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German Pages 344 Year 2014
Martin Zillinger Die Trance, das Blut, die Kamera
Locating Media 1 Situierte Medien
Band r
Editorial Orts- und situationsbezogene Medienprozesse erfordern von der Gegenwartsforschung eine innovative wissenschaftliche Herangehensweise, die auf medienethnographischen Methoden der teilnehmenden Beobachtung, Interviews und audiovisuellen Korpuserstellungen basiert. In fortlaufender Auseinandersetzung mit diesem Methodenspektrum perspektiviert die Reihe Locating Media/Situierte Medien die Entstehung, Nutzung und Verbreitung aktueller geomedialer und historischer Medienentwicklungen. Im Mittelpunkt steht die Situiemng der Medien und durch Medien. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Schabacher, Jens Schröter, Erhard Schüttpelz und Tristau Thielmann.
Martin Zillinger ist Juniorprofessor am Research Lab »Transformations of Life« an der Universität zu Köln. Seine Schwerpunkte sind Religionsethnologie, Medienethnologie, Migration sowie Nordafrika und der Mittelmeerraum.
MARTIN ZILLINGER
Die Trance, das Blut, die Kamera Trance-Medien und Neue Medien im marokkanischen Sufismus
[ transcript]
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»Du hast nicht von den Gläsern des f:täl gekostet und hast nicht erfahren, was mir widerfahren ist. Dieser Dolch hinterließ Verletzungen an mir.« (Aus einem Liedgedicht der 'lsäwa)
>>Wenn Ihr glaubt, dass Ihr, weil sich die Welt modernisiert, auf der Natur rumreiten könnt wie auf Pferden oder Ochsen, dann irrt Ihr!« (Karl August Wittvogel)
>>So, soon everybody will have a culture, only the Anthropologist will doubt it.« (Marshall Sahlins)
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
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MEKNES »RE-VISITED« Einleitung: Wie ich die J:lamadsa suchte und die 'Isäwa fand I 15 Die J:Iamadsa 115 Die 'Isäwa I 24 In Meknes - Selbst- und Fremdverortung Meknes - die Forschung I 32
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TEIL I MAGIE: MAGISCHE ÖKONOMIEN UND RITUELLE RÄUME 1. KeiiJ.arJ.ru al-amwiit: Soziale Räume- magische Räume Wie der Tote in der Hand des Leichenwäschers: Initiation und Organisation I 42
I 41
>>Keil:zacfm al-amwiit«:
Gegenwart und Vergegenwärtigung der Toten
I 46
>>From the womb to the tombAushandeln der Wirklichkeit'fb-eles al-haqqPatria potestas« in Haus und Heiligtum I 57 >>Ifasab, nasab, fitna«: Struktur und Prozess I 60 >>Al !Jaib diel 'ayeliitSarku al-t'am«: Bannen, Binden, Teilen im Zeichen des Heiligen
I 64
2. Wenn Dämonen ins Essen kotzen: Alltag und Magie I 67 Magische Orientierungen I 68 Magie und Common Sense I 70 Magie im Kontext: die religiöse Topographie I 72 Die ziiwiya I 77
Derfqih I 78 Die Pilgerfahrt I 85 Wenn Dämonen ins Essen kotzen. Magische Effekte
I 92
TEIL II TRANCE: TRANCE-MEDIEN UND RITUELLE PRAKTIKEN
1. Kultur und l:uiZ: Bruderschaften
zwischen Stadt und Land I 99 In der Stadt: Das Feine und das Rechte I 99 Die Mell:um-Vereine 1102 Die q~ida »I;lumman« 1104 Aus dem Land: Das Rohe und die Kraft I 112 Unser Afrika 1116 Stadt und Land: Die Verdichtungen sakraler Räume und Praktiken Ins Das Opfer der 40 Kinder I 119 2. Die 'Isäwa und l;lamadsa des Westens I 123 Trance-Archive 1126 Die ~enna-Nacht der Fahnen 1128 3. Die l;lamadsa und 'lsäwa der Medina I 143 Die Reorganisation der zawiya 1143 Papiere 1: Beim qadi und demfonctionaire des Stadtteils 1145 Papiere 2: Was man für eine Folklorevereinigung braucht -und wer das bezahlt 1147 Papiere 3: Die Ernennung des Außenseiters 1149 Der Ablauf eines gikr in der zawiya I 151 Die lila in der Medina I 155 $adaqa von Jahr zu Jahr 1162 4. Der Prophetengeburtstag und die Wallfahrten: Spektakel und ~äl I 165 Das Zeltlager 1165 Die lila im Viertel 1168 Die lila diel miliid >des Westens< 1171 Der Umzug zum Heiligtum 1174
Die Gruppen 'der Medina< I 177 Das Spektakel I 178 Die lila diel miliid der Medina 1182 Der müssim von Sidi 'Ali 1183 Al-lila 'amt al-malik: Die lila der Königstante 1188 Die qa~ida Az-zemita I 192 Die Hand der 'AiSa I 197 TEIL 111 FOLKLORE: MAGISCHE MODERNITÄTEN UND MODERNE RITUALE 1. Folklore und Passion: Marokkanische Hochzeiten und transnationale Öffentlichkeit I 207 Nationale Hochzeiten I 208 Hochzeiten und Folklore im transnationalen Raum I 216 Pathos und Poiesis: Tranceerfahrung und die Inszenierung kultureller Identität I 223 2. Rappen für Gott, König und Vaterland: Über Trance, Folklore und Macht in Marokko und der marokkanischen Migration I 231 A matter out of place: Trance, Medien und Öffentlichkeit I 233 RAP 100% 'Isäwia, Meknässia, Magrebia I 236 »Catching the Jar>Seht den Gawri, 5 der spricht arabisch!er kann Assalam-u 'aleikum und Ia bas [wie geht's?] sagen.« In den nächsten Jahren wurde diese Frau für mich von einer Schlüsselinformantirr zu einer Freundin, so wie ich für sie von einem möglichen Türöffner zum reichen Westen zu einem Teil ihrer Familie. Doch bis dahin ging es mir darum, den ersten Kontakt zur zawiya weiter zu vertiefen, und deswegen kehrte ich eine Woche später nach Meknes zurück. Das Buch Crapanzanos und besonders die hier abgebildeten Photos blieben Gegenstand anhaltenden Interesses, auch wenn die zwei, gelegentlich auch drei oder vier alten Männer, die im Hof zusammen kamen, offensichtlich 5
Gauri bzw. Gauria ist neben N~rani bzw. N~raniya (Christ!Christin) die umgangssprachliche Bezeichnung für Europäer und Nord-Amerikaner (die auch halb scherzend für die Kinder von Migranten verwendet wird) und scheint sich aus dem Spanischen el!la guiri (Tourist) abzuleiten, vgl. Juntunen (2002): 45.
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nichts auf den Photos erkennen konnten, auch wenn sie sich diese unmittelbar vor ihre Augen hielten. Sie hatten aber ein sehr klares Bild davon, was der junge Europäer wollte: >>Geh doch besser zum [historischen Altstadttor] Bab Mansour, dort gibt es Folklore, dort kannst Du Photos machen.>doch da gibt es auch die richtige T:tac;lra>Laila 'Ai.Sa•Authentizität< genau danach suchte: nach den sakralen Kontexten jenseits öffentlicher Vermarktung. Rückblickend denke ich, dass dabei meine eigene Sozialisation in einer protestantischen Pastorenfamilie eine wichtige Rolle gespielt hat, wodurch für mich >wahre< Religiosität und Spiritualität eng mit >Innerlichkeit< verbunden ist und meine Erwartungshaltung eine Suche nach den >mystischen• Kontexten der Trancetänze und Besessenheiten in den Mittelpunkt stellte, die eine zentrale Rolle im Werk Crapanzanos (1981), aber auch Brunels (1926) und Weites (1990) einnehmen. Die 'Isäwa traf ich zu Beginn meiner Feldforschung fortwährend auf öffentlichen Bühnen - zuerst auf Hochzeiten, die in dem Haus meiner Gastfamilie in Fes abgehalten wurden, bei denen sie als bezahlte Musiker die Braut bei ihrem festlichen Einzug begleiteten, um dann hinter Mikrophonen Platz zu nehmen und einige feierliche Lieder zum Besten zu geben. An diesen musikalischen Aufführungspraktiken hatte ich zu Beginn meiner Forschung nur geringes Interesse - ich verkannte, dass sich mir über diese kommerzielle Praxis ein wichtiges Betätigungsfeld der Bruderschaften und davon ausgehend, unterschiedliche Bereiche ihrer Tradition bereits erschlossen. Doch die Widerstände in meinem Umfeld auf der Suche nach Heiligengräbern und Bruderschaften war zu Beginn so groß gewesen, dass ich die ständigen Verweise auf Fernsehauftritte und Akrobatik - nicht zu Unrecht - als Schutzmauer gegenüber dem Europäer wahrnahm, der gekommen war, wie es später ein kluger, alter lfamdüsi ausdrücken sollte, um »Unsere Geheimnisse zu verkaufen« bzw., wie mir eine meiner Sprachlehrerinnen vorhielt, um in Europa zu erzählen, diese Traditionen seien »marokkanischer Islam«. Sie implizierte damit, dass ich an einer postkolonialen Fortschreibung orientalistischer, d.h. abqualifizierender Reisebeschreibungen Interesse hätte (vgl. Said 1978).
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Beim ersten großen Heiligenfest, dass ich in Fes miterleben konnte, dem müssim Mülay Idris, hatte ich keine I:Iamadsa im langen Zug der Bruderschaften ausfindig machen können. Die kostümierten 'Isäwa, die in verschiedenen Formationen in dem Zug der aufmarschierenden Bruderschaften zu finden waren, bedeuteten dem jungen Europäer mit der Fotokamera mit Handzeichen und finsterer Miene, dass er Geld zu zahlen habe, wenn er Photos mache. Und doch waren es diese selbstbewussten, kostümierten, häufig jungen Männer, deren Musik und Tanzschritte die Aufmerksamkeit der Umstehenden besonders auf sich zogen - und denen Segenskraft, die sie im Zeichen ihres Heiligen evozierten, zugesprochen wurde.
Abb. 3: Öffentliche Segnung ('Isawa)
Ihr eigenes Heiligenfest feiern die Bruderschaften der 'lsäwa in Meknes zum Zeitpunkt des Prophetengeburtstags - al-milüd an-nabawi. Dann bringen sie ihre Opfergaben in öffentlichen Prozessionen zum Grab ihres Gründungsheiligen, zum Mausoleum des Sai!J al-Kamel gleich außerhalb der Stadtmauem der historischen Altstadt. Dort erlebte ich bei meiner Wiederkehr zu einer zweiten prestudy 2005 die für mich noch verwirrende Vielfalt der Bruderschaften, deren öffentliche Erscheinung von ekstatischer Trance bis hin zu kleinen Musikdarbietungen am Straßenrand reichten. Als ich am Abend erschöpft von den vielen Eindrücken ins Hotel zurückstrebte, kam mir eine 'Isäwa-Bruderschaft entgegen, die in einer wogenden Menge von Pilgern zum Heiligtum strebte. Frauen warfen ihre Haare durch die Luft und wurden in wilder Trance von Beglei-
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terinnen oder Begleitern gehalten und geschützt, junge Männer liefen, den Namen Gottes skandierend, den reitenden Oboe-Spielern und den Trommlern voraus; und öffentliche Ordnungshüter liefen zurückhaltend mit, um im Falle einer überbordenden Ekstase oder Streitigkeiten einschreiten zu können. Ich war tief beeindruckt, wie es wohl jedem Beobachter, der zum ersten Mal auf so einen Umzug trifft, aber auch vielen Marokkanerinnen und Marokkanern immer wieder ergeht, und zog mit den Menschen in Richtung Heiligtum. Im Dunklen auf dem großen Vorplatz angekommen, formierte sich ein Kreis aus mehreren hundert Männern aller Altersklassen, die - sich gemeinsam an den Händen fassend - ihre Oberkörper vor und zurück warfen und lang und gedehnt den Namen Gottes in die Nacht riefen- >>allah!« Bereits im Umzug hatte ich zwei Männer beobachtet, die ein Video der Veranstaltung drehten. Als die Menge sich irgendwann langsam zerstreute, ging ich auf sie zu und frage, ob es wohl möglich sei, den Film anzuschauen oder gar zu kopieren - ich bekam ihre Adresse und saß einige Monate später mit einem von ihnen im Club d'Agriculture in Rabat, um einer Aufführung der 'Isäwa beizuwohnen.
Abb. 4: 'Isäwa-Konzert Präsentation einer 'Isäwa-Bruderschaft und ihres Vorsitzenden, Muqaddim Khaldün, auf einer DVD Hülle
Mir schien die Veranstaltung nach den Erlebnissen am Prophetengeburtstag zumindest verwunderlich: Familien saßen an runden Tischen und schauten Limonade oder Tee trinkend einer Gruppe von 'Isäwa zu, die auf der Bühne eini-
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ge ihrer Lieder aufführten - sogenannte q$ii'id (Sg. q0$ida), in denen Gott und der Prophet gepriesen wurden - und schließlich noch durch einen Sänger dialektalarabischer, religiöser Poesie (mel/:tün7 ) verstärkt wurden. Die Anwesenden stammten zu einem großen Teil aus der Universität in Rabat und begrüßten mich herzlich über das Mikrophon: Martin, den Studenten aus Deutschland, der ein ba/:t!, eine Studie, zu den 'Isawa durchführt. Die für mich unvermittelt kommende Ansage wurde mit anhaltendem Applaus quittiert; verlegen bedankte ich mich durch ein Winken. Mein Gastgeber, der mich großzügig mit Filmmaterial aus seinem privaten Archiv und mit Erklärungen versorgte und, wie sich herausstellte, selbst ein ausgewiesener Sozialwissenschaftler mit Feldforschungserfahrung war, verlangte schließlich nach den Oboen-Spielern und begann mit einigen Anwesenden die J:tacjra, den gemeinsamen Tanz zu den instrumentellen Preisungen Gottes, bei dem die Adepten dissoziieren können. Außer Atem und leicht erschöpft kam er hinterher strahlend auf mich zu: >>Jetzt hast Du eine echte J:tacjra gesehen« - das Gefühl der Befriedigung, das er im Laufe des gemeinsamen Abends noch ein paar Mal angesichts dieser J:tacfra hervorhob (»je suis tres satisfaitIslam propre< und >Christianisme propreWeltkulturerbes« der UNESCO tragen darf. Einige große Hotels konnten sich in Meknes halten, und zur Zeit meiner Forschung hatten sich auch einige Riads etabliert, die in schön renovierten Häusern der Altstadt Unterkünfte für Individualreisende zur Verfügung stellten. Doch in der Regel fuhren Touristen nur kurz durch Meknes durch, schauten sich das von einem französischen Baumeister für Sultan Miilay Isma'il erbaute Stadttor Bab Mansour an und warfen, nach dem Besuch der Grabstätte Miilay Isma'il - eines der wenigen, frei zugänglichen Heiligtümer für Nicht-Muslime in Marokko- einen Blick in die, 2006 renovierten Ruinen der königlichen Pferdeställe und Kornspeicher und auf den künstlich angelegten See aus dieser Zeit imperialer Größe, bevor sie in das mit knapp einer Million Einwohnern doppelt so große Fes weiterfuhren um die größte, mittelalterliche Stadtanlage der islamischen Welt zu erleben und zu besichtigen. Als Haupt- und Verwaltungsstadt der Region Meknes-Tafilalt zieht es jedoch weiterhin Marokkaner aus ländlichen Gebieten zur Arbeitssuche in die Stadt, was zu einer >Krise im Wohnungsmarkt« geführt habe, wie ein Freund klagte, der mir bei meinem endgültigen Umzug nach Meknes half eine Wohnung zu finden. Ich versuchte mich in der Medina niederzulassen, der Altstadt, in nicht allzu großer Entfernung der zawiya der J:Iamadsa und des Mausoleums von Sai!J al-Kamel. Schließlich wendeten wir uns an einen semsar, einen Makler, der weithin als integer galt und den Auftrieb von Menschen und Informationen in seinem Friseurgeschäft für diesen Zweck nutzte. Er vermittelte mich in eine Wohnung in einem >guten< Viertel am Rande der Altstadt. Nach allem, was ich weiß, war ich vermutlich der einzige Europäer, der zu dieser Zeit hinter den Altstadtmauern lebte - möglicherweise von einigen eingeheirateten Frauen abgesehen, zogen es Europäer in der Regel vor, in der kolonialen Neustadt, in Ifamriya, zu lebenY Wie ich erst sehr viel später herausfand, war ich jedoch nicht der erste Gawri, der sich für einen längeren Zeitraum hier niederlassen wollte und war folgerichtig in der Nähe der zawiya der Derqaua Bru-
11 Der rege Handel mit Europäern die Altstadthäuser als Ferienresidenzen oder Spekulationsobjekte kauften, konzentrierte sich vor allem auf Fes, Marrakesch und Rabat. Um einem wachsenden Ausverkauf der Altstädte vorzubeugen, wurde offensichtlich per Erlass verfügt, dass nur noch in Eigentumsgemeinschaft mit einem marokkanischen Staatsbürger ein Haus erstanden werden darf (mündliche Mitteilung eines marokkanischen Freundes 2008).
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derschaft untergebracht worden. Spätere Informanten und Freunde, die in den 1960er Jahren in diesem Teil der Medina aufgewachsen waren, erinnerten sich noch gut an die blassen, bärtigen, jungen Männer, die auf dem Weg zur und von der zäwiya die gepflasterten Straßen entlangliefen und sich mit anderen, europäischen und amerikanischen Konvertiten im Sufismus schulten. Ich selber habe aber in der gesamten Zeit meiner Feldforschung keine Ausländer entdecken konnte und auch nie den Zugang zu dieser Bruderschaft gesucht oder gefunden. Außerdem galt die benachbarte Moschee, die >Oliven-Moschee«, als eine der schönsten der Stadt, in der bereits >die Amerikaner« Filme gedreht hätten. Der Muezzin, der hier zum frühmorgendlichen Gebetsruf tätig wurde, beendete gelegentlich meine Zeit am Schreibtisch, wenn ich von Abendveranstaltungen spät nach Hause gekommen war und machte mich für die Schönheit koraniseher Rezitation empfänglich. Vor allem aber war ich hier im Viertel der 1816 vom Sultan Mülay Slimane freigelassenen, christlichen Sklaven untergebracht worden - die sich so zahlreich in diesem Viertel niederließen, dass sie offenbar eine Kirche unterhielten, die 600 Menschen fassen konnte (Berrada 2005: 80). Meine Verortung in dieser Gasse am Rande der Altstadt beim Bab Gnäwa (einem Tor zur Medina) entsprach zugleich einer Verortung in einem >kulturellen Gedächtnis« (Assmann 1992) vor Ort. Hier gehörte ich her, fand mein semsär, »es ist ein gutes Viertel für Dich«, in dem sich örtliche Kultur dem fremden Blick präsentiert und kulturelle Fremdheit bereits - im Falle der freigelassenen, christlichen Sklaven - Raum gefunden sowie - im Falle der nach spiritueller Heimat suchenden Konvertiten - Brücken geschlagen hatte. Außerdem war es weit weg von den magischen Kontexten der zäwiya und Dämonenschreine am anderen Ende der Altstadt. Meine Wohnung lag in einem typischen Altstadthaus im ersten Stock um einen Innenhof, den ich mir mit drei bis sechs anderen, wechselnden Mietparteien teilte - lediglich eine Familie über mir und ein altes Ehepaar mit einem erwachsenem Sohn unter mir schienen dauerhafte Mieter zu sein. Das Haus war einigermaßen baufällig und Türen und Fenster schlossen schlecht oder waren nicht vorhanden, so dass ich lernen musste, meine Ansprüche an Privatsphäre zurückzustecken - obgleich ich über den Luxus einer eigenen Dusche und einer europäischen Sitz-Toilette mit eingebauter Wasserspülung verfügte. Meine, durch eine Sperrholzplatte von der Wohnung abgeteilte Toilette grenzte an die Küche meiner Nachbarn, die nicht bis an die Decke durchgezogene Wand war notdürftig durch Pappe verlängert worden, die einzigen Fenster der Wohnung öffneten sich zum Innenhof. Geschlechtsverkehr, Toilettengänge (die Toiletten anderer Wohneinheiten befanden sich im Flur und mussten geteilt werden), Streit und Freude wurden akustisch von den Menschen im Hause ge-
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teilt. Bald wussten die Menschen nicht nur im engeren Viertel von meiner Existenz in der Wohnung der verstorbenen Jfäga12 - einer Wohnung, die mit zwei kleinen und einem großen Zimmer, dem repräsentativen Salon, für mich zu groß und im Winter weder warm noch trocken zu bekommen war. Anders als geplant, kamen meine Frau und mein Sohn nicht nach, da die Studien von Anna und eine erneute Schwangerschaft es ratsam erschienen ließen, die Zeit der Feldforschung durch gelegentliche Besuche zu überbrücken. So blieb ich mit dieser zu großen Wohnung zurück, die für viele meiner Informanten, die sich mit ihren fünf Kindern eine eineinhalb Zimmer-Wohnung teilten, oder wo drei Generationen auf vier Zimmer verteilt lebten, luxuriöse Ausmaße hatte. Durch die alten, feuchten Mauern in der Altstadt und fehlenden Heizungen in nassen Wintern litten viele Menschen an Gicht und Rheuma. Die sowieso schon feuchten Mauern und der feuchte Grund in der tiefer gelegenen engen Gasse, in der ich wohnte, zogen zusätzlich Feuchtigkeit von einem nahe gelegenen T:zamäm, einem öffentlichen Badehaus. Wie gut informiert die Menschen über meine Präsenz waren, wurde mir klar, als ich eines Freitagnachmittags in meiner weißen (festtäglichen) gilläba durch die Gassen von der zäwiya zu Freunden unterwegs war. Ein kleiner Junge erkundigte sich bei seinem Freund nach meiner Person und bekam treffend zur Antwort: >>Al-T:zmaq, li dimafi-zäwiya [der Verrückte, der ständig in der zäwiya ist].«
MEKNES- DIE FORSCHUNG Was diese, vielleicht gerade mallO Jahre alten Kinder zum Ausdruck brachten, wurde mir etwas weniger geradeheraus von vielen jungen Leuten zwischen 15 und 45 Jahren vermittelt: dass ich mich mit einem sterbenden, eigentlich uninteressanten Teil der marokkanischen Traditionen beschäftigte, der für sie keine Relevanz hatte. Ich war es, der die Versammlung im Innenhof neu aufwertete, obwohl ich leicht >verrückt< sein müsse, für die Vorstellungen und Praktiken der alten Frauen und Männer von so weit her angereist zu sein. Einige junge Leute betraten die zäwiya der I:Iamadsa nur mit größtem Unbehagen, und nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie fühlten sich als Fremde, am Ende meiner Feldforschung fremder als ich selbst, der Gawri aus Europa, der ein (adoptiertes) Kind der Gemeinschaft geworden war. Der wäh-
12 Ehrentitel für eine Frau, die ihrer religiösen Pflicht der Pilgerfahrt nach Mekka nachgekommen ist, vgl. für eine Beschreibung der Ijiig: Hammoudi (2007).
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rend meines Aufenthalts neu gewählte muqaddim hatte sich vor meiner Ankunft von den Sufi-Gruppen der Altstadt, bei denen er in jungen Jahren zu Ansehen gekommen war, abgewendet, nicht zuletzt, weil er in dem hart umkämpften Geschäft der Folklore kein Bein mehr auf den Boden bekam, um sich ein beständiges Einkommen zu sichern und eine Gruppe an Musikanten und Adepten zusammenzuhalten. Ohne eigene finanzielle Ressourcen ließ es sich in diesem Geschäft offensichtlich nicht so groß werden, dass die Einnahmen das ganze Jahr über zum Lebensunterhalt reichen würden. Meine Ankunft hätte ihn >aufgeweckt«, wie er mir gegenüber immer wieder betonte, nicht zuletzt meine Person hätte ihn bewogen, sich wieder in dieses Umfeld einzubringen, obgleich er auch nach der Wahl zum Vorsteher weiterhin seinem Handwerk eines 'awäd nachgehen musste. Doch teilte er mit mir die Neugierde zur Wiederentdeckung der eigenen Traditionen und verstand die Möglichkeiten folkloristisch-touristischer Geschäfte, die sich nicht zuletzt in meiner Person zu verköpern schienen. Mit anderen Worten: die traditionell in den unteren Strata der Gesellschaft angesiedelten Sufi-Gemeinschaften der J:lamadsa und, etwas weniger ausgeprägt, der 'Isäwa durchlaufen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Transformationsprozesse und Auflösungserscheinungen, die im Laufe der Arbeit beschrieben werden sollen. Diese Prozesse erstreckten sich zum Zeitpunkt meiner Forschung auf die Bereiche a) der sozialen Organisation (Aufsprengung des Generationenverhältnisses, in dem das Wissen um Praktiken und Kosmologien weitergeben wird) b) der ökonomischen Austauschzirkel (ursprünglich nicht mehr (und nicht weniger) als eine periphere Ökonomie einer peripheren Gesellschaftsschicht zeitigen klassische, rituelle Dienstleistungen immer weniger einen regelmäßigen Nebenerwerb; der Niedergang traditioneller Handwerkszünfte und -berufe, in deren Kontexte die Bruderschaften in der Geschichte florierten, untergräbt zugleich diese Orte und Praktiken sozialer Kohäsion), c) der kosmologischen Orientierung (»es gibt keine Heiligen und ~äfi [fertig]«) sowie d) veränderter Formen der Evidenzerzeugung (orale Traditionen werden durch Literalität abgelöst und vor allem in neue Formen der Medialisierung überführt). Dies bedeutet aber nicht, dass die Praktiken und die von ihnen tradierten sozialen Werte der Gemeinschaften irrelevant geworden wären - sie müssen sich lediglich a) in einem sehr viel pluraler gewordenen Umfeld behaupten, mit b) neuen Formen der sozialen Vergemeinschaftung und überdehnten sozialen Netzwerken und ihrer Austauschzirkel zurechtkommen, c) dabei müssen veränderte Konzeptionen und Wahrnehmungen von Öffentlichkeit integriert werden, die einem veränderten >religiösen Feld< (Bourdieu 2000) Rechnung tragen. Ausserdem müssen die Kultgemeinschaften und ihre Praktiken d) an
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veränderte, alltägliche (Konsum-) Praktiken anschließen, um bedeutungsvoll zu bleiben. Die rituellen Räume, die im >religiösen Feld< weiterhin gepflegt werden - und hier meine ich die konkreten Orte und Plätze, die von den räumlichen Alltagspraktiken um- und abgeschritten werden und bei Bedarf aufgesucht werden können - binden diese Transformationsprozesse aber weiter an einen Ort zurück, an dem sie Bedeutung gewinnen und der aufgesucht werden kann, wenn die Menschen versuchen, Gestaltungsraum in ihrem Leben wiederzugewinnen. Der Gebrauch technischer Medien ist in diesem religiösen Feld allgegenwärtig. Während sich die Arenen und Öffentlichkeiteil vermehren, für die die Bruderschaften operieren und die situative Nähe in den Ritualen durch den Mediengebrauch sozio-technisch restrukturiert wird, stellt sich für Ethnographinnen und Ethnographen die Frage, wie diese veränderten Bezüge und die Vielzahl an heterogenen Akteuren berücksichtigt und sinnvoll erforscht werden können. In meiner Forschung habe ich mir damit geholfen, meinen Gesprächspartnern und ihren Praktiken zu folgen - wodurch ich entgegen meines ursprünglichen Interesses immer wieder auf ihre Medienpraktiken gestoßen wurde und auch alle Tätigkeiten verfolgte, die meine Informanten •Folklore< nannten. Dabei wurde mir deutlich, dass es nicht sinnvoll wäre, •online-< und •offline->billige, soziale Klebstoff des Transnationalismusdurch ihre Person< in der jeweils anderen präsent halten können - sie behandeln und durchleben Besessenheit, gestalten Familienfeste, inszenieren marokkanische Kultur für Migratinnen und Migranten und bespielen die internationalen Bühnen der Weltmusik Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Bereich, der gemeinhin als Ökonomisierung und Folklorisierung der Kultzusammenhänge bezeichnet wird, neue Formen traditioneller Vermittlungs-, Tätigkeits- und Organisationsformen dieser Bruderschaften hervorbringt. Dabei generieren die Praktiken ihrer Adepten weiterhin einen Kommunikations- und Erfahrungshorizont, in dem sich die Akteure einrichten und ihre (veränderte) Umwelt gestalten. In der Literatur hat es sich durchgesetzt, in der islamischen Welt eine
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Rückbesinnung auf >Core-practices< eines orthopraktischen Islams zu konstatieren (Gilsenan 1982), die nicht unwesentlich aus Migrationserfahrungen und der Scheidung von kulturellen Zusammenhängen und transkulturell gültigen, religiösen Wahrheiten resultiert (Vertovec 1998). Eine unkritische Adaption dieser ideologisierten Diskurse in der islamischen (und nicht-islamischen) Öffentlichkeit verstellt gleichwohl den Blick auf lokale Adaptionen und Übersetzungen dieser supralokalen Diskurse. Wie zu zeigen sein wird, erzeugen diese Übersetzungen als Spaltprodukt (Hauschild 2002: 280) magische Praktiken, die zur Heilung von Krisen und Neu-Ausrichtung von Individuen vorgenommen werden und die nicht zuletzt dazu dienen, Öffentlichkeiteil zu strukturieren, und dabei kulturelle und lokale Intimität (Herzfeld 1997) herstellen. Die Bruderschaften sind vielleicht nicht mehr in dem Maße durch soziale Kohäsion ausgezeichnet, wie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die für die lokalen Ökonomien bedeutenden Handwerksgilden ihre sozialen Kontexte strukturierten (vgl. Geertz 1979: 155, 1988: 82). Und doch greifen die Menschen auf die von diesen Bruderschaften gestalteten sozialen und topographischen Räume und ihre (>coredie Modeme< und ihre Gestaltung in Marokko- ein Wettkampf, der durch beständige Transgressionen der Protagonisten gekennzeichnet ist und sich beispielsweise nicht so eindeutig durch Dichotomien wie die von Sufismus/Salafismus oder sakrale Rituale/ säkulare Folklore beschreiben lässt. Die Figur des bricouleurs (nach L!:~vi-Strauss 1968), der kulturelle Elemente im Ringen um Bedeutung scheidet und neu zusammenfügt und dabei immer wieder neue kulturelle Formen schafft, scheint besonders passend, um die Beharrlichkeit dieser, seit der Frühzeit der islamischen umma umstrittenen Praxen zu verstehen und nicht zuletzt, um den Veränderungen und Transformationen nachzuspüren, die sich in den vielfältigen Übersetzungsleistungen dieser bricolage ergeben. In dieser Arbeit will ich den vielfältigen >Reinigungs-< und >Vermengungsarbeiten< nachspüren, die von den Anhängern dieser Traditionen und ihren Feinden vorgenommen werden. Mit ihren Widersprüchen und deren Versöhnung werfen diese religiös-kulturellen Praktiken nicht nur ein Licht auf den westlichsten Teil der islamischen Welt, sondern zugleich auf unsere gemeinsame Lebenswelt im euro-mediterranen Raum. Die Welt der Medina in Meknes ist immer noch überschaubar- den Menschen entgeht nur wenig von den Tätigkeiten, Problemen und Freuden der Nachbarn, im Allgemeinen gibt es ein ungefähres Wissen über Herkunft und
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Familie der täglich durch die Gassen laufenden Menschen. Und doch hat sich die Sozialstruktur rasant verändert - während mir die Menschen noch die Straßenzüge zeigen konnten, in denen ihre Eltern oder Großeltern in der Gemeinschaft der Großfamilie Haus an Haus gelebt haben, so dass letztlich die Schwellen in bestimmte Gassen bereits den Eingang in private Bereiche und der Zugang zu den Frauen und Kindem markierte, sind heute weite Teile der überbevölkerten Medina durch stetig umziehende Kleinfamilien gekennzeichnet, deren soziale Bindungen nicht notwendig mit der unmittelbaren Nachbarschaft zusammenfallen. Menschen, die >es geschafft haben>sind von französischen Gelehrten als ein extremer Fall der confrerie populaire klassifiziert worden, einer Art Degenerationserscheinung der sufischen Bruderschaft der klassischen muslimischen TraditionSeelenforschung« (Schimmel 2000: 18) betrieben und die Pflege der inneren moralischen und religiösen Qualitäten in den Mittelpunkt stellten, die den einzelnen der spirituellen Qualität Mul;lammads und damit dem göttlichen Wesen näher bringen sollten. Die Autorität dieser saib-s wurde durch eine zum Teil mündlich, zum Teil schriftlich überlieferte Wissenstradition untermauert. Die Gelehrten und Sufis einer jeden Generation, die ihr Wissen von einer Kette von Vorgängern erhalten hatten, gaben es an ihre Nachfolger weiter. Erst die Vermittlung des Meisters gab - auch der schriftlich niedergelegten - Lehre spirituelle Bedeutung: Initiation erfolgte durch Handschlag. Von den Initianden in Sufi-Bruderschaften wurde die vollständige Auflösung ihrer sozialen Identität erwartet, er hatte » ZU sein wie der Tote in der Hand des Leichenwäschers« (Schimmel 2000: 21) oder wie die Frau gegenüber dem Familienoberhaupt. »Sofort nach seinem Tod wird eine Person nicht mehr mit ihrem oder seinem Namen angerufen und betritt den unmarkierten Raum als ein müta, >ein Körper>während einer lila [einer Ritualnacht] müssen sie mich fragen, wenn sie eine Zigarette rauchen oder etwas essen und trinken wollen«, wobei der muqaddim die Mitglieder wie ein Vater seine Kinder nicht selten mit beidem versorgt. Er behält die Oberaufsicht über die Stadien der Tranceveranstaltung, passt auf, dass sich die Trance-Tänzer nicht verletzen, versorgt sie mit den entsprechenden Essenzen, die sie während der Trance benötigen, und hält sie in seinen Armen, wenn sie nach einer Trance wieder >abkühlen>bei sich>ya l:zarämAm Anfang hat sich die I:Iamadsa auf dem Friedhof bei Lalla 'AiSa versammelt«, erklärte mir Si Mul).ammad, ein alter IfamdüSi, bei einem meiner Besuche. Der Friedhof liegt neben dem Grab Sai!J al-Kämel, dem Mülay Meknes, dem großen Heiligen der Stadt Meknes, und Gründungsheiliger der 'Isäwa. An zwei Stellen kommt dort eine unterirdische Quelle zum Vorschein, an denen 'AiSa QandiSa verehrt wird (vgl. Abb. 5). 'AiSa QandiSa ist eine außerordentlich mächtige Dämonin, die von dem Gehilfen Sidi 'Alis, dem Heiligen Sidi A/:lmad Dgugi, von einer Reise in den Sudan mitgebracht wurde und die besonders mit den Trancezuständen, die in den Ritualen der Bruderschaft evoziert werden, in Verbindung gebracht wird. Doch dann hätten die Leute dort auf dem Friedhof übemachtet und ihren Müll dort abgeladen, so dass die Stadt entschieden hätte, dass sie zur Wahrung der Totenruhe und öffentlichen Ordnung von dort gehen müssten. Nachdem sie sich eine Weile auf einem Platz vor dem Heiligtum des Stadtheiligen aufgehalten hätten, hätten sie dieses nahegelegene Haus von einem mul:zibb vermacht bekommen. Und die Dämonin? Der Schrein hätte nicht immer dort gestanden, haben mir Frauen erzählt, die seit Jahrzehnten die zäwiya besuchen. Vielleicht ist er aus Ordnungsgründen zusätzlich zu dem ihr zugesprochenen Feigenbaum im Innenhof errichtet worden, auf jedenfall ist >>'AiSa überall dort, wo die I:IaI:Iamadsa ist«.
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Abb. 5: Das Wasserloch 'Ai.Sa Qandi.Sas
Doch nicht nur die Dämonirr wandert mit den Ifamdü.Sis. Es ist, als ob die Toten kein Einsehen haben wollen mit den Lebenden und ihrer Todesscheu, als ob sie hinterhergekommen sind vom Friedhof, um die Gemeinschaft der Lebenden und Toten im Zeichen des Heiligen wieder herzustellen. Vielleicht suchen sie den geschützten Raum des Heiligen, denn anders als auf den großen Friedhöfen, die außer an Freitagen, wenn sich Familienmitglieder dort versammeln, um Fürbitten in Form von Koranlesungen für die Toten zu halten, sind die Grabstellen an den Heiligengräbern und in den zäwiyas auch Alltags bewacht oder verschlossen und ihre Totenruhe gewahrt. Folgen wir der Darstellung Crapanzanos zur Geschichte der zäwiya, der fast vierzig Jahre vor mir seine Feldforschung in Meknes zur I:Iamadsa durchgeführt hat, ergibt sich noch einmal ein anderes Bild. Ihm wurde erzählt, dass es die Ifamdüsis selbst waren, die die Toten nachgeholt haben: Die zäwiya wurde mit dem Versprechen erstanden, den früheren Eigentümer mit dem Erlös der
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Grabstellen zu bezahlen, die an »wohlhabende Araber verkauft [wurden, M.Z.], die durch Partizipation an einem Teil der dem Platz innewohnenden baraka ihren Eintritt in den Himmel zu erleichtern wünschten« (Crapanzano 1981: 80). Die Versuche, die Lebenden von den Toten zu trennen und das Verschweigen der tragenden Rolle der Toten mag den fortschreitenden Druck widerspiegeln, den sich die, um Heiligengestalten gruppierende Sufi-Gruppen seitens innerislamischer Reformdiskurse ausgesetzt sehen. 2 Doch der Kontakt mit dem toten Heiligen bringt baraka, Segens- als Lebenskraft, die bei den Besuchen der Heiligengräbern durch direkten Kontakt mit dem Grab auf die Menschen und durch den Kauf nahe gelegener Grabstellen auf die Toten übergehen soll. Bei den gemeinsamen Ritualen bewirkt seine Anrufung eine Aufhebung von Raum und Zeit, insofern über eine Verschränkung der diesseitigen mit der jenseitigen Welt eine temporäre Gemeinschaft der Lebenden und der Toten im Zeichen des Heiligen bewirkt wird. >>Bei dem Heiligenfest«, sagte mir ein Bekannter, der sich selbst als »meskiln min kull.Si [von vielerlei Dämonen belebt] " bezeichnete, »ist die Welt das Jenseits [al-dunya al-'alam a[wr]«. Bei den 'Isäwa des Westens ('Isäwa diel garb) die sich in Häusern der Anhänger versammelt, beginnt üblicherweise eine Ritualnacht (lila) mit dem tehläl. Der Heilige Muf.zammad Ben 'Aisa wird, wie das auch für die Heiligen der J:Iamadsa üblich ist, respektvoll als Vater der Versammelten angerufen (baba sidi) und die Trauer über die Toten von den Sängern stellvertretend für die Anwesenden zum Ausdruck gebracht. Die versammelten Männer und Frauen beginnen häufig bei den ersten
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Letztere verurteilen tragende Elemente dieser traditionellen Praktiken, wie den Ein· satzvon Musikinstrumenten und das Besuchen von Gräbern, insbesondere der Heiligengräber, als bid'a (Neuerung) und schlicht als IJ.artim, verboten. Obwohl die Auseinandersetzung mit als häretisch empfundenen Totenkulten seit der Entstehung des Is· lams dokumentiert werden kann (vgl. Leisten 1998), verweisen meine älteren Informanten bei meinen Nachfragen zu den Praktiken am Heiligengrab regelmäßig auf die i!Jwan muslimfn, die Muslimbrüder, »die mit den Bärten« (häufig wird an dieser Stelle im Gespräch die Hand anschaulich 30 cm unters Kinn gehalten), deren Position seit dem Einsetzen der salafitischen Reformbewegung deutlich an Boden gewonnen hat. Zumindest ihr Begründer Abd Allah bin Idris al-Sanusi sah sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch mit dem schwerwiegenden Vorwurf seitens der Schriftgelehrten konfrontiert, Heilige und Wunder zu leugnen (vgl. Munson 1993: 81·96). Ohne sie würde - in den Worten eines »marabutischen Schriftgelehrten« »der Himmel kein Regen geben, die Erde keine Pflanzen produzieren und Unglück würde sich über die Menschen der Erde ergießen« (Al Kattani nach ebd.: 87). In einer der, bei den nächtlichen Ritualpausen erzählten Heiligenlegenden, heißt es dem· entsprechend, dass mit der Beerdigung (wörtlich: dem Vergraben: dfen) Sidi Ahmads eine Seuche vom Erdboden verschwunden ist, die die Menschen innerhalb eines Ta· ges in Scharen dahingerafft habe. Doch »die Menschen sagen jetzt, er ist tot und sä.fi [fertig]es gibt keine niyya mehr.«
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Tönen des tehliil in Tränen auszubrechen. Im Wechselgesang werden Tote beklagt: »Baba Sidi, es fällt mir schwer, meine Eltern auf der [Toten-]Bahre zu sehen... Ja Mul:tammad, meine Eltern haben mich verlassen, mein Haus ist leer und einsam ... Ich weine wegen meines Bruders.« Diese Ritualsequenz wurde mir von einem Informanten als »kei/:lacJru al-amwiit« erklärt, >>sie vergegenwärtigen die Toten«. Die namentliche Anrufung einiger Toten impliziert die Möglichkeit einer Kommunikation. Über diese Anrufungen, versicherten mir die Mitglieder der Bruderschaft, kommt der >/:Iiilder kleine Tod< genannt wird. Wenn es eine endgültige Reise ist, bleibt die Seele in diesem Raum des barza!J und wartet auf das jüngste Gericht: >>dies ist der große Tod«. Häufig schlafen Kranke, die von ginn geschlagen sind oder andere Krisen durchleben, nächtelang im Heiligtum und pressen stundenlang unter dem schweren Tuch geborgen ihren Kopf an das Grabmal. Sie hoffen in den Nächten auf einen Traum, in denen der tote Heilige ihnen erscheint und mit ihnen kommuniziert. Häufig erscheint der Heilige selbst in dem Traum und sagt, was zu tun ist, befiehlt oder erlaubt Grenzüberschreitungen oder verlangt, eine Ordnung wieder herzustellen, in jedem Falle zeigt er einen Weg zur Besserung auf. Träume sind Gaben und verwickeln den Träumer in ein Netz von Gabe und Gegengabe, Träume können heilen, aber
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auch schädigen, wie die Träume, in denen die Dämonirr 'AiSa QandiSa erscheint. Träume sind die Zonen des Kontakts zwischen den Lebenden und den Toten, und der Heilige ist der Tote, der direkt zu Gott erhöht wird. Aus diesem Grund ist sein Grab, anders als andere Gräber, ein Ort von baraka. Ein Friedhofswärter hat mir von seinem allnächtlichen Gruse! erzählt, in regelmäßigen Abständen den Friedhof in der Dunkelheit - mit einer Art Machete bewaffnet - kontrollieren zu müssen. Jedesmal höre er aus einem Grab die Schreie einer Frau über den Friedhof schallen, die nach dem Ableben ihres Mannes die Trauerzeit nicht eingehalten hätte.
»AUSHANDELN DER WIRKLICHKEIT«: EINSICHT UND ORDNUNG Bei den Heiligengräbern besteht da keine Gefahr. So wie der Heilige in Träumen segensreiche Wege zur Besserung des individuellen Zustands aufzeigen kann, vermittelt der von ihm begründete Weg (tariqa) der mystischen Gotteserfahrung Hilfe auf dem Lebensweg. So sehr die Exerzitien der SufiGemeinschaften in weitabgewandter Kontemplation Gottes oder ekstatischer Erfahrung bestehen, so erweist sich doch auch in diesem Kontext die niyya, die Gesinnung oder Intention und Gerichtet-sein in der Praxis: »Wenn Du die niyya machst (ila derti al-niyya), ist das besser als Arbeit, und Gott gibt Dir das Gute (allah 'atik ti.sir) und versichert Dir Erfolg (nagäl:z) in Deinen Unternehmungen«, wie mir eine Informantirr sagte. Zentral ist die Umsetzung (derti), der Besuch der Heiligengräber und die Aufwendung von Mitteln für Opfergaben, die mit der entsprechenden niyya dargebracht werden müssen und von einem guten Herzen zeugen. Dies entspricht der Vorstellung, dass sich ein frommer Muslim und guter Mensch an seinen Taten erweist, die er an allgemeinen Normen orientiert, die die Grundlage für sozial akzeptiertes Verhalten bilden. Andersherum bestätigt die Erfüllung der für alle Muslime verbindlichen religiösen Pflichten wie Beten, Almosen geben, und Fasten im Ramadan die Zurechenbarkeit des Gegenübers. Das Gegenüber wird zu einer zurechenbaren Person, in dem er seine Natur (tabi'a) und Triebe, oder Begierden, (sehwa) zu beherrschen weiß. Die bereits erwähnte Neuordnung der taifa, der Bruderschaft und ihrer ziiwiya durch den neuen muqaddim während meiner Feldforschung in Meknes, hatte zuerst viele Konflikte zwischen den Männern sowie zwischen den Männern und Frauen hervorbrechen lassen, die versucht haben, sich in der Gemeinschaft neu zu positionieren und damit auch ihren Einfluss auf die Geschi-
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cke und ihre Anrechte auf die Einnahmen der zäwiya zu vergrößern. Es bedurfte großer Anstrengungen seitens des jungen muqaddim angesichts der Hexereianschuldigungen gegenüber den Frauen (••sie machen das Schlechte der Frauen [keidiru al-l]ayib diel 'ayellet]«, die mit ihrer Magie den vorherigen, nun bettlägerigen und senilen muqaddim um den Verstand gebracht hätten, und besonders angesichts der allgemeinen, gegenseitigen Bezichtigungen der Lüge und Stehlerei, seine eigene, aufgrund seines Alters nur beschränkte Autorität so weit zu festigen, dass die Versammlungen wieder einigermaßen friedlich abliefen. Einige Männer blieben den freitäglichen Versammlungen von nun an fern, doch die Frauen schienen die ihnen neu zugewiesenen Stellungen zu akzeptieren und gingen dem muqaddim mehr oder weniger widerspruchslos zur Hand. Kontrolle und Empfang der Einnahmen war seit dem Ausfallen des vorherigen muqaddim Frauensache gewesen, ein Privileg, dass sie nun wieder abgeben mussten. »Sie ist eine Frau [hiya mrä] >unanständig«, die wiederholt angebotene Bezahlung anzunehmen und ist statt dessen unzufrieden und verärgert nach Hause gegangen. Die für die darauf folgende Woche vereinbarte Lieferung hat sie mit der Begründung absagen lassen, sie müsse verreisen. Hinzu kommt in diesem Fall, dass sich Respekt gegenüber höher stehenden Personen in einer Gabe erweist, die - theoretisch - von der direkten Gegengabe befreit ist. Respekt erweist sich an der Gabe: je überlegener die Autorität des Gegenübers, desto größer der Respekt, der an den Tag zu legen ist und um so größer das Geschenk. In asymmetrischen Beziehungen ist die Gegengabe die Nähe, die zwischen Schenkendem und Beschenkten hergestellt wird. Durch eine solche Gabe werden »ties of closeness« (qaräba, vgl. Eickelman 1976) etabliert, die sich an einer Ethik der Großzügigkeit orientiert, die kennzeichnend für innerfamiliäre Beziehungen ist und mit der, strukturalistisch gesprochen, außerfamiliäre Beziehungen >naturalisiert< werden. »Du bist wie meine Tochter, J:zSuma, ich will nichtsanderen Welt< verschafft, und er ist zugleich eingebunden in eine Heiligenhierarchie, an deren Spitze der König steht. Diese materialisiert sich in den Heiligengräbern königlicher Vorfahren, die das marokkanische »territory of grace« (Horden und Pureeil 2000) vom Süden (Millay Ali Sarif im Tafilalt), über Zentralmarokko (Millay Idris in Fes, Millay Ismä'il in Meknes) bis nach Westmarokko (der Königsschrein mit den Gräbern Mu}Jammads V. und J::Iassan II.) durchziehen und von den Menschen auf der Suche nach baraka besucht und vielleicht ausgewählt werden, um an ihren Gräbern die Haare der Kinder das erste Mal an den Seiten auszurasieren- >>damit sie wachsen wie die Haare«. Die unzähligen Heiligenschreine, die über die religiöse Landschaft verteilt sind, exemplifizieren das Stein gewordene >>Haus des Propheten [dar an-nabi]«, dass in den religiösen Zeremonien besungen wird und an das man Anschluss sucht. >>Semmiliy, ja Mul:zammad«, >>benenne mich« ist ein nicht seltener Ausruf in den religiösen Liedern und wurde mir so übersetzt, dass der Gläubige danach verlange, in die Familie integriert zu werden: >>Es meint seine kniyya, seinen Nachnamen«, der sich über die männlichen Mitglieder der Familie vererbt, fügte mein Gesprächspartner erklärend hinzu. Das regelmäßig etwa bei familiären Festen besungene Haus des Propheten verweist über Schreine der mächtigen, scharifischen >Staatsheiligen< auf das königliche Haus (>roy al hausedomestic group< ein in eine Autoritätshierarchie, an deren Spitze der König steht. Die paternalistischen Werte, die in der agnatischen Verwandschaftsstruktur in der Beziehung Vater/Sohn zum Ausdruck kommen, manifestieren sich überzeitlich in der Heiligengestalt und werden zugleich sakral überhöht. Ihre Einbindung in die staatstragenden Kultorte und -handlungen bilden, wie Hammoudi treffend bemerkt, die »kulturelle Grundlagen des marokkanischen Autoritarismus« (Hammoudi 1997), die private, halb-öffentliche und öffentliche Kontexte durchziehen, wie ich weiter unten am Beispiel einer Hochzeit zeigen werde. Diese Werte werden durch den agnatisch strukturierten Nukleus der Kleinfamilie repräsentiert, der für seinen Bestand und Erweiterung der Frau bedarf, die zugleich die >reine< Fortpflanzung der väterlichen Familie und, gerade durch die sprichwörtlich enge Bindung des Mutterbruders an seine Nichten und Neffen, die Kontrolle der männlichen Familie über die Nachkommen bedroht und entsprechend kontrolliert werden muss. 5 Die paradigmatische Bedeutung des agnatisch organisierten Nukleus in der häuslichen Familie wird durch den idealen genealogischen Stammbaum des Heiligen verkörpert. Seine göttlichen Wundertaten erhöhen ihn zur Nähe des Propheten (der selbst keine überlebenden, männlichen Nachkommen hatte) und seine Beziehung zu seinen Jüngern gibt Raum für eine patriarchalische Phantasie einer rein männlichen Fortpflanzung: Als Sidi 'Ali von Sidi A/:lmads Gottesverehrung in der Weltabgewandheit einer Höhle hörte, initiierte er ihn, indem er ihn zu sich rufen ließ und dem gleich gehorchenden Heiligen seine Brust zum Trinken gab - eine Legende, deren Erzählung stets die größte Bewunderung unter den anwesenden Männern auslöste. Die Tatsache, dass der Prophet selbst keine männlichen Nachkommen hatte, wird von meinen Gesprächspartnern häufig in seiner Bedeutung für die Rolle der Frau im Islam unterstrichen (»Warum gab ihm der Allmächtige wohl keinen Sohn, hm?«), sie kann aber auch als Referenzpunkt für eine Ideologie verstanden werden, die den Inbegriff väterlicher Autorität in spirituelle Verwandtschaft verwandelt und diese naturalisiert. Wie bereits Maine herausgestrichen hat, ist die Grundlage der agnatischen Familienstruktur nicht die Verbindung von Vater und Mutter, sondern die Autorität des Vaters; die patria potestas sei in der Fähigkeit >Seines< Sohnes begründet, selbst wieder Oberhaupt
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>>Und was auch immer über das patriarchische System in Nordafrika gesagt wurde, mütterliche Onkel helfen ihren Neffen, während der Vater theoretisch von seinen Brüdern abhängig ist« (Hammoudi 1993: 46, Übersetzung M.Z.).
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einer Familie und Quelle elterlicher Macht zu werden. Eine Fähigkeit, über welche die Mutter unter der Vormundschaft eines Mannes nicht verfüge (nach Fortes 1969: 268). Es ist für das Argument meines Beitrages wichtig, dass die Bedeutung agnatischer in Abgrenzung zu kognatischen Familienstrukturen nicht in der bloßen Genealogie liegt, sondern sich, in den Worten Fortes, aus der öffentlich-juridischen Bedeutung von Autorität ergibt (ebd.) - obgleich mütterliche Familie und die Schwestern natürlich keine rechtliche Leerstelle besetzen. Wichtig ist für Frauen wie Männer in Marokko, wie vermutlich überall auf der Welt, einen Vater und eine (qua Geburt eindeutig zurechenbare) Mutter zu haben. Das Tieropfer, das am siebten Tag eines Kindes begangen wird, wird etwa >zur Sicherheit< auch im Namen der Mutter vorgenommen. Doch der Rechtsplatz liegt in der Abstammung des Vaters begründet. Kinder von Prostituierten ohne identifizierbaren Vater haben nach langläufiger Meinung nicht einen halben, oder beschädigten, sondern keinen Stammbaum.
»l;IASAB, NASAB, FITNA«: STRUKTUR UND PROZESS
In einem Gespräch, das die Ethnologin Pandolfo mit einem Informanten geführt hat, wird das, abweichend zu klassischem arabischen Duktus und den Begrifflichkeiten, die gemeinhin in Zentralmarokko verwendet werden, so ausgedrückt: Wenn es um die Seite der Frau geht, dann fragen wir: Was ist Deine Herkunft und wo ist Deine Bindung [knot] ? Dein IJ.asab und Dein nasab: Wo bist Du hergekommen und wo hast Du gelebt, wo bist Du hergekommen und wo hast Du geheiratet? >Ich bin von Bu Zerganiya (aus dem Dorf Bu Zergan) und ich habe in die Gemeinschaft [people] der Bni Zoli geheiratet. Das heißt ihr IJ.asab ist Bu Zergan und sie hat einen Mann von Bni Zoli geheiratet... sie wird ihrem Vater zugerechnet [i.s accountedfor at her father's] ... und sie hat sich verbunden [has a knot] mit der Gemeinschaft von Bni Zoli« (Pandolfo 1997: 110, diese wie alle weiteren Übersetzungen Pandolfos M.Z.),
Bni Zoli ist ihr nasab. Der Informant Pandolfos erklärt: Dein IJ.asab und Dein nasab, was ist Dein [Nach-]Name und wo lebst Du? Immer und notwendiger Weise kommt der IJ.asab vor dem nasab. Ohne IJ.asab gibt es keinen nasab, wenn Du nicht zugerechnet werden kannst [in der Doppelbedeutung des >nicht zurechenbar seins>account« übersetzt, um zu unterstreichen, dass hier die Zurechenbarkeit des Individuums als soziale Person begründet liegt, IJ.asab meint die andauernde Rechtsordnung der Abstammung, den Platz in der vertikalen Gemeinschaft der Lebenden und der Toten: >>Ohne einen Vater könnte sie noch nicht einmal erwähnt werden«, ruft der Mann aus (ebd.). 6 Nasab, in der Übersetzung Pandolfos als >>tying«, und >>knot« wiedergegeben, meint dagegen die einzigartige und quasi zufällige Bindung in der horizontalen, fließenden Gemeinschaft der Lebenden. >>Eine Fraudie sich nicht an einen Mann gebunden hat, bleibt unfruchtbar, sie gibt kein Leben, sie kommt noch nicht einmal selbst zu LebenDer l).asab steht auf eigenen Füssen und überdauert die ZeitProzess< der Formwerdung. Und so ist es unmöglich, die Reinheit des IJ.asab zu bewahren: rein kann es nur sein im Nichtsein, d.h. als abstraktes Prinzip. In der fortlaufenden, unaufhaltsamen Zeit wird es fruchtbar in dem Augenblick, wo es Unmittelbarkeit einbüßt und in die Abhängigkeiten der sozialen Welt gerät und verunreinigt wird. Nasab bedeutet aus diesem Grunde fitna. fitnabedeutet im Arabischen soviel wie Versuchung, Anfechtung, Zauber, Zwietracht und Uneinigkeit, um nur einige der von Pandolfo angeführten Bedeutungen anzuführen (vgl. ebd.: 89-93, 156ff.). Nasab bedeutet fitna, indem es im Unterscheidungsraum der genealogischen Gruppen angesiedelt ist; während mit dem nasab Differenz in die vertikale Ordnung der Nachfolge eingeschrieben wird, werden die genealogischen Ordnungszusammenhänge in den flexiblen Knotenpunkten sozialer Existenz fortgeschrieben und verändert. Obgleich fitna also in dieser Fortschreibung immer ein Element des Chaos enthält, so ist es das notwendige Prinzip des Lebens, das sich in Bindungen und Differenz realisiert (vgl. ebd. 112; 116). Vor diesem Hintergrund stellt Hammoudi zu Recht die enge Verbindung zwischen der Welt der ginn und der Welt der Frauen heraus (Hammoudi 1993: 154), die beide fitna bewirken können. Wie diese versuchen die Frauen den 6
In Meknes wurde eher im hocharabischen Duktus von »nasab« bzw. »nisba« als von >>/:zasab« in diesem Sinne gesprochen. Der Einfachheit halber folge ich jedoch im Weiteren der von Pandolfo (1997) dokumentierten Redewendung aus dem Draa-Tal Marokkos.
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Mann unter ihre Kontrolle zu bringen und aus der familiären Ordnung zu lösen. »Wenn Dir 'AiSa QandiSa im Schlaf erscheint, darfst Du nichts annehmen«, wird mir immer wieder eingeschärft, >>sie wird Dich festhalten und Du wirst den Kopf verlieren und Deine Familie verlassen.« Wie diese tragen Frauen die Fähigkeit in sich, durch magische Operationen den Platz des Individuums im kapriziösen Geflecht der Beziehung zu verbessern, »wenn Du 'AiSa opferst, wird sie Dich mit naga/:1, Erfolg, belohnen«. Der Kontakt mit der Dämonirr entspricht dem kapriziösen Kontakt mit der Frau, in dem der Mann von seinem Weg abkommen und seine Unabhängigkeit an die Frau verlieren kann. »Das Fitna des Lebens besteht darin, von seinem Weg abzukommen.ver-rückt< sein: magnün, und maftun heißen die besessenen Menschen, die ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr Herr sind, die »Zaumzeug im Maulgute Sitten< blenden ineinander über. Wie ich zeigen möchte, entsteht dabei im Mikrokosmos individueller Handlungen und Verortungen Magie: Praktiken und Vorstellungen, die Störungen im öffentlichen Verhalten bewirken oder beseitigen. Im Verständnis von Geertz ist Magie Teil des in sich widersprüchlich gewebten Common Sense. Magie eilt den Ansprüchen der alltäglichen Vernunft zur Hilfe, die Welt zu erfassen und Orientierungswissen bereitstellen zu können. Das Idiom der Magie kann also, wie Evans-Pritchard in klassischer Weise herausgearbeitet hat, zu den sozial sanktionierten Praktiken und Diskursen einer Gesellschaft gehören, die befähigen, mit Alltagsproblemen effizient und sozial verträglich umzugehen. Nicht der Unglücksfall für sich (sich mit dem Fuß stoßen) bedarf einer Erklärung, aber seine außergewöhnliche Wendung (lang anhaltende, eiternde Entzündung) lasse Menschen auf das anerkannte Idiom der Hexerei zurückgreifen (vgl. EvansPritchard 1978: 62). Magie klärt entsprechend die kontingente Verflechtung des Individuums mit Kausalketten. Bei dieser Erklärung kommt gleichwohl das verstörende Element der Magie zu kurz. Die vermutlich jedem Initianden in magischen Zusammenhängen bekannte Ambivalenz aus Angst und Abwehr wird von Evans-Pritchard zwar bereits 1937 in seiner Studie zu Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande behandelt, das eigentliche mysterium tremendum aber,
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das diese Praktiken und ihre Erfahrung ausmacht, scheint bei der Durchdringung des Phämonens auf der Strecke geblieben zu sein. Es ging ihm um eine Weiterentwicklung Levy-Bruhls, um den Nachweis rationaler Strukturen in der Denkweise des >Primitiven« (vgl. Kramer 2005a: 161). Insofern konnte er anerkennen, dass sich auch für ihn eine erfolgreiche Alltagsbewältigung mit Hilfe magischer Praktiken wie der Orakelbefragung als plausibel erwiesen hat: »Ich darf anmerken, dass ich diese Art, mein Haus und meine Geschäfte zu führen, ebenso befriedigend wie irgendeine andere, mir bekannte fand« Evans-Pritchard 1978: 188). Die gleichzeitige Anstrengung, dem fortwährenden »Abgleiten in Unvernunft« (Evans-Pritchard 1978: 92) Einhalt zu gebieten, wird jedoch bereits im ersten Drittel des Buches herausgestrichen und beweist vielleicht nicht nur den kolonialen Habitus des Ethnographen. Zugleich anerkennt er einen Erfahrungsmodus, der ihm, wie anderen im aufklärerischen Gestus auftretenden Entzauberern nicht fremd war (und ist). 2 Diese Spannung zwischen Skepsis und Glaube, so meine ich, ist magischen Operationen und mehrdeutigen, >mystischen< Erfahrungen allgemein zu eigen. So hat Favret-Saada für französische Bauern im Hainland beschrieben, wie lange es dauern kann, bis ein Verhexter oder eine Verhexte bereit ist, mit den Idiomen rationaler Realitäts- und Kontingenzbewältigung zu brechen (Kirche, Medizin, Wissenschaft) und eine abnormale Reihung von existenzgefährdenden Unglücksfällen auf Hexereiattacken zurückzuführen (Favret-Saada 1979: 25). Der Unterschied zwischen den von Evans-Pritchard untersuchten Zande im Sudan der dreißiger Jahre und den von Favret-Saada untersuchten Bauern in Frankreich der 1960er Jahre mag am sozialen Kontext festgemacht werden, insofern sich die Zande beim Rekurs auf Hexerei eines unstrittigen Idioms bedienen und sich dabei als Mitglieder ihrer Gesellschaft ausweisen, während die Franzosen den offiziellen Diskurs verlassen müssen und zu »Primitiven« im Herzen Europas werden (Favret-Saada 1979: 25, vgl. auch 49-57). Ich vermute jedoch, dass dieser Unterschied eher ein gradueller ist: Sowohl die Zande wie auch die Franzosen und ihre Ethnographen finden sich im spannungsreichen Erfahrungsraum wieder, der sich zwischen »Logos und Mystik« (Warburg 1988: 24) oder zwischen »Kausalität und Partizipation« (Tambiah 1990: 105) auftut und sich in Widerstreit und Vermittlung von Glaube und Skepsis formiert. Wie ich zeigen möchte, lässt sich Magie, um eine Formulierung Thomas Hauschilds aufzugreifen, als Spaltprodukt dieses Erfahrungsraums beschreiben (Hauschild 2000: 280).
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Vgl. für Edward B. Tylor: Schüttpelz (2004); für Lucien Levy-Bruhl: vgl. Kramer (2005a) 158.
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Magie entsteht im Übergang zwischen offiziellem, geordnetem Orientierungswissen und anerkannten Verhaltensregeln auf der einen und den vielfachen Verstrickungen sozialer Praxis auf der anderen Seite, in einem Spannungsverhältnis, das geprägt ist von Paradoxien, Mehrdeutigkeiteil und subjektiven Aporien der Selbstverortung. Magische Riten und Handlungen versuchen das Individuum im >System der Plätze>der bärtigen Männer, die sagen, es ist /:laräm [religiös verboten]« (>>haduk li 'indhum al-le/:liya wa taigülak /:laräm«), und deren modernistische Ambitionen, vieldeutige Überlieferungen im Islam zu Gunsten einer a-historischen Wahrheit einzuebnen, zunehmend die vieldeutigen Praktiken und Kosmologien sufischen Islams als Teil des öffentlich verhandelbaren Orientierungswissens verdrängen.7
Abb. 9: Kultstätten 'AiSa QandiSas auf dem Friedhof
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Einsichten zum Topos >Vieldeutigkeit im Islamgepackt< hat, muss auch diese Frau mit Sicherheit einen langen Weg zurücklegen, auf dem sie und ihre Umgebung zwischen Glaube und Skepsis, Anerkennung ihres Zustandes und rationaler Verwerfung geschwankt haben. Die kostspielige Fahrt durch Marokko und ihre Entbindung von den alltäglichen Pflichten, so weit sie diese in ihrem Zustand noch ausüben konnte, bedarf in der Regel verschiedener Stufen der Untersuchung und Symptombehandlung, die zumeist von einem Korangelehrten durchgeführt wird, der in den Dingen der Dämonen und jenseitigen Welt kundig ist.
DERFQiH
Im engeren Sinne ist der Rechtsgelehrte, der fqih, ein Koranexperte, der seine Fähigkeiten in den Dienst einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft stellt, häufig als Lehrer einer Koranschule, als Vorbeter der Freitagsgebete, für Koranrezitationen bei Familienfeiern und religiösen Feiertagen sowie zum Schreiben von schützenden Amuletten (vgl. Eickelman 1985). In landläufiger Bedeutung ist damit ein Schriftkundiger gemeint, der Briefe und Verträge auf Anfrage schreibt. Seine Fähigkeiten machen ihn zu einem Experten in zweierlei Hinsicht. Er hat zum einen die heiligen Schriften studiert und kennt ihre Geheimnisse. Dadurch ist er in der Lage, Besessene zu heilen. Anders als beim suwaf, dem Seher, ist sein Wissen nicht allein im Kontakt mit der jenseitigen, magischen Welt entstanden, sondern aus der Expertise, die auf der aktiv verfolgten >>mnemonischen Besessenheit« (Eickelman 1985: 57) durch das ordnungs- und
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lebenspendende Wort Gottes, den Koran, beruht. Der Koran wird im eigentlichen Sinne nicht subjektiv angeeignet - was ihn verändern und reduzieren würde -, sondern ihm wird im Verstand des Lernenden Raum verschafft: die heilige Schrift entfaltet ihr Wirken in und durch den Koranexperten. Die Monatsblutungen meiner Tante haben nicht mehr aufgehört. Sie hat geblutet und geblutet und geblutet. Sie ist dann zu Ärzten gegangen, nicht nur einem, und die Ärzte konnten einfach nichts finden. Meine Großtante hat dann gewusst, dass es nur mit Magie [si(lr] zu tun haben kann. Als sie zu demfqih kam, hat er herausgefunden, dass sich eine
andere Frau ein Amulett [qbül] hat schreiben lassen, das sie unter den Hahn eines öffent· liehen Brunnen gehalten hat. Von da an hat meine Tante geblutet, sobald jemand den Hahn geöffnet hat. Er hat ihr etwas geschrieben, sie hat es am Brunnen im Wasser aufgelöst und von da an hat es aufgehört.
Diese Beschreibung enthält einige notwendige Elemente einer Hexerei- und Magieverdächtigung bzw. -behebung: Die Ungläubigkeit bzw. die rationale Erfassung der Situation durch die Heimgesuchte (sie geht zu Ärzten), ohne dem Problem Abhilfe verschaffen zu können; das Wenden an eine alte Frau ihres Vertrauens, die als Verkünderin auftritt und das Leiden richtig (magisch) diagnostiziert; die Auswahl eines Sehers und Heilers, der der koranischen Magie sowie der Welt der ginn kundig ist und in der Lage ist, das richtige Medium (Schrift) für die Behandlung auszuwählen, um die Kraft der ginn an der richtigen Stelle (Brunnen) wirksam werden zu lassen bzw. einzuhegen. Der Ausfluss, der ihr alle Kräfte raubt, muss gestoppt werden, (Körper-)Flüssigkeiten in Zirkulation bleiben. Hilft diese Konsultation nicht, ist die Pilgerfahrt zu einem Heiligengrab und den beigeordneten ginn angezeigt; aber da so eine Pilgerfahrt kostspielig ist und das Alltagsgefüge durcheinander bringt, wird dieser Schritt in der Regel lange hinausgezögert. Kann ein fqih nicht helfen, wird ein anderer aufgesucht, der vielleicht über bessere Gaben verfügt. Wie alle Künder der jenseitigen Welt werden sie misstrauisch begutachtet, und häufig habe ich erlebt, wie diese Skepsis von dem behandelnden fqih oder suwäf (Seher) offensiv angegangen wurde. Die Patienten durften nur einige wenige Dinge über den Verlauf ihrer Krankheit preisgeben, denn die genaueren Umstände würde der Heiler selber herausfinden - im Gespräch mit den ginn. Ein paar Mal hatte mich mein Freund Karim zu einem Schriftgelehrten begleitet, dem er überaus ambivalent gegenüberstand. Diese Ambivalenz hatte vielerlei Gründe. Er kannte ihn - wie die meisten Menschen, die in der Altstadt von Meknes aufgewachsen sind, sich untereinander kennen - seit seiner Kindheit, kannte seine Geschichte, die ihn in den Augen Karims am Rande des sozi-
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alen Koordinatensystems verortete (»der ist einfach verrückt [bJnaq]«) und auch seine persönliche Situation, die ihn verdächtig machte, in erster Linie aus Geldnot zu arbeiten. Die Dämonin 'AiSa QandiSa, der sich der fqih verschrieben hat, war für Karim, dessen Weltbild durch eine höhere Schulbildung geprägt ist, im objektiven Diskurs unseres Informationsaustausches eine historische Person, eine wichtige Widerstandkämpferin gegen europäische Besatzer, um die sich Legenden gebildet haben. Wie viele jüngere Marokkaner der unteren Mittelschicht hatte er als Halbwüchsiger in einem öffentlichen Jugendzentrum eine Koranschule besucht, in der er den >richtigen< Islam kennengelernt hatte und für ihn eingetreten war: Die Schüler in diesen Schulen gingen etwa gemeinsam aufs Land, um die Bauern über islamische Lebens- und Glaubensführung aufzuklären und ihre abergläubischen Traditionen oder Missstände in der öffentlichen Ordnung zu bekämpfen. Gleichwohl konnte er sich den magischen Kräften, mit denen der fqih operiert, nicht ganz entziehen. Wie viele Muslime glaubte er beispielsweise an die heilende Kraft des Korans und schätzte den Brauch, ausgewiesene Koransuren zum Schutz an die Wände zu hängen. Wie viele Marokkaner musste er sein Leben mit insgesamt knappen Mitteln bestreiten, die neben den laufenden Kosten wenig Spielraum für Anschaffungen oder gar Rücklagen in einem größeren Umfang ließen. Seit ein paar Jahren arbeitslos, besorgte seine Mutter immer wieder von diesem fqih Schriftamulette, die er bei seinen alltäglichen Kleidungsstücken aufbewahren und in der Hosentasche mit sich herumtragen sollte, und die ihm helfen sollten, unbeschadet durch den Alltag zu kommen, Prüfungen zu bestehen und andere Probleme zu bewältigen. Eines Tages waren wir auf dem Weg zu meiner Wohnung, als mir dieser Freund von einem neuen Amulett erzählte, dass er bekommen hatte, um alles zu erleichtern. Wir gingen durch die Straßen und unterhielten uns über Amulette, bis mein Freund schnell das Thema wechselte. Er wurde unruhig, zündete sich eine Zigarette an, und als wir bei mir in der Wohnung waren, konnte er es kaum erwarten sich des zusammengefalteten und versiegelten Papiers zu entledigen und es mir zu geben. Er atmete tief aus und verzog das Gesicht. Als ich nachfragte, bezweifelte er bei der Frage der »qbül«, der Schriftamulette, weniger die Wirkung der heiligen Worte und Buchstaben als vielmehr, ob der Gebrauch der magischen Schriftamulette mit >dem Islam>Ist er Muslim?« Meine Begleitung verneinte. >>Er ist ein guter Junge.« Die Seherin nahm einen gespitzten Rohrstift und tunkte ihn in Tinte. Dann ließ sie die Feder über kleine Zettel Papier kreisen, die schnell voll gemalt waren. Sie las die Zeichen, übersetzte die Schrift der Dämonen. >>Er wird ein Haus haben und ein Auto. Er wird eine Familie haben und Papiere, Arbeit!« Sie wandte sich an mich: >>Ich sehe Dich auf einem großen Stuhl.« >>Es wird ihm gut gehen,« sagte sie dann bekräftigend zu meiner Begleitung. Was wir im Speziellen wissen wollten. Meine Freundin erzählte ihr von einem jungen Mann, nicht aus ihrer Familie direkt, aber qrib (nah), der wolle nach Europa. Die Seherin fragte nach seiner Mutter, und sie sagte Ihr einen Namen und testete sie damit auf ihre Sehkraft. Auf dem Rückweg sagte mir meine Freundin: >>Sie log, alles Lügen, sie wusste oder sah gar nichts.« Aber sie hatte auch Mitgefühl: >>Die Arme, sie hatte niemanden, sich von ihrem Mann getrennt, weil sie magdiiba war [besessen]. Sie hat starke Dämonen! « Sie hatte uns erzählt, dass die Dämonen sogar verhindert haben, das Heiligtum von Sidi Ali zu betreten, sie war auf der Schwelle gestürzt und hatte sich den Fuß gebrochen - der noch immer nicht vollkommen geheilt war. Unsere ziyära (Pilgerfahrt) ging zu Ende und wir verließen das Dorf. Ich begrüßte einige mir bekannte Musiker, die am Wegesrand für Pilger spielten und hofften, von dem einen oder anderen Besessenen für die gedba, den Trancetanz der Besessenen, engagiert zu werden. An einem Cafe am Wegesrand setzten wir uns, ich ging hinein, um etwas zum Trinken zu bestellen. Als ich wiederkam erzählte mir meine Pilgergefährtin von dem Gespräch, das sie am Nachbartisch mit angehört hat. Dort saßen Dorfbewohner, die Nachfahren der Heiligen, und unterhielten sich über die zu erwartenden Einnahmen am kommenden Heiligenfest- ein Thema, das weit im Vorfeld viel Organisation und Streiterei mit sich brachte. >>3 Million [ca. 3000 Euro] nur für die Kerzen haben sie gesagt«. Sie schaute mich bedeutungsvoll an. Ich zuckte mit den Achseln. >>Nuss ziyära, nuss tigära (zur Hälfte Wallfahrt, zur Hälfte Kommerz)«, sie lachte zustimmend. Als wir zu Hause ankamen, gab es ein großes Hallo der Kinder. Wir setzten uns und aßen das frisch gebackene Brot des Hauses mit Oliven und frischem Olivenöl. Ihre Kinder, zwischen 14 und 25, blickten sie erwartungsvoll an und wir erzählten von unserer Pilgerfahrt, packten einige Süßigkeiten aus, die wir als bäriik für sie mitgebracht hatten. Die Essenzen und Kerzen, die wir von nun an wöchentlich verbrennen sollten, holten wir hervor und dann erzählten wir, was der Seher am Grab von 'AiSa über die Zukunft des ältesten Sohnes gesagt
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hat. Der so Angesprochene hörte mit der Erwartungshaltung des Skeptikers zu, der sich freut, dass ihm eine gute Zukunft vorhergesagt wird - in5allah. Nach der Pilgerfahrt erinnerten wir uns immer wieder an die Erfüllung unserer rituellen Pflichten, die wir wöchentlich vornehmen sollten. Zugleich begann meine Bekannte, ihr Haus in der nah gelegenen Stadt wieder herzurichten und eine erhebliche Summe Geld zu investieren (2000 Euro), was ihr ältester Sohn unternahm. Das war die Hauptsache. Wie es läuft? »Bibair«, mit Gutem, wie es wörtlich heißt, >>es klappt alles- Gott sei es gedanktnatürliche Ordnung der Dinge< unter zu Hilfenahme von im Alltag präsenten Zeichen (hier: Koran, vorgeblich >Orthodoxe< islamische Vorstellungen) und Dingen (hier etwa das Ei, aber in der oben geschilderten Verbindung auch Papiere, Visitenkarten und andere magische Medien der Moderne) verändern und dabei die subjektive Verortung in der Trias von Zeichen, Dingen und Personen transformieren (vgl. Schüttpelz 2006). Das Wissen um die Wirksamkeit alltäglicher Techniken und natürlicher Gesetze verhält sich komplementär zum Wissen um die Wirksamkeit magischer Techniken und umgekehrt - so weit die klassische Einsicht Malinowskis (Malinowski 1981). Genauer gesprochen, erweist sich die Wirksamkeit magischer Riten in der Wirksamkeit ihrer Medien, deren weltstiftende Kräfte über die Prozessierung von Unterscheidungen den sozialen Raum einrichten und den Alltag strukturieren: Dies betrifft die magischen Effekte islamischer Riten, mit denen Realität verhandelt und geschaffen wird und die alle sozialen Kontexte durchziehen und legitimieren (von der Eignung des frommen Klempners bis zur Beseitigung magischer Stö-
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I DIE TRANCE, DAS BLUT, DIE KAMERA
rungen), die kreative Aneignung offiziöser Medien wie Papiere und Visitenkarten, mit denen soziale Plätze erkämpft und festgeschrieben werden, und die prospektiven Operationen, die in Wallfahrten und magischen Riten zur Anwendung kommen. Diese aufeinander bezogenen Operationen sind technai im eigentlichen Sinne, alt hergebrachte Kulturtechniken, die in sakralen Räumen aufbewahrt und vermittelt werden für die Bewältigung alltäglicher, jeweils gegenwärtiger Zwecksetzungen und Herausforderungen. Diese Operationen sind Kulturtechniken, insofern sie vermittelt und nachgeahmt, sprich gelernt werden können und auf dem Gebrauch aufbauen, den eine Kultur von menschlichen Körpern, Dingen und Zeichen macht. Sie sind prospektiv, insofern sie transformative Effekte haben: Die Rezitation und Einnahme der Heiligen Schrift, die Verwendung alltäglicher Dinge wie Eier oder öffentliche Brunnen und die Re-Kontextualisierung des Individuums im Kontakt mit der jenseitigen Welt schaffen unter diesen Elementen neue Verknüpfungen und richten sie neu aufeinander aus. Wirksam werden diese Strategien, weil sie mit Medien operieren, die ausgesprochen wirkmächtig Unterscheidungen von >Innen< und >Außen< sowie >Eigenem< und >Fremdem< prozessieren (vgl. Siegert o.D.) - im eigentlichen Sinne, etwa durch das Aufnehmen und Ausscheiden von Nahrung oder, auf der normativen Ebene, durch die Autorität der Heiligen Schriften für die Einrichtung der kulturellen Ordnung. Die von Malinowski noch sauber in profane und säkulare Domänen unterteilten Handlungsbereiche sind qua der >efficacite< ihrer Techniken miteinander verschränkt- wie Marcel Mauss bereits am Beispiel des magische Formeln singenden Jägers herausgestellt hat: »Technische Handlungen, physische Handlungen, magisch-religiöse Handlung sind für den Handelnden verschmolzen« (Mauss 1989: 205). Die auf der Visitenkarte zum Ausdruck kommende Selbstverortung des fqihs nimmt diese Unterscheidungs- und Wirkungsmacht für seine Praktiken in Anspruch: Um Magie zu beseitigen und zu bewirken und dadurch den Menschen im Alltag neu einzurichten.
TEIL
II
TRANCE: TRANCE-MEDIEN UND RITUELLE PRAKTIKEN
Kultur und hiil: Bruderschaften zwischen Stadt und Land
Auch die Bruderschaften der Ifamäd.Sa und 'Isäwa verschränken magische, orthopraktische und alltägliche Referenzen in ihren Praktiken, um ihre Klienten im öffentlichen Raum zu situieren. Dabei werden feine Unterscheidungen gemacht, welche Bruderschaften an welchen Orten wie agieren - Unterscheidungen, denen in diesem Kapitel nachgegangen werden soll, indem die Kontexte und die rituellen Differenzierungen der Bruderschaften dargestellt werden, um dann ihre rituellen Aktivitäten zu beschreiben.
IN DER STADT: DAS FEINE UND DAS RECHTE
Wie Geertz herausstellt, bildeten die Handwerker und Händler des städtischen Marktes traditionell das Milieu, aus dem sich die Bruderschaften rekrutierten (vgl. Geertz 1979). Wie ein roter Faden zog sich die Erzählung von >den alten Zeiten' durch meine Interviews, die ich mit jungen und alten Anhängern der zäwiya der J:Iamadsa geführt habe. Auch in der für mich angefertigten Beschreibung einer »lila IfamdiiSia" durch den muqaddim 'Abdelwälfad stehen diese Zeiten für >saubere' Exerzitien vonMännemaus einer wohlhabenden Mittelschicht, die sich zu gemeinsamen Gesängen trafen: Die früheren fuqrä waren Handwerker und Bauern, und der l;al der J:Iamadsa war für sie etwas Heiliges, so dass sie [für eine lila] die beste Kleidung, die sie hatten, anzogen, sich sauber machten und sich parfümierten, sie nahmen etwas baraka, welches etwas Geld war, mit, um die Gruppe zu unterstützen und sie zelebrierten die [gesamte] lila bis zu ihrem Ende. Sie führten die sogenannte fatJ:r.a durch, was Fürbitte bedeutet, die von ei-
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I DIE TRANCE, DAS BLUT, DIE KAMERA
nem frommen Gott kennenden
saf!J zelebriert wurde. Zum Schluss grüßten sie sich [be-
gannen sich auszutauschen], da sie sich nicht oft trafen und da wenige lilat stattfanden. Heutzutage ist der Zustand
[~al]
der l;lamadsa ein Angebot und eine Nachfrage, da die
Gruppen heutzutage diese Kunst in lilat, auf Festen, bei öffentlichen Anlässen und Festivals [Spektakel] sowie zu verschiedenen [anderen] Anlässen durchführen (Meknes 2006).
Bei beiden Bruderschaften, den J:Iamadsa und 'Isawa, wurden die Gruppen in der Stadt, im Gegensatz zu den Gruppen ländlicher Tradition, der >Kultur>alten Fassi-Familien« zeigt, geht es dabei auch immer um eine Selbstverortung und Legitimation: Wer zu den Lehrern des muqaddim gehörte, und wer ihn initiiert hatte, seine soziale Stellung (aus den Fassi-Familien rekrutiert sich bis heute die marokkanische Bourgeoisie, die wichtige Stellungen im Staatsapparat bekleiden und aus deren Mitte der gegenwärtige König seine Braut ausgewählt hat) und darüber auch die Verlässlichkeit seines Wissens wurde beim Anschauen der Filme und über die Aufzählung der Toten zum Thema gemacht.
Die Mell;uln- Vereine Sowohl in den Kontexten der J:Iamadsa wie der 'Isäwa wurde ich in Meknes zu Beginn meiner Forschung in Vereine zur Pflege der Mel~ün-Tradition mitgenommen. Es war der muqaddim der 'Isäwa, den ich auf der Universitätsveranstaltung in Rabat getroffen hatte, der mich bei unserem ersten Treffen an einem verregneten Spätnachmittag mit zu Freunden nahm - alles 'Isäwa, wie er sagte, - die sich zweimal die Woche in einem Viertel außerhalb der Medina in einem kleinen Raum trafen und gemeinsam Lieder sangen und musizierten. Dicht gedrängt saßen die Männer auf tabäli, den marokkanischen Couch-Bänken, an der Wand entlang, köchelten über einem Gasbrenner Tee und ließen die sebsi, die kif-Pfeife, kreisen. Es wurde sich über die größten Mel~ün-Dichter ausgetauscht und ihr 'a;;l, d.h. ihre Herkunft und ihre Beziehung zu den Bruderschaften diskutiert - wie immer stieß meine Anwesenheit zu einer Selbstverständigung an. Nachdem kurz diskutiert wurde, wem die Ehre zukam, das erste Lied zu singen, hob die Geige an, die stehend vorm Bauch gestrichen wird und die kleinen Handtrommeln begannen, den Rhythmus zu schlagen. In hohem Ton begann der Sänger seine Rezitation, die eigentlich eine Erzählung war, vom Propheten, den Werten des Islam und der Familie, aber bei anderen Liedern auch von Verfehlungen und Liebesleid. Alle Anwesenden beteiligten sich durch rhythmisches Klatschen oder spielten ihre Instrumente und lauschten dem Gesang und hingen ihren Gedanken nach. Am Ende steigerte sich der Rhythmus noch einmal, um dann mit einem konzertierten Schlag der Handtrommeln abzubrechen. Der Sänger wurde beglückwünscht für seine Stimme und die (sehr vielen) me-
BRUDERSCHAFTEN ZWISCHEN STADT UN D LAND
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moderten Zeilen, die er zum Besten gegeben hatte. Tee wurde herumgereicht und langsam begann das Gespräch wieder. Mit einem Mal öffnete sich die Tür und ein alter Hüne schaute herein, grüßte in die Runde, ließ sich die sebsi reichen und verschwand wieder- er war einer der leitendenMännerauf den Ritualen der 'lsäwa des Westens gewesen, die ich in Rabat auf Video gesehen hatte. Auch andere Männer kannte ich von Filmen oder, zunehmend, aus den rituellen Kontexten der Bruderschaften. Nach dem von mir regelmäßig besuchten, freitäglichen gikr der zäwiya (der offizielle gikr begann immer nach dem Gebetsruf des ·~r und hörte mit dem Gebetsruf des magreb auf), sollte ich in den nächsten Monaten noch häufig mit einem jungen IfamdüSi, der als Vertrauter und Zuarbeiter des neuen muqaddim zum freitäglichen gikr der zäwiya zustieß, in den Verein der Altstadt gehen. Auch hier erkannte ich einige Männer, die mir aus den Privatarchiven führender muqaddimin bekannt waren, wo sie auf lilat der 'Isäwa des Westens oder der Medina, der Gnäwa oder der J:Iamadsa des Westens zu sehen sind. Doch im Kontext des Mel/:lün-Vereins war ihnen das eher peinlich. Als ich einmal jemanden im Verein darauf anspreche, dass wir uns doch von der lila in Sidi A/:lmad kennen, hüstelt er, und erklärt leicht errötend den anderen, ja, Si 'Abd er-Ral)män hätte ihn mal eingeladen und dann wäre er halt da mal hin gefahren. Er war mir aufgefallen, weil er immer zu Füßen des alten IfamdüSis gesessen hatte und von diesem beständig liebkost und gestreichelt worden war. Da er ungefähr in meinem Alter sein musste, war ich erstaunt gewesen. Ich wusste noch nicht, dass eine gewisse Feminisierung und Infantilisierung in diesen Zusammenhängen Ausdruck sozialer Verortungen war. Dass er sich füttern und die kif-Pfeife stopfen ließ, seinen Kopf im Schoss des muqaddim vergrub und beständig durchs Gesicht gestreichelt bekam, war ein Zeichen von Affinität sie waren entfernt verwandt - und zugleich Ausdruck von Respekt und Unterordnung. Doch in der gam'iya war ihm das peinlich, hier fühlte man sich einer >Kunst< verpflichtet. Trotzdem kam es häufig gerade in diesem Verein beim Singen der religiösen q$äid zu einer regelrechten /:lacjra: Die Männer sprangen auf und standen sich um den Tisch aufgebaut gegenüber, peitschten sich gegenseitig in einen immer schnelleren Rhythmus der Handtrommeln und wiederholten den Namen des Propheten und dann Gottes: allah, allah, allah, lah, lah, lah. .. bis sie auf einen Schlag aufhörten und sich schwer atmend und mit blitzenden Augen gegenüberstanden. »Tbark 'allah 'aleikum [Der Segen Gottes sei mit Euch]«, sie küssten sich auf die Stirn und den Kopf und beglückwünschten sich. Mit einem Blick auf mich rief mir einer ihrer Wortführer nach so einem Ende zu: »Ihr in Europa beleidigt den Propheten, wir preisen ihn!«, womit er auf die Karikatu-
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ren in dänischen Zeitungen anspielte, nach deren Veröffentlichung es zu Unruhen mit einigen Toten in der arabischen Welt gekommen war und die auch in Marokko großen Unmut hervorgerufen hatten, der allerdings in staatlich angeführte Demonstrationen kanalisiert worden war.
Die
qa~ida
»I;Iummiin«
Eine QO$ida war mir an diesen langen und schönen Abenden in dem Verein besonders aufgefallen, weil ich sie bereits bei ihrer Aufführung zum Teil verstehen konnte- wasangesichtsder Wortspielereien in diesen Gedichten nicht einfach ist - und die Männer, die den Sängern lauschten, vergnügt lachten. Die QO$ida Ifummän erzählt die Geschichte eines jungen Mannes vom Lande, der seine Mutter losschickt, um ihm - nach der Tradition - eine Frau zu suchen. Der Dichter dieser QO$ida, die wohl aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts stammt, war ein Auktionar auf dem Süq, ein vermutlich wohlhabender Mann von sozialem Gewicht im klassischen Milieu der Bruderschaften. Schon sein Spitzname »'lsäwi das Küken« zeigt seine Zugehörigkeit zur Tariqa der 'Isawa an, so dass sich die qa$ida wohl nicht zufällig als Spottgedicht auf die Menschen vom Lande und auf die Bruderschaft der I:Iamadsa erweist. Diese Konnotation wurde von meinen Informanten bei den I:Iamadsa, aber auch anderen Männern aus dem Kontext des Mel/:!ün allerdings beständig abgestritten. Vielleicht stand für sie die Warnung vor dem Alkohol am Ende der QO$ida im Vordergrund, vielleicht zollten sie mit dieser Haltung Respekt gegenüber der städtischen zäwiya - es war allgemein bekannt, dass ich mit verschiedenen Männern und Frauen in der zäwiya einen engen Kontakt pflegte - und wollten die von mir erforschten Traditionen in einem guten Licht erscheinen lassen und sie somit weder mit den •unwissenden Menschen auf dem Lande« noch mit dem Alkohol in Verbindung bringen, wie es in dieser QO$ida geschieht.
BRUDERSCHAFTEN ZWISCHEN STADT UN D L AND
I IOS
qa!!ida >>l:fummän« Gedichtet von dem Dichter al-'Isawi al-Falliis (geboren ca. 1886, Beruf: Auktionär im Süq gsl [Schönheits-Süq] in Fes)3 Die erste Strophe4 1 hört die Geschichte von lfumman! Ihm und seinem Vater war nichts gewogen zur Zeit von al-gahiliya5 x x x x er ist in ~-~ffa/:16 barfuss und mit einem Seil gegürtet aufgewachsen. 2 Er arbeitete soviel, bis er das Geld zusammen hatte, einen berberischen lfandir, wie er ihn wollte, zu kaufen, x x x x er trug an seinen Füßen feine balga, einen qmis7 und eine Hose. 3 Er trug einen reizvollen Turban, den er kunstvoll zur Kopfbedeckung gewickelt hat x x x x dann ließ er sich einen aufgezwirbelten Bart wachsen und stellte sich intelligent an. 4 Er ließ den Bart wachsen8 und ging barfuss zu einem Friseur, der zu ihm passt, 9 der in güt[ya10 war, x x x x ein Friseur, der einen großen Namen hat, [er heißt] Ban Fril), und weit über das Ideale hinausgeht. 5 Er ließ sich rasieren und ging nach Hause. Er sagte seiner Mutter »Verheirate mich mit einer der modernen Frauen der Stadt x x x x gehe hinaus, um für mich eine Verlobung zu arrangieren und ich bin mit dem Geld großzügig.« Die zweite Strophe 1 Seine Mutter ging hinaus und lieh die Kleider für das gute Aussehen und nahm noch dazu eine sabniya [traditionelles marokkanisches Kopftuch] x x x x und auch eine leicht ginstergelbe gillaba. 2 Sie ging hinaus, und streifte auf der Suche nach einer Verlobung umher, sie hat das ganze Land an einem Morgen erkundet. x x x x Sie betrat das Haus mit einer Zunge, die höflich ist und propagiert.
3
Quelle: al-Fassi (o.J.).
4
Zeilenumb1üche sind durch »xxxx« gekennzeichnet.
5
Die vorislamische Zeit/Zeit der Unwissenheit.
6
~afil):
7
Unter-gillaba.
8
Wörtlich: sein Gesicht zerzausen.
9
Ein Friseur, den er sich leisten konnte.
Baracken-Siedlung.
10 Auf dem Gemischtwaren· bzw. Flohmarkt.
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I DIE TRANCE, DAS BLUT, DIE KAMERA
3 Sie fand im Haus eine Frau vor, sie war so naiv wie sie und altmodisch und hatte eine ma7l$üriya an. X x X x In der Ecke [fand sie] einen Mann vor, er ist Tabakschnupferund hatte einen Turban und einen Schal an. 4 Die Frau des Hauses sagte >>Was willst du von mir?« Sie sagte »ich habe gehört, dass du ein Mädchen hast, x x x x und ich habe einen netten jungen Mann, er will eine Ehefrau nach Recht und Gesetz11 .« 5 Die Frau des Hauses sagte: »du musst wissen, dass meine Tochter hübsch und in der Schule ausgebildet ist. x X x X Viele Leute vom Lande haben um ihre Hand bei mir geworben und sie waren sehr großzügig12 mit dem Geld [mit der Mitgift]«. Die dritte Strophe 1 Die Mutter des jungen Mannes sagte: »schau mal, mein Sohn ist auch einer der frommen Männer [rigal as-sunniya] x x x x [er geht immer] von seinem Laden nach Hause [er treibt sich nicht herum], er ist immer noch so, wie ich ihn kenne.« 2 Die Mutter des Mädchens sagte: »Schau mal, meine Tochter ist eine der modernen Frauen, x x x x sie ist nett, klug und gepflegt und hat alle Schönheit bekommen; 3 informiere mich zuerst über den Bräutigam! Wie heißt er und was ist sein Handwerk?« Die Mutter des jungen Mannes antwortete- »Höre aufmerksam zu und nur langsam.« 4 Sie sagte: »Mein Sohn ist bekannt im Land, er ist Metzgermeister und gönnt sich keine schlechten Eigenschaften, x x x x er heißt ~ähar Ifummän, der Sohn von Abbä 'Alläl ist wohlbekannt.« 5 Die Mutter von dem Mädchen sagte: »informiere mich über euren Stamm, euren Namen und Familiennamen x x x x und über das Stadtviertel, wo ihr seid, damit ich die Leute kenne, mit denen ich bei dieser Sache zu tun habe.Wo ist er? Wir wollen ja keine Zeit verschwenden.« 8 Sie sagte: »In Bäb ftül:l, da hatte er einen großen Laden, x x x x heutzutage ist er in Grwäwä und unter dem Namen, ban 'AiSiin al-gssäl, bekannt.«
13 Diemuslimische Gebetskette. 14 Wörtliche Übersetzung: mein zerzauster Onkel. 15 Hifa führt die Konnotation >Monster< mit sich.
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I DIE T RANCE, DAS BLUT, DIE KAMERA
Die sechste Strophe 1 Sie gingen zu ihm am Abend, bittend und flehend, als er ihnen [die Verlobung] zusagte, ist man sich schließlich einig geworden16 x x x x er verlangte einen grünen qaftan am nächsten Morgen und 100 riyal. 2 f:lummän gab ihnen die Mitgift und verlangte, dass die Hochzeitsfeier in den Sommertagen sein müsse, x x X x sie haben es akzeptiert und jeder von ihnen ging rüstig und bedacht [an die Sache] heran. 3 f:lummän bereitete alles vor, was er brauchte, und kaufte auf dem lokalen Rindermarkt eine magere Kuh, x x x x er lud unverzögert die J:Iamadsa ein und diese17 kamen vollständig zu ihm. 4 Seine Mutter war die muqaddima, sie war seit ihrer Jugendzeit mansuba adgügiya [Mitglied der tariqa der Dgügiya] x x x x Er [f:lummän] ging Alkohol trinken und kam stockbesoffen und außer sich zurück. 5 Er sah mit seinen Augen seine Mutter in der Mitte der fuqra, die durch ein Tuch gehalten die l:zac;lra machte [katl:zac;lc;lr], 18 x x x x da erhob ihn sein l:zäl [da fiel er in Trance] und er trat in den sif [die Reihung der Trancetänzer]. 6 in der Erregung nahm er eine Axt, er schlug sich und dachte, dass er dadurch an Vortrefflichkeit gewönne, x X x X dies tat er, bis er blutete, er fiel um und sein Herz [ging unter und] wurde schwach. 7 Dann nahm ihn muqaddim hoch, er roch den Geruch des Alkohol und sagte: »schreckliche Nacht, x x x x das hätten wir nicht gedacht und wäre uns [niemals] in den Sinn gekommen [so etwas ist noch nie passiert].« Die siebte Strophe 1 f:lummän blieb in ihrem19 Haus betrunken und mit Schande behaftet unter den Menschen x x x x [er blieb] vom ginn besessen liegen [d.h . sogar sein Trancetanz scheiterte] und von seiner Brust floss das Blut. 2 Seine Mutter und die Leute der Braut gingen los, und holten sie von ihrem Haus wie einen Kronleuchter x x X x und die gebildeten Mädchen um die Braut sangen Gedichte. 3 Als sie [die Braut] das Haus betrat, während die Mädchen um sie kluge Worte sprachen, zog f:lummän stockbesoffen und noch außer sich seine Kleidung an.
16 Wörtlich: wurde die Gabe vollendet. 17 Die Bruderschaft. 18
Wörtlich: fest und stark gegürtet: ein Zeichen für die wilde Trance, die gedha, bei der die Tänzerin durch ein, um die Hüfte geschlungenes Tuch, geführt wird.
19 Dies ist ein Zeichen der Schwäche, der Bräutigam hält sich nach der Hochzeit nicht im Hause der Braut auf.
BRUDERSCHAFTEN ZWISCHEN STADT UN D LAND
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4 Er kam zu der Braut in ihr Zimmer hinein, um die Ehe zu vollziehen, wie der Herr aller Dinge, der die geheimen Sachen weiss, es vorherbestimmt hat, x x x x [er kam zu ihr] mit dem Bart und dem Turban und sein Gesicht wurde noch schwärzer. 20 5 er kam ins Bett und fiel wie ein Kamel um und streckte sich auf dem Bett vor ihr in seinem schlechten Zustand aus. x x x x Als sie [Braut] morgens aufstand, fand sie ihn, wie er unter sich gepisst hatte. Die achte Strophe 1 Sie stand morgen aufs und fand ihn, wie er auf das Bett gepinkelt hat, sie blieb geschockt und fing an, zu schreien: »bsra' [beim Recht], rettet uns, o Männer!« 2 da versammelten sich ihre Nachbarn und die Nachricht drang zu ihrer Familie, sie kam mit Unterstützung. x x x x Sie sperrten ijumman stockbesoffen und außer sich im Zimmer ein, 3 und sie ging alleine [sie hatte in dieser Angelegenheit noch nicht einmal männliche Unterstützung nötig] zum Richter und erhob gegen ihn der Ordnung gemäß eine Strafanzeige. x x x x ijumman kam [zum Richter] und hat gestanden, dass er betrunken war und immer noch erregt ist. 4 Er hat sich selber zur Ehescheidung verurteilt, er schied sich sichtbar und nicht heimlich x x x x und wegen der Trunkenheit warfen sie ihn für zwei ganze Monate ins Gefangnis. 5 ijumman blieb im Gefängnis, traurig und allein und alles, was er ausgegeben hatte, wurde ihm zum Verhängnis. X x X x Er verlor den Prozess, die Hochzeit und die Hochzeitsfeier und das Geld. 6 Danach heiratete die Braut-oder Intelligente- in der Art und Weise, die in der sari'a klar dargestellt wird X X X X sie heiratete einen Gebildeten wie sie [selbst es war], durch den Ausspruch des vortrefflich Höchsten [Beiname Gottes]. 7 Dies ist der Gang des Alkohols, er lässt einen auf Dauer verspottet und voll Schande zurück. x X x x Derjenige, der betrunken ist, unterscheidet nicht zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen. 8 Ich beende dieses interessante Gedicht mit der [Bitte um] Verzeihung vor Gott für meine vielen starken Sünden, x x x , für meine vielfältigen Untaten [und] für das Sagen ohne Handeln;
20 Das Gesicht wurde schwarz - spielt auf seinen körperlichen Zustand an und zugleich konnotiert es Abwertung gegenüber Menschen unterer Schichten, kann schmutzig bedeuten, die Anhänger der I:Iamadsa gelten gemeinhin als eher schwarz.
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I DIE TRANCE, DAS BLUT, DIE KAMERA
9 Ich kenne im meinem Leben weder Ifummän, noch seine Mutter, noch die moderne Braut. x x x x Dieses Schauspiel habe ich gemacht, damit es den Klugen gefällt. 10 Ich heiße Mul:wmad an-N~äm [der Dichter] und al-'Afsawf al-Fallüs ['Isäwi das Küken] ist nur [mein] Beiname. x x x x Ich bitte meinen Herrn um Glückseligkeit, den Schutz und um Segen in Geld [-Angelegenheiten]. Der Kehrreim Hört die Geschichte von Ifummän, als er heiraten wollte. - oh derjenige, der sich fragt - er hat eine moderne [Frau] geheiratet und er hat bereut, was er an diesem Tag gemacht hat [unleserlich: sich parfümiert, sich herausgemacht] Sie ist vollendet und mit dem Guten umgeben [?]. Diese q~fda galt bei meinen Informaten als sprachlich kunstvoll und spielt mit Namen, die, zumindest in der heutigen Wahrnehmung, typisch für die >einfache< Bevölkerung und die auftretenden Protagonisten sind. Bereits mit dem Eingangsvers wird eine zeitliche Verortung der nachfolgenden Handlung vorgenommen, die eigentlich eine räumlich-moralische Kategorie ist - die Geschichte spielt zurzeit der gähiliya [in der vorislamischen Zeit der Unwissenheit]. Mit dieser Bestimmung wird der Herkunftskontext von Ifummän charakterisiert. Er gehört offensichtlich zur Landbevölkerung, die in die Stadt gekommen ist [er läuft barfuß und mit einem Seil gegürtet durch die Gassen einer Barackensiedlung] und die bei allen Versuchen, sich zu >kultivierenSO etwasrohen< lfamdilsis. Zum Zeitpunkt meiner Forschung spielte diese Unterscheidung in der Praxis zwar keine Rolle - saib 'Alläl, der (nicht unumstrittene) spiritus rector der zäwiya der 'Alläliyin war ein Dgugi und auf lilat der Dgugiyin in Fes habe ich Musiker der 'Alläliyin getroffen. Doch in Gesprächen mit führenden entrepreneurs der I:Iamadsa in spiritueller Musik wurde die Tradition der Dgugiyin für den Niedergang der Bruderschaften verantwortlich gemacht: >>Jetzt hören alle: I:Iamadsa und schließen ihre Kinder weg, damit sie sich nicht die Köpfe schlagen«. Zugleich diente die Unterscheidung als Differenzmerkmal und Legitimationskriterium zwischen den miteinander um Einfluss konkurrierenden Männern der zäwiya in Meknes. 23 sail] 'Alläl, dessen Stellung durch seine musikalische Könnerschaft und Abstammung von Sidi AJ:tmad Dgugi letztlich unzweifelhaft war, wurde in Gesprächen mit anderen Alten der zäwiya als Dgugi abqualifiziert: Wir, die 'Alläliyin, schlagen uns bei der @ta und der gedba nicht die Köpfe ein. Und sie schlagen ihre Köpfe ein. Dieser Sidi 'Alläl hat seinen Kopf geschlagen, die haben den richtigen /:täl. Und wir sagen bei dem Kopfschlagen, der ist unwissend. Er soll sich selber behandeln, wie er will. Seinen Kopf schlagen, sich fallen lassen, sich im Meer ertränken... (Meknes 2005)
Diese erfrischend boshafte Äußerung schließt an längst vergangene Diskurse unter den I:Iamadsa in Meknes an und verbindet das Rohe dieser Praktiken zugleich mit dem >richtigen< J:täl. Noch mehr als die Dgugiyin der Medina sind die Bruderschaften des Landes, oder >diel garbnur< aus 'ayut, Anrufungen des Heiligen, bzw. zagt, einfachen Versgedichten, die im tehläl vorgetragen werden. Für viele Menschen vom Lande, die in die Stadt migrieren und sich
23 Diese Bewertung und Differenzierung beschreibt schon Crapanzano für ländliche und städtische Bruderschaften, vgl. Crapanzano (1981).
BRUDERSCHAFTEN ZWISCHEN STADT UN D LAND
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dort ihre Existenz aufbauen, ist es ein Zeichen ihrer Sozialisation und ihres Status, dass sie sich in die Gruppen der Medina integrieren, die q$iiid beherrschen lernen und dort vielleicht eines Tages zum muqaddim werden. Einer meiner Gesprächspartner war ein vielleicht 70-80 jähriger Ifamdü.Si aus der ziiwiya, der selbst aus dem garb stammt. Sein Vater hat ihn als Kind zu den miissims in Miilay Idris und Sidi 'Ali mitgenommen: Da floss das Blut. Mein Vater und meine Mutter, die I:Iamadsa nahmen mich in die Mitte und begannen mich zu schlagen [er fühlte sich von der Musik, bzw. vom /:liil geschlagen], von da an ist es hochgekommen. Ich war 12 Jahre alt. Als ich meiner Mutter gesagt habe, ich gehe zu den I:Iamadsa, hat sie mich nicht gefragt, warum. (ebd.)
Er ist stolz darauf, die schnellen und schwierigen Rhythmen der I:Iamadsa des Westens (des Landes) schlagen zu können. In einem langen Gespräch erklärt er mir den Unterschied zwischen den Bruderschaften der Stadt und des Landes, das ich in einigen Auszügen wiedergebe, da die Ambivalenz gegenüber den Traditionen vom Lande deutlich wird - als unkultivierte Traditionen, für die man sich schämt, aber die voller Kraft sind, die man bewundert und vor der man sich vielleicht auch ein wenig fürchtet: Die [I:Iamadsa] von Sidi Slimane, vom Lande, arbeiten mit den guwiil und tblat [die bei den Gruppen aus der Medina fehlen]. Aber die Leute von der Medina machen die Sache korrekt ['ala qait'ha]. Der Landmensch [al 'Arübi] sagt dieses Wort und dieses Wort. Und vertont es [indem er seine Stimme lautmalerisch verändert bis die Wörter kaum mehr zu verstehen sind:], sie kennen den gikr nicht. Sie kennen nur die Flöte [lira]. Sie haben keine Wörter, sie haben nur den /:liil. Ihre Frauen sind schlimm. Wenn sie ergriffen werden, ... das wars. (ebd.)
In der Regel werden die I:Iamadsa des Westens- die Bezeichnung für eine Ebene, die sich, grob gesagt, über das Gebiet im >Vierstädte-Eck< Kenitra, Miilay Idris, Chefchaouen und Larache erstreckt und im marokkanischen Sprachgebrauch der Inbegriff von >ländlich< ist - Wuliid Ijalifa genannt (vgl. auch Crapanzano 1981: 141), einem >Stammisoliert< von den Traditionen der Heiligendörfer entwickelt hätten:
24 Trotz meiner Bemühungen konnte ich keine Legenden ausfindig machen, welche die eigene Entwicklung, die diese Traditionen auf dem Lande genommen haben, thematisieren.
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Die Wulad ljalifa sind die J:Iamadsa auf dem Lande. Eine Gruppe von denen wurde Wulad ljalifa genannt. Sie sind schwer [wa'rin] . ... Ihre Arbeit ist noch schwieriger als unsere,
sie machen die gedba oder befreien den Mann
[t5er~uh],
wenn er behindert ist. Und die
Frau, wenn sie nicht schwanger wird, dann treten sie auf sie und dann gibt ihr Gott Kinder. (Meknes 2005)
Wir sitzen zu dritt dem mu'allim gegenüber, wie er als Handwerker respektvoll angeredet wird: eine weitere Informantin, die meine Kontakte erst hergestellt und dann lange kontrolliert hat, und ein Freund, der mich - wenn es seine Zeit als Abiturient zuließ - gelegentlich zu Interviews begleitete und mit Übersetzungen einspringen konnte, da er in Deutschland aufgewachsen war. Als der Alte anfing abzuschweifen, hakte meine Informantin ein, die selbst aus dem Westen kommt und die stets bemüht war, die Informationen in Gesprächen schnell auf den Punkt zu bringen: >>Stop! Erzähl ihm von der Frau, die nicht schwanger wird. Wie sie auf ihr trampeln und dann wird sie schwanger, oder was ist, wenn der Mann behindert ist.>malha?« geschimpft - was hat sie? - um sich kopfschüttelnd wieder den anderen Männem zuzuwenden. Offensichtlich warf er seinen Kollegen und den Besuchern der lila Oberflächlichkeit vor. Den Versuchen der jungen Männer, sich auf dem FolkloreMarkt als Künstler zu situieren, begegnete er abschätzig: Sie arbeiten wie metier [als wäre es ein Beruf wie jeder andere]. Jeder hat seine Art [er fing an zu lachen, bis sich sein ganzer, hagerer Körper schüttelte] hier [in Marokko]: 'Abdeluahad, dort [in Ägypten]: Umm Kal.tüm [die wohl berühmteste Sängerirr aus dem
arabischen Raum] und Fiirrid al-Atrai [ein anderer berühmter Sänger]: der Gehörlose ein Star. Wir, die Marokkaner, können das nicht so wie sie machen. So wie die Leute dort in Ägypten. Hier, in der 'Arubia [auf dem Land] ist ihr Ml süß [~ZU]. Wir folgen den Alten. Die sind ma mtebtins [etwa: sie reflektieren nicht über das, was sie tun] . Sie kennen we-
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der Gott noch [...] [sie singen nur:] ana ba ana ba. [Er schaut mich an] Wenn wir Zeit haben, dann nehme ich Dich mit [in den garb], dann kannst Du es selber sehen... Wie Afrika. Da gibt es Sklaven und Gnäwa. Das ist unser Afrika. Die 'Arubia. Dann kannst Du die Arten des l;äl sehen [die von den ländlichen Bruderschaften gespielt werden].
In diesen Ausschnitten aus einem langen, nachmittäglichen Interview kommen viele Themenbereiche zusammen. Seine Bemerkung, dass die Männer solange vergnügt ihre verkünstelte Form der /:laQ.ra spielen >bis die Katastrophe kommt>In der I:Iamadsa arbeiten wir für unseren wali, um ihn zu erheben [wörtlich: zu vergrößern tekbr bih],« erzählte mir der mu'allim zu einem anderen Zeitpunkt, >>Verstehst Du? Wie Deine Eltern. Du schämst Dich vor ihm, Du nimmst Dich vor ihm in Acht. Und wenn Du etwas gemacht hast, weißt Du das. Wie viele haben etwas gemacht, und jetzt sind sie weg.«
Unser Afrika Besonders der Hinweis auf die >SklavenNegres« zusammensetzen (MSdM 1918: 58), und bis heute gelten die Ifamdü.Sis eher als >>schwarz« (vgl. schon Crapanzano 1981: 257). Der Ausdruck »Unser Afrika«, in dem sich >>Sklaven« und unterschiedliche, >>echte« Trance-Zustände finden lassen würden, verweist darüber hinaus auf ein Ideal unbedingter Hingabe zum Heiligen, die nicht >>ZUm Geld kopieren« verwendet wird, wie der mu'allim etwas später abschätzig über die junge Generation der Musiker in der Medina sagen wird. In den q$äid der 'Isäwa finden sich immer wieder Stellen, in denen die Verehrer des Heiligen als >>verkauft« und >>gekauft« bezeichnet werden. So heißt es beispielweise in einer QQ$ida zur Preisung des Heiligen der 'Isäwa: >>DU bist das Haus der Macht, des Respekts und des hohen Großmuts, Männer kommen zu dir jedes Jahr; verkauft [und] gekauft. Zu deinem heiligen Ort kommen sie laufend - schau meine Gemeinschaft.« Es gibt gute Gründe, unter den Stammessegmenten und Familien, die sich jährlich zum milüd am Heiligengrab einfinden, viele Nachkommen ehemaliger 'abid al-Bul]äri und anderer Sklaven zu vermuten: zäwiyas waren ein gesuchter Zufluchtsort für Sklaven, die dort zu Ansehen und sozialer Stellung kommen konnten, die spirituelle Bindung an ei-
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nen Heiligen mag zudem angesichts fehlender, familiärer Bindungen vieler Sklaven besonders wichtig gewesen sein und im Falle der heterogen zusammengesetzten und aus administrativen Gründen geschaffenen Stämme über die Generationen als Ersatz für einen 'CL$l gegolten haben. Trotzdem halte ich die Aussagen des »Verkauft und Gekauft« in diesem Kontext für Begriffe der >HinGabe< und aus dem weiteren, semantischen Bereich der Gabe entlehnt, mit dem soziale Beziehungen gestiftet und erhalten werden. Die Bemerkung Geertz', dass im marokkanischen Süq »buying and selling are virtually undifferentiated« (Geertz 1979: 215) verweist darauf, dass die Handelspartner in eine Beziehung eintreten, in der beide Seiten die Transaktion genauso unter sozialen wie penuntiären Aspekten betrachten müssen. In der Terminologie und im Akt des Gebensund Nehmens werden Rang und Status verhandelt. Kaufen und Verkaufen erscheinen dann als ein Begriff unter anderen, mit dem >Nähe< (qaräba), klienteläre Beziehungen, Gehorsam, und eben religiöse Hingabe >verhandelt< wird. Die Zeremonie der jährlich erneuerten Inthronisation des marokkanischen Königs heißt deswegen baiya (Verkauf) (Hammoudi 1997: 55f.). So heißt es auch in einer QCL$ida auf den Propheten, »Al-J:tann: ich bin zu dir gezielt gekommen, o Herr der Fürsprache, ich habe Angst vor meinen Sünden und dass ich am Tag der Auferstehung leiden werde, 'äri auf dich, o MulJ-ammad, so wie der 'är eines Sklaven auf seinen Besitzer.« Der 'är, ein »Conditional curse« (Westermarck 1926, Bd. 1) versucht, einen, durch Schuld oder Rang höhergestellten Gegenüber zu einer Gegengabe zu verpflichten.
STADT UND LAND: DIE VERDICHTUNGEN SAKRALER RÄUME UND PRAKTIKEN Gleichwohl zeigen die Bemerkungen dieses Ifamdüsis, dass die in der frühen Mittelmeerethnologie beliebte Äußerung, in der mediterranen Welt würde die Welt der Stadt an ihren Mauern enden, nicht zu halten ist (vgl. Pitt-Rivers 1954, Albera & Blok 2001, so auch noch Crapanzano 1981: 134). Bindungen zwischen Stadt und Land verdichten sich in der integrativen Gestalt des Heiligen, der auch heute noch Menschen über weite Entfernungen hinweg rückbindet - die Migration nach Europa erscheint in dieser Hinsicht als eine Fortschreibung der Landflucht in Marokko. Beim Schauen einer Filmaufnahme der milüd-Feierlichkeiten aus den frühen 1990er Jahren, wurde die An- und Abwesenheit mir bekannter Personen damit erklärt, dass bis vor einigen Jahren die Wuläd Siyyid mit einigen Musikern vor dem Prophetengeburtstag aufs Land ge-
BRUDERSCHAFTEN ZWISCHEN STADT UN D L AND
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fahren sind und in ganz Marokko die taifat abgefahren und ihre Abgaben eingesammelt haben - Mehl, Eier, Fleisch und anderes mehr. Zugleich sind die Bruderschaften und Angehörige der qbäil [>StämmeFolklore>Wir machen so etwas nicht. Vielleicht, wenn der wali [Gouverneur] anruft...«. Damit war das Thema erledigt. Wir gingen weiter zu einem Zelt, in dem die J:Iamadsa des Westens aufspielten und sich eine Frau in tiefer Trance die Arme mit einem Messer kerbte.
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TRANCE-ARCHIVE Als ich die taifa im November kennen lernte, war der Fastenmonat Ramadan gerade vorbei, und es wurde kalt. Während in dem Monat vor Ramadan, im Sa'ban, die Dämonen besonders bearbeitet werden, gelten sie im Ramadan als >gebundenZeremonie< abgehalten, und dann wieder zu 'Asura, wenn die Dämonen, Frauen und Magier in ihrem Tun besonders aktiv sind. Obgleich davon ausgegangen werden kann, dass hin und wieder Heilrituale für Besessene durchgeführt werden, ist die kalte Jahreszeit eine eher inaktive Zeit aller Bruderschaften. Die Menschen sitzen in ihren Häusern unter Decken und warten, dass die Kälte und der Regen - um den sie beten, denn er verheißt erschwingliche Marktpreise vorübergehen. Auch wohlhabendere Menschen verzichteten zur Zeit meiner Forschung in der Regel auf die Anschaffung einer büta, eines Gasofens, der gut 130€ kostete und auch im Betrieb laufend weitere Kosten verursachte. Während meiner Feldforschung war es das große Opferfest im Januar, zu dem die Menschen wieder stärker ihre sozialen Kontakte gepflegt und ihre Häuser verlassen haben. In allen Straßen wurden schon Tage vorher Kohle, Tonbecken, Baumstümpfe, Stroh und Heu sowie Schneidebretter zum Verkauf angeboten, Schafe wurden durch die Straßen getrieben und Feststimmung machte sich breit. Als ich bei muqaddim Rasid an seinem Arbeitsplatz vorbeischaute, einem Parkplatz am Rande der MellaJ:t, dem ehemaligen jüdischen Viertel, fuhren wir kurz entschlossen mit einem seiner Freunde zu ihm nach Hause - der Freund hatte in Montpellier gelebt und dort Geld und das Auto verdient, in dem er uns nun durch die Strassen fuhr. Als wir im Haus des muqaddim ankamen, wurde ein Film ausgewählt, der mit einem kunstvoll gemachten Standbild eines Aquariums begann, vor dem Dankesworte an seine Schwägerin in Paris eingeblendet waren. Sie hatte die die hier aufgenommene lila im Jahr 2002 bezahlt. Im Laufe des Abends werden wir Filme der Wulad Jjalifa und einer lila der Gilala sehen. Obgleich die timsitzenden die Filme allesamt schon mehrmals gesehen hatten, schauten sie sich die Aufnahmen neben ihrer Unterhaltung aufmerksam an - sie liefen offensichtlich nicht nur als Hintergrundrauschen ab, sondern waren Thema der Gespräche: die Tänzer wurden kommentiert und die Musiker gelobt, der Verbleib einiger Menschen kommentiert, die zu sehen waren und Geschichten über Sai!J al-Kamel erzählt. Obgleich ich sie mit Sicherheit dazu animierte, fanden diese Gespräche auch untereinander statt und waren nur zum Teil an mich gerichtet. Wir stärkten uns mit Tee, Brot, Butter und Oliven
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und die Männer tauschten sich über die richtige Technik der Schächtung aus. Nicht zuletzt durch das beständige Kreisen der kif-Pfeife übte die laut aus dem Fernseher tönende Trance-Musik Wirkung auf einige der Anwesenden aus, die zunehmend fahrig erschienen. Das älteste Video, das ich bei meinen Besuchen zu sehen bekam, stammte aus dem Jahr 1992, war also zum Zeitpunkt meiner Forschung 13 Jahre alt, und ist auf dem Lande in einem Dorf aufgenommen worden - dort, wo der muqaddim seinen 'G.$1 verortet. Hunderte Menschen strömen auf dieser Aufnahme nach einer Ritualnacht in die Landschaft und viele Adepten, Frauen wie Männer, steigen im /:läl dial gmel!naga, im Trance-Zustand des Kamels, auf die Feigenkakteen, reißen sich halbe Stauden ab, wälzen sich darin und stopfen sie sich in den Mund, als hätten sie keine langen, scharfen und dicken Stacheln. Der muqaddim ist zu sehen, wie er oben in den Feigen-Kakteen sitzt und die Arme schwingt. Wie alle Rituale ist auch dieses zwischen den wesentlichen Sequenzen immer wieder unterbrochen durch eine fatl:w, die durch einen großen Chor der Anwesenden beantwortet wird: amin, amin, amin, und dessen Verlauf von den Anwesenden im Wohnzimmer kommentiert wurde: >>wir haben milyün u Nus eingenommen!« - etwa 1500 Euro, was trotz des Massenauflaufs übertrieben sein dürfte. Dann ist auf dem Film zu sehen, wie sich einzelne Mitglieder der taifa aufstellen und mit lautem Wehklagen anfangen, sie singen den tehliil: »Was macht ihr«, fragte ich, doch statt einer Antwort fingen zwei der Anwesenden aus dem garb an, vor dem Fernsehr zu singen: >>Sidi baba, baba, baba, baba«. Der muqaddim beantwortete meine Frage: >>Sie erinnern [keidekru] den Heiligen, den Propheten Muf.zammact Ifassan II zu seiner Zeit und die Toten.« Etwas später scharen sich im Ritual-Video >Löwen< um einen Mann, der ein Opfertier hochhält. Frauen entwenden es ihm und reißen dem Tier die Leber heraus, die sie roh verschlingen. Anschließend beginnt eine ausgefeilte, rituelle Choreographie, in der Frauen auf dem Boden sitzen, während die Männer immer wieder auf sie zustürmen und versuchen, ihnen die Kopftücher herunterzureißen, die Frauen wiederum schlagen nach den Männern. In der Mitte des Schauspiels sind dann zwei Männer im f.ziil des Schakals [giab] zu sehen, die sich jeweils mit den Kopf auf den Füßen des anderen übereinander gelegt haben und durch den Sand rollen. Die >Löwen< springen auf sie zu und fassen sie an Bauch und Hals an - sie testen, ob sie atmen. »Wenn sie einen Atemzug merken, zerreißen sie die Schakale«, wie mir die anderen Zuschauer erklärten. Als ich mich erkundigte, ob hier ginn am Werke wären, wehrten sie ab: >>Das ist
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der T:zäl rabbani [der göttliche Trance-Zustand], der kommt von Gott und vom
saifJ.«1 Später am Abend, als die meisten Anwesenden schon gegangen waren, erkundigte ich mich, wie sie zu der Kritik der Salafisten stünden, die Heiligen seien schlicht tot und verfügten über keine baraka. Einer der jungen Männer schaute mich an: »Wenn Du Sidi Af:unad besuchst [ich hatte ihnen von meinen Besuchen im Heiligendorf erzählt], dann fühlst Du das doch, oder?« Und der muqaddim warf ein: >>Andere fahren ans Meer, ich fahre [zum müssim] nach Sidi 'Ali, damit es mir gut geht.« Und der Jüngere fuhr fort: »Die sagen, der ist tot, säfi [fertig], aber essen sie die Kakteen? Essen die Glas? [Was er beides macht.] Nein? Also, die baraka des Heiligen ist nicht tot.«
DIE ijENNA-NACHT DER FAHNEN Fast immer, wenn ich in diesen Monaten bei dem muqaddim in Sidi Baba vorbeikam, liefen Filme aus dem eigenen Archiv im Fernsehen. Häufig saß der Mann blass vor dem Bildschirm und schaute sich selbst bzw. der in ihm zur Gestalt kommenden Dämonirr zu, rauchte seine kif-Pfeife und mischte sich nur gelegentlich in die Gespräche der anderen im Raum ein. Er pflegte seine eigene Erinnerung an das Dorf seiner Herkunft, Erfahrungen der Trance und soziale Bühnen, die er gestaltet hatte. Wie in den anderen Bruderschaften auch, steigerten sich die rituellen Aktivitäten der 'lsäwa des Westens je näher der Prophetengeburtstag rückte. Stolz berichteten mir die Mitglieder der Gruppe, dass sie bis nach Marrakesch und Muhammedia fuhren, wo sie für Angehörige des Palasts lilat durchführten. Ungefähr zwei Wochen vor der eigentlichen Prozession zum Heiligengrab lud mich der muqaddim dann zur T:zenna al-'alam ein, dem T:zenna-Fest für die Fahnen der Bruderschaft. An diesem Abend werden die Fahnen für vierzehn Tage - bis zum Abschluss der miliid-Feierlichkeiten - aus der großen Holzschatulle herausgenommen, in der sie das Jahr über verwahrt werden. »Komm fi 'a5ia«, sagte er mir und ich bin mir wie immer angesichts dieser Zeitangabe, 'a5ia. die sich von ca. 15 Uhr bis zum magreb-Gebet erstreckt, unsicher, was gerrau das heißen soll. Ich schlage schließlich vor, um drei Uhr zu kommen und als ich gegen fünf Uhr eintreffe, sind erst wenige Besucher vor Ort und unterhalten sich,
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Eine ausführliche Analyse dieses Ritualfilms und der »Tier-Trancen« findet sich bei Zillinger 2010.
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während die jüngsten Männer, die sich aus dem Viertel um den muqaddim scharen, dabei sind, die Glühbirnen in der Deckenlampe auszutauschen. Wie immer bei den lilat des muqaddim sind die Musiker - zwei giyät, Oboenspieler, und zwei tbeZ-Spieler sowie einige ~a4ra-Tänzer und hallala, wie die tehlälRufer heißen, aus dem Westen angereist, eine Entfernung von gut 150 km, sagen sie mir. Auch einige Frauen, offenbar aus Sidi Baba, sitzen an den Wänden und unterhalten sich. >>Woher sich die Anwesenden kennen?«, frage ich. »Sie kennen sich alle von milüd, aus [dem Heiligtum von] Sai!J al-Kämel«, erklärt mir einer der Männer auf die eintreffenden Adepten bezogen und bringt damit die Integrationskraft des Heiligenkults auf den Punkt. >>Rasid, er gehört zu uns [hua dialnä], er ist bei uns als muchacho aufgewachsen.« Ich erkundige mich bei den Männern nach dem tehläl, den sie wie zur Übung immer wieder anstimmen. »Das ist für die Toten. Wir erinnern sie, weil sie mu~ibbin sind. Es sind unsere Brüder, die sich von uns entfernt haben [keigibu 'alina]. « »So, wie wenn ich jetzt tot bin«, mischt sich der muqaddim ein, »dann erinnern sie mich und singen darüber, was ich für ein muqaddim war.« Durch das Fenster dringt der Ruf des Muezzins zum magreb. Die Männer stellen sich in ihren glälb in eine Reihe. Hinter ihnen, an der Wand, setzen sich zwei Frauen in Gebetsposition. Der Ifäg steht wie als Vorbeter vor ihnen, alle blicken Richtung Mekka. »Allahu akbar«, das gemeinsame Murmeln der Gebetsformeln und die gemeinsamen Bewegungen der niederknienden und wieder hochkommenden Männer, ihr Atemholen, taucht das Zimmer in eine friedliche Ruhe: »allahu akbar>nach Recht und Gesetz« auf die rituelle Verwaltung eines sakralen Ortes Anspruch erhob - wie gleich zu zeigen sein wird. Zugang zu dieser Gruppe >des Westens< war nur möglich durch Netzwerke und auf Einladung eines Adepten oder des muqaddim, wenn man von den wenigen, öffentlichen Auftritten im Jahr in den Prozessionen um den Prophetengeburtstag absieht. Zwar erschließen sich alle öffentliche Orte in Marokko zugleich als soziale Räume - der seiner sozialen Stellung bewusste Mann geht Plätze und Räume ab, in denen er sich zugleich sozial verortet3 -, aber die Zugehörigkeit zur taifa von Si Rasid war dezidiert eine Frage genealogischer Verwandtschaft, die über die Anerkennung eines spi-
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Ich hatte in meiner Forschung lange nicht verstanden, warum mich meine Gesprächspartner grundsätzlich in >>ihren« Cafes treffen wollten und kein Interesse hatten, andere Orte mit mir aufzusuchen.
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rituellen Vaters, des Heiligen, und ritueller Initiation in den Besessenheitsritualen erweitert werden konnte. Der weiteren Öffentlichkeit war sie jedoch entzogen. Die communitas der lila und der Trance wird über die tehlilat hergestellt, die Teilnehmer müssen sich kennen, wie meine Informanten stets betont haben, um sich Jahr für Jahr treffen zu können >>und diejenigen zu beweinen, die nicht dabei sind«. In einem Interview erklärte mir einer der Adepten der taifa, der seit seiner ersten Besessenheitserfahrung als Kind mit den Menschen der taifa verbunden ist und selbst ein respektabler Ritualexperte geworden ist: Nimm zum Beispiel Si Rasid, er hat seinen /:läl [Trance-Zustand] im tehläl. Wenn er diese helläla hört, dann fallt er [in Trance]. Er hat seine Geister in der @ta. Wenn sie ihm diese aria/:1 sagen [die tehlilät singen], dann fällt er [in Trance]. Und zum zweiten, ich habe
dasselbe Problem. Die Halläla wissen meine tehlilät. Wenn sie diese singen [keihellälu], falle ich. Die giata beherrschen nicht mehr meinen /:läl. Als einer der letzten der meine aria/:1 gearbeitet hat, gestorben ist, kam [der giat] mu'allim Idriss vom Westen, [aber der]
kennt meine aria/:1 nicht.« »Er kennt sie nicht?«, frage ich nach. »Nein, denn ich bin nicht mit ihnen aufgewachsen. Ich bin mit den mu'allimin in Meknes aufgewachsen. Bou.Sta. wuld Sämma. Als ich nach Kenitra gegangen bin, arbeiteten für mich mu'allim trmäli,
I:Iassan, jetzt Slimän. Er kennt meine arial:t [in der Doppeldeutigkeit von >Melodien< und >Geister>Juck Dich, sagt er zu Dir, und schon fällt Dir Geld aus den Taschen und Zigaretten, pass auf! «) Nicht nur in den Zirkeln der lfamdü.Sis bekommt Mal.tmud zunehmend Probleme, sich durchzusetzen. In der zäwiya herrscht in diesen Zeiten der Reorganisation Sda', Lärm, wie allgemein und missbilligend geurteilt wird. 1 Dieser Lärm allerdings gibt Einblicke in die Möglichkeiten der Selbstpositionierung der Menschen im öffentlichen Raum und entpuppt sich als eine sehr effektive Form der öffentlichen Kontrolle. Mal.tmud ist zwar durch seine lebenslange Verbindung mit der zäwiya als lfamdüsi anerkannt, aber er gilt als verschlagen und geizig, wie sich die Menschen immer wieder versichern, wenn er nicht da ist. Auch Sidi 'Alläl, der seine Ernennung ja offensichtlich mit betrieben hatte, distanziert sich von ihm im Einzelgespräch - »Der will ja muqaddim werden«, er tippt mit seinem Finger gegen seine Stirn, >>dieser l:zmaq [Verrückte] «. Und schließlich kommt der muqaddim diell:zuma höchstpersönlich an einem Freitag Nachmittag in der zäwiya vorbei, offensichtlich von der Sorge um einen rechten Ablauf der Dinge getrieben, eine Sorge, die sich durch die Präsenz des Ausländers noch verstärkt. Wie ich später erfahre, warnt er die Menschen gelegentlich vor mir, ich könnte ein ausländischer Terrorist sein, und lässt sich nur langsam von meiner Harmlosigkeit überzeugen - was angesichts der Tatsache,
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Vgl. zum Thema »gossip« Stewart und Strathern 2003.
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dass er für den öffentlichen Zustand des Viertels persönlich verantwortlich gemacht wird, vielleicht nur verständlich ist. An diesem Freitag ist die zäwiya sehr gut besucht. Mit Sidl 'Alläl kommen sein persönlicher Gehilfe angerückt, über den er gegen Verpflegung und Kleidung sowie geringe Anteile an den Einnahmen bei rituellen Anlässen nach Bedarf verfügt. Auch der fqih aus Kenifra ist anwesend. Ein weitere Nachfahre Sidi AT:zmads, der in der Strasse vor der zawiya Gemüse verkauft, kommt ebenfalls wieder vorbei und ein Mann aus der Nachbarschaft sitzt bei den Männern unter der Kolonnade und will sich offensichtlich ein Bild von dem Auftrieb in der zawiya machen. Der mu'allim Idris ist schon da, es kommt noch ein schweigsamer Verkäufer alter Sachen hinzu, der in der Regel wenig sagt und lediglich im Rhythmus des gikr mitklatscht, und ein junger Mann, Said, ist anwesend, den ich im Frühjahr im Heiligendorf zum jährlichen müssim getroffen hatte und der offensichtlich dabei ist, seine Beziehungen in den Netzwerken der Bruderschaft auszubauen. Sie haben von dem Europäer gehört und möchten an den neuen Entwicklungen in der zäwiya Teil haben. Und dann kommt das einzige Mal in der gesamten Forschungszeit - der muqaddim diel J:zuma in seiner neuen, schwarzen Lederjacke und gepflegten Schuhen und Hose. Er setzt sich dazu, nachdem er vorher die zawiya flüchtig in Augenschein genommen hat. Rabi'a begrüßt ihn überschwänglich: hay, hay, nhdr kbir!! (welch großer Tag!) Haftlj.a und Rabi'a, die um ihre Stellung als Hausmeisterinnen in der zawiya konkurrieren, versuchen beide ihr Rolle zu betonen, indem sie laut das Wort an den muqaddim diell:zuma und Sidi 'Alläl richten. Ersterer kommt gleich zur Sache. >>Ein muqqadim, das muss jemand sein, der geradeaus ist, der ein reines Herz hat und die Einnamen für die zawiya verwendet, nicht >hin und herStadt< und denen des >Landesanhalten>Das andere ist von seinem Vater. Es gibt Erben. Sein Bruder ist in Casablanca. Und ich weiß nicht, er hat noch seine Schwester, und er hat auch nichts.« Bei allen Zweifeln, die die Beziehungen zwischen den Generationen kennzeichnen (die jungen Männer trinken und schlagen sich), sprechen seine finanziellen Verhältnisse durchaus für ihn, er würde schließlich trotz seiner Verpflichtung für eine Familie aufkommen zu müssen, nicht gleich zum Dieb, wie der Alte sagte, als er selbst nebenbei nach eigenen Ambitionen auf den Posten des muqaddim angesprochen wurde: »Ich? Will ich ein Dieb werden?« Und schließlich spricht seine Jugend für ihn - die Alten können davon ausgehen, weiter gebraucht zu werden (und werden aus diesem Grunde in den nächsten Monaten nie ganz ihr rituelles Wissen an die jungen Männer weitergeben), und er wird noch lernen. Innerhalb kürzester Zeit konnte sich 'Abd al-Wäl;tad so durchsetzen. Ihm war es in der Folgezeit sehr wichtig, die entsprechenden Papiere über seine Einsetzung vom qädi und die Ernennungsbestätigung vom mizwär aus Sidi 'Ali zu bekommen: >>Denn, wenn jemand kommt und mich fragt, was machst Du hier, dann halte ich das Papier in die Höhe!« Es ist bezeichnend, dass er sich bei seiner Arbeit als muqaddim der 'Isäwa nie um Papiere bemüht hatte - »ich kann sofort losgehen und Dir ein Papier besorgen, wenn Du das willst« - seine persönlichen Beziehungen zu den wulad siyyid waren so gut, dass er nicht auf Papiere zurückgreifen musste. Anders bei den IfamädSa, wo seine Stellung ungefestigt war und Brief und Siegel diese fehlenden Kontakte ausgleichen sollten. Aus diesem Grund konzentrierte er sich in der nächsten Zeit darauf, die >Papiere• in Ordnung zu bringen und sich mit der Bruderschaft in den Folklore-Markt einzubringen. Bei den weiteren Versuchen, sich über das Amt für kulturelle Angelegenheiten beim wäli als Folkare-Verein eintragen zu lassen, versuchte sich nun 'Abd al-Wäl;tad als muqaddim mir und den anderen Ifamdüsis zu empfehlen. Er lief beständig mit einer DIN A4 Mappe voller Zettel durch die Gegend, die er bei
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jeder Gelegenheit hervorholte, um seine Ansprüche auf das Amt des Vorstehers und die fortschreitende Vorbereitung zur Erlangung lukrativer Publizität zu dokumentieren. Wichtig waren stets die beiden Papiere, die mit Stempeln versehen waren (und ihn als muqaddim ausweisen). Wir trafen uns mit einem rais der Foklore in einem Cafe, wobei hier die Bezeichnung »Präsident« mehr seinen Einfluss als einen Posten beschreibt. Der kleine, näselnde Mann mit streng gescheiteltem Haar, stets im Anzug, kam mit reichlicher Verspätung. Er war ein echter fonctionaire der staatlichen Bürokratie, dem für seine Inspektionsaufgaben im öffentlichen Raum ein Dienstauto zur Verfügung stand und der die Treffen mit uns sorgsam zeitlich bemaß. 'Abd al-WäJ:tad lud ihn stets zum Kaffee ein - und zeigte damit seinen Respekt gegenüber dem höher stehenden Gesprächspartner, der als Austausch für diese kleinen Gaben seine Präsenz gab - und vielleicht die entscheidenden Netzwerke für die Etablierung des Folklore-Vereins. Wie immer laufen die ersten Treffen recht förmlich ab, die Papiere werden untersucht, 'Abd al-Wäl:tad zeigt die ersten Kopien von Personalausweisen vor, die er mit Hilfe seines Freundes und Helfers Said gesammelt hat, und die beiden verständigen sich gegenseitig über die Wichtigkeit der Aufgabe - die Neuorganisation der l:famädSa-Bruderschaft. Es wird sich der Legimität dieses Anspruchs auf Öffentlichkeit versichert: Schließlich liege der 'a~l, die Wurzeln, der l:famädSa, in Meknes; die T:tendirat- die allgemeine Folklore Bekleidung der 'lsäwa im öffentlichen Raum - sei eigentlich immer schon und zu aller erst die Kleidung der l:famädSa gewesen. Die Verehrung des Propheten und die »Wahrheit« (J:taqiqa) des Sufi-Weges- seine Gültigkeit, Legimität und Wahrhaftigkeit - werden bekräftigt und die jüngsten internationalen Entwicklungen in Dänemark kommentiert- wo Muhammad-Karikaturen gedruckt worden waren, die nachfolgend zu schweren Unruhen in der islamischen Welt geführt hatten. Die Folklore könne der Welt und den Dänen zeigen, dass die Muslime einer Religion des Dialogs anhängen und der Toleranz - und dass sie alle Propheten respektieren. Anekdoten über die Wunder der Heiligen werden erzählt und die ewige Wahrheit des Korans beschworen. Dann bricht der fonctionaire auf. Wir begleiten ihn ein ganzes Stück, dann verspricht er, die Formulare weiterzureichen, wenn 'Abd al-WäJ:tad alles beisammen hat und, wer weiß, vielleicht wird der wäli dann zum Telefonhörer greifen und die zäwiya reparieren lassen. Und der König wird im März 20 Tage lang in Meknes sein - mit viel Folklore, wie der rais, Si Gawäci ankündigt. 'Abd al-WäJ:tad erweist sich als sehr effektiv in seinen neuen Aufgaben als muqaddim. Auf dem Rückweg halten wir in einem femii.Si, einem riesigen Kellergewölbe, in dem ein durch und rußgeschwärzter Mann einen riesigen Ofen
DIE l:IAMADSA UND 'ISÄWA DER M EDINA
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mit Holzspänen für das darüber liegende f:tamäm befeuert. 'Abd al-Wal).ad nestelt wieder an seiner Mappe und zeigt alle Zettel vor - ob er auf ihn rechnen könne? Er solle doch Freitag in der zäwiya vorbeikommen. Der Mann willigt ein, er hätte auch noch den Ausdruck eines f:tizb zu Hause, den könne er mitbringen, wenn es mm darum ginge, die Bruderschaft neu zu formieren. >>Hauptsache«, antwortet 'Abd al-Wal).ad, >>er hat seine Ausweisnummer dabei! «
DIE LILA IN DER MEDINA Die Betätigung der J:Iamadsa in der zäwiya bestand vornehmlich aus der Gestaltung des freitäglichen dikr und von gelegentlichen lilat. Gleich zu Beginn besuchte ich mit der Bruderschaft eine große lila, die im Hause einer suwäfa, einer Seherin, für eine Patientirr abgehalten wurde, doch dies sollte die letzte lila dieser Art bleiben. Nicht zuletzt, weil die Gruppe sich neu konstituierte und viel Kraft in den Zugang zum Folklore-Markt investiert wurde, ließen sich die unterschiedlichen Interessen der Ifamdusis für das Bespielen weiterer Bühnen nur schwer bündeln; Anfragen für größer angelegte lila blieben schlichtweg aus. Dies spiegelt nicht notwendig die Situation der J:Iamadsa-Bruderschaften insgesamt während meiner Feldforschung, wie beispielsweise die Dissertation von Bernhard Leistle zu einer Gruppe der Dgugiyin in Fes zeigt (Leistle 2007). Diese und andere Bruderschaften riefen bei Bedarf einige meiner Gesprächspartner, insbesondere die giyata, von Meknes nach Fes, um bei lilat aufzuspielen. Auch wurden die Wuläd [wlifa, der ländliche Zweig der Bruderschaften für Besessenheitsrituale, unvermindert nachgefragt. Die Ausrichtung von lilat hängt eng mit den Netzwerken zusammen, in denen sich die jewweiligen Bruderschaften einen Namen gemacht haben und durch die sie - etwa über die Vermittlung einer suwäfa oder eines fqihs - engagiert werden. Überdies gibt es muf:tibbin, für die es notwendig ist, ihre Besessenheit durch die Ausrichtung von lilat zu behandeln oder die es schlicht als eine soziale Pflicht ansehen, die Gruppe im Hause zu versammeln und zu bewirten. Renomee und Engagement der Bruderschaften sind eng miteinander verwoben. Während meiner Feldforschung gab es gerrau eine muf:tibba der taifa der J:Iamadsa, die regelmäßig in ihrem Altstadthaus eine kleine, familiär gehaltene lila abhielt. Sie war eng mit sailJ 'Allal befreundet und immer wieder auch bei ihm zu Hause beim Teetrinken anzutreffen. Sie ist ca. 68 Jahre alt, ihre Kinder leben in Frankreich, und auch sie selbst hat dort immer wieder längere Zeit verbracht, aber war immer nach Meknes in ihr Haus zurückgekehrt. >>Was soll
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ich da? Ich brauche mein Haus und meine I:Iamadsa«, wie sie mir immer wieder versicherte. Niemals habe ich sie in der zäwiya gesehen, es hätte sich für sie einfach nicht gehört, in dieser Öffentlichkeit als Adeptirr aufzutreten. Mütterlich lud sie mich immer wieder zu sich ein und erzählte mir von ihren Kindern und Enkeln in Frankreich, für die wir bei den lilat Fürbitten und Segnungen sangen und gelegentlich kräftig auf das Photo pusteten, nachdem es im Rauch der mbalya geschwenkt wurde, das sie dann für diesen Zweck hinter Glas herumreichte - denn mit dem Speichel wird die baraka transportiert. Sie könnte in Frankreich bleiben, wie sie mir erzählte, aber sie wollte »hier bei den ijamdüSis« sein. Dort bin ich krank, sagte sie mir. Und ihre Kinder würden sagen: >>Dir fehlt doch nichts!«. >>Doch«, sagte sie dann, >>mir fehlt etwas. Gib mir Geld, das nehme ich für die lila zu Hause«. Sie war stets noch in der Küche, wenn wir uns bei ihr versammelten und bereitete das Couscous vor, dass sie Männern und Frauen getrennt vor der lila servierte. Dazu gab es Tee, mit dem sich die Männer zum Rauchen in einen Nebenraum zurückzogen. Sie war es auch, die nach alter Tradition ein Essen für den neu ernannten muqaddim ausrichtete, zu der wir uns, sailJ 'Alläl, der neue muqaddim und ich, am Folgetag einer lila versammelten. Bis zu seinem Tod richteten sich ihre Anfragen grundsätzlich an Sidi 'Alläl, der dann entschied, wen er mitbringen wollte. Der finanzielle Rahmen war gesteckt: es gab die Nacht über Essen, Tee und Kaffee. Außerdem gab es das Eingangsopfer von 100 Dirharn (ca. 10 Euro) und einen qäleb Zucker, einen Zuckerkegel, der als eine Art Parallelwährung zwischen den Haushalten herumgereicht wird und bei einem der kleinen >Tante-Emma-Läden< mit geringem Abschlag vom Einkaufspreis wieder eingelöst werden kann (12 DH). Zucker und Milch sind symbolisch hoch aufgeladen und dienen als rituelle Gabe, mit der Respekt und gute Absichten zum Ausdruck gebracht werden - »das bringt man in der Medina mit>besser« als alle Arbeit. Wie andere Pilger wird sie die Nachfahren des Heiligen, die >ihre< Tage turnusgemäß am Schrein verbringen und die Opfergaben der Pilger annehmen, um eine entsprechende Fürbitte (fa0a] gebeten haben. Sie haben für mich eine fatl:za gesprochen [wörtlich: gehoben] und gesagt, wenn dieser Junge gelingt, dann musst Du uns jedes Jahr eine
~adaqa
machen. Als dieser Junge ge-
kommen ist, habe ich ihn nach Sidi 'Ali benannt; sie haben gesagt, wir sollen ihn nach unserem Großvater benennen. Seitdem gehe ich jedes Jahr nach oben und wasche mein Gesicht und dann komme ich zurück. Und ich mache die ~adaqa [gebe Almosen während der Wallfahrt]. Ich habe Couscous gemacht und einen Teller nach oben [nach Sidi Al:zmad] geschickt. Ach ja, das ist die niyya. (Meknes 2006)
Dort bei ihrer Wallfahrt habe sie auch angefangen, die T:Ia4ra zu machen. Sie benennt die Kräfte und Wesen nicht, aber sie wären zu ihr gekommen, das habe sie erst >gefühltDU kennst ja die Tradition>Gott möge ihn schützen«, 'Abdullah fordert die Umstehenden auf, ebenfalls ihre Arme in die Luft zu heben. »Gott möge ihn auf dem rechten Weg geleiten«, er behält die Arme weiter oben und dehnt erwartungsvoll seine Stimme, die Arme zum Klatschen bereit. »Gott möge ihm ein Auto geben«, die Leute lachen, »damit er schneeeeell wiederkommt«, er imitiert Autogeräusche, »er möge mit viel Geld in einem Autooo wiederkommen, und«, er dehnt seine Stimme weiter und ruft halb fragend, >>er möge auch mit guten Kleidern wiederkommen?«, die weiter zunehmende Menschenmenge lacht, »mit guten Kleidern und einem Auto, amin!« Er schlägt klatschtend seine Hände zusammen und alle Anwesenden tun es ihm gleich, die Stimmung ist gelöst, die junge Frau nestelt einen 20 DH-Schein aus ihrem Portemonnaie. Die am Boden sitzenden Flötenspieler heben mit einem riJ.z an, zwei t}Jel Spieler stehen auf und drehen sich durch das Zelt. Ein Mann, der nicht zur taifa gehört, der den 'Isawis aber bekannt zu sein scheint, kommt und fungiert als Vortänzer, »seht seht«, er stösst den Atem rhythmisch aus und seine Füße wirbeln durch den Staub, er schleudert die Arme von sich und geht in die Knie. Ein Mann tanzt für sich alleine die f:tac;lra, wirft die Arme, hebt die Füsse. Einer der jungen 'Isawis aus Sidi Baba beginnt geübt zu tanzen Es bildet sich ein $aff. Eine Frau brüllt und springt auf. Der $aff ist lang. Bevor sich die Umstehenden einreihen, gehen sie in die Knie und küssen den Boden. Zwei junge Männer lassen sich eine fatf:ta sagen, zahlen die unglaubliche Summe von 150 DH, auch sie scheinen bekannte muf:tibbin zu sein; sie geben gerne, was sie haben, scheint es. Einer der beiden nimmt sich die gillaba seines Freundes - ein Zeichen der guten niyya und ritueller Reinheit - und streift sorgfältig alles ab, was ihn an der f:taq.ra hindern könnte. Dann hakt er sich bei einem weiteren Tänzer lose unter und wirft ziemlich schnell seinen Kopf hin und her, er ist ganz offensichtlich ein geübter f:tac;lra Tänzer. Zu Beginn kann er noch differenzieren, als eine Frau sich an ihm vorbeidrückt, nimmt er sich mit seinen Armen in Acht, doch dann stürzt er vor, die Kette, die er um seinen Hals trägt, zieht sich bedrohlich eng zusammen, sein Kopf droht an den Stab, der das Zeltdach stützt, zu schlagen, zwei Frauen gehen zu ihm, lösen die Kette und passen auf, dass er sich nicht schadet. Als er fertig ist, hat er Schaum vor dem Mund und macht heftige Würggeräusche, doch setzt er sich deutlich entspannt auf den Boden, zwei Kinder seines Freundes kommen zu ihm auf den Schoss. Der eine, vielleicht drei Jahre alt, macht schon sehr treffend die Bewegungen der f:tac;lra Tänzer nach, breitbeinig stampft er den Rhythmus, winkelt die Arme ab, wiegt sich, dreht sich um die eigene Achse, seine Mutter ist stolz. Umstehende leiten ihn an, »seht
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seht«, er soll die rhythmischen Geräusche nachmachen, sie brüllen scherzend wie die >Löwenda unten< fürchten sie so etwas«, hatte sie mir zuvor erklärt. Der muqaddim geht fürsorglich lächelnd um den Kreis herum, und klopft sich, den Rhythmus vorgebend auf die Brust. Auch heute Abend kommen die Show-Einlagen der Gruppe nicht zu kurz. 'Abdullah erzählt einen langen Witz, alle hängen an seinen Lippen und lachen, der muqaddim schaut ihn verwundert an, lacht, sie erfüllen die ihnen zukommenden Rollen. Die Gäste und Ausrichter der lila finden diese komische Einlage offensichtlich wunderbar, sie geht in eine fatJ:ta über, bei der die Arme weit ausgestreckt werden und bei der dritten Fürbitte, die geschickt in die Geschichte integriert und dadurch eine halbe Stunde hinausge-
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zögert wird, schlagen alle ein und einer der tbel-Spieler, der durch seine schwarze Hautfarbe aus der taifa heraussticht, macht eine Vorwärtsrolle aus dem Stand.
DIE LiLA DIEL MiLÜD >DES WESTENS< Dann endlich ist die Nacht des milild-Festes selbst gekommen. Gut 400 Menschen sind zum muqaddim der 'Isäwa des Westens angereist. Ich treffe suwäfat aus Muhammedia und Casablanca, die zum Teil erfolgreich ihre Tätigkeit in Zeitschriften bewerben, Marokkaner aus Frankreich und Belgien, aus Oujda und Rabat. Vor dem Haus des muqaddim Rasid ist eine Plane gespannt worden, unter der die Menschen Platz nehmen - die lila beginnt mit dem Umzug durch das Viertel: al 'äda, wörtlich das Hinführen zum Prophetengeburtstag, auch im ganz wörtlichen Sinne des Herbeiführens, ist zugleich die Erfüllung der, den Adepten auferlegten Pflicht.1 Dafür werden die Fahnen des muqaddim zu einem etwas entfernt liegenden, und von ihm für Migranten verwalteten Haus getragen, vor dem sich die Gruppe positioniert. Da eine Heirat zwischen seinem Sohn und einer Migrantin dieser Familie angebahnt wird, zeigt er die Verbundenheit dieser beiden Häuser an, und belegt sie mit der baraka der Prozession. Dann ziehen die Bruderschaft und die zahlreichen Adepten durch die am Straßenrand stehenden Menschen, die aus der Nachbarschaft zusammenströmen, zum Haus zurück - die Fahnen vorweg, die giy äta, tbel und ta'nga Spieler hinterdrein und in der Mitte die Anhänger und Pilger des Prophetengeburtstags. Auf dem Weg suchen besonders viele junge Frauen die Nähe der Musiker und fallen in Trance, auch Männer beginnen heftig den Oberkörper auf- und nieder zu schwingen. Immer wieder bleibt die Gruppe stehen und bildet einen geschlossenen $aff, einen Kreis, in dem die Männer und Frauen in einer gemeinsamen Bewegung Gott preisen und ihre Körper im Zeichen des Heiligen zu einer Gemeinschaft verdichten. In der Mitte wirbeln die tbel- Spieler, und die Vortänzer werfen ihre Schals in ausladenden Bewegungen in die Luft, als würden sie fliegen wollen kreisen sie ihre Arme, auch Frauen laufen als Vortänzerinnen die Reihung entlang. In diesem Zustand der gemeinschaftlichen Erregung ziehen wir in die Gasse des muqaddim ein.
1
So die Bedeutungsbreite des Wortes al-'Äda, vgl. Eintrag in Wehr (1977).
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Abb. 20: Al-'Äda (1): Viertelsumzug milüd
Als wir ankommen, setzen sich Yussuf und drei andere junge Männer, aber auch einige der alten Frauen in einen Kreis und schlagen sich auf die Brust: sie vollziehen den ljikr, bei dem der Name Gottes skandiert und zugleich in den Körper hineingetrieben wird. Eine schwangere Frau aus der Nachbarschaft stürzt laut und unkoutrolliert schreiend in die Mitte der Ritualgemeinschaft und zieht sich heftig an den langen, wogenden Haaren und schlägt um sich. Sofort sind zwei erfahrene 'Isawis bei ihr, die sie an den Armen nehmen und in die gemeinsame Bewegung des ljikr hineinzwingen, in dem sie sie auf- und nieder bewegen. Immer wieder macht sich die Frau los, schlägt mit ihren Armen gegen ihren Kopf und stößt spitze Schreie aus, die sich nach und nach in den Rhythmus des ljikr übersetzen und in gellende »aUah, allah, allah, aUah« Rufe übergehen. Am anderen Ende dieses Zeltgangs hat sich ein mu'allim aufgebaut und beginnt, die Enden eines golden eingelassenen Schals, den er um seine Schultern trägt, in die Luft zu werfen und die Bewegungen der Tänzer, die sich in einiger Entfernung aufbauen, zu koordinieren. Immer wieder läuft er durch die Menge der Sitzenden hindurch und dreht sich in großer Geschwindigkeit durch die Gasse, die zwischen den Sitzenden frei geblieben ist. Auf einmal springt ein 'Isawi auf, den ich bisher noch nicht in der taifa gesehen hatte, der aber auch ein bekannter mu'allim der /:taf}ra aus Meknes ist. Bevor jemand reagieren kann, schnappt er sich ein Glas und baut sich vor den Musikern auf. Die Tochter des Ifag hilft
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ihm, in dem sie sich bei ihm unterhakt. Aufregung bricht aus, denn alle fürchten, er wird sich mit dem Glas verletzen. Immer wieder versucht die Tänzerin ihrem Nebenmann das Glas zu entwenden, doch der hält es fest, weicht ihr geschickt aus und steigert sich mit immer ausladenderen Bewegungen in seine Trance hinein. Dann nimmt er das Glas, beißt hinein und kaut die Scherben. Einige Anwesende springen auf und beseitigen sofort Splitter, die zwischen den nackten Füssen der Tanzenden auf den Boden fallen. Auch diese lila wird durch viele fuatelJ unterbrochen, und auch heute bleibt die Tier-Trance nicht aus, die >Löwen< formieren sich zu einer Choreographie, während ein Mann in Kamel-Trance besinnungslos durch die Menge läuft und taumelt, er hat Mühe, seinen rilJ zu finden. Er schreit und schimpft, sein Atem geht pfeifend, er greift sich an den Hals und streicht sich über die Augen, es scheint ihm >bis oben hin zu stehenKameleLöwenKannst Du bestimmen, ob Du >Löwe< oder >Kamel< wirst?< Das kommt beim tehläl, je nachdem, ob Du schreist oder brüllst. Ich war
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Jahre alt, als ich zum ersten Mal Dor-
nen gegessen habe, das kommt aus der Tiefe des Menschen. Beim tehläl denke ich an die Toten, daran, dass jemand tot ist, aber ich am Leben bin. Weißt Du, ich höre keine Musik, ich höre nur tehläl, das ist meine Musik. Wenn ich in einem Cafe sitze oder in einem Bus und ich höre tehlal, dann fange ich an zu weinen. Glaubst Du ich habe kein Schamempfinden? Natürlich, aber ich kann nichts dagegen machen. Und deswegen gehe ich immer zu den lilat. Alle mu/:tibbin kommen, weil es sie gepackt hat [er macht eine Greifbewegung], auch wenn sie nur zuschauen. (Sidi 'Ali 2006)
DER UMZUG ZUM HEILIGTUM
Für diesen Abend ist die lila vorbei. Wo Platz ist, legen sich die Menschen hin und schlafen. Als wir wach werden, sitzen die jungen Mädchen mit ein paar jungen Männem im Hof und lassen auf dem Handy noch einmal tehliliit vom Vorabend ablaufen. Die gut 80 Menschen, die in und vor dem Haus übemachtet haben, bekommen heißen Milchreis. Heute, erklärt mir einer der Männer aus dem garb, bringen wir die Fahnen zu Saib al-Kiimel. Die giyiita sitzen auf ihre Maulesel auf und beginnen zu spielen, als sie in die Gasse ziehen. Nach wenigen hundert Metern bewegt sich die taifa durch Menschentrauben hindurch, die auf die Straße strömen und die Vortänzer und Adepten im $ajf befinden sich in tiefer Trance.
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Abb. 21:: Al-'Äda (2): Prozession zum Heiligtum
Einer der jungen Männer der taifa starrt orientierungslos ins Weite, tanzt die
IJaQ.ra und hebt seinen Finger an den Kopf. >>Hier wächst der /:läl dem $Gfj und seinen Tänzern wirklich aus der Menge zu«, notiere ich mir in ein kleines Notizbuch. Nach gut einer Stunde befinden sich rund 40 Leute im $Gfj in tiefer Trance, wir haben gerade einmal die Wegstrecke bis zur nächsten Kreuzung zurückgelegt. Bei geübten Tänzern kann ich sehen, wie sie ihre Augen ins Leere wandern lassen, um zu dissoziieren, und sich aus der Trance zurückholen, indem sie wieder den Blick fokussieren. Frauen und Männer in der Löwentrance schreien heiser aus und schießen auf schwarz gekleidete Menschen zu. Mit der taifa wälzt sich die Menschenmenge über die große Straße am Rande des Friedhofs von Sai!J al-Kämel. Eine >Löwin< springt gegen ein schwarzes Auto. Der muqaddim ist blass und angespannt, behält sich aber unter Kontrolle, um seine Adepten beaufsichtigen zu können. Überall auf dem Friedhof haben sich Menschen mit kleinen und großen Digitalkameras aufgestellt, die den Umzug filmen wollen. Wenn der muqaddim jemanden erblickt, bleibt er inmitten der Trancetänzer stehen und zeigt so lange auf die Filmer, bis sie die Kamera wegpacken. Immer wieder weinen Frauen und Männer im $Gjf, vor und hinter der taifa bewegen sich andere Gruppen des Westens, an ihren Fahnen sind Tücher von Bittstellern geknotet, um als 'är beim Grab des Heiligen abgelegt zu werden. Menschen sitzen in Bäumen und auf Mauem, laufen mit den Gruppen mit, stieben auseinander, wenn eine Gruppe von >Löwen< oder >Kamelen< mit abge-
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hakten Schreien, wirrem Blick und zum Teil von einer vorgenommenen frisa blutverschmiert gegen die Bewegung der Prozession durch die Menge laufen. Als immer mehr Menschen um die taifa aus Sidi Baba stehen und mit ihr den Pilgerweg zurücklegen, bleibt auf dem breiten Weg nicht genug Platz für den ijaff. Die Tänzer setzen sich hin und beginnen mit dem gikr, zu dem sie sich auf ihre Brust schlagen. Menschen bleiben vor den Pferden und den giyät stehen und fallen in Trance. In der Bewegung der Masse beginnen die Menschen zu dissoziieren, auch wenn sie nur als Zuschauer dabei sind, ich muss mich konzentrieren, um meinen Weg zu finden (später wird mir ein Bekannter sagen, der aus Neugier die Prozession beobachtet hat und diese Praktiken dezidiert ablehnt, ich hätte mich im l:zäl befunden, so wie ich ausgesehen hätte). Ich treffe in der Menge meine Freunde aus Rabat, die mir als erste Ritualaufnahmen der 'Isäwa diel garb zugänglich gemacht hatten und wie jedes Jahr zum milüd nach Meknes gekommen sind, und die mich nun freundlich begrüßen. Die Adepten in der Löwentrance greifen Menschen an, die ihnen kein Platz machen. Pilger, die wie orientierungslos und blass ins Schleudern geraten, werden zum Heiligtum vorgebracht. Der Platz vor SaitJ_ al-Kämel ist abgesperrt, Menschen sitzen und stehen rundherum und gaffen. Sobald die Pilger diesen Platz erreichen, beginnen sie zu laufen, mit weit vorgestreckten Armen und aufgerissenen Augen laufen sie zum Grab des Heiligen, um abzukühlen, wie es heißt (tbarrdu). Die jungen Männer auf der umliegenden Mauer machen sich einen Spaß, indem sie schwarze Socken in ihren Weg werfen, um sie anzuheizen und LaOla-Wellen zelebrieren, mit denen sie den >Endspurt< der Adepten ironisch feiern. Die taifa des muqaddim ist gut sieben Stunden in der Hitze unterwegs, ein Weg, der sonst in 20 Minuten zu bewältigen ist. Vor ihnen laufen zwei Adepten mit einem Tuch, in das die Umstehenden ijadaqa werfen. Je näher sie dem Heiligtum kommen, um so tiefer wird die Trance, um so größer ist der ijaff, in dem ich schließlich gut 90 Leute zähle. Ein Mann irrt in der Mitte der Reihung herum und findet den Rhythmus seines l:zäl nicht, er beißt sich in seine Hand und sucht mit wirrem Blick, bis er einen Mann in schwarzer Jacke sieht und auf ihn losstürzt. Der rettet sich auf einen nahe stehenden Baum bis der >Löwe< von anderen Adepten mitgezogen wird. Die Tiertrance wird jetzt nicht mehr in einer Choreographie ausagiert wie in geschlossenen Räumen oder auf dem Lande außerhalb des Dorfes, sondern im Umzug, in der Masse der Pilger und Besucher. Die Tänzer sind blass und haben rote Flecken im Gesicht. Immer wieder brechen >Löwen< und >Kamele< durch die Menschen, laufen den ganzen Weg gegen den Strom der Pilger bis zum Ende des Friedhofs und wieder zurück. Als ich hinter der Gruppe den Platz vor SaifJ al-Kämel hochgehe und mich zum Heiligtum treiben lasse, finde ich mich neben meinen Freunden aus Rabat wieder:
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»Wohin gehst du Martin?« Auch im Ritual, in dem die Ordnung der Menschen in der wilden Tiertrance ausgesetzt wird, habe ich als Nicht-Muslim keinen Zutritt, auch von Akademiker-Kollegen wird diese rituelle Grenze gezogen. Ich warte eine Weile am Eingang. Eine Frau stürzt nach einer frisa aus dem Mausoleum an mir vorbei, ihr Mund und ihr Gesicht ist blutverschmiert. Die Menge schreit auf. Erschöpft und mit zitternden Knien stehe ich auf dem Platz. Ich erblicke einige Frauen aus der taifa, die mir bedeuten, doch mit zum Essen zum Hause des muqaddim zu kommen, aber es ist vollkommen unklar, wann die Gruppe wieder aus dem Heiligtum herauskommen wird und ich stehe kurz vor einem Kollaps. Deswegen gehe ich zuerst nach Hause, um mich auszuruhen. Als ich am Nachmittag endlich wiederkomme, sitzen die Frauen zusammen und unterhalten sich über den Umzug, wer wie getanzt hat und was alles passiert ist, alle lachen und scherzen. Die Männer sitzen um einen Tisch und trinken Tee. Der Gang nach Sidi 'Ali wird geplant. Der Jjalifa lacht auf: »Lalla 'AiSa bringt uns l]ubza [Brot] ,, und nimmt den ökonomischen Aspekt des müssim in den Bergen vorweg.
DIE GRUPPEN DER MEDINA Auch für die I;lamdüSis und 'Isäwis der Medina - deren junge Musiker sich zunehmend vermischen - war die Zeit des milild eine rituelle Hoch-Zeit, in der die wichtigsten muqaddimin prestigiöse lilat ausrichteten, auf denen die Künstler sich gegenseitig ihr Können demonstrierten und mit Musikanlagen und Mikrophonen verstärkt eigene Bühnen in Innenhöfen und Privathäusern errichteten, zu denen die Menschen der Medina strömten. Für alle Bruderschaften gab es vermehrt Einladungen, nicht zuletzt, weil landesweit die Arbeit ruhte und Familienfeste wie Beschneidungen durchgeführt wurden, welche die Gruppen aus Meknes bis nach Casablanca und Rabat führten. Gerade die 'Isäwa führten vermehrt lilat in lfamriya und anderen reichen Vierteln der Stadt durch, an denen ich nicht teilnehmen durfte. Die Leute wären >>ZU fein«, wie mir meine Informanten entschuldigend erklärten, sie wären »zugeknöpft>Schaf- und Ziegenherden«, die der König gerade bei Lalla 'AiSa hat opfern lassen. Die Fahnen werden aufgesteckt und alles auf einen Schiebewagen gelegt und dann laufen wir los. Da wir noch ein wenig früh sind bzw. von vorneherein eine lange Wartezeit einplanen können, bis der Umzug beginnt, gehen 'Abd al-Wälfad und ich erst noch zum Friseur und lassen uns rasieren. Wir rauchen und trinken Kaffee und schauen auf den großen Place alHedime, wo ein Teil einer ländlichen Bruderschaft der 'Isäwa des Westens unterwegs ist und von Tisch zu Tisch geht und um $Udaqa bittet. Sie haben offensichtlich einen weiten Weg hinter sich gebracht, um am Prophetengeburtstag teilzunehmen. Sie ziehen sofort Aufmerksamkeit auf sich. »Spielt Ihr nie draußen?« frage ich 'Abd al-Wälfad und meine die Bruderschaften der Medina. »Nein, [JSuma, sich draußen hinstellen und die Hand aufhalten. Wir spielen in Häusern. Die Leute suchen uns auf, um uns zu bitten, eine lila für sie zu machen, oder ein Beschneidungsfest. Wir sind von der Medinak Schließlich brechen wir auf und warten mit den anderen Bruderschaften auf dem, nach der Frau Mülay Ismä'i/s benannten Platz Lalla 'Uda, dass das Spektakel beginnt. Man kennt sich und unterhält sich, man scherzt miteinander. Der !Jalifa Ma]fmüd führt mich von Gruppe zu Gruppe und führt mich genauso vor, wie er die Bruderschaften mir vorführt. Eine >Event-Managerin< regelt die Reihenfolge der Bruderschaften und die Aufstellung. Nach langem Warten geht es los. 'Abd al-Wäl)ad und ein kommerzieller @ta-Spieler, der aufgrund seines Könnens immer wieder bei den Ifamäd.Sa angefragt wird, sitzen hinten auf Eseln, alle anderen stellen sich vor ihnen auf. Dann ziehen wir durch das Tor der Stadtmauer, Tareq, der mul kamera, kniet auf der Strasse und filmt die Bruderschaft. Gleich zu Beginn ziehen die Bruderschaften an der Tribüne des wäli vorbei, auf den mich Umstehende besonders aufmerksam ma-
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chen. Dicht an dicht stehen die Menschen und schauen zu. Es ist eine ausgelassene Stimmung. Alle sind dabei, wie mir 'Abd al-Wäl).ad versichert.
Abb. 22: Ein Kameramannfilmt den Beginn einer Prozession (IfamadSa) Vor allem viele 'Isäwa-Gruppen tragen ihre Schilder vor sich her, auf denen die Kontakt-Adresse zu lesen ist, die meisten von ihnen in den traditionellen T:zendiT:zendirat gekleidet. Nicht wenige junge Männer kenne ich aus der gam'iya diel Melf:ziln, dem Verein zur Pflege der marokkanischen Volksdichtung und -Iieder. Viele Jungen aus den Stadtvierteln rings um die Altstadt fangen bei den Bruderschaften als Halbwüchsige an und besuchen bei entsprechender Begabung später die Vereine des Melf:zün, wo sie sich zweimal die Woche treffen und gemeinsam diese Liedgedichte singen und das Spielen melodischer Instrumente wie der Geige üben.
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Abb. 23: Die Bühne der Würdenträger
Nachdem die Tribüne der Honoratioren passiert ist, macht sich etwas Unmut breit. Es stehen keine Menschen mehr am Straßenrand, einzig eine alte Bettlerio läuft mit den Ifamäd.Sa mit und bewegt sich in ihrem Rhythmus. Einige der Musiker sind bereits zwischen siebzig und achtzig Jahre alt, für sie ist es besonders anstrengend, in der fortschreitenden Prozession die Trommeln zu tragen und zu spielen. Schließlich brechen sie ab und laufen missmutig weiter. Bei der Planung ist nicht bedacht worden, dass die Männer einige Kilometer zum Ort des Festivals laufen müssen, vielleicht ist es den Organisatoren aber auch schlicht egal gewesen. Immer wieder kommen wir durch Straßenabschnitte, wo kaum Menschen als Zuschauer stehen. Angesichts meiner eigenen Erschöpfung und schmerzender Gliedmaßen möchte mir kaum vorstellen, wie es den alten Männern gehen muss, die mit den schweren guwalat auf den Schultern und zumeist nur mit balgä an den Füßen die weite Wegstrecke laufen müssen. Schließlich kommen wir am Ort des Geschehens an. Wir werden in ein Zelt hinter die Bühne gelotst und warten. Nach einer Frauen-Gruppe aus Chefehauen kommen die J:Iamädsa als Letzte auf die Bühne. Vorab ist es noch zu kleinen Auseinandersetzungen gekommen, weil 'Abd al-Wäl).ad die Sequenzen der Vorführung zusammenziehen wollte, um den zeitlichen Rahmen einzuhalten, der ihm vorgegeben wurde. saib 'Alläl ist empört: »Das ist nicht die Art,
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wie es sich gehört«. Dann werden sie aufgerufen: >>Die taifa IfamdüSia bu!Järia aus Meknes unter dem muqaddim 'Abd al-Wa]J.ad al-'awäd.Mann am Set>allah! Sind die zerstritten!« Wir schieben uns durch die überdachte Hauptgasse durch die Pilgermassen an Cafes und Ständen mit Opfergaben vorbei.
Abb. 25: Das Heiligtum von Sidi 'A li
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Überall sind Lautsprecher aufgebaut, aus denen westliche und arabische Popmusik dröhnt, und vor allem die Musik der f:lamadsa, 'Isäwa, Gniiwa und Giliila, den wichtigsten tariqat für die Trancekontexte, für die dieser Pilgerort berühmt ist. Die meisten Wechseldatenträger, die abgespielt und zum Verkauf angeboten werden, sind VCDs, Visual CDs, die zugleich auf kleinen und größeren Bildschirmen gezeigt werden. In Großaufnahme sind Männer und Frauen zu sehen, die sich die Beine und Arme zerschneiden. Im Laufe der nächsten Tage werde ich häufiger Kameraleute durch die Zelte ziehen sehen, die diese Aufnahmen der /:lac}.ras aus dem Schutz dunkler Ecken anfertigen. Als wir zur Wegkreuzung kommen, an der es » ZU lalla 'AiSa« geht, d.h. zu dem gigantischen Feigenbaum, unter dem ihr geopfert wird, warten Musiker, die im Minutentakt /:!ac}.ra-Tänzer zur Opferstätte begleiten. Krüppel und Menschen mit verdrehten und verklumpten Gliedmaßen sitzen am Wegesrand oder in der Mitte der Pilgerströme und lassen sich vor die Füße der Vorübergehenden fallen, um etwas ~adaqa zu bekommen. Wenn wir uns ein wenig drehen, fällt unser Blick auf ein riesiges Werbebanner einer in Marokko weit verbreiteten Handy-Firma, Meditel, das auf der Mauer einer alten Burganlage angebracht ist. Tami, ein begnadeter entrepreneur der Besessenheitskulte, den ich beim muqaddim Rasid kennengelernt habe, zieht an uns an der Spitze eines langen Umzugs vorüber, in dem drei Fahnen, drei >tifürSteuern< bei der Dämonin abliefert, wie mir erklärt wird. Als ich später zum Zelt von Tami komme, sehe ich ein professionell befestigtes, riesiges Party-Zelt, mit weiträumigen Absperrungen vor dem Eingang, hinter denen die Upper-Class Marokkos über rote Teppiche das Zelt betritt. Fast alle jungen Männer aus der taifa von Si Rasid arbeiten für ihn. Er hat alle Arten der musiqa rü/:lia im Angebot: Gniiwa, Giliila, f:lamadsa, 'Isäwa, bei den Letzteren sowohl die Traditionen des Westens wie der Medina und häufig beides gemischt- und man sieht überall junge Leute für ihn im Laufschritt Kleidung, Fahnen und andere Utensilien quer durch das Heiligendorf- zum Feigenbaum 'AiSas und zurück - tragen. Ich sitze mit Si Rasid, seinem /:lalifa, dem lfag und einigen anderen Gruppenmitgliedern am Eingang des Zelts. Es werden geschäftliche Dinge besprochen, dann schickt uns Tami zu einem Haus, wo Rasid und seine alten Musiker aus dem Westen auftreten sollen. Als festliche Einleitung wird die taifa von Tami selbst mitgeschickt, alles hübsche junge Männer in gepflegten, neuen Kleidern, die einige 'ayiit und mad/:1 (Prophetenpreisungen) der Medina an-
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stimmen. Als wir in dem Haus ankommen, empfängt uns ein Hüne mit langen, zu einem Zopf geknoteten Haaren. Verschiedene Ketten baumeln von seinem Hals und über das eng anliegende Netzhemd. Hüftschwingend mit lässigen Bewegungen winkt er die Musiker hinter sich her, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken. Der Raum ist voll mit jungen Männern, die offensichtlich aus der homosexuellen Szene Casablancas kommen. Die Alten verziehen keine Miene und setzen sich in ihren ländlichen gläleb in die vorgesehene Ecke. Die jungen Männer der taifa schauen sich um, grinsen zum Teil, aber der Wortführer schüttelt nur den Kopf: ja l:zaräm. Nachdem mit Si Rasid der Preis ausgehandelt wurde, setzt er sich dazu und lässt mit verkniffenem Gesicht die Musiker anfangen. Die Abneigung der 'Isäwa ist überdeutlich. Zuerst packen die Jungen ihre Instrumente wieder ein und ziehen davon. Die Alten spielen weiter, doch nur eine Frau aus dem Nebenraum stellt sich vor die Musiker und macht die l:zar;Ira. Erschöpft bricht sie auf einem Stuhl zusammen, der Hüne, offensichtlich ein suwäf, bringt ihr ein Glas Wasser: "Trink Liebes«. Keiner der anderen Besucher hört der taifa wirklich zu. Schließlich bekommt die Gruppe das Zeichen, dass sie gehen können und wird aus der Tür komplementiert. Die Gruppe bekommt für den kurzen Auftritt mehrere hundert Dirharn und erklärt mir entschuldigend, dies sei >Arbeit für Geld>Schwulenhochzeiten« in den Medien hoch gespielt. Wie ein Jahr später in der Zeitschrift TELQUEL zu lesen ist, werden beim folgenden müssim Hilfspolizisten am Eingang postiert, die homosexuell wirkende Männer wieder zurückschicken. Neue Formen medialer Öffentlichkeit bringen diese Praktiken in Bedrängnis. Für liminale Orte und Zeiten gepflegt, geraten sie in Misskredit im normativen Diskurs der marokkanischen Öffentlichkeit. Wie mir Frank Weite aus seiner Feldforschung aus den 1980er Jahren berichtet, sind Hochzeiten unter Männern auf den Heiligenfesten und an diesen Orten nicht ungewöhnlich (mündliche Mitteilung 2008). Homosexualität wird auf Dämonenbesessenheit zurückgeführt, die entsprechend in diesen Kontexten behandelt wird - und sich hier einen Raum schafft, wie der westliche Beobachter, genauso wie die argwöhnende marokkanische Öffentlichkeit konstatieren. Angesichts der Unmengen an Opfertieren, die unter den Feigenbaum der Dämonin getrieben werden, wird deutlich, dass es sich beim müssim um ein großes Vergeudungsfest handelt. Opferfleisch etwa vom Schaf ist billig zu kau-
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fen (12 DH statt normaler Weise 50 DH das Kilo) und wird vermutlich von den Metzgern, die die Opferstätte für die Festtage gepachtet haben (für 6000€, wie mir berichtet wird), noch bis nach Meknes gefahren. Gegen Mitternacht sehen wir erneut einen Umzug von Tami an uns vorbeiziehen - er verdient ebenfalls 6000 Euro in diesen Tagen - Geld, das er nach eigenen Angaben alles verteilteine unvorstellbare Summe, die drei Jahresgehälter eines einfachen Handwerkers wie eines 'awäd ausmachen. Diesmal sind es zwei, ganz in weiß gekleidete Schwestern, die zur 'AiSa ziehen und die ich bereits mit dem muqaddim Si Rasid in einem der Zelte der Wulad ljalifa getroffen hatte, wo sie sich »J:tenna gemacht« haben. Eine der beiden ist aus Fes, wie ich von ihrem Mann erfahren hatte, als wir im Zelt etwas abseits standen und ihrer J:tacj.ra zusahen, für die sie jedem Musiker 200 DH an die Kleider steckte. Dadurch präsentierte sie sich als wohlhabende und deswegen erfolgreiche Seherin. Er hatte lange Jahre in Holland als LKW-Fahrer gearbeitet. Dort würden auch Wulad Ijalifa arbeiten, versicherte er mir- im weiteren Verlauf meiner Feldforschung sollte ich ihn gelegentlich in Begleitung seiner Frau auf Trance-Nächten in Meknes und Fes wiedersehen. Rasid beobachtete während unseres kurzen Austauschs die Tanzenden - ein junges Mädchen brach speiend und würgend nach ihrer J:tacjra am Zeltrand zusammen. Yussuf, der junge Mann aus seiner taifa, macht ihm unterdessen Verschwörerische Zeichen, mit denen er das rituelle Kerben der Armen durch ein Messer andeutete. Jetzt, um Mitternacht zieht die suwäfa mit Musik der Gilala unter Anleitung von Tami zu Lalla 'AiSa, nur Frauen ziehen mit, in deren Mitte ein mbatJraTräger und ein mul Kamera, ein Kameramann, gehen. Die Sehende steht mit einem riesigen Messer in der Mitte der Frauen, mit dem sie ihre J:tacj.ra tanzt, sie zittert am ganzen Körper und weint. Dann ziehen sie die Treppe hinunter in Richtung Lalla 'AiSa, immer hinter den Fahnen her. Der Zug hält immer wieder an, die Frauen umringen die Seherin und tanzen lachend um sie herum. Sechs Lämmer und Ziegen werden vor ihr her getrieben. Junge Männer drängeln sich um die Frauen und machen einen Riesenklamauk, als einige zu wild werden und die Ordnung des Umzugs sowie die Inszenierung ihrer Besessenheit zu stören drohen, greift sie sie mit dem Messer an. Der muqaddim ruft die jungen Männer zur Mäßigung auf. Immer wieder bleibt der Zug stehen und die Seherin tanzt ihre J:tacjra, umringt von den Adepten. Die Partystimmung der Frauen steigert sich unter dem Feigenbaum der 'AiSa zu einer wilden Trance, ein Mädchen kollabiert in den Matsch und das Opferblut am Boden. Wir stehen dicht an dicht mit Pilgerinnen und Pilgern unter dem Blätterwerk des Feigenbaums. Im Wurzelgeflecht brennen hunderte Kerzen, deren Hitze meinen Rücken wärmt. Die Pächter der Opferstelle haben einen Teil abgetrennt, in den die Se-
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herirr und ihre Adeptinnen nun von einem Hilfspolizisten gelotst werden. Nach gut 10 Minuten läuft die Festgemeinschaft >abgekühlt< wieder zurück.
AL-LiLA 'AMT AL-MALIK: DIE LiLA DER KÖNIGSTANTE
Stolz hatte mir 'Abd al-Wa]J.ad erzählt, dass er die lila für die Tante des Königs ausrichten wird, eine der Schwestern von I:Iassan li. Wir ruhen uns am Nachmittag ein wenig im Haus von 'Abd er-Ra]J.man aus, das gleich am Eingang zu Sidi AIJmad gelegen ist. Er ist ein sarif, ein Nachfahre von Sidi AIJmad, wie Sidi 'Allal auch. Doch er ist im Dorf geblieben, ein reicher Bauer, der Felder und Tiere sein eigen nennt. Das mehrstöckige Haus beherbergt in mindestens sechs Zimmern unzählige Pilger, die zum müssim angereist sind und zugleich eine lila in seinem Haus ausrichten wollen. Sie kommen aus Casablanca, Rabat, Kenitra, Tanger, und sie sind vor allem Frauen. Irgendwann erscheint endlich auch der Kameramann Tare>ma f:$awemiS« (fotografiere mich nicht!) entgegen, das gehört für ihn dazu und scheint ihm keine Probleme zu bereiten. Nach einer Weile klingelt es unten an der Haustür. Die Gruppe der jungen 'Isdwis ist mit einem kleinen Pickup vorgefahren. Es geht los, es dämmert bereits. Sie ziehen die f:tendirat aus dem Wagen und ziehen sie an. Kurzerhand wird mir eines dieser wollenen, mit Spiegelplättchen versehen Gewänder übergeworfen. Wir laufen ein paar hundert Meter bis vor das Heiligtum und 'Abd al-WäJ:iad und 'Abd er-Ra]J.man beginnen, die @ta zu spielen. Die jungen 'Isdwis nehmen die bnadir und einen tbel und beginnen rhythmisch auf ihre Instrumente zu hauen. Neben 'Abderraf:tman, der selbst auch als Vorsteher Musiker um sich versammelt und Ritualnächte ausrichtet, und 'Abd al Wä]J.ad sind noch zwei junge Männer dabei, die erfolgreich als muqaddimin auf dem lokalen und internationalen Foklore-Suq der Bruder-
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schaften tätig sind. Sofort sind wir umringt von Männem und Frauen, die des Weges kommen oder sich neugierig nähern. Ich stehe mit Said und zwei weiteren 'Isawis im ~aff. In seiner typisch verhaltenen Art ist Said ein denkbar schlechter Nebenmann, um mich in meinen ungelenken Versuchen, in den Rhythmus zu kommen, anzuleiten. Immerhin habe ich eine /:lendira an, die, einmal im Schwingen, die Bewegungen fast schon verselbstständigt: >>So schwer sie ist, erleichtert sie es mir, man wird leicht, fliegt«, schreibe ich später in einer Pause in mein Notizbuch. Immer wieder stellt sich ein Mann mittleren Alters neben mich in den ~aff und versucht lachend die Männer anzutreiben - es ist der Hausherr, bei dem die lila stattfindet und der die ganze Nacht über bemüht sein wird, gute Stimmung zu verbreiten. Umstehende Frauen fallen in Trance- die daßlaistim vollen Gange. Vor der Haustür empfangen uns zwei Frauen mit Tabletts, auf denen Datteln und Milch gerichtet ist. Wir Tänzer folgen ihnen ins Haus und stellen uns an der Wand entlang im ~aff auf. Die Musiker stellen sich uns gegenüber. Die Gäste der lila stehen und sitzen uns gegenüber in einem großen, repräsentativen Raum. Eine einfache Frau stellt sich vor uns und macht die /:lacf.ra. Als die Musik abbricht, obliegt es 'Abd erRal)man die fat/:la zu sagen - er ist der Älteste. Die Gäste der Ritualnacht und wir Musiker drehen die Handflächen nach oben: »amin, amin, amin, amin, amin«, antworten wir jeweils auf die Segenswünsche für den König, die Herren des Hauses, die anwesenden Gäste, die Gemeinschaft der Muslime etc. Dann ziehen wir uns in einen Nebenraum zurück. Die kif-Pfeife kreist, und die anwesenden 'Isäwa erzählen sich Geschichten. Der Hausherr setzt sich dazu. Oben am Eingang des Siyyid würde ein Mann stehen, der Kerzen verschenkt und den Leuten sagt: Nimm diese mit nach Hause, er hält zwei Kerzen hoch. Einer der muqaddimin aus Meknes küsst sie. »Das ist niyya«, sagt 'Abd alWäl)ad. Er geht wieder in den west, den repräsentativen Salon des Hauses, und wir folgen ihm, es kommt zum mgerred (eine Sequenz im Ritualverlauj), die 'Abd al-Wäl)ad mit einem bendir anleitet. »Alla"' allah, ja Mülaynagingenmarokkanisch< identifiziert, auf Festen erfahrbar wird und der Rückversicherung einer kulturellen und nationalen Identität dient. Doch der nationale Raum, der hier zur Geltung gebracht wird, zeichnet sich durch seine trans-nationale Gestaltung aus und spiegelt die vielfachen sozialen, politischen und kulturellen Prozesse in den Lebenswelten von (wiederkehrenden bzw. Trans-)Migranten und Migrantinnen und Marokkanern vor Ort. Die Rituale der 'Isäwa sind berühmt für Trance- und Besessenheitszustände und verhandeln Identität, insofern Subjektivität und Fremdbestimmung, Privates und Öffentliches ausagiert und kommentiert wird. Die Folklorisierung ihrer Praktiken auf lokalen, nationalen und internationalen Bühnen strukturiert Öffentlichkeit für und mit diesen lokalen und letztlich körperlichen Handlungs- und Erfahrungsbereichen, die von Migrantinnen und Migranten nachgefragt und inszeniert werden. Der »Unscharfe« Begriff der Diaspora (Safran 2004) erweist sich in diesem Kontext als heuristisch sinnvoll, denn als Arena multipler Verortungen thematisieren Hochzeiten und andere Familienfeiern in Marokko immer auch die Diaspora-Erfahrung des »not being there« (vgl. Kokot/Tölölyan/ Alfonso 2004). Auf der anderen Seite zeigt meine stationäre Feldforschung in Marokko zweierlei: Zum einen lassen sich Migration und kulturelle Praxis nur triadisch charakterisieren- über die Kontexte der Herkunft, des Wohnortes und der vielen sozialen Zwischenräume von verstreut lebenden Individuen. Ein Umstand, der zu Recht von der neueren Transnationalismus-Forschung betont wird (vgl. Vertovec 1999; Weißköppel 2005). Zum anderen wird deutlich, dass Transformationsprozesse, die als Folklorisierungen und Kulturalisierungen religiöser Praxis verhandelt werden, nicht allein aus der Migrationserfahrung erwachsen (vgl. Sökefeld 2004). Folklorisierung, so möchte ich zeigen, elaboriert vielmehr lokale, kulturelle Techniken für die Gestaltung, Verortung und Erfahrung eines kulturellen Raumes »On a moving earth« (Clifford 1986:22).
NATIONALE HOCHZEITEN Die Heiligengräbern regelrecht gesprenkelte, marokkanische Landschaft verdichtet sich zu einem »territory of grace« (Horden/Purcell 2000), dem der König als »Führer der Gläubigen [' amir al-mu'minin]« vorsteht. Wie Geertz zu Recht hervorhebt, kommt marokkanische Identität in seiner Person zur Geltung: Das ethnisch, sprachlich und kulturell stark differierende Marokko findet in der Huldigung seiner Person, in der Anerkennung seiner rituellen Führung und in der Unterwerfung unter seine vermittelnden Schiedssprüche zu nationa-
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ler Einheit (vgl. Geertz 2005; Combs-Schilling 1989; Dennerlein 2001). Angesichts von ca. drei Millionen Marokkanern und Marokkanerinnen, die im Ausland leben - immerhin 10 Prozent der Bevölkerung, deren finanzielle Rückflüsse in ihr Heimatland eine nicht zu ersetzende Einnahmequelle ausmachen (ca. zwei Milliarden Euro jährlich) - stellt sich für die Monarchie zunehmend die Frage, wie sie das Netzwerk an Loyalitäten aufrechterhalten kann, das ihre Macht absichert (vgl. Geertz 2005: 51). In Marokko selbst ist die Reisetätigkeit des Königs Programm, um seinen Einfluss zur Schau zu stellen: In allen Teilen Marokkos befindet sich ein Palast, der von einem großen Stab in ständigem Betrieb gehalten wird. Kommt der König in eine Stadt, wird diese herausgeputzt und die Straßen, wann immer er sich von A nach B bewegt, festlich geschmückt und für die wartenden Massen gesperrt. Die Bruderschaften stehen über Stunden am Straßenrand und erwarten die Vorüberfahrt des Königs, um ihm mit ihren Gesängen zu huldigen. Der Besuch einer marokkanischen Hochzeit erinnert nicht zufällig an diese öffentlich-staatlichen Zeremonien. Wie der Auftritt des Königs, so wird der Auftritt des Hochzeitpaares von einer Bruderschaft begleitet, deren Erscheinen den festlichen Charakter des Abends unterstreicht, 1 und die besonders gerne von heimkehrenden Migranten und Migrantinnen zur Hochzeit engagiert werden. So wurde eine Bruderschaft, mit der ich eng zusammengearbeitet habe, engagiert, um auf der Hochzeit eines in den USA studierenden Paares die Gäste hoheitlich zu begrüßen: Über Stunden saßen wir in den wollenen Kostümen der Bruderschaft im Eingang und ließen die Gäste an uns vorbei defilieren, bevor ihnen von einem 'abid, einem Bediensteten im traditionellen Aufzug eines königlichen Palastsklavens, die Tür zum exquisiten Hotel geöffnet wurde.
1
Bereits der frühe Marokko-Ethnograph Edward Westermarck zieht diesen Vergleich, wenn er das Erscheinen des Bräutigams mit dem des Sultans und seiner Entourage vergleicht (vgl. Westermarck 1914: 274f.).
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Die festlich gekleideten Gäste machen dem Brautpaar und ihren Familien ihre Aufwartung und zelebrieren den Statuswechsel der Heiratenden. Insofern ist es weniger der (kommende) Vollzug der Ehe, der im Mittelpunkt der Zeremonie steht (so Salih 2002), als die Präsentation der Eheleute in den sozialen Netzwerken der beiden Familien: Braut und Bräutigam präsentieren sich den Gästen auf einem Thron und werden im Laufe der Feier in kleinen Sänften geschultert, von denen sie Süßigkeiten werfen und den anwesenden Gästen zuwinken. Während beide im Takt der Musik durch den Saal und aufeinander zu getragen werden, wird ihre rituelle Erhöhung angezeigt und die Verbindung der beiden Familien symbolisch dargestellt. Die hoheitlich inszenierten Hochzeiten dienen angesichts von Migration und der Aufweichung sozialer Bindungen der Wieder-Annäherung und Revitalisierung der verschiedenen Netzwerke in Marokko und im Ausland. 2
Abb. 29: 'Isäwa begrüßen Gäste einer Hochzeit
2
Ich beziehe mich mit dem Begriff des >Annäherung< auf das zentrale Idiom der >Nähe< (qariiha), mit dem soziale Beziehungen beschrieben und bewertet werden (vgl. Eickelman 1976).
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Die Hochzeit wird unter mehrmaligem Kleiderwechsel von Braut und Bräutigam begangen: neben ausgewählten, verschiedenen Kaftanen mit Überwurfl (takSitat), die mit phantasievollen Namen belegt werden wie al-'amira (die Prinzessin), trägt die Braut in der Regel den >>großen Aufzugtraditionelle>Das ist mein Land, watani, ich bin MarokkanerinWertal-Fassia< wird auch allebsa al kbira genannt, wörtlich: die große Kleidung.
5
Insofern gilt dies auch für die in manchen Teilen Marokkos verbreitete Parallel- bzw. Kreuzkusinenheirat.
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bevor sie ihren, durch die Hochzeit initiierten, neuen, sozialen Status erhalten. Die Braut zeigt »ihr passen alle Kleider", wie mir gesagt wurde: Braut und Bräutigam stellen ländliche Frauen aus dem hohen Atlas und Männer in traditionellen gläleb) dar, sie verwandeln sich zu Protagonisten aus den sauberen Herz-Schmerz-Filmen aus Bollywood und werden schließlich zu europäischer Braut und erfolgreichem Herr im schwarzen Geschäftsanzug, wie er im übrigen auch das Stadtbild prägt, wenn die Entourage des Königs Einzug hält. Sie repräsentieren verschiedene Formen »paralleler ModemitätenlliJ,.S...I.FiJ~~~.;W.J 6/I>.J ... JöHJ~,6..;'l4,~~~~.u:.l~~.~~~
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Abb. 32: Werbeauftritt einer Bruderschaft im Internet
Diese im Internet werbende Bruderschaft der 'Isäwa präsentiert sich als Teil der »authentischen«, religiösen Festkultur Marokkos. Wie alle Akteure auf dem Folklore-Suq10 der Bruderschaften, die es sich leisten können, hat auch diese Gruppe in die Anfertigung traditioneller Kostüme, den f.Iendirat, investiert, die ein Emblem marokkanischer Kultur geworden sind und allgemein mit den 'Isäwa in Verbindung gebracht werden. In dem durch das Gruppenphoto zugleich illustrierten Werbetext wird »authentische«, marokkanische Kultur außerdem an sakralen Gesängen, weiterer, traditioneller Kleidung (gillabas) und Accessoires wie dem Rauchgefäß (mba[lra) festgemacht, das in der Bildmitte vor den Männern aufgebaut ist. Alle Mitglieder der Bruderschaft tragen weiße Socken in den ebenso traditionellen, gelb gefärbten Schlupfschuhen (blgas bzw. barbouches), die, wie auch das über dem Kopf gebundene Tuch, Teil feiertäglicher Kleidung der Männer in Marokko sind. Rechts und links sind die Fanfaren ausgestellt und die Fahnen der Bruderschaft, auf denen Zitate aus dem Koran gestickt sind. In der Mitte sticht der auf Hochzeiten unvermeidliche, und oben bereits erwähnte 'abid in dem traditionellen Aufzug eines königlichen Palastsklavens heraus, der landläufig mit der Selbstinszenierung des berühmt-
10 Diesen Begriff übernehme ich von Leistle (2007): 93.
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berüchtigten Sultans und Staatsheiligen Mülay Isma'il (1645-1727) assoziiert wird, und noch immer Teil der Inszenierung des marokkanischen Königshauses ist. Durch Kostümierung werden Menschen >>culture incarnate«, wie es in einem von Victor Turner kuratierten Ausstellungskatalog zu Festkulturen einmal heißt (Smithsonian Institution 1982: 68), sie verweisen im Falle der kostümierten 'Isawa auf einen >Inbegriff, marokkanischer Kultur, der Teil einer wachsenden Kulturindustrie in Marokko ist. Diese Kulturindustrie transportiert die Praktiken der 'Isawa in die transnationale Öffentlichkeit, transformiert sie und wird andererseits von ihnen gespeist - in den Worten von Paul Sant Cassia ein »double investment«, das er anband musikalischer Traditionen auf Malta untersucht hat und für populäre Praktiken in kulturell-geographischen Randlagen im Mittelmeerraum nachweist (Sant Cassia 2000). Zugleich verortet diese Folklorisierung die beteiligten Akteure im transnationalen Raum. So dient das Engagement der 'Isawa als Bühne für die Migrantinnen und Migranten, die in den sozialen Netzwerken und konkreten Nachbarschaftell kulturelle Kompetenz demonstrieren, indem sie vor der Hochzeit die Bruderschaft in einer Prozession die Geschenke an die Braut überbringen lassen. Bei der oben bereits zitierten Internetpräsentation der 'Isawa Bruderschaft aus Meknes wird deswegen besonders auf die Gestaltung dieser Prozession hingewiesen und mit einem Photo beworben. Auch hier (Abb. 33) ist die mbal]ra, das Rauchgefäß, nicht zufällig ein exponierter Gegenstand in der Prozession. Es markiert hohe, religiöse Feiertage, wie den Prophetengeburtstag und lokale Heiligenfeste, an denen das von wohlriechenden Rauchschwaden umgebene Gefäß von den Bruderschaften in einer langen Prozession in Tanzschritten zum Grab ihres Gründungsheiligen gebracht wird. Genauso ist es integraler Bestandteil dieser öffentlichen Prozession der Bruderschaft zum Hause der Braut, dabei trägt sich mit den Geschenken zugleich der Bräutigam selbst in den lokalen Kontext zurück und verschafft ihm öffentlich Geltung. Das Rauchgefäß ist zudem in dieser handwerklich ästhetisierten oder schlicht in der rein funktionalen Form eines Kohlebeckens (nafel]) integraler Bestandteil von Tranceritualen, die von den Bruderschaften veranstaltet werden, da der Duft der Essenzen die Dämonen anspricht, wodurch die von ihnen besessenen Menschen in Trance fallen. Zugleich besänftigen sie die Dämonen und lindern die Folgen der Trance.
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Abb. 33: Werbefoto im Internet
Teure Essenzen, allen voran Weihrauch, sind auch Teil der Brautgeschenke, die in der Prozession überbracht werden (vgl. schon Westermarck 1914: 82f.) und werden zur Behandlung gegen den bösen Blick genutzt; wie bereits erwähnt, sind Braut und Bräutigam während des Schwellenritus besonders gefährdet für malevolente Kräfte und Schadensmagie. Der Anblick der Rauchschwaden und die Gerüche, bzw. das Rauchgefäß haben also eine zentrale indexikale Funktion, da sie sowohl auf religiöse wie familiäre Feste verweisen. Dieser Verweischarakter scheint mir für die gelungene Inszenierung kultureller Identität zentral zu sein. Auch wenn bei der freudigen Präsentation der Familie in der Öffentlichkeit Dämonen und individuelle Dissoziation in Trancezustände nicht thematisiert werden (allah istir, Gott bewahre), verweist das Auftreten der Bruderschaft als kulturell intime Praxis auf die Erfahrungsmöglichkeit der Trance, die die nach innen gerichtete Kehrseite der Folklore darstellt. Hochzeiten und andere Feste sind Rituale, die nicht für sich stehen, sondern gerade deswegen als Träger kultureller Inszenierung dienen können, weil sie in andere externe, rituelle und nicht religiöse Kontexte eingebettet sind bzw. auf diese verweisen. Wie Gladigow systematisch und begrifflich überzeugend herausgearbeitet hat, geben die entsprechend bestimmbaren Sequenzen eines Rituals durch ihre externe Vernetzung Leseanweisungen für die Kultteilnehmer, was sie >>tun, sehen, erfahren, vielleicht sogar: glauben sollten" (Gladigow 2004: 60). Wenn solche
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Ritualsequenzen einerseits hoch spezifisch sind und andererseits in anderen, unterscheidbaren Ritualen vorkommen, spricht Gladigow von »rituellen Zitaten« (ebd.: 61), die so etwas wie eine »lnterritualität« herstellen- Verbindungen, die durch bestimmte Indizees angezeigt werden können. Die Auftritte der 'Isawa-Musiker vor und auf der Hochzeit erzeugen eine Fülle an akustischen, visuellen, haptischen und sensitiven Erfahrungen und Assoziationen, die es in den Blick zu nehmen gilt. Ihre rhythmische, durch Schellen, Trommeln und sogenannte Oboen (ffita) erzeugte Musik, die Gesänge und Preisungen, die von den Musikern und dem Publikum angestimmt werden, die Tanzschritte, mit denen sich die Anwesenden zu einer Festgemeinschaft verbinden und die »communitas-Erfahrung« des Rituals evozieren (Turner 1969), die Kleider und Gegenstände, die auf den Festen gezeigt und gebraucht werden und, last but not least, die Gerüche und Geschmäcker, die erzeugt werden, evozieren eine festliche Atmosphäre, die unter Marokkanern als typisch marokkanisch kommuniziert wird und auf unterschiedliche familiäre, sakrale und politisch-repräsentative Kontexte verweist. Diesen Verweischarakter möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, das die Rolle von Folklore und Tradition im transnationalen Raum entschlüsseln helfen soll.
PATHOS UND POIESIS: TRANCEERFAHRUNG UND
DIE INSZENIERUNG KULTURELLER IDENTITÄT Auch bei der ~enna-Zeremonie, die am Vortag des Hochzeitsfestes von der Familie der Braut abgehalten wird, war es zur Zeit meiner Feldforschung beliebt, die 'Isawa zu engagieren, und so fanden wir uns vor dem Haus der bereits oben beschriebenen, marokkanischen Studentin aus den USA ein, um mit dem Einzug (ad-da!Jla) zu beginnen. Ein Großteil der Festgemeinschaft versammelt sich auf der Straße - nach Möglichkeit gut sichtbar in der Mitte - und unter den Rufen und Prophetenpreisungen der Frauen beginnt die Bruderschaft zu spielen und die Festgesellschaft zieht in das Haus ein. Frauen beginnen ihre langen Haare zu lösen und mit kreisenden Kopfbewegungen durch die Luft zu schwingen - ein Zeichen von Festfreude und zugleich sexuell und sakral konnotiert ein Körperzeichen, das auf die durchlässige Grenze zwischen der festlichen Inszenierung einer sozialen Feier, dem sakralen Bereich mystischer Trance und körperlich-sexueller Empfindsamkeit verweist. Der Lärm der Musik (sda) ist zentral für die Feierlichkeit, »damit die Nachbarn es hören«, wie mir immer
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wieder erzählt wurde. »Es muss laut und voll sein und alles muss durcheinander gehen«. Der Einzug der Bruderschaft löst die bis dahin mehr oder weniger eingehaltene Geschlechtertrennung auf, hinter den Musikern drängen die anderen, vorwiegend jungen Männer in den Raum und tanzen mit den weiblichen Gästen und Kindern, die mit der Braut auf die 'Isäwa gewartet haben - und der stundenlagen Prozedur der ~enna-Bemalung zuschauen. »I Iove you«-Luftballons schweben durch den Raum und wir, die Bruderschaft und >ihr Ethnologe>Widerfahrnis« (pathos) thematisiert, die wichtig ist, um den Charakter des Ritualfestes zu verstehen. Wie meine Informantinnen und Informanten es immer wieder ausgedrückt haben, hat >es>passiones« geeignet erscheint, diesen >>inversiven« Askept des Handeins zu fassen, den die ginn verursachen und in dem sie zur Darstellung gelangen (Kramer 1989: 64). Bei schwerwiegend erkrankten Menschen bzw. fehlerhaft oder noch nicht behandelten Besessenheitserfahrungen kann es auch im Alltag, ohne einen rituellen Kontext zu körperlichen Erscheinungen kommen, die mit der Besessenheits-Trance in Verbindung gebracht werden: dem stocksteifen Fallen des Menschen, das einer Trance vorhergeht oder auch das Ende einer Trance anzeigen kann, Zucken der Gliedmassen, Stöhnen und Schreien, Selbstverletzungen (von an den Haaren reißen, sich Ohrfeigen bis hin zu Selbstverstümmelungen mit Hilfe eines Messers u.ä.) usw. Für die Behandlung dieser Zustände wird bei Ritualen versucht, den oder die Patientin wieder in Tritt zu bringenseine oder ihre eruptiven Zuckungen (wörtlich: seine, ihre Knochen packen sie: sadu! ha 'aqämu/ha) werden durch Helfer in den Rhythmus der Musik überführt, zu der er oder sie die Trance ausagiert, bis er oder sie »befriedet« ist, d.h. bis sein oder ihr Dämon »genug hat«. Zusammen mit den tanzenden und zuschauenden Gästen folgen die Musiker einer rituell geordneten Verlaufsform, bei der es zu den pathischen Zuständen der Trance kommt. Die ginn, die die Menschen im Alltag begleiten, ohne ihnen günstigstenfalls zu nahe zu kommen, reagieren auf die aryäJ:z, die Melodien der Preisungen, die von den Bruderschaften mit Hilfe von Flöten, den Oboen und Trommeln angestimmt werden. Das Ritual schafft also einen Raum für die passiones der Trancetänzer, bzw. für die in ihnen zur Geltung drängenden Dämonen, die hier zu einer Struktur finden, bei der ihre destruktive, krank machende Kraft in die Segenskraft des gemeinschaftlichen Rituals umgekehrt wird. Mit Erhard Schüttpelz kann diese Fähigkeit ritueller Verlaufsformen, alle von ihr koordinierten Akteure in eine Prozedur einzubeziehen und in einen gemeinsamen Erfahrungsraum einzubinden, als »pathos« einer »poiesis« bezeichnet werden, als die Verbindung von Widerfahmis, dem inversiven Bereich von Handlungen, und ritu-
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ellen Techniken. Für die tanzenden oder auch nur zuschauenden Hochzeitsgäste bedeutet dies, dass sie im Verlauf des Rituals einer Prozedur der >>Verfertigung« (poiesis) unterzogen werden und dabei unterschiedliche Erfahrungen des »In-Mitleidenschaft-Gezogen-Werdens« (pathos) erleben (vgl. Schüttpelz 2008a: 244). Dieser Drift zwischen Handlung und Behandelt-werden, dem sich die Ritualteilnehmer nur schwer entziehen können, wurde von Alfred Gell mit dem Begriffspaar »agency/patienthood« herausgearbeitet, das sich gerade für die Heilrituale der Bruderschaften heuristisch relevant erweist: »In any given transaction in which agency is manifested, there is a »patient«, who or which is another »potential« agent, capable of acting as an agent or being a locus of agency« (Gell 1998: 22). Die Inszenierung und Gestaltung von Hochzeitsfolklore in der Transmigration ist ein intentionaler, kreativer Prozess, dem von den Marokkanerinnen und Marokkanern unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird, der aber darauf abzielt, einen Erfahrungsraum kultureller Intimität (Herzfeld 1997) zu schaffen, in dem die Teilnehmer in eine festliche Mit-Leidenschaft gezogen werden: In den Worten der oben zitierten Marokkanerin aus einem Diskussionsforum im Internet: »deshalb denke ich lieben wir auch diese atmosphäre und der ablauf unserer hochzeiten, allein die musik und das tanzen macht uns alle glücklich«. In einem aufschlussreichen Aufsatz entwickelt Salih die repräsentative Funktion des Pathischen anband ihrer Beobachtung dreier, in Trance fallender Frauen auf einer von Auslandsmarokkanern durchgeführten Hochzeit in Meknes. Da die erste Frau hinterher auf sie zukommt und sie fragt, ob ihr die dargebotene marokkanische Folklore und Tradition (der Trancetanz) gefallen habe, schließt sie, dass Frauen über den Trancetanz marokkanische Kultur als authentisch verifizieren, und ihn weniger (in Anschluss an Lewis 1971) als kulturell gefassten Ausdruck individuellen Leidendrucks oder (in Anschluss an Boddy 1989) als subalterne Äußerung von Frauen im öffentlichen, patriarchalisch strukturierten Raum durchführen. Schließlich hatte auch ihr Gastgeber die Bruderschaft von vornherein als eine Mischung aus Folklore und Religion vorgestellt, eine Beurteilung, die sie sich offensichtlich vor der Matrix der klassischen Studie Brunels aus den 1920iger Jahren zu eigen macht und ihre erste Regung, »I thought she was struggling with ginn (spirits) who possessed her>typisch marokkanische« IJennaZeremonie bzw. Hochzeit zu engagieren, um ein authentisch-traditionelles, marokkanisches Fest zu erleben, deren Inszenierung sich wenig von den Auftritten der 'Isawa in Touristenhotels unterscheidet. Sich selbst als Teil einer globalisierten Moderne verortend, sahen sie die Bruderschaft vielleicht als Teil eines kulturellen Erbes, das Eingang in populäre Welt- und Ethnomusik gefunden hat und in der modernen, globalisierten Nationalfolklore Marokkos gefeiert wird. In diesem Diskurs gilt es, eine exotisch-marginale, kulturelle Tradition immer wieder neu zu entdecken. Diese Bewegung der >>proclaimed marginalisation« (Sant Cassia 2000: 286) reloziert die 'Isawa als eine >>authentischeintimen AnderenAndere der eigenen Kultur>Passion«, des Zustands religiöser Ergriffenheit, der einem »widerfährt« (passio) und sich durch gemeinsame Körpertechniken, wie der Bewegung zur Musik und gemeinsamer Atmung, herstellt (vgl. McNeill 1995). In diesem Zustand antizipieren die Teilnehmer baraka, eine göttliche Segenskraft, die nicht nur besonders frommen Männern, sondern auch besonders mächtigen Gestalten wie den Königen zukommt und die überdies mit Orten und Dingen in Verbindung gebracht wird (vgl. Westermarck 1926). Wie wir gesehen haben, antworten >Folklorisierungen< und >Kulturalisierungen< der Bruderschaften zunehmend auch auf den Vorwurf des »sirk billah«, der in den Auseinandersetzungen um rechte islamische Praxis im öffentlichen Raum, vehement gegen sie vorgebracht wird: Die Anrufung der Heiligen oder Dämonen (ginn), deren besessene Opfer sie behandeln, sei eine Form von Mittlerschaft und damit Teilhabe an der unteilbaren Einheit und Macht Gottes. 1 Im Ringen um Selbstbestimmung und Modernisierung gilt die angebliche Weitabgewandtheit der Bruderschaften überdies als schädlich und rückwärtsgewandt. Doch gerade von den jüngeren Anhängern der Bruderschaften wurde mir verschiedentlich erklärt, was sie betrieben und ich untersuchte, wäre nicht >>Islam«. Religion (din) wäre nur >>der KoranKultur [taqafa]« bzw. >>Tradition [taqiilid]«. Was die Menschen in den Tranceritualen erfahren würden, wäre >>wie Yoga«, wie es immer wieder hieß, es würde den Menschen helfen, sich zu sammeln und neu auszurichten. Diese Rekonzeptualisierung su-
1
Wie bereits erwähnt, rufen die 'Isawa - anders als die Gnäwa und die l;!amadsa keine gnun an. Da aber auch zu ihrer Musik die Menschen in Trance fallen und Be· sessenheitszustände durchleben, trifft der Vorwurf im öffentlichen Raum alle drei (und weitere) Bruderschaften gleichermaßen.
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fiseher Kategorien wie der niyya, mit der die spirituelle Vorbereitung und Gerichtetheit auf Gott gemeint ist, reagiert offensichtlich auf neo-traditionelle Interpretationen islamischer Normen durch salafitische Reformbewegungen, die sich an einer »Praxis der Vorväter>aber das geht wohl nicht.« (Fes 2006). Worauf es mir in diesem Kontext ankommt, sind die Strategien, mit denen die Trancekontexte auf ästhetische Darstellungen reduziert werden, ohne dass die vorgeblich vormodernen Ritualsequenzen, in denen die Menschen die Kontrolle über sich verlieren, sich verletzen und für den Dämon/ die Dämonin ein Opfertier darbringen, ganz entfernt werden sollen oder können - da diese Praxen andernfalls ihre Bedeutung zu verlieren drohen, mit der ein kultureller Erfahrungsraum geschaffen und transportiert werden kann: Die Medien legen von transzendenten Kräften Zeugnis ab, die Teil des Common Sense sind, aber nicht zum Gegenstand normativer Diskurse werden können oder sollen und deswegen als ästhetisch aufbereitete Indizees für diese Erfahrungsräume transportiert werden.
RAP 100% 'lSÄWIA, MEKNÄSSIA, MAGREBIA Ein gültiges Beispiel für diese ästhetisierten Formen vorgeblich »authentischer«, religiöser Erfahrung ist der Erfolg der aus Meknes stammenden RapBand H-Kayne (Was Gibt's?). Mit ihrem Lied »'lssawa-Style«, in dem sie die magische Kraft und Kontexte der 'Isäwa-Bruderschaft besingt, ist sie sehr schnell über die Grenzen Marokkos hinaus unter jungen Marokkanerinnen und Marokkanern bekannt geworden. Das Video zu diesem Lied wurde allein auf YouTube auf den verschiedenen Seiten mindestens 1,5 Millionen Mal aufgerufen 4 und bald auch als eine 3D-Trickfilm-Animation für das Staatsfernsehen produziert, 5 in der ihr Gesang auf die Bruderschaft der 'Isäwa und marokkanische Identität als eine Popularisierung historischer Wurzeln in Szene gesetzt wird. Bei der Inszenierung von Konzerten und Musikvideos auf dem Place al-Hedim, dem großen Platz zu Füßen des historischen Stadttors Bab al-Mansour, das Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist und von dem Sultan und Staatsheiligen Miilay ls-
4
Vgl. YouTube (2006).
5
Vgl. 2M (2008).
RAPPEN FÜR GOTT, KÖNIG UND V ATERLAND
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mä'il im 18. Jahrhundert erbaut wurde, geht es offensichtlich um die Bindung an und die Repräsentation eines symbolisch aufgeladenen Ortes: >>Meknes«, von dem die Rapper singen, vor dem sie inszeniert und mit dem sie identifiziert werden. In dem Musikclip zeigen sich die Sänger im Rapper-Gestus, unterbrochen von Breakdance Szenen. Der Refrain, der mit den Worten >>Kullna Magraba[Wir sind alle Marokkaner]« beginnt, wechselt sich mit Soloeinlagen der Bandmitglieder ab, die Namen wie sif Lsan, HB 2, Ter al-Hour und Otman tragen, und in den Kostümen der 'Isäwa vor einer aufspielenden Bruderschaft gezeigt werden. Letztere sieht man in traditioneller, marokkanischer Kleidung, der gilläba, Kopftüchern und den traditionellen Schlupfschuhen die Musikinstrumente der Bruderschaft spielen. Bei ihnen sind Fahnen der Bruderschaften aufgestellt. Diese Inszenierung entspricht den Auftritten der Bruderschaften im öffentlichen Raum, aber auch auf Internetseiten, auf denen sie für ihr Engagement durch marokkanische Migranten werben. Aus den unterschiedlichen Textversionen des Liedes, die im Internet kursieren, kann im Abgleich mit Konzertmitschnitten und Befragungen von Muttersprachlern, die sich auf meine Bitten den Filmclip anschauten, folgender Text erstellt werden: 6
Abb. 36: Videostill >>'Isäwa-Style«
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Ich bedanke mich insbesondere bei Mohamed Amjahid, mit dem ich in vielen Stunden diesen und andere Musikclips angeschaut und diskutiert habe und dessen Ideen im Laufe unserer Transkriptionen und Übersetzungen meine Überlegungen bereichert haben- ohne, dass er notwendiger Weise mit der hier vorgestellten Analyse einverstanden sein muss. Für den Text, vgl. Raptiviste (2006).
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>>'lsäwa -Style>kullna Magarba« und so wurde es von drei weiteren Muttersprachlern verstanden, die ich unabhängig von einander dazu befragt habe.
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In den Ritualen der Bruderschaften steht die Dämonirr oder der Dämon auf, der in der Trance, der gedba, ausagiert wird.
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Wörtlich: debarquer, also >>ausbootet/an Land setzt«.
10 Wörtlich: qui te braque, deswegen auch >>angreift«.
RAPPEN FÜR GOTT, KÖNIG UND V ATERLAND
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ihr Geld [wörtlich: paille] zurückzuhalten, die ihre Freunde mit sich nehmen11 H-Kayne, Krach.
Refrain: Wir sind alle Marokkaner, H-Kayne, was gibt's, mit dem 'IsäwaRhythmus ... Ter al-Hour [grob: freier Vogel] Vergiss die Probleme, jetzt, und tanze mit uns, ich bin Dein Bruder, was ist schon dabei, wenn Du tanzt, fehlt Dir etwas? Komm näher, komm zu uns, hier, verdreh Dich more steh auf von dort, sag, dreh, das macht mir Freude, ohne dass Du die Sache noch verknotest, die Melodie ist klar, das macht Spaß, alle werden von der Musik ergriffen, nur Du bleibst alleine zurück, hier nimm (hak], nimm (qbet], nimm [sed], nimm [{:md], ich bin Dein Bruder, das ist ein veränderter Schatz, Schätze, die uns und Euch unsere Großväter hinterlassen haben, jeder, der darin sucht, und seine Augen daran abnutzt, gewinnt, frage nur, wir zeigen Dir, wo Du langgehen musst, die Melodie der 'lsäwa, und ahiya ahiya.
Otman Kinder, es ist immer noch die Nation [berberisch: fsiweglan] 12 und ich schreibe und ich fahre fort aufzuschreiben und >>daym allah« >>Gott ist ewig«, ja Leute, in meinem Leben ist alles auf ihn geschrieben, oder hat es aufgehört vorher bestimmrl3 zu sein? Steh auf, fahre fort, aufzuschreiben. Sieh, ich bin Dein Bruder, ich bin Dein Bruder beim Zoll. Sie, fass, bring es zusammen, dreh al-hitya [?]
Sif Lsan Du sagtest, H-Kayne haben uns mit der Melodie der 'Isäwa [und] mit den Großvätern die hundert Prozent marokkanischen Wurzeln [ 'arüq] aus Meknes gebracht ['arilq meknassiya und miyafel miya megnbiya]: allah daym, alle sagen allah daym aha eheheheheh Refrain: Wir sind alle Marokkaner, H-Kayne, was gibt's, mit dem 'Isäwa-Rhythmus ... (2x)
11 Wörtlich: s'empare leurs MES MEC. 12 Dies wurde mir von Informanten aus dem Berber-sprachigen Nordmarokko so erläutert, ich konnte das allerdings nicht von anderer Seite verifizieren. 13 Wörtlich: geschrieben.
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Das Lied, das sich durch die Wahl der Stilmittel (Rap), der Kleidung (GangstaRap, Jugendkultur) und der Sprache (Marokkanisch-Arabisch der Jugendkultur, Französisch) in einer globalen Moderne, bzw. als lokalisierte, »parallel modernity« (Larkin 2002) verortet, beginnt im Refrain mit einem Bekenntnis zur marokkanischen Identität: kullna Magarba - wir sind alle Marokkaner. Es behauptet >>alles durcheinander zu bringen« und in diesem Durcheinander der Jugend eine Stimme zu geben, die sich in den marokkanischen Nationalfarben und dem »traditionellen« Rhythmus der Musik der 'Isäwa-Bruderschaft erheben. gedba: die wilde Party, wie das Jugendliche heute übersetzen, ist eigentlich die rasende Trance, in der die Trance-Tänzer ihre Glieder wild schütteln (igedbu) und die Besinnung verlieren, während in ihnen ein Dämon hoch kommt und von ihnen Besitz ergreift. Das Durcheinander wird im Kontext der Bruderschaften als rituelle Inversion der sozialen Ordnung geduldet: die Vermischung von Frauen und Männern im Trance-Tanz schafft im Lärm der Musik einen sozialen Freiraum auf Hochzeiten und Besessenheitsritualen, auf den hier angespielt wird. In der ersten Strophe rappt der Sänger mit dem Namen »Schwertzunge« von der Stadt, aus der die Marokkaner kommen: Meknes, der Stadt, in der im 18. Jahrhundert die Macht der (heute noch herrschenden) Alawiden-Dynastie durch den Sultan Mülay Ismä'il ihr Zentrum und ihre Blüte gefunden hat. Meknes ist die Stadt, von der aus im kulturellen Gedächtnis Marrokkos unter der Herrschaft Ismä'ils die europäischen Kolonialisierer weitgehend aus Marokko verdrängt wurden.14 In f:Iamriya, an einem Ort des kulturellen Konflikts und der kulturellen Durchmischung, einer von den Franzosen erbauten Neustadt von Meknes, treffen sich die Kinder der Mittel- und Oberschicht in einer Fußgängerzone: Hier hören sie die lokalen Melodien und die lokale Sprache und werden in diesem lokalen Kontext und mit dem Segen der Eltern zu Männern. Diese Meknessianischen Bedeutungen [m'ani meknässia] müssen einem nicht erklärt werden, sie ergreifen einen und machen einen verrückt - so wie die Trance die Anwesenden ergreift, ohne, dass sie etwas dagegen tun oder es erklären könnten. In der zweiten Strophe von HB2 wird die suwafa besungen, die Seherin (la devine), die mit den Kontexten der Bruderschaften in Verbindung gebracht wird und die in Volksliedern Marokkos häufig besungen wird- die suwafa wird aufgesucht bei Liebesproblemen, Berufswünschen, gesundheitlichen Krisen und Besessenheitszuständen. Mit ihren geheimnisvollen Referenzen - die Dämonen (von denen sie Informationen bekommen kann oder die durch sie sprechen),
14 Vgl. den Brief an den Ethnologen im Anhang.
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das böse Auge (das sie angesichts von Krisen diagnostiziert), die Knochen (die sie wirft, um Nachrichten über den Zustand eines Menschen zu erhalten) und die Mittelchen und Kügelchen, die sie einem mitgibt und die schaden und heilen können - wickelt sie einen ein, ohne, dass man sich ihr entziehen könnte oder nach der (eigenen) Meinung gefragt wird. Wahrsagerinnen werden häufig frequentiert, um Chancen auf Emigration auszuloten - wird jemand nach Europa übersetzen? ist die Vermittlung der marriage blanc, der bezahlten Heirat, verlässlich? werden wir an die notwendigen Papiere kommen? wie geht es den verschwundenen Familienmitgliedern in Frankreich, Belgien oder Deutschland? - doch hier werden sie adressiert, weil ihre Dienste nicht gebraucht werden, da die Freunde aus der Migration zurückkommen werden, ihre »Latte nicht woanders hin hängen werden« und ihre Freunde nicht vergessen haben, weil sie >>die Gleichen« geblieben sind. Nach dem erneuten Refrain »kullna Magarba« setzt der Sänger mit dem schönen Namen "freier Vogel« ein, und fordert zum Mittanzen auf, beschwört die familiäre Bindung »als Marokkaner« (ich bin Dein Bruder), der wie alle Marokkaner den Erfahrungshorizont der gemeinsamen Tänze und Trancetänze auf Festen teilt, in dem einen »die Musik ergreift«. Das ist »ein veränderter Schatz«, der von den Großvätern herkommt- er ist legitimiert, hat »Wurzeln«, die für den eigenen Gewinn eingesetzt werden können und die mit der Musik der 'Isäwa erfahrbar werden. In der vierten Strophe beschwört der Sänger Otman die Einheit der Nation mit dem berberischen Ausdruck >>siweglane« 15 über die ethnischen Differenzen hinweg, die zwischen Arabern und Berbern in Marokko bestehen und die durch das Band des Islams aufgehoben werden: aUah daym (Gott ist ewig), wie die 'Isäwa in ihren Umzügen singen, auf denen ich nachts auf öffentlichen Plätzen hunderte junger und alter Männer aus Marokko und der Migration in kommunaler Trance erlebt habe, die sich an den Händen halten und in der gemeinsamen Bewegung des Trancetanzes den Namen Gottes in die Nacht skandieren: allah!
»Es ist alles geschrieben« (kullSi maktüb) ist ein häufig gebrauchter Ausdruck in Marokko, der so viel bedeutet wie »es ist in Gottes Hand«. Wie wir gesehen haben, beschreibt dieser Begriff die göttliche Legitimation der weltlichen Ordnung, die dem Einzelnen seinen Platz in der Gemeinschaft zuweist und die im eigentlichen Sinne wesentliche Bestandteile seines Weges von Geburt bis zum Tod vorherbestimmt: Geburt, Tod, Gesundheit, Reichtum oder Armut sind in diesem Sinne maktüb. Doch wie Otman hier singt: »fahre fort
15 Vgl.
Fußnote
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in diesem Kapitel.
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aufzuschreiben«, ist der oder die Einzelne damit beschäftigt, sich in den solcherart gegebenen Verhältnissen zu situieren und seine eigene Stellung einer andauernden Prüfung zu unterziehen: >>Ich bin Dein Bruder beim Zolk In der fünften Strophe bringen H-Kayne mit der Melodie der 'Isäwa und »den Großvätern« die hundertprozentig marokkanischen Wurzeln aus Meknes zu ihren Hörern. Die 'aruq meint Abstammung, Ursprung, eigentlich: Adern, Wurzeln. Die wuläd al-'aruq sind die Menschen guter Herkunft, an die man sich halten kann; so wie ein Sprichwort sagt: naflud bint al-'aruq, milli bint al-l].ruq. Ich nehme ein Mädchen aus guter Familie (auch wenn sie arm ist), nicht eine ausstaffierte (die zwar schöne Kleider hat, aber von vulgärer Herkunft ist) (vgl. Sinaceur 1993-1995: 1254). Herkunft, Familien und genealogische Idiomatik thematisieren »Bindungen, auf die man zählen kann«, bei aller Freiheit diese zu gestalten. Sie bleiben ein zentraler Bezugspunkt im Leben der Menschen, der nicht unwesentlich für die Situierung in sozialen Netzwerken ist und die moralische Konnotation von Zurechenbarkeit und Einschätzbarkeit transportiert (Pandolfo 1997: 104). Diese 'aruq sind nicht nur im Wortsinn mit Orten verbunden. Sie sind Teil des '~l eines Menschen, der sehr genau bestimmt werden kann. '~I ist, schreibt der Ethnologe Abdellah Hammoudi, »a difficult word conveying the senses of origin, root, and place where the group manifested its existence first, all of which converged in a genealogy and its unfolding from an original ancestor and a place of origin« (Hammoudi 2001: 148). So haben mir Menschen in Rabat, Kenitra, Casablanca, Tübingen und anderswo mit Bestimmtheit erklärt, ihr '~l sei Meknes, weil sie sich zu einem >>Stamm« (qabila) zählen, der für sich in Anspruch nimmt, von dem Heiligen der 'IsäwaBruderschaft abzustammen. 16 Diese Verortung schlägt sich bis heute in jährlichen Besuchen von Meknes zur Heiligenwallfahrt nieder, an der die Menschen als Kinder teilgenommen haben und von der sie jedes Jahr von ihren Verwandten erzählt bekommen, die dort Urlaub machen, ihre Netzwerke auffrischen und an den öffentlichen Spektakeln und Ritualen der 'Isäwa teilnehmen - und von denen sie sensationsheischend zu Hause erzählen. Ich konnte während meiner Feldforschung keinen Rückgang der Besucherzahlen auf diesen Heiligenfesten in den Bergen bei oder in Meknes feststellen, 17 auch wenn die Anzahl der Bruderschaften selbst, die aus dem ganzen Land dort zusammenkommen zu Gunsten kleiner Gruppen, die rituelle Dienstleistungen anbieten, abzunehmen
16 Für den problematischen Begriff des Stammes siehe Eickelman (1981 ). 17 Die geschätzte Zahl von 60.000 Besuchern, die Crapanzano angibt (Crapanzano 1981) und von Weite (Weite 1989) konfirmiert wird, scheint mir 2005 und 2006
noch übertroffen worden zu sein.
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scheinen. Die Besucher aber reisen weiterhin aus der Migration an, um ihre Verwandten dort zu treffen, und sich in den liminalen Kontexten der Bergdörfer ihrer Identität zu versichern und spirituelle Erfahrungen zu machen. In ihrem »rot-grünen" Siegeszug-Rap rouge et vert wird ihre Musik in Anspielung auf die Nationalfarben genannt - inszenieren sich die vier jungen Männer der Band mit ihren Bewegungen, ihrer Kleidung und den Ketten, mit denen sie sich behängen, als >>Gangsta-Rapper« nach US-amerikanischen Vorbild, auch wenn ihre Musik eher von der französischen und arabischen RapMusik des Mittelmeerraums beeinflusst ist. Sie singen wie alle neueren RapGrößen Marokkos in dariga, dem lokal variierenden, arabischen Dialekt, mit französischen Ergänzungen und arabisierten Wendungen, die für das DialektalArabische Marokkos insgesamt so charakteristisch sind. In kürzester Zeit sind sie an die Spitze einer staatlich geförderten Jugendkultur gelangt, die Breakdance-Festivals und Gesangswettbewerbe umfasst. Soziale Konflikte werden in Grenzen thematisiert. Ihre Texte und Videos unterliegen der Zensur, so dass sie in ihren Liedern zwar Spannungen zwischen den Generationen thematisieren können, aber, wie einer der Bandmitglieder in einem Fernsehinterview defensiv meint: »Marokko ist nicht Frankreich und ist nicht der Westen: Puck la police, das interessiert niemanden«. 18 H-Kayne wurde von zwei Marokkanern in Montpellier gegründet, von denen der eine ein in Frankreich aufgewachsener, erfolgreicher DJ ist und der andere dort studierte. Anders als in der Aufbereitung von (migrationsgeprägten) Jugendkulturen im Kontext der Rap-Musik häufig angenommen, ist ihre Musik jedoch nicht »aggressively deterritorializing and anti-nostalgic« (Gross, McMurrray, Swedenburg 2002: 221), sondern eröffnet einen spezifischen, kulturellen Erfahrungsraum mit expliziten Verortungen, mit dem sie in kürzester Zeit Teil der mainstream Populärkultur wurden. Wie auch bei anderen, unter Marokkanern sehr erfolgreichen Rap-Musikern wie BIGG, haben wir es hier mit dezidiert lokalen Produktionen zu tun, die trans-nationale Prozesse umfassen und hervorbringen - ein Umstand, der für das Verständnis dieser kulturellen »bricolage«19 wichtig ist, insofern Theoretiker kultureller Hybridisierung häufig eine umgekehrte Blickrichtung verfolgen (vgl. Thomas 1996). Da den in Marokko lebenden Mitgliedern von H-Kayne das Einreisevisum zur Aufnahme im französischen Tonstudio verweigert wurde, sind die beiden Migranten der Gruppe kurzerhand nach Marokko gereist und haben in der Wohnung eines ihrer Band-Mitglieder in Meknes ihre ersten CDs hergestellt
18 Vgl. Arte (2005). 19 Nach Levi-Strauss (1968 [franz. 1961]).
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>>Und sie mit einem Bügeleisen eingeschweißt«, wie sie in einem Fernsehinterview berichten (Arte 2005). Heute reisen sie mit anderen Hip-Hop-Bands quer durch Frankreich und Europa, wie nicht ohne Stolz von Marokkanern hervorgehoben wird. In den Einträgen auf YouTube finden sich unzählige Versicherungen ihres >>echten marokkanischen Sounds« und Einträge von Auslandsmarokkanern und Menschen aus Meknes, die sich gegenseitig ihrer Identität und der Einzigartigkeit ihres Herkunftslandes bzw. ihrer Herkunftsstadt versichern. Ihr Auftreten steht für einen Gestaltungswillen junger Männer, die ihre Ansprüche im öffentlichen Raum artikulieren. Auch in den Bruderschaften konnte ich erleben, wie sich immer mehr junge Männer zusammenschlossen und auf den öffentlichen Markt der Musik und Folklore drängten, der bis vor wenigen Jahren noch streng durch hierarchische Strukturen gekennzeichnet war, in denen ältere und mächtige Männer Zugang zu diesen Kontexten als Gunsterweis gewährten. Viele der jungen 'Isäwa-Musiker, mit denen ich gearbeitet habe, treten mittlerweile erfolgreich auf internationalen Festivals der Ethno- und Weltmusik auf. Junge Marokkanerinnen und Marokkaner legen eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag, ihre Alltagswelt mit Mitteln einer angeeigneten, globalen Moderne zu artikulieren und in die Zirkulation von Bildern, Nachrichten und Konsumkulturen einzuspeisen. Insofern ist der Bemerkung Bernard Lewis', die islamische Welt würde besonders in der musikalischen Kunst kulturellem Wandel als »Westemization« widerstehen (vgl. Lewis 2002: 150ff.) einmal mehr die Kreativität des kulturellen >Bricoleurs>parallele Modernitäten« gestaltet. Trotz allem wäre es vorschnell, diese Entwicklung als Ausdruck einer »Oppositional youth movement whose sonic expression is rap music« zu verstehen, wie es Gross et al. für Frankreich konstatieren (Gross, McMurray, Swedenburg 2002: 215). Vielmehr treten die jungen Männer im öffentlich Raum in Übereinstimmung mit einem normativreligiös gefassten und traditionell begründeten Wertesystem auf. Ihr Anspruch, Aussagen im öffentlichen Raum zu treffen, ist >moralisch< begründet und wesentlich mit der Orientierung im moralischen Raum verknüpft (vgl. Taylor 1994 und die Diskussion bei Hastrup 1994). Insofern unterscheidet er sich letztlich nicht von den traditionellen Ausdrucksweisen populärer Kultur in Marokko - wie beispielsweise den Liedgedichten des meU:wn. So singen sie in ihrem Song Titiz von Mädchen, die »mit 15 schon so aufgetakelt« sind und »den Gürtel enger« schnallen sollen, und doch lieber auf die Heirat warten sollten, um sexuell aktiv zu werden, »du wirst es sonst bereuen« (vgl. Outlandish 2008). Wie mir Freunde berichten, hat sich der >Begriff, von »Titiz« für den Hintern von herausgemachten Mädchen, die sich nicht an die Kleiderordnung >respektabler< junger Frauen halten, auf den Lycees von Meknes schnell durch-
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gesetzt, wo die jungen Männer in Baggy-Jeans zischelnd den öffentlichen Raum im Zeichen ihrer Rap-Idole dominieren und sich ihrer Geschlechtsgemeinschaft versichern. Dezidiert religiös artikulierten Werten und Vorstellungen, wie sie in arabisch sprachiger Rap und Rai Musik thematisiert werden, dienen also weiterhin dazu, Ansprüche zu legitimieren, Öffentlichkeit (um-)zu gestalten. Sie zielen auf das rechte Verhalten der Einzelnen, insofern das soziale Wohlergehen an historischen Erfahrungen und der kulturell verhandelten Einrichtung von Individuen und Gemeinschaft gekoppelt bleibt. Die Texte HKaynes spiegeln auf der anderen Seite transnationale Diskurse und Bewegungen, die zur Gestaltung einer islamischen Öffentlichkeit am Bewusstsein ansetzen, dass private Handlungen und Verortungen Einfluss auf andere und das allgemein Wohl haben. Ihre westlich modernistischen Stilmittel beziehen Stellung in diesen Diskursen unterschiedlicher, gesellschaftlicher Gruppen, die in der gesamten islamischen Welt in Konkurrenz um Bedeutung und Bestimmung muslimischer Identität und die Implikationen ethischer Handlungen getreten sind (vgl. Eickelman und Salvatore 2004). Die Inszenierung von H-Kayne als Meknessis im Staatsfernsehen und auf Video-clips greift dabei die Inszenierung lokaler Musiktraditionen und Trachten im marokkanischen Staatsfernsehen, auf Folklorefestivals und halböffentlichen Hochzeitsfeiern auf, die sich zu einer nationalen Kultur verdichten. In dem Video zum Lied >>sma3ni« [Hör mich], das H-Kayne zusammen mit den Rappern BIGG, Raga Man und der Sängerin Ijansa' aufgenommen hat, werden die Symbole und Orte eingeblendet, für die die Bands stehen: für H-Kayne das Stadttor Bab Mansour von Meknes in Zentralmarokko, für BIGG ein Oberschichtsa-Auto vor der Moschee J:Iassan II in Casablanca, Westmarokko, für Raga Man Quads in der Sahara im Süden, und Ijansa' steht als moderne, junge Frau mit Sex-appeal für das weltliche Marokko, wobei die in rosa getauchte Wasseranlage vor der sie sich in der Gegenwindanlage dreht, von Freunden mit Marrakesch in Verbindung gebracht wurde, andere sie Tanger im Norden zuschlagen. Konzerte von H-Kayne auf Festivals arabischer Musik in Europa werden in den täglichen Nachrichten des Staatsfernsehen 2M als die Repräsentation marokkanischer Kultur durch die Meknessis präsentiert (vgl. 2M 2008) oder im nationalen Fernsehen Interviews mit dem Hinweis begonnen, dass in der Vergangenheit die Künstler aus anderen Regionen zu Wort gekommen sind und nun Meknes an der Reihe sei. Interessanter Weise zeigt das Aufnehmen dieser lokalen Traditionen und lokalen Dialekte in eine transnational zirkulierende Populärkultur die Bedeutung partikularer >ties that matter< für die Herstellung einer »kulturellen Intimität« (Herzfeld 1997) nationaler Prägung, die international nachgefragt wird.
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»CATCHING THE JAR«: STAATLICHE FOLKLORE, KÖNIGLICHE MACHT UND OKKULTE ORDNUNGEN
Wie wir im Kapitel über Hochzeiten und transnationale Öffentlichkeit gesehen haben, bleibt es für das Königshaus dringlich, diesen kulturellen Erfahrungsraum zu besetzen, um seine Machtposition zu legitimieren. Als sich die Bruderschaft der J:Iamadsa während meiner Forschung neu konstituierte, kam immer wieder das Gespräch auf den angekündigten Besuch des Königs in Meknes. Alle waren sich einig, dass die Gruppe dort dabei sein und sich dem König und den Honoratioren, aber auch der ganzen Öffentlichkeit präsentieren musste. Lange wurde überlegt, wie sich die Gruppe von der in der Öffentlichkeit sehr beliebten 'Isäwa Bruderschaft unterscheiden kann, die ohne Frage auch am Festvial teilnehmen würde und von einem sehr einflussreichen und finanzstarken Vorsteher angeführt wird. Immer wieder trafen wir uns mit einem örtlichen foncti.onaire, der in der staatlichen Bürokratie einen wichtigen Posten hatte und Verbindungen zum zuständigen Amt herstellen sollte. »Wir bringen echte Ifamdü.Sis [Ifamdü.Siyin l,zaqiqiyin] aus Fes«, schlug eines Tages einer aus der Gruppe der Bruderschaft vor, »die werfen dann die Tonkrüge hoch [die von den Event-Managern verlangt wurden] und zerschlagen sie mit dem Kopf in der Luft« - eine Praxis für die einige Zweige der I:IaI:Iamadsa - die Dgugiyin und die Wuläd Ijalifa -berühmt sind. »Dann weiß der König, dass es die I:Iamadsa sind, die an ihm vorüber ziehen, vorweg tragen wir ein Schild mit unserer Adresse.« Das Gespräch geht hin und her. Doch der Vorsteher hatte Einwände, das ginge zu weit. >>/:!Siima [Schande], vor dem König, die Töpfe zerschlagen«. Auch der foncti.onaire hatte Bedenken. Doch bevor es zu einer Aufführung kommen konnte, musste der Vorsteher die Gruppe konstituiert und eingetragen haben. Der Beamte willigte ein, die Formulare in der Behörde tippen zu lassen, sobald alles beisammen wäre, da die Handwerker und Gelegenheitsarbeiter aus der Bruderschaft sich weder mit Computern auskannten, noch Zugang zu ihnen hatten. Alle Teilnehmer mussten über Personalausweise verfügen (oder sich kostspielig welche verschaffen) und entsprechend in Listen vermerkt werden. Als alle Informationen und Papiere mühsam beschafft waren, konnte der Fragebogen der >>Ministerialabteilung für Künste und volkstümlichen Ausdruck« ausgefüllt werden, der bis ins kleinste Detail über die zur Aufführungen kommenden Praktiken Rechenschaft
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forderte und hier näher analysiert werden soll, da er die staatliche Administrierung der Trance deutlich werden lässt. 20 Zuerst wird eine nähere Charakterisierung der Mitglieder (sind es Berufsmusiker oder haben sie noch andere Beschäftigungen?) und der Gruppe (was ist ihr offizieller Name und wann wurde sie gegründet?) verlangt. Dafür soll erstens die Tanzart bestimmt und ihre Bedeutung geklärt werden (der Vorsteher der Gruppe schreibt sehr treffend, >>der Tanz ist eine Medizin für das Nervensystem und ein Tanz der schönsten Art«). 21 Des Weiteren sollen die traditionellen (>>Heiligenfeste«) und gegenwärtigen Kontexte der Aufführungen (generell: »Religiöse und nationale Anlässe und [Folklore-] Abende«; speziell: >familiäre Anlässe«) benannt werden. Die Hilfsmittel bzw. Musikinstrumente müssen angeführt und Teilnahmen an nationalen und internationalen Veranstaltungen angegeben werden. Zu den Inhalten werden weiterhin die Gesänge benannt (>>Anrufungen Gottes [gikr]«, >>religiöse Liedgedichte [q$ä>id] «22 ) und charakterisiert (individuell, zu zweit, in der Gruppe), der Anteil von Frauen und Männern bestimmt und die Posen der Tänzer angegeben (stehend oder sitzend? In einer Linie, im Kreis oder Halbkreis?). Die nun folgenden, kleinteiligen Beschreibungen der Körperbewegungen betreffen die in rituellen Kontexten Trance-induzierenden Techniken der Bruderschafen: Es geht um die >>Beschreibung des Tanzes mit Verweis auf« • • • •
die Bewegung des Kopfes (>>natürlichhoch und runter mit dem Rhythmusüber Kreuz zwei auf zweiantwortet und redet mit dem Hsus>die Art des Takts [ iqa'] und der musikalischen Melodien>Taktfünf auf drei und zwei auf drei auf die Melodie des
20 Schon aufgrund der Kontroversen über häretische Praktiken wird peinlich genau darauf geachtet, nur ' höhereEvent-Managerin< auf- und abzulaufen. Da alles ohne Beanstandung akzeptiert wurde, stand der Teilnahme an der Prozession vor dem König nichts mehr im Wege und so konnten wir in die Berge zurückkehren, um eine Trancenacht für Mitglieder des Königshauses auszurichten. 24 Der vierzehn Tage später stattfindende Umzug erstreckte sich über mehrere Stunden. Wie die 'Isäwa hatten die .f::lamadsa ein Opfertier bei sich, das die Prozession begleitete und den Brauch aufgriff, dem König im Austausch für seine Präsenz ein Opfer darzubringen. Die kleine Ziege, die der Bruderschaft
24
Die nachfolgend beschrieben Prozession konnte ich selbst nicht mitverfolgen, da ich für die Geburt meines Sohnes nach Deutschland gereist bin. Ich habe aber andere Umzüge von Bruderschaften bei staatlichen Anlässen begleitet und war bei vielen weiteren Prozessionen im öffentlichen Raum von verschiedenen Bruderschaften auf mawäsim in Fes, Meknes und Sidi 'Ali zwischen 2003 und 2006 anwesend. Dadurch geben mir die Erzählungen meiner Informanten und die auf Video festgehaltene Prozession zum König, die ich mir mehrmals mit meinen Informanten angeschaut habe und nach der Feldforschung analysieren konnte, einen recht gerrauen Eindruck des Ablaufs. Die Initiative für diese Aufzeichnung ging von dem Vorsteher der Gruppe und einigen anderen Mitgliedern der Bruderschaft aus, der ich zuerst zögerlich gegenüberstand. Schließlich habe ich jedoch das Geld >organisierte und dafür vereinbart, dass mir von allen Aufnahmen, die sie machen, eine Kopie zur Verfügung gestellt wird. Die Auswahl der Anlässe habe ich dem Vorsteher und dem mul kamera, dem Kameramann, überlassen und mich nicht weiter eingemischt.
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von einem fonctionaire gespendet worden war, blieb weit hinter dem Wert eines anderen Opfertiers im Umzug zurück, hatte aber offensichtlich als eine Art Maskottchen bei den Zuschauern für großes Aufsehen gesorgt, wie der Vorsteher der Gruppe, 'Abd el- Wa~ad, zufrieden feststellte, als wir uns zusammen die Videoaufnahme der Prozession ansahen. Vor der Prozession entlang gingen zwei Mitglieder der Bruderschaft, Said und sein Bruder, die mit einem Plastikdolch an einem langen Stock und einer Tonschüssel ausgerüstet waren. Im Takt der Musik deuteten Said und sein Bruder den tafläq, den rituellen Schlag gegen den Kopf an, mit dem sich auf Ritualen in rasender Trance, der gedba, die Kopfhaut mit einem Messer zerhackt wird, oder mit dem Kopf Tonkrüge in Stücke zerschlagen werden - nur dass Said einen überdimensionalen Plastikdolch verwendete und sein Bruder die Tonschüssel in die Luft warf und sie wieder auffing. Sie kommen aus einer Familie, in der einige Mitglieder unter Besessenheit leiden. Said selbst hat sich als Halbwüchsiger in Trance die Arme >>für [den Dämon] Sidi lfammu« zerschnitten. Hinter den beiden gingen die Musiker mit den schweren großen Schultertrommeln (gwäl) und den kleinen Handtrommeln (ta'riga). Zum Schluss kamen die beiden Oboen-Spieler [giäta] auf Maultieren.
Abb. 37: Standbild aus einer Videoaufnahme
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Diese Umzüge sind physisch sehr anstrengend. Nach stundenlangen Zeiten des Wartens schultern die Musiker auf ein Zeichen der Administratoren ihre Instrumente und stellen sich in Position. Die schweren Schläge der geschulterten gwäl übertragen sich unmittelbar auf den Körper, der sich rhythmisch in Bewegung setzt. Kontrapunktisch verbinden und erweitern die kleinen Handtrommeln diesen Grundton, von hinten erklingen die Oboen mit ihren grenzenlosen Melodie-Variationen. Während die Oboenspieler ohne abzusetzen ein- und ausatmen müssen und ohne Pausen über Stunden die Luft durch sich strömen lassen, heben die Trommelspieler ihre Fersen (in den traditionellen Schuhen, den belgas, wird das Gewicht außerdem auf den Vorderfuß verlagert) und lassen sie im Gleichschritt zu den Rhythmen ihrer Instrumente auf denBaden schnellen. Sie werden von dem Rhythmus getragen, so dass es gleichsam nicht sie sind, welche die guwälat schultern, sondern die guwälat, die ihre Träger schultern und durch den Ritus tragen: >>to be surrounded by sound is to be touched or moved by it« (Connor 2004: 153). Die Melodien sind Preisungen des Propheten und der Heiligen, deren Wörter vergessen worden sind, und doch sind sie schnell übersetzt in ein Liedgedicht, in dem der Name des Heiligen in den des Königs übersetzt wird, so wie alle öffentlichen Rituale von Bruderschaften, die heutzutage von Kameras aufgenommen werden, und alle freitäglichen Versammlungen in den Moscheen mit einer Fürbitte für den König beginnen bzw. enden. Die J:Iamadsa wurden eingerahmt von einer weiteren Trance-Bruderschaft, den Gnäwa (vgl. Weite 1990), die ihnen vorweg ging und den 'Isäwa, die ihnen folgten. Auch die 'Isäwa inszenierten ihre Trance-Tradition, indem sie den gib, den >SchakalSchakal< wird von Männem dargestellt, die während des Rituals eine Tiertrance durchleben. Anders als die Männer und Frauen in der Trance der >LöwenKamele< - die in Trance Feigenkakteen essen und sich in ihren langen Domen wälzen25 - zeichnen sich die >Schakale< im Ritualverlauf durch die >bloße, Verkörperung magischer Kräfte aus, die sie vor dem Übergriff der rasenden >LÖwen< schützen: Sie legen sich flach auf den Boden und lassen sich von den >LÖwen< abtasten, die sie bei dem geringsten Anzeichen von Leben in Stücke reißen, wie mir immer wieder erklärt wurde.
25 Vgl. auch Brunel (1926).
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Abb. 38: Ein >Schakal< um 1920
Der auf dem historischen Photo des >Schakals< zu erkennende Hut mit den Spiegeln und Glühbirnen, Insignien magischer Potenz, war >früher< das >Erkennungszeichen< der >Schakale< beim Heiligenfest zum Prophetengeburtstag, dem milüd, wie mir erzählt wurde (vgl. Abb. 38). Die Spiegel dienen, wie auch die vielen Spiegelplättchen an den wollenden Umhängen der 'Isäwa, dazu, den bösen Blick zurückzuwerfen, während die Glühbirnen die magische Kraft im Körper des Trance-Schakals zur Darstellung bringen. Insofern zur Jahrhundertwende, als diese Insignien magischer Potenz aufkamen, elektrisches Licht in marokkanischen Häusern die Ausnahme war, kann diese zur Schau-Stellung zugleich als Aneignung und Neutralisierung der fremden, elektrischen Kraft gelten, in dem sie in die magische Macht der Trance integriert wird (vgl. Behrend 2005). Der Rückgriff auf diese lokalen Traditionen in gegenwärtigen Folklore-Veranstaltungen ist zugleich Ausdruck von ritueller Aneignung wie kulturelle Beharrung gegenüber einer globalen Kulturindustrie und ihrer magischen Medien und Poten(z)tialitäten.
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Abb. 39: Ein >Schakal< 2006
Ähnlich wie die beiden Brüder, die mit ihrem Plastikdolch und dem kleinen Tonkrug dem Zug vorweg liefen, war der >i]ibSchakalLöwen< auf der Ritualnacht der 'amt al-malik, 26 eine >Folklorisierung< der dissoziativen und blutigen Praktiken dieser Bruderschaften darstellte. »Das war die Idee von muqaddim Karim [dem Vorsteher]«, bemerkte der Vorsteher der J:Iamadsa-Bruderschaft in leicht enerviertem Ton, als wir das Video zusammen anschauten und der >Schakal' mit dem charakteristischen Hut in den Blick kam - der Vorsteher der 'Isäwa hatte im rituellen Wettstreit zumindest gleich aufgeschlossen. Welche Bedeutung hat nun diese Folklore für die Produktion und Erfahrung eines kulturellen Raums? Welche Erfahrungen werden in diesen folkloristischen Verfeinerungen von den Ausführenden gemacht und welche Bedeutungen werden für Außenstehende transportiert? Beim Umzug zur Huldigung des Königs scheint mir die rituelle Erfahrung der Teilnehmer zentral zu sein, die an die Zuschauer, den König und die Honoratioren kommuniziert wird und über die Zirkulation von Videoaufnahmen auch abwesende Marokkaner im In- und Ausland erreicht. Zuallererst ist es eine Autokommunikation, die hier im Zentrum der Durchführung steht, deren
26 Vgl. das entsprechende Kapitel.
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Erfahrung darin besteht, dass sich die Teilnehmer einer rituellen Verlaufsform unterwerfen, die sie nicht selbst bestimmen - und die im Falle dieser staatlichen Rituale durch eine Vielzahl an administrativen Abläufen und öffentlichen Erwartungen abgesichert ist: der Zwang sich formal zu registrieren und die rituelle Praxis in ein Schema einzupassen, die Kontrolle aller Teilnehmer und ihrer Erscheinung durch den Provinzgouverneur und die >Event-Managerin>kanonischen Ordnung« (Rappaport 1979) entspricht, die sie zugleich inszenieren soll. Wie Rappapart hervorhebt, wird Effekten ritueller Formierungen von den Teilnehmern eine Wirkkraft zugestanden, die sie antizipieren, aber nicht so erfahren, als würden sie diese selbst hervorbringen (ebd.: 179). Diese Einsicht führt letztlich auf Emile Durkheim und seine These zurück, nach der die Menschen in Ritualen sich selbst als Gemeinschaft hervorbringen. Die formal-kausale Wirkkraft aufeinander folgender, ritueller Sequenzen bindet die Teilnehmer in eine rituelle Verlaufsform ein, und hebt sie - frei nach Durkheim - über sich selbst hinaus (vgl. Durkheim 1981: 560ff.). Daneben liegt die Kraft eines Rituals zur sozialen Selbstverständigung in seiner Performanz - die zugleich Gegenstand und Modus ritueller Kommunikation ist. Wie in Narrativen von Sozialverträgen oder Gründungsmythologien (vgl. Koseharke 2004), fallen Erzählung und Erzähltes in der rituellen Performanz zusammen und machen eine Selbstverständigung über Legitimität und Grund sozialer Verfasstheit möglich. Deswegen kann Rappapart schreiben, Ritual sei »the basic social act« - und Sozialvertrag, Moralität, Konzepte des Heiligen und des Göttlichen, ja selbst das Paradigma von Kreation Teil der Ritualstruktur (Rappaport 1979: 174). Zugleich werden Rituale immer "für AndereGroßvater/:tälsynaestethisch< im rituellen Verlauf verfertigt werden, wie religiöse Passion am ehesten zu übersetzen ist. Vor den J:Iamadsa drehen und wenden sich die qarqabass-Spieler der Gnäwa, gehen in die Hocke und springen wieder hoch, und hinter ihnen führt der Trance-Schakal die Gruppe der 'lsäwa an, die sich, in der Reihung untergehakt, in Tanzschritten vor und zurück bewegen, und sich verstärkt durch die wallenden, schweren Gewänder in die Dissoziation der gemeinsamen Bewegung bringen, und den Namen Gottes vor sich her tragen: allah daym! (Gott ist ewig). Diese >kanonische Ordnung< des Rituals, um im Duktus Rappaports zu bleiben, wäre bedeutungslos, wenn sie nicht fest im Common Sense verankert wäre, ein Common Sense, der durch das Ritual zugleich immer wieder neu evoziert und induziert wird. Doch nicht nur die rituelle Unterwerfung schreibt sich in den außer-rituellen Kontexten fort und übersetzt sich in die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Alten und Jungen, Reichen und Armen, Handwerkern und Angestellten (vgl. Hammoudi 1997). Frei nach der Hocartsehen Formel, dass in dem Prinzipal des Rituals die lebensspendende Quelle selbst, das »Okkulte«, verehrt und antizipiert wird (Hocart 1970, vgl. Schnepel 1988), muss sich die baraka des Königs über das Ritual hinaus in den Zuwendungen an seine Untertanen erweisen. Als >lebensspendende Quelle< muss sich seine Anwesenheit in Arbeitsplätzen manifestieren, die durch die Stadtverschönerungen geschaffen werden, die seine Ankunft vorbereiten, in Entwicklungsprogrammen und Hausbauten, die er anstößt, sowie in zeitgemäßen Formen der Konsumtion und Emanation der staatlichen Medien. Die Mitglieder der Bruderschaften verdienen bei einem Umzug vor dem König pro Kopf 400 € - eine Summe, die einem dreieinhalbfachen Monatsgehalt eines angestellten Handwerkers entspricht. Die Legitimierung seiner Herrschaft geschieht in doppelter Hinsicht und wirkt,
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weil beide Aspekte ineinander fallen: es funktioniert als eine Gründungserzählung, deren symbolische Kraft bis heute vom Königshaus für sich in Anspruch genommen wird (die nationale Einheit des Landes zu garantieren) und beschwört durch die Folklorisierung zugleich die Authentizität und Modernität dieser Traditionen: Indem der König sich gleichsam im Zentrum dieser Modernitäten situiert, inszeniert er sich als oberster Produzent einer lokal augeeigneten, globalen Konsumkultur, die sich in Touristen und internationalen Kulturfestivals manifestiert und auszahlt sowie die Lebenswelten in Marokko und der marokkanischen Migration umgreift. Eine Szene, in der Said in einer Umzugspause in gespielter Rage und voller Überdruss das Plastikschwert auf seinen Kopf schlägt, unmittelbar bevor die Bruderschaften den abgesperrten Bereich der königlichen Tribüne und Ehrengäste betreten, scheint mir besonders aufschlussreich zu sein, denn sie zeigt, dass die Teilnehmer sich bewusst sind, hier an einem Theater teilzunehmen, das zugleich eine Eigendynamik entfaltet. Rituelle Verläufe setzen sich nicht eins zu eins in die habitus (Bourdieu 1976) der Ausführenden um und können die soziale Wirklichkeit weder abbilden noch performativ fraglos hervorbringen. Es ist vielmehr diese skeptische, distanzierende Perspektive der >AlltäglichkeitTheater< entlarvt, und die das Königshaus zur Geltung nehmen und rituell integrieren muss, damit es performativ trägt - indem es sich touristisch inszeniert, dadurch zugleich authentisiert und finanziell für die Menschen der Stadt amortisiert. Beide Strategien, die der Legimitierung qua Gründungserzählung und die Exotisierung einer eigenen >TraditionCharta< sozialer Grunderfahrungen wurzeln - die in den magischen Kontexten der Heiligenkulte aufbewahrt, verfremdet und in der Trance-Erfahrung zur Geltung gebracht werden. Die rituelle Präsenz des Königs (und seiner Familie) in den unterschiedlichen sozialen und topographischen Räumen Marokkos versucht, diese Bewegung in seinen eigenen königlichen Körper einzuschreiben (vgl. Kantorowicz 1992): estrangement fattens the body of the king (Feeley-Harnik 1985). Zentral scheint mir zu sein, dass der königliche Körper, der heilige Körper und der individuelle Körper ineinander durch die magischen, familiären und königlichen Rituale verschränkt werden. Wie wir gesehen haben, kommen in diesen korpo-realen Erfahrungen der Trance eigenständige Mächte zum Wirken - in der marokkanischen Kosmologie in der Regel die gnun, gut-böse Geister, die psychische, physische und soziale Störungen hervorbringen und regelmäßig Opfergaben bzw. rituelle Handlungen zu ihrer Befriedung erfordern und zugleich Verstöße gegen die moralische Ordnung ahnden oder diese hervorrufen. In der Trance erfahren die Menschen
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die Macht dieser Dämonen, so dass der von Fritz Kramer ausgearbeitete Begriff der »passiones« geeignet erscheint, diesen >inversiven< Aspekt des Handeins zu fassen, den die gnun verursachen und in dem sie zur Darstellung gelangen (vgl. Kramer 1989: 64). Dieser Erfahrungsmodus wird im Rap-Song medial repräsentiert, in den folkloristischen Darstellungen evoziert und in spezifischen Körpertechniken induziert. Mit zunehmender Begrenzung der Öffentlichkeit, mit zunehmender >IntimitätLöwen< werden, die den, nach der Schächtung noch zuckenden Opferschafen die Leber herausreißen und roh verschlingen oder die Selbstverletzung in rasender Trance, bis die Trancetänzer blutüberströmt - aber geheilt - zusammen brechen, ermöglicht das Verlassen der sozialen Ordnung und individuellen Zu-Ordnung, um sich in der >Hitze der Trance< im Abseitigen und >wilden Anderen< der menschlichen Gemeinschaft zu regenerieren. Diese Extremformen der religiösen Ekstase und sensorischen Vermittlung des Transzendenten dürfen nicht Gegenstand von öffentlich zirkulierenden Film- oder Tonaufnahmen werden, noch weniger Bestandteil staatlicher Folklore oder prestige-trächtiger Familienfeste. Und doch geht es auch bei den gemäßigten und medial aufbereiteten individuellen Zuständen der Dissoziation um diesen Rückgriff auf körperliche Erfahrungen und Gefühle, die sich der menschlichen Gemeinschaftsordnung entziehen und zugleich in ihrer rituellen Einrichtung konstitutiv für sie sind. Die magischen Kräfte externer, wilder Mächte werden im Laufe der Trance-Rituale kultiviert und zur Heilung von Krisen fruchtbar gemacht. Letztlich
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geht es bei diesen Ritualen um Erneuerungen der Gesellschaft aus ihrem Gegensatz, wie von Fritz Kramer für agrarische Riten der Regeneration bei den Nuba herausgearbeitet wurde (Kramer 2000). Die segensreichen Kräfte, die in den heiligen Plätzen und Schreinen in Meknes und nahe liegenden Bergdörfern aufbewahrt sind, machen die Menschen »Wieder gesund« und integrieren sie in die Netzwerke sozialer Gemeinschaft, wie am folgenden Beispiel einer Migrantin aus Frankreich deutlich wird: Meine Mutter ist in Frankreich. Wenn sie hier ist, geht sie [los] und verflüssigt sich [verschwindet] für vier Tage. Eine Woche wissen wir nicht, wo sie ist. Dann kommt sie zurück, mit Geld, mit Zucker, die Leute geben [es] ihr [beim Betteln und versuchen mit diesen Almosen an dem segensmächtigen Zustand ihrer Regression teilzuhaben]. Dann geht sie zum Hamam [und reinigt sich in diesem öffentlichen Bad] und [dann] macht sie zemita diel [des Heiligen] SidiA!:zmad [und verzehrt es mit ihrer Familie]. (Meknes 2006)
Wie wir bereits weiter oben gesehen haben, ist zemita eine Speise von besonderer, ritueller Bedeutung. Die Zubereitung variiert typischer Weise nach Region und wird von vielen Menschen mit >ihrer Kulturihrer Tradition< und >ihrem 'a~l< in Verbindung gebracht- es transportiert Erinnerungen an Familienabende im Ramadan und Feste im Familienkreis. Auf ästhetisierten Ritualnächten so genannter höherer, der städtischen Kultur zugeschriebenen 'Isäwa-Bruderschaften werden stilisierte Trancetänze von •Löwen< über einem Teller mit zemita durchgeführt, während der Zyklus von Säen und Ernten in einer q~ida besungen wird. »Das, was von der zemita übrig bleibt«, fährt meine Gesprächspartnerin fort, bringt sie zum Heiligtum von Sidi Ahmad und stellt es dorthin. Sie geht zum Vorsteher [dieses heiligen Platzes] und zieht von ihm baraka ab [um seines, bzw. des Segens diesen Ortes in Form von Brot oder Gegenständen teilhaftig zu werden] Y Dann geht sie [wieder nach Frankreich], bis jetzt schickt sie Geld [von dort], dann bringt die zweite Frau meines Vaters das Geld zu dem Heiligtum, damit sie dort [in der Fremde] nicht rausgeht und bettelt. (Meknes, 2006)
Die Regression auf den streunenden Zustand einer Besessenen kann in Frankreich, in der Fremde, besonders bedrohlich werden und soll durch kontinuierliche Gaben an heiligen Plätzen in der Heimat vermieden werden. Der Rückfall
27 Vgl. die Praktiken des fqihs, der baraka von heiligen Plätzen •abziehtSchakalsmemoriaVerfertigtwerdenglobalen< Kulturindustrie leben davon, diesen intimen Bereich sozialer Verortung für sich nutzbar zu machen. Auch die Kulturalisierungen seitens des marokkanischen Staates und Machtansprüche des Königs müssen an dieser Bewegung ansetzen, wenn sie wirkungsvoll werden wollen. Vollständig beherrschen, so zeigt der Versuch ihrer administrativen Regulierung, können sie sie nicht.
KULTUR, NATION UND MIGRATION
In Europa hat sich die Erkenntnis sehr spät durchgesetzt, dass soziale Entwicklungen an der Südküste des Mittelmeers unmittelbar mit sozialen Prozessen in Europa verwoben sind. Um zu versuchen, Strategien kultureller Rückversicherung und ihrer Politisierung unter marokkanischen Migrantinnen und Migranten herauszuarbeiten, erweisen sich Kenntnisse über diesen sich langsam modernisierenden Agrarstaat an der Südküste des Mittelmeers als unerlässlich ein Staat, der noch im 21. Jahrhundert im Stile eines »Medici-Fürsten« regiert wird, wie es von Geertz polemisch auf den Punkt gebracht wurde (Geertz 2005: 50). Zu diesem Zweck sollen an dieser Stelle die (i) die historischen und sozialen Hintergründe diskutiert werden, die königliche Prozessionen und nationale Rap-Musik hervorbringen und gestalten, (ii) die Bedeutung von >Kultur< für die Kontexte Marokkos herausgearbeitet werden, um dann (iii) Kulturalisierung im transnationalen Raum diskutieren zu können. (i) Wie oben bereits erwähnt, basiert die Gesellschaft Marokkos bis heute auf den Strukturen eines Agrarstaates, der auf Lebensmittelproduktion, Vorratswirtschaft und relativ beständiger Technologie basierte28 und in dem sich Privilegien weiterhin in Nähe zum Zentrum ausdrücken (vgl. Gellner 1999: 38ff.): Für viele Menschen gilt immer noch, dass sich an ihrem sozialen Status entscheidet, ob sie in ökonomisch schwierigen Zeiten hungern müssen, und dass sich dieser Status im Verhältnis zum mabzen abbildet, dem marokkanischen Ausdruck für das Machtzentrum, der sich von dem Begriff >SiloSpeicher< ableitet. Dabei geht es um kleine, aber sichtbare Gunsterweisungen, wie der Zugang zu einem Mitglied der Königsfamilie vor Ort oder kleinen Ausweisen, auf denen das königliche Pentagramm auf roten Grund aufgedruckt ist und zur Durchsetzung von kleineren Ansprüchen beispielsweise einem Verkehrspolizisten unter die Nase gehalten werden kann. Diese Nähe muss sichtbar werden, damit sie sich in sozialem Kapital niederschlägt. In der Mitte dieser Netzwerke und Ansprüche steht das königliche Haus, das von Bruderschaften genauso wie von den Rappern als Mittelpunkt nationaler Identität inszeniert wird, und deren physische Nähe während der Prozession im Falle der Bruderschaften, das Bekenntnis im Falle der Rapper in soziale Bindungen und lukratives Prestige umgemünzt werden soll. Auch die Großgrundbesitzer auf dem Lande, die das klienteläre System des Königshauses vor Ort verkörpern und fortschreiben, so lange sie dabei profitieren, bleiben aufgrund der kapriziösen, klimatischen Bedingungen auf den mabzen angewiesen, um ihren Status als Patron auch in schlechten Jahren erhalten zu können (vgl. auch für das folgende Hammoudi 1997). Die wachsende Klasse der städtischen Bourgeoisie und gut ausgebildeter junger Menschen hat in diesem System nicht automatisch einen gehobenen Status - vielmehr werden sie durch die prekäre Abhängigkeit von Gunsterweisen, die ihnen >gewährt< werden und nicht einklagen können, in ihren Grenzen gehalten. Die stetig wachsende Einbindung in den Weltmarkt und eine zunehmende Wichtigkeit des Dienstleistungssektors spielen eine zunehmende Rolle im öffentlichen Leben. Während der soziale Status durch Geburt, Herkunft, Religion, Beruf und Hautfarbe traditioneller Weise schwer veränderbar war, können individuelle Akteure durch geschicktes Agieren in neuen ökonomischen Tätigkeitsfeldern an Einfluss gewinnen, und diese egalisierenden Freiräume der marokkanischen Lebenswelt für sich nutzen und ausbauen (Hammoudi 1997: 61; vgl. bereits Rosen 1984; Eickelman 1976). Aber der Zugang zu wichtigen Positionen ist weiter an Korruption und Nepotismus geknüpft, so dass die meisten meiner Informanten damit beschäftigt waren, die Nähe zu einflussreichen Männern und Familien zu suchen - oder in der individuellen Lebensplanung daran scheiterten, diese Nähe nicht herstellen zu können. Die finanzielle Situation vieler Marokkanerinnen und Marokkaner bleibt fragil. Klimatische Schwankungen und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft und damit auf die Lebensmittelpreise werden jedes Jahr ängstlich verfolgt. Für 2006 ist für die Region Tanger-Tetouan ein jährliches Durchschnittseinkommen von 760 Euro dokumentiert, von denen über 75% für Lebensmittel, Kleidung und Miete aufgebracht wird (Bailly 2006). Die Arbeitslosigkeit ist offiziell mit 10% angegeben, liegt aber vermutlich weit darüber. Der Agrarsektor, in dem fast die Hälfte (44%) aller Marokkanerinnen und Marok-
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kaner arbeitet, hat in der Wirtschaftsbilanz weiterhin großes Gewicht. Im Bericht der deutschen Industrie- und Handelskammer in Marokko heisst es: Die nationale Wertschöpfung in Marokko wird stark von den klimatischen Bedingungen und starken Schwankungen des Agrarsektors beeinflusst. So hatte 2005 die Wertschöpfung im Agrarsektor einen Rückgang von 18 % verzeichnet, während sie 2006 um rund 30 %
wuchs. (AHK 2008)
Folgen wir Gellner, bilden diese sozialen und ökologischen Tatsachen die Grundlage, auf der Kulturalisierung betrieben und über Kulturalisierung nachgedacht werden muss. Marokko zeichnet sich durch kulturelle Unterschiede aus, die sich zwischen den Regionen und Landesteilen in Marokko finden, und die sich in unterschiedlichen Kleidungsstilen, Heiratsbräuchen, Essgewohnheiten sowie den vielen berberischen und arabischen Dialekten niederschlagen. Kultur fiel in der Geschichte Marokkos also nicht mit den Grenzen des politischen Verbands zusammen, vielmehr bestand ihre Funktion darin, so Gellner, das hierarchische Rangsystem der sozialen Ordnung zu stärken, und es sichtbar und verbindlich zu machen (Gellner 1999: 43). Die Eliten, auf denen der König seine Macht stützt, seine >Stability groupsin Abgrenzung< zu lokalen Dialekten, Praktiken und Bräuchen entwickelt worden. Diese galten als von der europäischen Kolonialadministration korrumpiert und als Hindernisse auf dem Weg zur nationalen Einheit und werden auch heute noch im öffentlichen Raum synonym für Rückständigkeit und Unzivilisiertheit gebraucht. »Zurück zu den Wurzeln«, wie Gellner hervorhebt, meinte deswegen
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nicht die Romantisierung eines ländlichen »Nationalcharakters«, sondern die Rückkehr zur Offenbarung und dem Modell der frühen, muslimischen Gemeinschaft um den Propheten (Gellner 1999: 135ff.; vgl. Hammoudi 2001: 155ff.). Wie bereits weiter oben dargestellt wurde, sollte dieses nativistische Projekt über Erziehung und Bildung die moderne Nation realisieren helfen, die französische Fremdherrschaft und Korruption überwinden und war untrennbar mit dem Eintreten für das Hocharabische verbunden. Paradoxer Weise behielt jedoch auch das Französische die Funktion, die koloniale Partikularisierung und Ethnisierung der marokkanischen Gesellschaft über eine standardisierte Hochsprache zu überwinden und gilt bis heute als Idiom modernistischer Funktionäre in der staatlichen Bürokratie. Wesentlich ist in beiden Fällen das Versprechen von Modernität und Prosperität, das durch Gebrauch des Hocharabischen und die Einbindung in transnationale Netzwerke der muslimischen umma bzw. das Französische und die Einbindung in die europäische Welt des ökonomischen Erfolgs eingelöst werden soll. Gellner hat prominent argumentiert, dass Nationalismus in dem Bestreben besteht, Kultur und Staatswesen deckungsgleich zu machen, indem die gesamte Gesellschaft durch eine Hochkultur definiert wird, die sich in standardisierten, auf Schriftkunde und Ausbildung gestützten Kommunikationssystemen realisiert (Gellner 1991: 85). Mit einer zunehmenden Industrialisierung und Globalisierung würde die Notwendigkeit einer entsprechend geteilten Kultur noch zunehmen, um Arbeitsvorgänge über große Distanzen und abstrakt bleibende Netzwerke zu koordinieren, deren Zugänglichkeit an die Beherrschung dieser kulturellen Fähigkeiten geknüpft wird. Weitsichtig beschreibt Gelirrer bereits in den 1980er Jahren die Anziehungskraft, die diese homogenisierenden Modernitäten auf viele Menschen ausübt, die sich marginalisiert in lokalen Kultur-, Sprach- und Arbeitskontexten vorfinden. [Deswegen] sehnen sich die analphabetischen, halbverhungerten Bevölkerungen, die aus ihren früheren ländlichen kulturellen Ghettos in die Schmelztiegel der städtischen Slums gesogen wurde, danach, in einem der kulturellen Zentren aufzugehen, die bereits einen eigenen Staat besitzen oder ihm nahe zu sein scheinen, mit dem daraus folgenden Versprechen auf volle kulturelle Bürgerrechte, auf Zugang zu Schulen, Arbeitsplätzen und allem anderen. (Gellner 1991: 73)
>>In der zäwiya und auf den Ritualen finde ich nichts und niemanden, der mir helfen kann«, wie mir ein Freund in Meknes sagte, der trotz höherer Bildung vergeblich darauf wartete, Zugang zu Arbeit und Ressourcen und damit zur Möglichkeit der >Selbstverwirklichung< im öffentlichen Raum zu bekommen
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(Meknes 2005). In seinem Streben nach Aufnahme in die Hochkultur der Arbeit und des individuellen Erfolgs versuchte er sich von 'der Straße, und den lokalen Netzwerken fernzuhalten, die für ihn Ausdruck von Rückständigkeit waren. Doch gleichzeitig werden die Zusammenhänge der Bruderschaften als 'exotisch-authentische< Ausdruckformen lokaler Identität zunehmend Teil einer transnational zirkulierenden Populärkultur und zum signum marokkanischer Moderne. Vielleicht weil Hochkultur im Kontext der autoritären, auf Patronage-Beziehungen aufbauenden Gesellschaften im arabischen Raum ein Projekt der Eliten bleibt und Ungleichheiten zementiert (vgl. Hammoudi 1997), und sich diese Erfahrungen in den Mehrheitsgesellschaften der Migration wiederholen, wächst die Bedeutung 'lokaler< Erfahrungswelten und kultureller Selbstverortung im transnationalen Raum, die sich in sog. Populärkultur übersetzt und in die Zirkulation von Gütern, Texten und Ideen zwischen der Migration und dem Heimatland eingespeist wird. Nicht nur die Mitglieder von H-Kayne, sondern auch der noch erfolgreichere Rapper BIGG ist zuerst in dem Versuch gescheitert, Marokko zu verlassen. Anders als die Rapper aus Meknes, hat er es auf illegalem Weg versucht und wurde nach Abschiebehaft in Malaga nach Marokko abgeschoben. Wenig später fing er an, auf dariga zu singen und veröffentlichte 2006 sein erstes Album Magarba talMaut (Marokkaner bis zum Tod). Im Internet zirkuliert dazu ein Videoclip, der seine Musik mit Szenen prügelnder Polizisten und ausufernder Staatsgewalt unterlegt. Es ist in unserem Zusammenhang interessant, dass er in dem betreffenden Titelsong der Platte auf die Nas al-giwan Bezug nimmt, um Gerechtigkeit in Marokko einzuklagen. Diese Musikgruppe hatte sich in den 1970er Jahren aus dem Milieu der Bruderschaften herausbildete und ist nach wie vor sehr populär unter Marokkanern. Liedzeilen wie: räs al-hlamfi dirham [Das Gesicht der Schande[findet sich] auf dem Geldstück, gemeint ist das Konterfei des Königs] sind auch jungen Leuten wohl bekannt. Traditionell konnten fromme Männer aus dem Umkreis der Bruderschaften das Königshaus im Namen transzendenter Werte herausfordern, so dass der König beständig bemüht bleiben musste, die rituelle Oberhoheit als "Führer der Gläubigen« (so sein offizieller Titel) zu bewahren. Auf die Mehrdeutigkeit des Titels Magarba tal Maut angesprochen, erklärt BIGG in einem Interview Apres le bac, ils ne revent que d'une chose : partir a l'etranger. C'est un reflexe que nous a laisse le protectorat. Les uns arrivent
a partir etudier en France, les autres meurent sur
des pateras. Mais aucun ne veut finir ses jours au Maroc. C'est >managerial bias« (Star/Griesemer 1989: 390) soll jedoch nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass wir es hier mit mehreren und gleichzeitig stattfindenden sozialen Übersetzungen zu tun haben. 12 Vgl. für eine Agenturtheorie der Medien Schanze/ Schüttpetz (2008).
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den Worten Callons, als obligatory point of passage, d.h. als Türsteher (gatekeeper) und ritueller Prinzipal etablieren.
Die Übersetzung ritueller Handlungsmacht: The principal is the objective Bei diesem Prozess des interessement muss Tami wie alle anderen Ritualvorsteher versuchen, eine rituelle Verlaufsform umzusetzen, in der sich die Akteure einfügen und ihre Rolle den rituellen Erfordernissen, Abläufen und Zielen entsprechend finden - dies betrifft sowohl die Klienten wie die ginn, die Musiker wie die Tänzer, die Zuschauer und die Experten, d.h. ihn selbst. Für seine Klienten in Europa kann das Ritual schlicht Mittel sein, sich selbst als großzügige Spender in Erinnerung zu rufen und ihren Status in der Heimat aufzuwerten, Gäste aus der Oberschicht oder europäische Besucher mögen darauf aus sein, kulturell authentische Erfahrungen zu machen, verschiedene Adepten, ihr Einkommen aufzubessern, die Patienten, ihre Befindlichkeiten zu kommunizieren, und er selbst mag darauf abzielen, sein Prestige zu steigern. In dieser fragilen Ausgangslage einer Kooperation ohne Konsens kommen nun unterschiedliche >technische Objekte< zum Einsatz, durch die Elemente der Akteursinteressen (neu) geformt und übersetzt werden (vgl. Latour 2006: 57): (Musik-)Instrumente, Kleidung (und ihre Farben), Kohlebecken, in denen die Essenzen verbrannt werden, Opfergaben und Photos, die abwesende Akteure integrieren, Filmkameras, die sie adressieren und Mobiltelefone, die sie zuschalten. Der Einsatz dieser (technischen) Objekte in medialen Übersetzungsketten baut Handlungspotential (agency) auf, verknüpft es und verteilt es um. So wie sich ginn und Patient im Tranceritual gegenseitig identifizieren, adressieren, und in ihrer Rolle manifestieren, werden auch alle anderen Akteure, Aktanten und Elemente des rituellen Netzwerks über die sozio-technischen Handlungsabläufe des Rituals, über seine Operationsketten und Übersetzungsleistungen definiert, denen sie unterzogen werden: Seien es die Tänzer, Besessenen, Zuschauer und Musiker, die Opfertiere oder die technischen Objekte und Medien im engeren Sinne, Photo, Kamera und Musikinstrumente - alle involvierten Elemente werden Teil von Operationsketten, die sie mit den anderen involvierten Einheiten verbinden und die sie rituell einrichten.13 13 Insofern kann für die Ausrichtung des Rituals auch nicht gelten, dass die unterschiedlichen Akteure >Vollkommen indifferent< gegenüber den Handlungen und Vorannahmen der anderen, am Ritual beteiligten Experten und Laien operieren, wie eine Lesart des boundary objects argumentiert, vgl. dazu das nächste Kapitel über »Trance Rituale und die Gestaltung von boundary objects«.
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Tami erweist sich als Ritualvorsteher, weil er >VOrhinterauf, der rituellen Bühne alle entscheidenden Positionen auf sich vereinigt: (i) Er ist als >Agent< gegenüber dem doppelten oder eigentlich dreifachen Prinzipal des Rituals verpflichtet, d.h. den Patienten, den gi.nn sowie der weiteren Öffentlichkeit. (ii) Als gate-keeper und seinerseits ritueller >Prinzipal< dirigiert er die anwesenden Akteure im weiteren rituellen Verlauf. (iii) Zugleich aber ist er genauso auf die anderen Akteure angewiesen, wie diese auf ihn, und nur indem er als >Klient< im Ritual zum Medium unter anderen Mediatoren wird, kann er für sich in Anspruch nehmen, als Ritualexperte aufzutreten und die Expertise zur Manifestation und Zirkulation von baraka mitzubringen: Seine Handlungsmacht bleibt an die rituellen Operationsketten gebunden, von denen er zugleich in Mitleidenschaft gezogen wird. Seine Funktionen als (i) Agent und (ii) Prinzipal sind also an einen Zustand der (iii) patienthood (Gell 1998) gekoppelt, aus der heraus er zum Medium der Kräfte werden kann, die ihn ergreifen, d.h. zum Heiler. In der berühmten Formel Hocarts ausgedrückt lautet diese Gleichung: principal = objective = X. Der Leiter und Manager des Rituals muss rituelle Handlungsmacht delegieren, um sie zu realisieren, d.h. er muss als Prinzipal und Agent zugleich auftreten, der zwischen den Akteuren vermittelt und sie dirigiert - und deren Patient er ist, insofern er durch ihre Tätigkeiten in einen Zustand der Dissoziation gelangen muss. Nur dadurch manifestiert sich das rituelle Ziel, die Segenskraft. Wie Burkhard Schnepel gezeigt hat, geht es auch bei Hocart nicht um die Herstellung einer wie immer gearteten Identität von Handlungselementen und Handlungszielen oder von Akteuren und Aktanten, etwa nach den oben genannten Prinzipien der Analogie von Photo und Person, sondern um die Herstellung eines tertium quid, das A (principal) und B (objective) teilen, einen >>Common spirit, life, or whatever you may choose to call it« (Hocart 1970: 58) und was wir als rituelle Handlungsmacht definieren können (vgl. Schnepel 1988).14 Die rituelle Handlungsmacht erwächst aus der Kooperation aller beteiligten Elemente und ist zugleich ihr Ziel: baraka. Tami erweist sich als Prinzipal, indem er erst als Agent Maklertätigkeiten übernimmt und das Ritual organisiert, und dann als Patient Teil der Medialisierungsketten wird, die rituelle Handlungsmacht erzeugen. Wie in dem oben beschriebenen Ritual, in dessen Verlauf er auf die Trance der Löwen regrediert und ein Opferschaf zerreißt, sind die von ihm durchlebten, pathischen Zustände meist besonders heftig und führen in ebenso prononcierte Sequenzen des Rituals über,
14 So schreibt Hocart: »[Ritual action] does not just note resemblances but produces them and produces them for a practical purpose« (Hocart 1954: 24, zit. n. Schnepel 1988).
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in deren choreographierten Abläufen baraka entsteht und von ihm weitergegeben wird.
Trance-Archive Nach dem Ritual werden die Filmaufnahmen von Tami und anderen Ritualvorstehern als Videokassetten, Visual CDs (VCDs) oder DVDs in das Archiv der Adepten bzw. die persönliche Sammlung der Experten integriert. Jeder neu hinzugefügte Film belegt seine magische Potenz und verifiziert den Erfolg seiner rituellen und medialen Tätigkeiten gegenüber Klienten, Auftraggebern, Konkurrenten und nicht zuletzt sich selbst. In den transnationalen, rituellen Netzwerken fungieren die Filmsammlungen als rituelle »Rechenschaftszentren« (Rottenburg 2002: 121), insofern sie Wissensbestände und Praxisformen verwalten und kontrollieren: Rituelle Techniken zur Erlangung und Umverteilung von baraka werden über den performativen Zusammenhang des Rituals hinaus verfügbar und transportabel gemacht. In der Gesamtschau dienen sie dem Ritual- und Medienexperten dazu, die rituellen Techniken standardisieren zu können und die Erwartungshaltung seiner Klienten zu eruieren und zugleich zu formen: Er kontrolliert diese Archive, wodurch sich seine Position als obligatory point of passage für seine Auftraggeber und Klienten stabilisiert. Die Vergleichbarkeit ritueller Techniken verschafft rituelle Autorität und seinen Praktiken Legitimität. Selbst hoch angesehene Adepten können in der Regel nicht darauf hoffen, diese Filme einfach ausleihen zu können, wenngleich die Ritualfilme in klar umrissenen Öffentlichkeiten, etwa auf Migrationswegen, zirkulieren. Diese Kontrolle betrifft nicht nur die begründete Angst vor einer Bloßstellung der gefilmten Teilnehmer und ihrer intimen Trancepraktiken, sobald die Filme ihren Weg in den Straßenverkauf finden. Zugleich geht es um die Kontrolle von Wissen und Netzwerken. Tami und andere Experten produzieren Ritualfilme, um sie bei Gelegenheit dem marokkanischen Fernsehen oder ausländischen Ethnologen und Dokumentarfilmern anbieten zu können und rekonstituieren zu diesem Zweck auch rituelle Praxen. So hat Tami beispielsweise eine Bruderschaft der Mülay-Milyiina für ein Ritual reaktiviert und filmen lassen; er ist stolz darauf, dass diese Gruppe ansonsten nicht mehr in der rituellen Topographie vor Ort zu finden ist. Indem er auch diese mit Feuer spielende und heilende Bruderschaft in sein Programm integriert hat, verzeichnet er einen weiteren Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten im rituellen Geschäft. Das Archiv stabilisiert die Position ihres Verwalters an der Nahtstelle zwischen rituell hergestellter Intimität und weiteren tatsächlichen oder möglichen Kooperationspartnern: Es verwaltet und produziert mediale Öffentlichkeiten.
Trance-Rituale und die Gestaltung von boundary objects
Die Einrichtung und transnationale Verbreitung ritueller Handlungsmacht setzt die Kooperation vieler Akteure voraus, deren unterschiedliche Interessen und Perspektiven in das Ritual integriert werden müssen. Wie das Beispiel unseres entrepreneurs Tami zeigt, dient ihm der Einsatz technischer Medien dazu, diesen veränderten Öffentlichkeiten und Erwartungshaltungen Rechnung zu tragen. Er muss die unterschiedlichen Interessen so auf sich vereinen und re-interpretieren, dass Kooperation möglich und ein rituelles Unternehmen im doppelten Wortsinn hergestellt wird. Dafür müssen eine Vielzahl an Übersetzungen vorgenommen werden, ohne dass Kohärenz eingebüßt wird (vgl. Star/ Griesemer 1989: 391f.). Der Trick dieser Übersetzungsleistung bedarf nach Star und Griesemer zweier Elemente, die für unseren Kontext leicht abgewandelt lauten: (i) Standards, die ein Minimum an Verbindlichkeit für alle beteiligten Akteure darstellen, wie der Gebrauch bestimmter Musikinstrumente, Preisungs- und Beschwörungsformeln, Kleidung und Tanzschritte, und (ii) die Entwicklung von Grenzobjekten (boundary objects), die sowohl die Autonomie von als auch die Kommunikation zwischen unterschiedlichen sozialen Welten maximieren (vgl. ebd.: 404). >Grenzbeschaffenheit< definieren die Autoren dabei wie folgt: »[Boundary objects have to be] plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites« (ebd.: 393). Nach ihrer Definition können die Grenzobjekte abstrakt (>Marokkanische Kultur< oder >barakaNacht der Macht>Folklore« ist der französische Begriff, den die Bruderschaften für diese Bühnen selbst benutzen und der für alle möglichen, populären Bereiche und Künste des Alltagslebens verwendet wird (vgl. das Kapitel zu >>Folklore und Passion«).
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handeln, die ihm ihre Ankunft am Flughafen in Casablanca kurzfristig mitteilen und sich von ihm abholen und direkt an einem auszuwählenden Schrein behandeln lassen. Um entsprechend flexibel auf diese Anfragen reagieren zu können, hat er unterschiedliche Bruderschaften unter dem Dach des FolkloreVereins mit Brief und Siegel unter Vertrag genommen, der sie bei Androhung einer astronomisch hohen Geldstrafe verpflichtet, bei Bedarf zur Verfügung zu stehen. Diese Professionalisierung und - hier ist dieser inflationär gebrauchte Begriff einmal angebracht - Kommodifizierung helfen ihm, sein institutionelles Ziel zu verfolgen, nämlich einen Folklore-Verein auf- und auszubauen, mit dessen Hilfe er die unterschiedlichen Akteursinteressen auf sich vereinen und mit transnationaler Reichweite operieren kann.
Abb. 52: Visitenkarte eines Folklorevereins4 (ii) ideal types: Seine Besessenheitsrituale zeichnen sich durch eine ästhetisch besonders ansprechende Gestaltung aus, die zugleich seinen Klienten die Ori-
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Name und Adresse sind geschwärzt. Auf der Visitenkarte zu sehen ist das Konterfei eines rituellen Entrepreneur über dem herrschaftlichen Bab Mansour, einem berühmten Monumentaltor am Rande der Altstadt, dessen Anlage seit 1996 UNESCOWeltkulturerbe ist. Vor dem Tor sind die Mitglieder der Bruderschafen in traditionellen Gewändern und mit Musikinstrumenten, dem Räuchergefäß sowie den Fahnen der Bruderschaft platziert.
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entierung im Ritual und die Identifizierung seiner Elemente und Geister erleichtert. Viele seiner Kunden gehören der Oberschicht an oder kommen aus der Migration und verbinden die Tätigkeiten der Bruderschaften mit kultureller Folklore, die als Signum angeeigneter Modeme Teil der Selbstinszenierung marokkanischer Eliten geworden ist. 5 Um die unterschiedlichen Kräfte und Welten im Ritual bearbeiten und verbinden zu können, und den individuellen Aspirationen der Klienten gerecht zu werden, bedarf es einer exemplarischen und damit anschlussfähigen Gestaltung ritueller Sequenzen.
Abb. 53: Der ginn Biihali
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Die Erfolgsversprechen dieser Moderne sind brüchig und müssen häufig über den hohen Preis der Migration und lange Jahre unsicherer Existenzweisen bezahlt wer· den. In der Beschwörung jüdischer oder muslimischer Geister versuchen die Aspiranten sozialen Erfolgs die Unwägbarkeiten ihrer Handlungsstrategien in lokale und so· ziale Kontexte zurückzubinden und in den Netzwerken ihrer Familien und Nachbar· Schaftsbeziehungen abzusichern.
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Der typische Ritualraum von Tami ist mit schönen und bunten Stoffen ausstaffiert, die zugleich die ginn ansprechen und in das Ritual einbinden sollen. 6 Gereicht werden nicht Butterkekse, sondern aufwendig gestaltetes und teures Marzipangebäck, das von einer Patisserie geliefert wird, zu Essen gibt es feinstes Hammel- und Rinderfleisch an aufwendig gestalteten Essenstafeln (anstatt traditionell auf dem Boden zu sitzen, wie es gerade bei Veranstaltungen der Bruderschaften aus dem Westen üblich ist). Als Erfrischung wird nicht Leitungswasser in offenen Flaschen und einem einzigen Trinkgefäß herumgereicht, sondern ein grab herumgeschickt, der in wechselnden Kostümen Saft in Plastikbechern reicht. Die Figur des grab stellt so etwas wie ein folkloristisches Symbol marokkanischer Festkultur dar; sie gehört zum Erscheinungsbild aller möglichen Menschenansammlungen und Straßenfeste, wo sie gegen ein paar centimes Wasser ausschenkt?
Abb. 54: Selbstpräsentation junger Männer für den Folklore-Markt
Tamis Ritualgestaltung wird von den Gästen vor und nach den Veranstaltungen in der Regel ausgiebig kommentiert, etwa in der Form von Aussprüchen wie: ••Das Essen ist sehr gut und bei ihm gibt es immer Saft«, »Er macht das immer
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Im Folgenden verbinde ich die Inhaltsanalyse von Filmen aus seinem Trancearchiv mit Notizen aus meinem Feldtagebuch, die ich während oder nach Besuchen seiner Rituale angefertigt habe.
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Darüberhinaus ist der traditionelle Wassersack (gerba) des gräb aus Ziegenleder Bestandteil einer populären Legende, die sich um den Heiligen der 'Isäwa rankt.
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so schön«, »Ich habe noch nie so einen Bühäli gesehen - mit dem Stab, das war ja etwas ganz Besonderes«. Der Geist des Bühäli ist der Geist einfältiger Narren und >>verkörpert heruntergekommene Kinder bürgerlicher Eltern« (vgl. Welte 1990: 234). In seinem rituellen Raum betteln die Besessenen in einem Flickengewand und mit einem Wanderstab in der Hand die Besucher um Gaben an und verteilen im Austausch Nüsse (vgl. Abb. 53). Das Flickengewand und der Wanderstab werden von Tami wie Bühnenutensilien hervorgeholt und den Besessenen zur deutlichen Kennzeichnung des Geistes übergeben - während in gewöhnlichen Ritualen den Tänzern recht pragmatisch ein Besenstiel in die Hand gedrückt wird. Obgleich die typisierte, szenische Darstellung der Dämonen Kennzeichen aller Trancerituale ist (vgl. Brunel 1926; Welte 1990; Zillinger 2010), fällt die Professionalisierung Tamis in diesem Bereich besonders ins Auge, der damit die gmn wie die Klienten gleichermaßen ansprechen will. Die Transformation des rituellen Raumes zielt immer auf die rituelle Integration beider Welten - der >anderen WeJt, (al 'älam al-äf:wr) und der unterschiedlichen, sozialen Welten seiner transnationalen Klientel. So konstatiert er in einem Gespräch über seine Ritualpraktiken, auch die ginn gingen mit der Zeit. Während sie früher Aufnahmen ihrer Manifestation verweigert hätten Photos von Personen in Trance ließen sich nicht entwickeln - , ließen sie es nun zu und nähmen die aufwendig gestalteten Rituale als Opfer an. Darüberhinaus ist es auffallig, dass Tami viele junge Frauen zu seinen Ritualen als Trancetänzerinnen einlädt und seine Stamm-Bruderschaft aus hübschen jungen Männern seines Viertels besteht, die uniformiert auftreten (vgl. Abb. 54) - eine Praxis, die sich an den Ritualaufnahmen orientiert, die von kommerziellen Plattenstudios wie Fassiphone zur Vermarktung produziert werden und den Konsumpraktiken seiner Klienten Rechnung trägt. (iii) coincident boundaries: Tami ist entsprechend Arbeitgeber, lokaler Patron, Unterhalter und Dienstleister, Besessener und Heiler sowie broker zwischen den verschiedenen, sozialen Welten, für die er operiert. Und auch das Ritual kann in seiner Gestaltung den verschiedenen Interessen und Erwartungen gerecht werden, ohne dass sich die beteiligten Akteure auf ein klar definiertes Charakteristikum (Erleben kultureller Intimität, Wahrsagen durch den Seher, Befriedung spezifischer Dämonen) einigen müssten. Die Kulturalisierung und Ästhetisierung der Trancerituale ist ein wesentliches Charakteristikum ritueller Grenzbeschaffenheit, insofern ihr wesentlich unterdeterminierter Kern die Operationalisierung von Segenskraft - auf Folkloreveranstaltungen bei Mc Donald's oder im Kontext von Besessenheitskulten unangetastet bleibt, und zugleich unterschiedliche Einstellungen und Interessenlagen integriert werden können.
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Tami trägt auf den Ritualen abwechselnd teuere, traditionelle, marokkanische Gewänder (gilälb) und europäische Kleidung. Bevorzugt greift er zu einem weißen Hemd europäischer Machart mit einer langen, roten Hose im orientalischen Stil, der Gürtel ist mit großen Buchstaben geschmückt, die das Wort >Boss< ergeben. Dies ist bemerkenswert, insofern in herkömmlichen Ritualen nach Möglichkeit gilälb getragen werden sollten - was Tami in bestimmten Sequenzen auch tut. Durch seine Erscheinung im Hemd allerdings betont er zugleich seine Funktion als entrepreneur und inkorporiert den erfolgreichen Geschäftsmann sowie Insignien der europäischen Moderne. In vielen Ritualen, in denen er als Gast erscheint, wird dieses Charakteristikum noch durch den Aktenkoffer verstärkt, den er bei sich trägt, und in dem sich Verträge seiner Folklorevereinigung befinden. (iv) standardized forms: Während herkömmliche Heilungs- und Besessenheitsrituale durch viele, ausgedehnte Pausen gekennzeichnet sind, in denen sich die Menschen ausruhen, sich unterhalten und stärken, vermeidet Tami (wie auch andere erfolgreiche Seher, bei deren Ritualen ich anwesend sein durfte) Leerlauf in seinen Veranstaltungen. Häufig mischen er und andere Ritualexperten Elemente verschiedener Bruderschaften, um möglichst viele, unterschiedliche Klienten einzubinden: so beginnen die Rituale beispielsweise mit dem tafläq, der rituellen Kopfhautverletzung mit einem Messer in der Tradition der J:Iamadsa, und gehen zur frisa, dem rituellen Zerreißen eines Schafs, in der Tradition der 'Isäwa über. Sie integrieren Elemente der städtischen Bruderschaften und ihre populären musikalischen Freisurrgen der Heiligen und des Propheten und verstärken die musikalische Behandlung von Dämonen durch rituelle Elemente und Instrumente der Gnäwa, in dem die lauten, im treibenden Rhythmus klappemden Eisen-Kastagnetten zum Einsatz kommen. Wie gesehen, sind die Opfergaben für die ginn ansprechend und vor allem deutlich gestaltet, um erkennbar zu sein, und besonders die Räume Lalla Miras und Lalla Malikas sind üppig von Tami ausgestattet. Diese kapriziösen, weiblichen Geister, die den Tanz, teure Kleider sowie exquisite Gerüche mögen, ergreifen von vielen Frauen in der Oberschicht Besitz und damit von wichtigen Klientinnen seiner Tätigkeiten. Eigene Lieddichtungen, in denen diese ginniat gepriesen und charakterisiert werden, werden von ihm in den jeweiligen Sequenzen zur Darbietung gebracht, und die Anwesenden zum Mitsingen einfacher Preisungsformeln oder bloß lautmalerischer Tonfolgen animiert. Seine Gesänge sind auf Audio-CDs erhältlich und werden als Teil alltäglicher Konsumpraktiken zirkuliert.
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Boundary Subjects: >marginal men< und Liminalität Obgleich Star und Griesemer Parallelen zwischen dem Konzept des boundary objects und marginalen Akteuren ziehen, sehen sie doch zwischen dem klassischen Prototypen persönlicher Liminalität, Parks marginal man, und wissenschaftlicher Kooperation durch die Verwaltung gemeinsamer Grenzobjekte gewichtige Unterschiede (Star/Griesemer 1989: 411f.; vgl. Park 1928). Gleichwohl hat die oben durchgeführte Analyse gezeigt, dass erfolgreiche TranceExperten ihre religiöse Potenz aus der Tatsache entwickeln, dass sie die unterschiedlichen Interessen und sozialen Welten >in ihrer Person< vereinen und >durch ihre Person< in der jeweils anderen präsent halten können. Um die rituellen Kooperationen über Zeit und Raum hinweg aufrecht erhalten und in seiner Person bündeln zu können, muss nicht nur das Tranceritual, sondern auch Tami selbst die syntaktischen Kategorien eines Grenzobjekts bzw. -subjekts auf sich vereinen. Dafür muss er sich (i) (repositories) ein breites Wissen über die unterschiedlichen Trance-Traditionen und ihre heiligen Orte aneignen sowie unterschiedliche Besessenheitsformen in seinem Körper als »principal of possessionglücklich zu machenGebrauchswertFolklore< an verschiedene Öffentlichkeiteil Anschluss finden, aber auch entlang der Distribution von Erzeugnissen, mit denen Beziehungen gestiftet und am Leben erhalten werden (vgl. Horden und Purcell 2000: 476). Neben dem oben erwähnten Getreide ist besonders die Olivenwirtschaft in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand von Handelsabkommen zwischen Marokko und den USA sowie Europa geworden. 1 In der zerkarsteten Landschaft Marokkos ist Olivenanbau eine lang erprobte Wirtschaftsform zur lokalen Versorgung, die zugleich über Lagerungsmöglichkeiten und Handelsrouten die unterschiedlichen ökologischen Nischen in die >Einheit in Vielfalt< übersetzt, die Marokko darstellt. Die Olivenernte, gegenseitiges Zeigen und Probieren von Olivenöl und Oliven, sowie die sozialen Beziehungen zu Olivenproduzenten waren saisonal eines der Hauptgesprächsgegenstände in Meknes und neben Milch und Zucker
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Getreide gehört dabei zu den Gütern, die ein, Oliven und Olivenöl zu denen, die ausgeführt werden. Der Preis für Olivenöl in Marokko stieg im Zuge eines Freihandelsabkommens mit den USA im Jahr 2006 so stark an, dass einige Familien in der Medina so gut wie ohne Olivenöl auskommen mussten.
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die wichtigste rituelle Opfergabe an Dämonen- und Heiligenschreinen. Bei Pilgerfahrten und Opferritualen kamen die Menschen zusammen und stellten eine Tischgemeinschaft mit den Dämonen und Menschen her, indem sie Brot brachen, Oliven teilten und aus einer Milchschüssel tranken. Die Lagerung und Umverteilung von Ressourcen und die entsprechenden politischen Interessen und Strategien, die dabei zum Tragen kommen, sind jedoch Epiphänomene einer ritualisierten Verfertigung der ultimativen Ressource, die für die Produktion und Reproduktion des Lebens mobilisiert werden muss: die Menschen und ihre Arbeitskraft selbst (vgl. Horden und Pureeil 2000: 377). Aus diesem Grund ist der muqaddim der 'Isäwa-Bruderschaft mit seinen Eltern nach Meknes gekommen und aus dem gleichen Grund hat er seine Cousine geheiratet, mit der zusammen er die rituellen Netzwerke in den garb pflegt und für sich und seine Kinder als Reserve immer wieder aktualisiert. Statt ehedem drei oder vier Bruderschaften des Westens gibt es nur noch seine taifa im Stadtteil von Sidi Baba. Aber dieser Mann allein versammelt am Prophetengeburtstag 400 Menschen aus dem ganzen Land und der Migration, die ihre Tauschnetzwerke re-aktivieren und eine ~adaqa vornehmen, mit der sie sich in den Nischen Marokkos relozieren: »Verkauft mich auf dem lebhaften suq [der sozialen Beziehungen], oh Auktionäre« singen die 'Isäwi für die Migrantinnen und Migranten bei ihrer Heimkehr. Mit Schaum vor dem Mund brechen Menschen bei den 'Isäwa des Westens auf dem Dach eines Hauses in der ehemaligen Barackensiedlung zusammen, wenn sie in ihrem Urlaub aus Montpellier nach Meknes kommen. Beim Hören der tehläl beginnen sie hemmungslos zu weinen und das Wasser fließt ihnen aus allen oberen Körperöffnungen. In ihnen »Steigt die Hitze auf«, der ginn zieht sie über und »sie entfernen sich von dem Gegebenen«. Crapanzano hat die Trancekulte der J:Iamadsa und 'Isäwa mit dem Tarantella-Kult Italiens in Verbindung gebracht, dessen zentrales Element De Martino auf der Grundlage seiner Arbeiten zu Beerdigungsritualen als >>la crisi della presenza« interpetiert hat (Crapanzano 2005). »ana kunt marid«, sagen die Adepten, wenn sie sich selber weinend und klagend auf den Filmen der Rituale sehen. »marid« heißt in diesem Kontext nicht in erster Linie >krankaußer mirRe-sozialisierung< entsteht über die >Entfremdung< von der Gemeinschaft im theriomimetischen Verhalten, in dem im Keim die Sozialisierung jedoch wieder angelegt ist: die >Kamele< und >Löwen< wollen miteinander >Spielen< und verlangen die Partizipation der sozialen Gemeinschaft an ihrem Zustand der Entfremdung, um >abzukühlen< und wieder als soziales Gegenüber fungieren zu können (vgl. Zillinger 2010). Der Einsatz von Filmen macht diese Bewegung für das Subjekt wieder-holbar und kann zur Selbstvergewisserung und als >memoria>Die Marokkaner«, schrieb mir der muqaddim der J:Iamadsa zum Abschied mit seinen schwieligen Händen des 'awäd, bauten weiterhin »auf harte Arbeit und Mühe, und 70% haben keine Arbeit..., sie sind zu 90% arme Leute, die von den [Wahl-] Listen, den Gesetzen und der wenigen Arbeit unterdrückt werden« (»Brief an den Ethnologen«). In seinem Leben hantierte er mit zwei Reserven, die er zur Bewältigung dieser Misere zu unterschiedlichen Zeiten mobilisierte: neben der Arbeit des 'awäd, hat er sich das musikalische und rituelle Wissen
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zur Gestaltung der Trance-Abende und ihrer Ästhetisierung angeeignet, das ihm Freiraum verschaffen und seinen Kindern zu vollen Bäuchen verhelfen soll, anstatt abends viel zu häufig einen Teller Bohnen für sieben Esser aufzuteilen. Beides erfordert ein beständiges Reaktivieren der sozialen Netzwerke, die sich in den letzten Jahren durch Migration- und Wanderbewegungen immer weiter überdehnt haben (vgl. Rosen 2002: 15). In ihren so entstehenden >>Strukturellen Löchern« kommen administrative Strategien zum Tragen, um Ansprüche auf Gestaltung im öffentlichen Raum durchzusetzen. Angesichts aufweichender Obligationsbeziehungen stellen Korruption und der Besitz von >Papieren] sind der Grund [sabab] und nicht die Arbeit [amal]. Und die Marokkaner sind Leute, die im politischen Leben erprobt sind. Aber sie bauen auf harte Arbeit, Mühe, und die Mannhaftigkeit und das arabische [Wesen] und diese Wörter haben mehrere Bedeutungen. Du kannst sie verstehen, nachdem Du die Politik Marokkos verstanden hast. Die Marokkaner bauen auf harte Arbeit und Mühe und 70 % haben keine Arbeit. Aber sie sind Handwerker und nehmen ihren rizq, von dem, was ihre Hände erschaffen. Und sie sind zu 90% arme [cjaif: sozial schwache] Leute, die von den Listen [alawä~], den Gesetzen [qawänin] und der wenigen Arbeit unterdrückt werden. Und ich entschuldige mich, mein Bruder, die Zeit ist nicht in unseren Händen. Abd al-Wäl:lad al'Awäd.
Nachwort
Diese Studie ist aus meiner Dissertationsforschung am Institut für Ethnologie der Eberhard-Karls Universität Tübingen hervorgegangen und wurde dort an der Fakultät für Kulturwissenschaften - der heutigen philosophischen Fakultät - 2009 als Dissertation angenommen. Die Dissertationsschrift wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Trance Medien und Neue Medien in den beiden Globalisierungsschüben (1900 und Heute)« großzügig überarbeitet und zum Teil erweitert. Ich danke allen, die mir Gelegenheiten gaben, Teile der Arbeit an verschiedenen Orten zu diskutieren, zu verbessern und der Öffentlichkeit vorzustellen. Meine beiden akademischen Lehrer Prof. Dr. Thomas Hauschild und Prof. Dr. Erhard Schüttpelz haben meine Forschungen von Beginn an begleitet, ihre Leidenschaft für die Ethnologie und ihre Lust zu immer neuen Aufbrüchen in das Abenteuer Forschung haben nicht nur die Arbeit an diesem Buch geprägt. Ohne Thomas hätte ich die Ethnologie nicht entdeckt, und ohne Erhard hätte ich sie nicht in immer neue Arbeits- und Lebenszusammenhänge getragen. Für beides danke ich ihnen von ganzem Herzen. Das Graduiertenkolleg Die Figur des Dritten an der Universität Konstanz hat mir das intellektuelle Umfeld geboten, um religionsethnologische Forschung und regionale Spezialisierung mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden. Besonders möchte ich mich bei Prof. Dr. Albrecht Koseharke und Prof. Dr. Ulrich Bröckling für ihre Unterstützung und Betreuung bedanken. Meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen im Kolleg danke ich für ihre Freundschaft und Unterstützung bei den jahrelangen Anstrengungen, pendelnd Forschung und Familie zu vereinbaren. Radka Bzonkova, Nacim Ghanbari, Arne Höcker und Patrick Eiden möchte ich stellvertretend für alle Anderen danken, die mir Unterkunft gewährt haben. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Forschungsgruppe zum Euro-Mediterranen Raum an der Universität Tübingen, insbesondere Annemarie Gronover, Sina Kottmann, Marion Krüger, Chris-
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tine Ostermann und Barbara Peveling bin ich für viele wichtige Diskussionen zu Dank verpflichtet, Dr. Frank Maurice Weite danke ich dafür, dass er sich in unseren Gesprächen noch einmal auf Meknes und seine Trancekulte eingelassen und sein Wissen und seine Erfahrungen mit mir geteilt hat. Dem Team um Frau Iguchi von der Universitätsbibliothek Tübingen danke ich für unermüdliche Literaturbeschaffungshilfe. Es gibt immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die verklärt auf ihre Promotionszeit zurückblicken, in der sie Familie gegründet haben ("Wir hatten doch alles>Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeitlntroduction. Modalities of Transnational Transcendence«, in: Anthropological Theory 7(3), 259-272. Davis, John (1989): »Michael Herzfeld and Greece«, in: Anthropology Today (5), 18-19. Dennerlein, Bettina (2001): »Legitimate bounds and Bound Legitimacy: The Act of Allegiance to the Ruler Bai'a in Nineteenth-Century Morocco«, in: Die Welt des Islam 41 (3), 287-310. Dorson, Richard M. (1999): The British Folklorists. A History, London. Dubouloz-Laffin, Marie-Louise (1946): Le Bou-mergoud: Folklore Tunisien, Paris. Durkheim, Emile (1981 [franz. 1912]): Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. Eickelman, D.F. (1976): Moroccan Islam: Tradition and Society in a Pilgrimage Centre, Austin, TX. Eickelman, D.F. (1981): The Middle East An Anthropological Approach, Englewood Cliffs, NJ. Eickelman, Dale (1985): Knowledge and Power in Morocco. The Education of a 20th Century Notable, Princeton, NJ. Eickelman, Dale F./Armando, Salvatore (2004): »Muslim Publics«, in: dies. (Hg.), Public Islam and the Common Good, Leiden, 3-28. EI-Tom, Abdullahi Osman (1985): »Drinking the Koran: The Meaning of Koranic Verses in Berti Erasure«, in: Africa: Journal of the International African Institute (55/ 4), 414-431. Ennaji, Mohammed (1999 [franz. 1994]): Serving the Master. Slavery and Society in Nineteenth Century Morocco, London. Evans-Pritchard, Edward (1978 [engl. 1937]): Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Fankfurt a. M. Fabian, Johannes (1983): Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York. Favret-Saada, Jeanne (1979 [franz. 1977]): Die Wörter, der Zauber, der Tod. Der Hexenglaube im Hainland von Westfrankreich, Frankfurt a.M. Feeley-Harnik, Gillian (1985): »lssues in Divine Kingship«, in: Annual Review of Anthropology 14, 273-313. Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, CA.
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GLOSSAR
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din, pL adyän: Religion. dirham (DH): marokkanische Währung, zur Zeit der Forschung entsprach 1 Dirharn ca. 10 Euro-cent. fatl:ta: >Eröffnungsgebet>Pfad«; geistlicher Pfad, Lehre eines bestimmten Heiligen, wird auch zur Bezeichnung der religiösen Bruderschaften gebraucht. tbel, pL tbula: SchnarrtrommeL tblat gelegentlich als Pluralform von tbel gebraucht.
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tehläl: nächtlicher als besonders tröstlich empfundener Gebetsruf des Muezzins, bei den 'Isäwa des Westens Klagegesang während einer lila. tigära.· Kommerz, Handel. tsäbil:z: Gebetskette. 'ild: Aloeholz. umma: Gemeinschaft aller Muslime. wäli (allah): wörtl. »Freund Gottes«; Heiliger. wuld kbir: siehe: mizwär. wuläd [zalifa: J:Iamädsa des Westens. wuläd siyyid: Kinder des Heiligen, in der Regel für alle Angehörigen der lineages gebraucht, die mit der administrativen Verwaltung der Heiligtümer durch das Königshaus betraut worden sind . wugud: das Gegebene, das Vorzufindende, auch das Sich-Vorfinden. zäwiya: (wörtl. »Ecke«), die Gemeinschaft bzw. der Versammlungsort einer Bruderschaft. zemita: Rituelle Süßspeise aus Mehl, Nüssen und Zucker. ziyära: Besuch, Wallfahrt zu einem Heiligengrab.
Locating Media/Situierte Medien PABLO ABEND
Geobrowsing
Google Earth und Co. - Nutzungspraktiken einer digitalen Erde November 2013, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36 ,99 €, ISBN 978-3-8376-2513-4
PABLO ABEND, TOBlAS HAUPTS, CLAUDIA MÜLLER (HG.)
Medialität der Nähe
Situationen - Praktiken - Diskurse 2012, 396 Seiten, kart., 34,8o €, ISBN 978-3-8376-1644-6
REGINE BuscHAUER, KATHARINE S. Wnus Locative Media
(HG.IEDs.)
Medialität und Räumlichkeit- Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien; Multidisciplinary Perspectives on Media and Locality Februar 2013, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,8o € , ISBN 978-3-8376-1947-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Zeitschrift für ~ Kulturwissenschaften :
emlgungsrbeit
Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Ku Itu rwissenschaften , Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart. , 8 ,50€, ISBN 978-3-8376-2353-6 • Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur