaat" und „Unrechtsstaat" sind nach diesem Modell disjunkte Begriffe. Sie sind extensional verschieden. Es gibt keinen Staat, der demokratischer Rechtsstaat und gleichzeitig Unrechtsstaat ist. Folglich unterscheiden sich beide Begriffe auch intensional, d. h. die Begriffsmerkmale beider Begriffe differieren, denn Begriffe, deren Extension verschieden sind, unterscheiden sich auch in ihrer Intension.8 Die unterschiedliche Intension wird hier durch die Merkmale der Legitimität und der Legalität dargestellt. Die Termini „demokratischer Rechtsstaat" und „Unrechtsstaat" sind lediglich konträre und keine kontradiktorischen Begriffe, d. h. nicht alle Staaten, die keine demokratischen Rechtsstaaten sind, sind zugleich Unrechtsstaaten. Diese Erkenntnis folgt aus der Analyse des Unrechtsstaatsbegriffs in der Literatur. 9 Da sich demokratische Rechtsstaaten und Unrechtsstaaten in zwei Merkmalen (Legitimität und Legalität) unterscheiden, ergeben sich theoretisch zwei weitere Gruppen von Staaten. Die eine Gruppe von Staaten erfüllt zwar das Merkmal der Legitimität, weist jedoch nicht das Merkmal der Legalität auf. Dagegen ist die andere Gruppe von Staaten zwar illegitim strukturiert, gleichwohl besitzt sie das Merkmal der Legalität. Für den zuerst genannten Staatstypus ist es adäquat, den Begriff „Nichtrechtsstaat" in Anwendung zu bringen. Demnach sind alle Staaten, die das Kriterium der Legalität nicht erfüllen, Nichtrechtsstaaten. Hierunter fallen sowohl Unrechtsstaaten als auch Volksstaaten. Konsequenterweise muss der zuletzt genannte Staatstyp mit „Nichtdemokratie" bezeichnet werden. Unter diese Staatsform sind wiederum Unrechtsstaaten, aber auch Legalstaaten zu subsumieren. Aus diesen Thesen ergibt sich eine Vier-Felder-Matrix (Tabelle 1), die die Staatsformen 6
Für Gesellschaften, in denen Unrecht geschieht, ohne dass staatliche Strukturen vorhanden sind, kann der Begriff der Barbarei Verwendung finden. 7 Die Begriffe „Legalität" und „Nicht-Legalität" sowie „legal" und „nicht-legal" wird hier als Gegensatzpaar verstanden. Aufgrund der Tatsache, dass das Wort „Illegalität" vorherrschend die Bedeutung des Terminus „Rechtswidrigkeit" wiedergibt, kann es für die Qualifizierung einer gesamten Rechtsordnung, die für diese Untersuchung notwendig ist, nicht herangezogen werden. s Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 37. Siehe zum Nichtrechtsstaat: Kapitel 1, Abschnitt E., Unterabschnitt III.
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A. Einleitende Thesen
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anhand der Merkmale der Legitimität und der Legalität idealtypisch systematisiert. 1 0 Tabelle 1 Staatsformen klassifiziert nach Legitimität und Legalität Legitimität
Legalität
Volksstaat (z. B.: griechische Polis, unter alleiniger Berücksichtigung der Vollbürger)
(+)
(-)
Nichtrechtsstaat
Legalstaat, Nomokratie 11 (z. B.: konstitutionelle Monarchie in Deutschland im 19. Jahrhundert)
(-)
(+)
Nichtdemokratie
Unrechtsstaat (z. B.: sozialistische Staaten, nationalsozialistischer Staat in Deutschland)
(-)
(-)
Nichtrechtsstaat und Nichtdemokratie
Demokratischer Rechtsstaat (z. B.: westeuropäische Staaten)
(+)
(+)
Rechtsstaat und Demokratie
Die Bildung von Idealtypen hat den Vorteil der theoretischen Klarheit; problematisch ist jedoch, dass die Staatstypen in der begrifflichen Reinheit empirisch kaum vorfindbar sind. In der Staatenwirklichkeit existieren nämlich häufig Mischformen („Graduierungen" 1 2 ) von Staatstypen. Folglich stellen die genannten Beispiele vorwiegend eine Orientierungshilfe dar und sind lediglich eingeschränkt als Anwendungen der idealtypischen Begriffe zu betrachten. 13 Neben der empirischen Uberprüfbarkeit ist die Vier-Felder-Matrix durch eine weitere theoretische Schwierigkeit gekennzeichnet. Die Staatsformen sind nur durch eine spezifisch historische 10 Vgl. grundsätzlich zu idealtypischen Begriffen: Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S. 46 ff. In dem Vergleich von Staatstypen steckt immer auch die Gefahr der „Überpointierung", da lediglich auf grundlegende Elemente abgehoben wird. Vgl.: Renate Damus, Vergesellschaftung und Bürokratisierung durch Planung in nachkapitalistischen Gesellschaften, in: Leviathan 2, 1974, S. 194, Anm. 2. Soziologisch mag die „Überpointierung" nicht befriedigen, für die Frage nach der Einteilung von Staaten bezüglich ihres Unrechtsgehaltes ist sie nicht zu vermeiden. 11 Vgl.: Thomas Würtenberger, Die Legalität, in: Dimitri S. Constantopoulos/Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie, 1953, S. 618. Vgl. auch „Law-State": Miklös Szabö, New Constitutionalism Based on an Old Notion, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 298. 12 Horst Sendler, Die DDR ein Unrechtsstaat - ja oder nein?, in: ZRP 26, 1993, S. 4. Es müsste wohl eher „Gradualisierungen" heißen. 13 Siehe zur ausführlichen empirischen Anwendung des Unrechtsstaatskonzeption: Kapitel 5.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
Betrachtung der qualifizierenden Merkmale adäquat zu verstehen. Wie noch zu zeigen sein wird 1 4 , liegt den Begriffen „Legitimität" und „Legalität" eine in Teilen historisch variable Bedeutung zugrunde. Der Legitimitätsbegriff, so wie er im Folgenden15 für den demokratischen Rechtsstaat entwickelt wird, ist also nicht identisch mit dem Legitimitätsbegriff, der für den Volksstaat Anwendung findet, selbst wenn die Begriffe ihre grundsätzliche Bedeutung behalten. Legitimität ist die Rechtfertigung von Herrschaft durch die Idee der Selbstbestimmung. Legalität ist die Übereinstimmung von Herrschaft mit dem gesetzten Recht aufgrund der Idee des Rechtsstaates. Die Kategorisierung der Staatsformen und die empirischen Beispiele (griechische Polis, konstitutionelle Monarchie) sind also nur unter Berücksichtigung der historischen Veränderung der Begriffsbedeutungen zu verstehen.16
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität Die Begriffe der Legitimität und der Legalität sind Fachtermini unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen. Aufgrund der hieraus resultierenden unterschiedlichen Erkenntnisinteressen werden den übereinstimmenden Ausdrücken differierende semantische Gehalte zugeordnet. Gerade dem Legitimitätsbegriff liegt keine einheitlich verwendete Bedeutung zu Grunde. Hieraus folgt die Notwendigkeit, die Begriffe zu definieren. Es wäre unglaubwürdig und würde einer Überschätzung der Wissenschaft gleichkommen, würde man eine naturwissenschaftlich exakte („rasiermesserscharfe" 1 7 ) Definition anstreben. In der empirischen Anwendung wird es sowohl zwischen Legitimität und Illegitimität als auch zwischen Legalität und Nicht-Legalität einen Bereich geben, der sich weder dem einen noch dem anderen Begriff zuordnen lassen wird, also unbestimmt bleibt. Die Interdependenzen zwischen Legitimität und Legalität sowie zwischen Illegitimität und Nicht-Legalität verschärfen die14 Siehe zur veränderten Bedeutung des Legitimitäts- und des Legalitätsbegriffs in diesem Kapitel: Abschnitt C., Unterabschnitt II. 15 Siehe zur demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimität: Kapitel 3, Abschnitt A. Aus der geschichtlichen Veränderbarkeit der Legitimitätsfrage folgt, dass demokratischer Rechtsstaat und Unrechtsstaat aus ein und derselben historischen Entwicklungsphase stammen müssen, wenn man beide Staatsformen als Gegensatzpaar begreifen will. Eine andere Frage ist, ob historische Staatengebilde als „Unrechtsstaaten" bezeichnet werden können. In diesem Fall müssten zeitbezogene Unrechtsstrukturen eruiert werden; a. A.: Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 310. Vgl. aber Reichert, der des sizilischen Staat Friedrichs II. Mitte des 13. Jahrhunderts einen Unrechtsstaat nennt. Siehe: Folker Reichert, Der sizilische Staat Friedrichs II. in Wahrnehmung und Urteil der Zeitgenossen, in: HZ 253,1991, S. 38. 17
So Hennis für den Begriff der Legitimität. Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 23 f.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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ses Problem zusätzlich. Bei den Begriffen „Legitimität" und „Legalität" kann man folglich von vagen Begriffen sprechen, da es Objekte aus deren extensionalem Grundbereich gibt, für die nicht eindeutig feststellbar ist, ob sie zum Umfang des Begriffs gehören. Da es jedoch weder reine Rechtsstaaten noch absolute Unrechtsstaaten gibt, ist eine Grauzone bei den Merkmalen der Legitimität und der Legalität folgerichtig. 18 In den beiden Unterabschnitten werden die Kategorien der Legitimität (Unterabschnitt I.) und der Legalität (Unterabschnitt II.) analysiert und in ihren Grundbedeutungen festgelegt. Die Definitionen bilden den Rahmen für die Rekonstruktion von Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat im nächsten Kapitel. An dieser Stelle wird also noch nicht danach gefragt, wann eine bestimmte Staats- und Rechtsordnung legitim und legal ist, sondern es wird zunächst „nur" der Rahmen für eine solche Analyse gesteckt. Durch den Ausschluss von bestimmten Begriffsinhalten werden die möglichen Bedeutungen auf ein notwendiges und hinreichendes Maß eingeschränkt. Der vollständige Sinn der Begriffe erschließt sich jedoch erst im nachfolgenden Kapitel.
I. Die Kategorie der Legitimität Im Folgenden wird der Begriff der Legitimität in Abgrenzung zu den Begriffen der Legitimation und der Legitimierung bestimmt. Dabei werden die Begriffe zunächst analysiert (1.) und daran anschließend semantischen Gehalten zugewiesen (2.). Es wird weiter begründet, warum Legitimität als normative Kategorie verstanden wird (3.). Danach werden in einem Exkurs konkurrierende Legitimitätskonzepte vorgestellt (4.). Der Exkurs ist erforderlich, damit die sich anschließende Legitimitätsrekonstruktion im demokratischen Rechtsstaat nachvollziehbar ist.
18
Die Vagheit wirkt auf die Begriffe des demokratischen Rechtsstaates und des Unrechtsstaates zurück. Beide Begriffe sind vage Begriffe, d. h. es gibt Objekte, denen der eine oder der andere Ausdruck nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Da die intensionalen Merkmale die Bedeutung der Begriffe hinreichend zu erfassen scheinen, ist die Vagheit auf die Extension zurückzuführen. Die Wirklichkeit ist eben vielgestaltig. In der Realität existieren Mischformen von Rechtsstaatlichkeit und Unrechtsstaatlichkeit, d. h. die realen Grenzen zwischen demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat sind fließend. Außerdem entziehen sich real existierende Staaten einer einfachen empirischen Überprüfung. Problematisch sind aber auch intensionale Aspekte. So erscheint es theoretisch möglich, dass Mängel des einen intensionalen Begriffsmerkmals durch andere Merkmale kompensiert werden. Folglich ist nicht immer eine eindeutige Aussage darüber zu treffen, ob beim Fehlen eines Merkmals die Zuordnung des Ausdrucks zum Objekt ausscheidet. Hieraus folgt die Vagheit der Begriffe „demokratischer Rechtsstaat" und „Unrechtsstaat". Siehe auch: Einleitung, Abschnitt C., Unterabschnitt II., 3.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
1. Analyse der Begriffe „Legitimität", „Legitimation44 und „Legitimierung" Die Begriffe „Legitimität", „Legitimation" und „Legitimierung" 1 9 werden häufig synonym verwendet. Die sinngleiche Verwendung der Begriffe hat ihre Ursache in der Begriffsgeschichte. 20 Alle drei Begriffe haben den gleichen etymologischen Ursprung i m lateinischen Wort „legitimus" 21, das wiederum auf „ l e x " 2 2 zurück geht. Seit dem 19. Jahrhundert lässt sich mit dem französischen Wort „ légitimité " ein semantischer Gehalt nachweisen, der dem heutigen Verständnis nahe k o m m t . 2 3 Allen drei Begriffen geht es um Rechtmäßigkeit. In Abgrenzung zur als Gesetzlichkeit verstandenen Legalität 2 4 wird Rechtmäßigkeit in diesem Sinne als Rechfertigung verstanden, d. h. als Rechtfertigung staatlicher Herrschaft. 25 Diese heute Vgl. zur Begriffsgeschichte: Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973. Zur historischen Bedeutung: Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 11 ff.; Carl Joachim Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, in: PVS 1,1960 119-132. Vgl. zu modernen Legitimitätsfragen: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996; Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987; Reinhold Zippelius, Recht und Gesellschaft in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 67 ff.; Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53, 1998, S. 331 ff. Zu Webers Legitimitätskonzept: Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991. 20
Vgl. sehr ausführlich hierzu: Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 32 ff. 21 Vgl. zur Etymologie: Dolf Sternberger, Legitimacy, in: David L. Sills (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences. Band 9, 1968, S. 245 f. 22 Legalität und Legitimität lassen sich folglich beide auf das lateinische „lex" zurückführen. Vgl. unter dem Stichwort „legal": Günter Drosdowski (Hrsg.), Duden. Band 7: Etymologie, 1989, S. 409. 23 Vgl. den Eintrag „legitim" in: Wolfgang Pfeifer (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch. Band 1,1993, S.781. 24 Im Gegensatz dazu steht der völkerrechtliche Begriff der Legitimität, der durch die Revolutionen von 1830 und 1848 erschüttert wurde. Bis dahin galt Legitimität als eine auf formalen Aspekten ruhende Kategorie, die es möglich machte, ein Anrecht auf Herrschaft mit einem völkerrechtlichen Titel zu begründen. Legitimität bezeichnete den Grundsatz der Unverlierbarkeit des in langer historischer Entwicklung mittels Vertrages oder aufgrund Verzichts erworbenen Herrschaftsrechts. Vgl.: Helmut Quaritsch, Legalität, Legitimität, in: Hermann Kunst/Siegfried Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, S. 1226; Hasso Hofmann, Zum Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität in der Demokratie, in: Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 5, 1982, S. 5. Siehe ausführlich hierzu: Alexander Gauland, Das Legitimitätsprinzip in der Staatenpraxis seit dem Wiener Kongreß, 1971. 2 5 Im englischsprachigen Kulturkreis wird das Problem der Rechtfertigung und Anerkennungswürdigkeit staatlicher Herrschaft nicht unter dem Legitimitätsbegriff behandelt, sondern als Problem der politischen Pflicht und Verpflichtung sowie im Rahmen des zivilen Gehorsams diskutiert. Vgl.: Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 13 sowie Anm. 7, S. 30. Hierzu: J. Roland Pennock/John W. Pennock (Hrsg.), Political and Legal Obligation, 1970; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971 (engl.), 1994, S. 368 ff.; Alan J. Simmons, Moral Princi-
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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unstreitige Bedeutung ist der gemeinsame Nenner der Begriffe. Dessen ungeachtet führt die synonyme Verwendung zu Missverständnissen, da bei der Rechtfertigung staatlicher Herrschaft die Unterscheidung von Ebenen der Rechtfertigung angezeigt ist. Diese unterschiedlichen Ebenen haben eine differierende Semantik, die durch differierende Zeichen zum Ausdruck gebracht werden sollte. Im Rahmen der gemeinsamen „Wesensmäßigkeit"26 sind damit verschiedene Bedeutungen und Forschungsfragen zu unterscheiden. Einer klassischen wissenschaftlichen Einteilung folgend, sind zunächst zwei grundsätzliche Ebenen zu trennen. Die normative Ebene beschäftigt sich mit der Ausarbeitung und Festlegung normativer Standards der Rechtfertigung von Herrschaft. Die empirische Ebene hingegen fragt nach der tatsächlichen Rechtfertigung durch die Herrschaftsunterworfenen.
2. Begriffsbestimmung: normative Legitimität, empirische Legitimation, prozedurale Legitimierung Die normative Ebene soll hier mit „Legitimität", die empirische Ebene dagegen mit „Legitimation" bezeichnet werden, d. h. bei der Frage nach der Legitimität politischer Herrschaft geht es um die Anerkennungswürdigkeit, wohingegen Legitimation nach der Anerkennung durch die Herrschaftsunterworfenen fragt. Hiervon wiederum ist das Verfahren des Zustandekommens von Legitimität und Legitimation zu unterscheiden.27 Dieser Prozess wird mit der Vokabel „Legitimierung" ausgedrückt. Legitimierung kann vorwiegend auf empirischer, aber auch auf normativer Ebene beobachtet werden. Damit ist das gesamte semantische Spektrum im Kontext der Rechtfertigung politischer Ordnungen einem sprachlichen Zeichen zugeordnet. Die theoretische Divergenz von Legitimität und Legitimation liegt also auf der Ebene der Unterscheidung normativer und empirischer Kategorien und ist folglich ein Problem der wissenschaftlichen Perspektive. Die staats-, rechts- und moralphilosophische Sichtweise steht der sozialwissenschaftlichen und insbesondere der soziologischen Perspektive gegenüber.28 Bei Berücksichtigung der jeweils anderen ples and Political Obligations, 1979; George Klosko, The Principie of Fairness and Political Obligation, 1992. 26 Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 264. 27 Dagegen bezeichnet Hennis den Prozess der Rechtfertigung mit „Legitimation" (verfahrensbezogener Begriff), das Ergebnis mit „Legitimität" (zustandsbezogener Begriff). Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 12; so auch: Ernst Thomas Ende, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 27 ff.; Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 264. 28 Ebenso: Ernesto Garzón Valdés, Staatsterrorismus: Legitimation und Illegitimität, in: Hans Werner Tobler/Peter Waldmann (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, 1991, S. 317 ff.; David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 5 ff. Da-
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
Perspektive ergeben sich zwischen Legitimität und Legitimation eine Reihe von Verbindungspunkten, die die idealtypische Unterscheidung verwischen können.29 Normative Theorien arbeiten zwar vorwiegend präskriptiv, können die Realitäten aber nicht ignorieren. Die mögliche Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit wird in aller Regel nicht zu einer Anpassung der eruierten Norm führen, sondern der Realität kritisch gegenübergestellt. Empirische Theorien dagegen erarbeiten Normen aus empirischen Befunden und bleiben deshalb nicht auf deskriptive Wirklichkeitsbeschreibungen beschränkt. Auch wenn neben den methodischen Verbindungen zwischen normativer Legitimität und empirischer Legitimation Berührungspunkte inhaltlicher Art existieren - ethische Rechtfertigung und faktische Zustimmung also nicht beziehungslos nebeneinander stehen30 - sind beide Elemente der Rechtfertigung staatlicher Herrschaft strikt voneinander zu unterscheiden.31 Empirische Legitimationstheorien werden auch soziologische Legitimationstheorien genannt und nehmen ihren Ausgangspunkt in der Regel bei Weber. 32 Bekanntlich hat Weber herrschaftssoziologisch drei reine Typen legitimer Herrschaft definiert. Neben der charismatischen und der traditionalen Herrschaft hat er der rational-legalen Herrschaft bescheinigt, die heute geläufigste Legitimitätsform zu sein.33 Eine Ordnung kann nach empirischen Theorien als legitim gelten, wenn wenigstens ein Teil der Bevölkerung das System als „vorbildlich oder verbindlich" 3 4 anerkennt. Empirische Theorien fragen nach der Genese und Perpetuierung der Anerkennung von politischen Systemen durch die Herrschaftsunterworfenen. Bei einer breiten Unterstützung durch die Herrschaftsunterworfenen kann von legitimer Herrschaft gesprochen werden. 35 Da Unrechtsstaaten von Teilen des Volkes gewollt oder auch bloß geduldet sein können,36 ist es denkbar, im Rahmen eines gegen: Ernst Thomas Ende, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 28. 29 Beetham unterscheidet die Verwendung des Begriffs der Legitimität in der politischen Wissenschaft und in der politischen Philosophie. Vgl. insbesondere zu den Wechselbeziehungen: David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 244 f. 30 Hierzu: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 115 f. 31 Auch wenn die Begrifflichkeiten nicht in der hier vorgeschlagenen Weise verstanden werden sollten, ist die Unterscheidung von normativer und empirischer Rechtfertigung unabdingbar. Vgl.: Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 1992, S. 22 ff. 32 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980. Eingehend zu Webers Legitimitätskonzeption u. a.: Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991. Vgl. zu neueren empirischen Konzepten in der Tradition Webers u. a.: Seymore Martin Lipset, Political Man, 1960, 1983; David Easton, A Systems Analysis of Political Life, 1965. 33 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 122 ff. 34 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 16. 35
Easton spricht von „diffuser Unterstützung", die für legitime Herrschaft ausreicht. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, 1965, S. 267 ff.; vgl. zu Easton: Bettina Westle, Politische Legitimität, 1989, S. 51 ff. 36
Vgl.: Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, in: Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 16; Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 300.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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empirischen Konzeptes davon auszugehen, dass auch Unrechtsstaaten als legitime Ordnungen anerkannt werden können. Richtigkeit, Rechtfertigung und Fairness politischer Strukturen sind dagegen für die meisten empirischen Konzepte keine Legitimationskomponenten. 37 Empirische Legitimationstheorien gehen zutreffend davon aus, dass Anerkennung 3 8 von Normen und Herrschaft durch die Rechtsbzw. Herrschaftsunterworfenen zu Loyalität 3 9 führt und unabdingbar für die Stabil i t ä t 4 0 einer sozialen Ordnung ist. Allein durch Anerkennung und Akzeptanz wird staatliche Herrschaft dauerhaft überlebensfähig. 41 Denn die Leistungsfähigkeit des Staates würde unweigerlich überschritten werden, müsste normenkonformes Verhalten regelmäßig erzwungen und überprüft werden. 4 2 Legitimation ist demnach eine notwendige Bedingung für die dauerhafte Existenz jedes politischen System s . 4 3 Insofern kann auch illegitime Herrschaft Zustimmung finden, da sie ansonsten nur von kurzer Dauer sein würde. 4 4 Dessen ungeachtet geben Möglichkeiten der Manipulation öffentlicher Meinungen und das Zeitalter der Propaganda Anlass zur Kritik an Konzepten, die den Legitimitätsglauben in den Mittelpunkt stellen. 45 Die Kritik ist in erster Linie dann berechtigt, wenn empirische Konzepte als normative postuliert und deshalb miss37 Robert Graf stein, The Failure of Weber's Conception of Legitimacy, in: The Journal of Politics 43, 1981, S. 456. 38 Vgl. zum Zusammenhang von Anerkennung, Legitimation, Legitimität und Legalität: Michael Baurmann, Zehn Thesen zum Verhältnis von Normanerkennung, Legitimität und Legalität, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 1: Legitimationen, 1998, S. 409 - 441. 3 9 Vgl.: Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 1992, S. 22 ff. 40
Zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen normativer und empirischer Theorie stellt Westle die Begriffe „Legitimität" und „Stabilität" gegenüber. Bettina Westle, Politische Legitimität, 1989, S. 21 ff. 4
1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 16. So lebt jede politische Herrschaftsordnung von Voraussetzungen, die sie selbst nicht zu garantieren vermag. Vgl.: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60. 43 Vgl.: Ernesto Garzón Valdés , Staatsterrorismus: Legitimation und Illegitimität, in: Hans Werner Tobler/Peter Waldmann (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, 1991, S. 318. 42
44 Vgl.: Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 57. Siehe zur Anwendung der Weberschen Theorie auf sozialistische Länder insbesondere: Agnes Heller, Phases of Legitimation in Soviet-type Societies, in: T. H. Rigby/Ferenc Fehér (Hrsg.), Political Legitimation in Communist States, 1982, S. 45-63; sowie viele andere Beiträge in diesem Sammelband. 45 Weber ist für seine Konzeption und seinen Einfluss zum Teil heftig kritisiert worden: „reichlich verworren": Carl Joachim Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, in: PVS 1, 1960, S. 125; „almost unqualified disaster": David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 8; siehe außerdem: Robert Graf stein, The Failure of Weber's Conception of Legitimacy, in: The Journal of Politics 43, 1981, S. 456. Zur Verteidigung Webers vgl. u. a.: Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
verstanden werden. Empirische Konzeptionen leisten keine kritische Abgrenzung zwischen Legitimität und Illegitimität. 46 Legitimation als Legitimität (missverstanden verliert ihren Anspruch, ein Herrschaftssystem qualifizieren zu können. Normative Konzepte mit Geltungsanspruch können von „Empirikern" nur noch als Ideologie abgelehnt werden. Jedoch kann der Glaube an die Legitimität die Legitimität nicht ersetzen. Denn Anerkennung kann lediglich die Folge, nicht jedoch der Grund für Legitimität sein. 47 Legitimitätsglaube, Zustimmung und faktische Anerkennung schaffen Gehorsam und Fügsamkeit der Herrschaftsunterworfenen und letztendlich eine stabile soziale Ordnung, 48 unter Umständen auch den Schein von Legitimität, aber keine Rechtfertigung der Ordnung. Folglich ist die Stabilität einer Herrschaftsordnung von ihrer Rechtfertigung zu trennen. Wird diese Trennung nicht vorgenommen, besteht die Gefahr der Selbstlegitimation der Herrschenden. 49 Denn die Herrschenden versuchen permanent durch lautere oder unlautere Mittel, den Glauben der Herrschaftsunterworfenen an die Legitimität zu generieren und zu perpetuieren, um ihre Herrschaft stabilisieren und sichern zu können.50 Würde die Unterscheidung von Legitimität und Legitimation aufgegeben, könnte sich Herrschaft auf die eine oder andere Weise „Massenloyalität"51 beschaffen und sich so selbst legitimieren. Hinsichtlich ihrer normativ-ethischen Rechtfertigung wäre Herrschaft somit ein „Selbstversorger" 52. Dieser Gefahr ist durch einen normativen Legitimitätsbegriff zu begegnen. Gleichwohl bleibt die Herstellung von Konsens und Anerkennung bei konsensfähiger und anerkennungswürdiger Herrschaft ein berechtigtes Anliegen der Herrschenden und ein Gebot politischer Klugheit, 53 da in modernen Gesellschaften die Realisierung der Politik der Herrschenden in vielen Fällen von der Beteiligung der Herrschaftsunterworfenen abhängig ist. 54 46 Vgl.: Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 15. 47 Has so Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 22 f. 48 Das Verhältnis von Legitimation, Legitimationsglaube und Stabilität ist umstritten. Vgl. hierzu: Heribert Seubert, Zum Legitimitätsverfall des militarisierten Sozialismus in der DDR, 1995, S. 53 f. 49 Vgl.: David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 34.
50 Der Legitimitätsbegriff würde so beliebig werden. Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 16 f. Ähnlich verhält es sich mit dem Demokratiebegriff. „Der Begriff der Demokratie ist heute die allgemein akzeptierte Selbstbezeichnung fast aller Regime der Welt." Klaus v. Beyme, Demokratie, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Band 1, 1966, S. 1150. 51 Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 17. 52 Ernesto Garzón Valdés, Staatsterrorismus: Legitimation und Illegitimität, in: Hans Werner Tobler/Peter Waldmann (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, 1991, S. 319. 53 Die Gründe für die Akzeptanz einer Herrschaftsordnung sind vielschichtig und heterogen. Einige Gründe bei: Thomas Würtenberger, Legitimität und Gesetz, in: Bernd Rüthers/ Klaus Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 541 ff.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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Die Analyse der verschiedenen Bedeutungen und Konzepte führt zurück zur Festlegung der Begriffsbedeutungen. Der Begriff der Legitimation ist für empirische Theorien geeignet, da er kein Antonym kennt - das Wort „Illegitimation" existiert nicht. Dem politischen System kann zwar die Anerkennung versagt werden, insoweit können auch empirisch illegitime Ordnungen entstehen, jedoch ist innerhalb empirischer Konzepte eine kritische Abgrenzung nicht mehr gewollt oder gar möglich. Empirisch-soziologische Konzepte beschreiben und analysieren allenfalls „Legitimationskrisen" oder „Legitimationsdefizite"; denn Legitimationskonzepte sind keine Sache des „Alles oder Nichts". Dagegen steht für normative Theorien das kontradiktorische Begriffspaar „Legitimität" und „Illegitimität" zur Verfügung. An diesen beiden Begriffen können normative Konzepte ihr kritisches Potenzial ausschöpfen. Empirische Legitimationstheorien haben dieses Ziel nicht. Ferner gibt es für den Begriff „Legitimation" einen Plural; dagegen kann der Terminus „Legitimität" nur in der Einzahl verwendet werden. 55 Für empirische Legitimationskonzepte existieren naturgemäß verschieden Arten und Möglichkeiten, Herrschaft zu legitimieren. In der Regel stehen sie gleichberechtigt nebeneinander. Die Frage ist, ob sie Unterstützung und Anerkennung finden. Demgegenüber beschäftigen sich normative Legitimitätskonzepte mit der Suche nach einer idealtypischen, einzig legitimen Herrschaftsordnung. Sofern eine Herrschaftsordnung für legitim befunden wird, kann es keine zweite geben, die dieses Attribut für sich in Anspruch nehmen kann. Aufgrund der hier vorgeschlagenen Begriffssemantik verbleibt für die prozedurale Bedeutung der Rechtfertigung von Herrschaftsordnungen der Terminus „Legitimierung". Auf empirischer Ebene umfasst Legitimierung die Analyse der Verfahren der Selbststabilisierung 56 und faktischen Anerkennung von Herrschaftsstrukturen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Legitimation erzeugt und auf Dauer gestellt wird. Als normative Kategorie spielt Legitimierung lediglich dann eine Rolle, wenn Legitimität durch Verfahren erreicht werden soll. Allein in diesem Fall ist ein legitimitätsstiftender Prozess existent, der durch den Begriff der Legitimierung bezeichnet werden kann. Insofern ist der Anwendungsbereich für den Legitimierungsbegriff auf normativer Ebene beschränkt. Mit dieser Bestimmung sind auch die nicht selten verwendeten Termini „Delegitimation" und „Relegitimation" zu erklären. 57 Die Vorsilbe „De-" drückt das Aufheben oder Rückgängigmachen 54 David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 32. 55
Vgl.: Werner Scholze-Stubenrecht (Hrsg.), Duden. Rechtschreibung, Band 1, 1996, S. 453. In Missachtung dieser Regel verwenden einige Autoren den Terminus Legitimität dennoch im Plural. Vgl. u. a.: Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 52; Trutz von Trotha, Einleitung, in: Wilhelm J. G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hrsg.), Legitimation von Herrschaft und Recht, 1994, S. 17. 56 Ernst Thomas Ende, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 28. 57 Vgl. zu diesen Begriffen: David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 19 ff., 221 ff. 6 Mögelin
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
eines Vorganges aus. Folglich ist der Vorgang des Verlustes von Legitimation (Legitimitätsglauben) richtigerweise mit dem geläufigeren Wort „Delegitimierung" zu bezeichnen. Der Begriff der Relegitimation bzw. „Relegitimierung" ist ebenfalls im empirischen Kontext des Legitimationsbegriffs das Wiedererlangen von Legitimitätsglauben zu verstehen.
3. Der Untersuchungsgegenstand: normative Legitimität Hier wird Legitimität ausschließlich im normativen Sinne verstanden. Legitimität wird als eine Eigenschaft staatlicher Herrschaft begriffen, die diese qualifiziert und so von anderen Herrschaftsformen unterscheidet. Eine Herrschaftsform, die das Merkmal der Legitimität für sich in Anspruch nehmen kann, gilt nach bestimmten „rechtlich-sittlichen Maßstäben"58 als gerechtfertigt und kann von den Herrschaftsunterworfenen Akzeptanz erwarten. Die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft und positiven Rechts ist allein auf der Grundlage moralischer Argumente zu führen. 59 Denn die Legitimität geht über die Rechtfertigung anhand formaler Konformität hinaus. Legitimität ist damit wesentlich ein „moralisches" 60 bzw. normativ-ethisches Konzept.61 Die Argumentation kann nicht wertfrei sein, da sie insoweit auf einer werthaltigen Basis steht.62 Auf nachvollziehbare Gründe gestützt, geht es darum, ob sich Herrschaft als vernünftig im normativ-ethischen Sinn erweist. Dies kann der Fall sein, muss aber nicht, d. h. ein politisches System kann sich in Übereinstimmung mit den Kriterien der Legitimität befinden oder auch nicht. Folglich ist Legitimität weder ein notwendiges, noch ein hinreichendes Kriterium für die Existenz von Herrschaftssystemen. 63 Dagegen wird in dieser Untersuchung nicht der Anspruch erhoben, reale Motivationen und tatsächliche Akzeptanz durch die Herrschaftsunterworfenen oder die faktische Geltung einer Ordnung zu erklären. Gefragt wird allein nach einem verpflichtenden Grund für eine Sollensanordnung. Die Fragen nach der Legitimität einer Herrschaftsordnung lässt sich folglich auf eine Kernfrage reduzieren: „Was begründet... (die, d. A.) Verpflichtungskraft auch gegenüber den Nonkonformisten?" 64 58 59
Thomas Würtenbergerjun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 14. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, vom ethischen Begriff der Legitimität zu spre-
chen. 60 Alfred Meyer, Legitimacy of Power in East Central Europe, in: Sylva Sinanian / Istvan Deak/Peter C. Ludz (Hrsg.), Eastern Europe in the 1970s, 1972, S. 46. 61 So auch: Helga Worm, Legalität und Legitimität - eine fast vergessene „Vortragsnotiz" aus dem Reichswehrministerium, in: Der Staat 27, 1988, S. 75. 62 Der Anspruch der Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften geht auf Weber zurück und hat eine weltweite Debatte ausgelöst. Zur Kritik und Verteidigung der These vgl. u. a. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968,1991, S. 74 ff. 63 Siehe: Ernesto Garzón Valdés, Staatsterrorismus: Legitimation und Illegitimität, in: Hans Werner Tobler/ Peter Waldmann (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, 1991, S. 318.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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Die Legitimitätsfrage ist die fundamentalste Frage der normativen politischen Theorie. 6 5 Seit jeher bedarf die Herrschaft von Menschen über Menschen der Rechtfertigung. 66 Das Bedürfnis nach Erklärung und Prüfung staatlicher Herrschaft, die zu einer Anerkennung legitimer Herrschaft führen soll, ist eine anthropologische Konstante in der Geschichte. 67 Wollte man die Virulenz der Legitimitätsfrage bestreiten, müsste man davon ausgehen, dass die Herrschaftsunterworfenen von Natur aus Untertanen sind 6 8 und ihre Existenz allein dem Ziel dient, einem fremdbestimmten Willen zu folgen. 6 9 Folglich muss als normatives A x i o m angenommen werden, dass Herrschaft nach Begründung verlangt. A u f dieser Grundlage ist die Frage nach der Legitimität einer Herrschaftsordnung l e g i t i m . 7 0 Die moderne Herrschaftsordnung ist der Staat. Da die Ausübung von Herrschaft mit der Entstehung moderner Staaten nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt, 7 1 sondern als notwendig für die Erhaltung von innerem und äußerem Frieden betrachtet wird, unterliegt auch der Staat als solcher keiner Legitimitätsprüfung mehr. Demzufolge wird der Staat als notwendige Organisationsform moderner Gesellschaften vorausgesetzt. 72 Die Frage nach der Legitimität der Herrschaft konzen64 Hans Welzel, An den Grenzen des Rechts, 1966, S. 21. 65
Vgl.: George Klosko, The Principle of Fairness and Political Obligation, 1992, S. 1. Ulrich Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 8; Max lmboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, 1959, in: ders. (Hrsg.), Staat und Recht, 1971, S. 69. 66
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Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 15. So meinte Aristoteles, dass einige Menschen von Natur aus Freie und andere Sklaven sind. Siehe: Aristoteles, Politik, in: ders., Philosophische Schriften. Band 4, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995, S. 11. 69 Michael Peltzer, Sozialistische Herrschaft und materielle Interessen, 1987, S. 3. 70 Zum Metaproblem der Legitimität der Legitimitätsfrage vgl.: Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1989, S. 62 ff. 68
71 Anarchistische These werden nur noch selten vertreten. Siehe jedoch zu noch vertretenen anarchistischen Modellen, Hans Diefenbacher (Hrsg.), Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, 1996. Vgl. auch: Matthias Kaufmann, Aufgeklärte Anarchie, 1999. 72 Vgl. u. a.: Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 88. Gusy meint, dass Staat und Staatsform notwendig zusammenfallen und aus diesem Grunde sinnvoll lediglich nach der Legitimität von Staatsformen gefragt werden könne. Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 83. Würtenberger jun. meint, dass eine gewisse übergeordnete und „damit staatliche Machtentfaltung" zur Vermeidung von Chaos und Anarchie „allgemein anerkannt" werde. Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 16. Dagegen aber Jellinek, der mit dem Sozialismus und den Anarchismus relevante Theorien ausmacht, die den Staat nur als „Episode, eine Entwicklungskrankheit in der Geschichte der Menschheit" darstellen. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, 1959, S. 185. Vgl. hierzu weitaus differenzierter: Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 27 f.; außerdem: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 113 ff. Zur Anarchie und zur Legitimität der Herrschaft durch Herrschaftsverneinung vgl.: Walter Leisner, Die Demokratische Anarchie, 1982, S. 46ff. Mit ähnlichen
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
triert sich folglich auf die Frage, wie staatliche Herrschaft gestaltet, bzw. nach welchen Regeln Herrschaft und Macht ausgeübt werden muss, 7 3 um als legitime Herrschaft bezeichnet werden zu können.
4. Exkurs: konkurrierende Legitimitätskonzepte In der Rechts- und Staatsphilosophie ist die Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und rechtlicher Ordnungen ein „durch und durch modernes Prob l e m " 7 4 . Zwar wurde schon in der Antike zwischen gerechter und ungerechter Herrschaft unterschieden, jedoch wurde die Differenzierung nach der Art und Weise der Herrschaftsausübung vorgenommen. 75 Dagegen wurde Herkunft und letzter Grund von staatlicher Herrschaft erst in der Neuzeit, beginnend mit Hobbes, thematisiert. 76 M i t der Gegenüberstellung von Legalität und Moralität hat Kant 11 die begriffliche Grundlage für die Rechtfertigung von Herrschaft geschaffen. Erst seit Kant ist es begrifflich möglich, zwischen moralischem und unmoralischem Recht, d. h. auch zwischen moralischer und unmoralischer Herrschaft, zu unterscheiden. Die alleinige Inhaberschaft von Herrschaft reichte für deren Rechtfertigung nicht mehr aus. Die Bedingungen der Möglichkeit der Rechtfertigung von Herrschaft werden erst i m späten zwanzigsten Jahrhundert thematisiert. 7 8
Argumenten kann die Notwendigkeit von positivem Recht begründet werden. Vgl. hierzu knapp: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 144 ff. 73
So: Mario Bunge, Morality is the Basis of Legal and Political Legitimacy, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 383 f. 74 Wilhelm Hennis, Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 22. 75 Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 12. Dagegen beginnt für Habermas die Rechtfertigung von Herrschaft schon mit den frühen Hochkulturen (Mesopotamien, ... Ägypten, Griechenland, Rom). Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 43. 76 Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft, in: ders., Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Band 2, 1974, S. 241, 242 f.; Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 17 f. 77 Vgl.: Thomas Würtenberger, Legalität und Moralität, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1985 Rdn. 2/300; siehe zur Verknüpfung von Legalität und Legitimität bei Kant, Zoran Mimica, Rechtsphilosophische Probleme der politischen Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung der Ständevertretung, 1999, S. 40 ff. 78 Vgl. zur neueren Diskussion u. a.: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976; Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, 1978; Norbert Achterberg /Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981; Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral? Vom Geltungsgrunde und der Legitimität des Rechts, 1992.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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In der politischen Philosophie ist Herrschaft und Rechtsetzung auf verschiedene Art und Weise gerechtfertigt worden. 79 Zunächst ist Legitimität durch die rein faktische Macht der Herrschenden oder des Herrschers (a) konstruiert worden. Später hat man Legitimität aufgrund des Herrschaftsinhalts (b) oder einer bestimmten Herrschaftsform (c) angenommen. Neuere Legitimitätstheorien rechtfertigen Herrschaft aufgrund von Verfahren (d).
a) Legitimität durch faktische Herrschaft Die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft allein aufgrund ihrer Faktizität ist insbesondere von Hobbes und Austin unternommen worden. Hobbes 80 sieht im Gesellschaftsvertrag die Genese von Staat und Volk. 81 Durch den Vertrag werde der willkürliche Zwang des Souveräns legitimiert und der Gehorsam durch die Bürger begründet. Einzig die Bürger seien durch den Vertrag verpflichtet, der Souverän dagegen werde durch den Vertrag konstituiert, aber nicht in das Verpflichtungsverhältnis einbezogen. Bei Hobbes wird zwar die politische Herrschaft selbst vertragstheoretisch, d. h. durch den Rechtsverzicht der Individuen legitimiert, jedoch bleibt die Ausübung der Herrschaft frei. Die Rechtsetzung und das positive Recht wird im Staat ausschließlich durch die Macht des Souveräns begründet, der sich die Bürger unbedingt unterwerfen müssen.82 Nach Austin sei Recht als Befehl des Souveräns zu verstehen. „Every law or rule ... is a command."83 Rechtsnormen seien allein deshalb legitimiert, weil sie vom Machthaber als solche gesetzt worden sind. Zwar hält Austin die „Legitimität des Rechtsbefehls" 84 für überflüssig, jedoch liegt in seiner Ablehnung der Legitimität eine normative Aussage. Das positive Recht verlange Achtung, sei also legitim, wenn es als Befehl des Souveräns durchsetzbar ist. Der Herrscher rechtfertigt nach Austin durch seine Autorität und faktische Macht das von ihm gesetzte Recht. Legitimität ist danach identisch mit Macht. Weder Form noch Inhalt des positiven Recht sind nach Austin für positives Recht entscheidend. Die 79
In der Literatur finden sich eine ganze Reihe von Klassifizierungen der Legitimitätsformen. Vgl. u. a.: Carl Joachim Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, in: PVS 1, 1960, S. 119-132, insb. 126 ff.; Christian Haldenzwang, Die Legitimierung von Anpassungsregimen: eine theoretische Annäherung, in: ZfP, 1996, S. 285-303, insb. 287 ff. so Siehe: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 1966, S. 129 ff. 81
Vgl.: Dieter Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, 1998, S. 206/ 82 Die Omnipotenz des Staates in der Theorie Hobbes' ist auf vielfache Kritik gestoßen. Vgl. hierzu: Dieter Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, 1998, S. 251 ff. 83 John Austin, The province of jurisprudence determined, 1832, 1995, Lecture I, S. 21. 84 Vgl.: Wilfried Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken, 1972, S. 129.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
Legitimität wird folglich zum „bloßen Akzidens, statt wie nach den Postulaten seiner politischen Philosophie Essenz der politischen Ordnung" 85 zu sein. 86
b) Legitimität durch Herrschafts-
bzw. Normeninhalt
Herrschaft und Rechtsetzung ist zudem durch den materialen Inhalt der Herrschaftsausübung und der dieser Herrschaft entsprechenden Rechtsnormen gerechtfertigt worden. Die Vertreter dieser Auffassung nehmen an, dass Herrschaft und die gesetzten Rechtsnormen inhaltlich richtig, gut, wahr und/oder gerecht sind. 87 Die inhaltliche Richtigkeit kann mittelbar durch ein übergeordnetes Bezugssystem (1) oder unmittelbar aufgrund der postulierten Richtigkeit der Rechtsnormen (2) gesichert werden. In diesem Zusammenhang soll ferner die Mar:tsche Auffassung zur Legitimität Erwähnung finden (3).
(1) Mittelbar richtiger Herrschaftsinhalt Im Mittelalter wurden Herrschaft und weltliches Recht mit der Bindung an das göttliche Naturrecht legitimiert. Die Verbindung des positiven Rechts mit diesen überpositiven, unantastbaren Normen überträgt die göttliche Legitimation auch auf das positive Recht. Nicht die Herrschenden (Päpste und Könige), sondern allein Gott sollte die Legitimität des Rechts gewährleisten. 88 Das durch Kant rekonstruierte Naturrecht stützt sich ebenfalls auf Prinzipien a priori, die das positive Recht legitimieren und limitieren sollen. Kant leitet aus der praktischen Vernunft moralische und natürliche Rechte her, die ihren Ausgangspunkt im kategorischen Imperativ haben. So gehöre zu den konstanten naturrechtlichen Prinzipien, dass jedem Menschen unabhängig von allem Äußeren oder Inneren die gleiche individuelle Freiheit und Gleichheit zukomme.89 Die gesetzgebende Gewalt könne nur dem „allgemeinen vereinigten Völkswillen" 90 zufallen, der insofern die praktische Vernunft widerspiegele. 85 Wilfried Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken, 1972, S.175. 86 Die Reduzierung des Legitimitätsproblems auf eine Machtfrage ist für moderne Theorien des Dezisionismus charakteristisch. Vgl.: Dietrich Böhler, Kulturrelativismus, Dezisionismus und Nationalsozialismus., 1988, S. 23 ff. 87
Vgl. zu dieser materialen Legitimität auch: Michael Baurmann, Zehn Thesen zum Verhältnis von Normanerkennung, Legitimität und Legalität, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 1: Legitimationen, 1998, S. 416 ff. 88 Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 469. 89 Vgl.: Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, in: AA, Band 6, 1907, 1969, Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, S. 237 ff. 9 0 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, in: AA, Band 6, 1907, 1969, § 46 Rechtslehre, S. 314.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
87
Herrschaft und Rechtsetzung sind auch aufgrund der Verwirklichung beständiger Werte legitimiert worden. Dabei kann die Dauerhaftigkeit und Konstanz der Werte variieren. Nach dieser Ansicht sind Werte wie Gerechtigkeit, Integration, Freiheit, Grundrechte, Solidarität zwar beständig und universal, jedoch verlangen sie eine umfassende Interpretation, um Herrschaft zu legitimieren. Nicht selten wird die Auffassung vertreten, staatliche Herrschaft lasse sich lediglich auf Grund eines überpositiven Wertekanons legitimieren. 91
(2) Unmittelbar richtiger Herrschaftsinhalt Relativ selten wird die Auffassung vertreten, dass positives Recht in einem bestimmten Kontext per definitionem gerechtes und richtiges Recht ist und aus diesem Grund sich selbst legitimiert. Diese ethische Staatsdefinition wurde von Aristoteles 92 begründet und in der Neuzeit sowie im Mittelalter rezipiert. Danach sei der Staat auf das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit verpflichtet, denn gerecht sei, was allen nütze.93 In diesem Sinne war Cicero der Ansicht, dass vom Staat nur dann gesprochen werden könne, wenn der Staat eine gerechte Herrschaft verwirkliche. 94 (3) Die Marxsche Auffassung Marx 95 hingegen ging davon aus, dass es Gerechtigkeit im Sinne eines ewigen Naturrechts nicht geben könne, sondern allenfalls relative Gerechtigkeit in Abhängigkeit von den ökonomischen Verhältnissen möglich sei. 96 Das positive Recht sei Ausdruck der herrschenden ökonomischen Verhältnisse. Soweit das positive Recht 91
Vgl. zur „Renaissance des Naturrechts" in der Bundesrepublik u. a.: Helmut Coing , Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, 1947. 92 Vgl. hierzu u. a.: Alexander Demandt, Der Idealstaat, 1993, S. 109 ff., insb. 114 f. sowie das Kapitel „Anwendung des Gerechtigkeitsbegriffs aus die Staatsgemeinschaft" in: Hermann Adolph Fechner, Über den Gerechtigkeitsbegriff des Aristoteles, 1855,1987, S. 57 ff. 93 Vgl.: Alexander Demandt, Der Idealstaat, 1993, S. 115. 94 Vgl.: Dieter Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, 1998, S. 166; sowie außerdem: Alexander Demandt, Der Idealstaat, 1993, S. 221 ff., insb. 237 f. 9 5 Vgl. zur Gerechtigkeit, zu Menschenrechten und zum positiven Recht bei Marx: Andrea Maihof er, Das Recht bei Marx, 1992. Klenner meint, dass es aufgrund der fehlenden Rechtsund Verfassungstheorie von Marx schwierig ist, Ma rasche Legitimitätskriterien für Verfassungslegalitäten zu filtern. Hermann Klenner, Karl Marx über Legitimationskriterien von Verfassungslegalitäten, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 97-110, 98. Außerdem: Johannes Busch-Weßlau, Der Marxismus und die Legitimation politischer Macht, 1990. 96 Der historische Gerechtigkeitsbegriff hat zur Folge, dass eine die bestehenden Verhältnisse deszendierende Gesellschaftskritik theoretisch unmöglich wird. Vgl.: Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 76, 81.
2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
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diesen ökonomischen Verhältnissen entspricht, sei es gleichzeitig legitimes Recht. Für Marx gehören Gerechtigkeits- und Rechtsdiskurse strukturell zusammen.97 Legitimitätsbedingung für Rechtsetzung98 sei folglich der den ökonomischen Verhältnissen entsprechende Inhalt der Rechtsnorm. „Die Legitimität eines Überbaues (leitet sich, d. A.) ... aus der Legitimität der zugrunde liegenden Produktionsweise ab. Die Legitimität konkreter Staaten leitet sich entsprechend aus der Legitimität der jeweiligen Gesellschaftsformation ab." 99
Umstritten ist, ob Marx seinen normativen Gerechtigkeitsbegriff auch für die zukünftige Gesellschaft, den Kommunismus, verwendet oder ob im Kommunismus absolute Gerechtigkeit verwirklicht sei. 100 Da die von Marx entworfene zukünftige Gesellschaft selbst in den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas nicht Realität geworden ist, allenfalls von einer „Übergangsphase" gesprochen wird, bleibt jede Aussage über neue „Bewußtseinsformen" 101 im Kommunismus, die den tradierten Gerechtigkeitsbegriff überflüssig machen sollen, bloße Spekulation ohne Bezug zur Wirklichkeit. Diese Problematik ist aus diesem Grunde für die vorliegende Untersuchung ohne Belang.
c) Legitimität durch Rechtsform Gegen die Einbindung materialer Inhalte in die Rechtfertigung von Herrschaft und Rechtsnormen haben sich mit unterschiedlichen Argumenten mehrere Autoren gewandt. 102 Politische Soziologie und positivistische Staatslehre waren sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einig, die Legitimitätsfrage in der Legalität einer staatlichen Ordnung aufzulösen und dadurch verschwinden zu lassen.103 Insbesondere die Arbeiten von Weber und Kelsen sind aus diesem Grund mit den Adjektiven „wertrelativistisch" 104 bzw. „werturteilsfrei" versehen worden. Diese 97 Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 84. 98
Maihofer spricht vom „allgemeinen Willen" als einer „notwendigen Legitimationsinstanz positiven Rechts". Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 216. 99 Johannes Busch-Weßlau, Der Marxismus und die Legitimation politischer Macht, 1990, S. 69. 100 Zu diesem Problem sind explizite Aussagen von Marx nicht bekannt. Vgl. zum Streitstand: Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 83 ff. Sehr überzeugend stellt Maihofer den Mansche Gerechtigkeitsbegriff in Relation zu seiner allgemeinen Kritik normativer Diskurse dar. 101 Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 89. 102 Vgl.: David Dyzenhaus, Legality and Legitimacy, 1997, S. 238. Vgl. außerdem: Weyma Lübbe, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: ARSP 79, 1993, S. 80-90. 103 Zum Zusammenhang von Webers Legitimationskonzept und juristischer Staatslehre des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts vgl. Ernst Vollrath, Legalität und Legitimität als Kategorien der staatlichen Existenz, in: Klaus Held/Jochem Hennigfeld (Hrsg.), Kategorien der Existenz, 1993, S. 419 ff.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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Auffassungen nehmen an, dass einzig die dem Recht und dem Gesetz innewohnende Rationalität 105 Legitimität sichert. Legitimität sei eine notwendige Eigenschaft geltender Rechtssätze.106 Rationale Herrschaft sei mit legaler Herrschaft gleichzusetzen.107 Allein die Legalität könne „als legitim gelten" 108 . In der von Schmitt aufgenommenen und veränderten Auffassung kommt dem Begriff der Legitimität kein eigener Wert mehr zu. 1 0 9 Einzige Voraussetzung für die Rechtfertigung von Rechtsnormen ist danach ihre rechtmäßige Erzeugung. In der Legalität liege die Rechtfertigung. 110 Legalität habe „gerade den Sinn und die Aufgabe, ... die Legitimität überflüssig zu machen und zu verneinen" 111 . Die Folge dieser Auffassung ist, dass sich das Recht selbst, d. h. qua seiner Existenz, legitimiert.
d) Legitimität durch Verfahren Gesellschaftsvertragstheorien 112 fingieren in der Regel ein Abwägungsverfahren der Gesellschaftsmitglieder (Herrschaftsunterworfene und Herrschende) im sogenannten Urzustand. Dieses Verfahren führt unter Abwägung rationaler Begründungen zu Ergebnissen, die Herrschaft und Rechtserzeugung legitimieren sollten. Ergebnis des Abwägungsprozesses bei Rawls 113 sind zwei Grundsätze der Gerechtigkeit. Erstens habe jedermann das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamt104
Der politische und soziale Relativismus galt in der Weimarer Republik unter Liberalen unterschiedlicher Couleur als Grundvoraussetzung der Demokratie. Hierzu: Martin Kriele, Staatsphilosophische Lehren aus dem Nationalsozialismus, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, 1983, S. 213 ff. 105 Weber sieht im Generalisieren, Systematisieren und in der Entwicklung einer Kasuistik die Rationalität des Rechts. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 395 ff. Vgl. auch Habermas, der die Rationalität des Rechts im dogmatisch durchgestalteten Wissenssystem erkennt. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 107. 106 Vgi.: Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 26. 107 Herrschaft wird „rationalisiert (legalisiert)". Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 143, sowie 122. 108 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, 1980, S. 19. 109
Vgl. hierzu auch: David Dyzenhaus, Legality and Legitimacy, 1997, S. 237. ho Vgl.: Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, 1993, S. 8. Zu den drei Phasen des Legitimitätsverständnisses bei Schmitt siehe u a.: Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 269 ff. Siehe außerdem zu Schmitts Legitimitätstheorien: Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1964, 1992. in Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, 1993, S. 13. 112 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen von Gesellschaftsvertragstheorien: Peter Koller: Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 361-393. 113 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971 (engl.), 1994. Vgl. zur Legitimität bei Rawls \ David Dyzenhaus, Legality and Legitimacy, 1997, S. 223 ff.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
system gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist, zweitens seien soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten solange gerechtfertigt, solange sie auch den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. 1 1 4 Beide Grundsätze limitieren politische Herrschaft und das durch sie erzeugte positive Recht. Die Begründung von Legitimität durch Verfahren haben jedoch insbesondere Diskurstheorien 1 1 5 (Habermas 116, Alexy 117) und Systemtheorien 118 ( L u h m a n n 1 1 9 ) unternommen. 1 2 0 Die Legitimität von Verfahren wird von beiden Theorien unterschiedlich beurteilt. Für jene können Verfahren per se keine Legitimität erzeugen, wohingegen diese die Legitimität von „effektiven, störungsfreien und konsequent e n " 1 2 1 Verfahren ohne Hinzutreten weiterer Bedingungen akzeptieren. Beide Theorien stehen in der Tradition Webers, der die Form als Legitimitätsbedingung hat hinreichen lassen. I m Gegensatz zu Weber betrachtet jedoch insbesondere Habermas förmliche Verfahren als Rechtfertigungsverfahren und nicht als bloße Entscheidungsverfahren. Dagegen stehen bei Weber und dann bei Luhmann weder Begründung noch Rechtfertigung, sondern die Wahl eines wertfreien Konfliktentii4 Weitaus differenzierter in: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971 (engl.), 1994, S. 336 f. us Kurze Einführung bei: James E. Herget, Contemporary German Legal Philosophy, 1996, S. 44 ff. Siehe außerdem: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992; Peter Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie, 1998. 116 Vgl. u. a.: Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 37-56; Jürgen Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 20, 1987, S. 1 - 1 6 ; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992; Vgl. die Besprechung: David Dyzenhaus, The Legitimacy of Legality, in: University of Toronto Law Journal 46, 1996, S. 129-180. Außerdem zum Legitimitätskonzept von Habermas u. a.: David Dyzenhaus, Legality and Legitimacy, 1997, S. 235 ff. 117 Vgl. u. a.: Robert Alexy, Grundgesetz und Diskurstheorie, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 343-360. us Vgl. u. a.: Frieder Naschold, Die systemtheoretische Analyse demokratischer politischer Systeme, PVS Sonderheft 2, 1970, S. 3 - 3 9 ; Gunther Teubner, Recht als autopoetisches System, 1989, Gerd Roellecke, Die Legitimation des Grundgesetzes in der Sicht der Systemtheorie, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 419-434. Kurze Einführung bei: James E. Herget, Contemporary German Legal Philosophy, 1996, S. 73 ff.; Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998. 119 Vgl. u. a.: Niklas Luhmann, Legitimität durch Verfahren, 1969, 1983, insb. S. 137 ff.; Niklas Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 65-83. Zur Kritik siehe: Reinhold Zippelius, Recht und Gesellschaft in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 79 ff. 12° Die Anfänge prozeduraler Legitimitätstypen sieht Habermas schon bei Rousseau. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 44 f. Diese Anfänge haben jedoch mit den hier vorgestellten Legitimitätstheorien nicht allzuviel gemein. 121 Reinhold Zippelius, Recht und Gesellschaft in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 82.
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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scheidungsverfahrens i m Vordergrund. 1 2 2 In modernen Staaten ist nach Habermas das demokratische Verfahren der Rechtserzeugung die „einzige nachmetaphysische Q u e l l e " 1 2 3 der L e g i t i m i t ä t . 1 2 4 Die legitimatorische Wirkung demokratischer Verfahren gehe auf die „Idee der Selbstbestimmung" 1 2 5 zurück, deren Grundlegung den Gesellschaftsvertragstheorien zu verdanken s e i . 1 2 6 Die kursorisch dargestellten und analysierten Legitimitätskonzepte machen es möglich, eine eigene Rechtfertigung von Herrschaft zu entwickeln. Das i m nächsten K a p i t e l 1 2 7 zu begründende Legitimitätsmodell wird eine Kombination von formalen, materialen und prozeduralen Elementen beinhalten und damit in Teilen auf die hier vorgestellten Legitimitätskonzepte zurückgreifen.
II. Die Kategorie der Legalität I m Folgenden soll der Begriff der Legalität analysiert und der begriffliche Rahmen für die fortschreitende Untersuchung festgelegt werden.
1. Analyse des Begriffs der Legalität Der Begriff der L e g a l i t ä t 1 2 8 wurde i m 18. Jahrhundert geprägt. Ausgehend vom lateinischen bzw. mittellateinischen Ursprung des Wortes ( „ f e x " 1 2 9 , „legalis" 130, 122 Aus diesem Grund lassen sich die Webersch&n Legitimitätsbedingungen besser als formelle und nicht als prozedurale Bedingungen beschreiben. Vgl. hierzu: Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991, S. 118 f. 123 Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 662. 124
So auch: Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 430. 125 Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 663. 126
Habermas ergänzt die verschiedenen Vertragsmodelle (Hobbes, Kant, Rawls) durch sein Diskursmodell, wonach sich die Rechtsgemeinschaft nicht durch einen Gesellschaftsvertrag, sondern durch ein diskursiv erzieltes Einverständnis konstituiert. Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung. 1992, 1997, S. 663. 127 Siehe zur Begründung der Legitimität des demokratischen Rechtsstaates: Kapitel 3, Abschnitt A. 128 Zur Legalität als rechtsphilosophische Konzeption gibt es wenig Literatur. Vgl. u. a. Carl Schmitt, Das Problem der Legalität, 1950, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, 1985, S. 440 - 451; Thomas Würtenberger, Die Legalität, in: Dimitri S. Constantopoulos/Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie, 1953, S. 607-624; Werner von Simson, Zur Theorie der Legitimität, in: Henry Steele Commager u. a. (Hrsg.), Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages, 1971, S. 463 ff. Ulrich K Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973; Thomas Würtenberger, Legalität und Moralität, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1985 Rdn. 2/300; Roberto Bergaiii, Das Legalitätsprinzip: Fundament der Moderne, in: Hans Jörg Albrecht u. a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Halb-
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
„legalitas") wird Legalität seit der Aufklärung als Rechtmäßigkeit im Sinne von Gesetzlichkeit und Gesetzmäßigkeit verstanden. Legalität bezieht sich folglich auf staatlich gesetzte Rechtsnormen und drückt die Konformität des Handelns mit dem geltenden positiven Recht aus. 131 Ein Verhalten ist danach legal, wenn es dem positiven Recht entspricht. Mit der zunehmenden Bedeutung von Staaten und der Herausbildung der Idee des Rechtsstaates in Deutschland132 im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Begriff der Legalität auf das staatliche Handeln bezogen und eng mit dem Gesetzesbegriff verknüpft. 133 Das gesetzte Recht sollte auch für den Staat unverbrüchlich sein. Zudem sollten Eingriffe in Freiheit und Eigentum allein auf der Grundlage eines allgemeinen Gesetzes möglich sein. Durch die Bindung an das Recht und den Vorbehalt des Gesetzes ging der Begriff der Legalität in der Konzeption des formalen Rechtsstaates auf. 1 3 4 Im neuzeitlichen Verfassungsstaat wird der Begriff der Legalität zum dogmatischen Rechtsprinzip 135 mit unterschiedlichen Bedeutungen. Das staats- und verfassungsrechtliche Prinzip der Legalität bindet staatliche Macht an die Verfassung und an das Gesetz. 136 Die Existenz, Funktionen und Kompetenzen der öffentlichen Gewalt können danach allein aus dem positiven Recht abgeleitet werden. 137 Der Grundsatz der Legalität verlangt, dass jedes staatliche Organ das geltende Recht beachtet und anwendet.138 Staatliches Handeln in seiner legislativen, exekutiven band 2, 1998, S. 1325-1336; Friedrich G. Schwegmann, Legalität/Legalitätsprinzip, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik, 1998, S. 348-350. 129 Günter Drosdowski (Hrsg.), Duden. Band 7: Etymologie, 1989, S. 409. 130 Wolfgang Pfeifer
(Hrsg.), Etymologisches Worterbuch. Band 1, 1993, S. 779.
131 Vgl.: Friedrich G. Schwegmann, Legalität/Legalitätsprinzip, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik. Band 7: Politische Grundbegriffe, 1998, S. 349. Siehe außerdem zum Ganzen: Thomas Würtenberger, Die Legalität, in: Dimitri S. Constantopoulos / Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie, 1953, S. 607-624. 132 Vgl. zu Frankreich: Carl Schmitt, Das Problem der Legalität, 1950, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, 1985, S. 445 f. 133 Vgl.: Otto Kirchheimer, Legalität und Legitimität, 1932, in: ders., Politische Herrschaft, 1967, S. 9. 134 Hierzu: Helmut Quaritsch, Legalität, Legitimität, in: Hermann Kunst/Siegfried Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, S. 1226. 135 Zum Rechtsgrundsatz wird der Legalität durch die Regelung im positiven Recht, d. h. insbesondere in der Verfassung und der Strafprozessordnung. 136 In einigen Rechtsordnungen bezeichnet das Legalitätsprinzip den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Vgl. z. B. für die Schweiz: Stephan Breitenmoser, Rechtsstaatlichkeit in Schweiz, in: in: Rainer Hofmann/Joseph Marko/Franz Merli/Ewald Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 58 ff. 137 Probleme in der Umsetzung der Bindung der Staatsgewalt an Rechtsnormen sind demokratischen Rechtsstaaten nicht fremd. Vgl. u. a.: Jan Ross, Die ungeliebte Legalität, in: Merkur 49, 1995, S. 1084-1094. 138 Dieser Grundsatz findet im Vorbehalt des Gesetzes seine juristische Ausprägung. Im Detail unterscheiden sich Rechtsstaaten, ob sie einen Totalvorbehalt für staatliches Handeln
B. Die Kategorien der Legitimität und der Legalität
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und judikativen Funktion ist ausschließlich dann rechtmäßig, wenn es sich im Rahmen der positiven Rechtsordnung hält. Für die Einhaltung des Grundsatzes der Legalität sind die Amtsträger verantwortlich. 139 Im Strafverfahrensrecht verlangt das Legalitätsprinzip das Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen bei zureichendem Verdacht einer Straftat. 140 Die Pflicht zum Einschreiten einer Behörde von Amts wegen existiert auch im Verwaltungsrecht. 141
2. Bestimmung des Legalitätsbegriffs Auf dieser semantischen Grundlage soll der Begriff der Legalität als Organisations- und Ordnungsprinzip 142 des modernen Staates verstanden werden, das sich aus den Elementen des Rechtsformenzwangs und der Rechtsbindung zusammensetzt. 143 Legalität ist danach die auf einer Rechtsordnung beruhende Anwendung von (Rechts-)Regeln bei der Ausübung von staatlicher Herrschaft 144 sowie die formale Bindung der Herrschenden an das positiv gesetzte Recht. In legalen Staatsund Rechtsordnungen sind also Rechtsnormen Handlungsform und Grundlage staatlichen Handelns.145 Dem Legalitätsbegriff kann an dieser Stelle lediglich ein begrifflicher Rahmen gegeben werden. Denn zur vollständigen Bestimmung des Begriffs und der Konzeption der Legalität ist es u. a. notwendig, die Gründe für die Notwendigkeit der Legalität aufzudecken. Diese Gründe wirken sich auf die Legalitätskonzeption aus, fordern (Spanien, Polen, Schweiz - jeweils mit geringfügigen Ausnahmen) oder ob lediglich staatliche Eingriffe, die die individuelle Freiheitssphäre beschneiden, eine gesetzliche Ermächtigung benötigen (Deutschland, Österreich). 139
Diese Rechtsgrundsätze der Legalität sind allen demokratischen Rechtsstaaten immanent. Vgl.: Albert Bleckmann, Der Rechtsstaat in vergleichender Sicht, in: GYIL 20, 1978, S. 406-432. 140 Siehe §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 170 Abs. 1 StPO; außerdem rechtsvergleichend hierzu u. a.: Walter Wagner, Zum Legalitätsprinzip, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe (Hrsg.), Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag, 1964, S. 149-176. 141
Siehe z. B. § 86 Abgabenordnung. Vgl.: Thomas Würtenberger, Legalität und Moralität, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1985 Rdn. 2/300. Eine Zirkeldefinition, wie die von Bergaiii, soll jedoch vermieden werden. Nach Bergaiii ist „Legalität ein Merkmal der und eine Anforderung an die Macht . . . , aufgrund derer es ... möglich wird zu sagen, daß eine Herrschaft legal sei, rechtmäßig handele oder über die Eigenschaft der Legalität (sie!) verfüge." Roberto Bergaiii, Das Legalitätsprinzip: Fundament der Moderne, in: Hans Jörg Albrecht u. a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Halbband 2, 1998, S. 1325. 142
1 43 Siehe zu Rechtsformenzwang und Rechtsbindung: Kapitel 3, Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4. 144 Vgl.: Ulrich K. Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, S. 71. 145 Vgl.: Heinrich Amadeus Wolff, Das Verhältnis von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, in: Dietrich Murswiek /Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität Verfassung, 2000, S. 75.
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
sind jedoch an die Rechtfertigung von Herrschaft geklammert und nicht unabhängig von einem Herrschaftssystem zu definieren. Denn die Legitimität gibt bestimmte Ziele und Normen vor, für deren Erreichen die Legalität herangezogen werden kann (Legitimitätsimmanenz der Legalität). Anhand normativer Argumente muss dann begründet werden, welche Implikationen für den Legalitätsbegriff hiermit verbunden sind. Folglich ist die Legalität selbst eng mit der Legitimität verbunden. So wird z. B. die Rekonstruktion der Legalität im demokratischen Rechtsstaat146 zeigen, dass sich der Legalitätsbegriff nicht auf seine formalen und funktionalen 147 Aspekte reduzieren lässt. Dies hängt jedoch maßgeblich von den Anforderungen ab, die die Rechtfertigung von Herrschaft an die Legalität stellt. Daher müssen erst diese Anforderungen bestimmt werden, 148 um den Legalitätsbegriff um inhaltliche Aspekte zu erweitern. Neben normativen Argumenten können analytische Argumente herangezogen werden, um begrifflich notwendige Inhalte des Legalitätsbegriffs zu begründen. Für eine erfolgreiche analytische Argumentation müssen mit dem Legalitätsbegriff Bindungen verknüpft sein, die derjenige beachten muss, der sich auf den Boden der Legalität stellt. So setzt z. B. der Legalitätsbegriff eine Rechtsordnung und selbstverständlich positives Recht voraus. Ohne diese Elemente ist Legalität nicht denkbar. An dieser Stelle sollen jedoch auch die begrifflich notwendigen Inhalte des Legalitätsbegriffs nicht vertieft werden, da diese Inhalte eine Untersuchung des Rechtsbegriffs notwendig machen. Zudem ist eine Trennung von analytischen und normativen Argumenten nur methodisch sinnvoll. Für das Verständnis ist jedoch eine umfassende und keine zerstückelte Darstellung des Legalitätsbegriffs angebracht. 149
C. Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat als Wertungsmaßstab Bis jetzt wurde lediglich der begriffliche und konzeptionelle Rahmen der Legitimität und der Legalität festgelegt. Dieser Rahmen bildet die Grundlage der begrifflichen Rekonstruktion der Staats- und Rechtsordnung des demokratischen Rechtsstaates im nächsten Kapitel. Das Ziel der Untersuchung ist jedoch, den Begriff des Unrechtsstaates zu bestimmen und ihn auf die sozialistischen Staaten anzuwenden. Allein zu diesem Zweck soll die Legitimität und die Legalität im demokratischen Rechtsstaat begrifflich rekonstruiert werden. Deshalb stellt sich zunächst die 146
Siehe zur Legalität im demokratischen Rechtsstaat: Kapitel 3, Abschnitt B. Vgl. zum „funktionalistischen Legalitätsbegriff': Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, 1993, S. 30 ff. 148 Siehe zur Legitimität im demokratischen Rechtsstaat: Kapitel 3, Abschnitt A. 149 Siehe zur Legalität: Kapitel 3, Abschnitt B. 147
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
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Frage, warum der demokratische Rechtsstaat Wertungsmaßstab für die Bestimmung von Unrechtsstaaten und die Analyse sozialistischer Staaten sein kann. Anders gewendet: die Suche nach einem Wertungsmaßstab muss eine Antwort auf die Frage liefern, ob, wie und auf welcher Grundlage man zwischen illegitimen und legitimen sowie zwischen legalen und nicht-legalen Systemen unterscheiden kann. Im folgenden Abschnitt wird begründet, dass Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat Prüfungsmaßstab für die Bewertung des vormaligen und heutigen politischen und rechtlichen Systems der Transformationsländer in zweierlei Hinsicht sein können. Der demokratische Rechtsstaat ist einerseits Ziel der Transformation (Unterabschnitt I.) und andererseits Ergebnis eines europäischatlantischen Kulturprozesses. Dagegen wird sich die Möglichkeit, den demokratischen Rechtsstaat als zeit- und kulturübergreifenden Maßstab zu betrachten, als nicht haltbar erweisen (Unterabschnitt II.). Mit der Begründung des demokratischen Rechtsstaates als Ergebnis einer kulturellen Evolution werden die Grundlagen für die Ausarbeitung dieses kritischen Maßstabes gelegt (Unterabschnitt III.).
I. Demokratischer Rechtsstaat als Transformationsziel Alle mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten haben die Transformation ihrer Gesellschaften von einer sozialistischen Staats- und Rechtsordnung aus begonnen. Zugleich ist das erklärte Ziel aller Staaten, demokratische Rechtsstaaten zu schaffen. 150 Unter der Voraussetzung, dass es angemessen ist, den Ausgangspunkt und den (erstrebten) Endpunkt eines gesellschaftlichen Zustandes miteinander wertend zu vergleichen, scheint es berechtigt zu sein, sozialistische Staats- und Rechtsordnung und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung miteinander in Beziehung zu setzen. Daran ändert auch nichts, dass der wertende Vergleich beider Ordnungen über den Umweg der Bestimmung des Unrechtsstaatsbegriffs anhand der Rekonstruktion von Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat vorgenommen wird. Der Unrechtstaatsbegriff soll nämlich „lediglich" eine systematisierte und strukturierte Art der Analyse des sozialistischen Systems ermöglichen. Insofern sollen also Legitimität und Legalität als elementare Eigenschaften eines demokratischen Rechtsstaates gekennzeichnet, näher bestimmt und als Beurteilungsmaßstab herangezogen werden.
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Das ergibt sich aus den Verfassungstexten. Siehe hierzu: Kapitel 5, Abschnitt A.
2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
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II. Demokratischer Rechtsstaat als universaler Maßstab Die zweite Möglichkeit, einen Prüfungsmaßstab für die sozialistische Staatsund Rechtsordnung zu gewinnen, ist von weitaus größeren Schwierigkeiten begleitet. Der demokratische Rechtsstaat europäisch-atlantischer Prägung könnte als zeit- und kulturübergreifender Maßstab zur Bewertung anderer Staats- und Rechtssysteme eingeführt werden. Dieser Universalitätsthese 151 steht zunächst der Einwand des Ethnozentrismus (bzw. Eurozentrismus) entgegen. 1 5 2 Auch wenn der demokratische Rechtsstaat 153 global auf dem Vormarsch zu sein scheint, 1 5 4 existieren moderne Massengesellschaften, die diese Staats- und Regierungsform nicht als erstrebenswert anerkenn e n . 1 5 5 Zudem sind gegenüber formalisierten rechtlichen Lösungen i m demokra151 Das Konzept des Universalismus wird häufig mit der Einebnung kultureller Differenzen oder gar mit der angestrebten Vormachtstellung einer Kultur, d. h. mit Kulturimperialismus, verwechselt. Universalismus als formales Prinzip ist jedoch nur als „kulturübergreifende" (Tönnies) „friedliche Koexistenz von jeweils Anderem" (Schnädelbach) denkbar und nicht zwangsläufig auf den Ausschluss des Anderen gerichtet. Der Vorwurf, dass z. B. Menschenrechte anderen Kulturgebieten fremd seien, ist häufig eine „exkulpatorische Legende" (Weber-Schäfer), sofern er von herrschenden Vertretern der Kulturgebiete erhoben wird, und andererseits arrogante Selbstüberschätzung, sofern er von Vertretern des europäisch-atlantischen Kulturraumes vorgetragen wird. Letztendlich stellt sich der menschenrechtliche Universalismus als schärfste „Negation des Ethnozentrismus" (Bielefeldt) heraus. Vgl. bzgl. der Zitate: Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus, 1995, S. 13. Dort auch zum Allgemeinheitsanspruch des Universalismus; Herbert Schnädelbach, Armes Christentum!, in: Die Zeit vom 20. 7. 2000, 33; Peter Weber-Schäfer, „Eurozentrismus" contra „Universalismus", in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 242; Heiner Bielefeldt, Menschenrechte - universaler Normkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus?, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 256. 152
Wie in jeder wissenschaftlichen Diskussion wird auch in der Universalismusdebatte die Unzweckmäßigkeit der Begriffe geltend gemacht. Gegen die Konzeptionen des Universalismus und des Kulturrelativismus wird der interkulturelle („cross-cultural") Dialog vorgeschlagen, der es ermöglichen soll, Kriterien progressiver und rückschrittlicher Politik zu entwickeln. Vgl.: Boaventura de Sousa Santos, Towards a Multicultural Conception of Human Rights, in: Mike Featherstone/ Scott Lash (Hrsg.), Spaces of Culture, 1999, S. 221. Dieser Ansatz scheint für die Debatte um Menschenrechte durchaus sinnvoll, weil mit dem Terminus „Universalismus" Missverständnisse verbunden sind (siehe Anm. 151 in diesem Kapitel). 153 Vgl. auch: Hans-Martin Pawlowski/Gerd Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996. 154 Vgl. u. a.: Thomas Carothers, The Rule of Law Revival, in: Foreign Affairs 77, 1998, S. 95-106; Norberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, 1998. Außerdem: Rolf Hanisch (Hrsg.), Demokratieexport in die Länder des Südens?, 1996. 155 Lampe erwähnt u. a. die chinesisch-konfuzianische und die moderne islamische Tradition. Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders., Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 18 f., Anm. 12,14. Vgl. zur Rechtsstaatlichkeit in China auch Chenguang, der zwar die chinesische Tradition betont, jedoch nicht in Zweifel zieht, dass Rechtsstaatlichkeit mit dieser Tradition zu vereinbaren ist. Wegen der langen feudalen und patriarchalen Tradition werde die Umset-
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
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tischen Rechtsstaat Alternativen (Fürsorge, Hilfsbereitschaft) vorstellbar, die selbst viele Europäer zu präferieren scheinen. 1 5 6 So wird z. B. unter den kleineren Gemeinwesen häufig die Religion zur politischen Kommunikation genutzt. Folglich zeigen kulturübergreifende Untersuchungen die Abhängigkeit der Rechtfertigung von Herrschaft von Tradition, Sitte und K u l t u r . 1 5 7 Zudem haben historische Analys e n 1 5 8 gezeigt, dass auch ein zeitloser Maßstab für eine einzig legitime und legale Staats- und Rechtsordnung nicht begründet werden kann, da Legitimitätsansprüche und Legalitätsbegründungen nur in der Zeit begriffen werden können. 1 5 9 Folglich ist weder eine kulturübergreifende noch eine immerwährende, „ e n d g ü l t i g e " 1 6 0 , weder eine interpersonal noch eine intertemporal oder eine interlokal einzig legitime Staats- und Rechtsordnung zu begründen. 1 6 1
zung der rule of law noch eine lange Zeit brauchen, so Chenguang. Wang Chenguang, Introduction: An Emerging Legal System, in: Wang Chenguang/Zhang Xianchu (Hrsg.), Introduction to Chinese Law, 1997, S. 14, 26 f. 156 So: Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 28, 1997, S. 308. 157 So schon Smend, der darauf hinweist, dass differierende Werte unterschiedliche „Legitimitäten" entstehen lassen. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 52 sowie 109. Vgl. auch den Sammelband zum Kolloquium deutsch-französischer Rechtsanthropologen: Wilhelm J. G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hrsg.), Legitimation von Herrschaft und Recht, 1994. 158 Sehr ausführlich: Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973; José Llombart, Die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien, 1976; Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat 34, 1995, S. 1-32, zugleich in: Hans-Martin Pawlowski / Gerd Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996, S. 9-32. 159 Die Unlösbarkeit des Begründungsproblems und die Unmöglichkeit einer Letztbegründung ist seit Albert als „Münchhausen-Trilemma" bekannt. Hiervon ist neben der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie auch die Moralphilosophie betroffen. Wenn man für alles eine Begründung verlangt, bleiben letztendlich nur drei Alternativen: infiniter Regress, logischer Zirkel oder Abbruch des Begründungsverfahrens. Vgl.: Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968, 1991, S. 15 ff. Von den meisten Autoren wird deshalb der Abbruch der Begründungsverfahren - allerdings unter genauer Angabe der Gründe - bevorzugt. Damit wird der nicht einlösbare Anspruch einer unfehlbaren Letztbegründung zugunsten einer „fehlbaren Rekonstruktion" normativer Voraussetzungen aufgegeben. Die Begründung dieser Voraussetzungen ist notwendig, denn jede Begründung des demokratischen Rechtsstaates muss sich auf etwas stützen. Vgl.: z. B. zur Rekonstruktion der Diskurstheorie: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 132 ff. Siehe auch Anm. 164 in diesem Kapitel. 160 Bettina Westle, Politische Legitimität, 1989, S. 21. 161 Ungeachtet der Kritik des universalen Anspruchs wird jenseits bestehender Rechtsund Kulturgebiete ein Kernbestand fundamentaler Rechtsgrundsätze von nahezu allen Staaten und Völkern anerkannt. Diese sind in internationalen Verträgen (Charta der Vereinten Nation vom 26. 6. 1945; Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nation vom 10. 12. 1948; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966; Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950) kodifiziert worden oder haben sich im Gewohnheitsrecht herausgebil-
7 Mögelin
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
I I I . Demokratischer Rechtsstaat als Ergebnis kultureller Evolution Geht man davon aus, dass eine für alle Zeiten und Orte gültige Legitimitäts- und Legalitätskonzeption nicht besteht, 1 6 2 hat das nicht zur Folge, dass Legitimität und Legalität lediglich als deskriptive Kategorien weiter existieren können. 1 6 3 Denn es ist zweifelhaft, ob es überhaupt erforderlich ist, einen transkulturellen und transhistorischen Maßstab zu ermitteln, um Herrschaftssysteme wertend zu vergleichen. Gerade aus der Tatsache, dass Legitimität und Legalität Kategorien der Geschichte sind, lässt sich ein Ansatzpunkt für eine kritische Theorie gewinnen. 1 6 4 Die Frage nach der Legitimität und Legalität einer Herrschaftsordnung kann einer begründeten Entscheidung nämlich dann zugeführt werden, wenn man Staats- und Rechtsordnungen als spontane Ordnungen einer „kulturellen E v o l u t i o n " 1 6 5 bzw. als „Ergebnis differenzierter kultureller Wachstumsprozesse" 166 begreift. 1 6 7 Hieraus ist eine Legitimitäts- und Legalitätstheorie „zwischen Instinkt und V e r n u n f t " 1 6 8 zu entwickeln, die notwendig prozessualen, d. h. veränderbaren Charakter hat und
det. Obwohl deren Geltung als internationales Recht nicht deren Erfüllung garantiert, machen sie es zum Beispiel möglich, von einem universellen Menschenrechtsstandard (Unantastbarkeit des Lebens, Folterverbot etc.) auszugehen. Quaritsch spricht von überwiegend anerkannten „Rechtsvorstellungen der Kulturgemeinschaft". Helmut Quaritsch, Legalität, Legitimität, in: Hermann Kunst/Siegfried Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, S. 1227. Vgl. speziell zur Rechtsstaatlichkeit im internationalen Recht: Eberhard Paul Deutsch, An International Rule of Law, 1977; Arthur Watts, The International Rule of Law, in: GYIL 36,1993, S. 15-45. 162 So explizit für Menschenrechte und Demokratie auch: Dirk Berg-Schlosser, Menschenrechte und Demokratie, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 291. 163 So ausdrücklich für den Legitimitätsbegriff: Mario Bunge, Morality is the Basis of Legal and Political Legitimacy, in: Werner Krawietz / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 379 f. Dagegen: Alfred Meyer, Legitimacy of Power in East Central Europe, in: Sylva Sinanian/Istvan Deak/Peter C. Ludz (Hrsg.), Eastern Europe in the 1970s, 1972, S. 55. 164 Insofern ist der Abbruch des Begründungs Verfahrens unter genauer Bezeichnung der Abbruchbedingungen als rationalste Lösung des Münchhausen-Trilemmas nicht erforderlich (siehe hierzu Anm. 159 in diesem Kapitel). Denn es wird nicht mehr angestrebt, eine Letztbegründung der Legitimität und der Legalität zu erreichen, sondern eine kulturspezifische Begründung zu geben. Allerdings könnte auch hierin ein Abbruch des Verfahrens gesehen werden.
Der Ausdruck geht auf Hayek zurück, der ihn für die Entwicklung der Moral und der Ökonomie geprägt hat. Friedrich A. von Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, 1988 (engl.), 1996, S. 54. 166 Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 17 f. 167 Dabei wird freilich unterstellt, dass der geschichtliche Fortschritt rational ist. Vgl. zu diesem methodischen Ansatz: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 40 f. 168 Friedrich A. von Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, 1988 (engl.), 1996, S. 6.
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
99
maßgeblich auf der Auseinandersetzung mit den Gründen der Durchsetzung der geltenden Institutionen beruht. 1 6 9 Zunächst soll die europäisch-atlantische Kulturregion definiert werden (1.). Daran anschließend werden die grundlegenden Folgen und Ergebnisse der dort stattgefundenen Evolution für Legitimität und Legalität des demokratischen Rechtsstaates deutlich gemacht (2.). Diese Darstellung bildet die Grundlage einer i m nächsten Kapitel detailliert zu rekonstruierenden Theorie des demokratischen Rechtsstaates.
1. Die europäisch-atlantische Kulturregion Als Rechts- und K u l t u r r a u m 1 7 0 bietet sich die europäisch-atlantische Kulturr e g i o n 1 7 1 a n . 1 7 2 M i t dem „Rückzug" auf die europäische Moderne und auf einen 169 Wenn es möglich ist, eine evolutionäre Theorie der Legitimität und der Legalität zu entwickeln, dann wäre es auch möglich, andere Legitimitäts- und Legalitätstheorien zu widerlegen, die der bevorzugten Theorie nicht entsprechen. Insbesondere könnte man solche Legitimitäts- und Legalitätskonzeptionen widerlegen, die das Ergebnis menschlichen Schaffens darstellen wollen. Diese konstruierten Theorien (z. B. die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtskonzeption) haben in der Regel das Ziel, ein völlig neues besseres und gerechteres System zu „erschaffen". Sie verkennen dabei die Bedeutung der Tradition für den menschlichen Fortschritt, lassen deshalb die tradierten Vorstellungen außer acht und versuchen, Moral, Recht und Gerechtigkeit allein aus einer Theorie heraus zu schaffen. Konstruierte Theorien können jedoch erst dann widerlegt werden, wenn eine bestimmte Legitimitätsund Legalitätstheorie als Ertrag kultureller Evolution festgestellt werden kann. Hayek nennt die gezielte Planung von Gesellschaften „Konstruktivismus". Diese Art der Gesellschaftskonzeption führt in letzter Konsequenz zur Herrschaft einer „all-wissenden" Elite, die an Piatons Philosophenherrschaft erinnert. Vgl hierzu: Hans Albert, Ist der Sozialismus unvermeidbar?, in: ders., Freiheit und Ordnung, 1986, S. 93 ff.; sowie: ders., Traktat über kritische Vernunft, 1968, 1991, S. 82. 1 70 Der Begriff „Kulturkreis" wurde und wird oft verwendet. Er legt jedoch eine Einheitsvorstellung nahe, die nicht der Realität entspricht. Menschliche Kulturen sind keine monolithischen Blöcke, die sich gegenüber stehen, sondern heterogene, offene, sich gegeneinander beeinflussende Gebilde. Holenstein schlägt deshalb die offeneren Ausdrücke „Kulturgebiete" oder „Kulturregionen" vor. Diesem Vorschlag wird hier gefolgt und durch den Begriff „Kulturraum" erweitert. Vgl.: Elmar Holenstein, Wo verlaufen Europas Grenzen?, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 49 f. 171
Vgl hierzu insgesamt: Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. Siehe außerdem zu einzelnen Inhalten der europäischen Rechtskultur im Vergleich zu nationalen Kulturen: Christian Tomuschat/Hein Kötz/Bernd von Maydell (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskulturen, 1995. Siehe zum Vergleich der europäischen und anderer Rechtskulturen: Csaba Varga (Hrsg.), Comparative Legal Cultures, 1992. 1 72 Das wiederum bedeutet nicht, dass es sich hier nicht um eine universelle Tradition handeln kann. Es wird nur angenommen, dass es zumindest ein europäisch-atlantisches Erbe ist. Es gibt einige Hinweise, die belegen, dass der sog. „Westen" kein exklusives Anrecht auf das hier beschriebene Erbe hat. Der interkulturelle Kulturvergleich steht wissenschaftlich am Anfang und soll nicht Ziel dieser Untersuchung sein. Die vorgenommene Einschränkung ist folglich in erste Linie eine methodische Beschränkung. Vgl. z. B. für „außerwestliche" Ansätze von Menschenrechtsdenken: Heiner Bielefelds Menschenrechte - universaler Normkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus?, in: Manfred Brocker/ Heino Heinrich 7*
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
„gemeineuropäisch/atlantischen" 173 Rechtskulturstandard 174 kann der Vorwurf des Ethnozentrismus entkräftet werden, da die Staaten Mittel- und Osteuropas in dieses Kulturgebiet einzubeziehen sind, 175 auch wenn zum Teil von „westlicher" 1 7 6 bzw. „westeuropäisch-atlantischer" 177 Tradition gesprochen wird. 1 7 8 Neben Europa 179 sind Nord- und einige Teile Südamerikas, Australien und einige Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 262 ff. Zur weltweiten „Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft" der Rechtsstaatlichkeit siehe: Peter Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, in: François Paychère (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht am Ende des 20. Jahrhunderts, 1995, S. 133; sowie u. a.: Teh-Koan Liu, Traditional Chinese Legal Thought and the Development of the Rule of Law in Taiwan, in: Peter Sack /Carl P. Wellmann/Mitsukuni Yasaki (Hrsg.), Monismus oder Pluralismus der Rechtskulturen?, 1991, S. 125-134. Albert dagegen optiert für einen europäischen „Sonderweg" bei der Zähmung politischer Macht. Hans Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung, 1986, S. 17 ff. 173 Peter Häberle, Dokumentation von Verfassungsentwürfen und Verfassungen ehemals sozialistischer Staaten in (Süd)Osteuropa und Asien, in: JöR 43, 1995, S. 109. 174 Vgl. zum Begriff: Georg Mohr, Zum Begriff der Rechtskultur, in: Werner Goldschmidt (Hrsg.), Kulturen des Rechts, 1998, S. 9-29. 17 5 Und nur die mittel- und osteuropäischen Staaten und Russland bilden den Gegenstand der Untersuchung. Siehe zu den kulturellen Grenzen: Elmar Holenstein, Wo verlaufen Europas Grenzen?, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 54. 176 Vgl. u. a. „Bildung der westlichen Rechtstradition": Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995; „Herrschaftsweise Westeuropas": Wilhelm Hennis , Legitimität, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, 1976, S. 20. „Verfassungsstaat westlicher Prägung": Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg /Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 14. 177 Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 260. 178 Hier wird auf die tradierte Bezeichnung „westlich" verzichtet und dagegen von „europäisch-atlantischer" Tradition gesprochen. Beide Termini haben neben der kulturellen eine stark geografische Konnotation, die nicht außer acht gelassen werden kann. Der Begriff „westlich" verursacht den Anschein, sich lediglich auf die westeuropäische (französische, englische, u. U. deutsche) Tradition zu beziehen. Jedoch ist der Rechtskulturkreis, auf den sich die meisten Autoren beziehen und auf den auch hier Bezug genommen wird, geografisch viel weiter zu fassen. Der Begriff „europäisch-atlantisch" wird der geografischen Konnotation besser gerecht, da er das zentrale und östliche Europa sowie den amerikanischen Kontinent mitumfasst. Auch wenn zu konstatieren ist, dass die in Betracht gezogenen Rechts- und Staatstraditionen nicht immer einheitlich sind, ändert sich bei veränderter Begrifflichkeit am semantischen Gehalt bezüglich der in Betracht gezogenen Traditionen nichts. Der „Westen" könnte ebenso besser durch den Ausdruck „Okzident" ersetzt werden. Im Gegensatz zum Orient gehören hierzu die Völker, die das Erbe der antiken Griechen und Römer angetreten haben. So: Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995 16. Obwohl insgesamt skeptisch bezüglich eines europäischen Kulturgebietes so auch: Elmar Holenstein, Wo verlaufen Europas Grenzen?, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 59. 179 Vgl. zum Begriff „Europa": Elmar Holenstein, Wo verlaufen Europas Grenzen?, in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 46-68.
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
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andere Teile der Welt zum europäisch-atlantischen Kulturraum zu zählen. 1 8 0 Was die Staats- und Rechtstradition betrifft, liegen die Ursprünge des modernen Verständnisses i m 11. und 12. Jahrhundert, 181 in einer Zeit also, in der Russland „okzidentalisiert" 1 8 2 wurde. Auch wenn in Russland 1 8 3 die Säkularisierungstendenzen 184 deutlich später als i m übrigen Europa einsetzten, 1 8 5 hat Russland seit dem 19. Jahrhundert wieder Anschluss an das europäisch-atlantische Rechtssystem gefunden. 1 8 6 Ihren zögerlichen normativen Niederschlag fanden die Ideen des liberalen Rechtsstaates i m Oktobermanifest des Zaren von 1 9 0 5 1 8 7 und in der ersten Verfassung Russlands von 1906. 1 8 8 Allerdings muss bereits den Justizreformen von 1 7 7 5 1 8 9 und 1 8 6 4 1 9 0 eine 180 So auch: Peter Weber-Schäfer, „Eurozentrismus" contra „Universalismus", in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus, 1997, S. 241.
181 Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 190ff.\ 182 Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 17. 1 83 Die Frage, ob und inwiefern Russland zum übrigen Europa gehört, ist eine „heiß umkämpfte" (Geyer) Frage nicht nur in den Geschichtswissenschaften. Nicht wenige Autoren schreiben Russland einen eigenem Kulturkreis zu. Das mag mit Rücksicht auf die analysierte „Kultur" (die verschieden sein kann) seine Berechtigung haben. Jedoch geht es zu weit, wenn man, wie Voegelin - mit Bezug auf Napoleon - behauptet, es gäbe nur „zwei Nationen auf der Welt: Rußland und den Westen". Kritisch zur Einbindung Russlands in die europäischatlantische Staats- und Rechtstradition auch folgende Autoren: Richard Pipes, Unterschiedliche Wurzeln, in: Europäische Rundschau 27, 1999, S. 57; Michael Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, 1991 u. a. Vgl. zu den Zitaten: Dietrich Geyer, Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, 1996, S. 54. Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, 1991, S. 170. 184
Hierzu: Hasso Hofmann, Von den Ursprüngen deutschen Rechtsstaatsdenkens in der nachchristlichen Sozialphilosophie, in: JuS 24, 1984, S. 9-14. i g 5 Die Trennung war schlicht nicht notwendig, denn in Russland kam den Würdenträgern der kirchlichen Welt zu keiner Zeit die Stellung von souveränen Herrschern zu. Vgl.: Viktor Leontovitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, 1957, S. 2. iS6 Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 821. Vgl. zur Rechtsstaatlichkeit in Russland auch: Hiroshi Oda, The Emergence of Pravovoe Gosudarstvo {Rechtsstaat) in Russia, in: RCEEL 25, 1999, S. 381 ff. Siehe zur vorrevolutionären Rechtstheorie: W.E. Butler (Hrsg.), Russian Legal Theory, 1996, S. 3 ff. 187 Das am 17. 10. 1905 von Zar Nikolaus II. (1868-1918) erlassene sog. Oktobermanifest versprach den Bürgern bürgerliche Freiheiten und die Schaffung eines an der Gesetzgebung beteiligten Parlaments (Duma). Siehe zur deutschen Übersetzung des Manifests: Peter Scheiben, Die russischen politischen Parteien von 1905 bis 1917, 1972, S. 29 f. Mit der Einberufung der Staatsduma bekam Russland (nach Einführung der Judikative 1775) eine gesetzgebende Gewalt. Beide Gewalten stellten aber kein wirkliches Gegengewicht zu absoluten Macht der Monarchie dar. Dass es dem Zaren mit der Umwandlung Russlands in einen Rechtsstaat nicht ernst war, weist Weber nach. Vgl.: Max Weber, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, 1906, in: Gesamtausgabe, Band 10, 1989, S. 305. 188 Die Verfassung (Staatsgrundgesetze) wurde am 23. 4. 1906 vom Zaren verabschiedet (oktroyiert). Die kontroverse Diskussion von Wissenschaftlern der unterschiedlichen Disziplinen zu der Frage, ob Russland mit der Verfassung von 1906 ein modemer Verfassungsstaat geworden ist, nahm ihren Anfang mit der Formulierung Webers vom „Scheinkonstitutionalismus" in Russland. Max Weber, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, 1906, in:
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
rechtsstaatliche, insbesondere gewaltentrennende Tendenz zugesprochen werd e n . 1 9 1 M i t diesen Reformen manifestierte sich die „Europäisierung" 1 9 2 Russlands nicht nur i m Staatsrecht, sondern auch i m Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht. 193 Z u jener Zeit betrachtete sich Russland in rechtsstaatlicher Hinsicht den westlichen Staaten durchaus ebenbürtig. 1 9 4 Gegenläufige Tendenzen kennt jedes Rechtssystem, so auch das russische. Die Herausbildung liberaler Traditionen in Russland ist in Umfang, Phänomenologie und Wirkung umstritten. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass Russland eine liberale Bewegung hervorbrachte, 195 die auch Gesamtausgabe, Band 10, 1989, S. 293 ff. Siehe zum Stand der Diskussion: Manfred Hagen, Das politische System Rußlands vor 1914, JGO, 1982, S. 190 ff. Ein Verfassungsentwurf, an dem Kokoskin und Kotljarevskij führend beteiligt waren, wurde von Giwago als Grundlage für einen neu zu schaffenden „russischen Rechtsstaat" betrachtet. S. J. Giwago /Max Weber, Zur Beurteilung der gegenwärtigen politischen Entwicklung Rußlands. Loi fondamentale de 1'Empire Russe, in: ArchSWSP 22, 1906, S. 232. 189 Die Judikative wird 1775 als eigenständige (nicht unabhängige) staatliche Gewalt eingeführt. Bis zum Jahr 1775 wurde die Rechtsprechung von Verwaltungsbeamten ausgeübt, denen ebenso administrative Aufgaben zugewiesen waren. Selbst nach der Reform waren die Richter korrupt und wenig effizient. Siehe hierzu: Peter H. Solomon, Jr., Courts and Their Reform in Russian History, in: Peter H. Solomon, Jr. (Hrsg.), Reforming Justice in Russia, 1864-1996, 1997, S.6f. 190 Erstmals war die Möglichkeit geschaffen worden, dass Richter unabhängig in öffentlichen Verfahren entscheiden sowie die Macht der Exekutive limitieren können. Der Zugang zu den Gerichten war allen Bürgern gewährt. Peter H. Solomon, Jr., Courts and Their Reform in Russian History, in: Peter H. Solomon, Jr. (Hrsg.), Reforming Justice in Russia, 18641996, 1997, S. 7 ff. Vgl. zum Zustandekommen der Justizreform von 1864: Richard S. Wortman, The Development of Russian Legal Consciousness, 1976, S. 243 ff. 191 Als Anfänge der Verwirklichung rechtsstaatlicher Elemente muss die Verwaltungsreform von Peter I., dem Großen, (1672-1725) betrachtet werden. Zur Beurteilung der Verwirklichung von Gesetzlichkeit der Verwaltung, Gewaltentrennung und Kontrolle der Verwaltung im 19. Jahrhundert siehe bei: Hans Joachim Torke, Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1967, S. 288 ff. Vgl. zur Justiz im Zarenreich auch: Jörg Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996. 192 Werner Markert, Osteuropa und die abendländische Welt, 1966, S. 39, 44, 64 f. * 93 Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 821. 194 Dieser Auffassung waren zumindest einige Verantwortungsträger und Staatstheoretiker. Siehe hierzu: Hans-Joachim Torke, Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1967, S. 288 f. 195 Vgl. hierzu: Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987; Max Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, 1906, in: Gesamtausgabe, Band 10, 1989, S. 88 ff. Mit zu den ersten Ausbrüchen liberalen Denkens kann der Aufstand der Dekabristen (dt. Dezembermänner) am 26. 12. 1825 gelten. Die Dekabristen rekrutierten sich aus dem Adel und dem Offizierskorps und waren von westlichen liberalen Ideen beeinflusst, konnten jedoch nicht breite Völksmassen um sich versammeln. Ferner lassen sich liberale Traditionen anhand von vor der Oktoberrevolution 1917 agierenden politischen Parteien nachweisen, wozu auch die Sozialdemokratie gehörte. Hierzu: Peter Scheiben, Die russischen politischen Parteien von 1905 bis 1917, 1972; sowie: Heinz Timmermann, Revolution und Gegenbewegung. Aspekte von Machtbehauptung und Opposition im Kommunismus, Bericht des BlOst 6, 1998, S. 10; außerdem zum Ganzen: Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905-1921, 1989, S. 42 ff. m. w. N.; sowie: George Fischer, Russian Liberalism,
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103
auf rechts wissenschaftliches Gebiet vordrang. 1 9 6 Die russische liberale Bewegung unterschied sich in ihrer Zielvorstellung nicht von den Bewegungen in Westeuropa. Ihnen war einerseits die Kritik an absoluten Herrschaftsstrukturen gemeinsam. Andererseits verfolgte sie die Absicht, die staatliche Macht durch Gewaltenteilung auf den Schutz kodifizierter Grundrechte zu verpflichten. Wie auch in Westeuropa kam der Idee des Rechtsstaates i m Theoriegebäude des Liberalismus eine besondere Rolle z u . 1 9 7 Problematisch ist dagegen, inwieweit sich diese Tendenzen als Tradition verfestigt haben und welchen Anteil die Rezeption an der Genese des russischen Liberalismus hatte. 1 9 8 Russland erfüllte zu keinem Zeitpunkt auch nur die formalen Kriterien eines Rechtsstaates, 199 sodass das Wissen keine Anwendung in der Praxis f a n d 2 0 0 und der Staat von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie O/Y} „nur gestreift" worden ist. Jedoch bewegte sich Russland am Anfang des Jahrhunderts, wie so viele andere Staaten des europäisch-atlantischen Rechtskulturgebietes in die Richtung eines demokratischen Rechtsstaates. 203 Die Ursachen für die fehlende Durchsetzung sind vielseitig. 2 0 4 Sie dürften vor allem mit der rückständigen ökonomischen Entwicklung und der mangelnden Entwicklung von Privateigentum in Zusammenhang stehen. 2 0 5 Als weiterer Grund für die geringe 1958. Zur russischen Geistesgeschichte insgesamt siehe: Andrzej Walicki, A History of Russian Thought, 1973 (poln.), 1979; Nikolay Berdjaev, Die russische Idee, 1946 (russ.), 1983. 196 Als Beleg lassen sich nach Walicki u. a. folgende Autoren nennen: B. N. Tschitcherin (Chicherin), B. Kistiakovskii (Kistiakovsky), V. M. Gessen (Hessen), sowie von der Führung der Kadettenpartei: V. Maklakov; V. D. Nabokov ; außerdem der Herausgeber der juristischen Wochenschrift „Pravo": N. I. Lazarevskij (zusammen mit V. M. Hessen). Weiterhin sind zu nennen: S. A. Korff; S. A. Kotljarevskij. Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987. Vgl. hierzu auch: Michael Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, 1991; Gianmaria Ajani, The Rise and Fall of Law-Based State in the Experience of Russian Legal Scholarship, in: Donald D. Barry (Hrsg.), Toward the „Rule of Law" in Russia?, 1992, S. 3-21. Zu den Anfängen siehe bei: Nikolaj N. Alexeiev , Beiträge zur Geschichte des russischen Absolutismus im 18. Jahrhundert, 1958, S. 62 ff. 197
Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987, S. 366. Für einen hohen Rezeptionsanteil: Victor Leontovitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, 1957, S. 2; eher dagegen: Peter Scheiben, Über den Liberalismus in Rußland, JGO, 1959, S. 34 ff. 199 Siehe zu den Kriterien des formalen Rechtsstaates: Kapitel 1, Abschnitt E., Unterabschnitt I. 200 Siehe: Michael Silnizki, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, 1991, S. 16. 201 Otto Luchterhandt, „Rechtsstaat Rußland". Beachtliche Fortschritte - schwere Defizite - ungünstige Perspektiven, in: Internationale Politik 53,1998, Nr. 10, S. 12. 202 Oda spricht von der Rechtsstaatlichkeit in „embryonaler Form" („embryonic form"). Siehe: Hiroshi Oda, The Emergence of Pravovoe Gosudarstvo (Rechtsstaat) in Russia, in: RCEEL 25, 1999, S. 374. 198
203
Vgl.: Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987, S. 103. 204 Vgl. z u den Gründen: Chris Mögelin, Ursprünge rechtsstaatlichen Denkens in den mittel- und osteuropäischen Staaten am Beispiel Rußlands, FIT-Arbeitsberichte 9, 1999, S. 5 ff. 205
In Russland hat eine mit Westeuropa vergleichbare Entwicklung des Eigentums bis zur Stolypinschen Agrarreform 1906 nicht stattgefunden. Die zögerlichen Veränderungen mit
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2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
Durchsetzungskraft rechtsstaatlicher Ideen wird häufig die Missachtung des Rechts durch weite Teile der russischen Gesellschaft genannt. So sei der spezifische Wert des Rechts für den Schutz liberaler Freiheitsrechte von der russischen Intelligenzija nicht wahrgenommen worden. 206 Der Begriff des Rechtsnihilismus fungiert als Sammelbecken für die unterschiedlichsten, dem Recht gegenüber kritisch eingestellten Strömungen. Obwohl häufig westliche Einflüsse zu den entsprechenden Argumentationen geführt haben, 207 gilt der russische Rechtsnihilismus stereotyp als etwas Besonderes. Insgesamt bleibt ein Defizit auf der Seite der Implementierung der europäisch-atlantischen Tradition in Russland zu konstatieren. Das heißt aber gleichzeitig, dass Russland nicht außerhalb dieser Entwicklung stand bzw. steht und, bei aller Eigenständigkeit, an dem europäisch-atlantischen Erbe teilhat, freilich ohne in diesem Erbe aufzugehen. 208 Die anderen Staaten Mittel- und Osteuropas gehören ebenfalls zur europäischatlantischen Staats- und Rechtskulturtradition, d. h. insbesondere zur Rechtsstaatsidee. 209 Die östlichen Länder Mitteleuropas haben das europäisch-atlantische Rechtskulturerbe in mancher Hinsicht erheblich mitbestimmt. So hat nicht Frankreich die erste geschlossen konzipierte und geschriebene Verfassung geschaffen, sondern Polen am 3.5. 1791. 210 Das zeigen außerdem recht deutlich die Vörkriegstraditionen, denn eine genuin westeuropäische Entwicklung lässt sich erst seit der europäischen Teilung im Jahre 1945 ausmachen. Zudem suchen fast alle ehemader Agrarreform wurden mit Beginn des 1. Weltkrieges unterbrochen und endeten mit der Oktoberrevolution. Hierzu: Harry T. Willets, Die russische Agrarfrage nach der Bauernreform, in: Dietrich Geyer (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, 1975, S. 181 ff. 206 Vielzitierter Beleg hierfür ist ein kritischer Aufsatz Kistiakovskiis aus dem Jahre 1909, in dem er sich mit der rechtsfeindlichen Haltung in Russland auseinandersetzt. Bogdan Kistyakovsky, In the Defense of Law: The Intelligenzija and Legal Consciousness, 1909, in: Boris Shragin/Alfred Todd (Hrsg.), Landmarks: A Collection of Essays on The Russian Intelligentsia - 1909, 1977, S. 112-137. Der folgenreiche Aufsatz ist immer wieder auf heftige Kritik gestoßen. Siehe hierzu u. a.: Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987, S. 389 ff. Dessen ungeachtet wird der Aufsatz auch heute noch als legitimer Beleg für die rechtsfeindliche Haltung der russischen Intelligentsia herangezogen. Vgl.: Alexander M. Yakovlev, The Rule-of-Law Ideal and Russian Reality, in: Stanislaw Frankowski/Paul B. Stephan III (Hrsg.), Legal Reform in Post-Communist Europe. The View from Within, 1995, S. 9, 15. 207
Walicki gibt hierfür zahlreiche Belege, so z. B. der Einfluss der deutschen konservativen Romantik des 19. Jahrhundert. Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, 1987, S. 36. 208 Vgl.: Dietrich Geyer, Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, 1996, S. 60. 209 Vgl. ausfühlich: Klaus-Jürgen Kuss, Rechtsstaatliche Wurzeln in den osteuropäischen Staaten, in: JöR N.F. 34, 1985, S. 589-658. Außerdem: Heinz Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 223. 210 Vgl. hierzu: Samuel Fiszman (Hrsg.), Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland. The Constitution of 3 May 1791.
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
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ligen sozialistischen Staaten nach dem politischen Umbruch unter Berücksichtigung eigener Traditionen Anschluss an die westeuropäische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg.
2. Gründe und Folgen der kulturellen Evolution Im europäisch-atlantischen Kulturraum gelten die Eroberung und der Erhalt von Macht als politisch-anthropologische Grundkonstante. Der politisch handelnde Mensch wird als grundsätzlich „böse" 211 angesehen. Zu seinem Eigennutz will er entweder einen Bürgerkrieg entfachen oder eine Tyrannenherrschaft etablieren. 212 Anarchie und Diktatur sind deshalb die beiden Gefahren, auf die überzeugende Antworten gesucht werden. Diese aus den Erfahrungen gesammelten Erkenntnisse bilden als schwache Bedingungen die Grundlage einer Staats- und Rechtsphilosophie der Moderne. Ausgangspunkt der europäisch-atlantischen Theorie über das Gemeinwesen ist die Einsicht, dass politische Macht Zähmung und Bändigung erfordert. 213 Die Machtbeschränkung soll auf der Grundlage von Ideen der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung sowie durch das positive gesetzte Recht verwirklicht werden. Für den europäisch-atlantischen Kulturraum ist die individuelle Freiheit des Menschen konstitutiv. 214 Individualität, 215 Freiheit und Selbstbestimmung bilden den „anthropologischen Bezugspunkt" 216 positiver und überpositiver Rechtsgrundsätze. Die „Arbeit der Jahrhunderte" 217 hat einen festen Bestand an individuellen 211 Diese Annahme ist weit entfernt von Misanthropie. Sie reflektiert lediglich Erfahrungen über Menschen und Macht. Zudem kann die Annahme als relativ schwache Bedingung für eine etwaige Rekonstruktion eines „Gesellschaftsvertrages" im Urzustand verstanden werden. Vgl. beispielhaft zu diesen schwachen Bedingungen: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971 (engl), 1994, S. 141 ff. 2 2
1
213
Vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 106 ff.
„Es ist eine ewige Erfahrung, daß jeder der Macht hat, ihrem Mißbrauch geneigt ist: er geht soweit, bis er auf Schranken stößt" (Montesquieu). „Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely " (Acton). Vgl. zu den Zitaten: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. 1. Band, 1748, 1992, 11. Buch, Kapitel 4, S. 213; John Emerich Edward Dalberg-Acton (Lord J. Acton), Essay on Freedom and Power, 1887, 1949, S. 364. 214 Vgl. u. a.: Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 1; Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39, 1984, S. 68. 215 Vgl. die Aufzählung der Vertreter des normativen Individualismus (von Hobbes bis Rawls) bei: Dietmar von der Pfordten, Normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus in der Politischen Philosophie der Neuzeit, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 54, 2000, S. 506 f. 216 Christian Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Christian Starck/Wilfried Berg/Bodo Pieroth (Hrsg.), Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 15. 217 Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, 1945, in: Gesamtausgabe, Band 3, 1990, S. 79.
2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
106
Menschenrechten herausgearbeitet, die Antworten auf „exemplarische Unrechtserfahrungen" 218 der Menschheit geben. 219 Neben der individuellen Selbstbestimmung stellt demokratische Herrschaftsausübung aufgrund kollektiver Selbstbestimmung ein wesentliches Charakteristikum für Staat und Verfassung dar. 220 Ein „Kanon von Inhalts- und Verfahrensregeln" 221, bei dem die verfassunggebende Gewalt vom Volk auszugehen hat, verbindet den europäischen Kontinent nicht nur mit Nordamerika. Demokratische Legitimität ergibt sich, wenn die staatliche Willensbildung auf den Willen der Mehrheit der Herrschaftsunterworfenen zurückgeführt werden kann. Individuelle und kollektive Selbstbestimmung werden im demokratischen Rechtsstaat durch einen Kompromiss in Einklang gebracht, der „so viel Kollektivität wie nötig" und „so viel Individualität wie möglich" 2 2 2 verlangt. Auch bezüglich der Legalität lohnt sich der Rekurs auf die europäisch-atlantische Kulturtradition. 223 Der Kampf von kirchlichen und weltlichen Mächten zu Beginn des zweiten Jahrtausends erwies sich in vielerlei Hinsicht als Basis für die Verwirklichung eines vom Recht beherrschten Staates - eines „Rechts-Staates".224 Beide Mächte akzeptierten, dass friedliches und sicheres Zusammenleben nur möglich ist, wenn sie die Herrschaft des Rechts 225 anerkannten. Als Beginn kodifizierter europäisch-atlantischer Rechtsstaatstradition kann man die Magna Charta von 1215 bezeichnen, mit der der Prozess der Zügelung politi218 Winfried Brugger, Stufen der Begründung von Menschenrechten, in: Der Staat 31, 1992, S. 21. 219 Es scheint fast überflüssig zu erwähnen, dass die Durchsetzung von Menschenrechten auch in westlichen Staaten ein geschichtlicher Prozess ist (vgl. u. a. die sukzessive Abschaffung der Rassendiskriminierung, die Entwicklung des Frauenwahlrechts sowie den Schutz von Minderheitenrechten). Außerdem läuft die Entwicklung von subjektiven Rechte nicht geradlinig auf eine Zunahme dieser Rechte hinaus (siehe z. B. die Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden). 220 Hierfür ist der Begriff „demokratische Verfassungslegitimität" geprägt worden. Siehe: Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 260. 221 Peter Häberle, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, in: AÖR 112, 1987, S. 57. 222 Michael Baurmann, Zehn Thesen zum Verhältnis von Normanerkennung, Legitimität und Legalität, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 1: Legitimationen, 1998, S. 427. 223 Siehe zu Dokumenten der europäisch-atlantischen Rechtsstaatsgeschichte: Jürgen Brand/Hans Hattenhauer (Hrsg.), Der Europäische Rechtsstaat. 200 Zeugnisse seiner Geschichte, 1994. Zur Definition des Begriffs der Rechtstradition: Péter Paczolay, Constitutional and Legal Change during the Transition from Socialism to Democracy in Hungary, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 274 f. Außerdem: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Horst Ehmke/Carlo Schmid/Hans Scharoun (Hrsg.), Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, S. 53-76. 22
* Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 468.
225
Selbstverständlich „herrschen" die Normen nicht, da Herrschaft allein von Personen ausgeübt werden kann und Normen durch die Herrschenden zur Geltung gebracht werden. Vgl. auch: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 123.
C. Legitimität und Legalität als Wertungsmaßstab
107
scher Macht begann. Diese Urkunde garantierte Kirche und Adel gegenüber der weltlichen Macht des Königs zahlreiche bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte. In ähnlicher Weise regelte 1222 die ungarische Goldene Bulle das Verhältnis von Krone und „Freien". 226 In Deutschland startete der rechtsstaatliche Prozess später. Ausgangspunkt bilden Landfrieden und Reichskammergerichtsordnung aus dem Jahre 1495. Der Streit um Interessen soll nicht mehr durch Befehden, Bekriegen oder Berauben beendet, sondern in rechtlichen Formen ausgetragen werden, so wurde der Streit zum Rechtsstreit. Der Staat ist Garant des Friedens indem er Frieden verlangt und Frieden gewährt. 227 Unschwer lässt sich hier die Rechtssicherheit als ein ganz wesentliches Element des Rechtsstaates wiedererkennen. Weiterhin wird der Augsburger Religionsfrieden von 1555 als Ausgangspunkt deutscher rechtsstaatlicher Tradition genannt. Der Vertrag sicherte den zwei Konfessionen in einem (!) Reich die Daseinsberechtigung zu - eine Innovation in der europäisch-atlantischen Tradition. Ferner erweiterte die Vereinbarung die Rechtsschutzmöglichkeiten. Seit diesem Zeitpunkt mussten die Herrschenden versuchen, ihre Absichten systematisch durch Rechtsinstitutionen durchzusetzen. 228 Folglich sind die Grundsätze der Legalität und der Rechtsstaatlichkeit229 (bzw. der rule of law 230) in der Geschichte des modernen europäisch-atlantischen Staates fest verwurzelt und bilden deshalb das Fundament „juristischer Modernität" 231 . Der in dieser „Fortschrittsgeschichte" 232 entwickelte Rechtsbegriff ist Ergebnis einer „menschlichen Kulturleistung" 233 und beruht maßgeblich auf Unrechtserfahrungen. Selbst die 226 Siehe hierzu: Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 470 f. 227 Vgl.: Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 993. 228 Daher entwickelte sich neben einem geistig-moralischen ein pragmatisch-politisches Bedürfnis nach eigenständigen und rationalen Rechtssystemen. Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 791. 229 Gemeinhin wird Mohl als derjenige genannt, der den Terminus „Rechtsstaat" in die Staatsrechtswissenschaft einführt. Andere Autoren nennen Mohl in einem Atemzug mit Welcker und von Aretin als diejenigen, die „Rechtsstaat" als eigenständigen Begriff zuerst verwenden. Siehe u. a. hierzu: Robert von Mohl, Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. Band 1, 1832, S. 6; Karl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, 1964, S. 25; Joh. Christ. Freiherrn von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Erster Theil, 1824, S. 163. 230 MacCormick hat gezeigt, dass Rechtsstaatlichkeit und rule of law ihrem Wesen nach gleich sind. Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39, 1984, S. 6 5 70. 231 Roberto Bergaiii, Das Legalitätsprinzip: Fundament der Moderne, in: Hans Jörg Albrecht u. a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Halbband 2, 1998, S. 1327. 232 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 112. 233 Hans Albert, Erkenntnis und Recht, in: Hans Albert/Niklas Luhmann/Werner Maihofer /Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissen-
108
2. Kap.: Grundlagen für die Begriffsbildung
Herausbildung des kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechtssystems 234 kann die Gemeinsamkeiten der europäisch-atlantischen Rechtsgeschichte nicht verdecken. 235 Bei aller Verschiedenheit besitzen die Rechtssysteme eine gemeinsame Terminologie, gemeinsame Methoden, gemeinsame Grundsätze und Werte. 236 So können aus dem Rechtsbegriff unabhängig vom konkreten Rechtssystem „universal nachweisbare Rationalitätsstrukturen" 237 expliziert werden. 238 In den letzten drei bis vier Jahrhunderten hat sich so im Kampf gegen den Absolutismus eine spezifische Herrschaftsweise herausgebildet, die individuelle Freiheit und Gleichheit schützt und Gerechtigkeit als zivilisatorisches Regulativ akzeptiert. 239 Sie beruht insbesondere auf Gewaltenteilung, Parlamentarismus und anderen demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien, die in der Regel in Verfassungen verankert sind. 240 Das Ergebnis der europäisch-atlantischen Tradition ist eine „Kulturleistung" 241 „par excellence" 242 : der demokratische Rechtsstaat.
D. Zwischenergebnis In diesem Kapitel wurde die These aufgestellt, dass der demokratische Rechtsstaat die Merkmale der Legalität und der Legitimität besitzt, der Unrechtsstaat dagegen nicht. Die Definition der Begriffe der Legitimität und der Legalität haben den Rahmen dafür geschaffen, diese Thesen in den nächsten Kapiteln zu begrünschaft, 1972, S. 87. Vgl. zum Rechtsbegriff als Kulturbegriff auch: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, in: Gesamtausgabe, Band 2, 1993, S. 255. 234 Vgl. hierzu: Csaba Varga, Varieties of Law and Rule of Law, in: ARSP 82, 1996, S. 61 -72. 235 Heutzutage lassen sich sogar Tendenzen der Konvergenz ausmachen. Im angloamerikanischen Rechtsraum gewinnt das Gesetzesrecht an Bedeutung, im kontinentaleuropäischen Rechtsraum wird das Richterrecht immer wichtiger. Vgl.: Stefan Grundmann, Methodenpluralismus als Aufgabe, in: RabelsZ 61, 1997, S. 424. Die Einbindung des sozialistischen (insbesondere sowjetischen) Rechts in die europäisch-atlantische Rechtsgeschichte ist nicht zu übersehen. Vgl.: Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 63 f. Zu den Beziehungen des sowjetischen Rechts zum Römischen Recht siehe: John N. Hazard, Communists and Their Law, 1969, S. 81 ff., 522 ff. 236 Vgl.: Harold J Berman, Recht und Revolution, 1983 (engl.), 1995, S. 821. 237 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 112. 238
Zur europäisch-atlantischen Tradition des juristischen Denkens: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 /22, 1980, S. 503 ff. 239 Vgl.: Dietrich Bracher, Demokratie und Ideologie, 1982, S. 24 f. 240 Vgl. zum Ganzen auch: Gerhard Robbers, Der Rechtsstaat und seine ethischen Grundlagen, in: Kirche und Gesellschaft 209, 1994, S. 3-16. 241 Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 1. 242 Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 17.
D. Zwischenergebnis
109
den. In einem weiteren Schritt wurde gezeigt, dass die Staats- und Rechtskonzeption des demokratischen Rechtsstaates als Maßstab für die Kennzeichnung von Unrechtsstaaten und die Analyse und Bewertung sozialistischer Staaten herangezogen werden kann, da der demokratische Rechtsstaat das Ergebnis der Entwicklungen der europäisch-atlantischen Rechtskultur darstellt. Die Analyse der europäisch-atlantischen Staats- und Rechtskulturtradition hat jedoch einen doppelten Effekt. Zum einen wurde begründet, dass es einen Maßstab für den Vergleich von Staats- und Rechtsordnungen gibt und welcher dies ist. Zum anderen wurden durch den Rekurs auf das europäisch-atlantische Erbe die Grundlagen dafür geschaffen, den Maßstab mit einem hinreichend bestimmten Inhalt zu füllen. Die Analyse der Tradition hat nämlich die Grundlagen für die im nächsten Kapitel (Kapitel 3) zu rekonstruierende Staats- und Rechtskonzeption des demokratischen Rechtsstaates geschaffen. Ausgangspunkt der im europäisch-atlantischen Rechtskulturgebiet vollzogenen Entwicklung ist das Bestreben, staatliche Macht zu bändigen. Die Beschränkung staatlicher Macht soll insbesondere durch die Bindung der Ausübung von Herrschaft an das positive Recht, die Gewährleistung individueller Freiheit und die Beteiligung der Herrschaftsunterworfenen an der Herrschaft gewährleistet werden.
3. Kapitel
Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat: das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell Bis zu diesem Zeitpunkt wurde lediglich behauptet, dass sich der demokratische Rechtsstaat durch die Merkmale der Legitimität und der Legalität auszeichnet. In diesem Kapitel wird begründet, wie legitime Herrschaft entsteht und welche Implikationen für die Legalität hiermit verbunden sind. Auf der Grundlage der europäisch-atlantischen Tradition wird ein normatives Sollen entwickelt, das einen kritischen Maßstab für die Bestimmung von Unrechtsstaaten bilden soll. Zudem bildet der demokratische Rechtsstaat das Ziel des politischen Wandels aller Transformationsstaaten. 1 Ergebnis dieser Rekonstruktion von Legitimität und Legalität des demokratischen Rechtsstaates ist eine ideale Theorie, der reale Staaten mehr oder weniger entsprechen.2 Bei aller regionalen und nationalen Verschiedenheit existiert eine einheitliche Theorie des demokratischen Rechtsstaates,3 deren Grundlagen in der europäischatlantischen Staats- und Rechtskultur 4 liegen. Zentrales Leitmotiv dieser zu rekonstruierenden Theorie ist die Begrenzung staatlicher Macht zum Zwecke der Sicherung individueller Freiheit. Die Notwendigkeit der Machtbeschränkung beruht auf der rein pragmatischen Annahme, dass Menschen Macht missbrauchen, sobald ihre Macht nicht beschränkt wird. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass und wie die Beschränkung staatlicher Herrschaft aufgrund der Ideen der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung durch Legitimität und Legalität erfolgt. Die Ausübung staatlicher Herrschaft ist ausschließlich auf der Grundlage des positiven Rechts möglich, dessen Setzung an die Selbstbestimmung des Volkes und an Grundrechte gebunden ist. 1
Siehe zum demokratischen Rechtsstaat als Transformationsziel: Kapitel 5. Durch einen empirischen Vergleich europäisch-atlantischer Rechtsstaaten sind die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse nachweisbar. Siehe hierzu: Rainer Hofmann/Joseph Marko/Franz Merli/Ewald Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996. 3 Vgl. u. a.: Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 2. 4 Siehe zur europäisch-atlantische Staats- und Rechtskultur: Kapitel 2, Abschnitt C. Unterabschnitt III. 2
A. Legitime Herrschaft
111
Zunächst wird der Frage nach der Legitimität von Herrschaft nachgegangen (Abschnitt A.). Daran anschließend werden die Folgen für die Legalität deutlich gemacht (Abschnitt B.). Im dritten Teil werden beide Elemente in einem formalmaterial qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodell zusammengeführt (Abschnitt C). Ergebnis dieser Legitimitäts- und Legalitätsrekonstruktion ist die Rechts- und Staatskonzeption des demokratischen Rechtsstaates.
A. Legitime Herrschaft Die Frage nach der Legitimität von Herrschaft will erklären, warum einigen Menschen die Berechtigung zukommt, verbindliche und verpflichtende Sollensanordnungen gegenüber anderen Menschen zu erlassen.5 Ausgangspunkt für Legitimität von Herrschaft ist die individuelle Freiheit und Gleichheit des Menschen, die für den europäisch-atlantischen Kulturraum konstitutiv ist. 6 Freiheit und Gleichheit gründen sich auf die axiomatische Idee der Selbstbestimmung, die ihre Wurzel im individualistischen Gesellschaftsparadigma der Neuzeit hat. Auf dieser Grundlage und vom Standpunkt einer rationalen Moral 7 ist die Art und Weise der Herrschaftsausübung allein dann legitim, wenn sie im „wohlverstandenen Interesse"8 sowohl der Herrschenden als auch der Herrschaftsunterworfenen, d. h. aller individuell Beteiligten, liegt. Dieser Ausgangspunkt kann als „normativer Individualismus"9 bezeichnet werden. Der normative Individualismus stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Rechtfertigung von staatlicher Herrschaft. In Anbetracht der Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Tradition ist es die vernünftigste Lehre. Der Nachweis der Legitimität von Herrschaft ist folglich anhand von Gründen zu führen, die für alle betroffenen Menschen aus einer unabhängigen und unparteiischen Perspektive - unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Entscheidungskonsequenzen10 - annehmbar sind.11 5
Siehe hierzu: Kapitel 2, Abschnitt B, Unterabschnitt II. Vgl. ausführlich zum europäisch-atlantischen Kulturraum: Kapitel 2, Abschnitt C, Unterabschnitt III. 7 Zu diesem Begriff: Peter Koller, Moralischer Diskurs und politische Legitimation, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992, S. 65 ff., 77 ff. 8 Peter Koller, Moralischer Diskurs und politische Legitimation, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992, S. 77 f. 9 Dietmar von der Pfordten, Normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus in der Politischen Philosophie der Neuzeit, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 54, 2000, S. 500 ff.; Dietmar von der Pfordten, Rechtsethische Rechtfertigung - material oder prozedural?, in: Lorenz Schulz (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, 2000, S. 18 ff. 10 Siehe zu diesem Kriterium der Rationalität: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 40. 6
112
3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Im Folgenden wird begründet, dass die Legitimität von Herrschaft auf drei Gründen beruht. Die Ausübung von Herrschaft ist im modernen Staat allein aufgrund ihrer Bindung an Freiheit und Gleichheit (Unterabschnitt I.), der Garantie von Sicherheit und Verlässlichkeit (Unterabschnitt II.) und demokratischer Entscheidungs- und Rechtfertigungsverfahren (Unterabschnitt III.) gerechtfertigt.
I. Legitimität durch Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit Unter Berücksichtigung der europäisch-atlantischen Kulturtradition wird das wohlverstandene Interesse Aller dann gewahrt, wenn sich Herrschende und Herrschaftsunterworfene als gleiche und freie Menschen anerkennen. Die Gewährleistung gleicher individueller Freiheit liegt im Interesse aller Beteiligten aus mindestens zwei Gründen: 12 einem individuellen und einem gesellschaftlichen Grund. Zunächst ermöglicht die Gewährleistung individueller Freiheit die eigenverantwortliche Lebensplanung. Die negative Freiheit, verstanden als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" 1 3 , wird durch die positive 14 Freiheit ergänzt, die dem Menschen die Freiheit zugesteht zu bestimmen, was Inhalt seines Handelns werden soll. Die individuelle Selbstbestimmung des persönlichen Bereichs kann auch private Autonomie genannt werden. An dieser privaten Autonomie haben alle Beteiligten ein elementares Interesse. Die gegenteilige Annahme hätte nämlich zur Folge, dass einigen Menschen unterstellt wird, ein Interesse an Fremdbestimmung zu haben. Mit dieser Unterstellung wäre es letztendlich möglich, Sklaverei zu rechtfertigen. Diese Konsequenz widerspricht jedoch den Ausgangsthesen des normativen Individualismus, sodass ein individuelles Interesse an Selbstbestimmung anzunehmen ist. Zu diesem individuellen tritt ein gesellschaftlicher Grund zur Begründung individueller Freiheit und Gleichheit. Fortschritt, Entwicklung und Innovationen in der Gesellschaft sind allein dann möglich, wenn es erlaubt ist, abweichende Meinungen zu äußern und an bis dato als „wahr" und „richtig" geltenden Aussagen zu 11 Diese Begründung kommt sowohl dem Rawlsschen Schleier des Nichtwissens als auch dem Habermasschen Diskursprinzip sehr nah: „Gemäß dem Diskursprinzip dürfen genau die Normen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller potentiell Betroffenen finden könnten, sofern diese überhaupt an rationalen Diskursen teilnehmen." Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 161. 12 Zu weiteren Gründen siehe: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 216 ff. 13 Vgl.: Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, in: AA, Band 6, 1907, 1969, Einteilung der Rechtslehre, 237. Siehe zur Entwicklung des Freiheitsbegriffs u. a.: Julian NidaRümelin/Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Ethische und politische Freiheit, 1998. 14 Positive und negative Freiheit bei: Peter Prechtl, Selbstbestimmung, in: Peter Prechtl/ Franz-Peter Burkard (Hrsg.), Metzler-Philosophie-Lexikon, 1996, S. 466 f.
A. Legitime Herrschaft
113
zweifeln. Das gilt sowohl für den politischen als auch für den wissenschaftlichen Bereich. Folglich ist individuelle Freiheit eine wesentliche Bedingung für gesellschaftlichen Fortschritt, Effektivität und Effizienz. Demnach liegt die Gewährleistung von Freiheit i m wohlverstandenen Interesse sowohl von Herrschaftsunterworfenen als auch von Herrschenden. Herrschende haben zwar in der Regel das Ziel, ihre eigene Macht zu sichern, am gesellschaftlichen Niedergang, den die Nichtgewährleistung von Freiheit zur Folge haben würde, können jedoch auch sie kein wohlverstandenes Interesse haben. 1 5 Freiheit und Gleichheit sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Beide material e n 1 6 (inhaltlichen 1 7 ) Elemente sind nie gegeneinander, sondern nur miteinander zu gewähren. 18 Die Idee der Gleichheit verlangt u. a. die Möglichkeit der Einschränkung von Freiheit, da individuelle Freiheit eines Individuums nicht auf Kosten der Freiheit eines anderen Individuum gewährleistet werden kann. Zudem kann individuelle Freiheit zugunsten der Gemeinschaft eingeschränkt werden. 1 9 Absolute Grenze des Eingriffs in die individuelle Freiheit ist die Würde jedes einzelnen Menschen, die ihm kraft seines Menschseins gegeben i s t . 2 0 Hieraus folgt u. a. das Verbot der Ermordung, der Folter, der Sklaverei, der Diskriminierung oder sonstiger Erniedrigung. 2 1 15 Vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 217. 16
So auch, jedoch unter Einbeziehung der Rechtsform, d. h. individuelle Freiheit in Form von Grundrechten: Werner Maihof er, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 20. Ebenfalls so: Georg Geismann, Menschenrecht, Staat und materiale Gerechtigkeit, in: JRE 3, 1995, S. 232. 17 Zu den inhaltlichen Elementen der Legitimität siehe auch: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 118. 18 Kriele spricht von einem logischen Trugschluß, wenn man Freiheit auf Kosten der Gleichheit oder Gleichheit auf Kosten der Freiheit durchsetzen will. Hierzu gibt er zwei überzeugende Beispiele. Der sog. Manchester-Liberalismus des 19. Jahrhunderts gab der Freiheit auf Kosten der Gleichheit den Vorzug. Dies führte zu einer derartigen Verelendung und Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung, die gerade auch die Freiheit der Schwachen und Abhängigen beeinträchtigte. Dagegen hatte der Staatssozialismus das erklärte Ziel, die Gleichheit der Menschen auf Kosten der (bzw. einer höheren) Freiheit durchzusetzen. Die erforderliche rigorose Umverteilung hatte eine starke politische Macht zur Folge, die wiederum zu einem Zweiklassensystem (Parteielite und Bevölkerung) führte. Dieses System ging nicht nur auf Kosten der Freiheit, sondern auch auf Kosten des angestrebten Gleichheitsideals. Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 206 f.
19 Die Einschränkung von Freiheit zugunsten der Gemeinschaft ergibt sich aus zwingenden Notwendigkeiten moderner Massengesellschaften. Außerdem muss es einer Gesellschaft selbst vorbehalten bleiben zu entscheiden, wie weit sie individuelle Freiheitsrechte zugunsten der gesellschaftlichen Mehrheit beschneiden will. Freilich darf individuelle Freiheit als Grundbedingung einer legitimer Herrschaftsordnung nicht angetastet werden. Siehe zur kollektiven Selbstbestimmung in diesem Abschnitt: Unterabschnitt III.; sowie zu Grenzen kollektiver Selbstbestimmung in diesem Kapitel: Abschnitt C. 20 Zur Begründung siehe: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 211 ff. 21 Vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 211. 8 Mögelin
114
3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
II. Legitimität durch Gewährleistung von Sicherheit und Verlässlichkeit Das wohlverstandene Interesse aller Beteiligten verlangt, dass verbindliche Regeln das zwischenmenschliche Verhalten regeln. Diese Regeln sollen sowohl den Herrschenden als auch den Herrschaftsunterworfenen ein Mindestmaß an Sicherheit, Verlässlichkeit und Beständigkeit geben. An dieser Art Sicherheit haben in erster Linie die Herrschaftsunterworfenen ein Interesse. Herrschaft, die im Gegensatz hierzu auf Willkür beruht, ist für die Herrschaftsunterworfenen nicht akzeptabel, da sie ihren Zustand - verglichen mit einem herrschaftslosen Zustand - nicht entscheidend verbessert. Auch hier lassen sich individuelle und gesellschaftliche Gründe anführen. Das Verbot der Willkür lässt die individuelle Führung, Gestaltung und Planung des Lebens zu 2 2 , da die Herrschaftsunterworfenen die Herrschaftsmaßnahmen kennen bzw. kennen können. Auch außerhalb ihres unmittelbaren Freiheitsbereiches sind sie so vor Willkür geschützt, können sich also auf die Herrschaft einstellen und ihren individuellen Präferenzen nachgehen, ohne befürchten zu müssen, dass die Herrschenden ihre einmal akzeptierten und anerkannten Leistungen willkürlich zunichte machen. Einmal Erreichtes bzw. Erworbenes kann nicht willkürlich entwertet werden, ist also geschützt. Gesellschaftliche (insbesondere wirtschaftliche) Kooperation beruht in einem wesentlichen Maße auf Vertrauen in Vergangenheit und in gewissem Umfang auf Vertrauen in Zukünftiges. Niemand hätte großes Interesse an wirtschaftlicher Tätigkeit, wenn er wüsste, dass sein persönliches Eigentum von den Herrschenden konfisziert werden könnte. In anderen gesellschaftlichen Bereichen würde sich zweifellos Ahnliches ereignen, auch wenn nicht alle Beteiligten immer auf der Grundlage rationaler Motive kooperieren, sondern andere Gründe präferieren. Nur wenige Menschen würden sich sozial oder kulturell engagieren, wenn dieses Engagement rückwirkend (u.U. sogar strafrechtlich) sanktioniert werden könnte.23 Jedenfalls würde staatliche Willkür gesellschaftliche Kooperation stark beeinträchtigen. Zudem wird der innere Frieden erhalten, wenn Herrschaft verlässlich und beständig agiert. Freiheit und Gleichheit sowie Sicherheit und Verlässlichkeit sind jedoch nicht hinreichend zur Begründung der Legitimität, denn selbst innerhalb dieses Rahmens ist nicht jede Herrschaft legitim. 24 Deshalb soll nun gezeigt werden, dass demokra22
Siehe: Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 437. Man denke nur an in bestimmten Ländern oder Regionen umstrittenes Engagement für Strafgefange, die von der Todesstrafe bedroht sind, oder Engagement für Selbsthilfegruppen von Menschen, die zu sog. „Randgruppen" gezählt werden. 24 Habermas spricht davon, dass allein „legitim gesetztes Recht" Herrschaft rechtfertigen könne. Diese Annahme bringt ihn zur Notwendigkeit der diskursiven Rechtfertigung des Rechts. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 169. Vgl. zur historischen 23
A. Legitime Herrschaft
115
tische Verfahren der Entscheidung und Begründung erforderlich sind, um die konkrete Ausübung von Herrschaft zu rechfertigen. 25
III. Legitimität durch demokratische Verfahren Das Leben in modernen Massengesellschaften macht es erforderlich, dass verbindliche Entscheidungen für alle Beteiligten getroffen werden. Die Ausübung von Herrschaft liegt sowohl aus Gründen der äußeren und inneren Friedenssicherung als auch aus Gründen der Funktionalität moderner Gesellschaften im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten. Denn eine Gesellschaft ohne verbindliche Regeln würde im Chaos enden.26 Doch wie sollen für alle verbindliche Entscheidungen zustande kommen? Die Entscheidungen müssen sich zumindest den materialen Begrenzungen der Menschenrechte und den Anforderungen der Sicherheit und Verlässlichkeit unterwerfen (siehe oben). Ein Mindestmaß an gleicher Freiheit kann jedoch lediglich den Rahmen für das Zusammenleben von Menschen bilden. Dieser muss durch konkrete Politiken und durch konkrete Rechte und Pflichten ausgefüllt werden. 27 Innerhalb des Rahmens sind verschiedene politische Modelle möglich. 28 Nachfolgend wird begründet, warum allein demokratische Verfahren der Rechtsetzung in der Lage sind, Legitimität zu erzeugen. Es werden Gründe dafür angeführt, dass Verfahren mit Mehrheitsentscheidungen den Vorzug genießen sowohl gegenüber Verfahren der Einstimmigkeit, Verfahren mit Minderheitsentscheidungen als auch gegenüber Alleinentscheidungsverfahren. Die Begründung demokratischer Mehrheitsverfahren beruht im Wesentlichen auf zwei positiven 29 Gründen: kollektive Selbstbestimmung und Vernunft. Veränderung der Legitimitätsfrage von der Rechtfertigungsbedürftigkeit des Herrschers zu der des Gesetzes: Thomas Würtenberger, Legitimität und Gesetz, in: Bernd Rüthers / Klaus Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 538 f. 25 Es wird sich zeigen, dass das Modell des demokratischen Rechtsstaates keine strenge, sondern eine flexible Organisation des Staates ermöglicht (siehe: Kapitel 5, Abschnitt B., Unterabschnitt VI.). Zum Zwecke der Einrichtung solcher nicht durch eine Theorie vorgegebenen materialen und formalen Elemente einer Staatsorganisation, sowie um Politik überhaupt zu ermöglichen, sind Mechanismen für Entscheidungen erforderlich. 26 Siehe zur Rechtfertigung von Herrschaft überhaupt auch: Kapitel 2, Abschnitt B., Unterabschnitt I., 3. 27 Vgl.: Peter Koller, Moralischer Diskurs und politische Legitimation, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992, S. 78. 28 Siehe zur „Flexibilität" des demokratischen Rechtsstaates auch: Zbigniew A. Maciag, Probleme der Anpassung der polnischen Verfassungsordnung an europäische Standards, in: Christian Tomuschat/Hein Kötz/ Bernd von Maydell (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskulturen, 1995, S. 188. 29 Ein gewichtiger Grund zur Begründung des demokratischen Mehrheitsprinzips war schon immer der negative Einwand gewesen, dass es keine bessere Staatsform als die der Demokratie gäbe, obwohl diese „schlecht" (Churchill) sei. Der Einwand wirkt auf den ersten 8*
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Der normative Individualismus geht davon aus, dass sowohl Herrschende als auch Herrschaftsunterworfene ein Interesse und ein Recht auf individuelle Selbstbestimmung haben (siehe oben). Zur Herstellung von verbindlichen gesellschaftlichen Entscheidungen, die in der modernen Massengesellschaft unabdingbar sind, erweisen sich jedoch an individueller Selbstbestimmung ausgerichtete Verfahren als untauglich. Das Recht auf individuelle Selbstbestimmung könnte allenfalls mit Konsensverfahren durchgesetzt werden. Einstimmigkeit wird jedoch in der Regel nicht zu erreichen sein, da Menschen unterschiedliche Interessen und Präferenzen haben. In größeren Gruppen führen Konsensverfahren deshalb regelmäßig zu Blockaden, unangemessenen Vetorechten und nicht selten zur völligen Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit. Für Mehrheitsverfahren sprechen folglich die Schnelligkeit, die niedrigen Entscheidungskosten, die Einfachheit und die Klarheit des Verfahrens. 30 In staatlich organisierten Gesellschaften ist die Idee der Selbstbestimmung deshalb kollektiv zu realisieren. Zur Verwirklichung der kollektiven bzw. politischen 3 1 Selbstbestimmung (auch „öffentliche Autonomie" genannt) bieten sich demnach demokratische Verfahren mit Mehrheitsentscheidungen a n . 3 2 Diese haben außerdem den Vorteil, dass lediglich eine Minderheit von etwaiger unumgänglicher Fremdbestimmung betroffen ist. 3 3 Außerdem kann die Minderheit darauf hoffen, auch einmal zur Mehrheit zu werden, was die Offenheit des ProzesBlick banal. Er kann in der wissenschaftlichen Diskussion dennoch eine Rolle spielen, da eine rationale Begründung immer auch die Argumentationsalternativen zu berücksichtigen hat. Was wäre also - unter Berücksichtigung der materialen und formalen Legitimitätsquellen - die Alternative zu demokratischen Verfahren? Kriele schließt die Elitenherrschaft wegen der drohenden Gewalt aus, die die Herrschaft einer Elite zwangsläufig kennzeichnen würde. Denn in Gesellschaften werden sich zwangsläufig mehrere Gruppen finden, die meinen, kraft ihrer selbst Elite und deshalb zur Herrschaft berufen zu sein. Jedoch existiert kein Kriterium, welche Elite herrschen sollte. Folglich wird sich die mächtigste oder gewalttätigste Elite durchsetzen. Zudem kann die herrschende Elite Frieden und Stabilität nur so lange garantieren, wie es keine Gruppe gibt, die sich ebenso zur Herrschaft berufen fühlt und über entsprechende Machtmittel verfügt. Dieses Friedensargument muss auch für die Alleinherrschaft Geltung finden. Ferner muss bezweifelt werden, dass die materialen Voraussetzungen (d. h. insbesondere Grundrechte) von dieser Herrschaftsform überhaupt gewährleistet werden können, denn - wie zu zeigen sein wird - gehen politische und persönliche Freiheitsrechte eine untrennbare Verbindung ein. Letztlich stellt sich die Frage, ob Demokratie und Rechtsstaat wirklich durch einen internen und deshalb unauflösbaren Zusammenhang verbunden sind. Zu dieser Frage siehe in diesem Kapitel: Abschnitt C. Vgl. zu den Zitaten: Winston S. Churchill, Parliament Bill (Second Reading). A Speech to the House of Commons. 11. 11. 1947, in: ders. /Randolph S. Churchill (Hrsg.), Europe Unite, 1950, S. 200; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 269. 30
Vgl. zu diesem zweckrationalen Aspekt der Begründung des Mehrheitsprinzips: Birgit Falzer-Rollinger, Zur Legitimität von Mehrheitsentscheidungen, 1995, S. 103 ff. 31 So: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 273. 32 Vgl. auch zur Begründung von Mehrheitsentscheidungen: Reinhold Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987. 33 Schon in diesem Aspekt der Begründung kommt der wertrationale Aspekte der Begründung des Mehrheitsprinzips zum Ausdruck. Siehe hierzu: Birgit Palzer-Rollinger, Zur Legitimität von Mehrheitsentscheidungen, 1995, S. 106 ff.
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ses impliziert (siehe unten). Der von Fremdbestimmung betroffene Teil der Bevölkerung kann also berechtigt darauf hoffen, selbst einmal zu Herrschenden zu werden. 34 Diese Aussicht verleiht der zur Zeit bestehenden Herrschaft Legitimität. Den Bürgern wird insbesondere durch Wahlen ermöglicht, Einfluss auf Entscheidungen auszuüben und so ihre Selbstbestimmung kollektiv durchzusetzen, damit sie sich berechtigterweise als „Autoren" 35 ihrer Rechtsordnung fühlen können. Demokratische Verfahren mit Mehrheitsentscheidungen sind im Vergleich zu Entscheidungen von Minderheiten oder einzelnen Autoritäten außerdem durch die größere Vernunft der erzielten Ergebnisse zu rechtfertigen. 36 Grundsätzlich ist niemand in der Lage, die einzig „vernünftige" Entscheidung zu treffen, sofern es diese in einem konkreten Fall überhaupt gibt. Folglich ist das demokratische Verfahren der Rechtsetzung ein ergebnisoffener Prozess,37 der eine „lernfähige" 38 Mehrheit impliziert und durch die Mehrheitsregel einer Entscheidung zugeführt werden kann. Wenn man nun davon ausgeht, dass wahre Argumente gegenüber unwahren Argumenten größere Überzeugungskraft besitzen, dann folgt hieraus, dass Argumente, die die Mehrheit überzeugen, im Großen und Ganzen zu vernünftigeren Ergebnissen führen als jene Argumente, die lediglich eine Minderheit überzeugen können.39 Auch insoweit bietet die Mehrheitsregel nicht nur ein Verfahren der Entscheidung, sondern zugleich ein Verfahren der Rechtfertigung der Entscheidung. Durch die Möglichkeit, Fehlentwicklungen durch Regierungs- und Machtwechsel begegnen zu können, scheinen demokratische Verfahren auf lange Sicht auch effektiver und effizienter als diktatorische Verfahren zu sein. Obwohl diese Begründung demokratischer Verfahren mit Mehrheitsentscheidung zunächst etwas illusorisch anmuten mag, 40 so ist sie doch von der Diskurstheorie 41 bestätigt worden. Die Diskurstheorie kommt nämlich ebenfalls zu dem 34 Dieses Grundprinzip macht natürlich nur dann Sinn, wenn die einmal getroffenen Entscheidungen auch reversibel sind. In Zeiten der Hochtechnologie können jedoch einmal getroffene Entscheidungen nahezu irreversible Folgen zeitigen (Atomenergie, Gentechnologie). Vgl. zusammenfassend zur Kritik am Mehrheitsprinzip und zur Kritik an der Kritik: Birgit Palzer-Rollinger, Zur Legitimität von Mehrheitsentscheidungen, 1995, S. 12 ff., 127 ff. 35 Vgl.: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 156. 36 Verfahren, wie sie hier verstanden werden, sind also Entscheidungsverfahren und zugleich Rechtfertigungsverfahren. Vgl. zu dieser Unterscheidung: Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991, S. 119 ff. 37 Die einzige Ergebnisbeschränkung demokratischer Verfahren betreffen die Voraussetzungen demokratischer Verfahren selbst. Um die Ergebnisoffenheit zu erhalten, muss ein Verbot gelten, demokratische Verfahren abzuschaffen. Vgl. zu dieser Selbstbeschränkung: Stephen Holmes, Verfassungsförmige Vorentscheidungen und das Paradox der Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 162. 38 Vgl.: Stephen Holmes, Verfassungsförmige Vorentscheidungen und das Paradox der Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 162. 3 9 So: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 268. 40 Vgl. u. a. zur Kritik seitens empirisch orientierter Politikwissenschaftler: Seymore Martin Lipset, Political Man, 1960, 1983, S. 183 ff.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Schluss, dass Legitimität demokratisch zustande gekommener Entscheidungen aus den Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahren resultiere, 42 die i m Prozess der Diskussion und Beratung die „fallibilistische" 4 3 Vermutung begründen, dass sich die besseren, vernünftigeren und faireren Argumente durchsetzen werden. 4 4 Das Ziel des Verfahrens ist es, dass „alle relevanten Fragen, Themen und Beiträge zur Sprache k o m m e n " 4 5 und in „pragmatischen, ethischen und moralischen" 4 6 Diskursen verarbeitet werden. 4 7 Gültig seien dann genau die Normen, denen alle Betroffenen i m Rahmen „eines rationalen praktischen Diskurses" 4 8 zustimmen könnten. 4 9 Aus den beiden genannten Gründen (kollektive Selbstbestimmung, Vernünftigkeit der Ergebnisse) lassen sich nun verschiedene institutionelle Bedingungen bestimmen, denen repräsentative 50 demokratische Verfahren zu entsprechen haben. Demnach müssen die Verfahren so ausgestaltet werden, dass das parlamentarische Prinzip (Herrschaft auf Zeit, Wahlen 5 1 , Mehrheitsprinzip, Kontrolle, Reversibilität von Mehrheitsentscheidungen, Minderheitenschutz) und der politische Pluralismus 41 „Die Diskurstheorie des Rechts begreift einerseits den demokratischen Rechtsstaat als die über legitimes Recht laufende ... Institutionalisierung von Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen für eine diskursive Meinungs- und Willensbildung, die wiederum ... legitime Rechtsetzung ermöglicht. Die Kommunikationstheorie der Gesellschaft begreift andererseits das rechtsstaatlich verfaßte politische System als eines unter mehreren Handlungssystemen." Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 527. Vgl. kurz und verständlich hierzu: Wolf gang Kuhlmann, Die Idee des Diskurses und die Idee der Demokratie, in: Holger Burckhart (Hrsg.), Diskurs über Sprache, 1994, S. 83-102. 42 Zu den Diskursregeln im Einzelnen: Robert Alexy, Grundgesetz und Diskurstheorie, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 344f. 43 Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 662. 44
Vgl.: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992,1997, S. 339, 359 ff. 5 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 210. 4 6 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 210 f. 4
47 Vgl. zur Diskursvielfalt und zu etwaigen „Diskurs-Kollisionen": Gunther Teubner, De collisione discursuum. Jürgen Habermas' rechtstheoretische Schrift „Faktizität und Geltung", in: Frankfurter Rundschau vom 11.11. 1992, B2. 48 Robert Alexy, Grundgesetz und Diskurstheorie, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 343. 49
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 138. Auf die Nähe zu Kants Prinzip der gesetzgebenden Gewalt hat Alexy hingewiesen. Robert Alexy, Grundgesetz und Diskurstheorie, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 345. 50 Siehe zu den Gründen für die repräsentative und gegen die unmittelbare Demokratie: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 171 ff. 51 Die Fragen danach, ob Wahlen dem „wirklichen Willen" des Volkes entsprechen oder ob es „den Willen" des Volkes überhaupt gibt, erweisen sich als „sinnlos", da Wahlen in der Demokratie ohne Alternative sind. Vgl.: Gerd Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat Souveränität - Verfassung, 2000, S. 30.
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(Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit, Gewährleistung von Öffentlichkeit) gewährleistet sind. 52 Entscheidungsprozesse müssen offengehalten werden, da neue Argumente und bisher unbekannt gebliebene Tatsachen zutage treten können53 und in die Diskussion einbezogen werden müssen. Diese konkreten Bedingungen können zu drei hinreichenden Merkmalen demokratischer Verfahrenslegitimität verdichtet werden: Es müssen Wahlen stattfinden, die einen Regierungs- und Politikwechsel ermöglichen, d. h. erstens müssen die jeweils Herrschenden abgewählt (retrospektive Wahl) und zweitens neue Herrschende ins Amt gewählt (prospektive Wahl) werden können.54 Die permanente Möglichkeit von öffentlicher Kritik an den derzeit Herrschenden ist dritte notwendige Grundvoraussetzung demokratischer Legitimität.
IV. Teilergebnis Herrschaft wird zur legitimen Herrschaft aufgrund des Zusammenspiels von mehreren Gründen. 55 Die Ausübung von Herrschaft ist aufgrund der Anerkennung von individueller Freiheit und Gleichheit, der Garantie von Sicherheit und Verlässlichkeit (materiale Elemente) sowie demokratischer Entscheidungs- und Rechtfertigungsverfahren (prozedurales Element) gerechtfertigt. Die zwei Elemente tragen den Ideen der individuellen und der kollektiven Selbstbestimmung Rechnung. Folglich ist es vorläufig adäquat, von einem material qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodell zu sprechen. Dieses Modell ist das des demokratischen Rechtsstaates. Es ist aber noch nicht vollständig, da erst eine legale Rechtsordnung die Realbedingungen der Legitimität sichert und zur Legitimität von Herrschaft beiträgt. Die Legalität bringt so das formale Element in die Legitimität ein. Dieses Element soll im Folgenden dargestellt werden.
B. Legale Herrschaft In diesem Abschnitt werden die Folgen der Legitimitätskonzeption für die Legalität dargestellt. Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, welche Gründe dafür sprechen, dass Herrschaft ausgeübt wird und welchen materialen und prozeduralen Beschränkungen sich Herrschaft unterwerfen muss, um als legitime Herrschaft 52 Hierzu auch: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 210 f. 53 Vgl. hierzu: Reinhold Zippelius, Recht und Gesellschaft in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 74 f. 54
Der retrospektive und prospektive Aspekt von Wahlen wird auch als Zustimmungsakt der Herrschaftsunterworfenen und als Verantwortlichkeitsakt der Herrschenden (staatlichen Organe) verstanden. Siehe: Ernst Thomas Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 42. 55 So auch: Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 677.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
betrachtet zu werden. Nachfolgend wird gezeigt, dass die Legitimität eine bestimmte Rechtsordnung verlangt (Legitimitätsimmanenz der Legalität), deren Anforderungen im Folgenden konzipiert werden sollen. Es wird geklärt, welche Rolle das positive Recht bei der Legitimitätsbegründung spielen muss und spielen kann. Zudem wird begründet, warum und in welcher Art und Weise Herrschaft durch das Recht formal beschränkt wird. Zunächst wird begründet, warum Legalität notwendig und in der Form von Rechtsbindung und Rechtsformenzwang das für den demokratischen Rechtsstaat konstitutive Handlungsprinzip ist (Unterabschnitt I.). In einem zweiten Schritt wird erläutert, welche Anforderungen an eine legale Rechtsordnung zu stellen sind (Unterabschnitt II.).
I. Zur Notwendigkeit der Legalität Die Notwendigkeit von Legalität wird in zwei Schritten begründet. Zunächst soll aufgezeigt werden, warum positives Recht überhaupt erforderlich ist. Für die Argumentation werden die drei im vorangegangenen Abschnitt begründeten Legitimitätsgründe herangezogen. Denn sowohl Freiheit und Gleichheit (1.), Sicherheit und Verlässlichkeit (2.) als auch demokratische Verfahren (3.) verlangen nach positiv rechtlicher Ausgestaltung. Hieran anschließend soll gezeigt werden, dass Rechtsbindung und Rechtsformenzwang unabdingbar zur Herstellung von Legitimität ist (4.).
1. Sicherung von Freiheit und Gleichheit durch positives Recht: Grundrechte und Allgemeinheit des Gesetzes Die Transformation von allgemeinen Menschenrechten in Grundrechte, die die private Autonomie schützen, ist aus zwei Gründen erforderlich. Zum einen verleiht positives Recht den individuellen Ansprüchen Durchsetzungskraft und zum anderen macht sie die tatsächliche Realisierung dieser Rechte erst möglich. 56 Einer klassischen Einteilung zufolge sind Leistungsrechte (d. h. positive Ansprüche auf Leistungen des Staates) einerseits und Abwehrrechte (d. h. negative Ansprüche gegen Einmischung des Staates) andererseits zu unterscheiden. Notwendige Voraussetzung der Gewährleistung beider Rechtsarten ist ihre Geltung als subjektive Rechte.57 Erst diese Stellung ermöglicht ihre Durchsetzung durch unabhängige - wiederum rechtlich geregelte - Verfahren. Persönlichen Rechten, die ausschließlich moralische Rechte sind, fehlt die Durchsetzungskraft. Als moralische Rechte 56 Vgl.: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 145. 57 Siehe zum subjektiven Recht in diesem Kapitel: Abschnitt B, Unterabschnitt III.
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haben sie lediglich symbolische Kraft. Zur Gewährleistung von Abwehrrechten ist die Bereitstellung effektiver Verfahren zur Abwehr von Eingriffen der Herrschenden ausreichend.58 Dagegen verlangen Leistungsrechte mehr. In der modernen Massengesellschaft ist insbesondere die Gewährleistung von Leistungsrechten nur durch gesicherte Kooperation möglich. 59 Diese Sicherheit wird auf der Grundlage positiver Rechtnormen erreicht. 60 Die Freiheit des Individuums kann folglich nur durch die Organisation der Gesellschaft mit Mitteln des positiven Rechts gewährleistet werden. 61 Die Rechtsform ist ebenso für die Gewährleistung der Gleichheit erforderlich. Neben der Regelung der Gleichheit als spezielles Grundrecht wird die Gleichheit der Herrschaftsunterworfenen durch die Allgemeinheit des Gesetzes gesichert. 62 Ein Gesetz ist allgemein, wenn es generell und abstrakt ist, d. h. wenn es sich potenziell an unbestimmt viele Adressaten richtet und eine potenziell unbestimmte Vielzahl von Fällen erfasst. 63 Die Regelung eines Einzelfalls durch Gesetz ist folglich unzulässig. Demnach müssen die Herrschenden ihre Herrschaft aufgrund von allgemeinen Gesetzen ausüben, um Gleichheit der nunmehr Rechtsunterworfenen zu gewährleisten. Rechtsanwendung sichert deshalb gleiche Freiheitsgewährleistung.
2. Sicherung von Sicherheit und Verlässlichkeit durch positives Recht: Rechtssicherheit Sicherheit und Verlässlichkeit von Herrschaftsausübung kann am besten in der Form der Rechtssicherheit gewährleistet werden. 64 Denn positives Recht verleiht der Herrschaftsordnung (der sozialen Ordnung insgesamt) eine gewisse Regelhaf58 Lediglich für diesen Teilaspekt ist Geisman zuzustimmen, wenn er meint, dass der fehlende Rechtsschutz die Illegitimität des staatlichen Handelns impliziere. Vgl.: Georg Geismann, Menschenrecht, Staat und materiale Gerechtigkeit, in: JRE 3, 1995, S. 232. Siehe zu hinreichenden Bedingungen der Illegitimität: Kapitel 4, Abschnitt C., Unterabschnitt I. 59 Ansprüche auf Hilfe zum Lebensunterhalt (Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, medizinische Hilfe) können nur durch gesicherte Kooperation (Rechte und Pflichten) der Gesellschaft bzw. Umverteilung durch den Staat erfüllt werden. 60 Siehe zur Notwendigkeit von Recht aus der Sicht der Diskurstheorie: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 144 f. 61 Alexy schließt aus drei Problemen die Notwendigkeit des Rechts. Mit dem Erkenntnisproblem bezeichnet er die Notwendigkeit von Entscheidungen, die zu genau einem Ergebnis gelangen. Das Durchsetzungsproblem folgt aus der Erkenntnis, dass Einsicht in die Richtigkeit einer Norm nicht mit deren Befolgung einhergeht. Die Erfordernisse der gesellschaftlichen Kooperation in der Massengesellschaft werden durch das Organisationsproblem erfasst. Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 144 f. 62 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 210, 227 ff. 63 Detailliert hierzu: Christian Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987. w Zur Begründung von Sicherheit und Verlässlichkeit siehe in diesem Kapitel:, Abschnitt A., Unterabschnitt II.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
tigkeit, die zu einem Mehr an Sicherheit führt. 65 Rechtssicherheit verlangt nicht nur die Bestimmbarkeit der individuellen Rechte und Pflichten, sondern auch deren Schutz und Durchsetzung sowie die Vorhersehbarkeit der Rechtsentscheidungen.66 Rechtssicherheit ergibt sich in erster Linie aus der formalen Struktur des Rechts. Rechtsnormen sind grundsätzlich relativ beständig und nur in einem zeitintensiven Rechtsetzungsprozess zu ändern. Rechtsnormen gelten nur dann, wenn sie den Betroffenen bekannt gemacht worden sind, d. h. die nunmehr Rechtsunterworfenen kennen die Normen bzw. können die sie betreffenden Rechtsnormen kennen. Rechtssicherheit verlangt zusätzlich, dass Recht grundsätzlich nicht rückwirkend gilt, d. h. die Rechtsunterworfenen können sich auf die bestehende Rechtslage insofern verlassen, als sie ihre Rechte und Pflichten zu diesem Zeitpunkt abschließend regelt. Rechtsnormen geben den Rechtsunterworfenen so Orientierungs- und Ordnungssicherheit. 67
3. Sicherung demokratischer Verfahren durch positives Recht Zur Begründung der Notwendigkeit von positivem Recht für demokratische Verfahren hat die Diskurstheorie erheblich beigetragen, da sie die Kommunikationsbedingungen und Implikationen zur Entstehung und Durchsetzung eines „vernünftig gebildeten Willens" 68 offen legen will. Diese Erkenntnisse sollen hier genutzt werden. Demokratische Verfahren bedürfen der Regelung durch positives Recht aus zwei Gründen: zur Normierung der subjektiven wie auch der objektiven Verfahrensvoraussetzungen. Fundamentale politische Freiheitsrechte (wie Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, Demonstrationsfreiheit) sind unabdingbare Voraussetzung des demokratischen Prozesses69 und erhalten hierdurch ihre neue - von der individuellen Selbstbestimmung zu unterscheidende - Rechtfertigung. 70 Eine legitime Herrschaftsordnung muss folglich eine Ordnung „von Freien und Gleichen für Freie und Gleiche" 71 sein. Im Gegensatz zu den persönlichen Freiheitsrechten, die die private 65
Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 437. 66 Vgl.: Ota Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 38. 67 Vgl. hierzu ausführlich: Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 436 ff. 68 Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 671. 69 Siehe hierzu auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. u. a. für die Pressefreiheit: BVerfG, 1 BvR 77/96 vom 22. 8. 2000, Absatz-Nr. 4, http:// www.bverfg.de/. 70 Kaarlo Tuori, Four Models of the Rechtsstaat, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 461. 71 Klaus Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 53.
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Autonomie gewährleisten, sichern die politischen Rechte die öffentliche Autonomie, d. h. die kollektive Selbstbestimmung. Die politischen Rechte verlangen nach rechtlicher Institutionalisierung, genauso wie der persönlichen Rechte, denn nur als subjektives Recht verfügen sie über entsprechende Durchsetzungskraft. Mit dem subjektiven Recht steht dem Bürger ein Instrument zur Verfügung, mit dem er sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen kann. Erst durchsetzungsfähige subjektive Rechte sowohl in ihrer Funktion als Abwehrrechte 72 als auch in ihrer Funktion als Leistungsrechte73 versetzen den Bürger in der Zivilgesellschaft 74 in die Lage, Meinungen und Standpunkte auszutauschen und offene Diskurse zu führen, bei denen die besseren Argumente zum Zug kommen können.75 So sichern subjektive Rechte die Teilnahme der Bürger an öffentlichen Diskussionen,76 die im weiteren Verlauf zur kollektiven Selbstbestimmung („Selbstgesetzgebung"77) führen. Damit werden subjektive politische Rechte Bestandteil legitimitätsstiftender demokratischer Verfahren. 78 Nicht nur die subjektiven Rechte bedürfen der rechtlichen Regelung. Die rechtliche Institutionalisierung von „Einflusskanälen" 79 und „Kommunikationsformen" 80 , mittels derer die Bürger auf die Prozesse politischer Entscheidung einwirken können, soll den Prozess der Bildung eines vernünftigen politischen Willens am Leben erhalten. Prozedurales Recht hat also die Aufgabe, die Veränderbarkeit von (auch rechtlichen) Rahmenbedingungen und Organisationsformen zu sichern, d. h. die Möglichkeit der Adaption von inhaltlichen Rechtsregeln an den aktuellen Bedarf der Gesellschaft zu erhalten. 81 Das positive Recht legt das Verfahren, das Stimmrecht, die Berechtigung der Abstimmung und die Geltungsdauer der Entscheidung, über die abgestimmt wird, fest. Das Recht institutionalisiert Argumentationslasten, Begründungswege82 und die Möglichkeit des Dissen72
Hierunter fallen in erster Linie die klassischen Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Pressefreiheit etc. 73 Unter Leistungsrechte sind insbesondere ökonomische und soziale Rechte zu zählen, wie Recht auf Bildung und Ausbildung, Recht auf Hilfe zum Lebensunterhalt etc. 74 Zur Wechselbezüglichkeit von Recht und Zivilgesellschaft im demokratischen Verfahren der Rechtsetzung vgl.: Kaarlo Tuori, Four Models of the Rechtsstaat, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 460. 7 5 Vgl.: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung 1992, 1997, S. 161. 7 6 Vgl.: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 160. 77
Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 671. Vgl. zum Zusammenhang von Grundrechten und Demokratie auch: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 163 f. 79 Ulrich K. Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, in: Transit 17, 1999, S. 167. so Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 670. 78
81 Vgl.: Ota Weinberger, Preface/Vorwort, in: Werner Krawietz/Enrico Pattaro/Alice Erh-Soon Tay, Rule of Law. Political and Legal Systems in Transition, 1997, IX. 82 Jürgen Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: Kritische Justiz 20, 1987, S. 14 f.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
ses.83 Mehrheitsentscheidungen bedürfen einer positiv geregelten „Geschäftsordnung" 84 , um neben ihrer Rechtfertigungsfunktion auch ihrer Entscheidungsfunktion nachkommen zu können. Positives Recht sichert folglich die Handlungsbedingungen innerhalb demokratischer Verfahren, da es die Unsicherheit beseitigt, die entstehen würden, wenn die Verhaltenssteuerung moralischen Regeln vorbehalten wäre. 85
4. Konsequenz: Rechtsbindung und Rechtsformenzwang Aus dem Vorherigen ergibt sich, dass positives Recht unabdingbar zur Sicherung der Legitimität ist. Positives Recht muss für alle Rechtsunterworfenen verbindlich sein, denn Rechtsnormen sind stets mit dem Anspruch auf Geltung verbunden. 86 In diesem Abschnitt soll begründet werden, dass neben den Herrschaftsunterworfenen 87 auch die Herrschenden dem Recht unterworfen sind. Es wird gezeigt, dass die Herrschenden an das positive Recht gebunden sind und sich zur Ausübung von Herrschaft der Form des Rechts bedienen müssen.88 Rechtsbindung (Verbindlichkeit des gesetzten Rechts) und Rechtsformenzwang (Pflicht zur Ausübung von Herrschaft durch gesetztes Recht) bilden den Kern der Legalität. Sie ergeben sich aus dem Anspruch des Rechts selbst und aus den demokratischen Verfahren der Legitimitätsbegründung. Die Notwendigkeit von positivem Recht wurde in einem wesentlichen Teil mit den Ansprüchen der Herrschaftsunterworfenen begründet. Mit positivem Recht sollen Freiheit und Gleichheit sowie Sicherheit und Verlässlichkeit gewährleistet werden. 89 Die Sicherung der Rechte kann jedoch allein dann effektiv gewährleistet werden, wenn die Herrschenden an das Recht gebunden sind. Die Grundrechte, die Allgemeinheit des Gesetzes und die Rechtssicherheit sind bei ihrer Verwirklichung 83 Ernst Vollrath, Legalität und Legitimität als Kategorien der staatlichen Existenz, in: Klaus Held/Jochem Hennigfeld (Hrsg.), Kategorien der Existenz, 1993, S. 436. 84 Gerd Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, 2000, S. 27. 85 Jürgen Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: Kritische Justiz 20, 1987, S. 14. 86 Siehe zum Rechtsbegriff in diesem Abschnitt, Unterabschnitt II. 87 Die Frage der verpflichtenden Kraft von Herrschaft wurde durch die Legitimität beantwortet. Der Grenzbereich des Widerstandsrecht soll hier nicht näher beleuchtet werden. 88 Vgl. zur formalen Rechtsbindung: Ulrich Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Norbert Achterberg /Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 13. Siehe insbesondere zur Legitimität durch Recht: Werner Maihofer, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: Norbert Achterberg/ Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 22 ff. 89 Siehe zur Sicherung von Freiheit und Gleichheit sowie Sicherheit und Verlässlichkeit durch positives Recht in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 1. sowie 2.
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auf die bedingungslose Unterwerfung der Herrschenden unter das Recht angewiesen. Denn die juristische Geltung von Menschenrechten wäre sinnlos, wenn sich die Herrschenden nach ihrem Belieben darüber hinwegsetzen könnten. Folglich ist der Begründung von Grundrechten die Bindung der Herrschenden an das positive Recht immanent. Die Begründung von Freiheit und Gleichheit ist nicht von der Begründung der Rechtsbindung zu trennen. Die Herrschaftsunterworfenen haben auch aus Rechtssicherheitsgründen einen Anspruch darauf, dass sich die Herrschenden der Rechtsform bedienen und an dieses Recht auch gebunden sind. 90 Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn das Handeln der Herrschenden keinen Herrschaftscharakter hat. Am Herrschaftscharakter fehlt es, wenn die private Autonomie der Herrschaftsunterworfenen nicht angetastet wird und damit die Selbstbestimmung nicht eingeschränkt wird. Die Rechtsbindung erhält durch demokratische Verfahren der Herrschaftsausübung eine weitere darüber hinausgehende Rechtfertigung. Erst das Zusammenspiel von demokratischer Wahl des Parlaments und Bindung an das parlamentarische Gesetz macht kollektive Selbstbestimmung möglich. Der Rechtsformenzwang bindet die Herrschenden in ein Korsett demokratischer Herrschaftsausübung, da Herrschaft allein auf der Grundlage des positiven Rechts möglich ist, dieses Recht wiederum in demokratischen Rechtfertigungs- und Entscheidungsverfahren generiert wird. Nach der Genese des nunmehr demokratischen Rechts sind die Herrschenden an dieses Recht gebunden. Demokratische Rechtsherrschaft wird so zur legitimen Herrschaft, eben weil sie Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung ist. Herrschaft ist also nur dann legitim, wenn positives Recht die Grundlage des Handelns bildet. Anders gewendet: politische Herrschaft legitimiert sich im demokratischen Rechtsstaat aufgrund der Bindung an das gesetzte Recht.91 Hiervon kann es keine Ausnahme geben, da Rechtsformenzwang und Rechtsbindung nur absolut und niemals partiell gelten können.92 Jeder Verstoß gegen diese Regeln muss nämlich die Legitimität von Herrschaft insgesamt beschädigen. 90
Die Begründung des Rechtsformenzwangs wird erst durch die Einbeziehung der Rationalität des Rechts vollständig. Vgl. in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt II., 4; sowie: Abschnitt C., Unterabschnitt I. 9 1 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 169. Vgl. zur Unterschiedlichkeit der Konstruktion der Legitimität des Grundgesetzes den Sammelband und die Einleitung dazu von Brugger, Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996. 92 Vgl.: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 339. Rechtsbindung und Rechtsformenzwang gelten im demokratischer Rechtsstaat als Rechtsprinzipien des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes. Im Einzelnen ist der Umfang des Gesetzes Vorbehalts umstritten. Rechtsvergleichend hierzu: Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht. Band 1, 1988, S. 193 ff. Gewichtige Ausnahmen zählt Wolff für die Bundesrepublik auf, so u. a. Bundesgesetzgebungskompetenz aus der Natur der Sache, Einschränkung der Glaubensfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit aufgrund des ethischen Tierschutzes etc. Heinrich Amadeus WolffDas Verhältnis von Rechtsstaates- und Demokratieprinzip, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost / Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, 2000, S. 75.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Hieraus folgt, dass politische Herrschaft, die nicht auf dem Boden des positiven Rechts agiert, per se illegitim ist. 93 Die Bindung der Herrschaft an die Form des positiven Rechts verändert die Legitimitätsfrage. Wenn die Herrschenden sich dem gesetzten Recht unterwerfen, dann ist die Herrschaft von Menschen über Menschen ausgeschlossen. Im wohlverstandenen Interesse Aller herrscht die Norm über den Menschen und nicht der Mensch über den Menschen.94 Aus Herrschaftsunterworfenen werden Rechtsunterworfene. Rechtsbindung und Rechtsformenzwang als Kern der legalen Rechtsordnung sind folglich eng an die Begründung der Legitimität von Herrschaft gebunden. Wie gezeigt wurde, liefern die Ideen der individuellen und der kollektiven Selbstbestimmung die Begründung für die „verpflichtende Kraft" 95 der Legalität.
II. Anforderungen an eine legale Rechtsordnung In diesem Teil sollen die wichtigsten Anforderungen an eine legale Rechtsordnung aufgestellt und erläutert werden. Die Erfordernisse lassen sich logisch in zwei Gruppen einteilen. Da das Merkmal der Legalität einen qualifizierenden Zusammenhang wiedergibt, 96 sind zum einen Anforderungen zu differenzieren, die generell an eine Rechtsordnung zu stellen sind. Zum anderen sind jene qualifizierende Anforderungen zu formulieren, die es ermöglichen, eine legale von einer nichtlegalen Rechtsordnung zu unterscheiden. Grundlage der qualifizierenden Anforderungen an eine legale Rechtsordnung sind die Begründung der Notwendigkeit von positivem Recht sowie der Erforderlichkeit von Rechtsbindung und Rechtsformenzwang (siehe oben). Die Anforderungen für die legale Rechtsordnung ergeben sich also indirekt aus der Rechtfertigung von Herrschaft durch die Legitimität. Recht erschöpft sich jedoch nicht in seiner dienenden Funktion gegenüber der Legitimität. Recht besitzt eine selbständige Struktur, die sich durch die Anforderungen der Legitimität nicht auflöst, sondern zur Herstellung von Legitimität genutzt werden kann. Mit dem Zwang zur Ausübung von Herrschaft durch Recht ist folglich eine normative Entscheidung zum Recht und zur „Rechts-Ordnung" verbunden. 97 So ist z. B. der 93
Genauso wenig wie das Wort eines Edelmannes von den Formvorschriften des BGB suspendiert (RGZ 117, 121), ist das sog. Ehrenwort von politisch Herrschenden in der Lage, die Rechtsordnung für diese außer Kraft zu setzen. 94 Selbstverständlich wird Herrschaft rein faktisch nur von Menschen ausgeübt. Der Gegensatz „Rechtsnorm vs. Mensch" soll den Aspekt der Willkürlichkeit verdeutlichen. Sobald der Mensch das Mittel Recht als Instrument und Beschränkung seiner Herrschaft anerkennt, ist die willkürliche Herrschaft von Menschen ausgeschlossen. Sie müssen sich fortan der Rationalität der Rechts beugen. Insofern herrscht die Norm. 95 Thomas Würtenberger, Legalität, Legitimität, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Band 3, 1987, S. 874. 96 Siehe zur qualifizierenden Definition: Kapitel 2, Abschnitt A.
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Rechtsbegriff nicht offen zur beliebigen Interpretation, sondern begrifflich gebunden.98 Diese Implikationen sollen nun systematisch dargestellt werden. In einer Rechtsordnung existiert selbstverständlich positives Recht, dessen Bedingungen, Voraussetzungen und Inhalte zu klären sind. Der Begriff des positiven Rechts wird im Folgenden sukzessive auf der Grundlage des juristischen, soziologischen (1.) und ethischen Rechtsbegriffs (2.) entwickelt. Die Geltung subjektiver Rechte ist ebenfalls Voraussetzung für eine Rechtsordnung (3.). Im letzten Teil werden die Eigenständigkeit des positiven Rechts gegenüber der Politik der Herrschenden (4.) und die Gewaltenteilung (5.) als wesentliche Elemente der legalen Rechtsordnung begründet.
1. Voraussetzungen und Bedingungen positiven Rechts: juristischer und soziologischer Rechtsbegriff Der Begriff des positiven Rechts99 ist die zentrale Kategorie der Legalität, denn positives Recht ist Möglichkeitsbedingung für eine legale Rechtsordnung. Es gibt mehrere legitime Rechtsbegriffe, die ihre spezifische und partielle Gültigkeit beanspruchen können. 100 Folglich ist es wohl nicht möglich, die Frage, was Recht ist, allgemeingültig zu beantworten. Für den Zweck der Untersuchung, die Bestimmung von Unrechtsstaaten in Abgrenzung zu demokratischen Rechtsstaaten und deren Transformation, ist es ausreichend, die wesentlichen Merkmale und Streitpunkte herauszugreifen und hinsichtlich ihrer Relevanz für den Untersuchungs97
Die Legalität steht folglich nicht jedem „Usurpator zur beliebigen Umformung" zur Verfügung. Die Möglichkeiten der Manipulation der Legalität durch die Herrschenden sind so begrenzt. Vgl. jedoch zu dieser Gefahr: Werner von Simson, Zur Theorie der Legitimität, in: Henry Steele Commager u. a. (Hrsg.), Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages, 1971, S. 472 f. 98 Siehe: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 11. 99 Zum Begriff des positiven Rechts: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, in: Gesamtausgabe, Band 2, 1993, S. 255 ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 12 ff., Kazimierz Opalek, Der Begriff des positiven Rechts, in: ARSP 68, 1982, S. 448-462. Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 95-116; Jürgen Habermas, Recht und Moral (Tennure Lectures), 1986, in: ders., Faktizität und Geltung, 1997, S. 541-599; Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: NJW 39, 1986, S. 2480-2482; Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 209-254; Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 368-385; Reinhold Zippelius, Recht und Gesellschaft in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 133 ff. Vgl. auch die verschiedenen Aufsätze in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990. Für die USA: Winfried Brugger, Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 173-192. 100 Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 16.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
gegenständ zu untersuchen. 101 Hierfür ist eine juristische, soziologische und ethische Betrachtungsweise angebracht. 102 Der juristische Rechtsbegriff gründet sich auf die Definition Kants, nach der Recht die Gesamtheit der Normen ist, die das äußere Verhalten von Menschen regeln und die erzwungen werden können. 103 Die Rechtsnorm wiederum hat ihre Grundlagen in der Imperativentheorie 104, nach der jeder Rechtssatz ein Gebot oder Verbot enthält, und zeichnet sich im Grundsatz durch eine Rechte-Pflichten-Struktur sowie ein Wenn-dann-Schema aus. 105 Aus der juristischen Teilnehmerperspektive konstituiert sich positives Recht aus der Gesamtheit der Rechtsnormen 106 und nur aus diesen. Normen sind positives Recht, weil sie vom Normengeber in einem ordnungsgemäßen Verfahren als solche kenntlich gemacht worden sind. 107 Die autoritative Setzung von Rechtsnormen kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Während in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen die Rechtsetzung durch abstrakt-generelle Normen, d. h. Gesetze, eine größere Rolle spielt, sind Rechtssysteme, die in der englischen Rechtstradition stehen, durch konkret-individuelle Normen, d. h. richterliche Entscheidungen, geprägt. In beiden Systemen sind Elemente des jeweils anderen Systems mehr oder minder stark ausgeprägt. Zu den gesetzten Normen treten Normen des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts hinzu. Die Vielfalt positiver Rechtsnormen verlangt ein ordnendes System in vertikaler und horizontaler Ebene, 108 damit die Rechtsordnung eine Einheit bilden kann. 101
Insofern ist ein permanenter gedanklicher Vergleich zum Rechtssystem der sozialistischen Staaten und zum Transformationsprozess erforderlich. 102 Ott unterscheidet unterschiedliche Rechtsbegriffe, je nachdem welcher Fragestellung man nachgeht. Walter Ott, Die Radbruch'sche Formel. Pro und Contra, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F. 107, 1988, S. 344 f. 103 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, in: AA, Band 6, 1907, 1969, Einleitung in die Rechtslehre, S. 229 ff. 1 04 Die Imperativentheorie wurde von Bentham im 18. Jahrhundert begründet. Vgl. u. a. Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 226 ff. i° 5 Jedoch ziehen die Herausforderungen moderner Gesellschaften neue Handlungsformen des Staates zur indirekten Steuerung nach sich. So wird z. B. die konditionale (Wenn-dannSchema) um die finale Steuerung durch Ziel- oder Zweckprogramme ergänzt. Vgl. insgesamt hierzu: Kathrin Becker-Schwarze (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, 1991; Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990. Das prozeduralistische Rechtsparadigma ist der Versuch einer Antwort auf die zunehmende Komplexität und Eigendynamik der Gesellschaft und der daraus entstehenden Schwierigkeit der direkten staatlichen Steuerung durch Recht. Im prozeduralistischen Rechtsparadigma stellt positives Recht lediglich Verfahren der Konfliktlösung bereit, enthält sich jedoch eines direkten Gebots oder Verbots. 106 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 116. i° 7 Vgl.: Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53, 1998, S. 331. 108 In vertikaler Hinsicht lässt sich hier das Beispiel der römischen Rechtsregel lex posterior derogat legi priori nennen. In der Horizontale ist eine Ordnung ranghöheren und rangniederen Rechts erforderlich.
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Das ordnende System ist als Metarechtssystem 109 zu bezeichnen. Es muss neben der Rangordnung einheitliche Rechtsetzungsverfahren und die positive Rechtsgeltung normieren. Folglich verlangt positives Recht eine staatliche Organisation zur Genese, Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen. 1 1 0 Recht erfordert stets 1 1 1 eine das Recht setzende Autorität, d. h. eine staatlich organisierte M a c h t . 1 1 2 Der Staat setzt die Bedingungen und Grundlagen der Rechtsetzung fest. M i t seinem Gewaltmonopol schafft der Staat die Voraussetzung für die Befolgung von Rechtsnormen durch die Rechtsunterworfenen. Denn bei Nichtbefolgung setzt der Staat die Rechtsnormen zwangsweise durch. I m demokratischen Rechtsstaat wird das Metarechtssystem in der Verfassung bzw. durch die Staats- und Rechtslehre festgelegt. Das Verfahren der Setzung von Recht ist ausdrücklich geregelt; die Rechtsetzungskompetenzen sind festgelegt. Ein rein juristischer Rechtsbegriff ist zur Bestimmung von Recht jedoch nicht ausreichend, 113 da der Bezug zur Rechts Wirklichkeit nicht vollkommen außer Acht gelassen werden darf. Denn Recht soll gesellschaftliche Wirklichkeit regeln und zielt auf tatsächliche W i r k u n g . 1 1 4 Der soziologische (oder empirische) Rechtsbegriff greift dieses Manko auf und fragt empirisch aus einer Beobachterperspektive heraus, was als Recht in der Gesellschaft angesehen und angewendet wird. Eine Rechtsnorm ist danach eine solche und g i l t 1 1 5 faktisch, wenn sie ihre beab109
Hart unterscheidet zwischen primär verpflichtenden Regeln (primary rules) und den Regeln, die die primären Regeln zum Gegenstand haben (secondary rules). Sekundäre Regeln ordnen u. a. an, ob primäre Normen bestehen und inwieweit sie anwendbar sind. Die sekundären Regeln sollen hier mit Metarechtssystem bezeichnet werden. H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1961, 1994, S. 94. ho Vgl. u. a.: Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 116; Frank Grunert, Recht, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg.), Metzler-Philosophie-Lexikon, 1996, S. 437. 111 Entwicklungsgeschichtlich sind bestimmte Rechtsformen auch ohne staatlich organisierte Herrschaft möglich, vgl.: Uwe Wesel, Frühformen des Rechts, 1984, insb. S. 343 ff. Jedoch ist modernes Recht ohne den Staat nicht denkbar, sodass der staatliche Rechtsbegriff unter Rechtswissenschaftlern nahezu uneingeschränkt Zustimmung findet. Siehe zur Entstehung des positiven Rechts auch: Jürgen Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: Kritische Justiz 20,1987, S. 1 ff. 112 Von der soziologischen Theorie des Rechts wird allerdings bestritten, dass der staatliche Zwang ein konstitutives Merkmal des Rechts darstellt. Vgl.: Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 240 ff. Zu Krawietz' eigener Meinung siehe: Werner Krawietz, Recht ohne Staat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 118 ff. Vgl. zu Luhmann auch: Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 21 ff. 113 Ein ausschließlich juristischer Rechtsbegriff wird heute ernsthaft nicht mehr vertreten. Vgl.: Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 32. 114 Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 34. 115 Die Trennung von Rechtsnormbegriff und Geltungsbehauptung scheint nur beim soziologischen Rechtsbegriff sinnvoll. Wenn es nämlich auf die tatsächliche Wirksamkeit einer Norm ankommt, ist denkbar, dass die Rechtsnorm nach einer gewissen Zeit an Wirksamkeit verliert. Die Wirksamkeit kann jedoch auch wieder zunehmen, sodass der Geltungsbegriff
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sichtigten Wirkungen entfaltet. 1 1 6 Indikatoren des Wirklichkeitsbezuges sind tatsächliche Anerkennung, Befolgung und Durchsetzung. 1 1 7 Selbstverständlich müssen nicht alle Rechtsunterworfenen die Normen anerkennen und befolgen. Jedoch können nur Normen, die ein M i n i m u m an sozialer Wirksamkeit bzw. Wirksamkeitschance besitzen, als positives Recht betrachtet werden. 1 1 8 Ohne tatsächliche Wirksamkeit bzw. Wirksamkeitschance existiert keine Rechtsnorm. Für den demokratischen Rechtsstaat sichern schon demokratische Verfahren der Entscheidung 1 1 9 eine gewisse Möglichkeit der Akzeptanz und Befolgung von Recht, da sich die Rechtsunterworfenen als Rechtssubjekte und „ A u t o r e n " 1 2 0 der Rechtsordnung begreifen können. 1 2 1
2. Positives Recht und überpositives Bezugssystem: der ethische Rechtsbegriff Der ethische Aspekt ist der bei weitem umstrittenste Gesichtspunkt des Rechtsbegriffs. 1 2 2 Über die disziplinären Grenzen hinweg existiert seit j e h e r 1 2 3 ein essentieller Streit um den Bezug überpositiver Normen zum positiven Recht. „Rechtspositivismus" 1 2 4 und „Naturrechtslehre" 1 2 5 stehen sich nahezu unvereinbar gegenseine eigene Wirksamkeit entfalten kann. Vgl. hierzu: Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 32 f. H6 Vgl.: Thomas Raiser, Rechtssoziologie, 1987, S. 254; Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 243 ff. ii7 Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 36. Ii» Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 116. 119 Siehe zu demokratischen Verfahren in diesem Kapitel: Abschnitt A., Unterabschnitt III. 120 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 156. 121 Hierin liegt u.U. ein Unterschied zur Rechtsordnung sozialistischer Staaten. 122 Siehe hierzu auch die Auseinandersetzung über die Möglichkeit von Staatsunrecht: Kapitel 1, Abschnitt B., Unterabschnitt I. 123 Wie Gagnér zeigt, gehen die Begriffe „Rechtspositivismus" („Gesetzesrecht") und „Naturrecht" schon auf Gellius (2. Jh. n. Chr.) zurück. Sten Gagnér , Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960, S. 208, 242. Vgl. auch: Friedrich A. von Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, 1967 (engl.), in ders., Freiburger Studien, 1967, 1994 ergänzende Anm. 1, S. 107. Zur Diskussion in letzten beiden Jahrhunderten: H.L.A. Hart, Law in the Perspective of Philosophy: 1776-1976, in: New York University Law Review 51,1976, S. 538-551. 124 Der Rechtspositivismus unterscheidet sich aufgrund seines fehlenden Bezugs zur sozialen Wirklichkeit fundamental vom Positivismus der anderen Geisteswissenschaften. Aus diesem Grund scheint der Terminus „Rechtspositivismus" verfehlt zu sein. Vgl. zur Kritik: Klaus Westen, Methodische Fragen der Ostrechtsforschung, in: Dietrich Frenzke/Alexander Uschakow (Hrsg.), Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, 1965, S. 321 ff. 125 Der Begriff „Naturrecht" kann aufgrund der differierenden materialen Bezugssysteme und der rechtsphilosophischen Entwicklung als antiquiert gelten. Der Ausdruck könnte des-
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über. Dieses Grundproblem der Rechtswissenschaft äußert sich in der praktischen Frage, ob Unrecht in der Form positiven Rechts grundsätzlich möglich ist 1 2 6 und ob die Rechtsdefinition bzw. die Geltung des positiven Rechts 127 von seinem Inhalt abhängig gemacht werden kann. In der Diskussion lassen sich drei logische Grundpositionen unterscheiden. 128 Nicht mehr ernsthaft vertreten wird die naturrechtliche Einheitsthese bzw. starke Verbindungsthese, nach der positives Recht und überpositives Bezugssystem eine Einheit bilden würden und das positive Recht den überpositiven Normen nachgeordnet sei. 129 Die zweite Position ist die des Rechtspositivismus.130 Die rechtspositivistische Trennungsthese behauptet, dass positives Recht und überpositives Bezugssystem gänzlich verschieden und deshalb strikt voneinander zu trennen seien. 131 Der Rechtspositivismus ist keine einheitliche monolithische Position, sondern dient als Sammelbecken der unterschiedlichsten Ansichten. 132 Dagegen wenden sich Vertreter des nichtpositivistischen Rechtsbegriffs mit der Unterscheidungsthese. Danach seien positives Recht und überpositives Bezugssystem weder als eine Einheit zu sehen, noch könnten sie strikt voneinander getrennt werden, vielmehr stünden sie in Wechselbeziehung bzw. in einer, wenn auch schwachen, dennoch vorhandenen Verbindung („schwache Verbindungsthese" 133). Die Verbindung sei schwach, weil nicht jedes Unrecht das gesetzte Recht zum Nichtrecht halb durch die Termini „Universalismus" bzw. „Universalrecht" abgelöst werden. Vgl. hierzu.: Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus, 1995, S. 15 ff. 126 Vgl. hierzu auch Kapitel 1, Abschnitt A., Unterabschnitt 1. 127 Die Trennung von Rechtsnormbegriff und Geltungsbehauptung ist nicht sinnvoll, wenn man die Frage untersucht, ob es eine Verbindung zwischen überpositiven Normen (Moral) und positivem Recht gibt. Die Aufgabe der Unterscheidung vermeidet eine Trivialisierung des Problems, die entstünde, wenn man Normen beliebigen Inhalts als Recht bezeichnen würde, um ihnen danach die Geltung abzusprechen, da sie u.U. der Moral widersprechen. Vgl. hierzu: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 12. 128 Vgl. zu dieser Systematisierung: Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 78. 129 Siehe: Hans Albert, Erkenntnis und Recht, in: Hans Albert/Niklas Luhmann/Werner Maihofer/Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 94. 130 Auch wenn der Rechtspositivismus häufig als moralisch böswillig und logisch widersprüchlich verdammt wurde, ist diese rechtsphilosophische Position „still with us". Frederick Schauer /Virginia J. Wise, Legal Positivism as Legal Information, in: Cornell Law Review 82, 1997, S. 1080 f. 131 Vgl. folgende Vertreter: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960; H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1961, 1994, S. 185 ff.; Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 1980, 1987, S. 207 ff.
132 Vgl. zu den verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus: Klaus Füßer, Rechtspositivismus und „gesetzliches Unrecht", in: ARSP 78, 1992, S. 309 ff. Vgl. auch: Frederick Schauer/Virginia J. Wise, Legal Positivism as Legal Information, in: Cornell Law Review 82, 1997, S. 1080-1110. 133 Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 97. 9*
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macht, sondern nur evident schweres Unrecht den Rechtscharakter einer Norm beseitigt (Radbruchsche F o r m e l 1 3 4 ) . Das materiale überpositive Bezugssystem kann unterschiedliche Gestalt annehmen: Vernunftmoral 1 3 5 , Vernunftrecht 1 3 6 , Naturrecht 1 3 7 etc. Dem überpositiven System, wie auch immer es beschaffen sein mag, komme nach der Unterscheidungsthese die Aufgabe zu, die Richtigkeit des positiven Rechts zu bewerten. Repräsentativ für Vertreter der schwachen Verbindungsthese steht der rechtsethisch angereicherte nichtpositivistische Rechtsbegriff Ralf Dreiers 138: „Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern diese im großen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen." 139 I m demokratischen Rechtsstaat bleibt die Verbindung des positiven Rechts zu einem überpositiven Bezugssystem (der Moral) zwar umstritten, 1 4 0 jedoch besitzt der Streit fast keine praktische Relevanz mehr. Denn in demokratischen Rechtsstaaten ist das ethische Minimum, das den positivistischen Rechtsbegriff 1 4 1 sprengen soll, in aller Regel in den Verfassungen rechtlich geregelt. 1 4 2 Moralische 134
Vgl. zur Radbruchschen Formel: Kapitel 1, Abschnitt B., Unterabschnitt I.; bzw. dort: Abschnitt f., Unterabschnitt II. 135 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 145. 136 Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39, 1984, S. 69. 137 H. Dreier zählt u. a. ein katholisches, islamisches, marxistisches und ein feministisches Naturrecht auf. Horst Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, in: JZ 52,1997, S. 429. 138 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 116. Heftig, mitunter polemisch, kritisiert von: Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 249. Erwidert: Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 381. Vgl. zur Kritik dieser „Ethisierung" bzw. „Remoralierung" des Rechts: Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, in: Rechtstheorie 20, 1989, S. 191-210. 139 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 116. 140 Vgl. exemplarisch zum modernen Streit: H.L.A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Moráis, in: Harvard Law Review 71, 1958, S. 593-629; Lon L. Füller, Positivism and Fidelity to Law - A Response to Professor Hart, in: Harvard Law Review 71, 1958, S. 630-672. 141 Sofern in diesem Zusammenhang vom positivistischen Rechtsbegriff gesprochen wird, soll dieser Terminus allein das Nichtvorhandensein des ethischen Minimums bei der Begriffsdefinition ausdrücken. Denn ein Rechtsbegriff, der von allen soziologischen und philosophischen Überlegungen befreit ist, d. h. ein rein positivistischer (juristischer) Rechtsbegriff, wird nicht mehr vertreten. Vgl. hierzu: Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 232 f. 142 Rechtspositivisten wie Krawietz versuchen deshalb den nichtpositivistischen Rechtsbegriff dadurch zu entkräften, dass sie die Staatsverfassung als „letzten normativen Geltungsgrund allen Rechts" ansehen. Der Einwand geht jedoch fehl, da das überpositive Bezugs-
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Normen haben Eingang in das positive Recht gefunden. 1 4 3 Extrem ungerechte Rechtsnormen sind nicht „nur" ungerecht oder unmoralisch, sondern zugleich rechtswidrig. 1 4 4 Das Unrechtsargument 145 wird so zum Rechtsargument, das auch Rechtspositivisten akzeptieren müssen. Deshalb kommt i m demokratischen Rechtsstaat der Forderung nach einem ethischen M i n i m u m i m Recht nur noch eine „Reservefunktion" 1 4 6 zu. Jedoch beginnen die Probleme mit dem positivistischen Rechtsbegriff dort, wo der demokratische Rechtsstaat endet. 1 4 7 Denn erst, wenn in einem größeren Ausmaß extrem ungerechte, ethisch verwerfliche Rechtsnormen geschaffen werden, muss sowohl der positivistische als auch der nichtpositivistische Rechtsbegriff seine Tauglichkeit beweisen. 1 4 8 Auch hier haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass beide Rechtsbegriffe in ihren primären Wirkungen gleich sind. Gegen eine ungerechte Herrschaft vermag sich auch der rechtsethisch angereicherte Rechtsbegriff nicht durchzusetzen. 149 Neuere Untersuchungen haben zudem gesystem eben nicht dem positiven Recht vor- oder übergeordnet sein soll. Die Verfassungen demokratischer Rechtsstaaten sind aus einem überpositiven System von Prinzipien, Leitideen und Grundwerten gewonnen worden. Diese genetische Beziehung von positiver Verfassung und überpositivem System bleibt bestehen, selbst wenn im demokratischen Rechtsstaat die Verfassung letzter Geltungsgrund für positives Recht ist. Siehe zum Einwand: Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 223. Vgl. auch zur Kritik: Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 379. 143
Sehr treffend die Formulierung Flumes zum (positiv gesetzten) ethischen Minimum: „Hinter Art. 1 des Grundgesetzes stehen die Namen Auschwitz, Belsen und Buchenwald." Werner Flume, Richter und Recht, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages. Band II, Teil K, 1967, S. K33. Siehe zu den Problemen und Gefahren des nunmehr „moralischen" Rechts: Günter Ellscheid, Interaktionen zwischen Rechtssystem und Widerstand, in: Peter Saladin (Hrsg.), Widerstand im Rechtsstaat, 1988, S. 255 f. 144 Vgl. deshalb das Prinzipienargument: Kapitel 1, Abschnitt B, Unterabschnitt I. 145
Vgl. zum Unrechtsargument: Kapitel 1, Abschnitt B, Unterabschnitt I. Dirk Heckmann: Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 38. 147 Vgl. aber auch die Ausführungen Hayeks, der versucht, den Rechtspositivismus genetisch zu widerlegen. Nach Hayek würde der Prozess der Entwicklung des Rechts vollkommen unverständlich werden, wenn man auf die Bezugnahme zur Gerechtigkeit verzichten würde. Zudem habe die abzulehnende Idee des konstruktivistischen Rationalismus dazu geführt, dass positives Recht als Ergebnis von menschlichen Plänen begriffen wird. Recht sei aber niemals ausschließlich das Ergebnis eines Entwurfes, sondern zum Teil auch Resultat spontaner Ordnung. Die gefundene Gerechtigkeit biete eine negativen Maßstab für das positiv gesetzte Recht. Friedrich A. von Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, 1967 (engl.), in ders., Freiburger Studien, 1967, 1994, S. 103 ff. 148 Vgl.: hierzu: Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 38 ff. 149 Das räumen auch die Befürworter der nichtpositivistischen Rechtsbegriffs ein. Vgl. hierzu das Effektivitätsargument von Alexy: Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 95 ff. 146
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
zeigt, dass eine rechtspositivistische Haltung nicht zwangsläufig dazu führen muss, allen Gesetzen und Maßnahmen eines Unrechtsstaates unbedingten Gehorsam zu schulden.150 Der nichtpositivistische Rechtsbegriff hat jedoch den sekundären Effekt, dass er Widerstand gegen Unrechtsregime rechtlich und nicht nur moralisch legitimiert. 151 Der Rechtspositivismus kann der Verpflichtungskraft des positiven extrem ungerechten Rechts „nur" moralische Argumente entgegensetzen. Dagegen suspendiert der nichtpositivistische Rechtsbegriff die rechtliche Geltung des positiven Rechts und hebt damit die juristische Verpflichtungskraft des nunmehrigen Nicht-Rechts auf. Ein Rechtsanwender wird so bei seiner Entscheidung gegen das Unrecht unterstützt. Denn im Zweifel wird er gesetzlichem Unrecht eher den Gehorsam verweigern, wenn er weiß, dass es als Recht keine Geltung beanspruchen kann. „Das ist ein relativ begrenzter Effekt, aber es ist ein Effekt." 152 Die Angemessenheit des nichtpositivistischen Rechtsbegriffs erweist sich auch gerade in Transitionslagen, d. h. in der Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten.153 Den Rechtsakten des Unrechtsstaates, die extremes Unrecht darstellen, wird auf der Grundlage des nichtpositivistischen Rechtsbegriffs lediglich faktische, jedoch keine normative Geltung beigemessen.154 Damit wird gerade den Rechtsanwendern, die sich in zumutbarer Weise der Unrechtsbegehung hätten entziehen können, die (straf-) rechtliche Argumentationsbasis ihres Tuns entzogen.155 Dieser „rückwirkenden" strafrechtlichen Verantwortung aufgrund überpositiver Normen steht auch nicht der Grundsatz nulla poena sine lege entgegen,156 sofern man die Anwendung auf extremes und evidentes Unrecht »so Vgl.: Klaus Füßer, Rechtspositivismus und „gesetzliches Unrecht", in: ARSP 78, 1992, S. 301-331. 15 1 Die Existenz der Moral bezweifeln emsthafte Rechtspositivisten nicht. Denn auch Rechtspositivisten akzeptieren, dass sich ein gewisser Minimalgehalt eines jeden überpositiven Bezugssystems identifizieren lässt, der nichts mehr aber auch nichts weniger als „rudimentäre soziologische Erkenntnisse hinsichtlich der Überlebensbedingungen menschlicher Gesellschaften" umfasst. Hans Albert, Erkenntnis und Recht, in: Hans Albert/Niklas Luhmann/Werner Maihofer/Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 94. 152 Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 99. 153 Vgl. zur Behandlung der Unrechtsfolgen aber auch: Kapitel 5, Abschnitt C., II., 4. Dort wird gezeigt, dass es nicht in allen Fällen auf den nichtpositivistischen Rechtsbegriff ankommt. 154
Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 41. 155 Wie Heckmann zeigt, ist das auch mit einem positivistischen Rechtsbegriff möglich, wenn die Rechtsordnung das ethische Minimum schon einmal positiv festgelegt hatte, bevor sich der Unrechtsstaat durchsetzte. Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 41, 106 ff. 156 Die nationalen Rechtsordnungen kennen vom Grundsatz des RückwirkungsVerbots teilweise gewichtige - Ausnahmen. Vgl. rechtvergleichend hierzu: Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht. Band 2, 1988, S. 843 ff.; Rainer Hofmann, Die Bindung staatlicher Macht, in: Rainer Hofmann/Joseph Marko/Franz Merli/Ewald Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 16 f.
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(Radbruchsche Formel) reduziert. 1 5 7 Von einer versteckten Rückwirkung kann nämlich in diesem Fall nicht mehr die Rede sein, da das Unrecht zum Zeitpunkt der Tatbegehung für jeden klar erkennbar und offenkundig w a r . 1 5 8 Außerdem sind auch andere (zivilrechtliche) Fälle angemessener unter Anwendung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs zu lösen; da ein rechtsstaatliches Gericht einen Rechtsstreit nur mit juristischen und nicht mit moralphilosophischen Gründen entscheiden k a n n . 1 5 9 Demnach ist eine schwache Verbindung zwischen einem überpositiven Bezugssystem der Moral und positivem Recht vorzugswürdiger gegenüber einer strikten Trennung beider Elemente. 1 6 0 Der nichtpositivistische Rechtsbegriff führt jedoch nicht dazu, dass die Moral dem Recht i m Sinne einer Normenhierarchie vor- bzw. übergeordnet wird. Positives Recht und überpositive Normen stehen vielmehr in einem „ErgänzungsVerhältnis" 161 . Der Rechtsbegriff wird rechtsethisch angereichert und nicht durch die Moral ersetzt. Der genaue Inhalt des ethischen M i n i mums lässt sich insbesondere 162 aus der historischen Erfahrung, d. h. aus einer europäisch-atlantischen Kulturtradition, 1 6 3 gewinnen, 1 6 4 womit dem rechtspositivistischen Relativitätsargument 165 entgegengetreten werden kann. 157 Zu den Argumenten gegen den nichtpositivistischen Rechtsbegriff vgl.: Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 85-108. Unabhängig von der rechtsphilosophischen Position stellt sich jedoch die Frage, ob das Strafrecht als Mittel der Systemtransformation geeignet und angemessen ist. 158 Alexy bezeichnet den Einwand der unzulässigen Rückwirkung als Redlichkeitsargument. Siehe: Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz /Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 106 ff. 159 Vgl. hierzu: Walter Ott, Die Radbruch'sche Formel. Pro und Contra, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F. 107, 1988, S. 345 ff., 348. 160 Auch wenn für die Inkorporation von grundlegenden Menschenrechten in das positive Recht wohl noch keine universelle, in allen Belangen zufriedenstellende, Theorie entwickelt ist, wie Hart bemerkt. H.L.A. Hart, Law in the Perspective of Philosophy: 1776-1976, in: New York University Law Review 51, 1976, S. 551. »6i Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 137. Krawietz unterstellt Habermas im Jahre 1987, d. h. vor dessen Werk „Faktizität und Geltung", eine „privative Überordnung der Moral gegenüber dem geltendem Recht". Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 254. 162 Eine andere Möglichkeit der Bestimmung des ethischen Minimums besteht in der rationalen Begründung moralischer bzw. ethischer Mindestnormen. Hierfür müsste der metaethische Einwand des Relativismus bzw. Skeptizismus ausgeräumt werden. Es stellt sich dann also die Frage, ob es rational begründet werden kann, dass z. B. die physische Vernichtung eines Menschen aus rassischen Gründen extremes Unrecht darstellt. Siehe: Robert Alexy, Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs, in: Werner Krawietz / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 102 f. 163 Vgl. zur europäisch-atlantischen Rechts- und Staatstradition: Kapitel 2, Abschnitt C., Unterabschnitt III. 164 Siehe Anm. 143, S. 133.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
3. Subjektive Grundrechte Im Folgenden soll begründet werden, dass subjektive Rechte in der Form von Grundrechten unabdingbare Voraussetzung einer legalen Rechtsordnung sind. Zunächst folgen allgemeine Überlegungen zum subjektiven Recht; daran anschließend wird noch einmal kurz auf die Notwendigkeit von Grundrechten eingegangen. Subjektive Rechte sind Rechte, die dem Einzelnen eine Rechtsposition einräumen, die es ihm erlaubt, Rechte gegen andere Rechtsgenossen und/oder gegen die Rechtsgemeinschaft durchzusetzen. Positives Recht lässt sich in subjektives Recht einerseits und objektives Recht andererseits einteilen. 166 Unter objektivem Recht wird die Rechtsordnung als Ganze und Teile derselben verstanden. Subjektive Rechte sind somit Teil bzw. eine andere „Darstellungsweise" 167 des objektiven Rechts. Die Einklagbarkeit ist das „unverwechselbare Kennzeichen" 168 des subjektiven Rechts. Subjektive Rechte können demnach als solche nur bezeichnet werden, wenn sie durch eine staatliches Gerichtswesen durchgesetzt werden können. 169 Andere Entscheidungs- und Sanktionsordnungen sind nach dem monistischen Rechtsbegriff 170 keine rechtlichen, sondern rechtsähnliche oder rechts vertretende Ordnungen. 171 Subjektive Rechte sind notwendiger Bestandteil objektiven Rechts. Denn eine Ordnung ohne subjektive Rechte wäre „bloße soziale Ordnung" 1 7 2 , aber keine Rechtsordnung. 173 Jede Rechtsordnung lässt sich folglich in Rechtsverhältnisse, d. h. in Rechte und Pflichten einteilen. Dem berechtigten Individuum steht ein Verpflichteter gegenüber. In der Form von Grundrechten sind subjektive Rechte in einer legalen Rechtsordnung zur Sicherung der privaten und der öffentlichen Autonomie erforder165 Siehe zum Relativitätsargument: Kapitel 1, Abschnitt B., Unterabschnitt 2. 166 Vgl. hierzu: Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 345 ff., 413 ff.
167 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 359. 168 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 360. 169 Der Schutz subjektiver Rechte im öffentlichen Recht kann durchaus unterschiedlich ausgestaltet sein. Während in Deutschland und Österreich institutionell selbständige Verwaltungsgerichte den Verwaltungsrechtsschutz übernehmen, ist in anderen Staaten (Italien, Griechenland) eine Selbstkontrolle der Verwaltung tradiert. Der französische oberste Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof (Conseil d'Etat) ist rein formal gesehen nicht unabhängig, wirkt aber in diesem Sinne aufgrund einer lange währenden Tradition. 170 Im Gegensatz dazu steht der pluralistische Rechtsbegriff, der nicht nur staatliches Recht als Recht anerkennt. Soziale Normen- und Ordnungssysteme, die keine staatlichen System sind, werden danach in gleicher Weise als Rechtssystem anerkannt. Der pluralistische Rechtsbegriff wurde u. a. von Kantorowicz vertreten. Siehe: Hermann Kantorowicz, The Definition of Law, 1958. Vgl. auch: Karlheinz Muscheler, Hermann Ulrich Kantorowicz, 1984. 171 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 209. 172 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 413. 173 Vgl.: auch Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, in: Gesamtausgabe, Band 2, 1993, S. 262.
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l i e h . 1 7 4 Der Freiheitsgedanke 175 legt den wichtigsten Inhalt der subjektiven Rechte f e s t . 1 7 6 Subjektive Grundrechte bewahren dem herrschaftsunterworfenen Individuum einen herrschaftsfreien Raum, in dem es uneingeschränkt selbstbestimmt handeln kann. Grundrechte gewährleisten die individuelle Freiheit und Gleichheit, d. h. die private Autonomie. Sie legen zudem die Grenzen der freien Willensbetätigung von Individuen gegenüber der Rechtsgemeinschaft, d. h. gegenüber anderen I n d i v i d u e n 1 7 7 und der Gesellschaft 1 7 8 , f e s t . 1 7 9 Von den privaten Grundrechten sind jene Rechte zu unterscheiden, die die Ausübung öffentlicher Autonomie der Herrschaftsunterworfenen
(Bürger) sichern. 1 8 0 Die chancengleiche
Teilnahme an Meinungs- und Willensbildungsprozessen ist zur effektiven Durch174 Siehe zur Sicherung von Freiheit und Gleichheit durch positives Recht in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 1.; zur Sicherung demokratischer Verfahren durch positives Recht: ebd. 3. 175 Der Freiheitsgedanke geht auf Kant zurück. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, in: AA, Band 6, 1907, 1969, S. 230. 17 6 Obwohl die Idee der freien und gleichen Rechtssubjektivität zum Kernbestand der europäisch-atlantischen Rechtstradition gehört, ist ihre Begründung im Einzelnen umstritten. Zur Begründung einzelner subjektiver Rechte zieht z. B. Habermas das Diskursprinzip heran. „Gemäß dem Diskursprinzip dürfen genau die Normen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller potentiell Betroffenen finden könnten, sofern diese überhaupt an rationalen Diskursen teilnehmen." Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 161. Vgl. detailliert hierzu: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 127-164. 177 Im demokratischen Rechtsstaat bedeutet die Gewährleistung subjektiver Rechte nicht deren unumschränkte Herrschaft zum Nachteil Anderer. D. h. subjektive Rechte eines Individuums können lediglich so weit reichen, wie der rechtlich geschützte Freiheitsbereich anderer Individuen nicht betroffen ist. Denn Gleichheit steht gleichrangig neben der Freiheit (siehe in diesem Kapitel: Abschnitt A., Unterabschnitt I.). Die Beschränkung der Grundrechte findet auf der gleichen horizontalen Ebene statt, denn die Beziehungen der Rechtsgenossen untereinander ist eine Rechtsbeziehung unter Gleichen. Aus diesem Grund kann man von einer horizontalen Autonomie sprechen, die sich die Rechtsgenossen untereinander gewähren und gleichzeitig einschränken. 178
Beschränkungen von subjektiven Grundrechten zugunsten der Allgemeinheit sind im demokratischen Rechtsstaat möglich. Diese Erkenntnis folgt u. a. der Einsicht, dass subjektive Rechte nicht nur (positiv wie negativ) gebraucht, sondern auch missbraucht werden können. Die von Savigny begründete Willensmachttheorie (Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts. Band 1, 1840, S. 333.) wird insofern relativiert, als Beschränkungen dadurch grundsätzlich möglich gemacht werden (vgl. u. a.: Sozialbindung des Eigentums, Art. 14 II GG; Eingriffe in die Privatsphäre aus Gründen der Sicherheit, Ordnung, Landesverteidigung, Strafverfolgung o. ä., Art. 8 II EMRK). In diesem Zusammenhang kann man von vertikaler Autonomie sprechen, da die Rechtsgemeinschaft dem Einzelnen gegenüber nicht gleichrangig ist. Die Beschränkung erfolgt nicht aufgrund gleicher individueller Freiheit, sondern aufgrund einer individuell nicht bestimmbaren Allgemeinheit. ™ Siehe: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 117. iso Vgl.: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 156.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
setzung demokratischer Verfahren unabdingbar. Die politischen Grundrechte sollen die Bürger in die Lage versetzen, aktiv am Prozess der kollektiven Selbstbestimmung teilzunehmen.181
4. Positives Recht zwischen Instrumentalisierung und Unverfügbarkeit In diesem Teil wird begründet, dass positives Recht in der legalen Rechtsordnung durch ein Spannungsverhältnis zwischen Instrumentalisierung und Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist. 1 8 2 Nur wenn dieses Spannungsverhältnis besteht, ist Recht in der Lage, seine herrschaftsbeschränkende Funktion wahrzunehmen. In jeder modernen Herrschaftsordnung ist positives Recht (neben anderen 183) ein Mittel, politische Ziele zu verwirklichen. Für die politisch Herrschenden ist positives Recht gerade aufgrund des Zwangscharakters ein effektives und effizientes Mittel der Durchsetzung ihrer politischen Zwecke. Recht versetzt die Herrschenden in die Lage, gesellschaftliche Beziehungen und Individuen zu reglementieren, d. h. Herrschaft auszuüben. Positives Recht hat damit zwangsläufig einen instrumentalen Charakter. Positives Recht kann in einer legalen Rechtsordnung jedoch nicht in Politik aufgehen, da es der vollständigen Instrumentalisierung durch die politisch Herrschenden in zweierlei Hinsicht entzogen ist. Die zwei Seiten der Autonomie des Rechts können als externe und als interne Unverfügbarkeit beschrieben werden. Mit externer Unverfügbarkeit wird die bereits oben 184 begründete Rechtsbindung der Herrschenden bezeichnet. Das gesetzte Recht haben auch die politisch Herrschenden zu beachten; es ist unverfügbar. Insbesondere haben sich die politisch Herrschenden an die Verfahrensbedingungen zu halten, unter denen sie über das Recht disponieren dürfen. 185 Das heißt, Änderungen der Rechtsordnung sind ausschließlich im rechtlich vorgeschriebenen Verfahren zulässig. 181 Die Verschränkung von individueller und politischer Freiheit gehört zur „KernVorstellung" der angloamerikanischen rule of law. Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Eher Rechtsstaat als Demokratie, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 97, Anm. 4. 182 Das differenzierte Verhältnis von Recht und Politik kann hier nur angedeutet werden. Vgl. hierzu eingehend: Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 125 ff. 183 Neben dem positiven Recht stehen andere Mittel zur Verfügung, politische Programme durchzusetzen, z. B. materielle Anreizsysteme oder Verbreitung von Ideen durch Werbung bzw. Propaganda. 184 Siehe zur Rechtsbindung in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4. 185 Siehe: Klaus Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 57.
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Von der externen ist die interne Unverfügbarkeit des Rechts zu unterscheiden. Bedient sich die Politik des positiven Rechts, trifft sie auf eine „artifizielle Strukt u r " 1 8 6 , die sie zu beachten hat, w i l l sie die Struktur und damit das Recht selbst nicht zerstören. Genauer gesagt, mit der Entscheidung für das Recht ist eine Entscheidung zum Recht verbunden. Dem Recht haftet insbesondere aufgrund seiner formalen Struktur ein Moment der internen Unverfügbarkeit an. Die formale Struktur des modernen Rechts bringt Rationalität 1 8 7 als eine Essentiale des Rechts mit s i c h . 1 8 8 Die Rationalität des Rechts besteht u. a. i m Verbot der Willkür, in der Allgemeinheit, Bestimmtheit, Systematisierung, Generalisierung, Verallgemeinerung und Widerspruchsfreiheit 189 des Rechts. 1 9 0 I m Gegensatz zur Politik ist Recht relativ beharrlich und stabil. 1 9 1 Werden diese unverfügbaren Merkmale des Rechts nicht beachtet, verliert das Recht nicht nur seine herrschaftsbeschränkende Funktion, sondern wird zum Nicht-Recht. 1 9 2 Aus diesem Grund kann Recht nicht in
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Jürgen Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993, S. 163. 187 Weber hat die Grundlagen für die Untersuchung der Rationalität im Recht gelegt. Vgl. hierzu u. a.: Enrique Serrano Gömez, Legitimität und Rationalisierung, 1991. Im Einzelnen ist jedoch auch heute noch umstritten, worin die Rationalität des Rechts besteht. Vgl.: Klaus Eder, Prozedurale Rationalität, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986, S. 1-30. Vgl. insgesamt zur Rationalität des Rechts: André-Jean Arnaud/ Risto Hilpinen/Jerzy Wrôblewski (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht, 1985. Siehe zu kritischen Anmerkungen zur Rationalität des Rechts im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland: Ingeborg Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats, in: Dieter Deiseroth/Friedhelm Hase/Karl-Heinz Ladeur (Hrsg.), Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft/Abendroth/Blanke/Preuß u. a., 1981, S. 153-179. 188 Vgl.: Ernst-Joachim Lampe, Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?, in: ders., Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Arbeitskreis Strafrecht. Band 2: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 23; sowie: Roberto Bergaiii, Das Legalitätsprinzip: Fundament der Moderne, in: Hans Jörg Albrecht u. a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Halbband 2, 1998, S. 1326. 189
Für den demokratischen Rechtsstaat ist die von der Wiener Schule begründete Normenhierarchie (Verfassung an der Spitze, rangniedere muss mit ranghöherer Norm in Einklang stehen) von großer Bedeutung, damit die Einheit der Rechtsordnung gewährleistet werden kann. Die Normenpyramide bildet die Grundlage des positiven Rechts im demokratischen Rechtsstaat, da sie politische Macht bindet, die Verlässlichkeit des Rechts sichert und eine Kompetenzabgrenzung ermöglicht. Vgl. hierzu: Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000, S. 13. 190 Vgl. hierzu auch Füllers Prinzipien der Legalität: Lon L. Füller, The Morality of Law, 1969, S. 46 ff. Siehe auch: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 16 f. M Vgl.: Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 1977, S. 135. 192 Vgl. auch Füller, nach dem die Nichtbeachtung der Prinzipien der Legalität (siehe Anm. 190 in diesem Kapitel) nicht zu einem „bad legal system" führt, sondern zu einem System, das „is not properly called a legal system at all". Lon L. Füller, The Morality of Law, 1969, S. 39.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Politik aufgehen, sondern nur zerstört werden, wenn die unverfügbare Struktur nicht beachtet wird. Aus der Instrumentalisierung und Unverfügbarkeit des positiven Rechts entsteht ein dauerhaftes natürliches Spannungsverhältnis zwischen Recht und politischer Herrschaft. 193 Wie gezeigt wurde, sind beide Elemente notwendig, d. h., in der legalen Rechtsordnung ist es erforderlich, dass das Spannungsverhältnis aufrecht erhalten und nicht einseitig zugunsten eines Elementes aufgelöst wird. Da die politisch Herrschenden das Recht für ihre Ziele einsetzen, das Recht sich hierin aber nicht erschöpft, kann weder das Recht noch die Politik den Primat beanspruchen. 194
5. Gewaltenteilende Rechtsordnung Die Notwendigkeit der Teilung der staatlichen Gewalten 195 in rechtsetzende, rechtsanwendende und rechtskontrollierende Gewalt ergibt sich im demokratischen Rechtsstaat aus mehreren Faktoren. Allen Faktoren gemeinsam ist die Einsicht, dass allein durch die Gewaltenteilung die Idee der Machtbeschränkung durch positives Recht effektiv umgesetzt werden kann. Die organisatorische Verwirklichung der Legalität führt zur Trennung von legislativer Rechtsetzung und exekutiver Rechtsanwendung als „konstruktives Grundprinzip" 196 , denn die Rationalität des Rechts fordert die Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Würde die rechtsetzende Gewalt zugleich die exekutive Gewalt innehaben, könnte diese einheitliche Institution mit einem Einzelakt eine widersprechende Rechtsnorm suspendieren. Weder die Allgemeinheit des Gesetzes noch das Willkürverbot wären so gewährleistet. Das gleiche Argument kann für die Durchsetzung der Rechtsbindung197 vorgebracht werden. Die Rechtsbindung macht nur dann Sinn, wenn nicht ein und dieselbe Institution normenanwendend und zugleich normensetzend tätig werden kann. 198 Die Bindung 193 Eingehend hierzu auch: Jürgen Habermas, Recht und Moral (Tennure Lectures), 1986, in: ders., Faktizität und Geltung, 1997, S. 582 ff. 194 In Verkennung dieser Wechselbeziehung wird für den demokratischen Rechtsstaat mancherorts der Primat der Politik gefordert. Vgl. u. a.: Jan Ross, Die ungeliebte Legalität, in: Merkur 49, 1995, S. 1087. 195 Die praktische Umsetzung der Gewaltenteilung kann variieren. Grundsätzlich sind präsidiale (Unabhängigkeit der Exekutive) und parlamentarische (von Legislative bestimmter Chef der Exekutive, eigener Kernbereich der Exekutive) Systeme zu unterscheiden. 196 Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, 1993, S. 8. 197
Siehe zur Rechtsbindung in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4. In bestimmten Fällen kann die Legislative die Rechtsetzungsbefugnis auf die Exekutive übertragen. Da bei diesen sog. Rechtsverordnungen die Gefahr der Selbstermächtigung der Exekutive sehr hoch ist, sind an die Übertragung der Rechtsetzungsbefugnis bestimmte Anforderungen zu stellen, vgl. Art. 80 GG sowie den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Parlamentsvorbehalt für grundlegende und wesentliche (in der Regel grundrechtsrelevante) Entscheidungen (BVerfGE 49, 89, 127). 198
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an das Recht würde in ihrer Wirkung nämlich entfallen, wenn die vollziehende Gewalt durch Rechtsetzung die geltende Rechtsnorm außer Kraft setzen könnte. Folglich ist die Teilung der staatlichen Gewalten ebenso Voraussetzung für die Geltung von Menschenrechten. 199 Denn erst die institutionell gesicherte Rechtsbindung kann die jeweils Herrschenden an positive Menschenrechte binden. Hinzu kommt, dass sich subjektive Rechte durch die Einklagbarkeit auszeichnen.200 D. h. Grundrechte können als solche nur bezeichnet werden, wenn sie durch eine unabhängige Instanz gegen die exekutiv Herrschenden durchgesetzt werden können. Deshalb bildet die Judikative das „Herzstück" 201 einer gewaltenteilenden Rechtsordnung. Demnach ergibt sich eine Teilung der staatlichen Gewalten in Exekutive, Legislative und Judikative. Die Teilung der Gewalten zieht jedoch keine strikte Trennung nach sich. Die Gewaltenteilung verlangt neben der Verteilung, Begrenzung und Zuordnung von staatlichen Kompetenzen zugleich die gegenseitige Verschränkung staatlicher Befugnisse. Erst hierdurch wird es möglich, dass sich die staatlichen Gewalten wechselseitig kontrollieren, hemmen und beschränken mit der Folge, dass die Möglichkeiten des Machtmissbrauchs minimiert werden. Folglich bedeutet Gewaltenteilung vielmehr eine institutionell abgesicherte Machtbalance, die jeder staatlichen Gewalt einen Kernbereich überlässt, denn eine strikte Trennung staatlicher Macht. Neben dieser vertikalen Gewaltenteilung zeichnen sich alle demokratischen Rechtsstaaten durch eine horizontale Gewaltenteilung aus. Auch Zentralstaaten kennen die kommunale Selbstverwaltung, d. h. die vom Staat unabhängige Verwaltung örtlicher Angelegenheiten. Die kommunale Selbstverwaltung ist Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung auf der niedrigsten Verwaltungsebene.
III. Teilergebnis In diesem Abschnitt wurde begründet, dass Legalität notwendig für die Herstellung der Legitimität ist. Positives Recht gewährleistet Freiheit und Gleichheit durch subjektive Grundrechte, garantiert Sicherheit und Verlässlichkeit durch Rechtssicherheit und sichert demokratische Verfahren durch positive Verfahrensnormen. Den Kern der Legalität bilden die Bindung der Herrschenden an das positive Recht und der Zwang der Ausübung von Herrschaft mittels des positiven Rechts. Rechtsnormen sind die Grundlage der Legalität im demokratischen 199 Selbstverständlich ist das Prinzip der Gewaltentrennung keine hinreichende Bedingung für die Gewährleistung von Menschenrechten. Hierzu: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 121 ff., 218 ff. 200 Siehe zum subjektiven Recht in diesem Unterabschnitt, 3. 201 Otto Luchterhandt, Rußlands unsicherer Weg zum Rechtsstaat, in: Osteuropa 46, 1999, S. 1117.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Rechtsstaat. Sie sind zugleich „Zwangsgesetze und Gesetze der Freiheit". 2 0 2 In der legalen Rechtsordnung erhält positives Recht seine Verbindung zu einem überpositiven Bezugssystem der Moral, ohne diesem untergeordnet zu sein. Unverzichtbarer Teil der Rechtsnormen i m demokratischen Rechtsstaat sind subjektive Rechte. I m demokratischen Rechtsstaat bleibt positives Recht gegenüber der Politik eigenständig. Eine legale Rechtsordnung ist deshalb immer auch eine gewaltenteilende Rechtsordnung. Damit sind die konstitutiven Elemente des demokratischen Rechtsstaates bestimmt (Tabelle 2).
Tabelle 2 Konstitutive Elemente eines demokratischen Rechtsstaates: das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell material-formale Elemente
1. Gewährleistung subjektiver Grundrechte zum Schutz der privaten Autonomie, Anerkennung des positiven Rechts als Schutzinstrument individueller Freiheit und Gleichheit 2. Gewährleistung von Sicherheit und Verlässlichkeit durch Rechtssicherheit 3. Anerkennung der Verbindung von positivem Recht und überpositivem Bezugssystem der Moral
prozedural-formale Elemente
4. Sicherung demokratischer Verfahren durch Rechtsnormen, Ermöglichung von retrospektiven und prospektiven Wahlen 5. Gewährleistung von subjektiven Grundrechten zum Schutz der öffentlichen Autonomie und politischem Pluralismus
formale Elemente
6. Beachtung von Rechtsbindung und Rechtsformenzwang 7. Beachtung der Unverfügbarkeit des Rechts, d. h. keine einseitige Instrumentalisierung des positiven Rechts 8. Beachtung der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Judikative
Schon hieraus folgt, dass sich Legalität in einer legalen Rechtsordnung nicht auf ihre formalen Aspekte reduzieren lässt. 2 0 3 Legalität muss sich i m demokratischen Rechtsstaat immer auch an inhaltlichen Vorstellungen messen lassen. 2 0 4 Das wird 202 In Anschluss an Kant, Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 169. 203 Vgl. zum Wandel des Legalitätsbegriffs auch: Hasso Hofmann, Zum Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität in der Demokratie, in: Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll, 1981, Nr. 5, S. 5. 204 Dass das gesetzlichen Handeln des Staates im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland mit der Wertorientierung der Verfassung verknüpft wurde, zeigt die Genese des Rechtsstaatsbegriffs als „materiales Ordnungsprinzip". Vgl.: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band 1, 1984, S. 774; sowie: Nicolai Dose, Der deutsche Rechtsstaat, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen - Entwicklungen - Perspektiven, 1999, S. 119.
C. Zusammenhang von Legitimität und Legalität
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besonders deutlich, wenn man den Zusammenhang von Legitimität und Legalität i m demokratischen Rechtsstaat beleuchtet.
C. Formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell Zusammenhang von Legitimität und Legalität I m dritten Abschnitt dieses Kapitels soll der Zusammenhang zwischen Legitimität und Legalität deutlich gemacht werden. 2 0 5 Die einzelnen Elemente der Wechselbezüglichkeit von Legitimität und Legalität wurden schon mehrfach angesprochen, jedoch noch nicht systematisch dargestellt. Erst die zusammenhängende Darstellung macht das Wechselspiel zwischen Legitimität und Legalität i m demokratischen Rechtsstaat deutlich. Sodann ist es möglich, die Staats- und Rechtsordnung des demokratischen Rechtsstaates als Ganzes zu verstehen. Es wird sich zeigen, dass die simple Entgegensetzung von interner Legalität einerseits und externer Legitimität andererseits 206 unzureichend ist, wenn man die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates vollständig rekonstruieren will. Denn die wechselbezügliche Beziehung von Legitimität und Legalität bringt den „begrifflichen oder intern e n " 2 0 7 , d. h. den normativen 2 0 8 Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit 205
Zum Verhältnis von Legalität und Legitimität vgl. u. a.: Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, 1993; Otto Kirchheimer, Legalität und Legitimität, 1932, in: ders., Politische Herrschaft, 1967, S. 7 - 2 9 ; Karl Geiler, Legalität und Legitimität, in: Die Gegenwart 2, 1947, Nr. 3/4, S. 15-17; Johannes Winckelmann, Die verfassungsrechtliche Unterscheidung von Legitimität und Legalität, in: ZgS 112, 1956, S. 164-175; Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1964, 1992; Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977; Hans H. Klein, Legitimität gegen Legalität?, in: Bodo Börner/Hermann Jahrreiß / Klaus Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit, Band 2: Staatsrecht, 1984, S. 645-660; Rainer Eckertz, Die Verfassung zwischen Legalität und Legitimität - ein Provisorium, in: NJW 36, 1983, S. 724-726; Thomas Würtenberger, Legitimität und Gesetz, in: Bernd Rüthers / Klaus Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 533-550; Jürgen Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: Kritische Justiz 20, 1987, S. 1-16. Helga Worm, Legalität und Legitimität, in: Der Staat 27, 1988, S. 75-92. Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, 1991; Ernst Vollrath, Legalität und Legitimität als Kategorien der staatlichen Existenz, in: Klaus Held/Jochem Hennigfeld (Hrsg.), Kategorien der Existenz, 1993, S. 415-440; Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997; Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53, 1998, S. 330-338; Michael Baurmann, Zehn Thesen zum Verhältnis von Normanerkennung, Legitimität und Legalität, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 1: Legitimationen, 1998, S. 409-441; Jiri Pribän, Legitimacy and Legality after the Velvet Revolution, in: Jiri Pribän / James Young (Hrsg.), The Rule of Law in Central Europe, 1999, S. 29-55. 206 So aber: Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 53,1998, S. 331. 2 07 Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 664.
144
3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
(bzw. rule of law 209) und Demokratie zum Ausdruck. 210 Im demokratischen Rechtsstaat hat sich neben der „historisch-zufälligen" 211 eine normative Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entwickelt, die das eine ohne das andere als defizitär erscheinen lassen. 208 Selbstverständlich lassen sich empirische Beispiele für nicht demokratische Rechtsstaaten sowie für nicht rechtsstaatliche organisierte Demokratien finden. Vgl.: Jürgen Habermas, Uber den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 83. 209 Im Gegensatz zur tradierten deutschen Rechtsstaatskonzeption werden in der englischen Verfassungstheorie die rule oflaw und die Souveränität des Parlaments seit jeher miteinander verbunden (vgl. u. a.: Blackstone). Die Freiheit des Einzelnen wird nicht durch Schranken gegenüber der Parlamentsgesetzgebung, sondern allein durch Teilnahme an der Gesetzgebung gewährleistet. Das englische Bürgertum sprach seinen Willen durch parlamentarische Gesetze aus. Hingegen blieb dem deutschen Bürgertum lediglich die Möglichkeit, die einmal bestehenden (monarchischen) Gesetze im Sinne einer Maximierung von Freiheit zu interpretieren {Neumann). Die begriffliche Trennung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stellt sich damit als nationales, nämlich als deutsches (Wolff), und nicht als sachhaltiges Problem heraus. Letztendlich besteht also kein vernünftiger Grund zur Annahme, dass mit dem demokratischen Rechtsstaat und der rule of law unterschiedliche Vorstellungen und Ideale verbunden sind (vgl.: MacCormick; siehe zum Zusammenhang von rule of law und Legitimität auch: Summers). Siehe zu den Belegen: William Blackstone, Commentaries on the laws of England, Band 1, Of the Rights of Persons, 1765, 1979, S. 156 ff.; Franz Neumann,, Der Funktionswechsel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, 1937, in: Franz Neumann / Herbert Marcuse (Hrsg.), Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, 1967, S. 52; Heinrich Amadeus Wolff \ Das Verhältnis von Rechtsstaatesund Demokratieprinzip, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, 2000, S. 73 f.; Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39, 1984, S. 67; Robert S. Summers, The Principles of the Rule of Law, in: Notre Dame Law Review 74, 1999, S. 1704. Vgl. außerdem zur Entwicklung in England: Klaus Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 20 ff. 210
Vgl. zum Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie u. a.: Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, 1953, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, 1973, S. 107-146; Werner Maihofer, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 37; Kaarlo Tuori, Four Models of the Rechtsstaat, in: Werner Krawietz / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 451-464; Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S.J664; Gerhard Robbers, Der Rechtsstaat und seine ethischen Grundlagen, in: Kirche und Gesellschaft 209, 1994, S. 11; Jürgen Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 83-94; Thomas Kreuder, Rechtsstaat und Unrechtsregime, in: Heiner Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 47 f.; Ota Weinberger, Preface / Vorwort, in: Werner Krawietz / Enrico Pattaro / Alice Erh-Soon Tay, Rule of Law. Political and Legal Systems in Transition, 1997, VIII; Heinrich Amadeus Wolff, Das Verhältnis von Rechtsstaates- und Demokratieprinzip, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, 2000, S. 73-93. 211
Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 664. Dagegen sieht Ralf Dreier wohl eine gemeinsame historische Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie, wenn er meint, dass sich „zumindest theoretisch ... die Entwicklung des Rechtsstaates von deijenigen der Demokratie ablösen" lässt. Ralf Dreier, Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht, 1985, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, 1991, S. 74.
C. Zusammenhang von Legitimität und Legalität
145
Die Legalität sichert in erster Linie die Legitimität und trägt insbesondere durch die Rationalität des Rechts zur Legitimität bei (Unterabschnitt I.). Das positive Recht wiederum bedarf der rechtfertigenden Begründung, d. h., die Legitimität begründet die Legalität (Unterabschnitt II.). Die Interdependenz zwischen Legitimität und Legalität bedeutet nicht die Über- bzw. Unterordnung des einen über bzw. unter das andere Element. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Legalität und Legitimität behalten ihren eigenen Wirkungskreis. Zudem wird begründet, dass es deshalb angemessen ist, von einem formal-material qualifizierten prozedurale Legitimitätsmodell des demokratischen Rechtsstaates zu sprechen (Unterabschnitt III.).
I. Gewährleistung material-prozeduraler Legitimität durch formale Legalität Die Legalität spielt eine doppelte Rolle bei der Legitimitätsbegründung. Einerseits ist eine legale Rechtsordnung notwendig, um Legitimität zu sichern. Ohne die Kernelemente der Legalität, Rechtsbindung und Rechtsformenzwang, ist das material-prozedurale Legitimitätsmodell nicht durchzusetzen. Andererseits leistet die Legalität aufgrund der Rationalität des Rechts und des Bezuges zum überpositiven Bezugssystem der Moral einen eigenen Beitrag zur Legitimität der Staats- und Rechtsordnung des demokratischen Rechtsstaates. Eine legale Rechtsordnung ist erforderlich, um Freiheit und Gleichheit, Sicherheit und Verlässlichkeit sowie demokratische Verfahren zu gewährleisten. Wie schon oben 212 begründet wurde, verlangen alle drei Legitimitätsgründe eine positiv rechtliche Ausgestaltung. Rechtsbindung und Rechtsformenzwang als Kern einer legalen Rechtsordnung bilden die Grundlage für die Durchsetzung der Legitimitätsgründe. Die im Verfassungsrecht zum Ausdruck kommenden Spielregeln (politische und persönliche Freiheiten, demokratische Verfahren, Gewaltenteilung etc.) haben nicht lediglich eine regulative Funktion, 213 sondern sie bilden zugleich konstitutive Regeln 214 demokratischer Ordnungen. Mit anderen Worten: positives Recht ermöglicht erst demokratische Willensbildung und beschränkt sie nicht. 212 Siehe ausführlich zur Notwendigkeit der Legalität in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I. 213 Konflikte zwischen Grundrechten und demokratischen Verfahren der Mehrheitsentscheidung sind praktisch vorprogrammiert. Nur eine Beispiel: Im Urteil über das Verbot Todesstrafe des Verfassungsgerichts Ungarns, die übrigens entgegen der Mehrheit in der Bevölkerung abgeschafft wurde, verlangt Richter Schmidt in einem Sondervotum eine Parlamentsentscheidung wegen des Widerspruch zweier Verfassungsbestimmungen. Vgl.: George P. Fletcher, Searching for the Rule of Law in the Wake of Communism, in: Brigham Young University Law Review 18, 1992, S. 161 ff. 214 Siehe zu dieser Unterscheidung: Stephen Holmes, Verfassungsförmige Vorentscheidungen und das Paradox der Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 152.
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Zur Legitimität trägt jedoch zusätzlich die dem Recht eigene formale Rationalität (Willkürverbot, Allgemeinheit, Bestimmtheit, Systematisierung, Generalisierung, Verallgemeinerung, Widerspruchsfreiheit des Rechts) 215 bei. Aufgrund von Rechtsregeln werden Entscheidungen versachlicht 216 und damit nachvollziehbar sowie kontrollierbar, was zur Folge hat, dass Herrschaft berechenbar und verlässlich wird. Die Verpflichtung zur Rechtsform (Rechtsformenzwang 217) bringt die dem Recht eigene Rationalität für die Legitimität der Herrschaftsausübung zur Geltung. Ferner stellt das Recht seine prozedurale Rationalität durch Institutionalisierung von Begründungswegen und die Möglichkeit des Dissenses insbesondere den legitimitätsbegründenden demokratischen Verfahren zur Verfügung. 218 Das Recht entwickelt sich so zum Medium der Koordination differierender Interessen am Rechtsprozess Beteiligter. 219 Die Prozessrationalität setzt die formale Rationalität fort 2 2 0 und löst sie nicht ab. Prozedurales Recht sorgt durch die Steuerung von diskursiven Entscheidungsprozessen für Einsicht in kollektiv getroffene Entscheidungen auch und gerade unter Entscheidungszwängen.221 Das Recht institutionalisiert Argumentationsfiguren, 222 Begründungsgepflogenheiten und verteilt außerdem Begründungspflichten. So ist es u. a. möglich, dass positives Recht vor unerwünschter politischer Einflussnahme schützt. 223 Der Bezug des positiven Rechts zu den überpositiven Normen der Moral trägt zudem zur Legitimität der Herrschaftsordnung und des Rechts bei. Denn positives Recht ist nur solange legitim, wie es seine Beziehung zur Gerechtigkeit 224 und sei215 Siehe zur Rationalität des Rechts als Element der internen Unverfügbarkeit in diesem Kapitel: Abschnitt B. Unterabschnitt II., 4. 216
Vgl.: Volker Sellin, Liberalismus, Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Band 4, 1971, S. 67. 217 Erst durch die Rationalität des Rechts erhält der Rechtsformenzwang, d. h. die Pflicht zur Ausübung von Herrschaft durch gesetztes Recht, seine vollständige Begründung. Siehe zum Rechtsformenzwang in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4. 218
Siehe zur Rolle des positiven Rechts in demokratischen Verfahren in diesem Kapitel: Abschnitt B. Unterabschnitt I., 3. 219 Vgl.: Klaus Eder, Prozedurale Rationalität, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986, S. 6. 22 0 Vgl.: Klaus Eder, Prozedurale Rationalität, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986, S. 25 f. 221
Vgl.: Klaus Eder, Prozedurale Rationalität, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986,
S. 28. 222
Vgl.: Roberto Bergaiii, Das Legalitätsprinzip: Fundament der Moderne, in: Hans Jörg Albrecht u. a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Halbband 2, 1998, S. 1326 f. 223 Siehe: Friedrich G. Schwegmann, Legalität/Legalitätsprinzip, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik. Band 7: Politische Grundbegriffe, 1998, S. 349. 224 Vgl. zum Anspruch des Rechts auf Gerechtigkeit: Jürgen Habermas, Nachwort zu: Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 180; Ota Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 38.
C. Zusammenhang von Legitimität und Legalität
147
nen Anspruch auf R i c h t i g k e i t 2 2 5 aufrecht erhält. Erfüllt Recht diese Voraussetzungen n i c h t , 2 2 6 verliert Recht seine „legitimierende K r a f t " 2 2 7 , d. h. wird entweder zum Nicht-Recht (bei extrem ungerechten N o r m e n ) 2 2 8 oder nicht-legitimen Recht.
II. Begründung formaler Legalität durch material-prozedurale Legitimität Die Verbindung von der Legitimität zur Legalität ist recht einfach hergestellt. Die Ziel der Legitimität ist die normative Rechtfertigung von Herrschaft. Da i m demokratischen Rechtsstaat Herrschaft allein auf der Grundlage des positiven Rechts ausgeübt werden kann, rechtfertigt die Legitimitätskategorie das positive Recht. Die materialen und prozeduralen Legitimitätsbedingungen ermöglichen legitime Rechtsetzung und die Genese eines legitimen Legalitätssystems. 229
III. Ergebnis: formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell als unrechtsvermeidendes Modell A u f der Grundlage der Analyse von Legitimität und Legalität sowie deren Wechselbeziehung wird hier ein formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell 2 3 0 als adäquate Rekonstruktion der Staats- und Rechtsordnung des 225
Siehe zum Anspruch auf Richtigkeit: Robert Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 18 ff. 226 Die Moral als Korrektiv eines unmoralischen Rechts entspricht nicht immer der Rechtswirklichkeit. Positives Recht erreicht zuweilen ein höheres moralisches Niveau (z. B. bei der Abschaffung der Todesstrafe), als es die allgemein anerkannte Moral vermuten lässt. Vgl.: Günter Ellscheid, Interaktionen zwischen Rechtssystem und Widerstand, in: Peter Saladin (Hrsg.), Widerstand im Rechtsstaat, 1988, S. 252. 227 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 180. 228
Siehe zum ethischen Rechtsbegriff in diesem Kapitel, Abschnitt B., Unterabschnitt II., 2. Vgl. hierzu auch den Polnischen Verfassungsgerichtshof: „Ein demokratischer Rechtsstaat (ist, d. A.) ein solcher Staat..., in dem das Recht von dem Vertretungsorgan des Volkes im Wege eines demokratischen Verfahrens gebildet wird. Ein solches Verfahren, das auf den Grundsätzen der Offenheit, Diskussion und erforderlichen gesetzgeberischen Tätigkeit im Zusammenwirken beruht, wird durch den gesetzlichen parlamentarischen Weg garantiert." Polnischer Verfassungsgerichtshof Entscheidung vom 31. 1. 1991 ( K l l / 9 0 ) , zitiert nach: Kazimierz Dzialocha, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen einer grundlegenden Umformung des Rechtssystems, dargestellt am Beispiel Polen, in: Osteuropa-Recht 39, 1993, S. 9. 2 30 In der Literatur werden unterschiedliche Kombinationen vorgeschlagen. Die Vorschläge reichen von einem „material-prozeduralen" (Ralf Dreier) zu einem „zugleich formalen und materialen" (Maihofer) Legitimitätsmodell bzw. einem „both formally and substantively" (Bunge) legitimen System. Vgl. zu den Zitaten: Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder 229
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3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
demokratischen Rechtsstaates vorgeschlagen. Abschließend sollen die Argumente gegen dieses Modell auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Es wird sich jedoch herausstellen, dass Legitimität weder auf Prozeduren, noch allein auf formale oder materiale Elemente von Herrschaft zu reduzieren ist, sondern dass alle drei Aspekte für die Begründung von Legitimität notwendig sind. Zunächst zur Kritik rein prozeduraler Modelle. 231 Verfahren unterschlagen in der Regel die Notwendigkeit der Beschränkung ungerechter Verfahrensergebnisse. Denn Verfahren nehmen lediglich die Plausibilität der Richtigkeit des positiven Rechts in Anspruch. Plausibilität der Richtigkeit ist jedoch weniger im Vergleich zu Richtigkeit an sich. 232 Hieraus folgt, dass auch demokratische Verfahren theoretisch zu jedem Ergebnis kommen können. Insbesondere sind Minderheiten ohne entsprechende Grundrechte weitgehend schutzlos und dem Diktat der Mehrheit ausgeliefert. Demnach müssen auch demokratische Verfahren bestimmte Ergebnisse von vornherein ausschließen. Die Ergebnisbeschränkungen können nicht aufgrund von Verfahren, sondern allein aufgrund verfahrensunabhängiger Bedingungen erfolgen. 233 Konkret folgen die Einschränkungen aus der Idee der individuellen Selbstbestimmung,234 denn es gibt kein legitimes Recht ohne Grund- und Menschenrechte. 235 Grundrechte bilden folglich ein wesentliches Element materialer Legitimität und Legalität. Im demokratischen Rechtsstaat kann demnach auch das Volk nicht als das „unnormierbar Normierende" 236 gelten, das absolute Souveränität beansprucht. 237 Aus diesem Grund kann auch nicht von „Volkssouveränität" 238 Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 381; Werner Maihofer, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 20; Mario Bunge, Morality is the Basis of Legal and Political Legitimacy, in: Werner Krawietz / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Öffentliche oder private Moral?, 1992, S. 382. 231 Siehe zur Legitimität durch Verfahren: Kapitel 2, Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4., d. Vgl. zur Kritik auch: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 117 f.; Brigitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 320 f. 232 So: Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 85. 233 Vgl. z u r grundrechtsfreundlichen Anwendung vorhandener Verfahrens Vorschriften: BVerfGE 69, 315, 355; BVerfGE 73, 280, 296. Vgl. auch: Klaus Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980. 234
Siehe zur Begründung individueller Selbstbestimmung in der europäisch-atlantischen Rechtskulturtradition: Kapitel 2, Abschnitt C., Unterabschnitt III.; sowie zum Inhalt in diesem Kapitel: Abschnitt A., Unterabschnitt I. 2 35 Siehe oben. Vgl. auch: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 159. 23 6 Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, 1953, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, 1973, S. 139. 237 Vgl. auch: Péter Paczolay, Constitutional and Legal Change during the Transition from Socialism to Democracy in Hungary, in: Rechtstheorie 26, 1995, S. 287. 238 Zweifellos wird der Begriff „Volkssouveränität" unterschiedlich definiert. In der hier abgelehnten Intepretation bedeutet der Begriff ein absolutes uneinschränkbares Letztentscheidungsrecht. Siehe hierzu: Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität,
C. Zusammenhang von Legitimität und Legalität
149
die Rede sein. 239 Im demokratischen Rechtsstaat kann es aufgrund der Geltung der Grundrechte keinen personifizierten Souverän mehr geben. Denn auch das Volk ist Teil einer Kompetenzordnung, die es selbst nur durch verfassunggebende Gewalt außer Kraft setzen kann. 240 Materiale Elemente bilden nicht nur die Begrenzung prozeduraler Ergebnisse, sondern sind zum Teil sogar Voraussetzung prozeduraler Theorien. So kann auch der Diskurstheorie 241 unterstellt werden, Grundrechte vorauszusetzen. Denn Basis diskurstheoretischer Untersuchungen ist ein System von Rechten, das sich „die Bürger einander zuerkennen müssen" 242 , sofern sie ihre Angelegenheiten mit Mitteln des positiven Rechts regeln wollen. Die Diskurstheorie etabliert also „von Anfang an" 2 4 3 moralisch relevante Verhältnisse zwischen den Teilnehmern. 244 Damit erweist sich der Zusammenhang von Verfahren und materialen Inhalten bei der Begründung der Legitimität auch in der Diskurstheorie. Die Reduzierung der Legitimität auf einen materialen Inhalt wird nicht mehr vertreten. Die Konstruktion einer normativen überpositiven Wirklichkeit mit absolutem Charakter hat die „Sakralisierung" 245 von Herrschaft und positivem Recht zur Folge. Die Herrschenden würden damit unantastbar, was in der Geschichte immer zu einem Missbrauch von Herrschaft geführt hat und damit nicht akzeptabel ist. Das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell zeichnet sich gerade dadurch aus, dass innerhalb eines den formalen und materialen Anforderungen entsprechenden Rahmens verschiedene Politiken möglich sind. Das Modell zeichnet sich durch seine „Flexibilität" 246 aus, da die Prozedur der EntscheidungsVerfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: PVS 36, 1995, S. 49-66. Hiervon ist der Habermasschc Begriff der Volkssouveränität zu unterscheiden, der von subjektiven Rechten ausgeht. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 209 ff. 239 Einzig die verfassunggebende Gewalt des Volkes könnte als Ausübung der Volkssouveränität betrachtet werden. Siehe zur Verfassunggebung: Kapitel 5, Abschnitt B. 24
Siehe: Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 273 ff. Siehe zur Diskurstheorie: Kapitel 2, Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4., d. 242 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 1997, S. 109. 241
243
Wolfgang Kuhlmann, Die Idee des Diskurses und die Idee der Demokratie, in: Holger Burckhart (Hrsg.), Diskurs über Sprache, 1994, S. 102. 244 Vgl. zu materialen Voraussetzungen (schwach transzendentale Annahmen) in der Diskurstheorie: Robert Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 132. Außerdem: Dietmar von der Pfordten, Rechtsethische Rechtfertigung - material oder prozedural?, in: Lorenz Schulz (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, 2000, S. 25 ff. 245 Hans Albert, Erkenntnis und Recht, in: Hans Albert/Niklas Luhmann/Werner Maihofer /Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 85. 246 Zbigniew A. Maciag, Probleme der Anpassung der polnischen Verfassungsordnung an europäische Standards, in: Christian Tomuschat/Hein Kötz/Bernd von Maydell (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskulturen, 1995, S. 188.
150
3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
findung festgelegt ist, jedoch nicht das Ergebnis selbst. 247 Das demokratische Verfahren ermöglicht damit Offenheit und Elastizität, um auf einen strukturellen Wandel in der Gesellschaft reagieren zu können. 248 Dagegen wird relativ häufig darüber diskutiert, ob sich Legitimität auf Legalität reduzieren lässt. 249 Durch die oben 250 begründete Notwendigkeit materialer und prozeduraler Elemente kann die Auffassung, dass Herrschaft durch rein formale Legalität legitimiert werden kann, als widerlegt gelten. Die Diskussion bringt jedoch einen ganz essentiellen Punkt zur Vervollständigung des Legitimitätsmodells des demokratischen Rechtsstaates ein. Wie ebenfalls oben 251 begründet, ist Rechtsbindung und Rechtsformenzwang notwendig zur Gewährleistung der Legitimität. Aus dieser Notwendigkeit heraus ist demokratisch-rechtsstaatliche Herrschaft immer konstitutionell verfasste Rechts-Herrschaft. Die Rechtsetzung basiert auf dem Recht, d. h., die Staatsverfassung ist „letzter normativer Geltungsgrund allen Rechts". 252 Diese Geltungsbeziehung wird aber nur dadurch aufrecht erhalten, dass Legalität einen materialen und prozeduralen Gehalt aufweist. 253 Denn rein formale Legalität kann keine Legitimität begründen. Mit anderen Worten: sofern die legale Rechtsordnung einen materialen und prozeduralen Gehalt aufweist, solange können die nach diesem Legalitätssystem zustandegekommenen Rechtsnormen als legitim gelten, d. h. solange kommt der verfassungsimmanenten Legalität Legitimität schon per definitionem zu. Hieraus ist jedoch nicht zu folgern, dass es sich bei der Legitimität um eine entbehrliche Kategorie handelt, da Legalität und Legitimität in der Verfassung des demokratischen Rechtsstaates zusammenfallen. 254 Denn Legitimität erschöpft sich nicht in Legalität. Es bleibt auch im demokratischer Rechtsstaat dabei, dass Legitimität erklären soll, ob das Legalitätssystem zu rechtfertigen ist. Legalität ist nicht Quelle der Legitimität, sondern wesentlich Mittel und Methode der Legitimität, d. h. Legitimitätsgarantie. Der Begriff der Legitimität setzt einen Wertungsmaßstab 247 Vgl z u unsicheren Ergebnissen und sicheren Verfahren im demokratischen Rechtsstaat („liberal democracy"): Valerie Bunce, Rising Above the Past: The Struggle for Liberal Democracy in Eastern Europe, in: Sabrina Petra Ramet (Hrsg.), Adaptation and Transformation in Communist and Post-Communist Systemsk, 1992, S. 245 f. 248 Vgl.: hierzu auch: Niklas Luhmann, Legitimität durch Verfahren, 1969,1983, VII. 249 Siehe zur Legitimität durch die Rechtsform: Kapitel 2, Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4.,c. 250
Siehe zur Begründung der Legitimität von Herrschaft in diesem Kapitel: Abschnitt A. 251 Siehe zur Begründung von Rechtsbindung und Rechtsformenzwang in diesem Kapitel: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 4. 252 Werner Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 223. 253 Vgl. auch: Hasso Hofmann, Zum Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität in der Demokratie, in: Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll, 1981, Nr. 5, S.8. 254 So: Christoph Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 91 f., 144 ff.
D. Zwischenergebnis
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voraus, der über dem des positiven Rechts liegt, 255 andernfalls würde Legitimität letztendlich immer als formale Kategorie enden. Das widerspricht aber einer oben begründeten Annahme, dass eben nicht jedes Recht in der Lage ist, Herrschaft zu rechtfertigen. Die Verfassungen demokratischer Rechtsstaaten sind aus einem überpositiven System von Prinzipien, Leitideen und Grundwerten, d. h. aus einer normativen Legitimitätsbegründung, gewonnen worden. Diese genetische Beziehung von positiver Verfassung und überpositivem System bleibt bestehen, selbst wenn im demokratischen Rechtsstaat die Verfassung letzter Geltungsgrund für positives Recht ist. 2 5 6 Das Ergebnis der Rekonstruktion ist also ein formal-material qualifiziertes prozedurales Legitimitätsmodell. Ein Rangverhältnis der Legitimitätselemente ist überflüssig. Folglich kann auch von einer Nach- oder Vorordnung bzw. Über- oder Unterordnung einer der drei Legitimitätselemente keine Rede sein. 257 Alle Elemente tragen gleichberechtigt zur Legitimität bei. Auch wenn demokratische Verfahren materiale Voraussetzungen haben, so bleiben doch demokratische Verfahren unabdingbar zur Begründung der Legitimität. Verfahren und Werte, Form und Inhalt, sind im demokratischen Rechtsstaat nicht mehr zu trennen. 258
D. Zwischenergebnis In diesem Kapitel wurde begründet, dass die Ausübung von Herrschaft auf der Grundlage der europäisch-atlantischen Rechtskulturtradition legitim ist, wenn sie einem formal-material qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodell entspricht. Herrschaft wird zur legitimen Herrschaft aufgrund des Zusammenspiels von mehreren Elementen. Sie ist gerechtfertigt, wenn ihre Ausübung aufgrund der Anerkennung von individueller Freiheit und Gleichheit, der Garantie von Sicherheit und Verlässlichkeit (materiale Elemente) sowie demokratischer Entscheidungsund Rechtfertigungsverfahren (prozedurales Element) erfolgt. Eine legale Rechtsherrschaft (formales Element) gewährleistet die materialen und prozeduralen Elemente. Positives Recht gewährleistet Freiheit und Gleichheit durch subjektive Grundrechte, garantiert Sicherheit und Verlässlichkeit durch Rechtssicherheit und sichert demokratische Verfahren durch positive Verfahrensnormen. Den Kern der 255 Friedrich August Freiherr von der Heydte, Legitimität, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Band 5, 1960, S. 334. 256 Vgl. hierzu auch: Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, in: Rechtstheorie 18, 1987, S. 379. 257 So von der Pfordten, der materiale Elemente den prozeduralen unterordnet. Dietmar von der Pfordten, Rechtsethische Rechtfertigung - material oder prozedural?, in: Lorenz Schulz (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, 2000, S. 26. 258 Vgl.: Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter der Geschichte, 1978, S. 52.
152
3. Kap.: Legitimität und Legalität im demokratischen Rechtsstaat
Legalität bilden die Bindung der Ausübung der Herrschenden an das positive Recht und der Zwang der Ausübung von Herrschaft mittels des positiven Rechts. Das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell des demokratischen Rechtsstaates ist am ehesten in der Lage, staatliches Unrecht zu verhindern, da es auf die verschiedenen Möglichkeiten staatlicher Unrechtshandlungen 259 mit unrechtsvermeidenden Strukturen reagiert (Abbildung 2).
Handeln des Staates durch seine Organe im demokratischen Rechtsstaat260
siehe C.
rechtsförmiges Handeln auf der Grundlage
I legitimer Rechtsnormen, siehe B. nichtrechtsförmiges Handeln konkrete Fehlleistung Recht gerechte Rechtsnormen
rechtmäßige Anwendung
ungerechte Rechtsnormen
indifferente Rechtsnormen
rechtswidrige Anwendung
Unrecht
normeninkonforme Anwendung
normenkonforme Anwendung
Recht
Unrecht
siehe A. siehe A.
Recht261
Unrecht
Recht
Unrecht
Vermeidung von Unrecht durch A. materiale Legitimität und Legalität (Grundrechte, Unverfügbarkeit des Rechts, Rechtsbindung, Rechtsschutz etc.)
B. prozedurale Legitimität (demokratische Rechtsetzungsverfahren etc.)
C. Legalität (Rechtsbindung, Rechtsformenzwang, Rechtsschutz)
Abbildung 2: Vermeidung von Unrecht im demokratischen Rechtsstaat
259
Siehe zu den Möglichkeiten staatlicher Unrechtshandlungen ausführlich: Kapitel 2, Abschnitt f., Unterabschnitt II. 260 Die durchgezogene Linie symbolisiert die Regel, die gestrichelte Linie dagegen die Ausnahme im demokratischen Rechtsstaat. 261
Beachte die differierende Bedeutung von „Recht" in dieser Abbildung.
D. Zwischenergebnis
153
Der demokratische Rechtsstaat versucht, nichtrechtsförmiges Handeln des Staates durch den Zwang zur Rechtsform und die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage zu verhindern. Ungerechte Rechtsnormen sollen aufgrund demokratischer Verfahren und öffentlicher Autonomie verhindert werden. Gerechte und indifferente Rechtsnormen können zwar auch im demokratischen Rechtsstaat zu Unrecht führen, jedoch werden die tatsächlichen Auswirkungen von existierendem Unrecht durch die Gewährleistung von Grundrechten, die Unverfügbarkeit des Rechts und insbesondere durch einen unabhängigen Rechtsschutz reduziert. Die hier rekonstruierte Staats- und Rechtsordnung ist die des demokratischen Rechtsstaates. Real bestehende demokratische Rechtsstaaten können dieser Theorie mehr oder weniger entsprechen. 262 Auf der Grundlage der Ideen der individuellen und der kollektiven Selbstbestimmung zeichnet sich der ideale demokratische Rechtsstaat folglich durch Legitimität und Legalität aus. Da der Unrechtsstaat die Gegenkonzeption zum demokratischen Rechtsstaat ist, fehlt es dem Unrechtsstaat sowohl an Legitimität als auch an Legalität. Diese These soll im nächsten Kapitel ausführlich dargestellt und anhand eines sozialistischen Staates überprüft werden.
262
Zu Krisenerscheinungen im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland vgl. u. a.: Horst Sendler, Rechtsstaat im Defizit?, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 297-319.
4. Kapitel
Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung auf die Staats- und Rechtsordnung Russlands resp. der UdSSR In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff des Unrechtsstaates definiert (Abschnitt A.). Daran anschließend soll versucht werden, den Unrechtsstaatsbegriff auf die Staats- und Rechtsordnung sozialistischer Staaten anzuwenden. Auf der Grundlage der Begriffsbestimmung soll die sozialistische Staats- und Rechtsordnung der Sowjetunion kritisch analysiert und bewertet werden. Die Anwendung des Unrechtsstaatsbegriffs verlangt zunächst, sich mit dem Selbstverständnis von Legitimität und Legalität im sozialistischen Staat auseinanderzusetzen (Abschnitt B.). 1 Danach wird die sozialistische Staats- und Rechtsordnung anhand der Elemente einer legitimen und legalen Ordnung beurteilt (Abschnitt C.).
A. Der Begriff des Unrechtsstaates In diesem Teil wird der Begriff des Unrechtsstaates definiert. Zunächst werden die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel in Aussagen zusammengefasst. Auf den Ergebnissen aufbauend wird eine eigene Definition des Unrechtsstaates entwickelt. Ausgangspunkt der Begriffsdefinition ist das Ergebnis der Analyse der Literatur zum Unrechtsstaatsbegriff. 2 Danach hat sich herausgestellt, dass es nicht überzeugend ist, einen Staat allein deshalb als Unrechtsstaat zu bezeichnen, weil staatliches Unrecht tatsächlich geschieht. Denn staatliches Unrecht ist in keinem Staat auszuschließen, existiert also auch im demokratischen Rechtsstaat.
1 Vgl. zu dieser Methode: Klaus Westen , Methodische Fragen der Ostrechtsforschung, in: Dietrich Frenzke, Alexander Uschakow (Hrsg.), Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, 1965, S. 312. 2 Siehe zur Kritik des Schrifttums zum Begriff des Unrechtsstaates: Kapitel 1.
. Der Begriff des Unrechtsstaates
• Aussage 1 : Nicht jeder Staat, der staatliches Unrecht begeht, ist ein Unrechtsstaat. Die Literaturanalyse hat zudem gezeigt, dass kein befriedigendes Maß dafür existiert zu entscheiden, wann staatliches Unrecht einen Staat zum Unrechtsstaat macht. Daher ist es angemessener einen Staat als Unrechtsstaat zu bezeichnen, wenn er eine Struktur besitzt, die die Begehung von Unrecht systematisch fördert. • Aussage 2: Ein Unrechtsstaat ist ein Staat, der staatliches Unrecht strukturell begünstigt. Hieraus folgt, dass staatliches Unrecht nur sekundär als Phänomen wahrgenommen wird. Es kommt also primär darauf an, Möglichkeitsbedingungen von staatlichem Unrecht aufzudecken. Ob aus den strukturellen Bedingungen auch tatsächlich Unrecht entsteht, bleibt sekundär. Die strukturelle Förderung von Unrecht allein reicht jedoch auch nicht aus, sondern erst der Vergleich zu anderen Staaten lässt den Unrechtsstaat als solchen hervortreten. Auf dieser Grundlage kann man der Gegensätzlichkeit von Unrechtsstaat und demokratischem Rechtsstaat einen Sinn und eine Bedeutung geben. • Aussage 3: Im Unrechtsstaat ist die Begehung von staatlichem Unrecht wahrscheinlicher als im demokratischen Rechtsstaat. • Aussage 4 (2+3): Im Unrechtsstaat ist die Begehung von staatlichem Unrecht aufgrund von bestimmten Strukturen wahrscheinlicher als im demokratischen Rechtsstaat. Da der demokratische Rechtsstaat den begrifflichen und konzeptionellen Gegensatz zum Unrechtsstaat bildet, wird die Bedeutung des Unrechtsstaatsbegriffs zunächst durch eine negative Definition des demokratischen Rechtsstaates zu erfassen sein. Aus diesem Grund war es erforderlich, die grundlegenden unrechtsverhindernden Strukturen des demokratischen Rechtsstaates zu analysieren.3 Die notwendige Verbindung zwischen staatlichem Unrecht und unrechtsbegünstigenden bzw. unrechtsverhindernden staatlichen Strukturen stellen die Anforderungen der Legitimität her. Denn jede legitime Staats- und Rechtsordnung hat das Ziel, Unrecht zu verhindern. 4 Auf der Grundlage der europäisch-atlantischen Rechtskulturtradition hat eine legitime Staats- und Rechtsordnung die individuelle Frei-
3 Siehe zum demokratischen Rechtsstaat: Kapitel 3. Ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Legitimität und Unrecht dergestalt, dass eine legitime Herrschaftsordnung dauerhaft Unrecht generiert, wäre logisch nicht möglich. Der normative Begriff der Legitimität (siehe hierzu: Kapitel 2, Abschnitt B., Unterabschnitt I, 3.) kann nur als moralischer Begriff entwickelt werden. Auch der Unrechtsbegriff ist ein moralischer Begriff. Im Rahmen einer konsistenten normativen Staatslehre ist deshalb ein Widerspruch im Einzelfall, aber nicht grundsätzlich möglich. 4
156
4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
heit und Sicherheit Aller zu gewährleisten.5 Der Verstoß gegen diese Werte (Leben, Gesundheit, Freiheit, etc.) bringt Unrecht hervor. 6 Die Analyse hat gezeigt, dass die demokratisch-rechtsstaatlich organisierte Staats- und Rechtsordnung in der Lage ist, Unrecht durch das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell, d. h. durch das Bestehen von Legitimität durch Legalität, zu verhindern. • Aussage 5: Der demokratische Rechtsstaat verringert die Möglichkeit der Begehung von staatlichem Unrecht durch die Legitimität und die Legalität seiner Staats- und Rechtsordnung. Legitimität und Legalität sind folglich negative Möglichkeitsbedingungen für staatliches Unrecht. Hieraus folgt, dass jeder Staat, der diese Bedingungen nicht erfüllt, als Unrechtsstaat bezeichnet werden kann. Die unrechtsrelevanten Unterschiede von demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat lassen sich also an den Kategorien der Legitimität und der Legitimität festmachen. • Aussage 6: Der Unrechtsstaat ist ein Staat, dem die Merkmale der Legitimität und der Legalität fehlen. Das Fehlen von Legitimität und Legalität beschreibt eine unrechtsbegünstigende Staatsstruktur. Im Unrechtsstaat ist der Staat nicht gezwungen, rechtlich zu handeln, da die Rechtsbindung und der Rechtsformenzwang keine konstitutiven Prinzipien der Rechtsordnung im Unrechtsstaat bilden. Zudem ist Unrecht aufgrund gerechter bzw. indifferenter Rechtsnormen möglich, weil der Unrechtsstaat Handlungsbeschränkungen durch Grundrechte nicht akzeptiert und einen unabhängigen Rechtsschutz nicht gewährleistet. Freiheit und Gleichheit sowie Sicherheit und Verlässlichkeit sind durch eine legale Rechtsordnung nicht gesichert. Ferner ist die Herrschaftsausübung nicht durch demokratische Verfahren und politischen Pluralismus gekennzeichnet, sodass illegitimes Recht entsteht, das mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit ungerecht ist (Abbildung 3). 7 Mit anderen Worten: da der Unrechtsstaat keine Legitimität besitzt, generiert er grundsätzlich illegitimes Recht. Denn legitime Systeme generieren grundsätzlich legitimes Recht, illegitime Systeme dagegen generieren illegitimes Recht.8 Die 5 Siehe zur Legitimität durch Freiheit und Gleichheit sowie Sicherheit und Verlässlichkeit: Kapitel 3, Abschnitt A., Unterabschnitt I. 6 Siehe zum Begriff des Unrechts: Kapitel 1, Abschnitte., Unterabschnitt IV., 1 7 Siehe zu den Möglichkeiten staatlicher Unrechtshandlungen ausführlich: Kapitel 1, Abschnitte., Unterabschnitt IV., 2. 8 Im Gegensatz zu Macey, der eine Kennzeichnung von rechtlichen Regeln als legitim bzw. illegitim nicht für möglich hält. Macey führt jedoch prozedurale Regeln der Rechtsetzung an, die zur Folge haben, dass dem so generierten Recht die Vermutung anhaftet, legitim zu sein. Vgl.: Jonathan R. Macey, Public and Private Ordering and the Production of Legitimate and Illegitimate Legal Rules, in: Cornell Law Review 82, 1997, S. 1124 f.
. Der Begriff des Unrechtsstaates
Vermutung der Illegitimität der Herrschaftsausübung kann im Unrechtsstaat von Fall zu Fall durch eine konkrete Ordnungsleistung9 der Maßnahme widerlegt werden. Die Illegitimität und Nicht-Legalität des Systems hat zur Folge, dass staatliches Unrecht wahrscheinlicher wird als in einem legitimen und legalen Staat. Damit ist die Unrechtsstaatsdefinition komplett: • Aussage 7 (6+4): Ein Unrechtsstaat ist ein Staat, in dem die Wahrscheinlichkeit der Begehung von staatlichem Unrecht aufgrund des Fehlens von Legitimität und Legalität, d. h. aufgrund der Abwesenheit des formal-material qualifizierten prozeduralen Legitimitätsmodells, größer ist als in anderen Staaten.
Handeln des Staates durch seine Organe im Unrechtsstaat
J siehe C.
rechtsförmiges Handeln auf der Grundlage
I illegitimer Rechtsnormen, siehe B.
nichtrechtsförmiges Handeln
legitime Rechtsnormen durch konkrete Ordnungsleistung Recht
I
r
J
rechtmäßige Anwendung
— I
I
rechtswidrige Anwendung
siehe A.
_ l l
Unrecht
ungerechte Rechtsnormen
indifferente Rechtsnormen
gerechte Rechtsnormen
normeninkonforme Anwendung
normenkonforme Anwendung
siehe A.
Rechl10
Unrecht
Unrechtsbegünstigende
Recht
Unrecht
Strukturen: fehlendes formal-material
A. keine Grundrechte, einseitige Instrumentalisierung des Rechts, kein Rechtsschutz etc.
Recht
qualifiziertes
Unrecht
prozedurales Legitimitätsmodell:
B. keine demokratischen C. keine Rechtsbindung, kein Rechtsformenzwang, kein Verfahren der Rechtsetzung, kein Rechtsschutz etc. politischer Pluralismus etc.
Abbildung 3: Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit der Begehung von Unrecht im Unrechtsstaat
9
So auch: Hasso Hofmann, Zum Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität in der Demokratie, in: Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 5, 1982, S. 8. !0 Beachte die differierende Bedeutung von „Recht" in dieser Abbildung.
158
4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
Seine ganze Tragweite entwickelt der Begriff des Unrechtsstaates folglich erst in der Auseinandersetzung um Legitimität und Legalität. 1 1 Da der Unrechtsstaat die „eigentümliche" 1 2 Kombination von Legitimität und Legalität des demokratischen Rechtsstaates nicht kennt, ergibt sich der Unrechtscharakter aus der mangelnden Freiheitsgewährleistung als wesentliches materiales Element, den defizitären demokratischen Prozeduren und der fehlenden Rechtsbindung als den wichtigsten formalen Elementen. Demokratischer Rechtsstaat und Unrechtsstaat unterscheiden sich folglich in Begriff, Genese, Inhalt und Anwendung des positiven Rechts. Die Tauglichkeit dieser Begriffsdefinition muss die Anwendung i m nächsten Teil des Kapitels beweisen.
B. Zum Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung Zunächst ist es erforderlich, sich der theoretischen und philosophischen Grundlagen des Staats- und Rechtsverständnisses der sozialistischen Staaten zu vergewissern. Die Grundlagen staatlicher Herrschaft in sozialistischen Staaten bilden 11
Der Zusammenhang von Legitimität und Legalität auch bei der Bestimmung von Unrechtsstaaten wird von einigen Autoren erkannt, freilich ohne dass die differierenden Strukturen genau analysiert werden. Einige Autoren versuchen dem Zusammenhang dadurch Ausdruck zu verleihen, dass sie neben dem Fehlen der Rechtsstaatsqualität auch das Fehlen der Demokratie (Volkssouveränität) konstatieren. Markovic greift z. B. in der konkreten Abgrenzung seiner drei Staatstypen (despotischer, ideologischer und demokratischer Staat) maßgeblich auf Legitimitätskriterien und nicht auf seine zuvor genannten Merkmale (Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte) zurück. Kreuder meint, dass der Unrechtsstaat die „eigentümliche" Kombination von Gewaltenteilung, Pluralismus, Rechtsbindung, unabhängiger Justiz, Grundrechten und demokratischer Beteiligung nicht kennt. Lampe spricht von „Illegitimität" und von einer den „Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit" widersprechenden Organisation des Staates in Unrechtssystemen. Nach Geismann impliziert der fehlende Rechtsschutz die Illegitimität des staatlichen Handelns. Schneider dagegen verkennt die Interdependenz, wenn er meint, dass sich die „Unrechtsstaatlichkeit des Dritten Reiches" nicht aus der mangelnden „demokratischen Legitimation, sondern aus Verstößen gegen die Menschenrechte" ergebe. Vgl. zu den Zitaten: Bozidar Markovic, Despotischer, ideologischer und demokratischer Staat, in: Rechtstheorie 24, 1993, S. 231-234; Thomas Kreuder, Rechtsstaat und Unrechtsregime, in: Heiner Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 49; Ernst-Joachim Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 106, 1994, S. 701, 709f.; Georg Geismann, Menschenrecht, Staat und materiale Gerechtigkeit, in: JRE 3, 1995, S. 232; Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, 1984, S. 33. Vgl. zur Gegenüberstellung von demokratischem Rechtsstaat und Unrechtsstaat auch: Hans Ryjfel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 421; Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter der Geschichte, 1978, S. 114. Vgl. außerdem: Die Relevanz des Legitimitätsbegriffs für die Bestimmung des Begriffs des Unrechtsstaates sehen auch andere Autoren, wenngleich die Intentionen verschieden sind. Vgl.: Thomas Klein/Udo Wolf, Rechtsstaatliches Unrecht oder unrechtsstaatliches Recht?, in: Utopie kreativ, 1992, Heft 21-22, S. 19 ff. 12 Thomas Kreuder, Rechtsstaat und Unrechtsregime, in: Heiner Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 49.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
159
die Arbeiten von Marx, Engels sowie insbesondere von Lenin (Unterabschnitt I.). Daran anschließend kann das sozialistische Selbstverständnis der Legitimität rekonstruiert werden (Unterabschnitt II.). Im abschließenden Teil wird das Verhältnis der sozialistischen Lehre zum positiven Recht und zur Rechtsordnung als Ganze untersucht (Unterabschnitt III.). Bei der Darstellung der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung sollen die temporalen und lokalen Veränderungen Berücksichtigung finden, sofern sie Einfluss auf die allgemeine Staats- und Rechtslehre, bezogen auf die im Abschnitt A. vorgestellte Definition eines Unrechtsstaates, haben. Wie die Staats- und Rechtsordnung eines jeden Staates war auch die sozialistische andauernden Veränderungen unterworfen. Der sozialistische Staat der Sowjetunion aus dem Jahre 1924 unterscheidet sich von dem Staat aus dem Jahre 1953 und dem aus dem Jahre 1985. Es ist offensichtlich, dass sich das sozialistische System in allen sozialistischen Staaten im Laufe der Zeit verändert hat. Nachdem der stalinistische Terror vorüber war, der in den mittel- und osteuropäischen Ländern zur Eroberung der Macht gedient hatte, begann in der Regel eine Phase ohne Terror, wenngleich die politische Repression selbstverständlich existent blieb. Trotzdem kannte das sozialistische System konstante und variable Elemente in seiner gut siebzigjährigen Geschichte,13 auf die hier besonderes Augenmerk gerichtet werden soll.
I. Die theoretischen Grundlagen des sozialistischen Staats- und Rechtsverständnisses Ihre Grundlegung fand die sozialistische Staats- und Rechtsordnung in der Philosophie des Marxismus-Leninismus. 14 Leitender Gedanke des marxistischleninistischen Staatsverständnisses15 war, dass der Staat politisches Machtinstru13
Vgl. hierzu auch: Jänos Kornai, Das sozialistische System, 1992 (engl.), 1995, S. 465 ff. Auf die lückenhafte Darstellung von Staat und Recht bei Marx und Engels ist schon vielfach hingewiesen worden. Da sich Lenin aber auf die beiden Vordenker des Sozialismus beruft, sie ausgiebig zitiert und seine Staatstheorie auf Marx und insbesondere auf Engels aufbaut, soll der Terminus „Marxismus-Leninismus" beibehalten werden. Vgl zur Staatstheorie von Marx: Johannes Busch-Weßlau, Der Marxismus und die Legitimation politischer Macht, 1990, S. 49 ff. Teilweise wird die These vertreten, dass es eine Trennung der ursprünglichen marxistischen Staats- und Rechtslehre von der sozialistischen Staats- und Rechtslehre gab. Diese These verdrängt jedoch die Tatsache, dass sich klare Entwicklungslinien von Marx und Engels über Lenin zu Stalin ziehen lassen. Dabei muss eigentlich nicht besonders darauf hingewiesen werden, dass es andere marxistische Theorien gibt, die sich von der Lenins mehr oder weniger deutlich unterscheiden. Das gilt auch für die Staatstheorie (vgl. u. a. die Arbeiten von Kirchheimer, Abendroth, Lukäcs, Gramsci; siehe hierzu auch: David Sugarmann [Hrsg.], Legality, Ideology and The State, 1983; Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, 1975; siehe umfassend zum Marxismus: Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bände, 1977-1979, sowie zur marxistischen Rechtstheorie: Csaba Varga [Hrsg.], Marxian Legal Theory, 1993). 14
160
4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
ment der ökonomisch herrschenden Klasse zur Sicherung und Durchsetzung ihrer Interessen sei. Der Staat sei eine „Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere". 16 Diese Ansicht resultiert aus dem Denken in antagonistischen Klassenwidersprüchen. Die Gesellschaft soll in besitzende und besitzlose Klasse (Bourgeoisie und Proletariat) aufgeteilt sein, deren Widersprüche untereinander unüberwindbar seien. Hieraus ergibt sich die Funktion des Staates und des Rechts. Der Staat wird genauso wie das Recht als ein gewalttätiges Werkzeug in den Händen der herrschenden Klasse zum Zwecke der Unterdrückung der anderen Klasse begriffen. „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse."17
Im bürgerlichen Rechtsstaat werde die Klassenherrschaft nur verschleiert, hingegen zeige sich der Klassenstaat im Polizeistaat in seiner entblößten Brutalität. Der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft und seine verschiedenen Gewalten hätten letztlich die Funktion, die ausgebeutete Klasse niederzuhalten. Im bürgerlichen Staat verberge sich hinter der Gewaltenteilung nur die arbeitsteilige, organisatorische Aufgliederung der einheitlichen Staatsgewalt der Bourgeoisie. Der bürgerliche Rechtsstaat habe die Funktion, die dominante wirtschaftliche Herrschaft der Bourgeoisie zu sichern. 18 Demgegenüber sei der sozialistische Staat die Verwirklichung der Macht der Masse des werktätigen Volkes. Letztendlich werde der Staat in dem Moment absterben, in dem das Stadium der kommunistischen Gesellschaft erreicht werden würde und sich keine antagonistischen Klassen mehr gegenüberstünden.19 „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat ... Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung 15 Einführend hierzu u. a.: Walter Meder, Grundzüge der sowjetischen Staatstheorie, in: JöR, N.F. 15, 1966, S. 9 ff. Kazimierz Grzybowski, Staat, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band 6, 1972, S. 154 ff. Siehe auch: W.E. Butler (Hrsg.), Russian Legal Theory, 1996, S. 229 ff. 16 Friedrich Engels, Einleitung [zu Karl Marx' „Bürgerkrieg in Frankreich"], 1891, in: MEW, Band 22, 1972, S. 199. 17 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884, MEW, Band 21, 1975, S. 166 f. 18 A. G. Gojchbarg, The Goals and Methods of the Proletarian Revolution, 1918, in: Michael Jaworskyi (Hrsg.), Soviet Political Thought, 1967, S. 60,62. 19 Zum Ganzen: Alfred Kosing , Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 444 f. (Stichwort „Recht"), 493 ff. (Stichwort „Staat").
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
161
über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht,abgeschafft', er stirbt ab." 20
Auch wenn die spätere sozialistische Staatslehre die These vom Absterben des Staates praktisch aufgegeben hat, 21 herrschte doch weitgehend Einigkeit über die theoretische Ausgangsposition. Durch Stalin wurde die These des absterbenden Staates entscheidend modifiziert. Die außenpolitische Bedrohung der UdSSR mache, so Stalin, eine Verteidigung und damit die Beibehaltung des Staates („Militär-, Straf- und Aufklärungsorgane") notwendig.22 Auch im Innern der Gesellschaft gäbe es Widersprüche („wirtschaftlich-organisatorische" und „kulturell-erzieherische"), zu deren Lösung man die Organisation eines Staates benötige.23 Mit dieser Modifizierung konnte die sakrosankte Position von Marx und Engels beibehalten und die Abschaffung des Staates „auf einen fernen, im Nebel der Zukunft verbleibenden Termin" 24 hinausgeschoben werden. Die sowjetische Staatslehre lässt sich in verschiedene Perioden einteilen, die eine Revision der ursprünglichen marxistischen und später leninistischen Auffassung vom Staat bedeuteten.25 So hat Lenin die Staatstheorie von Marx und Engels radikalisiert, indem er die Einparteienherrschaft für notwendig hielt. Später hat dann Stalin den Staat verabsolutiert, wohingegen Chruschtschow mit seiner Volksstaatskonzeption eine Rückkehr zu Marx und Engels anstrebte.26 In den sechziger und siebziger Jahren gab es in der sowjetischen Staatstheorie eine teilweise Abkehr 20
Friedrich Engels, Herrn Eugen Dürings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), 1894, MEW, Band 20, 1973, S. 261 f. 21 Siehe: Franz Palm, Der Zusammenbruch eines gewaltenmonistischen Staatssystems am Beispiel der UdSSR, 1996, S. 12, sowie: Boris Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Reinhart Maurach/Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 13. 22 J. W. Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Tätigkeit des Zentralkomitees der KPdSU (B) vom 10. März 1939, 1952, S. 55 f. Bezeichnenderweise findet sich die Neubestimmung des Staates in dem Kapitel über die weiteren Aufgaben („weitere Festigung") der Partei wieder. 23 J. W. Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Tätigkeit des Zentralkomitees der KPdSU (B) vom 10. März 1939, 1952, S. 63. Die Termini der „wirtschaftlich-organisatorische" und „kulturell-erzieherische" Funktion werden von der sozialistischen Rechtswissenschaft teilweise wörtlich rezipiert. Vgl. hierzu: Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954, S. 51. 24 Klaus Westen, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Sowjetstaat, 1968, S. 19. 25 Hierzu ausführlich: Boris Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Reinhart Maurach/Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 9 51; Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979. 26 Im Einzelnen hierzu: Boris Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Reinhart Maurach / Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 22 ff.; vgl. außerdem Schroeder, der insbesondere die Entwicklungen nach Chruschtschow, d. h. seit den sechziger Jahren, nachzeichnet: Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 25 ff. 11 Mögelin
162
4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
von der Position Lenins? 1 Dabei ist jedoch nicht der Staatsbegriff Lenins konterkariert worden. 28 So stand der Klassencharakter des Staates nie zur Disposition der sozialistischen Staatslehre.29 Damit hielt die sozialistische Lehre gleichzeitig an der Instrumentalisierung des Staates30 fest. Die Instrumentalisierung des Staates wurde nicht aufgehoben, sondern lediglich - und das ist der entscheidende Punkt durch die Einführung des Staates als Gemeinwesen ergänzt. 31 Ebensowenig wurde die gewaltfixierte Institutionalisierung des Staates dementiert, 32 sondern wiederum 27
Vgl. hierzu: Friedrich-Christian Schweder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 25 ff. 28 So aber Schweden Zunächst charakterisiert er die leninistische Staatstheorie mit den folgenden vier Merkmalen: Instrumentalisierung, Institutionalisierung, Gewalttätigkeit und Desintegration bzw. Disharmonie. Zu den Veränderungen stellt er fest: „Der Staat ist nicht mehr ein Instrument, sondern eine Bedingung der Erhaltung des menschlichen Zusammenlebens. Sein Wesen besteht nicht mehr in Institutionen, sondern er wird aufgefaßt als ein System von Beziehungen, ein integriertes Ganzes, eine spezifische Vereinigung ... Das Gewaltelement ist ersatzlos entfallen. An die Stelle des disharmonischen, desintegrativen Charakters des Staates ist seine Auffassung als integriertes Ganzes, als Vereinigung der Herrschenden und der Beherrschten getreten." Der Einschätzung Schroeders kann in vielen Punkten nicht zugestimmt werden. Sie wird in Teilen seiner eigenen Quellenanalyse nicht gerecht (siehe im Haupttext). Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 18, 67. 29 „Das Klassenprinzip bedeutet ... (im sozialistischen Staat, d. A.) im Hinblick auf die öffentliche Gewalt, die Macht der Arbeiterklasse ... selbst zu sichern und in ihrem Interesse auszuüben." A. K. Belych, Organisation, Politik und Leitung, 1967, dt. 1969, S. 96. Sowie Mamut: „Aber dieser Umstand darf keine Minute lang die unbestrittene Tatsache vergessen machen, dass der Staat gleichzeitig weiterhin eine (sowohl historisch als auch logisch) unvermeidliche Form der Organisation der Klassengesellschaft im Ganzen ist." L. S. Mamut, K. Marx o gosydarstve kak polititscheskoi organistsii obschetva (Karl Marx über den Staat als politische Organisation der Gesellschaft, russ.), in: Voprosyi Filisophii, 1968, S. 35. Deutsch in sowie Übersetzung nach: Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 155. Mamut verwendet zudem weiterhin die zur Beschreibung der Instrumentalisierung des Staates gebräuchlichen Bezeichnungen, wie „Maschine" oder „Werkzeug". 30
Die Zweckorientierung des Staates ist im Übrigen der sozialistischen und der nationalsozialistischen Staatsauffassung gemeinsam, auch wenn der Zweck differiert. Vgl. Hitler. „Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen." Adolf Hitler, Mein Kampf. Band 2: Die nationalsozialistische Bewegung, 1925, 1937, S. 30. Zum Selbstverständnis des nationalsozialistischen Staates vgl.: Otto Koellreutter, Der nationalsozialistische Rechtsstaat, 1938. Hierzu: Jörg Schmidt, Otto Koellreutter, 1995, S. 118-125. 31 Das wird z. B. an einem Klammerzusatz in Mamuts Aufsatz deutlich: „Der Staat in seiner Klassenformationen ist (neben allem anderen) auch ein gewisser allgemeiner Zusammenhalt der Gesellschaft. " L. S. Mamut, K. Marx o gosydarstve kak polititscheskoi organistsii obschetva (Karl Marx über den Staat als politische Organisation der Gesellschaft, russ.), in: Voprosyi Filisophii, 1968, S. 35. Deutsch in sowie Übersetzung nach: Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 148. 32
Vgl. Mamut, „Diese bemerkenswerten Ideen von K. Marx, die aus seiner Konzeption vom Staat als eine besondere Struktur, einem System der Klassengesellschaft und einem Apparat der Verwirklichung von öffentlicher Gewalt resultieren, haben auch heute noch nicht
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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nur um andere Elemente erweitert. Die bloße Reduzierung des Staates auf den Unterdrückungsapparat (Gewaltelement) wird kritisiert, jedoch findet dabei keine Auflösung des Gewaltelementes statt, da, so die sozialistische Lehre, lediglich eine Verengung des Staatsbegriffs zu korrigieren sei. 3 3 Dessen ungeachtet war die Erweiterung und Veränderung des Staatsbegriffs beträchtlich und deshalb auch bemerkenswert. Einzig das desintegrative Element der sozialistischen Staatstheorie ist durch die Völksstaatskonzeption ersatzlos weggefallen. 3 4 Die Bestimmung des Wesens und der Aufgaben des Rechts i m Sozialismus nimmt ihren Ausgangspunkt 35 in der marxistisch-leninistischen Staatsphilosophie. 3 6 Das Recht 3 7 sei danach ein durch den Staat geschaffenes System von das mindeste an Aktualität eingebüßt." L. S. Mamut, K. Marx o gosydarstve kak polititscheskoi organistsii obschetva (Karl Marx über den Staat als politische Organisation der Gesellschaft, russ.), in: Voprosyi Filisophii, 1968, S. 38. Deutsch in sowie Übersetzung nach: Friedrich-Christian Schroeder, Wandlungen der sowjetischen Staatstheorie, 1979, S. 160. 33 „Auch wenn man den Staatsapparat weiter faßt, nämlich als Gesamtheit aller staatlichen Institutionen, ihre Mechanismen eingeschlossen, als System der Sowjets und ihrer Organe, auch dann ist der Staatsapparat noch nicht mit dem Staat als einem Element der politischen Organisation der Gesellschaft identisch. Die Rolle des Staatsapparates darf (jedoch, d. A.) keinesfalls unterschätzt werden." A. K. Belych, Organisation, Politik und Leitung, 1967, dt. 1969, S. 92. 34 Die Revision der ursprünglichen Auffassung zum damaligen Zeitpunkt ist allzu verständlich, da die Klasse der Ausbeuter, der Grund für die Desintegration, nicht mehr vorhanden war. 35 Vereinzelt wird die Meinung vertreten, dass das sozialistische Recht mehr von der vorsozialistischen Rechtstradition, als von den marxistisch-leninistischen Rechtsprinzipien geprägt war. So meint z. B. Fincke, dass das russische Recht das sozialistische Recht dominiere. Als Grund für seine Beobachtung macht Fincke nicht die „Kontinuität", sondern die Kraft der „Basis" aus. Insofern mag eine Vorrangregelung wohl fehl am Platz sein, vielmehr wird ein „sowohl-als-auch" der Sache besser gerecht. Diesen Aspekt verkennt Fincke. Wenn er als Beleg für eine „Dominanz" der russischen Rechtstradition angibt, dass sich Rechtsnihilismus mit Stalins Revolution von oben bzw. Autokratie mit „demokratischem Zentralismus" getroffen haben, dann beweist das erst einmal gar nichts. Dieses „Aufeinandertreffen" kann schon vorhandene Tendenzen aktivieren, intensivieren oder potenzieren. Die Frage der Dominanz betrifft eine ganz andere (schwer zu analysierende) Frage. Martin Fincke, Specifica des Sowjetrechts, in: Georg Brunner/Theodor Schweisfurth / Alexander Uschakow / Klaus Westen (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht. Festschrift für Boris Meissner zum 70. Geburtstag, 1985, S. 91. 36
Vgl. auch: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967. Sehr instruktiv sind Böckenfördes Ausführungen vom Wandel der Manschen Geschichtsphilosophie zur marxistisch-leninistischen Handlungstheorie, S. 22 ff. Michel Villey, Rechtsphilosophie, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band 5, 1972, S. 539 ff. 37 Woraus sich das sozialistische Recht zusammensetzt, insbesondere ob „gesellschaftliche" Regeln zum sozialistischen Recht gehören, ist in der Literatur umstritten. Fincke stellt vier Voraussetzungen für die Anerkennung von Regeln als Recht auf: 1. Vielfache Einhaltung der Regel, 2. Durchsetzung der Regel mittels öffentlicher Gewalt, 3. tatsächliche Lücke im geschriebenen Recht sowie 4. Notwendigkeit der Regel für das Funktionieren der Gesellschaft. Martin Fincke, Specifica des Sowjetrechts, in: Georg Brunner/Theodor Schweis11*
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
Normen, das die Interessen der herrschenden Klasse widerspiegele. 38 Es folge den primären Produktionsverhältnissen nach („Widerspiegelungstheorie" 3 9 ). 4 0 Eine allgemeine (überzeitliche) Idee des Rechts existiere nicht, denn jeder Epoche sei ihr Recht eigen. 4 1 Allein in der Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen gleiche sich das Recht, wo immer es auftrete. 42 Da es vier verschiedene „sozial-ökonomische Formationen" gebe, würden vier verschiedene Rechtstypen existieren. 43 Das sozialistische Recht unterscheide sich vom Recht der „Ausbeuterstaaten" 44 dadurch, dass es i m Interesse der „ungeheuren" 4 5 , „gigantischen" 4 6 Mehrheit der Gesellschaft sei, wohingegen in bürgerlichen Staaten lediglich die Vorrechte weniger geschützt würden. Deshalb sei das sozialistische Recht das Recht der Zukunft und des Fortschritts. 47 Marx, Engels und Lenin haben wenig zur Ausarbeitung einer allgemeinen marxistisch-leninistischen Rechtstheorie beigetragen. Deshalb war die sowjetische Rechtstheorie anfangs nicht uniform, sondern sehr vielfältig. Obgleich sich mehrere einzelne Entwicklungen verzeichnen lassen, kann man d r e i 4 8 Hauptentwicklungsphasen beobachten: 49 Zunächst die nachrevolutionäre Phase, sodann die
furth/Alexander Uschakow/Klaus Westen (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht. Festschrift für Boris Meissner zum 70. Geburtstag, 1985, S. 93 m. w. N. Ebenso war lange umstritten, ob Teile des Parteirechts zum Staatsrecht zu zählen sind. Hierzu: Boris Meissner, Die Rechtsstellung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: JOR 2, 1961, S. 10. 38 Siehe u. a.: L. S. Jawitsch, Wesen des Rechts, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 65 ff. 39 Joachim Pereis, Der staatlich verordnete Sozialismus, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, 1975, S. 349. 40 Hierin kommt das Modell von Basis (das sind die Produktionsverhältnisse) und Überbau (das sind u. a. juristische und politische Institutionen) zum Ausdruck. Vgl. hierzu: Friedrich Tomberg, Basis und Überbau, 1969; f. Konstantinov, Über Basis und Überbau, 1954. 41 Vgl.: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 34. 42
Vgl.: Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954,
S. 19. 43
Vgl.: Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954,
S. 19. 44
Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954, S. 19. 5 W /. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 416.
4
46 W /. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, 1918, in: Werke, Band 28,1968, S. 245. 47 Insgesamt zu den Unterschieden: Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954, S. 19 ff. 48 Teilweise wird auch eine Zweiteilung angenommen. So u. a. bei: Friedrich-Christian Schroeder, Fünfzig Jahre sowjetische Rechtstheorie, in: Reinhart Maurach /Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 59, 64; siehe hierzu auch: Friedrich-Christian Schroeder, Die Abschaffung der Gesellschaftsgerichte in der Sowjetunion und die Periodisierung der sowjetischen Rechtsentwicklung, Osteuropa-Recht, 1967, S. 95 f.; sowie zuvor schon: Hans Kelsen, The Communist Theory of Law, 1955, S. 89, Anm. 1.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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Phase der dreißiger Jahre sowie schließlich die Phase nach Stalin. 50 Erst in der letzten Phase konnten Auffassungen anderer sozialistischer Staaten hinzukommen. Die nachrevolutionäre Phase war geprägt von dem Gedanken, dass Recht grundsätzlich bürgerlich und damit per definitionem abzulehnen sei. 5 1 Nach der marxistischen Definition sollte mit dem Staat auch das Recht absterben. Sozialistisches bzw. proletarisches Recht sollte es nicht geben, an dessen Stelle trete die organisatorische Maßnahme bzw. die Verwaltung von Sachen 52 , d. h. Regeln, die einzig der Zweckmäßigkeit unterworfen sind. 5 3 Diese Auffassung ist hauptsächlich von Paschukanis 54 geprägt worden. 5 5 In der Phase des Aufbaus des Kommunismus sollte das bürgerliche Recht noch eine gewisse Zeit Bestand haben. In den dreißiger Jahren wurde diese Auffassung von Wyschinski 56 revidiert und dem Begriff des sozialistischen Rechts zu einer eigenen Wirksamkeit verholfen. Das sozialistische Recht werde durch den Gesetzgeber festgelegt und durch den Staat sanktioniert, so Wyschinski. In der Hand des Proletariats sei es zum Aufbau des Kommunismus bestimmt und damit dem Willen der herrschenden Klassen unterworfen. 57 Die 49
Insgesamt hierzu knapp bei: Friedrich-Christian Schweder, Fünfzig Jahre sowjetische Rechtstheorie, in: Reinhart Maurach / Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 55 ff. Sehr ausführlich bei: Andreas Bilinsky, Die Entwicklung des Rechtsbegriffes in der Sowjetunion, in: JOR 3, 1962, S. 72 ff., sowie: Andreas Bilinsky, Probleme der sowjetischen Rechtsphilosophie, in: JOR 14, 1973, S. 7 ff.; Klaus-Jürgen Kuss , Gerichtliche Verwaltungskontrolle in Osteuropa, 1990, S. 138 ff. 50 Vgl. hierzu: Andreas Bilinsky, Die Entwicklung des Rechtsbegriffes in der Sowjetunion, in: JOR 3, 1962, S. 69 ff. Gedrängte Darstellung der Theorien über das Recht ebenso bei: Georg Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, 1963, S. 46 ff. 51 Vgl.: W. I. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 481. 52
Hierzu Kelsen: „Denn es gibt keine Verwaltung von Sachen, die nicht Verwaltung von Menschen, das heißt Bestimmung des einen menschlichen Willens durch den anderen ... wäre." Hans Kelsen, Sozialismus und Staat, 1920, 1965, S. 89. 53 Dass die praktischen Folgen bei der Formulierung von Gesetzen gering waren, beweist die Tatsache, dass die Entwürfe sowjet-russischer Gesetze teilweise auf zaristisch-russische Gesetzesentwürfe zurückgingen, so das Zivil- und das Strafgesetzbuch der zwanziger Jahre, die Entwürfe aus den Jahren 1903 (Strafgesetzbuch) und 1913 (Zivilgesetzbuch) aufgegriffen haben (W. E. Butler, Soviet Law, 1988, S. 176, 297 f.). 54 Eugen B. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1924 (russ.), 1991; sowie: Eugen B. Pashukanis, The Soviet State and the Revolution in Law, 1930, in: John H. Wigmore u. a. (Hrsg.), Soviet Legal Philosophie, 1951, S. 237 ff. 55 Zum Ganzen siehe verschiedene Autoren in Teil I „Revolutionary Intellectualism of the 1920s" in: Michael Jaworskyi (Hrsg.), Soviet Political Thought, 1967, S. 52-274. 56 siehe u. a.: A. Y. Vyshinsky, The Fundamental Tasks of the Science of Soviet Socialist Laws, 1938, in: John H. Wigmore u. a. (Hrsg.), Soviet Legal Philosophie, 1951, S. 303 ff. Die Rechtsdefinition wurde in allen Staaten Mittel- und Osteuropas rezipiert. Vgl. zu Ungarn: Kaiman Kulcsär, Grundlagen und Praxis der sozialistischen Gesetzlichkeit in Ungarn, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 44; zur DDR: Karl A. Mollnau, Sozialistische Gesetzlichkeit in der DDR, in: Gerd Bender/ Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 73. 57 Die Debatten dieser Zeit sind aufgrund der erstmaligen Anerkennung positiven Rechts mit den Schlagworten „Rechtspositivismus" und „materialistisches Naturrecht" bekannt
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
poststalinistische Ära war geprägt von dem Begriff der sozialistischen Gesetzlichkeit. 58 Die Politik Stalins wurde als Abweichung von den leninistischen Prinzipien und als Verstoß gegen die sozialistische Gesetzlichkeit bewertet. Die Rechtsdefinition von Wyschinski wurde u. a. aufgrund der „Übertreibung der Bedeutung des staatlichen Zwangs" 59 verworfen. 60 Ziel war es, durch eine Verbindung von positivem Recht und den Prinzipien des Sozialismus die sozialistische Politik weiterführen zu können. Im Ergebnis der Diskussionen konnte eine positivistische Tendenz festgestellt werden, wobei das Recht als der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse verstanden wurde. Gerade hierin zeigt sich jedoch die „Verzahnung" 61 von stalinistischer und poststalinistischer Rechtstheorie. Dennoch gab es wichtige Veränderungen. Schutzobjekt der sozialistischen Gesetzlichkeit waren nun auch die Rechte und Freiheiten der Bürger. 62 Hinzu kam, dass Recht nicht mehr als Reflex der Basis, sondern nur noch als basisbezogen betrachtet wurde. 63 Demzufolge sollte dem sozialistischen Recht eine eigene Bedeutung beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zukommen. Dennoch blieb den verschiedenen Phasen der Rechtsentwicklung der UdSSR die Betonung des Rechts als Instrument der jeweils herrschenden Klasse und ihrer Politik gemeinsam.64 Die siebziger und achtziger Jahren waren geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des materialistischen Naturrechts (insb. Nersesiants, Livshits) und des materialistischen Positivismus (insb. Alexejev). 65 geworden. Zumindest der Begriff „Rechtspositivismus" ist fehl am Platz, da er den Kern der Entwicklung nicht trifft, wie Bilinsky zeigt. Jedenfalls hatten diese Änderungen „keine praktischen Folgen" für die Anwendung des Sowjetrechts. Vgl.: Andreas Bilinsky, Die Entwicklung des Rechtsbegriffes in der Sowjetunion, in: JOR 3, 1962, S. 87 ff., 94. Sowie: Hans Kelsen, The Communist Theory of Law, 1955, S. 118 ff. Siehe insgesamt hierzu verschiedene Autoren in Teil II „Stalinist Authoritarian" in: Michael Jaworskyi (Hrsg.), Soviet Political Thought, 1967, S. 281-394. 58 Siehe insgesamt zu dieser Periode verschiedene Autoren im dritten Teil („In Search of Marxist Identity") von: Michael Jaworskyi (Hrsg.), Soviet Political Thought, 1967, S. 400594. 59 L. S. Jawitsch, Wesen des Rechts, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 96. 60 Vgl. u. a. zur Rezeption der Kritik Stalins und Wyschinskis in der Rechtslehre: Gerhard Haney, Zum Inhalt des sozialistischen Rechtsbegriffs, in Staat und Recht 12, 1963, S. 123 ff. 61 Joachim Pereis, Der staatlich verordnete Sozialismus, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, 1975, S. 343. 62 Einige Autoren sprechen von einem materialistischen Positivismus, der sich zur herrschenden Meinung herausbildete. Hierzu: Anders Fogelklou, New Legal Thinking, in: Ferdinand Joseph Maria Feldbrugge, The Emancipation of Soviet Law, 1992, S. 10. 63 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 29. 64 Das betont auch Bilinsky in einem späteren Aufsatz. Siehe: Andreas Bilinsky, Probleme der sowjetischen Rechtsphilosophie, in: JOR 14, 1973, S. 34. 65 Siehe zum Ganzen: Anders Fogelklou, New Legal Thinking, in: Ferdinand Joseph Maria Feldbrugge, The Emancipation of Soviet Law, 1992, S. 8 ff., sowie: Anders Fogelklou,
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
167
II. Rekonstruktion der sozialistischen Legitimitätsvorstellung A u f der Grundlage der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtsphilosophie ist es nun möglich, dem Selbstverständnis der Legitimität von Herrschaft i m sozialistischen Staat nachzugehen. 66 Da jedes politische Herrschaftssystem das Bedürfnis nach Rechtfertigung hervorbringt, ist es möglich, das Legitimitätsverständnis des sozialistischen Staates zu rekonstruieren. Zunächst ist es erforderlich, sich der Konzeption von Herrschaft zu nähern (1.). Sodann werden die zwei i m sozialistischen Staat maßgeblichen Legitimitätsgründe untersucht: objektive gesellschaftliche Gesetze (2.) und Identität der Interessen von Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen (3.). Es wird sich zeigen, dass die kommunistische Einheitspartei der wichtigste Träger dieser Legitimitätsgründe war (4.).
1. Herrschaft im sozialistischen Staat Die Existenz von Herrschaft i m sozialistischen Staat wurde von der sozialistischen Lehre theoretisch ausgeschlossen. I m sozialistischen Staat sollte es weder Herrschende noch Herrschaftsunterworfene geben, da das („werktätige") Volk die Macht selbst und zu seinem Nutzen ausübe. Konformes Verhalten sei nicht durch Zwang, wie bei der Herrschaft üblich, sondern regelmäßig durch Freiwilligkeit zu erreichen. 67 Freiwilliges konformes Handeln wiederum werde durch die Einsicht Continuity and Change in Soviet Legal Thought after Stalin: The Concept of Law, in: Nordic Journal of Soviet and East European Studies 3, 1986, S. 19 ff., 27 ff. 66 Die meisten Arbeiten zur Legitimität in sozialistischen Staaten sind empirisch orientiert, betreffen also die Legitimation des Systems. Vgl. zu Legitimität und Legitimation in sozialistischen Staaten insgesamt die wohl einzige Aufsatzsammlung zum Thema: T. H. Rigby/Ferenc Feher (Hrsg.), Political Legitimation in Communist States, 1982. Vgl. außerdem: Martin Drath, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone, 1954, S. 41 ff.; Alfred Meyer, Legitimacy of Power in East Central Europe, in: Sylva Sinanian/Istvan Deak/Peter C. Ludz (Hrsg.), Eastern Europe in the 1970s, 1972, S. 45-68; Georg Brunner, Legitimitätsdoktrinen und Legitimierungsverfahren in östlichen Systemen, in: Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, 1978, S. 155-184; Michael Peltzer, Sozialistische Herrschaft und materielle Interessen, 1987; Andreas Trupp, Die Legitimität des sozialistischen Staates in kritischer Perspektive, 1987; Johannes Busch-Weßlau, Der Marxismus und die Legitimation politischer Macht, 1990; David Beetham, The Legitimation of Power, 1991, S. 179 ff.; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 1992; Frank Wilhelmy, Der Zerfall der SED-Herrschaft, 1995; Hermann Klemer, Karl Marx über Legitimitätskriterien von Verfassungslegalitäten, in: Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 97-110. Ferner zum Vergleich: Richard Saage (Hrsg.), Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, 1995. 67 Vgl.: S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1552 ff.
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
in die gesellschaftliche Notwendigkeit bewirkt. In der späteren Entwicklung der sozialistischen Staaten wurde die Notwendigkeit des Staates und seiner Zwangsinstrumente grundsätzlich anerkannt 68 und vorwiegend für Außenseiter der Gesellschaft für unabdingbar gehalten.69 Das Recht sei dann zwangsweise durchzusetzen, wenn andere Mittel versagt hätten.70
2. Legitimität durch objektive gesellschaftliche Gesetze Der wesentliche Legitimitätsgrund für die Existenz des sozialistischen Systems lag nach der marxistisch-leninistischen Ansicht in der Übereinstimmung dieser Gesellschaftsform mit den objektiven sozialen Gesetzen71 der Geschichte. Das Wissen um das „große Bewegungsgesetz der Geschichte"72 stellte der historische Materialismus (historische Determinismus, „Historizismus" 73 ) zur Verfügung. Dieser historische Materialismus sehe eine geradlinige monokausale historische Entwicklung vor, die zum Kommunismus als höchste gesellschaftliche Entwicklungsstufe führe. 74 Der Kommunismus schließe danach „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" 75 ab. Der sozialistische Staat sei, so die marxistisch-leninistische Lehre, eine notwendige Zwischenphase und stehe deshalb mit seiner Existenz in Einklang mit den „objektiven Struktur- und Bewegungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft" 76. „Die Geschichte der Menschheit ist ... die gesetzmäßige Entstehung, Entwicklung und Ablösung einer ökonomischen Gesellschaftsformation durch die folgenden, höheren Ge68 Vgl. hierzu die Modifikation der These vom Absterben des Staates: Abschnitt B., Unterabschnitt I., 1. 69 Vgl.: Kosing, „Die staatlichen Organe des Zwanges und der Gewalt ... erfüllen noch lange eine notwendige Funktion im Kampf gegen Gesetzesverletzer, asoziale Elemente und gegen imperialistische Anschläge auf die sozialistische Gesellschaft." Alfred Kosing, Diktatur des Proletariats, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 127. 70
Vgl.: Hermann Klemer, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954,
S. 58. 71
Zur kommunistischen Vorstellung des Begriffs „Gesetz" i. S. v. „Bewegungsgesetz" und insbesondere zur Erkennbarkeit siehe: Andreas von Weiss, Gesetz, Gesetzmäßigkeit, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band 2, 1968, S.1012 ff. 72 Friedrich Engels, Vorrede zur dritten Auflage [von Karl Marx' Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], 1885, MEW, Band 21, 1975, S. 249. 73 KarlR. Popper, Das Elend des Historizismus, 1957 (engl.), 1987. 74 Zur Kritik: Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 1945 (engl.), 1992, S. 160ff.; Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 1957 (engl.), 1987, S. 45 ff. 7 5 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, 1859, in: MEW, Band 13, 1974, S. 9. 7 6 Hermann Klemer, Sein und Sollen in der Rechtswissenschaft, in: Peter Schneider (Hrsg.), Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, 1970, S. 147.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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sellschaftsformationen. Die Einheit der Weltgeschichte zeigt sich darin, dass die geschichtliche Entwicklung der Menschheit ... als gesetzmäßige Aufeinanderfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen der Urgesellschaft, der Sklavenhaltergesellschaft, des Feudalismus, des Kapitalismus und des Sozialismus und Kommunismus verlaufen ist und weiter verläuft." 77 Die geradlinige geschichtliche Entwicklung erklärte Marx mit den ökonomischen Bedingungen, die jeder Gesellschaft zu Grunde liegen. Diese Bedingungen führen in einer bestimmten - historisch unvermeidlichen - Konstellation zwangsläufig 7 8 zur Umwälzung des vorhandenen ökonomischen Systems durch Klassen und zur Genese eines höheren Systems. Deshalb sei die Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. 79 Die Ausübung von Herrschaft i m sozialistischen Staat konnte folglich nur den Zweck haben, den objektiven gesellschaftlichen und historischen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen. 8 0 Diese von Marx und Engels ausgearbeitete Theorie war i m sozialistischen Staat sakrosankt. 81 Selbstverständlich waren Nuancierungen und Pointierungen an verschiedenen Stellen möglich. Es wurde zudem nicht behauptet, dass die historische Entwicklung in jedem Detail identisch oder gar voraussehbar sei. Deshalb blieb an dieser Stelle Raum für differierende Interpretationen und Erklärungen. Jedoch war es ausgeschlossen, in dieser Diskussion die Basis des historischen Materialismus zu verlassen. 82 Folglich ist aus der Sicht des historischen Materialismus der Sozialismus als Gesellschaft mit dem Ziel, den Kommunismus aufzubauen, per se legitimiert.
77 Alfred Kosing, Geschichte, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 203. 78 Die Gesetzmäßigkeit der Geschichte nahm auch der Nationalsozialismus für sich in Anspruch: Nach Hitler werde sich die nationalsozialistische Idee (Partei) mit einer „mathematischen Gesetzmäßigkeit" durchsetzen. Adolf Hitler, Mein Kampf. Band 2: Die nationalsozialistische Bewegung, 1925, 1937, S. 331. 79 Der Nationalsozialismus versteht Geschichte als Geschichte von Rassenkämpfen. Vgl.: Hermann Lübbe, Aufklärung und Terror, in: Hans Maier (Hrsg.), ,Totalitarisme' und politische Religionen4, 1996, S. 408 ff. so Vgl. hierzu Klenner, „Was der Geschichte gerecht wird, wird auch dem Menschen gerecht." Hermann Klenner, Sein und Sollen in der Rechtswissenschaft, in: Peter Schneider (Hrsg.), Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, 1970, S. 147. 81
Selbstverständlich waren die tatsächlichen Probleme und Defizite sozialistischer Staaten nicht zu übersehen. Furet hat diese Schizophrenie polemisch formuliert: „Von Mißerfolg zu Mißerfolg marschierte die Sowjetunion in die richtige Richtung, während die USA und Westeuropa von Erfolg zu Erfolg ihrem unvermeidlichen Zusammenbruch entgegengingen." François Furet, 1789-1917, Rückfahrkarte, in Transit 1, 1990, S. 50. 82 Vgl. Kosing, Denn der dialektische und historische Materialismus ist das „die erste und einzig konsequent wissenschaftliche philosophische Weltanschauung in der Geschichte der Philosophie." Alfred Kosing, Materialismus, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 334.
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
3. Legitimität durch Interessenidentität Die „objektive historische Wahrheit" reichte den sozialistischen Ländern jedoch nicht als Legitimitätsgrundlage aus. Den zweiten Legitimitätstopos marxistischleninistischer 83 Staaten bildete nämlich die These, dass zwischen Herrschenden (Partei- und Staatsführung) und Herrschaftsunterworfenen (Volk) eine theoretische 8 4 Identität der Interessen bestehe. 85 M i t dieser These überwindet die sozialistische Theorie den Widerspruch, dass Herrschaft faktisch ausgeübt 86 wird, theoretisch aber ausgeschlossen sein sollte. Die vollständige Interessenidentität („Emanzipation" 8 7 ) würde sich durch die politische Organisation der Gesellschaft 8 8 nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse herausbilden. 89 Als Zielvorstellung wurde die Idee der Interessenidentität zwischen Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen kontinuierlich beibehalten. 90
83
Dicke verweist darauf, dass in der Afarjcschen klassenlosen Gesellschaft, der Mensch „total identisch" mit der Gesellschaft geworden sei. Der Widerspruch zwischen dem individuellen Menschen und seiner eigenen Gesellschaftlichkeit sei aufgehoben. Die Beziehung zur (radikal verstandenen) volonté générale Rousseaus' stellt Marx selbst her. Vgl.: Gerd Dicke, Der Identitätsgedanke bei Feuerbach und Marx, 1960, S. 130 und 197; Karl Marx, Zur Judenfrage, 1844, in: MEW, Band 1, 1988, S. 369 f. 84
Soweit die Identität empirischer Interessen behauptet werden sollte, ergäbe sich schon hieraus ein Widerspruch. Die ausgeübte Herrschaft wäre nämlich grundlos, wenn sie lediglich das regeln soll, was die Herrschaftsunterworfenen sowieso aus eigenem Antrieb tun würden. Die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung von Herrschaft verweist jedoch grundsätzlich auf eine strukturelle Differenz der Interessen von Staat und Individuum (Peitzer). Wie zu erwarten, wurde die empirische Identität nie behauptet. In den achtziger Jahren wurde gar ein Widerspruch zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteresse für möglich gehalten, (für die DDR: Peltzer, Kosing) Jedoch blieb der Ausgangspunkt - die Identität der Interessen von Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen - unangetastet. Vgl. zu den Anmerkungen: Michael Peltzer, Sozialistische Herrschaft und materielle Interessen, 1987, S. 38, 43 ff.; Alfred Kosing, Widerspruch, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 560-563. 85 Differenziert hierzu: Michael Peltzer, Sozialistische Herrschaft und materielle Interessen, 1987, S. 37 ff.; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 1992, S. 91 ff., 95 f. 86 Es ist eine Tatsache, „dass es keine Herrschaft für eine Klasse geben kann, vielmehr führt die Herrschaft für die Individuen einer Klasse zur Herrschaft auch eben über diese Klasse, die als Objekt »gesetzmäßiger Prozesse' und deren Verwaltung durch die ,Vorhut' begriffen wird." Vgl. Renate Damus, Vergesellschaftung und Bürokratisierung durch Planung in nachkapitalistischen Gesellschaften, in: Leviathan 2,1974, S. 190,197. S7 Karl Marx, Zur Judenfrage, 1844, in: MEW, Band 1,1988, S. 370. 88 Boris Spassov, Die sozialistische Gesetzgebung und die Verteidigung der Menschenrechte, 1979, S. 10. 89 Vgl.: Alfred Kosing, Gesellschaftliche Interessen, in: ders., Wörterbuch der marxistischleninistischen Philosophie, 1986, S. 208. 90 Auch wenn Ende der achtziger Jahre das Identitätskonzept teilweise kritisch hinterfragt wurde. Vgl.: Uwe-Jens Heuer, Marxismus und Demokratie, 1989, S. 455.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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Die Identität der Interessen sollte insbesondere durch die sozialistische Demokratie 9 1 zum Ausdruck gebracht werden. Die sozialistische Demokratie sei „millionenfach demokratischer" 92 als die bürgerliche Demokratie, obwohl sie zugleich „Diktatur gegenüber den gestürzten Ausbeuterklassen" 93 sei. Sozialistische Wahlen sollten die Mitwirkung des Volkes unter der Führung der kommunistischen Einheitspartei verkörpern. 9 4 Wahlen hatten dagegen nicht die Funktion zu entscheiden, wer die Führung des Staates übernehmen sollte. 9 5 Sie sollten die These der Interessenidentität empirisch stützen und zeigen, dass das System von der „ungeheuren" 9 6 Masse des Volkes gewollt und akzeptiert w i r d . 9 7 Der demokratische Zentralismus 9 8 sollte die zentrale Rolle in der sozialistischen Demokratie einnehmen. 9 9
4. Die kommunistische Einheitspartei als Legitimitätsträger Die kommunistische Partei war die i m sozialistischen Staat allseits bestimmende Institution. 1 0 0 Die Interpretation der grundlegenden Legitimitätsgründe beanspruchte die Einheitspartei 1 0 1 für sich. Zum einen erhob sie den Anspruch, die 91 Vgl. insgesamt zu Sozialismus und Demokratie: Klaus v. Beyme, Demokratie, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band 1, 1966, S. 1129 ff. 92 W. /. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, 1918, in: Werke, Band 28,1968, S. 247. 93 Alfred Kosing, Demokratie, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 105. 94 Aus diesem Grund war die Partei- und Staatsführung (mitunter durch Wahlfälschungen) darum bemüht, die Wahlergebnisse um die 99-Prozent-Marke zu halten. 95 Vgl.: Siegfried Lammich, Wahlrecht und Wahlpraxis in den sozialistischen Ländern Europas, in: JOR 13,1972, S. 38. 9 * W I Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 416. 97 Vgl.: Georg Brunner, Legitimitätsdoktrinen und Legitimierungsverfahren in östlichen Systemen, in: Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, 1978, S. 165. 98 Siehe zum demokratischen Zentralismus in diesem Kapitel: Abschnitt C., Unterabschnitt II., 4. 99 Vgl.: Karl Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, 1959, 1963, S. 183 ff. 100 Zum Ganzen für die UdSSR siehe bei: Klaus Westen, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Sowjetstaat, 1968. Zur Entwicklung der Parteilehre siehe bei: Boris Meissner, Entwicklung und Grundzüge der sowjetischen Staatslehre, in: Reinhart Maurach/ Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 28. Auch in anderen Staaten gab es Einparteiensysteme (Deutschland und Italien in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts sowie in Portugal und Spanien von etwa 1930 bis in die 70er Jahre). 101 Andere politische Parteien waren zwar nicht ausdrücklich verboten, spielten jedoch, sofern sie überhaupt bestanden, nur eine marginale Rolle. In Bulgarien, der CSSR, der DDR und Polen waren sogar andere Parteien zugelassen. Die sog. „Blockparteien" konkurrierten jedoch nicht mit der kommunistischen Partei um politische Programme oder gar um die Macht im Staat, sondern anerkannten die führende Rolle der kommunistischen Partei im
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
objektiven gesellschaftlichen Gesetze zu erkennen und richtig auslegen zu könn e n . 1 0 2 Zum anderen kam der Partei die Aufgabe zu, die Interessen der Herrschaftsunterworfenen öffentlich zu artikulieren. Sie beanspruchte, i m Sinne der „gewaltigen Masse des Volkes" zu agieren. 1 0 3 Sofern Individuen oder gesellschaftliche Gruppen ein von der Partei differierendes Interesse proklamierten, wurde ihnen ein „unzureichendes oder gar falsches Bewusstsein" 1 0 4 bescheinigt. Die Einheitspartei war dazu bestimmt, den Herrschaftsunterworfenen das „richtige" Bewusstsein von ihren Interessen zu vermitteln, 1 0 5 sie sollte zunächst „Vorhut des Proletariats" und später „Avantgarde des gesamten Volkes" sein. Aus der vermeintlichen Gewißheit, Inhaber der historischen Wahrheit und „wahrer" Interessenvertreter des Volkes zu sein, leitete sich der rechtlich geregelte 1 0 6 absolute Führungsanspruch der Einheitspartei her. „Das Wahrheitsmonopol begründete das Machtmonopol."107 Staat. Die „Blockparteien" waren zumeist in der Regierung vertreten. „Selbst die Opposition, soweit sie geduldet ist, wird praktisch in eine Art Regierungsorgan umgewandelt." Karl Loewenstein, Verfassung, Verfassungsrecht, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Band 6, 1972, S. 640. In der nachrevolutionären Phase Russlands, in der zunächst noch andere Parteien zugelassen waren, hatte sich die kommunistische Partei die Mehrheit in den entscheidenden Gremien gesichert. Am 14. 6. 1918 beschloss das Zentralexekutivkomitee der Kommunistischen Partei die Annullierung der Abgeordnetenmandate aller Oppositionsparteien im Zentralexekutivkomitee und in den örtlichen Sowjets. Die formelle Auflösung der oppositionellen Partei erfolgte wenig später. 102
„Der dialektische und historische Materialismus ist die Weltanschauung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei." Alfred Kosing, Materialismus, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 335. 103
Die Masse des Volkes in westlichen Staaten habe das nur noch nicht erkannt, so die sozialistische Auffassung. „Die Bourgeoisie kann sich nur infolge der Unaufgeklärtheit der Werktätigen halten; Gorki sagt geradezu, dass die Macht des Weltspießertums auf der Dummheit der Massen beruht." Hermann Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954, S. 57. 104 Alfred Kosing, Gesellschaftliche Interessen, in: ders., Wörterbuch der marxistischleninistischen Philosophie, 1986, S. 207. 105 Vgl.: Alfred Kosing, Politisch-moralische Einheit des Volkes, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 418. 106 Vgl. die Regelungen in den Verfassungen: Art. 3 Abs. 1 Verfassung Albanien 1976; Art. 1 Abs. 2 Verfassung Bulgarien 1971; Art. 1 Abs. 1 Verfassung DDR 1968 i.d.F.v. 1974; grundsätze VIII Verfassung Jugoslawien 1974; Art. 3 Verfassung Polen 1952 i.d.F.v. 1976; Art. 3 Verfassung Rumänien 1965 i.d.F.v. 1974; erstmals in: Art. 126, 141 Verfassung UdSSR 1936; Art. 6 Abs. 1 Verfassung UdSSR 1977; Art. 4 Verfassung CSSR 1960; § 3 Verfassung Ungarn 1949 i.d.F.v. 1972. In der UdSSR wurde die führende Rolle der Partei anfangs nicht normiert. Ausführlich für die UdSSR zum formellen Verfassungsrecht: Klaus Westen, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Sowjetstaat, 1968, S. 48 ff. 107 Heinz Timmermann, Revolution und Gegenbewegung. Aspekte von Machtbehauptung und Opposition im Kommunismus, Bericht des BlOst 6, 1998, S. 12. Obwohl Timmermann mit dieser Aussage den Machtanspruch der Führung innerhalb der Partei begründet sieht, lässt sich die Auffassung ebenso auf den gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch der kommunistischen Partei übertragen. Der aus dem Erkenntnisprivileg resultierende Machtanspruch hat eine Reihe historischer Parallelen (Piatons regierende Philosophen, der Terror
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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III. Rekonstruktion der sozialistischen Rechtsordnung Nachdem die philosophischen und theoretischen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung geklärt und insbesondere das Selbstverständnis der Rechtfertigung von Herrschaft dargestellt wurden, ist es nun möglich, das Verhältnis zum positiven Recht und zur Rechtsordnung als Ganze zu untersuchen. Neben dem Begriff des positiven Rechts und dessen Bezug zu einem überpositiven Bezugssystem (1.) werden die Stellung des subjektiven Rechts (2.) und das Verhältnis von Recht und Politik beleuchtet (3). Zum Schluss wird der Grundsatz der Gewalteneinheit dargestellt (4.).
1. Der Begriff des sozialistischen Rechts juristische und ethische Aspekte Positives Recht war auch im sozialistischen Staat ein durch den Staat geschaffenes System von Normen. Die sozialistische Rechtswissenschaft ging auch nach der Revision 108 der Ansichten von Wyschinski davon aus, dass sich im Recht der „materiell bedingte Wille der herrschenden Klasse" 109 ausdrücke. Positives Recht sei der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse. Die Grundlagen der Rechtsnorm in der Imperativentheorie 110 wurden von der sozialistischen Rechtslehre unter Bezugnahme auf den zweiten Legitimitätsgrund 111 kritisiert. 112 Wegen der „erreichten und sich ... weiter ausprägenden Interessenidentität" 113 zwischen Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen könne das sozialistische Recht nicht als Imperativ an Herrschaftsunterworfene interpretiert werden. Aus dieser Überlegung folgte die Vernachlässigung der Rechte-Pflichten-Struktur und des Wenndann-Schemas der Rechtsnorm und die Bevorzugung der sogenannten „Aufgabennorm". 1 1 4 Für das sozialistische Recht sei charakteristisch, dass es eine Vielzahl der Jakobiner, Hitlers SS-staatliche Ordensburgen), wie Bracher zeigt. Karl Dietrich Bracher; Demokratie und Ideologie, 1982, S. 10. 108 Siehe zu den Grundlagen des Rechtsverständnisses und zur Entwicklung des Rechtsbegriffs in diesem Abschnitt: Unterabschnitt I. 109 L. S. Jawitsch, Wesen des Rechts, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 101. 110 Siehe zum juristischen Rechtsbegriff im demokratischer Rechtsstaat: Kapitel 3, Abschnitt B, Unterabschnitt II, 1. 111 Siehe zur Legitimität durch Interessenidentität in diesem Unterabschnitt: 2., b. 112 Siehe hierzu: Werner Grahn, Die Rechtsnorm, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Die Rechtsnorm, 1979, S. 46 ff. 113 Werner Grahn, Die Rechtsnorm, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Die Rechtsnorm, 1979, S. 51. 114 Vgl.: S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1545-1562; sowie: Ingo Wagner (Hrsg.), Die Rechtsnorm, 1979; Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982; Gerhard Pflicke, Zusammenhänge zwischen Notwendigkeit und Inhalt rechtlicher
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
von Rechtsnormen gebe, die „gesellschaftliche Ziele" 1 1 5 verbindlich machen. Dies sei auch notwendig gewesen. Die Aufgabennorm gab Handlungsziele vor und machte ein Resultat verbindlich. 116 Das hatte zur Folge, dass zur Erfüllung der Aufgabe oder des Ziels die Wahl der Mittel und Wege weitgehend ungeregelt blieb. Hieraus wiederum folgte ein relativ breiter Spielraum für die Durchsetzung der Rechtsnorm. 117 Das Recht musste folglich „schöpferisch" 118 unter Einbeziehung des „Kriteriums der Zweckmäßigkeit" 119 angewendet werden. Hierfür waren insbesondere Präambeln von Bedeutung.120 Das Gebot der Allgemeinheit 121 des Gesetzes betrachtete die marxistisch-leninistische Rechtslehre zunächst als Schwäche. Formell gleiches Recht bedeute nicht gleiches Recht für Jedermann, sondern die „Anwendung von gleichem Maßstab auf ungleiche Individuen" 122 . Die Ungleichheit bestehe in erster Linie in der ökonomischen Ungleichheit. Da positives Recht von den ökonomischen Verhältnissen determiniert werde, würden ungleiche materielle Verhältnisse auch ungleiches Recht verlangen. Gleiches Recht sei daher eine „Verletzung der Gleichheit und eine Ungerechtigkeit" 123 . Folglich müsse im Sozialismus ungleiches Recht für ungleiche Verhältnisse geschaffen werden. 124 Erst mit der Verfassung von 1936 beruhte das geschriebene Recht der UdSSR auf dem Grundsatz der formellen Rechtsgleichheit. Zuvor wurden Mitglieder der Kommunistische Partei bevorzugt und Personen, die der „Ausbeuterklasse" zugerechnet wurden, benachteiligt. Später fand das Gebot der Allgemeinheit des Gesetzes Eingang in die allgemeine Rechtsdefinition. 125 Regelung, dargestellt an Problemen des Wirtschaftsrechts, in: Karl A. Mollnau (Hrsg.), Probleme einer Rechtsbildungstheorie, 1982, S. 58. Vgl. außerdem: Vgl.: Karl A. Mollnau, Sozialistische Gesetzlichkeit in der DDR, in: Gerd Bender /Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Band 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 78. 115 Werner Grahn, Die Rechtsnorm, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Die Rechtsnorm, 1979, S. 12. 116 Siehe: S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1547. 117 Siehe: S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1548. 118 S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1551. 119 S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1552. 120 Vgl : s. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1552. 121
Siehe zur Allgemeinheit von Gesetzen: Kapitel 3, Abschnitt B. Unterabschnitt I., 1. 1 22 W /. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 479. ™ W /. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 479. 124 Dieser Grundsatz wurde in der Revolutionsverfassung Russlands von 1918 am deutlichsten verwirklicht. So wurden den „Ausbeutern" u. a. das aktive und passive Wahlrecht verwehrt (Art. 65). 125 Vgl. die Rechtsnormdefinition bei: S. A. Golunski, Zum Begriff der Rechtsnorm in der Theorie des sozialistischen Rechts, in: Staat und Recht 10, 1961, S. 1546.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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Eine übergreifende Idee des Rechts wurde in der sozialistischen Rechtsphilosophie abgelehnt. Hierfür hat Marx mit seinem historischen Gerechtigkeitsbegriff die Grundlage gelegt. Nach Marx hat weder positives noch überpositives Recht ein normatives Kriterium. Recht konstituiere erst historische Normativität. 126 Das rationale Naturrecht als normatives Korrektiv positiven Rechts sei nicht materialistisch, deshalb sei es unwissenschaftlich und folglich abzulehnen.127 Rechtsnormen seien so wenig wie andere Normen der sozialistischen Gesellschaft „überirdischen Ursprungs" 128 . Dessen ungeachtet sei der sozialistische Staat ein gerechter Staat, weil er die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" 129 aufgehoben habe. Sozialistisches Recht sei folglich gerechtes Recht, sofern es der ökonomischen Basis entspreche. 130 Die kommunistische Moral sei genauso wie das Recht von objektiven gesellschaftlichen Gesetzen und dem Klassengegensatz bedingt. 131 Recht und Moral bilden im Sozialismus eine Einheit, seien aber nicht identisch. 132 Als generelles normatives Kriterium für Recht eigne sich die Moral nicht, da der Charakter der zu regelnden Verhältnisse unterschiedlich sein könne. 133
2. Subjektive Rechte - Grundrechte Subjektive Rechte sind Rechte, die dem Einzelnen eine Rechtsposition einräumen, die es ihm erlaubt, Rechte gegen andere Rechtsgenossen und gegen die 126 Andrea Maihof er, Das Recht bei Marx, 1992, S. 211 f. Vgl. auch folgende Bemerkung Marx\ die nicht lediglich im Sinne einer zynischen Analyse der Rechtswirklichkeit gemeint ist: „Jede Form der Unterdrückung ... (ist schon, d.A.) durch das abstrakte Recht gerechtfertigt worden." Karl Marx, Rede über das Grundeigentum [Aus dem Protokoll der Sitzung des Generalrats vom 6. Juli 1869], in: MEW, Band 16, 1975, S. 558.
™ Vgl.: Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, 1872/1873, in: MEW, Band 18, 1962, S. 273 ff. Vgl. zur sozialistischen Rechtslehre: Georg Brunner, Naturrecht und Sowjetideologie, in Recht in Ost und West 10, 1966, S. 229 ff. 128 Uwe-Jens Heuer, Überlegungen zu Ideologie und Recht im Sozialismus, in: DZfPh 29, 1982, S. 1455. 129 W. M. Tschchikwadse/N. G. Alexandrow u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts. Band 4: Das sozialistische Recht, 1973 (russ.), 1976, S.135. 130 Vgl.: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 87, 89. 131 Vgl.: W M. Tschchikwadse/N. G. Alexandrow u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts. Band 4: Das sozialistische Recht, 1973 (russ.), 1976, S. 135. 132 Eingehend zum Verhältnis von sozialistischem Recht und kommunistischer Moral: W. M. Tschchikwadse/N G. Alexandrow u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts. Band 4: Das sozialistische Recht, 1973 (russ.), 1976, S. 137 ff. 133 Vgl.: W. M. Tschchikwadse/N G. Alexandrow u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts. Band 4: Das sozialistische Recht, 1973 (russ.), 1976, S. 139
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
Rechtsgemeinschaft durchzusetzen. 134 Grundrechte als Teil öffentlicher 135 subjektiver Rechte schützen einen persönlichen Bereich insbesondere gegen Eingriffe durch den Staat. Subjektive Grundrechte sind deshalb wesentlich zur Vermeidung von Unrecht. 136 Zunächst wird der normative Ausgangspunkt sozialistischer Grundrechte deutlich gemacht (a). Danach wird der Begriff des sozialistischen Rechts (b) und der sozialistische Freiheitsbegriff herausgearbeitet (c). Zum Abschluss werden die sog. materiellen und insbesondere die sog. formellen Garantien sozialistischer Grundrechte dargestellt (d).
a) Normative Ebene - die Verfassungen der UdSSR resp. Russlands Für sozialistische Staaten war die normative, insbesondere verfassungsrechtliche, 137 Regelung von Grundrechten der entscheidende Ausgangspunkt. Denn nach der marxistisch-leninistischen 138 Auffassung existierten keine unabhängig von der staatlichen Ordnung bestehenden Grundrechte. 139 Wie jegliches Recht würden auch subjektive Grundrechte „grundlegende Interessen bestimmter Klassen" 140 ausdrücken. Deshalb könne es keine „ewigen Menschenrechte, die jedem Menschen von Natur aus zukämen" 141 , geben. Da Bestehen und Umfang von individuellen Rechten allein vom Staat und seiner Rechtsordnung bestimmt seien, werden Grundrechte durch den sozialistischen Staat nicht gewährleistet, sondern gewährt. 142 134
Siehe zu subjektiven Rechten: Kapitel 3, Abschnitt B., Unterabschnitt II, 3. Der im demokratischen Rechtsstaat geläufige Gegensatz von privatem und öffentlichem Recht ist aufgrund des staatlich gelenkten Wirtschaftssystems schwerlich auf die sozialistischen Länder zu übertragen. Zumindest verliert die Einteilung in privates und öffentliches Recht deshalb an theoretischem und praktischem Wert und wird aus diesem Grund hier nicht übernommen. 135
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Siehe zum Unrechtsbegriff: Kapitel 1, Abschnitt IV., Unterabschnitt 1. Siehe insgesamt zu sozialistischen Verfassungen: Georg Brunner/Boris Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980. 138 Weder Marx noch Engels verwenden den Begriff des subjektiven Rechts, obwohl er ihnen hätte bekannt sein müssen. Hierzu: Andrea Maihofer, Das Recht bei Marx, 1992, S. 213. 139 Lange bevor sich die erste sozialistische Staats- und Rechtsordnung konstituierte, stellt Hirsch in einer der ersten theoretischen Arbeiten zur sozialistischen Staatskonzeptionen fest: „Human Rights are not derived from the State, but are inherent, the State merely recognising their existence as a necessary condition of its own existence and continuation." Als „natural rights" anerkennt Hirsch liberale Freiheitsrechte, wie die Meinungs- oder Gedankenfreiheit. Unter Sozialismus versteht Hirsch einen Staat, der sich gegen die „injustice of existing social arrangements and the evil thence resulting" konstituiert. Siehe: Max Hirsch, Democracy versus Socialism, 1901, vii, S. 195, 207. 137
140 Alfred Kosing, Menschenrechte, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 183. 141 Alfred Kosing, Menschenrechte, in: ders., Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 183.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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In der Verfassung der RSFSR aus dem Jahre 1918 sind verschiedene Rechte und Pflichten geregelt. Die Religionsfreiheit wird den Bürgern „zuerkannt" (Art. 13), eine „wirkliche Freiheit der Meinung" wird dadurch gewährleistet, dass die „materiellen Mittel zur Herausgabe von ... (Presseerzeugnissen) der Arbeiterklasse" übergeben werden (Art. 14). 143 Die „wirkliche Versammlungsfreiheit (und Vereinigungsfreiheit) der Werktätigen" wird garantiert (Art. 15 f.). Zudem wird eine vollständige, allseitige und umfassende Ausbildung gewährt (Art. 17). Außerdem wird die allgemeine Arbeitspflicht eingeführt („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!", Art. 19). Das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden wird aufgehoben und zum Eigentum des Volkes erklärt, Banken werden verstaatlicht (Art. 3 lit. a, e). Erst die sowjetische Verfassung von 1936 144 enthält, auch im Gegensatz zur Verfassung von 1924 145 , ein eigenes Kapitel über Grundrechte und Grundpflichten (Art. 118 ff.), das u. a. folgende Rechte und Pflichten enthält: Recht auf Arbeit, Erholung, materielle Versorgung bei Krankheit, Alter und Invalidität sowie Bildung. Die Gewissensfreiheit („Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und die Freiheit antireligiöser Propaganda") wird allen Bürgern zuerkannt. Rede-, Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit werden in „Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Festigung der sozialistischen Ordnung" garantiert (Art. 124 ff.). Die Person und die Wohnung sind unverletzlich. Zu den Pflichten der Bürger nach Art. 130 f. zählen: die Einhaltung von Verfassung und Gesetzen, Wahrung der Arbeitsdisziplin, die Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten und die Achtung des sozialistischen Eigentums. Die Frauen stehen den Männern gesellschaftlich gleich. Die Bürger der Union sind unabhängig von Rasse oder Nationalität gleichberechtigt. Wahlen werden nach der Verfassung aufgrund eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts geheim abgehalten (Art. 134). 146 142
Von Klenner wurde das angezweifelt, da Grundrechte im Sozialismus „objektiven Erfordernissen" entsprächen und der Staat diese Erfordernisse lediglich in staatliches Recht „transformiere". Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, 1982, S. 128. 143 Schon früh nach dem Sieg der Revolution hatte das Revolutionäre Kampfkomitee das Erscheinen nichtkommunistischer Tageszeitungen verboten. Dieses Verbot wurde durch das Dekret über die Presse des Rates der Volkskommissare vom 9. 11. 1917 bestätigt. Das Dekret sollte nur für eine Übergangszeit bis zur Festigung der staatlichen Ordnung Geltung haben. Vgl. hierzu auch: W. /. Lenin, Rede zur Pressefrage auf der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees am 17. November 1917, in: Werke, Band 26, 1961, S. 279 ff. 144 Vgl. insgesamt zu den normativen Regelungen in den Verfassungen der UdSSR von 1936: Georg Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, 1963, S. 15 ff. 145 Die Verfassung der UdSSR von 1924 hatten den Charakter eines Staatsvertrages (Gründung der UdSSR) und enthielt somit keinen Grundrechtskatalog. 146 In diesem Zusammenhang ist die Aufstellung der Kandidaten für die Wahl von besonderem Interesse. Dieses Recht stand nach Art. 57, 58 der Ordnung für die Wahlen in den Obersten Sowjet der UdSSR vom 9. 1. 1950 nur gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen der Werktätigen, der Kommunistischen Partei, den Gewerkschaften, den genossenschaftlichen Organisationen, den Jugendorganisationen und den kulturellen Vereinigungen 12 Mögelin
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
In der Verfassung der UdSSR von 1977 ist der Grundrechtsteil bis auf einige Besonderheiten (z. B. Grundrechts vorbehalte, soziale Grundrechte) so ausgestaltet, dass er ohne Schwierigkeiten, bei bloßer Betrachtung des Wortlauts der singulären Norm, als Grundrechtsteil einer westlichen Verfassung hätte gelten können. 147 Der Grundrechtskatalog wurde gegenüber früheren Verfassungen erheblich erweitert. 148 Neu aufgenommen wurden u. a. das Recht auf Schutz der Gesundheit (Art. 42) und das Recht auf Wohnraum (Art. 44). Das schon zuvor geschützte Briefgeheimnis wurde zu einem umfassenden Schutz des Privatlebens verstärkt (Art. 56). In den Rang eines Grundrechts wurde das Petitionsrecht erhoben (Art. 49). Außerdem wurde verfassungsrechtlich verankert, dass Bürger vor Gericht klagen dürfen, wenn „ihre Rechte durch Funktionäre staatlicher oder gesellschaftlicher Organe" verletzt werden (Art. 58 II). Das besondere Merkmal sozialistischer Grundrechte ist neben den sozio-ökonomischen Grundrechten 149 die Bindung der Ausübung der Grundrechte an die Interessen der Gesellschaft (Art 39 Abs. 2 Verfassung UdSSR 1977). 150 Die Bindung wurde in unterschiedlicher Form in die sozialistischen Verfassungen inkorporiert. Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: 151 positive und negative Interessenbindungen. Beim positiven Zweckbindungsvorbehalt wurde das Grundrecht mit einer materialen Ziel- oder Zweckbindung versehen. Formulierungen wie „in Übereinstimmung mit den Interessen des kommunistischen Aufbaus" (Art. 47 Abs. 1, 51 Abs. 1 Verfassung UdSSR 1977) bzw. „zum Wohle der Gesellschaft" (Art. 19 Abs. 3 Verfassung DDR 1968 i.d.F.v. 1974) deuten darauf hin. Sie finden sich in nahezu allen Verfassungen der sozialistischen Staaten. Nicht unüblich sowie den allgemeinen Versammlungen der Arbeiter und Angestellten u.ä. zu. Grundsätzlich wurde nur ein Kandidat zur Wahl gestellt. 147 Vgl. zu Struktur, Aufbau und einzelnen Normen: Otto Luchterhandt, Die Grundrechte in der neuen sowjetischen Unionsverfassung, Osteuropa 28, 1978, S. 28 ff. 148 Klaus Westen, Vor Art. 39, in: Martin Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, 1983 Rdn. 3. 149 Vgl. zu liberalen und sozialen Grundrechten: Otto Luchterhandt, Politische und soziale Menschenrechte, demokratischer Verfassungsstaat und Völkerrecht im Ost-West-Gegensatz, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 63-69. 150 Vgl. auch Art. 19 Abs. 3 Verfassung DDR 1968: „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So (sie!) verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit." 151
Luchterhandt sieht 1978 drei unterschiedliche Klauseln (Pflichtbindungs-, Zweckbindungs-, und Missbrauchsklausel). Dagegen unterscheidet Luchterhandt 1980 vier Gruppen (positive und negative Pflichtbindungsvorbehalte in spezieller und genereller Form). Siehe: Otto Luchterhandt, Die Grundrechte in der neuen sowjetischen Unionsverfassung, Osteuropa 28, 1978, S. 28 ff.; Otto Luchterhandt, Der Rechtsschutz des einzelnen im Staats- und Verwaltungsrecht, in: Klaus Westen/Boris Meissner/Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Der Schutz individueller Rechte und Interessen im Recht sozialistischer Staaten, 1980, S. 43 ff.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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waren Generalklauseln derart, dass Grundrechte nur „in Übereinstimmung mit den Interessen der sozialistischen Gesellschaft" wahrgenommen werden können (Art. 54 Abs. 2 Verfassung Ungarn 1949 i.d.F.v. 1972). Unter den positiven Zweckbindungsvorbehalt ist auch die Pflicht einzuordnen, die Interessen des gesamten Staates und der Gesellschaft zu fördern (Art. 62 Abs. 1 Verfassung UdSSR 1977). 152 Dagegen verpflichtete der negative Schadensvermeidungsvorbehalt die Bürger, Grundrechte nur dann auszuüben, wenn dem Staat oder der Gesellschaft kein Schaden durch die Ausübung des Grundrechts entsteht.153
b) Theorie sozialistischer Grundrechte: das subjektive Recht Erst seit dem Ende der sechziger Jahre, im Zuge der Verfassungsdiskussion in der UdSSR, wurde in der sozialistischen und insbesondere in der sowjetischen Verfassungslehre anerkannt, dass Grundrechte subjektive Rechte begründen. 154 Dabei galt aber weiterhin die Abgrenzung zur bürgerlichen Konzeption subjektiver Rechte. 1 5 5 Mit der Klassifizierung als subjektives Recht war es den Bürgern erlaubt, ihre Grundrechte einzufordern. Die Möglichkeiten zur Durchsetzung blieben auf die gesetzlich geregelten Verfahren beschränkt. In Art. 39 Abs. 1 Verfassung UdSSR 1977 wird die positive und negative Geltung der Grundrechte explizit geregelt. 156 Danach ist eindeutig, dass die Grundrechte der Verfassung geltendes Recht und nicht bloße Programmsätze sein sollten. 157 Hierin kommt der positivis152 Diese Formulierungen erinnern an Begriffe wie „nationalsozialistische Volksgemeinschaft", „gesundes Volksempfinden" bzw. an die von Rechtswissenschaftlern verwendeten Termini wie „Lebensgesetze der Gemeinschaft" und „nationalsozialistische Weltanschauung", die der nationalsozialistische deutsche Staat zur Einschränkung von subjektiven Rechten gebrauchte. Vgl. hierzu: Jürgen Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, 1978, S. 223. 153 Luchterhandt unterscheidet 1980 allgemeine (Art. 39 Abs. 2 Verfassung UdSSR 1977, Art. 9 Abs. 2 Verfassung Bulgarien 1971) und spezielle (Art. 29 Abs. 1 Verfassung Rumänien 1965 i.d.F.v. 1974) Schadensvermeidungsvorbehalte. 154 So: Otto Luchterhandt, Der Rechtsschutz des einzelnen im Staats- und Verwaltungsrecht, in: Klaus Westen/Boris Meissner/Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Der Schutz individueller Rechte und Interessen im Recht sozialistischer Staaten, 1980, S. 38 f. m. w. N. Vgl. auch: Klaus Westen, Vor Art. 39, in: Martin Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, 1983, Rdn. 13; Georg Brunner, Verwaltungsrechtspflege in Ungarn, in: Dietrich Frenzke/Alexander Uschakow (Hrsg.), Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, 1965, S.35. 155 „Die Grundrechte sind zugleich als subjektive Rechte des Bürgers zu verstehen. Das gilt nicht im Sinne der bürgerlichen Konzeption, wonach durch die Bürgerrechte angeblich eine sogenannte staatsfreie Sphäre gesichert sein soll." Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR (Hrsg.) Staatsrecht der DDR, 1977, S. 185. 156 „Die Bürger der UddSSR haben alle sozialökonomischen, politischen und persönlichen Rechte und Freiheiten, die von der Verfassung der UdSSR und den sowjetischen Gesetzen verkündet und garantiert werden." (Art. 39 Abs. 1 S. 1 Verfassung UdSSR 1977). Vgl. auch Art. 4 Verfassung DDR 1968. 12*
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
tische Ansatz des sozialistischen Grundrechts Verständnisses zum Ausdruck. 1 5 8 Die Rechte galten nur insoweit und insofern, als sie positiv geregelt w a r e n ; 1 5 9 ihre Durchsetzung war nur aufgrund der normierten Verfahren möglich. Der Begriff des subjektiven Rechts wurde nach und nach auch in der sozialistischen Rechtslehre anerkannt. Danach zeichne sich das subjektive Recht dadurch aus, dass es durch „juristische Garantien" 1 6 0 geschützt sei. In diesem Merkmal unterscheide sich das subjektive Recht von „Gestaltungsrechten" 161 und anderen „Begünstigungen", die ausschließlich durch „gesellschaftliche Garantien" 1 6 2 gesichert seien. 1 6 3 Auch subjektive Rechte seien von den objektiven gesellschaftlichen Gesetzen determiniert. Subjektive Rechte seien somit notwendig, um „objektiv Notwendiges" 1 6 4 durchzusetzen. „Charakter und I n h a l t " 1 6 5 des subjektiven Rechts seien ebenfalls objektiv bedingt, insbesondere der Inhalt subjektiver Rechte widerspiegele „objektiv Notwendiges direkt in Form von gesamtgesellschaftlichen Interessen" 1 6 6 . Folglich seien die Grenzen der Herrschaft des eigenen Willens fest157
Klaus Westen, Art. 39 (Umfang der Grundrechtsgewährung), in: Martin Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, 1983, Rdn. 5. 158 Klaus Westen, Art. 39 (Umfang der Grundrechtsgewährung), in: Martin Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, 1983, Rdn. 6. 159 Bei Beachtung der lex posterior-Regel ergab sich für die Geltung von Grundrechten ein weiteres Problem. Da in sozialistischen Staaten die Akte der Rechtsetzung in der Regel einstimmig beschlossen wurden, hatte die Einschränkung und Verletzung von Grundrechten gleichzeitig zur Umgestaltung der Verfassung geführt, denn das für eine Verfassungsänderung erforderliche Quorum war stets erfüllt. Wie allgemein üblich, besaßen auch in sozialistischen Ländern die Parlamente die Kompetenz, die Verfassung zu modifizieren. In der UdSSR war der Schutz der Grundrechte außerdem dadurch gemindert, dass Dekrete des Präsidiums des Obersten Sowjets die Verfassung durchbrechen konnten. Dieses Problem lässt sich als relative Instabilität von Grundrechten kennzeichnen. 160 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechts wissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 18. 161 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechts wissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 17. 162 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 18. 163 Allerdings war diese Einteilung nicht unumstritten. Sie soll dennoch dargestellt werden, da sie deutlich zeigt, dass die sozialistische Lehre unterschiedliche Typen individueller Rechtspositionen kannte. Dieser Punkt war allgemein anerkannt. 164 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 15. 165 L. S. Jawitsch, Wesen des Rechts, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 99. 166 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechts wissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 13.
B. Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung
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gelegt durch den zum „Gesetz erhobenen Willen der Klasse ... derer, die die staatliche Macht ausüben"167. Individuelle Freiheit sei nur dann und so weit als subjektives Recht anzuerkennen, wie sie ein „historisch bestimmtes Maß individueller Freiheit" 168 nicht über- oder unterschreitet. Umfang und Art der individuellen Freiheit sei vom „Grad des sozialen Fortschritts" 169 abhängig.170
c) Theorie sozialistischer Grundrechte: individuelle Freiheit als materiales Element Der Begriff der Freiheit wird in der marxistisch-leninistischen Theorie grundlegend uminterpretiert. „Freiheit" wird nicht mehr als die Abwesenheit äußerer Zwänge und die Möglichkeit der Selbstbestimmung verstanden, 171 sondern bedeutet in erster Linie Einsicht in die gesetzliche und gesellschaftliche Notwendigkeit und Akzeptanz derselben. 172 Die gesellschaftliche Notwendigkeit werde von den objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung vorgegeben. Demnach könne nur derjenige „wirklich" frei sein, der die objektiven Gesetze kennt, um „sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen" 173 . Abgesehen von der Uminterpretation des Freiheitsbegriffs werden die individuellen Zwänge und persönlichen Einschränkungen („Fabrikdisziplin" 174 ) innerhalb des sozialistischen Staates durchaus wahrgenommen, jedoch mit der „verheißungsvollen" Zukunft des Kommunismus gerechtfertigt. Die „Fabrikdisziplin" sei notwendig, um die „Gesellschaft von den Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung" zu reinigen und um „weiter vorwärtsschreiten zu können" 1 7 5 . Der Übergang zum Kommunismus sei deshalb der „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" 176 . Obwohl in den 167 L. S. Jawitsch, Subjektives Recht, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 120. 168 Ingo Wagner, Zu einigen Meinungsverschiedenheiten in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung des sozialistischen subjektiven Rechts. Zu den Arten (Typen) des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 15. 169 L. S. Jawitsch, Subjektives Recht, in: Ingo Wagner (Hrsg.), Probleme des objektiven und subjektiven Rechts, 1982, S. 130. 170 Siehe zur Abänderung dieser Position in den frühen neunziger Jahren: Ingo Wagner, Rechte der Menschen und Rechtsstaat, in: Staat und Recht 39, 1990, S. 99-105. 171 Siehe zur individuellen Freiheit: Kapitel 3, Abschnitt A., Unterabschnitt I. 172 Alfred Kosing, Freiheit, in: ders: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 1986, S. 183. 173 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dürings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring, 1894), MEW, Band 20, 1973, S. 106. ™ W /. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 488. "5 W /. Lenin, Staat und Revolution, 1917, in: Werke, Band 25, 1972, S. 488. 176 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dürings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), 1894, MEW, Band 20, 1973, S. 264.
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4. Kap.: Der Begriff des Unrechtsstaates und seine Anwendung
siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Gewährleistung individueller Freiheitsrechte in den sozialistischen Staaten mehr und mehr in den Vordergrund trat, 177 wurde die Neuinterpretation des Freiheitsbegriffs nicht verändert.
d) Sogenannte materielle und formelle Garantien des Schutzes von subjektiven Grundrechten Die Analyse der Gestaltung des Schutzes von Grundrechten im Sozialismus hat zu beachten, dass die marxistisch-leninistische Theorie davon ausging, dass im sozialistischen Staat das Volk die Herrschaft errungen habe und somit grundsätzlich eine Interessenidentität zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen bestehe. Hierdurch seien Übergriffe der Staatsmacht in den Rechtskreis der Bürger theoretisch ausgeschlossen. Ungerechtfertigte Eingriffe in Rechte oder Interessen des Bürgers könnten allenfalls durch die fehlerhafte Umsetzung von Gesetzen o. ä. 1 7 8 geschehen, seien also grundsätzlich Einzelfälle. Die sozialistische Theorie benennt zwei (bzw. drei) verschiedene Arten von Garantien für Grundrechte: sog. materielle (bzw. politische) und formelle Garantien. 1 7 9 Die materielle Garantie liege in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die dem ganzen Volk diene. Politisch seien die Grundrechte durch die Herrschaft des Volkes garantiert. Unter formeller Garantie sei jegliches prozedurales (juristisches) Mittel zu verstehen, das dem Bürger zur Verfügung stehe, seine Rechte zu schützen, wobei die Einrichtung eines effektiven Rechtsschutzes auch in der sozialistischen Lehre als Gradmesser für das Bestehen von subjektiven Grundrechten allgemein angesehen wurde. 180 Ferner fanden staatliche und gesellschaft177 Siehe zur Menschenrechtsdiskussion in der DDR in den achtziger Jahren, in deren Ergebnis die klassenorientierte Herangehensweise aufgekündigt wurde: Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 1992, S. 267 ff., 270. 178 Selbst die auf den Schutz der Rechte der Bürger bedachten W. M. Tschchikwadse/N. G. Alexandrow u. a. sehen die Möglichkeiten von Rechtsverletzungen durch staatliche Organe nur aufgrund von Erscheinungen des Subjektivismus, falschen Auffassungen von staatlicher Zweckmäßigkeit und Fehlern, die aufgrund mangelnder Erfahrung oder unzureichender Qualifikation einzelner Funktionäre entstehen. Siehe: W. M. Tschchikwadse/N. G. Alexandrow u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts. Band 4: Das sozialistische Recht, 1973 (russ.), 1976, S. 82 f. 179 Zwei Arten unterscheiden: Wojciech Sokolewicz, Über die sozialistische Auffassung von den Grundrechten und -pflichten, in: JOR 19, 1978, S. 125 f.; sowie: Valentin Petev, Rechtstheoretische Aspekte des Schutzes individueller Rechte und Interessen in der sozialistischen Gesellschaft, in: Klaus Westen/Boris Meissner/Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Der Schutz individueller Rechte und Interessen im Recht sozialistischer Staaten, 1980, S. 22. Drei Arten von Garantien sieht: Klaus Westen, Die Rolle der Grundrechte im Sowjetstaat, in: Reinhart Maurach/Boris Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, 1969, S. 99. 180 Vgi