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German Pages 408 Year 2020
Julian Caskel Die Theorie des Rhythmus
Musik und Klangkultur | Band 49
Julian Caskel, geb. 1978, lehrt im Bereich der historischen und systematischen Musikwissenschaft in Köln und Essen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die (empirische) Interpretationsforschung, die intermediale Musikästhetik sowie die neuere Musikgeschichte.
Julian Caskel
Die Theorie des Rhythmus Geschichte und Ästhetik einer Denkfigur des 20. Jahrhunderts
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2017 unter dem Titel »Rhythmus. Geschichte und Ästhetik einer Denkfigur des 20. Jahrhunderts« an der Folkwang Universität der Künste Essen als Habilitationsschrift angenommen.
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Inhalt
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Einleitung................................................................................. 7
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis ................................................ 13 2.1 Mythos- und Fabriksirene in der Kulturtheorie ............................................. 13 2.2 Rhythmische Ortsbestimmungen ......................................................... 24 2.2.1 Genealogie: Theoriebildung um 1900............................................... 24 2.2.2 Etymologie: Theoriebildung um 1950............................................... 30 2.2.3 Phänomenologie: Theoriebildung nach 2000 ....................................... 39 2.3 Mythos- und Fabriksirene in der Kompositionspraxis ..................................... 43 3 3.1
Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft........................................ 59 Die Tradition der Dialektik ............................................................... 59 3.1.1 Aporien der Metrumkritik ......................................................... 59 3.1.2 Aporien der Rhythmuskinetik ..................................................... 63 3.1.3 Aporien der Zeitkonstruktion...................................................... 69 3.2 Die Alternative der Differenzästhetik ..................................................... 73 3.2.1 Schlagseiten der Interferenz ...................................................... 73 3.2.2 Schlaglichter der Interferenz...................................................... 78 3.2.3 Schlagworte der Interferenz ...................................................... 82 3.3 Ein Syntheseversuch der Rhythmustheorien .............................................. 87 3.3.1 Stimulation und Simulation ....................................................... 87 3.3.2 Non-zyklische Aktualisierung und zyklisches Potenzial............................. 96 3.3.3 Positive und negative Rückkopplung ............................................... 111
Analog-Digital-Wandler: Zur Ökonomie des Rhythmus .................................. 121 Operationen I: Unvollständige Rhythmusbegriffe.......................................... 121 4.1.1 Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden ......................................... 121 4.1.2 Wiederkehr des Verdrängten ......................................................126 4.2 Exkursionen I: Rhythmus als Dekonstruktion und Druckfehler ........................... 130 4.3 Operationen II: Unhinterfragte Rhythmusbegriffe ......................................... 142 4.3.1 Rhythmus als Original und Fälschung.............................................. 142
4 4.1
4.3.2 Rhythmus zwischen Polarität und Progressivität ................................... 151 4.4 Exkursionen II: Rhythmus als Denkform und Warenform ..................................165 Digital-Analog-Wandler: Die Geometrie des Rhythmus ................................. 185 Chronologie: Zwei Wellen der Rhythmusforschung ....................................... 185 Systematik: Drei Ebenen des Rhythmuserlebens .......................................... 194 Oszillationen: Auflösungen der Mikroebene ............................................... 199 Ordnungsmodelle: Einschaltungen der Makroebene ...................................... 210 5.4.1 Ästhetische Schulungen des Rhythmus ............................................ 210 5.4.2 Nationale Schulen der Rhythmusästhetik .......................................... 221 5.5 Orientierungen: Anpassungen der Mittelebene ........................................... 229 5.5.1 Der Rhythmus und das Mondgesicht .............................................. 229 5.5.2 Das Metrum und die Schildkröte.................................................. 242 5.5.3 Der Geist als Widersacher des Wassers ........................................... 254
5 5.1 5.2 5.3 5.4
6 6.1 6.2. 6.3 6.4 6.5 6.6
Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus ......................................... 263 Labor .................................................................................. 263 Gestalt ................................................................................. 269 Jargon ................................................................................. 277 Kraft ................................................................................... 285 Mitbewegung ........................................................................... 292 Zählakt ................................................................................. 300
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt ............................................. 311 Raum ................................................................................... 311 Bildgrenzen ............................................................................. 316 Symmetrie ............................................................................. 324 Musikalisierung ........................................................................ 334 Analyse ................................................................................ 342
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Epilog: Der Rhythmus des Schwarz-Weiß-Zeitalters.................................... 355
Literaturverzeichnis......................................................................... 365 Personenregister............................................................................ 397
1
Einleitung »Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben auslassest oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt.« (Zitat aus dem Babylonischen Talmud, zit. bei Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, S. 28)
Alles hat einen Anfang, nur der Rhythmus hat zwei. Das zweite Ereignis in einer rhythmischen Ereignisfolge ist nicht das eingetretene Ende des ersten Ereignisses, sondern die Setzung eines neu eintretenden zweiten Anfangsereignisses. Die rhythmische Zeitwahrnehmung ist dadurch bestimmt, dass sie stärker von ihrem Anfang als von ihrem Ende her bestimmt ist. Die Geschichte der Rhythmustheorien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert lässt sich als ein Versuch verstehen, den Rhythmus von dieser Ausgangsbestimmung zu befreien: Der Vorrang des Anfangsereignisses wird durchbrochen, indem die Relevanz temporaler Zeitpunkte für die Rhythmuswahrnehmung insgesamt negiert wird; die Abfolge repetierter Anfangsmomente wird nivelliert, wenn Rhythmus zur Abbildung auch von ästhetischen Diskontinuitäten und Störungen dienen soll. Wenn die Zeit alles zerstört, aber der Rhythmus seine eigene Form der Zeitlichkeit erzeugt, dann ist die Rolle des Rhythmus innerhalb der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts zutiefst unklar. Eine Ausgangsfrage könnte lauten: »Was zerstört den Rhythmus?« Zu untersuchen wäre, inwiefern die Moderne eigene Formen der Zeitlichkeit erzeugen kann, die in maximaler Weise die metrische Normbindung des Rhythmus überwinden und diesen so aus seiner eigenen in die eine alles zerstörende Zeit mit überführen. Die skeptische Gegenfrage würde lauten: »Was stört der Rhythmus?« Zu untersuchen wäre, inwiefern die eigene Zeitlichkeit des Rhythmus eine minimale Restbindung an jene metrische Normbindung verlangt, die sich dann dem Anspruch der Moderne widersetzt, in produktiver Weise alles zerstören zu können. Dabei scheint die erste Position auf eine progressive Logik zu verweisen, in der eine metrische Regulierung wegfällt, und die zweite Position auf eine konservative Logik, in
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Die Theorie des Rhythmus
der eine metrische Regulierung weiterhin besteht. Dem widerspricht jedoch, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine konservative und metrumkritische Rhythmusauffassung diese Debatten zu dominieren vermag. Theorie und Praxis des Rhythmus treten dadurch endgültig auseinander: Die ästhetischen Innovationen zielen auf eine zunehmend »irreguläre« Rhythmik, deren Akzent- und Schlagfolgen jedoch einen – wenn auch indirekten – Bezug zu Prinzipien eines gliedernden Metrums bewahren. Die zeitgleiche lebensphilosophische Theorie hingegen stellt Modernität mithilfe einer möglichst »reinen« Auffassung vom Rhythmus in Frage, aus der umgekehrt das zivilisatorisch-rationale Metrum vollständig ausgeschlossen bleiben soll. Eine modernistische Ästhetik der Metrumkritik muss ihre Rhythmusauffassung auch aus dieser wertkonservativen Traditionslinie ableiten und deren Theoriebausteine teilweise unverändert für sich übernehmen. Ein solcher Rückbezug kennzeichnet nicht nur Adornos StrawinskyKritik, sondern zum Beispiel auch die interdisziplinär geführten Rhythmusdebatten in den aktuellen Kulturwissenschaften. Dieses Buch formuliert als Ersatz einer »verengt metrumkritischen« Theoriekonstanz den Gegenvorschlag eines »erweitert metrischen« Theorieupdates. Um diese Ausgangsposition weiter zu klären, soll direkt auch die Gegenauffassung zu Wort kommen: »Die große Frage ist, ob wir von einem leeren, aber bereits vorstrukturierten Raum ausgehen wollen, in den dann Reales eingefüllt wird, oder ob wir von der Wirklichkeit des tatsächlich Erklingenden und insofern immer von einer erfüllten Zeit ausgehen und von dort aus fragen, wie das Erklingende sich organisiert.«1 Die hierzu abweichende These lautet, dass ein dualistisches Beharren auf Unmittelbarkeit als Gegensatz von Vorstrukturiertheit den Blick auf wesentliche Eigenschaften des Rhythmischen eher verstellt. Erstens ist eine solche Skepsis gegenüber der rationalen Verdinglichung der Zeitkategorie anfällig für irrationale Gegenentwürfe. Es droht daher zweitens eine Regression der rhythmischen Analysesprache ins Unverbindliche: Es kann zwar gesagt werden, dass eine performative Situation keinesfalls mithilfe eines metrischen Punktrasters beschrieben werden kann, aber es fehlt eine gleichwertige Beschreibung mithilfe eines alternativen Modells. Weiterhin dürfte diese Abwehrhaltung mehr über die ästhetischen Prämissen desjenigen aussagen, der sie ausspricht, als über die ästhetischen Aktionen, die analysiert werden. Wenn Autoren aus verschiedensten Aussagetraditionen allesamt dieselbe harsche Aversion gegen eine punktförmige Zeitauffassung vollziehen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Position zudem schlicht weniger langweilig als deren erneute Repetition. Ein großes Problem gegenwärtiger Rhythmusforschung ist, dass ihre verschiedenen Teildisziplinen kaum noch miteinander vernetzt sind. Die Perspektive einer »erweitert metrischen« Theorie soll sich auch dadurch bewähren, dass mit ihrer Hilfe ein Zugriff auf ganz verschiedene Strömungen der Auseinandersetzung mit dem Begriff und Inhalt von Rhythmus möglich wird. Als zentrale Theorieströmungen werden dabei die »einzelwissenschaftliche«, die »empirische«, die »esoterische« und die »kritische« 1
Christian Grüny, »Rhythmus und Geste, oder Metaphysics in Mecklenburgh Street«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 86.
1 Einleitung
Rhythmusauffassung unterschieden. Die Entwicklung dieser vier idealtypischen Theoriepositionen ist das Thema der folgenden Kapitel. Versucht man aber bereits in der Einleitung zwischen diesen vier Feldern Beziehungskriterien aufzustellen, so fällt als erstes die Abfolge ihres jeweiligen Auftretens ins Auge: Einzelwissenschaftliche Theorien des sprachlichen oder musikalischen Rhythmus sind kein Alleinstellungsmerkmal der Moderne und erfahren im Laufe des 20. Jahrhunderts eher einen Bedeutungsverlust, da der Rückwärtsbezug auf eine kanonische Syntax der Zeit vor 1900 die Formulierung gänzlich neuer Rhythmustheorien nach 1900 nicht mehr zuzulassen scheint: »Das System der Rhythmik ist ihre Geschichte.«2 Diese Aussage von Wilhelm Seidel übersieht jedoch, dass die Geschichte der Rhythmustheorien sich im 20. Jahrhundert eben nicht mehr im Systemgedanken einzelwissenschaftlicher Forschung vollzieht. Der Teil dieses Buches, der sich als Fortsetzung von Seidels Standardwerk zu Rhythmustheorien der Neuzeit für das 20. Jahrhundert verstehen lässt, muss für die »esoterischen« und »kritischen« Theoriemodelle einen Beschreibungsweg finden, der diese Strömungen nicht nur als Vergröberungen einzelwissenschaftlicher Axiome auffasst (da Seidel hier allzu normativ argumentiert, setzen seine eigenen Publikationen im Blick auf das 20. Jahrhundert vor allem den rhetorischen Topos vom angeblichen Rhythmusverlust der Moderne weiter fort). Eine empirische Rhythmusforschung etabliert sich dagegen erst um 1900, wobei die jeweils im Jahr 1894 publizierten Arbeiten von Thaddeus L. Bolton und Ernst Meumann symbolisch einen Anfangspunkt markieren.3 Das von beiden Autoren behandelte Forschungsfeld der »subjektiven Rhythmisierung« bleibt dabei für die empirische Theorie von zentraler Bedeutung, wobei dieser Forschungsweg bis ziemlich genau zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs florieren wird. Zwischen der einzelwissenschaftlichen und empirischen Forschung auf der einen Seite und den »esoterischen« bzw. »kritischen« Rhythmustheorien auf der anderen Seite findet jedoch kaum ein ernsthafter Austausch mehr statt. Eine »erweitert metrische« Theorie versteht sich als Angebot, die wechselseitige Skepsis gegenüber einer positivistischen Empirie bzw. einer rabulistischen Kulturtheorie dadurch in Frage zu stellen, dass Verbindungen zwischen den eher natur- und den eher geisteswissenschaftlichen Rhythmusforschungen herausgestellt werden. Das zentrale Definitionsmerkmal einer »esoterischen« Rhythmusspekulation ist, dass Rhythmus als der Rationalität archaisch vorgeordnete Lebenskraft konzipiert wird. Diese Theorien treten historisch erst in den Jahren nach 1900 verstärkt auf, sie erreichen ihren Zenit als Teil einer Zivilisationskritik der 1920er-Jahre und erleben letzte publizistische Ausläufer im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Gegenwart beschränkt sich dieser Ansatz auf alternativmedizinische Therapievorschläge, die weder eine eigene Theorieschule mehr anbieten noch mit der anarchisch bis völkisch argumentierenden Vorgängerzeit allzu viel zu tun haben (bis auf einige kosmologische Postulate). Zum Kontext der Rhythmustheorie gehört auch die Tatsache, einen Gegenstand akademisch zu verhandeln, der im Alltag vor allem durch jene Annoncen 2 3
Wilhelm Seidel, Über Rhythmustheorien der Neuzeit, München 1975, S. 13. Thaddeus L. Bolton, »Rhythm«, in: The American Journal of Psychology 6/2 (1894), S. 145-238; Ernst Meumann, Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, Leipzig 1894.
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Die Theorie des Rhythmus
präsent ist, die ihren Kunden versprechen, in wenigen Wochen und nur gegen geringe Gebühren zu einem umfassenderen Rhythmusgefühl zu gelangen. Dennoch ist es wichtig, diese »esoterischen« Theorien der ersten Jahrhunderthälfte ernst zu nehmen: Eine Grundidee der folgenden Arbeit ist es, in den verstiegenen und meist sehr zu Recht vergessenen Anmaßungen dieser Theorieschule dennoch die Wurzeln für bestimmte Auffassungen über den Rhythmus zu erkennen, die nicht nur in der Reformpädagogik, sondern für die allgemeine Ideengeschichte der Moderne einflussreich gewesen sind. Für eine »kritische« Rhythmustheorie scheint demgegenüber kennzeichnend zu sein, dass der Rhythmus genau umgekehrt zur »esoterischen« Auffassung in rationale Wertsysteme als ein nachgeordnetes Störmoment nicht ganz eingeordnet werden kann. Im Blick auf den historischen Zeitrahmen erscheint die Ersetzung der »esoterischen« Strömung durch diese »kritische« Alternative nahezu unzweifelhaft: Erste Vorläufer entstehen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu genau dem Zeitpunkt, an dem die letzten Vertreter der »esoterischen« Theorien sich zu Wort melden. Die »kritische« Theorieposition entwickelt sich komplementär zum Bedeutungsverlust der einstmals dominanten »esoterischen« Theorien von einer zunächst marginalen zur majorisierenden Rhythmusauffassung. Die Zielsetzung der vorliegenden Aufarbeitung dieser Theoriegeschichte im 20. Jahrhundert ist einerseits diejenige einer Meta-Theorie, die in einer möglichst inklusiven Perspektive versucht, die stabilen Grundaxiome und strukturalen Gleichartigkeiten der getrennten Strömungen herauszuarbeiten. Dafür aber müssen in den folgenden Kapiteln eine Reihe eigener Grundaxiome entwickelt werden, mit deren Hilfe zugleich eine weitere Theorie des Rhythmus aufgestellt wird, die von der Anfangsannahme ausgeht, dass Rhythmus sich sozusagen auf allen Ebenen am besten aus seinen Anfängen verstehen lässt. Eine »erweitert metrische« Auffassung ergibt sich dabei, wenn man die rhythmischen Abläufe von der nur scheinbar notwendigen Bedingung einer regulären metrischen Taktordnung emanzipiert, aber zugleich die nur scheinbar nicht notwendige Bedingung einer profilierten rhythmischen Anfangsbestimmung zu verallgemeinern versucht. Darin enthalten ist implizit die Akzeptanz einer »abstrahierenden« Zeitpunkt-Wahrnehmung, da auch der isolierte Zeitpunkt gegenüber der gefüllten Zeitspanne denselben Vorrang des Anfangs repräsentiert. Das ist am eindeutigsten beim Blick auf notationale Systeme: das Ende eines Notenzeichens wird durch den Anfangspunkt des nächsten Notenzeichens angezeigt und bildet auf diese Weise die »offenen« Zeitintervalle des metrisierten Rhythmus in sich ab.4 Die Entwicklung dieser Theorieposition besitzt in den folgenden Kapiteln aber auch Züge eines Thesenromans: Die Darstellung wird sich terminologisch vordringlich an der Dualität zwischen »analogen« und »digitalen« Zeitstrukturen ausrichten. Die These lautet demnach, dass dieses anachronistische Begriffspaar sich dennoch als der beste Chronist von Differenzen herausstellt, die in den Rhythmustheorien durch die Differenz zwischen diskreten Quantitäten und dichten Qualitäten umschrieben wird. Es wird in den Rhythmustheorien des 20. Jahrhunderts der Versuch unternommen, den »Vorrang des Anfangs« durch einen »Vorrang des Analogen« zu ersetzen. 4
Vgl. dazu grundlegend Eytan Agmon, »Musical Durations as Mathematical Intervals: Some Implications for the Theory and Analysis of Rhythm«, in: Music Analysis 16 (1997), S. 45-75.
1 Einleitung
Tatsächlich lässt sich der dichte Grundzustand »analoger« Strukturen durch geschlossene Zeitintervalle abbilden, in denen jedes durchlaufene Element einen eigenen Wert erhalten kann, während der diskrete Grundzustand »digitaler« Strukturen sich dadurch auszeichnet, dass alle diese Zwischenelemente denselben Ausgangswert erhalten. Wenn also Bernhard Waldenfels über den Rhythmus formuliert, dieser zeichne sich dadurch aus, dass er stets »nur unterwegs heimisch«5 ist, so verdeckt dieses vielzitierte Paradigma zugunsten einer grundsätzlichen Offenheit rhythmischer Abläufe, die sich nicht durch ein teleologisch oder technokratisch vorgegebenes Endziel bestimmen lassen sollen, die andere Hälfte eines binären Codes: Die negative Bestimmung des fehlenden Endes, die in den Theorien positiv gewichtet wird, ist durch die positive Bestimmung des vorhandenen Anfangs zu ergänzen, die in den Theorien zumeist negativ gewichtet wird. Der Rhythmus besitzt in seinem Unterwegssein sozusagen doch eine eigene Heimat: er besitzt eigene Wegmarken in Form spezifischer Wahrnehmungsbedingungen, die jede rhythmische Erfahrung teilweise kontrollieren und zugleich den engen Rahmen musikalischer bzw. ästhetischer Erfahrungen überschreiten. Ein Buch über den Rhythmus kann daher in sich rhythmisiert oder unrhythmisch angelegt sein. Als eher unrhythmisch erweist sich der verwickelte Entstehungsprozess der vorliegenden Arbeit, die im Jahr 2017 an der Folkwang Universität der Künste in Essen als Habilitationsschrift akzeptiert wurde: Dort ist an erster Stelle Andreas Jacob, aber auch Markus Roth und Andreas Meyer, zudem Catrin Köhler für die Betreuung dieses Verfahrens zu danken. Wesentliche Teile der Arbeit sind Resultat eines DFGProjekts über »Rhythmus als Kommunikationsmittel der musikalischen Moderne«, das an der Universität Köln durchgeführt wurde. Dort ist vor allem Wolfram Steinbeck, aber auch der wissenschaftlichen Hilfskraft Benjamin Hilger, den Kollegen und Kolleginnen des Instituts für Musikwissenschaft und Thomas Fischer von der Bibliothek für ihre Unterstützung zu danken. Die fertige Arbeit hingegen ist ganz im Sinne einer »erweitert metrischen« Positionierung einem Gesamtplan verpflichtet, bei dem das zweite und dritte, vierte und fünfte sowie sechste und siebte Kapitel jeweils ein aufeinander bezogenes »Taktpaar« bilden, die von dieser Einleitung und einem kurzen Epilog symmetrisch gerahmt werden. Das erste Kapitelpaar entwickelt Grundaxiome für rhythmische Abläufe im 20. Jahrhundert, die für alle Theorieströmungen gleichermaßen verpflichtend erscheinen. Das zweite Kapitel versucht zentrale Aporien in dem ganz konkreten Beispiel der »Sirenenklänge« zu verdichten, das dritte Kapitel versucht das umfassende Potenzial der aufgestellten Gegenaxiome zu belegen. Diese Abfolge polemischer Innenschau und pragmatischer Verallgemeinerung setzt sich in den nächsten Kapitelpaaren fort. Im vierten und fünften Kapitel wird der Gegensatz zwischen »analogen« und »digitalen« Rhythmuspositionen entwickelt, was eine stärkere Konzentration auf die Strömungen der »esoterischen« und »kritischen« Theorien bedingt; im Anschluss daran soll das letzte Kapitelpaar die ideologischen Prämissen einzig der »esoterischen« Rhythmustheorien aufarbeiten.
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Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, Frankfurt a.M. 1999, S. 64.
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Die Theorie des Rhythmus
Auch diese Arbeit besitzt dabei einige apriorische Einengungen, die für Rhythmusforschungen insgesamt typisch erscheinen: Die Theorien werden weitestgehend anhand der europäischen taktmetrischen Perspektive der Neuzeit entwickelt, sodass sowohl ethnologische Weitungen wie abweichende Systeme der Alten Musik und der Populärmusik unterbelichtet bleiben. Allerdings wird der Versuch unternommen, eine Theorie aufzustellen, die in ihrer Abstraktion und ihrer Allgemeingültigkeit auch bei einer Übertragung in diese Bereiche gewinnbringend bleiben kann. Daher wurde auf spezifisch musikwissenschaftliche Fachterminologie weitestgehend verzichtet, was auch bedingt, dass stattdessen eine Reihe eigener Begriffsbildungen vorgeschlagen werden. Offenkundig ist dabei eine »digitale« Rhythmustheorie mit dem Postulat der temporal einseitig und gerade darin eigensinnig ausgerichteten Zeitpunktfolgen noch nicht an ihr Ende gekommen. Aber ein erster unhintergehbarer Anfang ist damit bereits gesetzt.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
2.1
Mythos- und Fabriksirene in der Kulturtheorie
Die Versuchsanordnung ist bekannt: Odysseus, an den Mast gebunden, lauschend. Die Ruderer, die Ohren mit Wachs verstopft, rudernd, im Rumpf des Schiffes. Die Sirenen, von irgendwo her singend, lockend, verführend. Die zentrale Auslegung dieser Versuchsanordnung darf ebenso als bekannt vorausgesetzt werden: »Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern: ihre Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst. Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.«1 Diese keineswegs nur für die Deutung der Dialektik der Aufklärung maßgebliche Scheidewand zwischen Mythos und Logos ist tatsächlich schon in philologischer Hinsicht für die Anlage der Sirenenepisode prägend: Einerseits gilt der Abschnitt als stilistischer Einschub von Merkmalen der älteren Ilias (sodass Odysseus sich nach Troja zurück versetzt fühlen darf);2 andererseits ist der von den Sirenen vorgetragene Textinhalt ein vorgezogener Totengesang auf die Heldentaten des Odysseus und seine Rückkehr in die Heimat (sodass Odysseus wie im Fernsehzeitalter seinen vorproduzierten Nachruf zu hören bekommt).3 Die Sirenenepisode in sich scheint dialektisch konzipiert: Ihre Protagonisten wirken eher wie gebildete Exegeten und nicht wie Exekutoren des Mythos.4 Die darin
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Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M 16 2006, S. 41. Vgl. Pietro Pucci, »Les Sirènes: lire, et sa malédiction«, in: Hélène Vial (Hg.), Les Sirènes ou le Savoir périlleux. D’Homère au XXIe siècle, Rennes 2014, S. 21f. Vgl. hierzu Rebecca Comay, »Adorno’s Siren Song«, in: New German Critique 81 (2000), S. 25. Vgl. zur Entfernung vom Mythischen durch die literarische Form der Episode auch Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übs. von Karl August Horst, Frankfurt a.M. 1988, S. 13f.
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Die Theorie des Rhythmus
implizierte Doppelung des Hörens findet ihre Fortsetzung in dualistischen Typologien einer Musikwissenschaft, die gegen ihre eigene Selbstfesselung an die autonome Kunstmusik rebelliert: Die Gegenüberstellung einer ereigniszentrierten »perfect musical performance« und einer werkzentrierten »perfect performance of music« bei Lydia Goehr wäre hier zu nennen, die Forderung nach »drastischen« statt »gnostischen« Musiklektüren durch Carolyn Abbate, oder auch die Trennung zwischen »participation music« und »presentation music« von Thomas Turino.5 Alle diese Dualismen unterscheiden eine Musik, der man folgen kann, von einer Musik, der man folgen muss. Im ersten Fall geht es also um den geistigen Nachvollzug, im zweiten Fall um den zwanghaften körperlichen Mitvollzug der Klänge. Und der Umschlagpunkt der Sirenenepisode wird dadurch markiert, dass Odysseus hier gleichsam die eine gegen die andere Rezeptionsform austauscht, indem er die von der Musik eingeforderte Reaktion der physischen Mitbewegung verweigert und eine rein psychologische Rezeptionshaltung einnimmt. Der Gesang der Sirenen bleibt demgegenüber der Inbegriff einer Musik, der man folgen muss. Es scheint demnach ebenfalls klar, auf welcher Seite der Scheidewand in der Versuchsanordnung der Sirenenepisode der musikalische Rhythmus zu verorten ist: »If there is one realm where the erotic desire, the physical immediacy and the danger of the sirens’ song come together in a new form of anaesthetic music – devoid of cognition (in the philosophical sense) but full of bodily desire – then it would be in the form of electronic dance music.«6 Alle weiteren Ausführungen dieses Kapitels sind davon abhängig, diese gleichsam automatische Verbindung des Sirenengesangs mit einer rhythmischen Reizkomponente zu hinterfragen. Dafür muss erstens gezeigt werden, dass mit dem Sirenenklang wirkmächtig gerade die Utopie einer rhythmuslosen und »reinen« Klanglichkeit verbunden ist. Zweitens muss gezeigt werden, dass innerhalb der Sirenenepisode der Ort des Rhythmischen zwar nicht bei den Sirenen selbst, aber dafür bei allen anderen Beteiligten in der Versuchsanordnung gefunden werden kann: »In der Geschichte von Odysseus und den Sirenen scheint es sich somit um die beiden getrennten Hälften des Menschen schlechthin zu handeln; ›Vernunft‹ und ›Sinnlichkeit‹, die gewöhnlich als zwei einander widerstreitende Prinzipien in einundderselben
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Vgl. Lydia Goehr, »The perfect performance of music and the perfect musical performance«, in: New Formations Nr. 27 (1995/96), S. 1-22; Carolyn Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«, in: Critical Inquiry 30/3 (2004), S. 505-536; Thomas Turino, Music as Social Life. The Politics of Participation, Chicago 2008, S. 23ff. Es werden partiell tautologisch neue Begriffe erfunden für jene Differenz von Umgangs- und Darbietungsmusik, deren wirkmächtige Formulierung durch Heinrich Besseler für die aktuelle Forschung kaum noch zitierfähig scheint, jedoch die Autoren der Dialektik der Aufklärung beeinflusst haben mag. Alexander Rehding, »Of Sirens Old and New«, in: Sumanth Gopinath/Jason Stanyek (Hg.), The Oxford Handbook of Mobile Music Studies, Bd. 2, Oxford 2014, S. 96.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Brust miteinander im Kampf liegen sollen, scheinen hier auf zwei unterschiedliche Gestalten verteilt zu sein.«7 Eine Rhythmuslosigkeit des Sirenengesangs ist in dieser Formulierung eigentlich bereits impliziert: Rhythmus als Widerstreit in sich gegenstrebiger Prinzipien ist bei einer solchen Spaltung in zwei gänzlich voneinander getrennte Extreme nicht mehr gegeben. Eine Rhythmisierung kann daher einzig durch all das erfolgen, was sich zwischen den Sirenengesang und Odysseus als dessen Rezipienten stellen lässt – doch für diesen Gesang selbst sind die »rhythmuslosen« Komponenten eines »rein rationalen« bzw. eines »rein sinnlichen« Klangdesigns zu diskutieren. Dafür muss die musikbezogene Erforschung der Sirenenfiguren in ihren Grundprämissen umgekehrt werden: Dort wird einerseits das Feld auf Nymphen, Märchengestalten und insgesamt auf das Phänomen des lockenden Frauengesangs ausgedehnt, aber andererseits bleibt die Fabriksirene als Namensäquivalent der weiblichen Wasserwesen weitestgehend ausgeklammert.8 Das Singen und die weibliche Konnotation der Gesangsstimme beruhen auf der Absenz von Technologie.9 Was hier stattdessen vorgetragen werden soll, ist eine Deutung, in der die mythologische Versuchsanordnung der Odyssee und das Klangbild der neuzeitlichen Fabriksirene direkt aufeinander bezogen werden. Dabei wird die essayistische Abfolge verschiedener Pointierungen des »Sirenentopos« an einem doppelten Darstellungsziel ausgerichtet: Es sollen zentrale Grundbedingungen von Rhythmustheorien des 20. Jahrhunderts aufgezeigt werden, die aus einer Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Zeitstrukturen entspringen, die wiederum von den verschiedenen »Sirenentypen« symbolisiert werden. Der Mechanismus der Fabriksirene verknüpft mit der diskreten Punktreihe und dem kontinuierlichen Linienzug zwei Grundvorstellungen temporaler Gestaltung. Die »digitale« Ereignisreihe ist bestimmt als Abfolge von Zeitpunkten, die eine ausgefüllte Zeitspanne nur noch implizieren kann, die »analoge« Ereignislinie ist bestimmt als Zeitspanne, die eine Abfolge von Zeitpunkten nicht mehr implizieren muss. Die Generalthese nicht nur dieses Kapitels lautet nun: Die Theorie des Rhythmischen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ist immer wieder an dem Ideal ausgerichtet, für den Rhythmusbegriff den »digitalen« Extremwert der einförmigen Reihe von Zeitpunkten durch den »analogen« Extremwert der einheitlichen Kontinuität einer Zeitlinie zu ersetzen. Die Gegenthese lautet, dass der Rhythmus aufgrund des Vorrangs des Anfangs vor dem Ende sich nicht vollständig von einer diskreten Zeitstrukturierung ablösen lässt. 7
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Ute Guzzoni, »Die Ausgrenzung des Anderen. Versuch zu der Geschichte von Odysseus und den Sirenen«, in: Irmgard Roebling (Hg.), Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien, Pfaffenweiler 1992, S. 6. Vgl. insbesondere Walter Salmen, »Musizierende Sirenen«, in: Fritz Krinzinger/Brinna Otto/Elisabeth Walde-Psenner (Hg.), Forschungen und Funde. Festschrift Bernhard Neutsch, Innsbruck 1980, S. 393. Auch in einem zentralen Sammelband zum Thema findet sich eine einzige Aussage zur Fabriksirene: »In this context, it is not surprising that the mechanical sound that warns us from danger – the siren – takes the name of its female embodiment« (Annegret Fauser, »Rheinsirenen. Loreley and other Rhine Maidens«, in: Linda Phyllis Austern/Inna Naroditskaya (Hg.), Music of the Sirens, Bloomington 2006, S. 251). Vgl. Lucy Green, Music, Gender, Education, Cambridge 1997, S. 28.
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Die Theorie des Rhythmus
Der Sirenenton wird medienästhetisch zum Teil eines Grundschemas der Moderne, nämlich der Entdeckung einer diskontinuierlich-digitalen Basis in nur scheinbar dichtanalogen Erfahrungstatbeständen (das visuelle Paradigma dieses Prinzips bleibt das Filmbild).10 Die Apparatur der Sirene entspricht den Rezeptionsstereotypen der beiden Zeitformen: Die in gleichen Abständen angeordneten Löcher der rotierenden Scheibe repräsentieren den »rationalen Hintergrund«, der kontinuierliche Einzelton hingegen die »phänomenale Klangpräsenz« des mechanischen Instruments (vgl. auch Abbildung 2.1).
Abbildung 2.1: Darstellung einer mechanischen Sirene11
Innerhalb der empirischen Rhythmustheorien werden diese beiden einfachen Temporalformen aber als jene beiden Extremwerte bestimmt, die den Bereich der rhythmischen Erscheinungen von zwei Seiten her begrenzen (und also selbst nicht rhythmisch sind). Extremwerte sind dabei keine Randzonen: Natürlich kann der Eindruck der Rhythmuslosigkeit auch dadurch erzielt werden, dass komplexe oder irrationale Zahlenverhältnisse anstelle einer metrisch berechenbaren Pulsation das Feld der ästhetisch legitimen Möglichkeiten erweitern. Punktreihe und Linienzug hingegen sind qualitative Extremwerte, die das Pulsieren bzw. das »Unterwegs-Sein« des Rhythmus bewahren – und dennoch als rhythmuslos gelten, nicht weil sie chaotische oder komplexe, sondern obgleich sie ganz einfache Zeitmuster darstellen. Auch im übertragenen Sinne werden diese beiden temporalen Muster in der Rhythmusforschung daher zu Sirenenfiguren: 10 11
Vgl. zu diesem Aspekt auch Rehding 2014, »Sirens Old and New«, S. 83f. Vgl. Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 6 1913, S. 21.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Sie locken den Betrachter, den Rhythmus in sie hineinzulesen oder vor ihrem Einfluss zu schützen. Dabei zeigt sich dann der komplementäre Status der beiden Extremwerte: Die Punktreihe ist noch nicht rhythmisch, aber sie ist für die Generierung von rhythmischen Elementarformen in der empirischen Forschung zugleich beinahe unabdingbar; der Linienzug ist nicht mehr rhythmisch, aber er kann gerade deswegen zum Idealtypus der »esoterischen« (und auch der »kritischen«) Rhythmusauffassung erhoben werden. Die rhythmuslose Punktreihe ist die zentrale Bezugsgröße für das Schlagwort einer »subjektiven Rhythmisierung«, insofern eine »objektive« Rhythmisiertheit in Form ungleicher Abstandslängen oder Intensitätsstufen nicht vorliegt, sondern psychologisch unwillkürlich ergänzt werden muss. Diese Entgegensetzung einer uninterpretierten rhythmuslosen und einer rhythmischen Zeitpunktfolge impliziert zwei Fragestellungen: Erstens die Frage, inwiefern die uninterpretierte Reihe wirklich eindeutig rhythmuslos ist, zweitens die Frage, inwiefern die rhythmisch interpretierte Reihe tatsächlich bereits alle Merkmale positiver Zeitausgestaltung in sich abbildet. Verräterisch erscheint hierbei für die erste Frage, in welcher Weise im Gründungsdokument der empirischen Forschungstradition diese entscheidende (und danach in immer neuen Varianten ausformulierte) Differenz der beiden Reihentypen von Bolton begründet wird: »In the first place vocal utterances are related as regards time, that is, the same sound may recur at regular intervals, in which case the series thus formed might be termed a rhythmic series – a series which may become rhythmical. In the next place this series might be made up of louder and weaker sounds alternating with each other. The series would then be composed of groups of sounds and might be called a rhythmical series.«12 Man könnte die beiden Begriffe im Deutschen vielleicht durch den Unterschied zwischen einer »rhythmisierenden« Reihe und einer »rhythmisierten« Reihe wiedergeben. Die Rhythmuslosigkeit der »rhythmisierenden« Ausgangsreihe ist dabei eine Behauptung, die wie in der folgenden Definition auf eine Vermengung zweier Annahmen über das musikalische Metrum zurückgeführt werden kann: »Im Gegensatz zum neuzeitlichen Begriff des Taktes, der eine virtuelle Größe darstellt, da es sich beim Takt um eine nicht notwendig erklingende Gruppierung von gleichartigen Notenwerten handelt, also z.B. 3/4, sozusagen einen Zeit-Rahmen, vor dem der Rh. sich abhebt, ist der Rh. eine Abfolge rhythmischer Elemente, also verschiedener Notenwerte.«13 Die auf das Metrum bezogene erste Hälfte der Definition bestimmt die Differenz von Rhythmus und Metrum als Differenz zwischen der psychologischen Projektion und der phänomenalen Präsenz zeitlicher Strukturen. In diesem Fall aber ist die »rhythmisierende« Punktreihe, wenn sie phänomenal gegeben ist, ebenso rhythmisch wie jede andere geklopfte Zeitabfolge, wohingegen die »rhythmisierte« Punktreihe, wenn diese
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Bolton 1894, »Rhythm«, S. 157. Clemens Risi, »Rhythmus«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 271.
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Rhythmisierung als subjektive, also psychologische Ergänzung verstanden wird, rein metrisch und also unrhythmisch verbleiben würde. Die auf den Rhythmus bezogene zweite Hälfte der Definition bestimmt daher die Differenz von Rhythmus und Metrum durch ein Zusatzkriterium, wonach die psychologische Projektion an gleiche, aber die phänomenale Präsenz an ungleiche Zeiten gebunden sein soll. Die gewünschte Abfolge einer rhythmuslosen »rhythmisierenden« und einer »rhythmisierten« Reihenform ergibt sich nur dann, wenn für die erste Reihe das erste Differenzkriterium zugunsten des zweiten außer Kraft gesetzt wird, und für die zweite Reihe das zweite Differenzkriterium durch das erste außer Kraft gesetzt wird (die phänomenale »rhythmisierende« Reihe ist weiter nicht rhythmisch, weil sie aus gleichen Zeiten besteht, aber die objektiv gleichen Zeiten der »rhythmisierten« Reihe sind bereits rhythmisch, weil in ihnen psychologisch eine Differenzierung der Intensität oder eine Dehnung der Längenwerte im Sinne subjektiv ungleicher Zeiten spürbar wird). Demnach muss in der empirischen Forschung zur »subjektiven Rhythmisierung« die Differenz von Rhythmus und Metrum (bzw. Takt) teilweise außer Kraft gesetzt werden.14 Der polemische Vorwurf von Ludwig Klages, wirklich jede bisherige Definition des Rhythmus würde diesen in Wahrheit mit einzelnen Elementen des rationalen Takts verwechseln, ist durch die faktische Anbindung dieser frühen Definitionen an einfache Schlagfolgen eine ziemlich präzise Diagnose.15 Tatsächlich wird die Frage nach der Vollwertigkeit oder Unvollständigkeit einer einzelnen Punktreihe in jenem Teil der einzelwissenschaftlichen Rhythmusforschung, der sich ausgehend von den Theorien Heinrich Schenkers in den USA seit etwa 1970 etabliert hat, nun explizit nicht für den Rhythmus, sondern für das Metrum nochmals ausdebattiert.16 Die Rhythmuslosigkeit der einzelnen Punktreihe ist also eine Hypothese, die notwendig ist, um die volle Rhythmisiertheit der psychologisch gegliederten Punktreihe behaupten zu können.17 Diese zweite Annahme verlangt letztlich ebenso dringlich nach einer nun aber stärker historisch zeitgebundenen Erklärung: Warum erkennen die Forscher in der Gruppenbildung innerhalb einer »rhythmisierenden« Einzelreihe nicht den trivialen Normalfall einer metrisch-taktmäßigen Regulierung, sondern den Idealfall ei-
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Vgl. Theodor Ziehen, »Rhythmus in allgemein philosophischer Betrachtung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 187f.: »Der Rhythmus ist die Rekurrenz, d.h. die regelmäßige Wiederkehr von etwas Gleichem in gleichen Abständen«. Vgl. Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt 1934, S. 19. Vgl. einerseits Maury Yeston, The Stratification of Musical Rhythm, New Haven 1976, S. 66, der das Metrum als »a constant rate within a constant rate« notwendig doppelwertig bestimmt, andererseits als Gegenposition William E. Benjamin, »A Theory of Musical Meter«, in: Music Perception 1 (1984), S. 371: »First, the determination of even one level of pulsation, which involves a regular cutting of time, must rest on a judgment that the points of cutting are in some sense strong points«. Der neue Mitspieler ist dabei die Neue Musik: Das Metrum einer einzelnen Punktreihe erscheint hinreichend, wenn diese extern (z.B. durch ein Metronom) als Orientierung auf eine in sich »rhythmuslose« Musik projiziert wird. Vgl. zur Konstanz dieser Argumentation Meumann 1894, Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, S. 15 sowie Theodor Lamm, »Zur experimentellen Untersuchung der rhythmischen Veranlagung«, in: Zeitschrift für Psychologie, Bd. 118 (1930), S. 210f.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
nes vitalen Rhythmuserlebens?18 Zuallererst muss hier der Einfluss der Gestalttheorie genannt werden, deren in sich einfache Kriterien wie Nähe und Verwandtschaft eine stark idealistische Aufladung auch in die Zeitpunktabfolgen einbringen.19 Tatsächlich werden in der aktuellen Metrumtheorie diese Gestaltkriterien der rhythmischen Gruppenbildung zugeordnet, während das musikalische Metrum keine eigenen Gruppenbildungen besitzt, sondern auf einer in die Musik projizierten Akzentstruktur basiert.20 Das Problem ist jedoch, dass sich das Metrum eher als jene Gruppenstruktur definieren lässt, die dann entsteht, wenn durch die äquidistante Abfolge gleichartiger Einsatzpunkte die beiden Gestaltkriterien von Nähe und Verwandtschaft ausgeschaltet sind. Diese sind dann nicht die Bedingung rhythmischer Gruppenbildungen, sondern das Resultat metrischer Gruppenbildungen (und in diesem Sinne ist die Theorie der »subjektiven Rhythmisierung« als metrisierter Vorgang zu verstehen). Die Herleitung des Rhythmus aus einer Gleichartigkeit beliebiger Glieder (eine Anzahl Münzen, Perlen etc.) ist von zentraler Bedeutung schon für die Poetik und Taktlehre des 18. Jahrhunderts. In dieser Tradition heftet sich die klassizistische Denkform von Einheit und Mannigfaltigkeit an die Differenz der »rhythmisierenden« und »rhythmisierten« Reihen. Die idealistische Aufladung dürfte wohl nun deswegen möglich sein, weil die »rhythmisierte« Reihe hier nicht als die zweite und weiterhin einfache Stufe des ästhetischen Pols der Einheit, sondern bereits als die erste Stufe des ästhetischen Pols der Mannigfaltigkeit bestimmt werden kann (und zwar aufgrund einer spezifisch sprachmetrischen Bedingung, in der diese einfache Reihe vom Muster der Wortakzente erst einmal abstrahiert und generiert werden muss).21 Die empirische Forschung tut sich also recht schwer damit, den »digitalen« Extremwert der einfachen Punktreihe als rhythmuslose Struktur zu bestimmen, während 18
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Vgl. Max Ettlinger, »Zur Grundlegung einer Ästhetik des Rhythmus«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 22 (1900), S. 166: »Andererseits aber gibt es auch Personen, die schon gegenüber einer gleichmäßigen Folge gleicher Schalleindrücke, die man nicht als rhythmische Kunstform zu bezeichnen pflegt, etwas Ähnliches erleben, wie einer wirklichen rhythmischen Kunstform gegenüber«. Vgl. als Beispiel der dadurch stark normativ aufgeladenen Rhetorik Erich M. Schmidt, Über den Aufbau rhythmischer Gestalten, München 1939, S. 85: »Im Gleichmaß geteilte Reihen werden als rhythmisch nur dann erlebt, wenn sie auf diese Weise gefühlsganzheitlich durchdrungen und umschlossen sind. Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, objektiv im Gleichmaß geteilte Reihen als rhythmisch zu bezeichnen«. Vgl. zu diesem umstrittenen Differenzkriterium Fred Lerdahl/Ray Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge, Mass. 1983, S. 25f. Diese beiden Gestaltkriterien spielen in der älteren Theorie stärker bei optischen Experimenten eine Rolle; vgl. Max Wertheimer, »Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt«, in: Psychologische Forschung, Bd. 4, Berlin 1923, S. 308f. Vgl. zur Rezeption dieser idealistischen Tradition in der Rhythmusforschung nach 1900 etwa August Schmarsow, »Rhythmus in menschlichen Raumgebilden«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 14/1 (1920), S. 174. Vgl. zudem Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M. 1989, S. 677: »Der Rhythmus genügt gleichzeitig den Grundbedürfnissen nach Mannigfaltigkeit und nach Gleichmäßigkeit, nach Abwechslung und nach Stabilität: indem jede Periode für sich aus differenten Elementen, Hebung und Senkung, quantitativen oder qualitativen Mannigfaltigkeiten besteht, die regelmäßige Wiederholung ihrer aber Beruhigung, Uniformität, Einheitlichkeit im Charakter der Reihe bewirkt«.
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Die Theorie des Rhythmus
dieser Status für den komplementären »analogen« Extremwert des Linienzugs unumstritten erscheint. Aus der in der Einleitung skizzierten Matrix, wonach dem Rhythmus seine Anfänge logisch zugehörig sind, seine Endpunkte aber nicht, könnte man argumentativ ableiten, dass der »digitale« Extremwert eine dem Rhythmus als dessen einfachster Fall zugehörige Anfangsbestimmung ist, während die kontinuierliche Linie die dem Rhythmus nicht zugehörige utopische Endbestimmung darstellt. Ein Indiz hierfür ist, dass bei Autoren der Gegenwart wie Vergangenheit die Einzellinie eher mit visuellen Vorgängen wie einem schnurgerade fallenden Stein und nicht als akustisches Ereignis bestimmt wird.22 Der Linienzug scheint sich einer »subjektiven Rhythmisierung« vollständig zu entziehen, statt diese sofort auszulösen. Diese Rhythmuslosigkeit eines Einzeltonklangs ist aber explizit auch anhand der Erfahrungen mit dem Sirenenton begründet worden: »Ein gleichmäßig fortdauernder Ton führt nicht zur rhythmischen Auffassung, auch kein stetig anwachsender oder abnehmender, noch ein stetig in der Tonhöhe zu- bzw. abnehmender Ton (Sirenenton).«23 Auch eine energetische Musiklehre setzt also weiterhin eine rhythmische Periodisierung voraus: »Eine absolut gleichförmige Bewegung, wie etwa der Eigenton eines rotierenden Schwungrads, gehört nicht in den Bereich ästhetisch lustvoller Gebilde«24 Der Sirenenton besitzt aber bekanntlich zwei wiederum in sich komplementäre Ausprägungen des »analogen« Extremwerts, insofern einmal ein durchgängiger Einzelton bei Ausschaltung aller Tonveränderung, einmal im heulenden Glissando der anoder abschwellenden Frequenzen eine durchgängige Tonveränderung bei Ausschaltung aller Einzeltonfixierung erzeugt werden kann. Damit spaltet sich der Sirenenton in seine eigenen Extreme einmal der möglichst reinen Klänge (als Modell einer »konservativen« Harmonielehre des 19. Jahrhunderts), einmal der geräuschhaft unreinen Klänge (als Modell einer »progressiven« Instrumentalsprache des 20. Jahrhunderts).25 Für die weitere Argumentation ist nun vor allem von Interesse, dass die Beschreibungen des imaginären Klangs der Mythossirenen ebenso früh wie stabil mit genau diesen rhythmischen Extremwerten in Verbindung gebracht werden, die weit später dann den realen Sirenenton ihrer Fabrikschwestern erzeugen. Wichtig ist die Verbindung des Sirenenmythos mit der Vorstellung der Sphärenharmonie, die bereits durch 22
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Es gehört dies zu den Argumenten, die stets ohne die Notwendigkeit weiterer Zitation oder Begründung als Basisannahmen über den Rhythmus mehrfach ausformuliert worden sind. Vgl. Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 64f.; Henri Lefebvre, Rhythmananalysis. Space, Time and Everyday Life, übs. von Stuart Elden und Gerald Moore, London 2013, S. 86; Hanno Helbling, Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt a.M. 1999, S. 7: »Das Chaos ist arhythmisch, soviel scheint sicher zu sein. Nicht rhythmisch ist ferner ein Punkt, nicht rhythmisch eine gerade Linie oder eine kreisrunde Fläche«. Gotthilf Flik, Die Morphologie des Rhythmus, Diss., Berlin 1936, S. 4. Selbstverständlich findet man diese Bestimmung auch ohne explizite Referenz auf den Sirenenton, etwa bei Felix Auerbach, Tonkunst und bildende Kunst vom Standpunkte des Naturforschers. Parallelen und Kontraste, Jena 1924, S. 24: »In der Tat, ein sich stets gleichbleibender Ton und selbst ein ganz stetig und allmählich sich verändernder Ton würde noch keinen Rhythmus ergeben, der Rhythmus entsteht erst durch eine unstetige Aufeinanderfolge von Elementen, die an sich verschieden, und zwar grob, nicht bloß differentiell verschieden sind«. Hans Mersmann, Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926, S. 21. Vgl. zur Bedeutung des Sirenentons in einer naturwissenschaftlichen Mediengeschichte Stefan Rieger, Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt a.M. 2009, S. 135ff.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Platon vorgenommen wird: Dieser lässt acht Sirenen auf den acht Planeten kreisen, wobei jede explizit genau einen einzelnen Ton von sich geben soll. Der Einzeltonklang dieser Kreisbewegung wird in einer berühmten neuzeitlichen Korrektur von Johannes Kepler dann erstmals zur Ellipsenbewegung eines beständig an- und abschwellenden »Sphärenglissandos« umgedeutet.26 Die Latenz dieser Zuschreibungen tritt in dem Enthusiasmus hervor, mit dem zuletzt Friedrich Kittler den Sirenengesang als Darstellung der pythagoreischen Musikmathematik begriffen hat: Die Deutung erfolgt dabei in expliziter Abgrenzung von Platon, dessen Planeten-Skala beim gleichzeitigen Erklingen aller Einzeltöne offenkundig eine hässliche Dissonanz erzeugen würde.27 Kittler selbst sieht dagegen in der bei Homer explizit vermerkten Zweizahl der Sirenenstimmen den entscheidenden Hinweis, dass diese die Naturtonintervalle und als ultimatives klangliches Lockmittel den Signalton einer reinen Oktave gesungen haben könnten. Die Sirenen werden bei Kittler sozusagen zu Stimmgabeln, in deren Verschmelzungskonsonanz eines einerseits zahlhaft rationalen, andererseits zutiefst sinnlichen Klangwissens sich für die Opfer ihres Gesangs auch eine Erkenntnis verbirgt: Die Sirenen singen als Musik, der man folgen muss, von der Entdeckung einer Musik, der man folgen kann.28 Das antike Argument, dass die Sphärenharmonie unhörbar sei bzw. aufgrund ihrer Unabänderlichkeit von den Menschen nicht gehört werden kann, muss sich letztlich assoziativ an die Extremwerte der rhythmuslosen Klangbildung anbinden und nimmt vielleicht auch darum den mechanischen Sirenenton vorweg. Die Bedingung dieser offenkundig spekulativen Deutung ist, dass bei Homer zwar an der musikalischen Natur des Sirenenvortrags wenig Zweifel belassen werden, aber über die spezifischen Eigenschaften dieses Gesangs letztlich nichts gesagt wird.29 Daher kann die Musiktheorie als die eigentliche Musik der Sirenen eingesetzt werden, und das begünstigt entscheidend die Parallelsetzung mit der künstlichen Klanglichkeit der Fabriksirenen (die ersichtlich keine hohe Sanglichkeit besitzen). Die Namensäquivalenz mit den Mythossirenen verdankt sich allerdings einer trivialen Ursache, insofern ihr Erfinder Charles Cagniard mit dieser Bezeichnung darauf hinweisen wollte, dass seine Schöpfung auch unter Wasser dieselben Töne von sich geben kann.30 Die niemals hinterfrage Sinnfälligkeit der Namensgebung für die mechanische Sirene weist aber darauf hin, dass in der geteilten Basis eines »rhythmuslosen« Klangs weitaus stärkere Gemeinsamkeiten vorliegen könnten: Werden die antiken Aussagen zum Gesang der Mythossirenen zusammengefasst, entsteht dabei immer auch eine gute Beschreibung des Klangs der Fabriksirenen.31 26 27 28 29
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Vgl. zum historisch veränderlichen Klangbild der Sphärenharmonie ausführlich Werner Keil, Dissonanz und Harmonie in Romantik und Moderne, München 2012, S. 150ff. Vgl. Friedrich Kittler, Musik und Mathematik, Bd. 1: Hellas, Teil 2: Eros, München 2009, S. 146. Vgl. Friedrich Kittler, Musik und Mathematik, Bd. 1: Hellas, Teil 1: Aphrodite, München 2006, S. 250. Dies mag daran liegen, dass auch für Homer das Wissen hierüber unsicher gewesen ist. Vgl. Siegfried de Rachewiltz, De Sirenibus. An Inquiry into Sirens from Homer to Skakespeare, New York 1987, S. 3. Vgl. Rehding 2014, »Sirens Old and New«, S. 83. Die Namensgebung verweist also selbst auf die geweitete Einbeziehung aller mythologischen Wasserwesen im 19. Jahrhundert. Vgl. Eva Hofstetter, Sirenen im archaischen und klassischen Griechenland, Würzburg 1990, S. 14: »Sirenen singen einstimmig, ihr Lied ist stets im Singular genannt. Der Gesang ist helltönend, pfeifend,
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Man kann also nachweisen, dass der Ausschluss des »digitalen« und des »analogen« Extremwerts aus dem Bereich des Rhythmischen einen konstanten Forschungstopos darstellt, und man kann nachweisen, dass der Einschluss dieser Extremwerte jener Rezeptionstopos ist, der das Klangbild der antiken Mythossirenen und der neuzeitlichen Fabriksirenen miteinander verbindet. Diese Differenz zwischen einem »digitalen« und einem »analogen« Extremwert als Ausgangsaxiom führt in den Rhythmustheorien zu zwei komplementären Grundmodellen, die durch den Gegensatz eines Denkmodells »(X+1)« und eines Denkmodells »(1-X)« umschrieben werden können.32 1. Das Modell (X+1) ist ein »digitales« Modell, das den Rhythmus aus einer gegebenen »digitalen« Struktur durch einen Vorgang der Anreicherung herleitet. Das Modell entspricht symbolisch jenem Thekenspiel, bei dem man den Sieg dadurch sicherstellt, dass der zu bewegende Gegenstand (eine Münze, ein Bierkrug etc.) zumindest pro forma nochmals angetippt werden muss. Der »digitale« Extremwert der Punktreihe gilt erst dann als rhythmisch, nachdem er diese minimale Anreicherung erfahren hat; dieses Bauprinzip impliziert daher die folgende Ablaufformel: »Digital + Digital = Digital«. 2. Das Modell (1-X) ist ein »analoges« Modell, das den Rhythmus aus einer gegebenen »analogen« Struktur durch einen Vorgang der Reduzierung herleitet. Das Modell entspricht nun also jenem Thekenspiel, bei dem man einer Niederlage dadurch entgeht, dass der auf der Theke zu bewegende Gegenstand möglichst nah an den Rand, aber niemals über den Rand hinausbewegt werden darf. Der »analoge« Extremwert der Linienkontinuität gilt erst als rhythmisch, wenn er diese minimale Ausdünnung oder Zurücknahme erhalten hat; jedoch soll durch diese stärkere Gliederung die Dichte der gegebenen Ausgangsstruktur nicht zerstört werden. Das Bauprinzip impliziert daher als Gegenformel: »Analog – Analog = Analog«.33
Entspricht das erste Modell in prototypischer Weise der »empirischen« Rhythmusforschung und dem Übergang aus einer »rhythmisierenden« in die »rhythmisierte« Reihe, so erzeugt das zweite Modell die zentrale Verbindungsstelle zwischen den »esoterischen« und »kritischen« Theorien. Gerade für dieses zweite Modell lassen sich die Grundaussagen des asymptotischen Grenzwerts und der »analogen« Reststruktur als rhetorische Strategien leicht nachweisen; sie repräsentieren einen bestimmten Strang
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durchdringend; seine Lautstärke wird dadurch unterstrichen, daß er schon ab Rufweite zu hören ist; er erklingt ununterbrochen. Die Attribute laut und schrill sind häufiger als die, die den Gesang als schön bezeichnen«. Zur Bestimmung digitaler Medien durch minimale Differenzen und additive Prozesse siehe Michael Harenberg, Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace. Zur musikalischen Ästhetik des digitalen Zeitalters, Bielefeld 2012, S. 172. Eine »digitale« Zeichenstruktur wird jedoch im Normalfall umgekehrt durch Subtraktion (bzw. Tilgung vorhandener Dichte) und eine »analoge« Zeichenstruktur durch Addition erzeugt. Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übs. von Max Looser, Frankfurt a.M. 1984, S. 28f.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
der Rhythmustheorie, der ausgehend von Bergsons Zeitphilosophie34 über die linearen Konzepte der musikalischen Phänomenologie in eine Kulturtheorie »glatter« und »gekerbter« Räume sowie deren wissenschaftliche Rezeption einmündet.35 Erneut ist die Matrix der im Rhythmus vorhandenen Anfänge, aber fehlenden Endbestimmungen für das Auseinandertreten dieser beiden abstrakten Denkmodelle mitentscheidend: Das Modell (X+1) des »digitalen« Extremwerts repräsentiert jene Eigenschaften, die der Rhythmus besitzt, aber nicht besitzen soll; das Modell (1-X) des »analogen« Extremwerts repräsentiert umgekehrt jene Eigenschaften, die der Rhythmus eigentlich nicht besitzt, aber besitzen soll. Die eigenen Apparaturen der empirischen Rhythmusforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermitteln zwischen diesen beiden Extremwerten in einer Weise, die wiederum derjenigen der mechanischen Sirene komplementär ist: Die Kreisform der Apparatur vollzieht mechanisch eine kontinuierliche Bewegung, aus der heraus durch Unterbrechungen bzw. raffinierte Steuerungen dieser Bewegung die »Löcher« einer diskontinuierlichen Punktreihe als phänomenaler Klangreiz erzeugt werden sollen.36 Auch weil die Rhythmusforschung im technikgeschichtlichen Zeitalter der Digital-Analog-Wandler (der Filmbilder, die Kontinuität aus Diskontinuität erzeugen) von einem Analog-Digital-Wandler abhängig wird (von Klangimpulsen, deren Diskontinuität mithilfe von Kontinuität erzeugt wird), bleibt in die Feinmechanik der »subjektiven Rhythmisierung« eine metrisierte Logik eingeschrieben.37 Selbst wenn im Sirenenklang also nicht der Rhythmus zu finden ist, sondern die Extremwerte der Rhythmuslosigkeit – in der Versuchsanordnung der Sirenenepisode kann auch das Prinzip einer Projektion rhythmischer Verhältnisse in diese Extremwerte aufgefunden werden.
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Vgl. Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übs. von Julius Frankenberger, Jena 1919, S. 22: »Damit aber ist gesagt, daß zwischen dem Sein und dem bewussten Wahrgenommenwerden der Bilder nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens ist«. Vgl. zudem Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, München 4 1960, S. 280: »Wir haben gesehen, daß mit dem pausenlosen Fließen des Lebensstromes die Annahme beliebiger Störungsstellen widerspruchslos verträglich sei«. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, übs. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 16: »Wenn eine Mannigfaltigkeit gebildet werden soll, muß man das Einzelne abziehen, immer in n-1 Dimensionen schreiben. Man könnte ein solches System Rhizom nennen.« Vgl. die Beschreibung eines »Rhythmusapparats« bei B. Paulssen, »Einfache Reaktionen bei Variation und rhythmischer Gliederung der Vorperiode«, in: Archiv für die Gesamte Psychologie, Bd. 39 (1920), S. 165f. Im Kinobild-Modell wandert die Instanz der »analogen« Realbewegung in die mechanische Apparatur. Vgl. dazu Henri Bergson, Schöpferische Evolution, übs. von Margarethe Drewsen, Hamburg 2013, S. 345: »Mit Unbewegtheit, selbst endlos aneinandergereihter, werden wir niemals Bewegung erzeugen. Damit die Bilder zum Leben erwachen, muß irgendwo Bewegung sein. Und Bewegung gibt es hier durchaus: Sie steckt im Apparat«.
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Die Theorie des Rhythmus
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Rhythmische Ortsbestimmungen Genealogie: Theoriebildung um 1900
Offenkundig gibt es in der Sirenenepisode eine weitere musikalisch-akustische Instanz, der man eine latent rhythmisierende Rolle kaum absprechen kann: Die Ruderer nehmen innerhalb der Versuchsanordnung in jeder Hinsicht den Part des Metrums ein. Die Ruderer sind als horizontale Basis in der unteren Bildhälfte dort platziert, wo in einem Partiturbild die »Continuo-Gruppe« den vokalen Sologesang durch dessen metrisch-harmonische Stabilisierung abstützt. Diese Funktion der Grundierung verbindet das Metrum und die Ruderer: Beide sind für den Ablauf unverzichtbar, werden aber nur selten erwähnt. Es besteht ein offener Hiatus zwischen der Präsenz metrischer, oftmals auch tänzerisch antreibender Strukturen im Kanon einer »absoluten« Musik und den kontemplativen Formen der Rezeption dieser Musik.38 Es besteht damit der Verdacht, dass die Geringschätzung des Metrischen in vielen Fällen auch nur gespielt sein könnte: Es gibt gar keine Sirenen, diese sind eine Erfindung des Odysseus, der davon ablenken möchte, dass sein eigentliches ästhetisches Interesse den Ruderern gilt. Der metrische Gegenpol zum Gesang der Sirenen sind die Ruderer natürlich aber vor allem durch die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Rhythmusbilder: Der Ruderschlag repräsentiert innerhalb der Sirenensituation nicht mehr den »analogen« Extremwert des Einzeltonklangs, sondern den »digitalen« Extremwert der einförmigen Punktreihe. In den ethnologischen Debatten um die Arbeitsrhythmen, die in den Jahren um 1900 aufkommen, ergibt sich daraus ein Dualismus der realistischen und idealistischen Auffassungen vom Ursprung der Musik, der einem Dualismus zwischen einer metrisierten und einer melodisierten Konzeption des Rhythmischen entspricht. Inwiefern besitzen die Rhythmen der Ruderer das Recht, eine eigene ästhetische Relevanz in Konkurrenz zum reinen Klang des Sirenengesangs zu entwickeln? Die Sirenen etablieren die Utopie einer Musik, der man folgen muss, obgleich sie keinen Rhythmus besitzt, die Ruderer etablieren den Realismus eines Rhythmus, dem man folgen muss, obgleich er nicht vollwertig musikalisch genannt werden kann. Eine »realistische« Ursprungstheorie der Musik, die erfragt, was die Musik mit anderen Feldern des Lebens verbindet, wird diese rhythmische Dimension der Zeitgliederung oftmals ganz selbstverständlich ins Zentrum stellen – und daher nach solchen Lebensvorgängen suchen, in denen die koordinierend-regulierende Funktion des Rhythmus sich als diachron früheste Bestimmungsschicht der Musik behaupten lässt, zu der melodische wie harmonisch-polyphone Verstärkereffekte erst später hinzutreten. Dieses Modell wird durch die Theorie Karl Büchers zum Zusammenhang von Arbeit und Rhythmus zu enormer Popularität gebracht (und Bücher verweist explizit auf die Ruderergesänge als Rhythmusträger).39
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Vgl. zur grundlegenden Bedeutung dieser Diagnose in der Soziologie zum Beispiel Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 2 2005, S. 135. Vgl. Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig 2 1899, S. 181.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Die akustische Autonomie der Ruderer aber scheint erkauft mit der nur geringen ästhetischen Relevanz einer metrischen Regelkonformität, welche sich in einem modernen Auffassungskontext zudem mit dem Hinweis auf die inhärente Unterdrückung in den Arbeitsvorgängen verbinden lässt: »Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv.«40 Das Gegenmodell einer »idealistischen« Ursprungstheorie der Musik wird demgegenüber fragen, was die Musik als ästhetische Qualität von anderen Lebenszusammenhängen abtrennt und kritisiert in oftmals heftiger Weise die primitive Schicht der perkussiven Rhythmusmuster.41 Diese Abgrenzung von einer vor- und unmusikalischen Sphäre der rhythmischen Aktivierung lässt sich vom Modell der Kindheit, Jugend und Reife in der Musikgeschichte bei Johann Nikolaus Forkel bis in die Rhythmustheorien des 20. Jahrhunderts nachweisen.42 Diese Ursprungstheorien der Musik müssen sich daher mehr oder minder stark von der vormusikalischen Rhythmusschicht distanzieren: »Vor aller Musik wurden durch Schlaginstrumente und inartikulierte Laute der Stimme bereits Arbeits- und Tanzrhythmen markiert. Aber als Element der Musik wurde der Rhythmus erst eingeführt, nachdem an die Stelle der Geräusche Töne, und nicht nur Töne sondern Tonintervalle getreten waren.«43 Den Konflikt dieser »idealistischen« und »realistischen« Auffassungen vom Rhythmus einmal als unmusikalisches, einmal als ur-musikalisches Element kann man auch schon für das begrenzte Spektrum der Sirenenklänge und der mit ihnen verbundenen Sphärenharmonie nachweisen. Bedeutsam erscheint dabei die sogenannte Schmiedelegende, wonach Pythagoras die einfachen Proportionen der Intervalle nicht mehr rein abstrakt aus den Monochordtönen, sondern ganz alltagsbezogen aus dem Klang verschieden großer Schmiedehämmer abgeleitet haben soll.44 Mit diesem Ortswechsel verbindet sich erneut eine Verschiebung der Argumentation vom »analogen« zum »digitalen« Extremwert des Rhythmischen.45 Dieser Gegensatz kann zudem auch auf das antike Instrumentenpaar
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Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, S. 43. Vgl. als gute Zusammenfassung Michael Spitzer, Metaphor and Musical Thought, Chicago 2004, S. 225ff. Vgl. Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1 (1788), hg. von Ottmar Wessely, Graz 1967, S. 3: »Diese sinnlichen Eindrücke müssen sogar desto heftiger und erschütternder seyn, je weniger der Geist ausgebildet und fähig ist, sich zu beschäftigen. Hieraus erklärt sichs, warum wir bey allen wilden und rohen Nationen ein so großes Wohlgefallen am Geräusch lärmender Instrumente, z.B. an Trommeln, Klappern, schmetternden Trompeten, und an einem sehr lauten wilden Geschrey finden«. Carl Stumpf, Die Anfänge der Musik, Leipzig 1911, S. 53. Vgl. zur Gegenposition Theodor Billroth, Wer ist musikalisch?, hg. von Eduard Hanslick, Berlin 2 1896, S. 14. Vgl. Albrecht Riethmüller, »Musik zwischen Hellenismus und Spätantike«, in: Albrecht Riethmüller/Frieder Zaminer (Hg.), Die Musik des Altertums, Laaber 1989, S. 316. Kittler 2006, Musik und Mathematik, S. 253 sieht dies prompt als Verfehlung der Schmiedelegende, die daher durch ein Experiment ersetzt wird, das auf Krüge zurückgreift, die mit Wasser gefüllt
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von Aulos und Lyra (bzw. Flöten- und Saiteninstrument) übertragen werden: Die Saiteninstrumente repräsentieren – selbst noch in Kittlers Zuordnung des Klangs der reinen Oktave zur Zweizahl der singenden Sirenen – die »idealistische« Position, insofern durch die Möglichkeit des gleichzeitigen Gesangs eine Rückbindung der Musiktheorie an den Sprachlogos möglich ist, das massivere Instrument zudem wenig geeignet ist, einer Musik, der man folgen muss, den Takt vorzugeben, und schließlich der Konnex zur Monochordlehre offenkundig wird. Das Gegenmodell der sinnlich-tänzerischen Aulodie ist jedoch ebenso zum instrumentalen Vorbild des Sirenengesangs erklärt worden, für den daher nicht nur die Oktave, sondern auch die folkloristische Terz als Klangumsetzung postuliert worden ist (wobei die Zweizahl der Sirenen nun auf den Doppelaulos und dessen Parallelklänge bezogen wird).46 In solchen Spielereien um das »richtige« Intervall für den Sirenenklang verstecken sich also stets grundlegende kulturtheoretische Dualismen, die in diesem Fall dadurch weiter durcheinander geschüttelt werden, dass spätere ikonische Darstellungen die Sirenen zumeist gerade mit der archetypischen Kombination von Aulos und Lyra abbilden – und auch darin ist ein naheliegender Grund für die Zweizahl der Sirenen gesehen worden.47 Insofern die Musiktheorie die eigentliche Musik der Sirenen ist, wird deren Darstellung auch von dem unauflöslichen Konflikt zwischen »realistischer« Aulos-Dionysik und »idealistischer« Lyra-Apollinik beeinflusst. In der Argonautenerzählung gelingt es Orpheus, den Gesang der Sirenen zu übertönen, indem er auf die Lyra als Instrument zurückgreift, jedoch auf dieser ausdrücklich einen schnellen Rhythmus zur Animierung der Besatzung ausführt: »Wenn er, wie in den Argonautika berichtet, mit seiner Lyra den Takt für die Ruderer schlägt, so verwendet er sein Instrument in einer Funktion, die herkömmlicherweise dem Aulos zukam.«48 Kittlers Deutung des OktavenSirenenklangs aus dem antiken Vokalalphabet besitzt eine ähnliche Pointe, denn nach dieser Theorie »[…] scheiden sich Vokal und Konsonant ganz so wie das ›süße Melos‹ der Kithara vom Geräusch des Schlagzeugs.«49 Die rhythmuslosen Sirenen werden zum vollständigen Reversbild des RudererRhythmus: Was die Ruderer und deren Rhythmus vom Gesang der Sirenen trennt, ist aber ganz konkret das Wachs in ihren Ohren. Dieses Wachs kann (eine weitere der Ironisierungen von Kittler) als »Tiefpassfilter«50 dechiffriert werden, der die Ruderer vor der ästhetisch gehobenen Sphäre des Sirenengesangs zwar wirksam schützt, aber ihnen keineswegs die bodenständige Freude an ihren selbstgenerierten Bassakzenten nimmt.
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werden: So kommen die »analogen« Elemente des Wassers und dessen akustisches Glissando neu zu ihrem Recht. Vgl. Martin Carlé, »Enharmonische Archäologie der griechischen Musiknotation«, in: Wolfgang Ernst/Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund, München 2006, S. 297. Vgl. Maurizio Bettini/Luigi Spina, Il mito delle Sirene. Immagini e racconti dalla Grecia a oggi, Turin 2007, S. 71. Eckhard Roch, »Die Lyra des Orpheus. Musikgeschichte im Gewande des Mythos«, in: Archiv für Musikwissenschaft 61/2 (2004), S. 151. Kittler 2006, Musik und Mathematik, S. 126. Vgl. Ebda., S. 50.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Die Musik, der man folgen muss, entmachtet die Musik, der man folgen kann: Dies gehört zu den zentralen rhetorischen Bildern eines Verlusts an ästhetischer Bildung. Eine mögliche Aktualisierung zielt vor allem in der Belletristik des 20. Jahrhunderts auf die Metapher, dass der Sirenengesang mit den mechanischen Mitteln der Phonographie identifiziert wird. Es ist verblüffend, wie oft in Nacherzählungen der Klang der Sirenen durch den aufgezeichneten Klang einer Schallplatte entmachtet wird (als eine andere Form von Wachs in den Ohren).51 Auch aktuelle Theorien des mobilen Musikkonsums scheinen von der modifizierten Situation magisch angezogen, wenn auf der einen Seite nun Odysseus selbst sich mit den Kopfhörern die Ohren verstopft, und auf der anderen Seite die Sirenenmusik ihre Macht zu verlieren scheint, die Bewegung dieser modernen Odysseus-Gestalten noch von ihrem geplanten Weg abzubringen.52 Eine weitere Aktualisierung sieht hingegen den Ruderer-Rhythmus als das bedrohte Gegenüber der vom Phonographen erklingenden Musikkonserven: Als mediengeschichtliche Adaption der Sirenensituation wäre zuallererst an Werner Herzogs Fitzcarraldo zu erinnern.53 Der aufrecht wie Odysseus am Mast stehende Klaus Kinski nutzt eine von der Schallplatte abgespielte Opernarie, um die unsichtbaren und bedrohlichen Trommelgeräusche zum Schweigen zu bringen, welche in der auf diese Weise variierten Versuchsanordnung den »idealistischen« Sirenengesang durch eine Variante des »realistischen« Ruderer-Rhythmus ersetzen: Die Musik, der man folgen kann, verdrängt nun also die Musik, der man folgen muss.54 Diese kurzen Exkursionen sollen lediglich darauf verweisen, dass der Konflikt zwischen der »metrisierten« und der »melodisierten« Bestimmung musikalischer Rhythmen in der Theorie wie in der Praxis zur Genealogie der Moderne eine bedeutsame Rolle einnimmt. Begriffe wie »Großstadtdschungel«55 führen dabei sprachlich glücklich die im Ruderer-Rhythmus enthaltene Spannung vor Augen, in denen der »digitale«
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Dies gilt für die Kurzgeschichte Die Sirene von Dieter Wellershoff, aber auch für Truffauts Spielfilm La sirène du Missisippi. Die Nacherzählung der Odyssee in O Brother, Where Art Thou? von Ethal Coen und Joel Coen wird ebenfalls unsichtbar durch das Radio kontrolliert, und nicht mehr durch die Sirenen, die lediglich einen der Protagonisten dem Sheriff zuführen. Vgl. Michael Bull, »Remaking the Urban: The Audiovisual Aesthetics of iPod Use«, in: John Richardson/Claudia Gorbman/Carol Vernallis (Hg.), The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics, Oxford 2013, S. 642: »Like Odysseus, their sound-world is constructed through the transmission of sound from elsewhere. But in the present day, the Siren’s voice is a domesticated and mechanically produced one«. Vgl. die konzise Deutung der Szene bei Richard Leppert, »Opera, Aesthetic Violence, and the Imposition of Modernity: Fitzcarraldo«, in: Daniel Goldmark/Lawrence Kramer/Richard Leppert (Hg.), Beyond the Soundtrack. Representing Music in Cinema, Berkeley 2007, S. 105 »Melody and harmony conquer rhythm«. Eine ähnliche Deutung der aus dem Dschungel herübertönenden Trommelklänge findet sich bei Anja Schwarz, »Im Maschinenraum der Zivilisation. Rhythmen in Joseph Conrads Heart of Darkness«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie 7/1 (2013) S. 55f. Vgl. Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Takt und Frequenz, München 2011, S. 6: »So entsteht der ›Großstadtdschungel‹ buchstäblich in einem akustischem Raum, der im Medium von Takt und Frequenz Großstadt und Dschungel miteinander kurzschließt – motorisch wie sensorisch«.
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Die Theorie des Rhythmus
Extremwert einerseits die archaische Position einer primitiven Geräuschmusik der Eingeborenenstämme repräsentiert (die eurozentrische Formulierung zielt selbstverständlich auf Denkformen der Rhythmuslehre um 1900), und andererseits die gegenwärtigste Erfahrung einer maschinell getakteten Rhythmuskulisse in sich trägt. Der Rhythmus der Ruderer spaltet sich grundsätzlich in einen Maschinentakt, der »nicht mehr« eine Verbindung zur Arbeit und organischer Körperbewegung bewahren kann, und eine imaginierte Rhythmuserfahrung, die diese rationalen Komponenten »noch nicht« aufweisen soll. Tatsächlich müssen in den Arbeitsrhythmen die vokalen Kraftlaute als vorrationale Komponente und die rationalen rhythmischen Kraftanstrengungen miteinander verschmelzen, wobei Bücher den Rudergesängen einen besonders »ursprünglichen« Status zuspricht: »Die grosse Mehrzahl der Gesänge dieser Gruppe trägt unverkennbar ein sehr alterthümliches Gepräge; ja wir sind mit den ursprünglichsten derselben bis zu den einfachsten Naturlauten zurückgelangt, von denen nach allgemeiner Annahme die menschliche Sprache ausgegangen ist.«56 Die skizzierte Spaltung gilt dabei ganz konkret auch für den Rhythmus der einzelnen Ruderschläge: Dieser kann einmal als diejenige Situation angesehen werden, in der schon die »rhythmisierende« Punktreihe durch den Paukentakt des Steuermanns einen rhythmischen Eindruck hervorruft;57 der Ruderschlag kann aber auch für jene Situation einstehen, in der sich eine »rhythmisierte« Reihe nicht als Eindruck einstellen wird, weil das Subjekt einer »subjektiven Rhythmisierung« notwendig erst ein neuzeitliches Subjekt sein kann, das sich am Akzentmetrum der Punktfolgen orientiert.58 Im Rhythmus des Ruderschlags tritt in den Genealogien somit ein zentraler Gegensatz hervor zwischen »realistischen« Reizwirkungen, die eine quasi archaische Zuschreibung verlangen, und »rationalistischen« Reizkontrollen, die auch maschinelle Zuschreibungen erlauben. Dieses Gegensatzpaar aber lässt sich nicht einseitig dem »analogen« oder dem »digitalen« Extremwert des Rhythmischen zuordnen. Es lässt sich im Gegenteil die These vertreten, dass in den beiden Extremwerten auch jeweils beide Ausprägungen dieses Gegensatzes aufzufinden sind. Diese These wird mustergültig illustriert, wenn man erneut die »mechanische« Perspektive des Phonographen mit der »mythologischen« Perspektive der Sirenensituation überkreuz stellt. Ein Phonograph überträgt den Wirkungsmechanismus der »realistischen« Ursprungstheorien auf die Musikformen der »idealistischen« Ursprungstheorien. Die strikt gleichförmige Wiederholung als Merkmal der Arbeitsrhythmen verändert so ihre Existenzform: Repetition bestimmt sich mit der Erfindung der Klangaufzeichnung nicht mehr durch den »digitalen« Extremwert der in Schriften und Notationen 56 57 58
Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 191f. Vgl. William H. McNeill, Keeping Together in Time. Dance and Drill in Human History, Cambridge, Mass. 1995, S. 117. Vgl. Eske Bockelmann, »Taktrhythmus und Arbeit«, in: Baxmann/Göschel/Gruß/Lauf 2009, Arbeit und Rhythmus, S. 110: »Umgekehrt, wenn auf antiken Galeeren die Ruder, damit sie sich nicht ins Gehege kamen, parallel geführt werden mussten und so, dass wir heute sagen würden: im Taktschlag, dann ward den Armen auf den Ruderbänken damit keine Entlastung durch Rhythmus; den haben sie daran nicht empfunden«.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
gespeicherten Punktsymbole, sondern durch den »analogen« Extremwert einer kontinuierlichen Klanglinie, die jedes einzelne Detail und Nebengeräusch mit aufzeichnet. Der Phonograph ist quasi eine alternative Form der Selbstbindung, dessen eigene Mechanik in der Frühgeschichte des Futurismus sich mit der Fabriksirene ganz konkret verschwistern kann: Es ist in beiden Fällen die Logik der durch die Abspielgeschwindigkeit veränderten Klanghöhe vorgegeben.59 Und die Möglichkeit der Aufzeichnung des Gesangs impliziert dessen symbolische Entmachtung: Odysseus könnte sich nun auch selbst die Ohren verstopfen und eine Tonaufnahme der Sirenen anfertigen, die er sich dann später an einem sicheren Ort anhört. Es gibt eine bestimmte Form einer Reaktion auf eine Musik, der man folgen muss, die sich mit reproduzierten Tonkonserven nicht mehr glaubhaft abbilden lässt. Kafkas Parabel vom Schweigen der Sirenen, die ebenfalls mit dem Verstopfen der Ohren des Odysseus beginnt, stellt, wenn man das Gleichnis ausnahmsweise wieder durch ein Gleichnis deuten will, die Tatsache heraus, dass auf der Tonaufnahme, die sich Odysseus von den Sirenen gemacht hat, gar nichts zu hören ist. Die Phonographie gehört somit zur Geschichte der Rezeption der Sirenenmusik, weil sie das Bewusstsein für das Vorhandensein wie für die Vermengung der Gegensätze des »Organischen« und des »Mechanischen« innerhalb des »analogen« und des »digitalen« klanglichen Extremwerts überhaupt erst ermöglicht (und die Fabriksirene ist die Abbildung genau dieses Konflikts). Die Zerspaltung einfacher Rhythmuserfahrungen begründet sich daraus, dass sowohl der »digitale« wie der »analoge« Extremwert sich mit einer dezidiert maschinellen wie mit einer maschinenfernen Komponente assoziieren lassen: Erst die Maschinenaufzeichnung erlaubt eine Auswertung des »analogen« klanglichen Extremwerts, der im ästhetisch »idealistischen« Kontext der europäischen Kunstmusik zugleich maschinenfern konnotiert bleibt (zum Beispiel als »unendliche Melodie«). Als Abbildung des maschinellen Stampfens gilt demgegenüber der »digitale« klangliche Extremwert, der jedoch in dem »realistischen« Kontext der ethnologischen Musikformen ebenso maschinenfern konnotiert wird. Im Rhythmus der Ruderer treten beide Phänomene besonders stark hervor, weil der Ruderschlag in intrikater Weise sowohl »analoge« wie auch »digitale« Komponenten aufweist. Die ruckartige Ruderbewegung, die dennoch den Eindruck einer durch das Wasser gleitenden, ganz stetigen Bewegung erzeugt, kann zum Modell eines DigitalAnalog-Wandlers erhoben werden.60 Doch wenn Abbildungen von Ruderern in der Ästhetik des Experimentalfilms zum Nachweis für die Möglichkeit der Einzelbildgliederung von stetigen Bewegungen benutzt werden, dient derselbe Ruderschlag in einem anderen Theoriekontext schon wieder als Analog-Digital-Wandler.61
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Vgl. Arndt Niebisch, »The Psychophysics of Luigi Russolo’s intonarumori«, in: Federico Celestini/Gregor Kokorz/Julian Johnson (Hg.), Musik in der Moderne, Wien 2011, S. 258f. Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 30, der den manuell, nicht maschinell, zudem im fluiden, nicht statischen Element erzeugten Ruderer-Rhythmus in seine anti-metrische Rhythmustheorie integriert. Vgl. dazu Robin Curtis/Marc Glöde, »Haptische Rhythmen. Visuelle Intervalle in der filmischen Wahrnehmung«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 277.
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Die Theorie des Rhythmus
Der Bewegungsmodus der Ruderer wird kaum zufällig in Luhmanns Systemtheorie zum Bild für die Avantgarde, die in ihrer Rückwärtsbindung keinen Endpunkt, sondern nur eine Reihe von vergangenen Anfangspunkten aufweist.62
2.2.2
Etymologie: Theoriebildung um 1950
Die Beschäftigung mit der Etymologie des Wortes Rhythmus ist nach der Einschätzung von Justin London wenig hilfreich, wenn man bestimmen will, was Rhythmus tatsächlich ist.63 Die Spekulationen um diese Wortetymologie sind dagegen sehr hilfreich, wenn man bestimmen will, was Rhythmus aus der Sicht verschiedener Theorieströmungen sein soll. Man kann dabei zwei Erklärungsrouten unterscheiden, die sich erneut auf den »digitalen« bzw. »analogen« Extremwert des Rhythmischen beziehen lassen: Der Knappheit halber sollen sie als »Rhein-Etymologie« und als »Raum-Etymologie« des Rhythmus bezeichnet werden. Zur Etymologie aus dem Verbum »rhein« mit der Grundbedeutung »fließen« und dessen Verortung des Rhythmischen eher jenseits metrisch fixierender Ordnungsvorstellungen erzeugen die raumbezogenen Alternativvorschläge eine zumeist ganz explizite Gegentheorie. Beide etymologische Annahmen jedoch beziehen sich implizit auf Bestandteile der Sirenensituation: Die »Rhein-Etymologie« bestimmt das Wasser und an erster Stelle die Meereswellen als den zentralen Rhythmusträger, die »Raum-Etymologie« sieht im Rhythmus ein Mittel der rationalen Selbstbindung sozialer oder individueller Kräfte, wie sie im Akt der Fesselung des Odysseus an den Mast symbolisch abgebildet wird.64 Diese einigermaßen klare Trennung wird dadurch unterlaufen, dass die Etymologie aus dem Verb »fließen« zwar eine einzelne und völlig eindeutige Anfangsbestimmung vorweisen kann, die sich jedoch immer mehr in ein sozusagen selbst fließendes Kontinuum dessen auflösen muss, was als ihre rhythmische Entsprechung überhaupt eingesetzt werden kann (da das reine Fließen im Sinne des »analogen« Extremwerts zumeist als unrhythmisch empfunden wird). Die Gegen-Etymologien überführen hingegen mehrere vorgeschlagene Wortwurzeln immer stärker in das eine statische Bild einer von einem räumlichen Mittelpunkt her bestimmten Rhythmussituation (die am »digitalen« Extremwert der metrischen Bindekräfte ausgerichtet bleiben wird).65 In diesen Umformulierungen ist »Rhythmus gerade das, was der Bewegung, dem Fluß die Schranke, das Feste auferlegt.«66 Diese Formel aus Werner Jaegers Paideia verbindet sich mit einem ebenso festen wie begrenzten Vorrat von Belegstellen, in de62
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Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2 1998, S. 198f.: »Das, was sich merkwürdigerweise Avantgarde nennt, hat diese rückblickende Bestimmungsweise ins Extrem getrieben – wie Ruderer, die nur sehen, woher sie kommen, und das Ziel ihrer Fahrt im Rücken haben«. Vgl. Justin London, »Rhythm«, in: The New Grove, Bd. 21, Oxford 2 2001, S. 277. Vgl. Jon Elster, Ulysses and the Sirens. Studies in rationality and irrationality, Cambridge 1979, S. 36f. Die Ablehnung von »fließen« als Grundbedeutung erfolgt über die Begriffe »Zug« bzw. »ziehen« durch Eugen Petersen, Rhythmus, Berlin 1917, S. 11. Eine Weitung auch auf die Wurzeln »Verschanzung, Schutzwehr, Wall, Burg, Zaun« findet sich bei Jost Trier, »Rhythmus«, in: Studium Generale 2 (1949), S. 141; zu ergänzen wäre das Begriffsfeld »zurückhalten« bei Christine Lubkoll, »Rhythmus und Metrum«, in: Heinrich Bosse (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i.Br. 1999, S. 106. Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1973, S. 175.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
nen die Idee der räumlichen Bannung des Rhythmus tatsächlich bedeutsam erscheint. Rhythmus ist das, was dem Menschen oder auch einer natürlichen Struktur von außen als formende Fixierung entgegengestellt ist (wie in einem Zitat des Archilochos, der zugunsten eines Rhythmus, der das Leben stets in Banden halten soll, die emotionalen Extreme des Jammerns und des Jubilierens ablehnt). Diese Vorstellung verbindet sich mit einer in der deutschsprachigen Rhythmustheorie und Sprachpoetik virulenten Idee von der Einhegung um eine räumliche Mitte, die als Tanz- und Singkreis eine Urerfahrung der rhythmischen Erneuerungsbewegungen der eigenen Gegenwart aus der Antike legitimieren möchte.67 Relevant wird dieser etymologisch begründete Begriff des Rhythmus auch für eher musikferne Vorstellungen und deren Ethos der Gemeinschaftsbildung: »Im Kreis oder Ring wendet man dem Außen den Rücken zu und bindet sich zugleich mit den Kreis- oder Ringgenossen zu einer fest geschlossenen Gemeinschaft, indem man alle anblickt und alle dem Innern des Rings, der heiligen Mitte, zugewandt sind.«68 Das logische Ende dieser »Raum-Etymologie« innerhalb der »esoterischen« Rhythmustheorien ist eine Vorstellung, die den Begriff des Rhythmus nur noch benötigt, um in ihr gänzlich statisch gewordenes Idealbild zumindest ein Minimum an Bewegung zu projizieren (wobei auch diese Bewegung als religiöse Weihe oder bildnerische Menschenplastik musikfern verbleibt). Die »Rhein-Etymologie« besitzt hingegen das umgekehrte Problem, wie in die Anfangsannahme des Fließenden ein Mindestelement der rhythmischen Gliederung hineinkommen kann. Dabei lassen sich die antiken Belegstellen (vor allem das Zitat des Archilochos) zwar sinnvoll mit der abgeleiteten »Bildwurzel« vom Auf und Ab der Meereswellen, aber nicht mit der anfänglichen »Wortwurzel« der einförmig fließenden Wassermassen verbinden.69 Für dieses Grundproblem gibt es mindestens vier unterschiedliche Lösungsoptionen: 1. Die »Rhein-Etymologie« wird dennoch mit dem Bild der bereits gegliederten Meereswellen gleichgesetzt. Diesen Weg wählt die »esoterische« Rhythmusauffassung von Ludwig Klages. 2. Die »Rhein-Etymologie« wird vom Bild der gegliederten Meereswellen strikt getrennt, sodass der Rhythmusbegriff eine stärker formalistische als naturalistische Bestimmung des Fließenden in sich abbilden kann. Dieser Weg wird durch einen
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Vgl. zum Beispiel Rudolf Hildebrand, »Zur Urgeschichte unserer Metrik«, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 7 (1893), S. 1f. (der sich in den Vorstellungen von Opferstätte, Weihe und Tanz etc. wiederum auf Scherers Literaturgeschichte bezieht). Die Idee des Singkreises besitzt dieselbe bildliche Aufladung (vgl. dazu Johannes Hodek, Musikalisch-pädagogische Bewegung zwischen Demokratie und Faschismus. Zur Konkretisierung der Faschismus-Kritik Th. W. Adornos, Weinheim 1977, S. 34); vgl. zur Deutung der Jugendbewegung in diesem Bild der kreisförmigen Ordnung um eine Mitte auch Robbert-Jan Adriaansen, The Rhythm of Eternity. The German Youth Movement and the Experience of the Past, 1900-1933, New York 2015, S. 192. Trier 1949, »Rhythmus«, S. 135. Vgl. zu der Differenz Erwin Panofsky, »Albrecht Dürers rhythmische Kunst« (1926), in: Deutschsprachige Aufsätze I, hg. von Karen Michels und Martin Warnke, Berlin 1998, S. 391.
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kurzen Aufsatz von Émile Benveniste für den Wechsel von der »esoterischen« zur »kritischen« Rhythmusauffassung maßgeblich.70 3. Die »Rhein-Etymologie« wird umgeformt, sodass sie sich in ihrem Aussagegehalt zunehmend der »Raum-Etymologie« annähert und dadurch auch wieder unproblematisch mit nun aber ganz verschiedenartigen Bildern von in sich bewegten Wassermassen verbunden werden kann. 4. Die »Rhein-Etymologie« wird verworfen, doch interessanter Weise verschwindet damit in der alternativen »Raum-Etymologie« zugleich das zentrale rhythmische Bild der Meereswellen. Die Theorien von Klages und Benveniste sind dadurch miteinander verbunden, dass beide den Begriff des Schemas als alternative antike Bezeichnung für eine eher statische Formauffassung zurückweisen, während in den beiden letztgenannten Optionen eine Annäherung oder sogar Gleichsetzung der Begriffe Rhythmus und Schema möglich ist.71 Diese Tendenz entspricht einem statisch-skulpturalen Bild der griechischen Kultur und Sprache, das seine Spuren auch in einzelwissenschaftlichen Rhythmustheorien hinterlassen hat.72 Die »Rhein-Etymologie« wendet sich mit ihrem dynamischen Rhythmusbegriff vor allem gegen die Rhythmus-Metrum-Dichotomie. Dies führt zu einer spürbaren Spaltung und zugleich Spiegelung der dabei jeweils gewählten Quellenbezüge: Die »Rhein-Etymologie« basiert auf einer Vordatierung, bei der die Relevanz der hellenistischen Rhythmustraktate von Aristoxenos bestritten wird. Diese Annahme sucht nicht mehr das Exakte in einer exakten Theorie, sondern das Ungefähre in einer auch ungefähren Quellenlage. Die ästhetisch konservative Abwehr der »RheinEtymologie« unterzieht hingegen die frühesten Belegstellen einer Nachdatierung, indem deren oft auch unklarer Sinn allzu direkt mit den historisch späteren Rhythmustheorien gleichgesetzt wird.73 Die beiden einflussreichsten etymologischen Bestimmungen von Klages und Benveniste sind zugleich die beiden Sonderfälle, die sich am schlechtesten in dieses Schema stellen lassen. Klages bewahrt die »Bildwurzel« der Meereswellen innerhalb einer kinetisch formulierten Ableitung des Rhythmischen aus der »Rhein-Etymologie«. Es entsteht dadurch ein Modell der minimalen Verräumlichung der Zeit: Der »analoge Extremwert« des Fließenden erhält bei Klages explizit jene Modellfunktion eines asymptotischen Grenzwertes, der erst durch eine räumlich gedachte Subtraktion (bzw. Gliederung) rhythmisch genannt werden kann.74
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Vgl. Émile Benveniste, »Der Begriff des ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck«, in: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übs. von Wilhelm Bolle, Frankfurt a.M. 1977, vor allem S. 364f., wonach in Wellen kein Fließen und im Fließen kein Rhythmus vorliegt. Vgl. Petersen 1917, Rhythmus, S. 27 und Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, Berlin 2 1956, S. 47. Vgl. Thrasybulos G. Georgiades, »Musik im Altertum«, in: Hartmut Schick/Alexander Erhard (Hg.), Thrasybulos G. Georgiades (1907-1977). Rhythmus – Sprache – Musik, Tutzing 2011, S. 23 und auch Lewis Rowell, »The Subconscious Language of Music«, in: Music Theory Spectrum 1 (1979), S. 102. Vgl. die »konservativsten« Aussagen zu dieser Frage im spätesten Artikel hierzu bei Wilhelm Seidel, »Rhythmus«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 292. Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 16.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Benveniste bewahrt umgekehrt nicht das zentrale Bild der Meereswellen, sondern die zentralen Belegstellen der »Raum-Etymologie«. Das impliziert ein komplementäres Modell der maximalen Verzeitlichung des Raums: Benvenistes Kritik an Platon, der den Begriff des Rhythmus durch die Assoziation mit Tanz und Marsch erst in raumbezogene und metrisch-schematische Bahnen überführt habe, suggeriert zwar, dass Benvenistes alternativer Herleitungsversuch des Begriffs von einer derart verräumlichten Zeit weit entfernt ist; dies ist jedoch nur möglich, weil der Herleitung nun selbst als Basis eine räumliche Vorstellung unterlegt wird.75 Benveniste gelingt aus neuzeitlicher Sicht der Entwurf einer gänzlich mittelpunktlosen Form, die in ihren antiken Ausgangsannahmen jedoch eindeutig räumlich-atomistisch konzipiert erscheinen muss. Daher trennt sich seine Rezeption in eine mehrheitlich geradezu begeisterte Aufnahme innerhalb der »kritischen« Rhythmustheorien, die hier die Möglichkeit eines Rhythmusmodells erkennen, das ohne metrische Vorrasterung auskommen kann, und eine vereinzelte Skepsis gegen dieses Modell, das eine »strukturalistische« Denkweise und damit eine eigene räumlich-statische Norm bewahrt.76 Diese Spannung erkennt man schon in der berühmt gewordenen Formel von Benveniste, der die ursprüngliche Bedeutung des Rhythmus bestimmt als die »[…] Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt.«77 Die Pointe in Benvenistes Modell liegt darin, dass er einen Begriff des Fließenden entwickelt, der zugleich vom Ideal des Organischen getrennt bleiben soll (und hierfür sind dann Bestimmungen wie »Disposition« oder »Konfiguration« die besser geeigneten neuzeitlichen Äquivalente).78 Benvenistes zentrales Beispiel der Rede von einem »Rhythmus der Buchstaben« bindet sich im Griechischen wortwörtlich an die Vorstellung des Atomismus (das Wort wird bekanntlich von den Buchstaben überhaupt erst auf die gleich benannten Atome übertragen), und daher ist dieses Beispiel immer auch in die konkurrierende »Raum-Etymologie« mit einbezogen worden.79 Die Argumente von Benveniste finden sich zudem in einem kurzen Aufsatz in ganz auffälliger Weise vorweggenommen, dessen Bestimmung von Rhythmus als »geordnete Diskontinuität« umgekehrt das gliedernd-räumliche, also statisch-schematische Element in der rhyth-
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Vgl. die strukturalistische Rezeption von Benvenistes Theorie bei Claude Lévi-Strauss, Sehen, Hören, Lesen, übs. von Hans-Horst Henschen, München 1995, S. 152: »Aus einer räumlichen wird bei Platon eine zeitliche Konnotation, bei ebendem Platon, der den Begriff des Rhythmus auf die Bewegungen des Körpers bei Tanz und Gymnastik ausdehnt. Der Begriff des Rhythmus umfaßt die Reihe von Permutationen, die erlaubt sind, damit das Ganze ein System bildet.« Vgl. primär Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 499: »Dieser Text, der häufig als entscheidend angesehen wird, ist für uns zweideutig, weil er sich auf Demokrit und den Atomismus beruft […]«. Benveniste 1977, »Begriff des Rhythmus«, S. 370f. Vgl. zu diesen Deutungsvorschlägen konkret Paul Fraisse, Psychologie du rythme, Paris 1974, S. 6. Vgl. vordringlich Ernst Wolf, »Zur Etymologie von rytmos und seiner Bedeutung«, in: Wiener Studien. Zeitschrift für klassische Philologie 68 (1955), S. 100; dies erfolgt in Auseinandersetzung mit Petersen 1917, Rhythmus, S. 11, der eher den körperlichen Bewegungszug und die unbewegte Endform, und nicht die strukturale Gesamtdisposition der »Buchstaben-Atome« als entscheidend ansieht.
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mischen Formbildung weiter akzeptiert.80 Man kann also nicht ausschließen, dass die Definition von Benveniste, die den Rhythmus von seiner binären Logik der On- und Off-Schaltungen befreien möchte, selbst dieser Logik entspringt: die Ergebnisse eines entlegenen Artikels in niederländischer Sprache werden aus der metrisierten OnSchaltposition umstandslos in die anti-metrische Off-Schaltposition umgedeutet. Es erscheint daher beinahe leicht bizarr, dass die avancierte Rhythmustheorie sich bis heute so stark auf Benveniste bezieht: Sie begründet damit ihre eigene Wendung gegen das Diskrete und zugunsten des Dichten mit jenem historischen Moment, in dem aus der Sicht einer allgemeinen (nicht auf den Rhythmus bezogenen) Deutung derselben Belegstelle vom »Rhythmus der Buchstaben« das Diskrete entsteht und aus dem Laut- und Klangstrom des Dichten als Denkkategorie gesondert wird.81 Benveniste und seine Theorie sind also selbst die »bewegliche Form« innerhalb der miteinander konkurrierenden etymologischen Positionen, in die verschiedenartige Lesarten projiziert werden können: Er nutzt die mehrfach vermerkte »fehlende Bindung« zwischen Wortwurzel und Wellenbedeutung nicht, um eine alternative Bindung einzusetzen, sondern das Prinzip der fehlenden Bindung zur neuen Begriffsbestimmung zu erheben.82 Die Mehrzahl der etymologisch argumentierenden Texte versucht hingegen, diese »fehlende Bindung« zu rekonstruieren; dies erfolgt entweder durch eine manchmal etwas alberne historische Betrachtung, welcher Bewegungsweise des Wassers denn nun die griechische Rhythmusauffassung abgelauscht bzw. abgeschaut sein könnte. Diese Bestimmung kann hemmungslos zwischen einem begrenzten Flussbett, einem wildrauschenden Wasserfall und dem Horizont des Ozeans je nach der Neigung des Autors variieren.83 Die Alternative dazu ist die Ausformulierung einer eher anthropologisch allgemeinen Theorie, in der diejenige Perspektive rekonstruiert wird, durch die ein Rhythmus des Fließenden doch in der Wellenbewegung erkannt werden kann. Hierbei sind drei Grundsituationen zu unterscheiden, die allesamt die Logik einer minimalen Verräumlichung der Zeit für sich etablieren müssen:
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Vgl. E. A. Leemans, »Rhythme en ΡΥΘΜΟΣ«, in: L’Antiquité classique 17 (1948), S. 403-412. Vgl. dort den Widerspruch der »Rhein-Etymologie« zum Bild der Meereswellen, den Verweis auf die Endung »-os«, die eine aktive Tätigkeit anzeigt, den Verweis auf eine abweichende Bedeutung seit Platon und auch die »strukturale« Begriffserklärung als bewegliche Form. Vgl. Gerald Wildgruber, »Jenos merópon änthrópon. Das Geschlecht der Lautstromabteiler, oder: Was es heißt, die eigene Stimme zu analysieren«, in: Wolfgang Ernst/Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie, München 2006, S. 190: »›Rhythmus der Buchstaben‹ hieße es, weil es sich um die Form des Prekärsten überhaupt handelt, das was für sich genommen gar nicht existiert, nicht einmal aussprechbar, sondern nur im Zusammenhang mit anderem wirklich ist: eben das Resultat der Operation einer Isolation des Phonems; also den zusammenhängenden Lautstrom der Rede in die festgehaltene Irrealität diskreter Momente zu analysieren«. Man kann zudem kritisieren, dass es in dem Zitat weniger um die veränderliche Form, sondern um die in der historischen Adaption ganz konkret veränderte Form der Buchstabenzeichen geht. Vgl. Christoph Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 86. Vgl. zur variierten »Rhein-Etymologie« durch den Wechsel von Wellen zu Flussbiegungen auch Otto Schroeder, »Ritmos«, in: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie, Bd. 53, Berlin 1918, S. 328f.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis 1. Ausbreitung der Wellenbewegung vom Zentrum: Dieses Modell verlangt ein fixiertes Objekt, das den initialen Auslöser für die konzentrischen Bewegungen hergibt, und setzt zugleich einen externen Beobachter voraus, der das räumlich-simultane Rhythmusbild dieses Wellenkreises rezipiert. Damit sind derartig viele offenkundig von der Situation des natürlichen Fließens abweichende Notwendigkeiten gegeben, dass dieses Bild nur dort attraktiv bleibt, wo es die »Raum-Etymologie« einer Reihung um die Mitte als dessen genaues Äquivalent bestätigen soll: »Man kann sich den ganzen Sachverhalt nicht besser vergegenwärtigen, als wenn man denkt an die ringförmigen Wellen, die entstehen, wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird: nach außen zu werden die Kreise immer größer, aber auch immer schwächer.«84 Dasselbe Bild kann daher auch zum Nachweis für das Fehlen von Rhythmus herangezogen werden: »Die vorrhythmische diffuse Dynamik (drangvolle Gerichtetheit) ist ein Ausbreiten – nicht nur vorwärts, sondern – allerwärts.«85 2. Ablesen der Wellenbewegung von einem Fixpunkt: Die Boje, die für sich an einem Ort bleibt, aber die Bewegung des Wassers nachzeichnet, wäre hierfür das typische Beispiel. Auch hier gibt es also einen externen Beobachter, der ein gegenüber der Wellenbewegung fixiertes Objekt betrachtet, doch bleibt nun auch der Beobachter an die temporale Abfolge der einzelnen Wellen gebunden; das Objekt, das diese Wellen stärker visuell als akustisch fixiert, löst zudem nun die Wellenbewegung nicht mehr aktiv aus, sondern wird nur als passiver Messpunkt eingesetzt. Klages kinetische Rhythmusperspektive bindet sich daher an diese zweite Bedingung (und führt vor, wie sie sich als abgeleitete Variante der ersten Bedingung darstellt): »Wir denken an den regungslosen Spiegel des Teiches, in dessen Mitte ein Stein gefallen, und lassen den Blick mit den Wellen nicht weiterwandern, sondern halten die Stelle fest, wo etwa ein schwimmendes Holzstück die Bewegung bezeichnen möge.«86 3. Abbildung der Wellen gegen eine Grenzmarke: Eine Wellenbewegung kann dadurch als rhythmisiert wahrgenommen werden, dass der externe Beobachter das Flussufer bzw. beide Uferbegrenzungen als das fixierende Objekt heranzieht, von dem der Rhythmus abgelesen wird: »Dazwischen liegt doch auch ein ›Fließen‹, das durch den vollkommen regelmäßigen Wellengang gekennzeichnet ist. Besonders deutlich wird dieser für den Beschauer von einer Brücke oder von einem Boot aus.«87
Der Wellengang des Meeres (oder auch eines Binnensees) und die Fließbewegung eines Flusses unterscheiden sich also dadurch, dass bei der Meereswelle eher mehrere Wellen am selben Messpunkt verfolgt werden, während bei der Flussbewegung eher eine Welle an verschiedenen Messpunkten verfolgt werden muss. Der Unterschied ließe sich zudem in ein und demselben Gewässer verdeutlichen als Differenz zwischen einem fixierten Messobjekt (ein festgebundener Stock, der vom Wasser bewegt wird) und einem nicht-fixierten Messobjekt (ein Stock, der im Wasser forttreibt). Alle drei 84 85 86 87
F. Adama van Scheltema, »Rhythmus in ethnologischer Beleuchtung: Reihung um eine Mitte«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 215. Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 80. Vgl. auch bereits Helmholtz 1913, Lehre von den Tonempfindungen, S. 16f. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 16f. Wolf 1955, »Etymologie«, S. 104.
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Modelle zum Ablesen des Rhythmischen aus dem Wasser aber sind darin verbunden, dass sie eine anti-metrische Aussagelogik über organisch fließende Gewässer mit metrischen Grundbedingungen und maschinenlogischen Ablesevorrichtungen verbinden: Wanderrhythmen symbolisieren das eigene Wandern, Wasserrhythmen aber nicht das eigene Schwimmen, sondern den Blick des Wanderers auf das Wasser.88 Die Literatur zum Rhythmus ist uferlos, aber der Rhythmus selbst ist es nicht: Der Rhythmus des Wassers wird immer vom Ufer aus betrachtet. Diese Bindung an einen externen Beobachter lässt sich zudem noch eine Ebene weitertreiben, insofern die positive Bestimmung des fließenden Wasserelements gegenüber dem fixierenden Landelement für den Rhythmus sich auf höheren Ebenen der Betrachtung nicht durchhalten lässt. Dies betrifft vor allem eine spezifisch deutsche Rhythmusesoterik: Das feste Land ist der Träger der deutschen Kultur, das Wasser dagegen ist das Element der technokratischen Lebensbezwingung einer »welschen« Zivilisation, doch es ist das Wasser, dem die rhythmisch »runden« anstelle metrisch »eckiger« Formen entsprechen.89 Die »Raum-Etymologie« des Rhythmus scheint damit abhängig von der Perspektive des festen Ufers: »Es ist merkwürdig, daß der Mensch, wenn er an einer Küste steht, natürlicherweise vom Lande aufs Meer hinaus schaut und nicht umgekehrt vom Meer ins Land hinein.«90 Die kleine, im Stil einer Kinderfibel gehaltene Schrift Land und Meer von Carl Schmitt, der dieser Satz entstammt, führt alle Argumente vor, wie man aus diesem Gegensatz heraus denjenigen einer technikfixierten Zivilisation (mitsamt ihrer Machtund Gewaltexzesse) und einer gemütstiefen Kultur durchdeklinieren kann (mitsamt einer Verdrängung aller eigenen Gewaltexzesse). Die Grundidee lautet dabei immerzu, dass das Meer in sich der offene, ungegliederte Raum ist, der daher in Form von Kompass und Längengradbestimmung auch zum Modell der zivilisatorischen Unterwerfung des Raums durch die rationale Technik wird.91 Der Gegensatz eines idealistischen Denkens, bei dem der einsame Wanderer in den Bergen seine Gedanken schweifen lassen kann, weil die Natur ihm stets noch genügend Orientierung bietet, zu einem empirisch-materiellen Denken, bei dem der Navigator auf dem Schiff stets
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Vgl. dazu auch Julian Caskel, »Von Schubert haben wir’s gelernt: Wasserrhythmen und Wanderrhythmen als Metaphern des Klangs und der Rezeption von Orchesterbearbeitungen«, in: Christiane Schumann (Hg.), Schubert-Jahrbuch 2010/2013, Bd. 1, Duisburg 2014, S. 91-102. Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik, Bonn 23 1949, S. 107: »Die ganze Welt der Wolken und Gewässer weist niemals, die ganze Welt des Steinigen fast immer eckige Umrisse auf, dergestalt, daß ein Zeichner uns zwar die türmendsten Haufenwolken und mächtigsten Gebirge im winzigen Rahmen einer Postkartenfläche vorführen kann, dagegen auch bei wandgroßem Bildraum unverständlich bliebe, wenn er es unternähme, jene eckig, diese rundlich zu gliedern«. Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 1954, S. 4. Vgl. zur Rückbindung solcher Meeresskepsis bis zu Platon Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin 2003, S. 36f.; vgl. zu ihrer Latenz in der Theoriegeschichte auch Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 533: »Das Meer ist vielleicht der bedeutendste der glatten Räume, das hydraulische Modell par excellence. Aber von allen glatten Räumen ist das Meer auch der erste, den man einzukerben versucht hat, den man in eine Dependance der Erde zu verwandeln versuchte, mit festen Wegen, konstanten Richtungen, relativen Bewegungen und einer vollständigen Gegenhydraulik von Kanälen und Leitungen«.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
praktisch und unspekulativ sich dieser Orientierung versichern muss, weist weit über das Feld der Rhythmustheorien hinaus, aber dieses Feld ist ohne solche Gegensätze vermutlich nicht vollständig zu verstehen. Der Gegensatz der »Rhein-Etymologie« und der »Raum-Etymologie« bestätigt daher exemplarisch die beiden rhythmischen Möglichkeiten einer minimalen Anreicherung eines »digitalen« Extremwerts (als minimale Verräumlichung der Zeit, insofern die Anpassung der »Bildwurzel« der fließenden Wasserwellen eine räumliche Fixierung durch ein Messobjekt und auch einen Beobachter verlangt) und umgekehrt einer asymptotischen Annäherung an einen »analogen« Extremwert (als maximale Verzeitlichung des Raumes, der aber in der »Wortwurzel« eines atomistisch bestimmten Rhythmusbegriffs vorausgesetzt bleibt). Überträgt man diese exemplarische Struktur auf die Versuchsanordnung der Sirenenepisode, dann muss auffallen, dass diese in jeweils einem zentralen Detail den beiden etymologischen Hypothesen nicht entspricht: Explizit wird die Wasseroberfläche am Sirenenfelsen von Homer als windstill, unbewegt und also unrhythmisch bezeichnet. Und die Selbstbindung des Odysseus an den Mast durchbricht implizit eine mythologische Repetitionsstruktur, die in den antiken Belegstellen beständig aufgerufen wird, wenn etwa der an den Felsen geschlagene Prometheus darüber klagt, er sei unbarmherzig in einen Rhythmus gebannt. Tatsächlich ist diese Struktur in der Sirenenepisode modifiziert, weil Odysseus seine eigene Opferung an die Sirenen – und diese würde sich zum wiederholten Male vollziehen, wie die Knochen am Ufer belegen – umgeht, indem er sozusagen die Rolle des sichtbar dargebotenen und fixierten Opfertiers einnimmt.92 Der »Interessenkonflikt« zwischen Odysseus und den Sirenen läuft also darauf hinaus, dass dieser sich am Mast seine Mobilität nehmen muss, damit das Schiff seine Reise fortsetzen kann. Die Fesselung am Mast steht eigentlich dafür, dass das Subjekt, von einem Fremden gebannt, einer rhythmisch repetierten Bewegung ausgesetzt ist, doch in der Odyssee steht dasselbe Bild dafür ein, dass ein Subjekt sich erfolgreich dieser Repetitionsfolge entzieht. Und darin läge eine implizite Kritik der Sirenenepisode an der »Raum-Etymologie«: Auch diese trennt eine fixierte räumliche Konstellation von ihrer repetierenden zeitlichen Ausfüllung. Der Begriff der Fessel ist dabei tatsächlich jene Wortwurzel, die der »RaumEtymologie« zwar logisch entspricht, aber das rhythmisch konstitutive Element der Bewegung so stark negiert, dass es sich nicht mehr direkt auf diese Vorstellung beziehen lässt.93 Stattdessen gehört »Fessel« zu den diskutierten etymologischen Varianten nun für die Sirenen. Der Sirenengesang ist dabei nicht mehr eine Fesselung, der man folgen kann (»Spell« als Buchstabieren bzw. Selbstbindung gegen eine äußere Kraft),
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Vgl. die Bezeichnung des Odysseus als »simulacrum of the scapegoat« bei Jacques Attali, Noise. The Political Economy of Music, übs. von Brian Massumi, Minneapolis 9 2006, S. 29. Vgl. zur christlichen Umdeutung dieses Bilds Georg Weicker, Der Seelenvogel in der alten Literatur und Kunst. Eine mythologisch-archäologische Untersuchung, Leipzig 1902, S. 84. Roda Wieser, Rhythmus und Polarität in der Handschrift, München 1973, S. 22 zitiert eine Definition aus einem Vortrag von Hans Walter: »Rhythmos ist eine vom Schicksal, von den Göttern auferlegte Fessel, welche die Auflehnung des Menschen ruft«.
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Die Theorie des Rhythmus
sondern eine Fesselung, der man folgen muss (»Spell« als Zauberkraft bzw. als Fremdbindung durch eine äußere Kraft).94 Der Verweis auf die Windstille wiederum könnte belegen, dass die Selbstbindung an den Mast auf hoher See einen weit trivialeren Zweck besitzt, nicht vom Schiff in die stürmische See zu fallen, weshalb die Macht der Sirenen sich nur bei ruhigen Windverhältnissen beweisen lässt. Der Sirenengesang erzeugt durch ästhetische Mittel bei Windstille das, was sonst bei aufziehenden Böen durch Chaos erzeugt wird. Und darin läge eine Kritik der Sirenenepisode an der »Rhein-Etymologie«: Diese setzt immer eine Ordnung in der Wasserbewegung voraus, die den Rhythmus generiert, obgleich eigentlich umgekehrt der Rhythmus schon vorausgesetzt sein muss, um ihn in den Wellen zu entdecken. Ein Konkurrenzverhältnis des »digitalen« und des »analogen« Extremwerts tritt zudem in der ironischen Pointe zutage, dass auch die Bedeutung »Ruderschlag« als Wortwurzel für den antiken Rhythmusbegriff angegeben worden ist.95 Etymologie ist also tatsächlich aus verschiedenen Gründen für die Frage, was Rhythmus ist, nicht sehr hilfreich: Sie erfolgt durch Außenseiter ohne Bezug zur Rhythmusforschung, da ein philologisches Fachwissen notwendig ist, das sich willkürlich die passenden Rhythmusmodelle aussuchen kann, ebenso wie die Rhythmustheorien sich dem kaum ganz klaren etymologischen Befund beliebig anpassen lassen. Etymologie ist aber auch darum wenig hilfreich, weil sie die in jeder sinnfälligen Definition des Rhythmus vorhandenen Elemente des Fließenden und des Stauenden durch die Suche nach einer einzelnen Wortwurzel künstlich voneinander trennt.96 Es gibt aber sozusagen keinen Rhythmus der Selbstbindung an den Mast ohne ein fließendes Objekt, das von dort betrachtet wird, und es gibt keinen Rhythmus der Wasseroberfläche ohne einen Beobachter, der durch eine solche Selbstbindung vom Wasser getrennt verbleibt. Die Differenz der etymologischen Theorien zu den genealogischen Ursprungsmodellen liegt also darin, dass hier rhetorisch jene Synthese der gegensätzlich bestimmten Pole vermieden werden muss, die in den Theorien der Arbeits- und Lebensrhythmen immer schon vorausgesetzt scheint: »Auf dem Gebiet praktischer Tätigkeit bietet auch ein wohlgeregeltes Leben einen Rhythmus dar, wo bald der Leib, bald der Geist (oder beide) am Ruder sind.«97 Es kommt alles darauf an, für das rhythmisch richtige Verhältnis von Kontrollverlust und bewahrter geistiger Kontrolle die geeignete Sprachregelung zu finden. Auch dieses Problem aber findet man in der Sirenenepisode der Odyssee bereits durchgespielt.
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Vgl. zur Etymologie der Sirenen u.a. Rachewiltz 1987, De Sirenibus, S. 24. Vgl. zu den beiden konkreten Begriffsvarianten von »Binding« und »Spell-Binding« Comay 2000, »Adorno’s Siren Song«, S. 29. Vgl. den Hinweis bei Wolf 1955, »Etymologie«, S. 105. Vgl. Lorenz Dittmann, »Probleme der Bildrhythmik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 29/2 (1984), S. 200: »Müßig erscheint es, die eine Bedeutung als die ›ursprünglichere‹, ›eigentliche‹ gegen die andere auszuspielen. Vielmehr zeigen sich gerade in der Spannung und der möglichen Synthese beider Charakteristika auch die Grundpositionen bildkünstlerischer Rhythmik«. August Schmarsow, »Zur Lehre vom Rhythmus«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 16 (1922), S. 112.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
2.2.3
Phänomenologie: Theoriebildung nach 2000
Die Sirenenepisode in der Erzählung Homers enthält einen notwendigen Logikfehler, den auch jede Nacherzählung der Begebenheit zu verbergen versuchen muss. Der hierfür entscheidende Satz in der Handlungsanweisung lautet: »Flehst Du die Freunde nun an und befiehlst die Seile zu lösen, Eilend feßle man dich mit mehren Banden noch stärker!«98 Der Logikfehler ist offenkundig: Wie sollen die Ruderer, denen die Ohren mit Wachs verstopft sind, zwar den Gesang der Sirenen nicht vernehmen, aber weiterhin dem Befehl des Odysseus Folge leisten, ihn noch fester an den Mast zu binden? Die Machtpositionen sind also gefährdet, wenn Odysseus infolge seiner Selbstbindung an die Sirenenkunst die individuelle Kontemplation des Konzerts für wichtiger nimmt als seine Autorität gegenüber dem Kollektiv. Es gibt gar keine Sirenen, diese sind lediglich eine Erfindung der Ruderer, die mithilfe einer ästhetischen Illusion eine elegante Möglichkeit erhalten, ihren Anführer zu entmachten.99 Das Verstopfen der Ohren trennt die Ruderer von jener akustischen Koordination, die für ihre eigene knechtische Tätigkeit und die Fortbewegung des Schiffs notwendig ist, zugleich erscheint der Anführer Odysseus aus Sicht der Ruderer reduziert auf die Funktion eines Signalgebers, an dessen Reaktionen abzulesen wäre, wann die Gefahr durch den Sirenengesang überwunden ist (gelänge es Odysseus, nicht auf den Gesang zu reagieren, könnte er zu früh befreit werden und doch zu den Sirenen eilen).100 Je stärker die Macht der Sirenen über Odysseus wird, desto schwächer ist dessen eigene Macht über die Schiffsbesatzung.101 Die Machtverhältnisse müssen durch die Mittel der nonverbalen Kommunikation gesichert bleiben: Odysseus sendet seine Befehle an die Ruderer wahlweise durch das Nicken mit dem Kopf, durch Signale der Augen oder durch Bewegungen des gesamten Körpers. Eine solche Regression sprachlicher Kom-
Zit. nach Werner Wunderlich (Hg.), Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershof, Stuttgart 2007, S. 16. Die Gegenüberstellung verschiedener Textvarianten in diesem Sammelband zeigt schlagend die Konstanz des im folgenden entwickelten Darstellungsproblems. 99 Die Deutung findet man auch bei Blanchot 1988, Gesang der Sirenen, S. 13, für den die Ruderer »[…] ein Recht haben auf das Vergnügen, zu sehen, wie ihr Anführer sich auf lächerliche Art verzerrt und windet und ekstatische Fratzen ins Leere schneidet, das Recht auch auf die Genugtuung, daß sie ihren Herrn bändigen dürfen (und wahrscheinlich war dies die Lehre, die sie begriffen, der eigentliche Sirenengesang für sie)«. 100 Diese kurzzeitige Entmachtung soll auch für den Konzertbesucher nur gegenüber der Kunst gelten, und darf keineswegs auf die Besitzverhältnisse außerhalb des Konzerthauses übergreifen. Vgl. Hanns Eisler, Gesammelte Schriften 1921-1935, hg. von Tobias Fasshauer und Günter Mayer, Wiesbaden 2007, S. 506: »Das wäre ungefähr so, als wenn sich ein Bankdirektor beim letzten Satz der IX. Sinfonie an den Sitz anbinden lassen müßte, um nicht seinen Nachbarn zu umarmen bei ›Alle Menschen werden Brüder‹«. 101 Vgl. zum Konflikt ästhetischer Macht der Sirenen über Odysseus und sozialer Macht des Odysseus auch über die Sirenen Albrecht Wellmer, »The Death of the Sirens and the Origin of the Work of Art«, in: New German Critique 81 (2000), S. 5-19.
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munikation auf performative bzw. gestische Signale erzeugt aber offenkundig erneut einen möglichen Ort des Rhythmischen innerhalb der Sirenensituation.102 Zwei Formen des rationalen Vorbehalts gegenüber einem körpergebundenen Rhythmus werden dabei erkennbar: Erstens ist es für Odysseus unmöglich, sich bereits in der Nacherzählung des Befehls auf den Logikfehler und die reduzierte Kommunikationssituation zu beziehen. Hier muss in der Wiedergabe des Befehls an die Ruderer stets explizit noch von einem »Sprechen« oder »Anweisen« die Rede sein. Die Wappnung vor den Sirenen bleibt auf diese Weise von der ästhetischen Sphäre ihres Gesangs strikt getrennt: »Um ihr zu widerstehen, mußte Odysseus nicht nur technische Maßnahmen treffen, sondern auch sich im voraus mit seiner Mannschaft in der Sprache der ›kalten Vernunft‹, die jede Musik ausschloß, verständigen.«103 Und zweitens bleibt offenkundig in die gestische Reaktion des Odysseus auf den Sirenengesang eine Grenze des guten Geschmacks eingeschrieben, in welcher die konvulsivischen Bewegungen stets die Bedeutung eines an den Adressaten der Ruderer gegebenen Befehls bewahren müssen. Nichts symbolisiert das Problem schöner als jene fehlerhaft überlieferte Zeichnung der Sirenenepisode, in der Odysseus zusätzlich zu den zwei hinter seinem Rücken gefesselten Armen unerwartet noch ein zusätzlicher dritter Arm zur Verfügung steht.104 Genau dieser zusätzlich hervorgezauberte Arm scheint der Grundmodus jedweder rationalen wissenschaftlichen Rede über den Rhythmus zu sein, der immer ein Element der Restkontrolle bewahrt und doch einen sozial legitimen Kontrollverlust darstellen soll. Man kann dabei ganz konkret einen handfesten Konflikt zweier verbaler Rezeptionsformen des Rhythmus erkennen: Einmal gibt es eine Beschreibungsform, die zahlreiche exakte und detaillierte Aussagen treffen kann, weil sie sich nicht auf die reale rhythmische Geste, sondern auf deren vorangestellten Normrahmen bezieht: auf die Notation, das Metrum oder die Repetition des Vorherigen. Dies entspricht der Situation des Odysseus, der eine klare Ansage machen kann, weil er den späteren Verlust verbaler zugunsten gestischer Kommunikation in rein verbalen Kategorien beschreibt. Zum anderen gibt es eine Beschreibungsform, die sich zwar direkt auf die reale rhythmische Geste bezieht, aber kaum noch detaillierte und exakte Aussagen treffen kann, weil der dafür notwendige Normrahmen eben gerade nicht mehr vollständig die reale Aktion bestimmt. Dies entspricht der Situation des Odysseus, der weiterhin eine klare Ansage zu machen versucht, obgleich alle verbalen Kategorien in gestische Kommunikation aufgelöst werden müssen. Eine verwandte Konfliktstellung zwischen einer Auffassung des Rhythmischen als rationalem Konzept und einer Auffassung als körperlichem Perzept lässt sich auch noch in der gegenwärtigen Rhythmuspsychologie nachweisen: Es erscheint insbesondere unklar, inwiefern Rhythmus als rational-späte Befähigung zu einer aktiven Koordinations102 Vgl. Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 14: »Auf der Galeere der Arbeitsteilung bezahlt Odysseus die Emanzipation von Auge und Ohr, den sinnlichen Medien des ästhetischen Genusses, mit der Lähmung seines Körpers«. 103 Mário Viera de Carvalho, »Mémoire d´une présence absente. Zur Kritik der Dichotomie zwischen Teleologie und Zuständlichkeit in der Musik als geschlechtsbezogene Kategorien«, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Abschied in die Gegenwart. Teleologie und Zuständlichkeit in der Musik, Wien 1998, S. 126. 104 Vgl. die Abbildung und Beschreibung bei Hofstetter 1990, Sirenen, S. 117.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
leistung105 oder als eine körperlich-frühe Befähigung zu einer passiven Kommunikationsform bestimmt wird.106 Die im Logikfehler der Sirenenepisode abgebildeten Haltungen einmal einer »formalen« Abstraktion und einmal einer »figuralen« Nachzeichnung eines rhythmischen Gehalts könnte man daher in einer reizvollen Theorieperspektive als gleichursprüngliche Erscheinungen auffassen: Eine »figurale« und eine »formale« Rhythmuswahrnehmung wären vom Kindesalter an bis in die Regelwerke konkurrierender Rhythmustheorien hinein konstant verbleibende Wahloptionen, von denen zwar stets nur eine gewählt werden kann, aber zwischen denen sich kein Unterschied einer »ursprünglichen« und einer »nachträglichen« Wahrnehmungsform konstruieren lässt.107 In ähnlicher Weise können innerhalb der frühkindlichen Lautäußerungen nicht eine, sondern zwei frühe Kommunikationsformen identifiziert werden: zum einen das Tonkontinuum glissandoartiger Laute als früheste Verbalform, zum anderen die körperbezogenen Pulsationen als früheste nonverbale Form der Interaktion.108 Der Dualismus zwischen einer verbalrationalen und einer gestischen Referenz auf rhythmische Phänomene besteht somit nicht nur symbolisch in den beiden Formen, in denen der Befehl des Odysseus an die Ruderer in der Sirenenepisode überliefert ist, er verbindet sich konkret erneut mit den rhythmischen Extremwerten, die symbolisch in der Fabriksirene zusammenkommen. Die Signalfunktion des Sirenengeheuls erlaubt eine nochmals andere Perspektive auf das Problem einer »vermittelten« oder einer »direkten« Rezeption von rhythmischen Phänomenen: Die historisch früheste Funktion der Sirene als Hilfsmittel naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird abgelöst von einer heutzutage dominanten Hauptvorstellung, die den Sirenenklang als Warnhinweis vor drohenden Gefahren wahrnimmt (wobei fehlerhaft oftmals diese letzte Funktion auf die historisch früheren Verwendungsweisen vorprojiziert wird).109 Das Klangbild der mechanischen Sirene ist zunächst nicht als Anzeige einer Bedrohung negativ besetzt, sondern steht allgemein und neutral für das urbane Maschinenzeitalter. Die Einfügung der Sirene in eine Liste der zumeist akustischen Signale großstädtischer Hektik bei Fritz Giese scheint für diese Rezeption typisch: »Das Treppauftreppab-Stürzen in der Untergrundbahn, das Rufen der Zeitungsverkäufer, das Pochen der Niethämmer im Hochhausbau, das Knirschen von Kränen, Heulen der Fabriksirenen oder was es sonst aus diesem Leben der Stadt gäbe.«110 105 Vgl. das Plädoyer für den Rhythmus als relativ spät entwickelte kognitive Fähigkeit bei Robert Jourdain, Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt, übs. von Markus Numberger und Heiko Mühler, Heidelberg 2001, S. 190. 106 Vgl. nun als typisches Plädoyer für den Rhythmus in der Musiktherapie Ralph Spintge, »Macht Musik gesund? Musik in der Therapie der Gegenwart«, in: Christiane Krautscheid/Stefan Pegatzky/Rolf W. Stoll (Hg.), Paganini am PC. Musik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Mainz 2009, S. 29. 107 Vgl. hierzu zentral Jeanne Bamberger, The mind behind the musical ear. How children develop musical intelligence, Cambridge, Mass. 1991, S. 66. 108 Vgl. Graham F. Welch, »Singing as communication«, in: Dorothy Miell/Raymond MacDonald/David J. Hargreaves (Hrsg), Musical Communication, Oxford 2005, S. 239f. 109 Vgl. Max Kunze (Hg.), Vorsicht Lebensgefahr! Sirenen, Nixen, Meerjungfrauen in der Kunst seit der Antike, Ruhpolding 2013, S. 7. 110 Fritz Giese, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925, S. 33.
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Diesem urban-industriellen Kontext entsprechen frühe Experimentalkonzerte wie das nur durch Bilddokumente belegte Moskauer »Konzert der Fabriksirenen und Dampfpfeifen«.111 Erst die Erfahrung des Fliegeralarms im Zweiten Weltkrieg verändert die Realität des Sirenenklangs.112 Ein leicht absurdes, aber bezeichnendes Beispiel dafür ist der Einbezug des Sirenenglissandos in Hans Pfitzners Oper Das Herz, wo anachronistisch mit dem mechanischen Instrument eine Teufelsbeschwörung im Stil der Wolfsschlucht-Szene von Webers Freischütz unterstützt wird (sodass als eigentliche Bedrohung in die romantische Schaueroper der Klang der modischen Zeitoper der 1920er-Jahre eindringt). Diesen Einsatz der Sirene hat Pfitzner unter dem Eindruck der veränderten Signalfunktion verboten: »Ich wünsche, daß die Sirene in Zukunft wegfällt, um jede Erinnerung an den grauenhaften Luftkrieg (1944!) zu vermeiden.«113 Die Warnfunktion der Sirenenklänge im Zweiten Weltkrieg verbindet sich dabei in vielen Biografien mit dem Ausharren im Luftschutzkeller, wo im gleichförmigen Geräusch der Flieger, dem Heulen der herabziehenden Angriffsformationen und den Einschlägen der Detonationen paradoxerweise wiederum dieselben rhythmischen Punktreihen und Linienzüge gehört werden.114 Eine Fabriksirene verkündet allerdings einen exakt bestimmten Zeitpunkt (den Anfang und das Ende einer Arbeitsstunde), eine Alarmsirene verweist auf eine nur ungefähr bestimmbare Zeitspanne (den Anfang und das Ende einer Gefährdung). Die rationale Eckpunkt-Bestimmung verbindet sich im kulturellen Gedächtnis mit dem kontinuierlichen Einzelton (als Signal für die Entwarnung), die Gänsehaut unterschwelliger Bedrohlichkeit mit dem heulenden GlissandoKlang (als Signal für die Gefahr). Einer rational geordneten Reaktion steht ein chaotischer Fluchtreflex gegenüber, sodass also auch im Sirenenklang ein Befehlssignal abgewandelt wird. Die Fabriksirenen scheinen jene Vorstellung als Todessymbole in sich aufzunehmen, welche den Mythossirenen vor allem noch in ihren historisch ältesten Quellen zugeschrieben wurde.115 Formulierungen über das Mischwesen der Mythossirenen, die Wissens- und Todessymbole zugleich sind, lassen sich darum nicht nur problemlos auf die neuzeitlichen Fabriksirenen übertragen, sondern auch auf zentrale Wesensmerkmale des Rhythmus: »For no other figures in the Odyssey are associated to the same extent with the perils of unhumanized, unacculturated Nature […] and at the same time
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Vgl. Abbildung und Anmerkungen bei Inge Baxmann, »Arbeit und Rhythmus. Die Moderne und der Traum von der glücklichen Arbeit«, in: Baxmann/Göschel/Gruß/Lauf 2009, Arbeit und Rhythmus, S. 22f. Die Verwendung der Sirenen für den Zweck des Fliegeralarms wird bereits in Friedenszeiten geplant und ist etwa ab Beginn der 1930er-Jahre die gewohnte »Soundscape« der Probealarme (Sirene ist auch der Titel der Zeitschrift des Reichsluftschutzbundes); vgl. Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, S. 47. Zit. nach Thomas Keilberth, Joseph Keilberth. Ein Dirigentenleben im XX. Jahrhundert, Wien 2007, S. 118. Diese drei Grundgeräusche des modernen Kriegs gehören auch schon zum Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs. Vgl. Sabine Giesbrecht, »Höllenkonzerte und Brummerlieder. Der Erste Weltkrieg als Musikerlebnis«, in: Stefan Hanheide u.a. (Hg.), Musik bezieht Stellung. Funktionalisierungen der Musik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 458f. Vgl. Weicker 1902, Seelenvogel, S. 1.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
endowed with those very skills or aptitudes which seem most valued in the social and sacred economies of Greek culture.«116 Diese beständig wiederholbare Pointe, dass die Aussagen aus der einen in die andere Topologie übertragbar sind, ist vermutlich in sich ein Hinweis auf ein Wesensmerkmal des Rhythmus, der zwischen verschiedenen Extrembestimmungen vermittelt. Diese These kann weiter dokumentiert werden durch eine knappe Darstellung jener kompositorischen Umsetzungswege, in denen Sirenenklänge verschiedenster Provenienz auch musikalisch miteinander verwandt scheinen.
2.3
Mythos- und Fabriksirene in der Kompositionspraxis
Die Parallelführung der antiken Mythossirenen und der neuzeitlichen Fabriksirenen setzt sich offenkundig dem Vorwurf einer doch willkürlichen Vorgehensweise aus. Selbst dann aber bliebe gerade dies als Parallele zur Rhythmustheorie relevant: Die Konfrontation einer humanistischen Bildungstradition mit einem maschinellen Gegenmodell besitzt für den Rhythmus eine ebenso zentrale rhetorische Bedeutung wie für die Sirenenklänge.117 Die Mythossirenen sind zeithistorisch vor allem ein beliebtes Symbol für die sinnliche Direktheit der Musik, die aus konservativer Sicht schon im 19. Jahrhundert das rechte Maß überschritten hat (gemäß dem Diktum von Nietzsche: »Es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, daß alle Musik Sirenen-Musik ist«).118 Erscheint der Sirenengesang als Negation einer klassizistischen Form von Musik, so kann der Klang der Fabriksirene als Negation aller Musik begriffen werden.119 Kompositionen, die entweder das neue Instrument der Fabriksirene verwenden, oder aber das altertümliche Sujet der Mythossirenen aufgreifen, können sich ganz im Sinne modernistischer Emanzipationsvorstellungen auf solche Negationen lustvoll beziehen. Dies mag erklären, warum die Abfolge der Einzelstücke, die die eine oder die andere Form der Sirenen mit einbeziehen, dennoch den Eindruck einer geschlossenen Werkgruppe zu erzeugen vermag. In der geteilten Bezugnahme auf die beiden rhythmischen Extremwerte entsteht eine »Symmetrie der Sirenen«: Antikisierende und futuristische Sirenengesänge beruhen auf derselben musikalischen Problemstellung, wie eine minimale Restpräsenz der metrischen Funktionalität im Kontext einer stark reduzierten rhythmischen Figurenprägnanz abgesichert werden kann. Repräsentieren die
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Rachewiltz 1987, Sirenibus, S. 38. Vgl. besonders eindrücklich Salmen 1980, »Musizierende Sirenen«, S. 393 bzw. S. 399. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Berlin 2016, S. 239. Tatsächlich wird aus ästhetisch reaktionärer Sicht die Entfesselung klanglicher Kräfte im 19. Jahrhundert nicht mehr als Musik (also als antike Musenkunst), sondern als Sirenik bezeichnet (also als täuschende Todeskunst); vgl. Erich Wolff/Carl Petersen, Das Schicksal der Musik. Von der Antike zur Gegenwart, Breslau 1923, S. 16. Vgl. Ulrich Michels, dtv-Atlas zur Musik, Bd. 1, Kassel 16 1995, S. 105: »Eine gleichmäßig tönende Sirene ist keine Musik, da das starre Unveränderliche den psych. Vorgängen im Menschen nicht entspricht«.
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antiken Sirenen die Utopie eines rhythmuslosen Klangs, so widersprechen die modernen Sirenenkompositionen dieser Utopie durch die Möglichkeit eines rhythmuslosen Metrums. Die wenig bekannte sinfonische Dichtung Les Sirènes (1908) von Reinhold Glière gibt das kompositorische Grundproblem aller Sirenenstücke des 20. Jahrhunderts vor: Wie lässt sich der »Vordergrund« des melodischen Sirenengesangs klanglich dennoch aus dem »Hintergrund« einer in diesem Fall mit mythologischen Harfenklängen angereicherten Meeresmusik ableiten? Eine Lösung dieser Aufgabe scheint darin zu liegen, dass der rhythmisch-metrische Hintergrund so modifiziert werden muss, dass in dem »digitalen« Extremwert einer Reihe von Akzentpunkten dennoch der »analoge« Extremwert einer kontinuierlichen Klangfläche angedeutet werden kann. Der Anfang des Stücks etabliert eine klare Zweitaktstruktur der Bass- und Harfenakzente, die einer psychologisch ergänzten Akzentschicht des Metrums entsprechen (eine Akzentschicht ist die »rhythmisierte« Reihe der betonten Einzelpunkte innerhalb einer »rhythmisierenden« Reihe, eine Ablaufschicht, in der nicht jeder Punkt der schnelleren Pulsationsfolge herangezogen wird; das Gegenprinzip könnte man gemäß dieser Terminologie als Zählschicht bezeichnen). Dieser einzelnen Akzentschicht fehlt eine solide Grundierung: Die rhythmische Unterteilung durch schnellere Ablaufschichten ist in möglichst unterschiedliche und für eine »subjektive Rhythmisierung« zu rasche Einzelpulsationen aufgelöst. Der entstehende diffuse Klangteppich repräsentiert umgekehrt das Prinzip eines Kontinuums, das minimal gegliedert verbleiben muss. In diesen Hintergrund wird in den Celli eine Vorwegnahme des Sirenengesangs in Form einer chromatischen Drehmelodie hineinprojiziert: Melodie und Metrum, die beständig einen Konflikt um die Vorherrschaft in der Theorie wie der Praxis des Rhythmus ausfechten, werden in den Sirenenstücken nicht nur bei Glière untrennbar verschmolzen (vgl. auch Notenbeispiel 2.1)
Notenbeispiel 2.1: Glière, Les Sirènes (1908), Anfang (Streichersatz)
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Dieser Anfang zielt auf eine musikhistorisch eingeübte Modifikation des »digitalen« Extremwerts (ein offenkundiges Vorbild ist Wagners Rheingold-Vorspiel), wobei in einer »rhythmuslosen« Klangfläche das weiter realisierte Metrum verborgen werden kann. Ein Äquivalent hierzu bildet eine ebenso eingeübte Modifikation des »analogen« Extremwerts, wenn mithilfe einer stark chromatisierten Melodielinie die Annäherung an ein reales Tonkontinuum suggeriert werden soll. Das erste Motiv der Sirenenmusik erweitert die chromatische Linie der Einleitung lediglich um ein einzelnes absackendes Zwischenintervall, wobei diese eintaktige Floskel sich in ihrer Sequenzbildung als beinahe penetrante Variante der Venusberg-Musik aus Wagners Tannhäuser bestimmen lässt. Der Strukturreiz innerhalb des gezeichneten Sujets liegt darin, dass in diesem post-wagnerschen Universum die Chromatik der Normalfall ist, während die Diatonik einfacher Hörnerfanfaren nur das nachzeichnet, was von der Sirenenchromatik vernichtet wird. Dadurch wird der Vordergrund der Versuchsanordnung mit ihren klar verteilten Rollen das eigentliche Opfer der musikalischen Umsetzung: Das Motiv der chromatischen »Sturmschleifen« markiert nicht nur den Untergang des Schiffes am Ende des Stücks, sondern wird bereits in der Sirenenmusik eingesetzt. Die Sirenen müssen untergehen, damit das Schiff untergehen kann. Die dadurch noch verstärkte Symmetrie des Ablaufs, bei dem die Meeresmusik den Anfang wie das Ende der sinfonischen Dichtung bildet, wird von Glière durchaus elegant kommentiert: Wenn am Ende weder die Sirenen noch die Schiffsbesatzung mehr zu hören sind, sondern eine veristische Abbildung des vom Wasser verschluckten Fahrzeugs das Stück beschließt, bleibt die harmonische Grundierung der Eckteile dennoch aufeinander bezogen. In den Anfangstakten erklingt trotz der f-Moll-Vorzeichnung ein Durklang auf dem Basston f und mit der ergänzten Sexte des (da die Melodie auf des zentriert ist, kann man dies auch als Des-Dur-Septakkord mit hochalterierter Quinte deuten). In den Schlusstakten erklingt, obgleich nun keine Akzidenzien vorgezeichnet sind, ein f-Moll-Klang, der als allerletztes den ergänzten Ton des hinabzuziehen scheint. Die Symmetrie ist subtil gestört, weil zu Beginn die Sirenen in der Meeresmusik schon anwesend scheinen, während am Ende die Meeresmusik auch den Sirenengesang verschlingt. Es ist auffällig, dass sich spätere Sirenenstücke der Neuen Musik genau in diesen von Glière gezeichneten Rahmen einordnen lassen, auch wenn sie vor allem den »analogen« rhythmischen Extremwert nun weit stärker explizit herausstellen können.120 Besonders prägnant ist in dieser Hinsicht die monumentale Vertonung des Stoffes durch Anders Hillborg, dessen Sirens (2011) mit der beinahe grafischen Notation eines geräuschhaften Sprachklangbands über einem in die Zeitlosigkeit hinein gedehnten Hintergrund von übergebundenen Streicherklängen beginnt. Das Prinzip der minimalen Subtraktion dieser gerade gezogenen Linien in der Notation durch den pulsierenden Wechsel verschiedener Formen des Flüsterns und Wis-
120 In den Stoffvertonungen der Odyssee im 20. Jahrhundert treten solche Werke als Ausnahmen hervor, die einen Bezug auf die beiden klanglichen »Extremwerte« kaum aufweisen; zumeist ist der Grund, dass die Sirenenepisode nicht vertont wird, wie in Ernst Boehes Sinfonischen Dichtungen und den Opern Odysseus (1942) von Hermann Reutter und Ulisse (1968) von Luigi Dallapiccola.
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perns wird hier geradezu paradigmatisch umgesetzt (vgl. auch den Anfang der Partitur in Notenbeispiel 2.2). Dabei entsteht im Formverlauf erneut eine metrische Wirkung in einer möglichst rhythmuslos gehaltenen Klangwelt, indem die stereofone Zuschaltung weiterer Bassregister oder sinnlicher Mixturklänge in parallelen Sexten einzelne auffällige Einsatzpunkte etabliert, die als »structural downbeat«121 eine Kategorie der tradierten metrisch-formalen Orientierung bewahren. Je stärker eine »rhythmuslose« Musik sich als rein horizontale Klangerstreckung dem »analogen Extremwert« einer geraden Linie annähert, desto stärker kann das »vertikale« Metrum sich an alle verbleibenden Texturwechsel anbinden (symbolisiert ist diese Vertikalität des Metrums im Taktstrich, signalisiert wird sie primär durch das Prinzip der psychologischen Auszeichnung eines ausdehnungslosen Zeitpunkts mit einem metrischen Akzent). Vertonungen des Sujets der Mythossirenen nähern sich mehr und mehr den Klangbedingungen der Fabriksirenen: Einzeltondehnungen, angedeutete oder reale Glissandi und zugleich »reine« wie geräuschhaft geweitete Klangspektren bestimmen die Umsetzung des antiken Sirenenstoffs. Und darum finden diese Stücke ihr genaues Gegenmodell dort, wo der ganz übliche Hintergrund einer pulsierenden Rhythmusstruktur durch den schockhaften Schlussauftritt des Klangs der aufheulenden Fabriksirene durchbrochen wird. Diesen Effekt gibt es in der Musikgeschichte der 1920er-Jahre mindestens dreimal: In Hindemiths skandalträchtiger Kammermusik Nr. 1 (1921), wo der Sirenenklang durch die Aufführung hinter einem Vorhang und die reduzierte Besetzung besonders effektiv wirkt, in Kreneks erfolgsträchtiger Oper Jonny spielt auf (1927) sowie in der amerikanischen Erstaufführung von Antheils Ballet mécanique (1924; hier werden Flugzeugpropeller als Geräuschinstrumente eingesetzt). Die Positionierung dieses Schlusseffekts in den Partituren ist jedoch ausgesprochen bezeichnend: Weil der kontinuierlich an- und wieder abschwellende Sirenenklang »analoge« Zeit verbraucht, muss der Beginn dieses Klangs bereits mit der allerletzten »digitalen« Einsatzstelle erfolgen. Das rhythmuslose Glissando verbindet sich in einer metrisch konservativen Zusammenführung mit der Schlusskadenz. Der Sirenenklang erscheint wie eine in das Stück verlagerte Abbildung des mal begeisterten, mal empörten Schlussapplauses (bei Antheil ist laut Anekdote genau dieser Zusammenhang durch den verspäteten Einsatz des Instruments aufgedeckt worden, das eine gewisse Zeit warmlaufen muss, bevor die Kurbelbewegung überhaupt Klänge erzeugt).122
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Vgl. Edward T. Cone, Musical Form and Musical Performance, New York 1968, S. 24 zur ursprünglich etwas anderen Bestimmung dieses Begriffs als »important points of simultaneous harmonic and rhythmic arrival«. Der Begriff wird auf einen non-tonalen Klangkontext übertragen, einfach, weil es keinen besseren Begriff für die auffälligen Zäsurpunkte durch neue Anfänge in diesen ansonsten von allen Zäsuren freien Texturen gibt (der Schnitt aus der hohen in die tiefe Lage in Ligetis Atmosphères wäre das Paradebeispiel). Vgl. Douglas Kahn, Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge, Mass. 1999, S. 124f.
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Notenbeispiel 2.2: Hillborg, Sirens (2011), Anfangsseite der Partitur
(© mit freundlicher Genehmigung von Faber Music 2017)
Der Konflikt zwischen einem tonalen Kadenzschluss, der immer schon vor dem realen Klangschluss erfolgen muss, und einem metrischen Zählakt, der auch über diesen
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Klangschluss hinaus führen kann, bindet den Sirenenklang in seinem Einsatzort zurück an traditionelle Prinzipien einer kadenzmetrischen Syntax (der Sirenenschock ist auf den notationalen Einsatzmoment vor dem eigentlichen Klangschluss angewiesen und generiert dabei einen metrischen Akzent).123 Im Klang der Fabriksirene verbinden sich die konkurrierenden Instanzen der mythologischen Versuchsanordnung, denn der Sirenenton mit seinem »analogen Extremwert« wird vornehmlich in Perkussionsstücken eingesetzt, deren Tongebung ansonsten auf den »digitalen Extremwert« der Ruderer-Rhythmen beschränkt ist. Die Werke von Edgard Varèse stehen exemplarisch für die modernistische Logik dieser neuen Klangkombination.124 Insbesondere in Ionisation (1931) und Amériques (1922) wird deutlich, dass für diesen neuen Vordergrund der Schlagzeugklänge (die als Paukenschlag auf der Takteins oder ostinates Tanzmotiv der ursprüngliche Hintergrund der Musikgeschichte sind) ein neuer Hintergrund benötigt wird. Der Sirenenklang übernimmt partiell diese Rolle und besitzt daher nicht nur modernistische Funktionen: Er wird auch zum Reservat von tradierten Syntaxkategorien wie der mehrtaktigen Phrasengliederung und der Markierung einzelner formaler Abschnitte.125 Der Sireneneinsatz bei Ziffer 2 in Ionisation ist für diesen Zwiespalt bezeichnend: In der Partitur wird mit dem Einsatz der Sirène grave ein metrischer Initialakzent auf einer Takteins und eine an diesen Akzent gebundene mehrtaktige Ablaufeinheit markiert; der kürzer bemessene Einsatz der Sirène claire soll synkopisch dazu erfolgen. Bis in den Abgleich einzelner Aufnahmen dieser Stelle ließe sich der Konflikt nachweisen, inwiefern ein solcher Sirenenklang sinnvoll einem Notationspunkt zugeordnet werden kann oder nicht (sodass also der Sirenenklang in der Aufführung mal als Markierung dieser Eins direkt hörbar werden sollte, aber als Markierung der Gesamtstrecke des Klangs hingegen gerade diese Eins nicht hörbar sein sollte). Die »analoge« Klangqualität der Sirene beruht gleichsam auf einer »digitalen« Klangerzeugung, weil bestimmte Möglichkeiten von vornherein ausgeschlossen sind: »Keine Sirene kann zugleich leise und hoch oder laut und tief ertönen. Je schneller sich die Lochscheibe in ihr dreht, desto lauter, aber auch höher wird der Ton.«126 Der metrische Akzent eines musikalischen Hintergrundes ist aber eben dieser laute und tiefe Anschlagspunkt; das strikt symmetrische Aufheulen und Abschwellen des Sirenentons hingegen erzeugt eine organisch vollständige Ablaufeinheit von Anfang, Mitte und Ende (sodass der Klang um seine Eckwerte beschnitten werden muss, wenn der Eindruck eines anfangs- und endlosen Einzeltons erzeugt werden soll;127 der an123
Vgl. zu diesem Schlusskonflikt Julian Caskel, »›Metrische Hasen‹ und ›tonale Igel‹: Zur Theorie des Tutti-Schlusses am Beispiel von Haydns Londoner Sinfonien«, in: Martin Skamletz/Michael Lehner/Stephan Zirwes (Hg.), Musiktheorie im 19. Jahrhundert, Schliengen 2017, S. 91-102. 124 Vgl. als Zusammenfassung zur Bedeutung der Sirene für Varèse (und auch zu deren stark veränderter Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg) Helga de la Motte-Haber, »Aufbruch in das Klanguniversum«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs, Hofheim 1992, S. 48f. 125 Vgl. Martha Brech, »Rhythmus und Metrum in der Perkussionsmusik des 20. Jahrhunderts«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 204f. 126 Fred K. Prieberg, Musica ex machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, Berlin 1960, S. 65. 127 Auf solchen künstlich beschnittenen Tönen basieren die Werke von Phill Niblock (vgl. dazu Ulli Götte, Minimal Music. Geschichte – Ästhetik – Umfeld, Wilhelmshaven 2000, S. 170f.).
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dauernde Gleitton der Sirene dagegen wird umgekehrt um eine klanglich stabile Mitte beschnitten, sodass eine latent metrische Punktbestimmung sich weiter an den Extremwerten des Klangambitus orientieren kann).128 Der Lösungsweg zur Vermeidung dieser metrischen Restbestimmung im modernistischen Klang der Sirene lautet bei Hindemith und bei Krenek, in der Partiturnotation dem Sireneneinsatz ein jedoch klangmechanisch unmöglich in dieser Form ausführbares Crescendo ohne symmetrisch folgendes Decrescendo zuzuschreiben, um den »analog« unbestimmten Höhepunkt vom »digital« fixierten Einsatzpunkt abzutrennen (vgl. auch Notenbeispiel 2.3). Der Schockmoment der Sirene als Schlusseffekt wird sowohl vom notwendig leisen Beginn wie vom notwendig wieder leisen Ende des Klangablaufs konterkariert. Eine »Symmetrie der Sirenen« besteht also ganz konkret in dem Erscheinungsbild des Klangs, der einen »digitalen« Vorrang des Anfangs mit dem »analogen« Verlust eines hörbaren Anfangsmoments kombiniert: »Die gewollte Wirkung dieser Instrumente ist dadurch zu erzielen, daß man ihren klanghaften Eintritt auf die letzten Ansturmmomente beschränkt. Wird gleich mit dem vorgeschriebenen langsamen Crescendo begonnen, so geht der Klang völlig im Orchester verloren.«129
Notenbeispiel 2.3: Hindemith, Kammermusik Nr. 1 (1922), Schluss
©Mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz
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Vgl. dazu die schöne Aufführungsanweisung für ein Duostück von Alvin Lucier: »Roland gleitet von Gipfel zu Gipfel und atmet, wenn es notwendig ist. Er hält seinen Posaunenzug ständig in Bewegung, auch wenn er nicht spielt. Hildegard punktiert einfach die Tonhöhen der Berggipfel« (= Alvin Lucier, Reflexionen. Interviews, Notationen, Texte 1965-1994, Köln 1995, S. 279). Hermann Scherchen, Lehrbuch des Dirigierens, Mainz 1929, S. 189.
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Die Sirenenklänge erzeugen einerseits den »avantgardistischen« akustischen Moment eines Durchbruchs zu nicht mehr in der Tonhöhenordnung exakt kontrollierbaren Geräuschklängen, derselbe Moment erscheint andererseits als »klassizistisches« notationales Ereignis und dient einer metrisch klar markierten Schlusswirkung. Der Sirenenklang ist das wichtigste Signum, einen musikalisch »glatten« Raum zu erzeugen,130 und er ist das wichtigste Signal, dass eine metrisch »gekerbte« Struktur auch in diesem neuartigen Raum bewahrt bleibt. Dieser minimale Rest kann nämlich eher als metrisch denn als rhythmisch bestimmt werden: die relativ lange zeitliche Ausdehnung und die geräuschhafte Abspaltung vom Klangrest vernetzen den Sirenenton kaum mit der rhythmischen Gruppenbildung, wohingegen die Eckpunkte des Klangverlaufs zu Einsatzpunkten für metrische Taktgruppen werden. Die getrennten Vertonungen der Mythossirenen und der Fabriksirenen (die tatsächlich beinahe tabuartig voneinander geschieden bleiben: in Stücken über die mythologische Situation taucht das wohl zu neuzeitliche Instrument grundsätzlich nicht auf) sind durch diese minimale metrische Restpräsenz in modernistisch geweiteten Klangideen miteinander verbunden. Der ideelle und der reale Sirenenklang werden jedoch in formlogisch komplementärer Weise in die Werke eingespeist: Die Vertonung der Mythossirenen ist von einer Anfangssetzung abhängig, wenn der Vordergrund des Sirenengesangs aus dem üblichen Hintergrund eines zu Beginn etablierten flächig geweiteten Metrums entwickelt wird.131 Die Verwendung der Fabriksirene ist aus einer Endposition abgeleitet, wobei ein schockhafter Effekt auf der Ebene des musikalischen Vordergrunds dem neuen Hintergrund von rein perkussiven Ablaufstrukturen entspringt. In diese beiden grundlegenden Vorgänge lassen sich auch weitere Sirenenstücke ergänzend mit einordnen: Sprachvertonungen, der Sonderfall von Debussys Nocturnes und einzelne Stilmittel der Minimal Music sollen dabei zum Abschluss dieses Kapitels noch vorgestellt werden. Für die Umsetzung sprachgebundener Sirenensituationen ist intermedial das entsprechende Kapitel in James Joyces Ulysses von enormer Bedeutung (und auch wenn die stark ausufernde Sekundärliteratur hier längst jedes Detail entschlüsselt hat, wäre es reizvoll, die Repetition des »Bronze by Gold« und das direkt zu Beginn abbrechende »thnthnthn«-Geräusch als Hinweise auf einen phonographischen Aufnahmevorgang zu deuten, sodass metallische Abspielgeräte und die hängenbleibende Plattennadel in die Kneipengeräusche mit eingeschrieben scheinen).132 Joyces Verweis auf die musikali-
130 Vgl. Edward Campbell, Music after Deleuze, London 2013, S. 72: »Varèse […] used sirens in works such as Amériques as a way of producing a smoother space than was enabled by the semitones of the tempered scale«. 131 Diese Umdeutungs der Sirenenmusik zu einer archaischen Meeresmusik findet man als in sich stabilen Rezeptionstopos recht häufig. Vgl. besonders poetisch die Aussage in Karin von Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1985, S. 338: Die Sirenen erzeugen »[…] das Meer als Ort der musikalischen Handlung«. 132 Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, übs. von Günter Memmert, Frankfurt a.M. 1973, S. 355, wo das Sirenenkapitel in den signifikanten technischen Prämissen des Phonographen beschrieben wird als »[…] unterschiedslose Aufnahme aller Ereignisse, durch den Verzicht auf Auswahl, durch gleichberechtigte Einfügung des unbedeutenden Faktums neben dem bedeutenden«.
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sche Ordnungszahl der Acht durch den Hinweis auf die »eight regular parts« einer Fuge, nach denen die Anlage des Kapitels ausgerichtet sein soll, erzeugt zudem eine Form der metrischen Restbindung (die Motivation, in Fugen nach acht Teilen zu suchen, verdankt sich vermutlich auch der Rolle dieser Zahl in der Oktave und der Achttaktperiode).133 Auf dieses Sirenenkapitel bezogene Vertonungen wie Berios Omaggio a Joyce (1958) oder Unsuk Chins Le silence des Sirènes (2014), die den Titel von Kafkas Parabel mit Textübernahmen von Joyce verbindet (wo die Sirenen viel tun, aber kaum schweigen), unterwerfen sich erneut der Forderung nach einer »rhythmuslosen« Umsetzung des Sirenengesangs: Diese Zielsetzung lässt sich auch durch das Mittel einer erweiterten vokalen Virtuosität andeuten, als Zerstörung der sprachlich »digitalen« Semantik zugunsten ihrer »analogen« Klanglichkeit.134 Tatsächlich rekurriert der Traditionsbruch auf humanistisch erlerntem antiken Theoriewissen: Die von Aristoxenos aufgestellte Differenz zwischen der diskontinuierlichen Stimmbasis der musikalischen Diastematik und der kontinuierlich modulierenden Sprechstimme wird durch die Sirenenklänge jeweils auf ihren Gegenklang umgepolt. Das Glissando der mechanischen Sirene erzeugt eine musikalische Form kontinuierlicher Klangbewegungen (die dann aber zumeist als besonders sprachfern empfunden werden), der comicartig in einzelne Sprachfetzen zerlegte Vokalvortrag dagegen erzeugt die Möglichkeit einer »diastematischen« Isolation von einzelnen Klangatomen (die dann zumeist als besonders musiknah empfunden werden). Die Bezugnahme auf eine solche Negation ist nun gerade für Debussys Sirenenvertonung nicht ganz eindeutig, da sich eine Präsenz des »analogen« Extremwerts kaum direkt nachweisen lässt: Die rhythmisch-metrische Struktur verbleibt ganz traditionell diejenige eines grundierenden Hintergrundes, der Sirenengesang verbleibt ebenso traditionell in der Position der figuralen Vordergrundstellung (und bestimmt so letztlich das Konzertpublikum als seinen Empfänger).135 Zwei Wege scheinen möglich, der Komposition dennoch den gewünschten Platz als Ahnherr aller modernistischen Sprachausweitungen zuzuschreiben: Der erste Weg versucht, den auf Vokalisen reduzierten Gesang als innovative Wendung gegen die sprachliche Semantik zu bestimmen (das Problem ist allerdings, dass diese Reduktion eine Standardtechnik für alle Nymphenund Sirenenfiguren in der Operngeschichte des 19. Jahrhunderts darstellt).136 Zum Vorläufer der avantgardistischen Sprachvertonungen nach 1945 wird Debussys Stück auf 133 134
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Vgl. ausführlich Werner Wolf, The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam 1999, S. 129ff. Vgl. dazu Sylvie Perceau, »La ›Pharmacie‹ d’Homère dans l’Odyssée: les Sirènes et l’ambivalence du chant poétique«, in: Hélène Vial (Hg.), Les Sirènes ou le Savoir périlleux. D’Homère au XXIe siècle, Rennes 2014, S. 32: »L’autre élément retenu par Ulysse, c’est l’aspect sonore mais inarticulé d’une voix dont les paroles se seraient perdues, un phthongos, c’est-à-dire un son qui ne serait pas de l’ordre du logos articulé ou des paroles chantées, son de musique, chant des oiseaux ou cri«. Vgl. Lawrence Kramer, »›Longindyingcall‹ Of Music, Modernity, and the Sirens«, in: Linda Phyllis Austern/Inna Naroditskaya (Hg.), Music of the Sirens, Bloomington 2006, S. 197: »Fixed in his seat at the concert hall, the listener becomes the modern form of Odysseus tied to his mast, for whom the enchainment of the body makes possible the enchantment of the mind«. Vgl. Arnfried Edler, Studien zur Auffassung antiker Musikmythen im 19. Jahrhundert, Kassel 1970, S. 184, der dieses Gestaltungsmittel schon in Aubers Oper La Sirène und für die Auseinandersetzung mit dem Sirenenmythos durch Georges Kastner nachweisen kann.
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diesem Weg also höchstens durch eine darin unterstellte Aufhebung des Gegensatzes von Vokal- und Instrumentalmusik.137 Der zweite Weg würde auf die diastematisch ungewohnte Melodiebildung verweisen, welche die Vokalisen einer instrumental-atomistischen Strukturlogik zu unterwerfen scheint. Entscheidend für diese Deutung wäre der Widerspruch zwischen der chromatisch verengten Motivführung und dem Stilmittel der Vokalkoloratur, das doch umgekehrt nach einem geweiteten Ambitus, ornamentalen Auszierungen und virtuosen Melismen verlangt.138 Diese Besonderheit scheint dennoch nicht auszureichen, das Stück in den Kontext von Varèse zu stellen, und aus dem Kontext der spätromantischen Stilmittel von Glière ganz herauszunehmen (doch genau das wird immer wieder versucht).139 Das macht Debussys Sirènes (1900) gleichsam zu Damen ohne Unterleib, deren »reine« Klanglichkeit nicht dadurch erzeugt wird, dass die rhythmischen Extremwerte verwendet werden, sondern indem man in der Rezeption des Stücks die instrumentale untere Partiturhälfte aus der Beurteilung einfach wegschneidet. Eine kritische Gegenstimme verweist auf die von Debussy verletzte Begrenzung auf genau zwei Sirenenstimmen;140 der Chorsatz entspricht eher jenen bildungsbürgerlichen Umsetzungen des 19. Jahrhunderts, in denen die große Besetzung nicht die Idee des reinen Klangs, sondern das Modell der um eine Mitte zentrierten Raumanordung für die Sirenendarstellungen heranzieht (eklatant ist dies in Max Bruchs Oratorium Odysseus, wo diese formale Mitte nicht etwa durch Odysseus am Mast, sondern durch die Männerchorstimmen der Ruderer angezeigt wird).141 Eine Vertonung des Sirenengesangs verlangt also eine Musik der Extreme in irgendeiner Form, wenn man die Musik – wie es am berühmtesten die Musikphilosophie von Vladimir Jankélévitch mit dem Schlagwort »Orpheus oder die Sirenen« tut – als eine
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Vgl. Hans Rudolf Zeller, »Von den Sirenen zu ›…La sérénade interrompue‹«, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Musik Konzepte 1/2 Claude Debussy, München 1977, S. 106: »Der anderen ›Versuchung‹ der Sirènes Debussys: Aufhebung der Dichotomie von Instrumental- und Vokalmusik, wurde erst […] im Stadium der Tonbandmusik nachgegeben […]«. Ein Stück, das diese »Versuchung« umsetzt, wäre zum Beispiel Hans Zenders Les Sirènes chantent quand la raison s’endort (1966). 138 Vgl. Albrecht Riethmüller, »Zum vokalen Prinzip in der Musikgeschichte«, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.), Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen 2004, S. 22f. 139 Vgl. zur Bezugnahme auf Varèse Dieter Schnebel, »Sirènes oder der Versuch einer sinnlichen Musik. Zu Debussys frühen Orchesterwerken«, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Musik Konzepte 1/2 Claude Debussy, München 1977, S. 71ff. (der eher die atomistisch-diastematische Position durch den Verweis auf die naturtönigen Septimen- und Nonenklänge vertritt). Eine einseitig modernistische Lesart der Vokalisen findet sich bei Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986, S. 92, dessen Beschreibung als »Summen« auf einen phonografischen Aufzeichnungseffekt verweisen dürfte. 140 Vgl. Ulrich Holbein, Der belauschte Lärm, Frankfurt a.M. 1991, S. 144. 141 Vgl. Julian Caskel, »Die Macht der Musik und die Macht des Musiklebens. Der Sirenengesang in Max Bruchs Odysseus«, in: Fabian Kolb (Hg.), Max Bruch. Neue Perspektiven auf Leben und Werk, Kassel 2016, S. 79-105.
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ethische Kunstform bestimmt, von deren eigener stabiler Mitte die pathologischen Sirenenklänge sich entfernen.142 Das Bestimmungsmerkmal, das im Blick auf diese Forderung einen »authentischen« gegenüber einem allzu stark »angepassten« Sirenenklang bestimmen könnte, ist aber eben jenes mehrfach schon erwähnte Detail, dass es genau zwei Sirenen sein sollen, die den Gesang bestreiten. Die Zweizahl der Sirenen wird immer wieder zum wesentlichen Agens von kulturwissenschaftlichen Aktualisierungen der mythologischen Versuchsanordnung. Und auch dieser Aspekt verbindet Antike und Neuzeit, denn die Experimente bei Hermann von Helmholtz beruhten auf der Verwendung einer Doppelsirene: Die Schwingungsfrequenz einer einzelnen rotierenden Scheibe kann nicht so exakt kontrolliert werden wie die Relation der Lochanzahl zweier Scheiben, die von derselben Mechanik angetrieben werden.143 Das verweist darauf, dass in der Zweizahl die Möglichkeit eines Denkens in Relationen und Rastern enthalten ist, das im Blick auf die zwei rhythmischen Extremwerte, welche nie für sich isoliert, sondern immer nur in ihrer Interaktion einen rhythmischen Eindruck erzeugen können, die Möglichkeit aufscheinen lässt, die Zweizahl an sich als dasjenige Element zu bestimmen, das die Sirenen und den Rhythmus miteinander verbindet. Und diese Zweizahl wäre das Resultat jener rationalen (also zweiten) Wissensform, die in der Sirenenepisode der älteren mythologischen Wissenseinheit abgerungen wird: »Indem Odysseus an der Insel der Sirenen vorbeifährt, scheidet sich eine Weise des Wissens von einer anderen.«144 In dieser Zweizahl der Wissensformen aber wäre dann die zweite Form sozusagen die Zweizahl als Form des Wissen (bzw. ein Wissen, das nicht mehr als ursprünglich, sondern als entfremdet, also entzweit zu bezeichnen wäre);145 diese mutwilligen Abstraktionen sind in keinem anderen Feld so leicht wieder auf konkrete Problemstellungen zurückzuführen wie demjenigen des Rhythmus: »Erst die Relation zwischen (mindestens) zwei zeitlichen Größen kann als rhythmisch bezeichnet werden, also erst, wenn eine proportional benennbare Beziehung besteht.«146 Die Utopie des reinen Klangs der Sirenen ist daher für alle postmodernen Verführungen und »digitale« Verwirklichungen anfällig: So geschieht es zu Beginn des Chorwerks Sirens (2009) von Mason Bates, das mit einer minimalistisch pulsierenden Einzelsilbe beginnt, die durch ihre echohafte Verdopplung metrisch verdichtet wird, wonach 142 Vgl. daher die genau umgekehrte Pointe bei Vladimir Jankélévitch, Music and the Ineffable, übs. von Carolyn Abbate, Princeton 2003, S. 3f.: »In fact, the musicians who permit the sirens of oblivion and the Rusalkas to sing – Debussy, for example, or Balakirev, or Rimsky-Korsakov – are actually letting us hear the voice of Orpheus, because real music humanizes and civilizes«. 143 Vgl. hierzu Caroline Welsh, »Die Sirene und das Klavier. Vom Mythos der Sphärenharmonie zur experimentellen Sinnesphysiologie«, in: Bernhard J. Dotzler/Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld 2008, S. 146. 144 Guzzoni 1992, »Ausgrenzung des Anderen«, S. 22. 145 Vgl. zu dieser weitergehenden Assoziation Wildgruber 2006, »Lautstromabteiler«, S. 174. Vgl. zudem Rudolf Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, Opladen 1993, S. 31f.: Die rationale Kalenderzeit entsteht, wenn im Zweistromland die Koordination differenter, also zweier Naturrhythmen zivilisatorisch erforderlich wird. 146 Steffen A. Schmidt, Die Aufwertung des Rhythmus in der Neuen Musik des frühen 20. Jahrhunderts, Egelsbach 2000, S. 1.
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die einzelnen Phrasen mit der vorsichtigen Andeutung eines diffus verschwimmenden Einzeltonklangs ausblenden.147 Definitionen der Minimal Music besitzen das wiederkehrende Problem, dass die beiden für diese Musik bestimmenden Grundformen der Repetition (durch rhythmische Patterns) und der Reduktion (durch gedehnte Einzelklänge) sich nicht leicht in einer einheitlichen Stilzuschreibung synthetisieren lassen.148 Vorhandene Definitionen greifen daher zum Mittel einer Bestimmung über entgegen gesetzte Extremwerte, wenn zu den zentralen Merkmalen sowohl der »steady beat« und der »absent beat« hinzugerechnet werden.149 Eine funktionale Definition anhand der rhythmischen Extremwerte, die im Gegensatz der beiden Spielarten erneut aufscheinen, könnte stattdessen einen anderen Aspekt betonen: Minimal Music verwendet die traditionellen Mittel eines musikalischen Hintergrundes als neuartigen musikalischen Vordergrund (Orgelpunkte und Pedaltöne gehören ebenso wie rhythmische Patterns in das »unterste« Partitursystem). Diese Definition bietet also den Vorteil, dass sie die beiden Hauptströmungen des Minimalismus in einer knappen Formel zusammenführen kann. In der Rezeption des Minimalismus lässt sich dabei eine modernistische Tendenz nachweisen, wenn die Reduktion als ästhetisches Verfahren bevorzugt wird und als weniger kommerziell bewertet wird, zumal in der Breitenwahrnehmung natürlich die Repetitionen das hegemoniale Bild für die Minimal Music bereitstellen.150 Der Minimalismus beruht aber durchaus auch auf der Interaktion oder direkten Konfrontation der beiden grundlegenden Techniken. Beispielhaft hierfür ist ein Stück, das einzig und allein die an- und abschwellenden Glissando-Klänge der mechanischen Sirenen als Melodieelement nutzt (mittels eines vorher aufgezeichneten Tapes). Michael Gordons Weather III (1997) steht vor der Herausforderung, für diesen im Wortsinn eintönigen Vordergrund einen neuen klanglichen Hintergrund zu konzipieren: Die Repetition der gedehnten Glissando-Symmetrien der Sirenen wird durch die Verdichtung und harmonische Weitung liegender Streicherklänge in eine »weniger unfreundliche«151
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Bates selbst sieht hierin eine Umdeutung des Sirenentopos unter Einbezug aller Wasserwesen: »Perhaps one thinks of lyrical, melodic music coming from sirens, but this cycle casts a wide net in exploring seduction music. For example, the hypnotic and pulsing can also entrance, and this is the music that floats across the ocean to Odysseus in the work’s beginning and end« (https://www. masonbates.com/listen-chamber-vocal/; 28.03.20). 148 Die Begriffe für diesen Dualismus sind entnommen Sabine Sanio, »Ein anderes Verständnis von Musik«, in: Sabine Sanio/Nina Möntmann/Christoph Metzger (Hg.), Minimalisms, Berlin 1998, S. 86. 149 Mark Alburger, Minimalism, multiculturalism, and the quest for legitimacy, Diss., Claremont 1996, S. 3. 150 Vgl. zum ersten Aspekt als Vorrang auch der analogen Qualität einer »variablen klanglichen Dichte« im Einzelton Peter Niklas Wilson, Reduktion. Zur Aktualität einer musikalischen Strategie, Mainz 2003, S. 41. Vgl. als sehr engagierte Gegenrede Robert Fink, Repeating Ourselves. American Minimal Music as Cultural Practice, Berkeley 2005, S. 20: »If we are interested in minimalism as a cultural practice, we will be drawn not to its purest, most uncompromising instances, but precisely to where minimalism is most ›famous‹, where the cultural practice is widest and most significant«. 151 »Weather Three is constructed from a recording of a siren blast. I harmonize the blast with the string orchestra, slowly transforming this dangerous and edgy warning into a friendlier and calmer sound« (http://michaelgordonmusic.com/music/weather; 28.03.20).
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Umgebung transformiert. Es wird die eine Klangvariante der Sirene (das Tonkontinuum) von der anderen Klangvariante der Sirene begleitet (dem gehaltenen Einzelton), wobei aber im Gegensatz zur Sirenenmechanik, bei der diese Komponenten strikt voneinander getrennt verbleiben, der Grundierungsklang der Streicher in sich zum geräuschnahen Klangteppich anwächst (der Anfangseffekt vieler Stücke über das Sujet der Mythossirenen wird zum Ende eines Solostücks der Fabriksirenen). Der Gegensatz von Repetition und Reduktion wird am radikalsten jedoch in den aphoristischen »Compositions« von La Monte Young ausgetragen, wobei der komplementäre Status der beiden Extremwerte zeitlich-klanglicher Gestaltung hier ganz direkt hervortritt. Neben der berühmten Composition 1960#7, die eine reine Quinte »to be held for a long time« ausgeführt hören möchte, ist vor allem der Gegensatz zweier weiterer Konzeptstücke erhellend: Die Komposition Arabic Numeral (Any Integer) to Henry Flint repräsentiert die Reinform der Repetition einer einzelnen Ereignispunktreihe, die nur extern durch eine gesetzte Gesamtzahl der auszuführenden Schläge begrenzt werden kann; dieses Konzept vertritt das Modell (X+1) – eine Titelvariante lautet denn auch X for Henry Flint –, wobei »X« die Gesamtzahl ist, die über den Weg des »+1«, also durch den simpelsten Algorithmus der Repetition erreicht werden muss. Die Composition 1960#10 dagegen besteht einzig aus der Anweisung »draw a straight line and follow it«; der »analoge« Extremwert einer einzelnen geraden Linie wird hier in typischer Weise visuell abgebildet und soll andererseits eine Vollständigkeit der Form besitzen, die keinen willkürlich gesetzten Abbruchpunkt mehr verlangt. Die Repetition ist hier nun das externe Element, indem dieser Vorgang nach La Monte Young mehrfach vollzogen werden soll, sodass die Linie beim Übermalen zunehmend dicker und ungenauer wird.152 Diese Anweisung repräsentiert ebenso idealtypisch das Modell (1-X), bei dem die Rhythmisierung durch die allmähliche Ausstreichung der für sich rhythmuslosen Ausgangsgestalt entsteht. Das akustisch-triviale Modell der mehrfachen Repetition und das visuell-utopische Modell der Einzeltondehnung markieren Grundbedingungen einer intermedialen Rhythmusgestaltung weit über diese beiden spezifischen Beispiele hinaus. Einzeltondehnung und Tonpattern sind dabei in ihrer Negation eines sinnfälligen Ereigniswechsels miteinander verbunden, die jedoch einmal als Ausschaltung auch des Rhythmus, einmal als Einschaltung nur von Rhythmus vollzogen wird. Eine Konfrontation der »analogen« Sirenenklänge mit dieser »digitalen« Repetitionslogik findet sich in drei Werken von Steve Reich: In City Life (1995) werden realistische Feuerwehrsirenen zum untergeordneten Bestandteil einer Klangcollage, deren latentes Gefühl der Bedrohung aber auf die veränderte Funktion eines Alarm- statt eines neutralen Zeitsignals der Sirene verweist. Zwei zentrale Werke der 1980er-Jahre verwenden ebenfalls diese »apokalyptische« Konnotation des Glissandoklangs: In The Desert Music (1983) werden die Glissandi stilisiert im orchestralen Streicherklang eingesetzt, in Different Trains (1988) verknüpft die Bandcollage das Sirenenheulen mit Textfragmenten von Holocaust-Überlebenden. 152
Vgl. Keith Potter, Four Musical Minimalists: La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich, Philip Glass, Cambridge 2000, S. 52f. Auch noch in anderen Varianten (Erstellen von 29 Versionen am selben Tag) bleibt Repetition ein Bestandteil der Reduktion.
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Die Theorie des Rhythmus
Im Fall von The Desert Music wirkt das Streicherglissando wie eine Fortentwicklung der Schlusspointe mithilfe der »Schockwirkung« der Sirenen, da der einmalige Effekt unerwartet und quer zur formlogischen Erwartung des groß angelegten Stücks auftritt: Basis der Gesamtform ist eine deutlich auf das Vorbild von Béla Bartók verweisende fünfteilige Bogenform. Der erste ironische Selbstkommentar in dieser Kreisform ist die vertonte Textbotschaft: »It is a principle of music to repeat the theme«. Diese Selbstaffirmation der Minimal Music ist zugleich die symmetrische Mittelachse der Gesamtform, die als einziges nicht wiederholt wird. Der stilisierte Sirenenklang verbindet sich hingegen mit einer Textbotschaft, deren zweimaliges Erklingen diese Textpassage über die Repetition einrahmt: »Man has survived hitherto because he was too ignorant to know how to realize his wishes. Now that he can realize them, he must either change them or perish.« Die kreisförmige Formstruktur scheint diese Forderung auf paradoxe Weise zu erfüllen: Die Glissando-Klänge der Streicher sind zwar eindeutig eine Warnung vor der falschen Wegbiegung, an deren Ende die Vernichtung steht. Als auffälliger Einmaleffekt, der aus der Kreisform heraussticht, markiert das in sich kreisende Glissando jedoch gerade die symmetrische Rückkehr zu den vorherigen Formstationen als mögliche Alternative zu der angedrohten Apokalypse. Wird die durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gewandelte Klangsymbolik der Sirenen in diesem Stück nur indirekt aufgerufen, so kommt sie in Different Trains in ungewöhnlich direkter Weise zur Anwendung. Der nostalgische Blick des ersten Satzes auf die urbanen Signale von schrillen Zugpfeifen153 wird im zweiten Satz transformiert durch die bedrohlich wirkende Kulisse eher diffuser, aber klangrealistischer Sirenenklänge; diese werden zum Bestandteil eines Texturhintergrunds, der jedoch zugleich durch die distinkten Glissandi eine beinahe somatische Infragestellung der im Vordergrund weiterlaufenden minimalistischen Patterns erzeugt. Die Sirenenklänge sind in signifikanter Weise das einzige »unsichtbare« Element der Partitur, da deren Einsatzpunkte auf dem mitlaufenden Tonband anders als im Fall der Zugpfeifen nicht mehr durch die ausnotierten Streichquartett-Stimmen gedoppelt werden. Dieser Unsichtbarkeit korrespondiert eine zunehmende Unüberhörbarkeit der Sirenen, wenn am Satzende zunächst die vokale Erzählung der Sprachsamples und zuletzt auch die Streichquartett-Patterns in einem dissonanten »stehenden« Akkord ausgeblendet werden, sodass als allerletzte weiter bestehende Klangschicht die wie in der Erinnerung verschwindenden Sirenen noch zu hören sind.154 Es verbleibt nach dem Verschwinden nur noch das letzte Mittel der Generalpause, wobei der emotionale Effekt dieses Moments nicht unterschätzt werden sollte: Die
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Vgl. zu dieser üblichen psychologischen Deutung Naomi Cumming, »The Horrors of Identification: Reich’s Different Trains«, in: Perspectives of New Music 35/1 (1997), S. 138 (wobei explizit von »train sirens« im ersten Satz gesprochen wird). Vgl. dazu Frieder von Ammon, »Züge des Lebens, Züge des Todes. Die Darstellung des Holocaust in Steve Reichs Komposition Different Trains«, in: Matías Martínez (Hg.), Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld 2004, S. 50: »Die Ereignisse werden nicht dargestellt, sondern erinnert. Überspitzt formuliert: Different Trains vermittelt nicht den Holocaust, sondern die Erinnerung daran«.
2 Sirenen: Krisen der rhythmischen Praxis
Minimal Music gibt hier in gewisser Weise ihr innerstes Zentrum preis, um auf eine nicht überschreitbare Grenze der Darstellung zu verweisen. Der »digitale« und der »analoge« rhythmische Extremwert verlöschen gleichermaßen in einem Hintergrund klangbefreiter wie klangbezogener Stille.155 In diesem Sinne ist jede Rhythmustheorie eine Art der Hintergrund-Berichterstattung, die zu beschreiben hat, auf welchen Wegen der Rhythmus sich immer nur zwischen den klanglichen Extremwerten verwirklichen lässt. Das metrische Element des Rhythmus ist dabei einerseits der künstlich bestimmte Mittelwert, der künstlerisch den Blick auf den Klang immer nur verstellen kann; andererseits zeigt gerade eine Darstellung anhand der Extremwerte, wie sie am stärksten in Adornos Philosophie der neuen Musik eingefordert wird,156 dass auch in »rhythmuslosen« Abfolgen nicht nur modernistische, sondern stets auch metrische Restwerte angesiedelt bleiben. Dies gilt selbst für den »ultimativen« Extremwert der Stille, da ein bereits etabliertes Metrum in Form von »silent beats« auch noch in Pausen- und Schockmomenten des verweigerten Klangs fortgesetzt werden kann (der »analoge« Extremwert eines gedehnten Einzelklangs dient nicht nur in Different Trains dazu, diese »digitale« Einsatzlogik zu durchkreuzen).157 Zusammengefasst ergibt sich somit ein erstes Zwischenresultat: Das Rhythmische ist durch eine Strukturformel gekennzeichnet, die zwar stets von zwei gegensätzlichen Werten her bestimmt werden muss, aber zugleich um deren Extremwerte beschnitten wird. Dies ergibt als rhetorische Signatur eine Formulierung, bei der Rhythmus sich als minimale Restpräsenz von »-X« in der axiomatisch gesetzten Zustandsform »X« beschreiben lässt. Dies liest sich wie eine Aufforderung zu einer dialektisch konzipierten Theorie des Rhythmischen. Deren erster Schritt aber wäre der Nachweis, dass gerade die dialektischen Denkschulen sich hierfür als nur wenig geeignete Basis herausstellen.
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Eine Deutung dieser Generalpause als Grenzfall eines musikalischen Stils gibt Hans-Christian Dadelsen, »Diesseits und jenseits von Raum und Zeit: Steve Reichs ›Different Trains‹«, in: Wolfgang Gratzer (Hg.), Nähe und Distanz. Nachgedachte Musik der Gegenwart, Bd. I, Hofheim 1996, S. 243. Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, S. 13. Vgl. Justin London, »Loud Rests and other Strange Metric Phenomena (or, Meter as Heard)«, in: Music Theory Online 0/2 (1993).
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3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
3.1
Die Tradition der Dialektik
3.1.1
Aporien der Metrumkritik
Die Relation von Rhythmus und Metrum ist eines der einfachsten Beispiele für ein beliebtes philosophisches Argument: Dieses stellt die Frage, ob sich bei zwei gegebenen gegensätzlichen Entitäten (a) und (b) die Relation zwischen diesen beiden Entitäten aus den Eigenschaften eher von (a) oder eher von (b) bestimmen lässt. Diese Relationsprüfung dient zumeist dem Nachweis, dass sich in dem Paar die Bestimmung einer dominanten (unmarkierten, uneingeschränkten) und einer rezessiven (markierten, eingeschränkten) Entität umkehren lässt. Glücklicherweise sind Rhythmus und Metrum hierfür tatsächlich ein ganz einfaches Beispiel: Der Rhythmus ist vital und erzeugt keine rationale Vorrasterung der phänomenalen Ereignisse, das Metrum ist artifiziell und erzeugt umgekehrt eine solche rationale Vorrasterung. Also bleibt das Metrum als der eingeschränkte, engere Begriff vom Rhythmus abhängig: Es gibt Rhythmus ohne Metrum, aber kein Metrum ohne Rhythmus. Die dualistische Trennung von Rhythmus und Metrum aber erzeugt ihre eigene Form einer rationalen Vorrasterung, durch die komplementär der Rhythmus in seiner Bestimmung vom Metrum teilweise abhängig verbleiben wird. Dies ist zunächst ein strategisches Problem: Wenn ein Autor eine Trennung des Rhythmischen vom Metrum einfordert, dann kann als Paradox hervortreten, dass eben diese Getrenntheit der Elemente (statt eines fließenden Übergangs) in sich metrisch konnotiert ist. Insbesondere gilt dies für die zentrale »esoterische« Rhythmustheorie von Ludwig Klages: Das Bewusstsein um solche logische Fallstricke hebt dessen Schrift zum Wesen des Rhythmus trotz ihrer »geistfeindlichen« Rhetorik aus dem Umkreis der vielen modischen Rhythmustraktate deutlich heraus. Tatsächlich gibt es nur zwei sinnvolle Möglichkeiten, das Argument der Relationsprüfung zu entkräften: Erstens eine Relativierung, bei der ein Restwert des Metrischen anerkannt werden muss; zweitens eine Radikalisierung, in deren Folge Rhythmus rein
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Die Theorie des Rhythmus
irrational bestimmt wird. Klages wählt den ersten Weg,1 versucht jedoch, diese Entscheidung zu verbergen: »Die den Namen des Taktes tragende Regelerscheinung muß mit irgendeinem Charakterzuge am Rhythmus beteiligt sein und dergestalt, so gewiß sie vom Eingriff des Geistes ins Leben spricht, zugleich die Knüpfungsstelle der feindlichen Mächte bedeuten.«2 Der Miteinfluss des Metrischen muss in die Definition des Rhythmus als »polarisierte Stetigkeit« so eingebracht werden, dass der Vorrang des Rhythmischen möglichst unangetastet bleibt. Dabei aber macht es einen argumentativen Unterschied, ob der Rhythmus mit der Haupteigenschaft der Stetigkeit bestimmt wird, zu der als spezifische Differenz noch das Merkmal der Polarität hinzutritt, oder ob der Rhythmus mit der Haupteigenschaft der Polarität bestimmt wird, zu der dann noch das Merkmal der Stetigkeit hinzutritt. Nur in der erstgenannten Annahme ist eine strikte Abgrenzung vom Metrum garantiert, insofern die Eigenschaft der Stetigkeit dem Metrischen unverfügbar bleibt, wohingegen die Eigenschaft der Polarität dem Metrum nicht vollständig vorenthalten werden kann. Hierfür wählt Klages die Strategie, dass er zunächst sämtliche Negativmerkmale des Taktes aufzählt, bevor er mit dem Eingeständnis schließt: »Vom Leben im Zweitakt spricht dagegen sein pulsendes Auf und Ab.«3 Klages ist also gezwungen, die für seine Argumentation ungünstigeren Positionen einzunehmen: Eine vollständige Trennung mithilfe des Merkmals der vorhandenen oder fehlenden Stetigkeit erzeugt eine eigene Polarität zwischen Metrum und Rhythmus; eine unvollständige Trennung mithilfe des Merkmals der stärker oder schwächer vorhandenen Polarität dagegen erzeugt einen stetigen Übergang auch zwischen Metrum und Rhythmus. Dieses Problem verbirgt Klages im Aufbau seiner Schrift: Die anfängliche Behauptung, dass die Stetigkeit die hauptsächliche Eigenschaft des Rhythmus sei, mündet in eine schlussendliche Bekräftigung, dass die Polarität die hauptsächliche Eigenschaft des Rhythmus ist.4 Noch deutlicher wird dieser Konflikt, wenn Klages Theorie von seinen Anhängern referiert wird: Der Austausch der jeweiligen Haupteigenschaft, zunächst die Stetigkeit, um die Trennung vom Takt zu garantieren, dann die Polarität, die einzig geeignet ist, den Rhythmus mit universaler Bedeutung aufzuladen, tritt teilweise eklatant zutage. Eine erste Aussage etabliert die Stetigkeit als Hauptmerkmal: »Sind Dinge, wie wir gehört haben, begrenzt, so gehört es zum Wesen des Rhythmus, alle Grenzen zu lösen, insofern er sich als stetiges Fließen darstellt.« Die zweite Aussage unterschiebt die Polarität als das eigentliche Hauptmerkmal: »Rhythmus kann daher auch als polarisierte 1
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Genau dies kritisiert Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014, S. 194: »Nicht anders als der größte Teil der musiktheoretischen Auseinandersetzung mit Takt und Rhythmus begreift Klages beide als tatsächlich vorliegende und klar voneinander unterscheidbare Instanzen; nur so kann er sie in sein lebensphilosophisches Programm einbauen«. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 48. Ebda., S. 55. Ebda., S. 16: »Sollte der Rhythmus nicht dennoch etwas Gegliedertes sein, und gäbe es eine Art der Gliederung, die sich vertrüge mit Stetigkeit?«.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Stetigkeit oder schlechthin als Polarität bezeichnet werden.« Die dritte Aussage versteht den Rhythmus in einer Weise, die nur mit diesem Hauptmerkmal plausibel bleibt: »Der Rhythmus oder, wie wir auch sagen können, die Polarität beherrscht sämtliche Organismen, aber ebenso die außerorganismische Welt.«5 Klages Definition des Rhythmus als polarisierte Stetigkeit lässt sich demnach beständig kontern durch eine Definition des Taktprinzips als Ablaufform verstetigter Polarität.6 Der Begriff der Polarität verweist zudem neuerlich auf das Problem der Relationsprüfung: Es tritt in besonders klarer Form in dem Konflikt zwischen philosophischen Systementwürfen hervor, die entweder einen – tendenziell darwinistisch und empirisch begründeten – Monismus oder einen – tendenziell »esoterisch« und reaktionär ausgelegten – Dualismus als Grundprinzip der Welt ausrufen.7 Der Monismus ist nun offenkundig monistisch, der Dualismus ist dualistisch, doch die Relation zwischen Monismus und Dualismus ist in sich dualistisch. Der Rhythmus aber verringert dieses Restproblem: Er kann als monistisches Weltprinzip gefasst werden, das von vornherein dualistisch konzipiert ist, da es aus einer Polarität entgegen gesetzter Kraftwirkungen abgeleitet wird. Ernst Barthels philosophisches Insistieren auf Spannung und Rhythmus formuliert diesen nahe liegenden Lösungsentwurf für die Relation von Dualismus und Monismus: »Der Weltgrund ist einer und nur einer, nämlich die universelle Polarstruktur.«8 Die früheste philosophische Tradition, die für diese Polaritätenlehre neue Bedeutung gewinnt, sind die Fragmente Heraklits, dessen Denken in Gegensätzen im Begriff des Rhythmus auf ein monistisches Prinzip zurückgeführt werden kann.9 In diesem
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Vgl. alle Zitate bei Franz Tenigl, »Rhythmus und Kunst«, in: Hestia, Bd. 11 (1982/83), Bonn 1983, S. 24f. Vgl. die Kritik an Klages bei August Schmarsow, »Geist und Seele im Rhythmus? (Eine Palinodie)«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 27 (1933), S. 333: »Klages lehrt, nur der Takt sei Produkt des Geistes, also gerade die mechanische Seite des Vorgangs, die Regel. Doch ist nicht eben sie dann derjenige Bestandteil, der eine Wiederholung überhaupt erst ermöglicht, indem er uns bewußt wird und uns so veranlaßt ›das Gesetz in unsern Willen aufzunehmen‹?«. Vgl. zu diesem philosophischen Hintergrund der Lebensphilosophie auch Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 3 1975, S. 13. Ernst Barthel, Die Welt als Spannung und Rhythmus. Erkenntnistheorie, Ästhetik, Naturphilosophie, Ethik, Leipzig 1928, S. 100. Ähnliche Arbeiten beinhalten ähnliche Axiome, wie bei Walter Hueck, Die Welt als Polarität und Rhythmus, München 1928, S. 124: »Die Polarität von Objekt und Subjekt bildet die Basis aller Rationalisierung und ist darum selbst irrationaler Natur«. Vgl. zusätzlich die Kosmologie von Hanns Fischer, Rhythmus des kosmischen Lebens. Das Buch vom Pulsschlag der Welt, Leipzig 1925, S. 137: »In der Welteislehre zeigt sich nun deutlich, was monistische Betrachtungsweise bedeutet, ohne monistische Weltanschauung zu sein. Was aber ist einheitlicher als ein Kreislauf? Hier ist eines vom anderen abhängig, hier bedingt das eine das andere«. Ebenso Thomas Ring, Das Lebewesen im Rhythmus des Weltraums, Stuttgart 1939, S. 244: »Freiheit besteht in immerwährender Gegensatzführung zum Zwangslauf«. Vgl. etwa das Vorwort der in jeder Hinsicht (bis zur Referenz auf Goethe im Titel) der Gedankenwelt der »esoterischen« Rhythmustheorie zugehörigen Ausgabe von Fritz Herrmann, Heraklit. Über das All. Eine neue Übertragung und Herausgabe der Fragmente unter besonderer Berücksichtigung der Goetheschen Gedankenwelt, Berlin 1929, S. 13: »[Heraklit…] sah dieses Auf und Ab, dieses Anziehen und Abstoßen als das Gesetz der Lebenserhaltung an, und in dem steten Hin und Her stets zweier Kräfte fand er das von uns so genannte Gesetz der Polarität«.
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Die Theorie des Rhythmus
Kontext wird der Rhythmus jedoch merkwürdig statisch aufgefasst: Er zielt nicht auf das Fließende, sondern wird in den Polaritätsphilosophien zu einer Form der Bewegung, die in der immerzu gleichen Ausgangsspannung selbst logisch unbeweglich verbleibt. Die Rhythmus-Metrum-Dichotomie beinhaltet in dieser Perspektive keineswegs nur die rigide Ablehnung einer mechanischen Lebenszerstörung, sondern impliziert in vielen Fällen auch eine verblüffend »moderne« Antizipation der aktuell vertretenen psychologischen Metrumauffassung. Deutlicher noch als bei Klages wird dies bei Albert Verwey, einem mit dem KlagesUmkreis verbundenen holländischen Dichter, der für die Bedeutungsaufladung dieser Dichotomie die wohl ultimativ mögliche Zuspitzung formuliert hat: »Metrum ist nichts, Rhythmus ist alles.«10 Diesen Satz sollte man aber nicht als moralisches Werturteil lesen, denn gemeint ist eher eine phänomenologische Ortsbestimmung: »Rhythmen sind Wirklichkeiten, Metra sind Schemata.«11 Verweys Schrift mündet in eine beinahe »klassizistische« Anerkennung eines metrischen Normrahmens. Die spätere Rezeption dieser Theorietradition begeht also den Fehler, immer nur die erste Behauptung zu rezipieren (bzw. als dessen Kern zu zitieren). Der Gegensatz von reinem Schema und realer Präsenz ist erneut anfällig für das Argument der Relationsprüfung. Diese Prüfung ist ein formalisierter Vorgang, der auf einen beliebigen Inhalt angewendet werden kann, und enthält auf diese Weise in sich eine Repetition des Dualismus von Rhythmus und Metrum. Jede Form der Repetition aber gewichtet zugunsten des Schemas, indem eine Verschiebung weg von den inhaltlichen Bestimmungen und hin zu einer stärker formellen Bestimmung initiiert wird: Wiederholt man den Satz, dass das Metrum nichts ist, nur häufig genug, entsteht in ihm ein eigener Rhythmus. Das ist in berühmten Beispielen vorgeführt worden, wenn in einer anderen Versuchsanordnung der Odyssee auf dem paradoxen Aussagegehalt »Ich bin niemand« beharrt wird, oder auch im poetischen Reim des Raben »Nevermore« bei E. A. Poe. Die rhythmische Pädagogik des 20. Jahrhunderts beruht nicht zuletzt auf dieser Erkenntnis: »Sie sind frei. Wiederholen sie das ständig.«12 Repetition erzeugt und entzieht Sinn immerzu nur zugleich, indem Differenzen negiert werden, wenn der semantische Vordergrund sich zunehmend in den Hintergrund verschiebt, aber Differenzen neu entdeckt werden, wenn der syntaktische Hintergrund in den Vordergrund tritt. Es wird nicht nur in der Formalisierung der Relationsprüfung, sondern auch in jedem Vorgang der Repetition die Trennung von Rhythmus und Metrum neu verhandelt.
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Albert Verwey, Rhythmus und Metrum, übs. von Antoinette Eggink, Halle a. d. Saale 1934, S. 5. Ebda., S. 15. Ein überlieferter Leitspruch von Émile Jaques-Dalcroze (zit.n. Michael Kugler, Die Methode JaquesDalcroze und das Orff-Schulwerk ›Elementare Musikübung‹. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik, Frankfurt a.M. 2000, S. 111).
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
3.1.2
Aporien der Rhythmuskinetik
In Rhythmustheorien werden zwei spezifische Situationen der Relationsbestimmung relevant: Erstens Fälle, in denen sich die Relationsprüfung als nicht eindeutig erweist. Die Relation zwischen »analog« und »digital« zum Beispiel ist in der Theorie digital, aber in der Praxis analog (der ganz eindeutige Unterschied in der Produktion, ob ein Medium auf digitale oder analoge Speichertechniken zurückgreift, wird im ästhetischen bzw. empirischen Resultat des gehörten Klangs für den Rezipienten zu einem graduellen Unterschied).13 Dies ist ein weiterer Aspekt, warum der Gegensatz des »Analogen« und des »Digitalen« die Theoriepositionen bündeln kann, die mit dem Gegensatz von Geist und Seele (bzw. von Rhythmus und Takt) argumentieren.14 Zweitens sind Fälle interessant, aus denen ersichtlich wird, dass es in der Relationsprüfung prognostizierbare »Gewinner« gibt. Das Argument projiziert einen Vorgang abstrakter Reflexion auf ein Gegensatzpaar, weshalb eine rationale und reflexive Erkenntnisform zumeist ein irrationales Gegenprinzip in Frage stellen soll (wie es Carl Dahlhaus vorführt): »Dem Vorurteil aber, daß die Umwandlung unmittelbarer Eindrücke in reflektierte eine Verarmung und Auszehrung darstelle, wäre entgegenzuhalten, daß es selbst auf Reflexion beruht. Das Ursprüngliche weiß nichts von sich.«15 Die Dialektik ist demnach das philosophische Prinzip, das in der Relationsprüfung immerzu gewinnt: »Es gibt offenkundig einen Streit um die Dialektik, in dem zwei rivalisierende ›Schulen‹, Dialektiker (Antianalytiker) und Analytiker (Antidialektiker), miteinander im Kampf liegen. Und das scheint genau dem zu entsprechen, was in der dialektischen Position behauptet wird.«16 Diese Aussage ist einem Teilkapitel von Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft entnommen, der nun gerade den Rhythmus als das einzige Gegenmittel dieses durchgängigen Gewinnens der Dialektik ins Feld führt – wie es bereits der Titel des Kapitels ankündigt: »Metapolemik: Zur Grundlegung europäischer Dialektiken in Polemik und Rhythmik.« Polemik wäre also die negierende, zersetzende und rein formelle Seite der Dialektik, Rhythmik deren davon nicht betroffene, stärker formbildende und lebensweltlich konkrete Gegenseite. Diese lässt sich aber nur mithilfe einer Metapolemik und damit als 13
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Vgl. als weiteres Beispiel die Ununterscheidbarkeit zwischen abstrakten und bildhaften Schriftzeichen bei Harald Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt a.M. 1990, S. 52. Die Differenz gilt zudem im musikalischen Bereich zwischen »diskreten« Primärparametern wie Tonhöhe und Tondauer und »dichten« Sekundärparametern wie Lautstärke und Klangfarbe. Vgl. dazu Bob Snyder, Music and Memory. An Introduction, Cambridge, Mass. 2000, S. 195. Vgl. dazu Hendrik Blumentrath, »Musils Notizen. Rhythmus zwischen Formgebung und kinästhetischer Empfindung«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie 7/1 (2013), S. 123: »Für die Konzeptualisierung von Rhythmus ist es nicht unerheblich, dass nun neben diskrete Zeichenketten auch die Signalkurven analoger Medientechniken, neben abrupte Einschnitte allmählich steigende und fallende Kurven treten. Noch Klages’ grundlegende Unterscheidung von Rhythmus und Takt partizipiert an dieser Differenz«. Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Laaber 4 1986, S. 126. Peter Sloterdijk, »Metapolemik. Zur Grundlegung europäischer Dialektiken in Polemik und Rhythmik«, in: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1983, S. 673.
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Die Theorie des Rhythmus
Fortschreibung der formellen Seite überhaupt in ihr Recht setzen. Rhythmus erscheint daher zugleich als Absenz und als Essenz von Dialektik: Rhythmus ist das, was schon vorhanden sein muss, damit Dialektik nicht nur ein leerer Begriff ist, aber Dialektik ist das, was vorhanden sein muss, um aus dem Rhythmus ein philosophisch relevantes Lebensprinzip zu machen. Bei Sloterdijk wird daraus die Forderung, sich die Welt als rhythmisierte Instanz vorzustellen.17 Die Gefahr dieser Idee liegt offenkundig darin, dass in ihrer Formulierung jede Abgrenzung vom Inventar der »esoterischen« Rhythmuslehren aufgegeben werden muss: »Was sich Dialektik nennt, ist in Wahrheit eine Rhythmik oder Polaritätsphilosophie.«18 Diese Implikation, dass die neuzeitliche Dialektik sich in die überzeitliche Rhythmik aufzulösen hat, ist eine Invertierung der Philosophiegeschichte, wo die polaren Rhythmuslehren als späte Vereinfachungsform vorhandener Dialektiken auftreten. Das monistische Prinzip des Rhythmus soll dort anders als bei Sloterdijk den dualistischen Denkvorgang der Dialektik unnötig machen (die entsprechenden Texte der Polaritätsphilosophie sind argumentativ nicht wirklich komplex, sondern eher Predigten über einen immerzu gleichen Kerngedanken).19 Die Zurückweisung dieser Position erscheint relativ einfach wiederum mit einem Verweis auf die Dialektik möglich, wie es Manfred Frank prototypisch für den Irrationalismus von Ludwig Klages vorführt. Klages wird vorgeworfen, dass dessen gegen den Geist gerichtete Seelenkunde nicht »[…] ein Pol im dialektischen Grund-Verhältnis des Geistes oder des Bewußtseins ist, der sich dem anderen rhythmisch über- oder unterordnet, sondern eine geistlose Urgewalt, die den Ich-Pol mit einem emotionalen Schwall sozusagen wegekelt.«20 Zwei Probleme bestehen auch mit einer solchen Zurückweisung: Zum einen wird die Dialektik als Sicherheitsnetz gegen das »Dionysische« allzu offenkundig herangezogen; zum anderen ist es zwar elegant, den für die Auffassung von Klages zentralen Begriff des Rhythmischen gegen diesen selbst zu wenden, doch bleibt damit ebenso der Status des Rhythmischen als unhinterfragter Positivbegriff einer universalen Polarstruktur vorausgesetzt. Sloterdijks Modell erscheint darin subtiler, dass Rhythmus dort zugleich als Absenz der negierenden Formallogik und Essenz der weltfreundlicheren Seite der Dialektik bestimmt wird. Ein der Dialektik unverfügbarer Begriff kann gerade nicht außerhalb der Dialektik als logisch-formaler Operation gefunden werden, weil es das Prinzip der Dialektik ist, jedes erdenkliche Gegenteil in sein eigenes Gegenteilsdenken einzuverleiben. Ein solch unverfügbarer Begriff kann also nur einer sein, den die Dialektik sich nicht einverleiben kann, weil er in der Dialektik immer schon enthalten ist. Dies verweist 17 18
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Vgl. dazu Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch, Frankfurt a.M. 1987, S. 106. Sloterdijk 1983, »Metapolemik«, S. 689f. Sloterdijk selbst wird in seinem metaphysischen Hauptwerk Sphären folgerichtig vor allem »analoge« Welten der Kugelräume, Schäume und Blasen beschreiben. Vgl. für eine aktuelle Begründung der Polaritätenlehre Rüdiger Jacobs, Revolutionsidee und Staatskritik in Richard Wagners Schriften. Perspektiven metapolitischen Denkens, Würzburg 2010, S. 31. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a.M. 1982, S. 35.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
zurück auf Hegel, wo die Abhängigkeit der Dialektik von einem gegebenen Begriff der Rhythmik selbst in einem hermetischen Werk wie der Wissenschaft der Logik in einem einzelnen Satz kurz aufblitzen darf: »Es ist klar, daß keine Darstellungen für wissenschaftlich gelten können, welche nicht den Gang dieser Methode gehen und ihrem einfachen Rhythmus gemäß sind, denn es ist der Gang der Sache selbst.«21 Der Gang der Sache selbst ist also ein rhythmisches Gehen, von dem dann aber unklar sein muss, was für eine Sache nun wiederum dieser Rhythmus innerhalb der Dialektik ist. Adornos spätere Kritik einer Entleerung der Dialektik auf formale Vorgänge und sein Verweis auf materiale Vorbedingungen, die von der Dialektik unterschlagen werden, besitzen paradox beide den Rhythmus als mögliches Einsetzungsobjekt: »Birgt der idealistisch gewonnene Begriff der Dialektik nicht Erfahrungen, die, entgegen der Hegelschen Emphase, unabhängig sind von der idealistischen Apparatur, so bleibt der Philosophie eine Entsagung unausweichlich, die inhaltliche Einsicht sich verwehrt, sich auf die Methodik der Wissenschaften einschränkt, diese für Philosophie erklärt und sich virtuell durchstreicht.«22 Das Problem tritt auch in Definitionen der Dialektik weiter auf, wie sie Adorno etwa in seinen Hegel-Studien vorschlägt: »Der Widerspruch selber: der zwischen dem festgehaltenen und dem bewegten Begriff, wird zum Agens des Philosophierens.«23 Die Verortung des Rhythmischen kann entweder als Inhalt des beweglichen Begriffs, oder aber in dem formellen Widerspruchsvorgang zwischen den fixierten und den beweglichen Begriffen erfolgen. Als kurzer Exkurs zu Adornos negativer Dialektik wäre zu sagen, dass diese womöglich auch dadurch begründet wird, dass beide Präsenzformen des Rhythmus aus der Dialektik extrahiert werden sollen: sowohl der Rhythmus als Essenz der Dialektik, der deren formale Höherbewegung garantieren soll, wie der Rhythmus als Absenz der Dialektik, der deren materiale Rückbeziehung absichert. Das hängt sicher auch damit zusammen, welches »Rhythmusbewusstsein« in den Überlegungen abgebildet wird. Im Kontext eines Denkens, das von der Musikästhetik seinen philosophischen Ausgang nimmt, fällt es sofort viel stärker auf, wenn der eng musikbezogene Rhythmusbegriff (den Adorno äußerst skeptisch betrachtet) in ein kosmologisches Konzept der rhythmisierten Weltvorgänge transformiert werden muss. In dieser Hinsicht lässt sich Adorno sogar von Walter Benjamin abgrenzen, wo der Rhythmus erneut als jener Begriff auftritt, der schon vorausgesetzt sein muss, um eine Geschichte von der Genese der allerersten Begriffe erzählen zu können.24 Zumindest fällt das Wort genau dort, wo beschrieben wird, wie der biblische Schöpfergott seine eigenen Worte vom »Es werde Licht« bis zum »Er sah, dass es gut war« zu wählen hat: »In der Schöpfung des Menschen ist die dreifache Rhythmik der Naturschöpfung einer
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objektive Logik, Frankfurt a.M. 1986, S. 50. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 19. Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a.M. 1963, S. 67f. Vgl. hierzu auch Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1980, S. 34f.
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Die Theorie des Rhythmus
ganz anderen Ordnung gewichen. In ihr hat also die Sprache eine ganz andere Bedeutung.«25 Benjamin spielt hier mit einem Rhythmus der Repetition, der im biblischen Akt der Benennung der Dinge vorausgesetzt ist, aber für die Erschaffung des Menschen in bedeutsamer Weise durchbrochen wird. Der Schöpfergott wird der berühmten These Karl Büchers von der Genese der Kultur aus den Rhythmen der Arbeit unterstellt, wenn auch der anstrengende Vorgang der auf eine Woche datierten Welterschaffung durch eine Rhythmisierung spürbar erleichtert wird.26 Benjamin löst zugleich mit der Idee einer ursprünglichen Rhythmisiertheit der sprachlichen Tathandlungen die Problemvorgabe, wie Gott durch ein Schöpferwort die Zeit erschaffen kann, wenn das Aussprechen jedes Wortes doch selbst ein Vorgang in der Zeit ist.27 Jede »negative« Dialektik ist demgegenüber mit deren eigener Relationsprüfung konfrontiert: Die Antithese und die Synthese sind keineswegs symmetrisch gleich starke Parteien, sondern die durch die Synthese gesetzte Relation impliziert ihren eigenen Vorrang zuungunsten der kraftlosen, eher aus formaljuristischer Vollständigkeit aufgestellten Antithese.28 Sloterdijk fordert daher, dass die Dialektik ergebnislos bleiben muss und zu verstetigen ist, sodass anders als bei Adorno, der den Rhythmus hinausnimmt, nun der inhärente Rhythmus hervorgekehrt werden soll. Diese Forderung wird jedoch wieder zurückgeworfen auf die Frage, welcher Rhythmusbegriff in die Dialektik als deren Essenz und Absenz eingesetzt werden kann. Diese Problemstellung ist erneut schon bei Hegel erkennbar. In der Vorrede der Phänomenologie wird der Rhythmusbegriff explizit zwar nur auf wenigen Seiten zur Erläuterung herangezogen; dabei aber lassen sich gleich vier Konzepte des Rhythmischen unterscheiden, die mit nur wenig exegetischer Willkür den vier grundlegenden Theorieströmungen zugeordnet werden können. Im Zentrum steht ein einzelwissenschaftlicher Rhythmusbegriff, wie ihn Hegel aus der Poetik seiner eigenen Zeit ableiten konnte, und mit dessen Hilfe das Prinzip der Dialektik in einer berühmten Parallele als Beispiel fasslich gemacht werden soll: »Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt, und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Akzente stattfindet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider.«29
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Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916), in: Medienästhetische Schriften, Auswahl und Nachwort von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2002, S. 74. Vgl. Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013, S. 234f.: »Am Anfang war selbstredend das Wort. Das Wort war bei Gott und versuchte sieben Tage und Nächte lang, binäre Unterscheidungen, also Bits, einzuführen: Tag und Nacht, Himmel und Erde, Sonne und Mond, um von Gut und Böse gar nicht zu reden«. Vgl. zu diesem theologischen Problem Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a.M. 1989, S. 323. Vgl. Sloterdijk 1983, »Metapolemik«, S. 693: »Die Antithese entfaltet sich nicht zum Gegenpol, sondern bleibt ein bloßes ›Potential‹, eine erstickte und schlafende Negation«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 46.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Diese Bestimmung ist gegenüber dem üblichen Normmodell bereits subtil modifiziert, da nicht Rhythmus und Metrum, sondern Metrum und Gegenakzent als Ausgangssetzung gewählt sind: »Hegel nimmt den Akzent nicht als Resultante von Rhythmus und Takt, sondern lässt den Rhythmus aus dem Konflikt von Takt (= Metrum) und Akzent allererst hervorgehen.«30 Die entscheidende Verschiebung liegt darin, dass in dieser Definition der Rhythmus das dialektische Resultat symbolisiert zwischen einer metrischen Struktur, die eigene Akzente erzeugen wird, und Akzenten, die anderen Strukturen entspringen müssen.31 Dieses Bild vom Rhythmus als Synthese der »digitalen« Punktbestimmung des Subjekts (bzw. des Akzents) und der »analogen« Streckenwirkung des Prädikats (bzw. des Metrums) bleibt somit von den zeitbedingten Normierungen der beiden Ausgangsterme partiell abhängig. Die Idee von einem »immanenten Rhythmus der Begriffe«32 wird jedoch zusätzlich auch in eine stärker »esoterische« und in eine stärker »kritische« Variante überführt. Vor dem zitierten konkreten Beispiel wird der Rhythmusbegriff explizit mit Vorstellungen einer naturhaften Organik verbunden, welche weit von notwendigen Gegenakzenten wie Rasterungen entfernt eher ein Prinzip der ursprünglichen Rhythmisiertheit der Welt zu evozieren scheinen: »In dieser Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es, daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht; sie allein ist das Vernünftige und der Rhythmus des organischen Ganzen […]«33 Die Beschreibung der rhythmischen Bewegung im grammatikalischen Einzelsatz evoziert jedoch einen ganz anderen Rhythmusbegriff, mit dessen Hilfe ein Zersetzungsprozess der Satzstabilität zum Ausdruck gebracht ist: »Das Denken verliert daher so sehr seinen festen gegenständlichen Boden, den es am Subjekte hatte, als es im Prädikate darauf zurückgeworfen wird, und in diesem nicht in sich, sondern in das Subjekt des Inhalts zurückgeht.«34 Überspitzt gesagt ist Rhythmus sowohl das Prinzip der Stabilität der Welt wie der Labilität des einzelnen Satzes. Direkt bezogen auf das Beispiel der Synthese zwischen Metrum und Akzenten haben sich in dieser Labilität jedoch die Verhältnisse rein didaktisch bereits wieder umgekehrt. Rhythmus ist zunächst ein einzelnes Beispiel für ein allgemeines Prinzip, hier aber nun ist der Rhythmus des »Zerfließens« und »Zurückwerfens« der Begriffe selbst das allgemeine Prinzip, das ein einzelnes Beispiel erläutert. Diese beständige Oszillation zwischen den festen Begriffspolen, für die mit dem Satz »Gott ist das Sein« ein konkretes Beispiel zusätzlich zu dem metaphorischen Beispiel
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Helmut Müller-Sievers, »Fortsetzung. Zur Rolle des Takts bei der Entstehung des Realismus«, in: Balke/Siegert/Vogl 2011, Takt und Frequenz, S. 30. Diese »progressive« Bestimmung wird in Hegels Ästhetik dadurch eingeschränkt, dass der Taktbegriff bereits von der »rhythmisierenden« Reihe gleichförmiger Zeiteinteilungen repräsentiert wird, und somit das Gegenmoment der Akzente bereits von den verschiedenen »rhythmisierten« Taktarten (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt a.M. 1970, S. 166f.). Hegel 1988, Phänomenologie des Geistes, S. 44. Ebda., S. 42. Ebda., S. 47.
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von Rhythmus und Metrum angeboten wird, verweist die Dialektik anachronistisch auf die Denkweisen einer »kritischen« Rhythmustheorie. Der konkrete einzelwissenschaftliche Begriff beinhaltet also bereits eine Synthese von zwei Erscheinungsformen des Rhythmischen: Derjenigen einer »destruktiven« Rhythmik zur steten Zersetzung des stabilen Einzelsatzes, und derjenigen einer »konstruktiven« Rhythmik, in der sich ein Fortgang vom niedrigsten zum absoluten Wissen vollzieht. In jeder einzelnen Referenz auf den Rhythmus ist eine Entscheidung bereits vorgezeichnet, durch die der distinkte, aber auch metrisierte Ausgangsbegriff sich entweder durch seine »kritische« Infragestellung oder durch seine »esoterische« Überhöhung von dem einzelwissenschaftlichen Normalmodell ablösen lässt. Die vierte und letzte Referenz auf einen rhythmischen Vorgang in der Vorrede der Phänomenologie bezieht sich jedoch nicht mehr auf den Inhalt des Werks, sondern auf dessen Rezeption: »Der philosophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewöhnlichen Verhältnisses des Subjekts und Prädikats, und des gewöhnlichen Verhaltens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben zerstört sein philosophischer Inhalt; die Meinung erfährt, daß es anders gemeint ist, als sie meinte, und diese Korrektion seiner Meinung nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders zu fassen.«35 Die Polemik gegen den Vorwurf, dies alles sei ja schön und gut, aber leider so schwer verständlich, dass man es gleich mehrfach lesen müsse, verweist auf ihre eigene Form einer zugleich stärker in die Einzelteile der Akzente zersetzten und den Gesamtplan des Metrums durchschauenden Lektüre; damit aber wird die Repetition, welche der Leser vorzunehmen hat, zum Spiegel des Rhythmus, welchen er vorfinden kann. Die »empirische« Erfahrung beim Lesen der Phänomenologie ist also diejenige, dass der Rhythmus als Essenz der Dialektik sich nur durch die Absenz einer anderen Form der Rhythmisiertheit verwirklichen lässt. Es fehlt dem allzu schwer verständlichen Werk die Funktion des Rhythmus als Mnemotechnik, mit dessen Unterstützung man sich Dinge einfacher merken und leichter verstehen kann. Die externe Repetition eines mehrfachen Lesens ermöglicht es hingegen, aus den komplizierten Satzkonstruktionen immer wieder dieselbe Argumentationsstruktur zu exzerpieren.36 Eine bereits vorhandene Präsenz des Rhythmus kann man also gerade dort konstatieren, wo in Systementwürfen und Schöpfungsmythen ein voraussetzungsloser Anfang 35 36
Ebda. Vgl. Friedrich Kittler, »Musik als Medium«, in: Bernhard J. Dotzler/Ernst Müller (Hg.), Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 93: »Weil zum Beispiel eine philosophische Hermeneutik, ob bei Schopenhauer oder bei Hegel, von Lesern gar nicht zu erfassen wäre, würden sie Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV, I 8) oder die Phänomenologie des Geistes nicht mindestens zweimal durcharbeiten, gehören auch Da Capo und Repetitionszeichen, diese Ärgernisse Kants (KdU, B 218), notwendig zur Musik (WWV, I 368)«. Vgl. auch Adorno 1963, Drei Studien zu Hegel, S. 86: »Man muß, wie immer auch provisorisch, gegenwärtig haben, worauf Hegel jeweils hinaus will; ihn gleichsam von rückwärts aufhellen. Er verlangt objektiv, nicht bloß, um den Lesenden an die Sache zu gewöhnen, die mehrfache Lektüre«.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
gesetzt werden soll. Doch muss deswegen der Rhythmus nicht selbst dieser voraussetzungslose Anfang sein, wenn der spezifische Begriff wiederum von Allgemeinbegriffen wie Zeit und Bewegung abhängig zu bleiben scheint.
3.1.3
Aporien der Zeitkonstruktion
Welche einzelne positive Erstbestimmung kann logisch für den Rhythmus angegeben werden? Die wiederum drei Möglichkeiten, die hier als mögliche Antworten vorgeschlagen werden sollen, sind die Bedingung einer linearen Sukzession, das unbestimmte Ende dieser Sukzession, und die Möglichkeit einer Rückkehr zum Anfangselement der Sukzession. Diese drei Bedingungen lassen sich gleichstellen mit den Argumenten, die Hans Albert als Widerlegung einer philosophischen Letztbegründung unter dem Namen »Münchhausen-Trilemma« zusammengefasst hat.37 Man kann eine strukturelle Verwandtschaft von Rhythmusdefinitionen zu allen drei Stationen dieser Aporie unterstellen, zum infiniten Regress, zum willkürlichen Abbruch und zur Zirkelschlüssigkeit. Die Probleme der Metrumkritik zum Beispiel begründen einen infiniten Regress, wenn der Rhythmus vom Metrum abgegrenzt werden soll, aber gerade diese Abgrenzung die Kategorien des Metrischen auf der neu erzeugten Relationsebene bewahrt. Es muss ein willkürlicher Abbruch gesetzt werden, in Form eines Rhythmusbegriffs, der den Status eines »ersten« oder »ursprünglichen« Weltprinzips zugewiesen bekommt. Die infinite Fortsetzbarkeit und der willkürliche Abbruch sind offenkundig aber auch ästhetische Eigenschaften des Rhythmus. Und für die Zirkelschlüssigkeit ist dieser Prozess der Umdeutung eines erkenntnistheoretischen Problems in eine ästhetische Positivqualität besonders offenkundig. Susanne K. Langers oft zitierte Definition des Rhythmus als »the preparation of a new event by the ending of a previous one« ist hierfür ein bezeichnendes Beispiel.38 In ähnlicher Weise wie in der Definition des Rhythmus als »Unterwegs-Sein« von Bernhard Waldenfels wird das fehlende Ende statt des vorhandenen Anfangs zum zentralen Merkmal des Rhythmischen erhoben. Dieses Merkmal bindet den Rhythmus entweder an den Zirkelvorgang, dass das neue Ereignis als das erneut erscheinende vorhergehende Ereignis aufgefasst werden kann, oder aber der Versuch, den Rhythmus zum Generator neu eintretender Ereignisse zu idealisieren, erzeugt seinen eigenen infiniten Regress: Wenn aus dem Ende a das neue Ereignis b, aus dessen Ende das neue Ereignis c erzeugt wird, dann scheint ein Rhythmus eher in der formalen Repetition des Vorgangs als in der Erschaffung der einzelnen konkreten Ereignisse vorhanden zu sein. Eine ähnliche Bestimmung des Rhythmus anhand eines Kausalprinzips findet sich auch bei Gaston Bachelard: »C’est une cause qui sait reprendre après son effet. C’est un rythme.«39 Hier allerdings besteht eben jene Identität des neuen Anfangs, der aus ei-
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Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 13ff. Vgl. Susanne K. Langer, Feeling and Form. A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key, London 1953, S. 126f. Gaston Bachelard, La Dialectique de la Durée, Paris 1950, S. 76.
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Die Theorie des Rhythmus
nem Ende gewonnen wird, mit dem ersten Anfang, der dieses Ende als Wirkung erzeugt hat. All diese Definitionen aber setzen eine Reihe mit der Abfolge Anfang-Ende-AnfangEnde als Darstellungsmodell voraus, anstatt auch die Möglichkeit mitzubedenken, dass die rhythmische Wirkung der Endlosigkeit am einfachsten aus einer Reihe mit der Abfolge Anfang-Anfang-Anfang etc. abgeleitet werden könnte. Die in diesen Definitionen zugrunde gelegte Zirkelstruktur könnte man dabei in »dialektischer« Weise erneut durch drei Begriffe verallgemeinern. Diese drei Begriffe wären Zeit, Bewegung und Rhythmus, und der Weg des Zirkels würde lauten: Zeit setzt Bewegung voraus, Bewegung setzt Rhythmus voraus, Rhythmus setzt Zeit voraus. Der am wenigsten umstrittene Einzelschritt dürfte die Annahme sein, dass die Wahrnehmung der Zeit das Vorhandensein von Bewegung voraussetzt. Dieser Gedanke findet sich schon in der Zeittheorie von Aristoteles und dient vor allem »idealistischen« Zeitkonzepten als Beleg ihrer Argumentation, wobei auf diese Weise die Gegenannahme einer rein »chronometrischen« Zeitordnung widerlegt werden soll. Hinterfragen kann man diese Annahme hingegen mit einer Zeitdefinition, wie sie von Arthur Schopenhauer verwendet wird: »Daher kann man die Zeit auch definieren als die Möglichkeit entgegengesetzter Bestimmungen am selben Dinge.«40 Der Raum wäre nach dieser Definition also dasjenige Element, das einen Eindruck der Identität trotz eines Wechsels des Objekts in der Zeit erzeugt, die Zeit dasjenige Element, das einen Eindruck des Wechsels trotz einer Identität des Objekts im Raum erzeugt: »Der Raum macht es möglich, daß Objekte ihre Stellen verlassen. Die Zeit macht es notwendig, daß die Stellen ihre Objekte verlassen.«41 Zeit wäre demnach bestimmbar als jene Eigenschaft der Wahrnehmung, die noch in der Relation eines unbewegten Objekts zu einem unbewegten Beobachter eine Veränderung anzeigen kann. Die Bedingung, dass Zeit immer Bewegung voraussetzt, wäre daher um die subjektive Projektion dieser Bewegung in der Wahrnehmung zu ergänzen (und auf diese Weise weiterhin gültig).42 Die »subjektive« Zeit wird also umgekehrt zur »objektivierenden« Metrik bestimmt: Diese erfolgt als psychologische Projektion einer Punktstruktur in eine gegebene kontinuierliche Bewegung, die Zeitwahrnehmung dagegen als Projektion eben dieser kontinuierlichen Bewegung. Zu fragen wäre jedoch, ob gerade diese Form der Bewegung wiederum Rhythmus voraussetzt. In diesem Fall liegt anders als bei der Abhängigkeit der Zeit von der Bewegung keine notwendige Bedingung vor, denn es gibt in der Welt offenkundig auch unrhythmische Bewegungen. Man kann aber auf eine nun bis auf Platon zurückge-
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Arthur Schopenhauer, »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«, in: Werke in fünf Bänden: Kleinere Schriften, hg. von Ludger Lütkehaus, Frankfurt a.M. 2006, S. 41. Diese Definition ist dort allerdings mit der Bedingung des Ortswechsels von sich bewegenden Objekten verbunden. Luhmann 1998, Kunst der Gesellschaft, S. 181. Vgl. Wolfgang Achtner/Stefan Kunz/Thomas Walter, Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998, S. 88.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
hende Tradition verweisen, die den Rhythmus als eine spezifische (nämlich geordnete) Form der Bewegung definiert.43 Eine Abhängigkeit der Bewegung von der Bedingung des Rhythmus zielt auf die Frage, ob in den idealistischen Modellen einer dialektischen Denkbewegung (oder auch einer kosmischen Polarspannung) bereits diese rhythmisch geordnete Form der Bewegung vorausgesetzt sein muss. Der Ausschluss der chaotischen, willkürlichen oder unfassbaren Bewegungen wäre das konservative Restelement solcher Theorien.44 Ein Vorwurf gegen die Dialektik Hegels ist seit dem 19. Jahrhundert, dass die Verzeitlichung des Wissens ebenso wie die Zeit selbst Bewegung voraussetzen muss (nur dass die Dialektik anders als die Zeit mit dieser Bewegung direkt gleichgesetzt werden kann).45 Diese Gleichsetzung aber setzt einen Rhythmus in der Bewegung voraus, da nicht jede Bewegungsform den Anforderungen eines dialektischen Ablaufs entspricht.46 Der Zirkelschluss vollendet sich durch die Tatsache, dass zwar Bewegung als Bedingung der Zeit diese selbst nicht in sich voraussetzen muss, aber diese Annahme sich kaum auf den Rhythmus übertragen lässt. Die Annahme, dass der Rhythmus von der gegebenen Zeit als Bedingung abhängig ist, erscheint so selbstverständlich, dass sie eigentlich nirgends explizit bewiesen wird. Unter den Bedingungen der Zeitphilosophie, in welcher die Zeit selbst als Gegenstand erst noch bestimmt werden soll, ist diese Abhängigkeit jedoch nicht unbedingt einfach zu ermitteln. Eine Begründung könnte womöglich die Sukzession als einen Vorgang in der Zeit benennen, der unabhängig von der Bedingung der Bewegung erfolgt: Rhythmus ist eine Sukzession, in der ein zweites auf ein erstes Ereignis folgt, ohne dass eine Bewegung diese Ereignisse verbinden muss (für die Sukzession ist die »analoge« Dichte der Bewegung nicht zwingend notwendig, da weder ein Objekt vom einen zum anderen Ereignis sich bewegt, noch in der Vorstellung des Subjekts die Sukzession der Ereignisse durch eine Bewegung bedingt sein muss). Diese verräumlichte Bestimmung des Rhythmus kann aber auch nicht zu einer rein räumlichen Bestimmung als Symmetrie oder Simultanpräsenz der beiden Ereignisse umformuliert werden: In dieser räumlichen Situation verschwindet ohne eine subjektiv ergänzte Sukzession gerade der Eindruck des Rhythmischen. Auch dieses Zirkelmodell ist keineswegs eine abstrakte Spielerei, sondern eine Grundbedingung zum Verständnis der argumentativen Vorgehensweise innerhalb 43
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Vgl. für eine Aktualisierung dieser Definitionstradition Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, übs. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2003, S. 256: »Rhythmus ist Bewegung als Form, er ist mit der – jeder Art von Bewegung innewohnenden – Dimension der Zeitlichkeit versöhnte Form«. Vgl. hierzu auch schon Müller-Sievers 2011, »Rolle des Takts«, S. 31f.: »Denn Bewegung als solche, oder ihre physikalische Manifestation als absolut zielloses Zucken der Materie, gibt es in der Kinetik des 18. und 19. Jahrhunderts nicht«. Vgl. Andreas Luckner, Genealogie der Zeit. Zu Herkunft und Umfang eines Rätsels. Dargestellt an Hegels Phänomenologie des Geistes, Berlin 1994, S. 103. Vgl. die implizite Referenz auf diese Ordnungsvorgabe bei Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Hamburg 2010, S. 13: »So reich und vielgestaltig sie ihrem Inhalt nach ist, so untersteht sie doch ihrer Struktur nach einem einzigen und im gewissen Sinne einförmigen Gesetz – dem Gesetz der dialektischen Methode, das den sich gleichbleibenden Rhythmus in der Selbstbewegung des Begriffs darstellt«.
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Die Theorie des Rhythmus
der »esoterischen« bzw. der »kritischen« Rhythmustheorien. Diese versuchen, das Zirkelmodell zu umgehen, indem einzelne Elemente übersprungen werden und auf diese Weise anstelle von mehreren zirkulär verketteten Abhängigkeitsverhältnissen nur noch eine einzige logische Bedingung formuliert wird, aus der die jeweils angestrebte Letztbegründung des Rhythmischen abgeleitet werden kann. Die »esoterischen« Rhythmustheorien formulieren als Basis ihrer kosmischen Polaritätenlehre eine Zusatzbedingung, sodass nun die Wahrnehmung von Zeit von der Voraussetzung des Rhythmus abhängig ist (dies bindet die Zeit explizit an jene Bewegungen, die Rhythmus voraussetzen).47 Die idealistische Zeittheorie formuliert hingegen als Basis einer »kritischen« Rhythmustheorie die Zusatzbedingung, dass die Wahrnehmung des Rhythmus wie die Zeit von der Voraussetzung der Bewegung abhängig ist (sodass Rhythmus eher »analog« als »digital«, eher kinetisch als metrisch konzipiert werden kann).48 Das verbleibende Problem in dieser Annahme ist jedoch, dass ja auch für die Zeit weiterhin die Bedingung der Bewegung vorausgesetzt ist, und wenn es auch natürlich nicht unmöglich ist, dass eine Ursache für zwei klar verschiedene Wirkungen gesetzt werden kann, so scheint es doch intuitiv wahrscheinlicher, dass zwei verschiedene Untergruppen der Bewegung aufgerufen werden: Einmal irgendeine beliebige Bewegung zur Herstellung von temporaler Veränderung, einmal hingegen eine ganz bestimmte Bewegung zur Herstellung rhythmischer Ordnung: »Es gäbe keinen Rhythmus, wenn die Töne nicht endlich wären, wie auch umgekehrt die Bewegungsform sich notwendig in der Zeit und nur so manifestiert, daß die Form momentan und provisorisch ist.«49 Zusammengefasst zeigen sich hier die Aporien in allen Definitionen des Rhythmus, die diesen mit einem weiteren Begriff in eine Relation stellen. Dies gilt sowohl, wenn der Gegenbegriff dem Rhythmus untergeordnet wird (wie im Fall des Metrums, das in dieser Relation beständig eine Relativierung oder eine Radikalisierung des Gegensatzes verlangt), und es gilt ebenso, wenn der Gegenbegriff dem Rhythmus nahezu gleichgeordnet werden kann (wie im Fall der Dialektik, wo ein Konflikt zwischen einer formalen und einer materialen Deutung des Rhythmus hervortritt); es gilt schließlich auch, wenn der Gegenbegriff dem Rhythmus logisch vorgeordnet werden soll (wie im Fall der Zeit, die von der Bedingung des Rhythmus abhängig sein soll, oder der Bewegung, von der Rhythmus als Bedingung abhängig sein soll). Eine naheliegende Alternative ist es, den Rhythmus nicht als Prämisse, sondern als Resultat einer Relationsbestimmung zwischen zwei gegensätzlichen Begriffen aufzufassen.
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Vgl. am klarsten Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 282: »Es ist eine große optische Täuschung, wenn man glaubt, mit der Beseitigung aller Realrhythmen der Zeit würde die Zeit selbst nicht auch hinwegfallen«. Die Ausweitung dürfte auch für Klages gelten, der voraussetzt, dass die Natur »ein rhythmischer Sachverhalt sei« (Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 25). Vgl. dazu Andreas Luckner, »Zeit, Begriff und Rhythmus. Hegel, Heidegger und die elementarische Macht der Musik«, in: Richard Klein/Ekkehard Kiem/Wolfram Ette (Hg.), Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, S. 128: »Die Qualität, die wir wahrnehmen können, wenn wir eine Koordination von Bewegungen sinnlich erfassen, heißt nun Rhythmus«. Ebda., S. 129.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
3.2 3.2.1
Die Alternative der Differenzästhetik Schlagseiten der Interferenz
Rhythmus ist nicht ein einzelner Gegenstand, sondern eine spezifische Form der Relation zwischen mindestens zwei Gegenständen. Als diese Gegenstände können dabei auch relativ abstrakte bzw. allgemeine Kategorien eingesetzt werden: Kultur und Natur, Rationalität und Emotionalität, Produktion und Rezeption, Subjekt und Objekt usw. Die spezifische Qualität des Rhythmischen wird in diese Kategorienpaare in einer stabil immer gleichen Weise eingetragen: Der Rhythmus erzeugt eine Schnittmenge der sonst voneinander getrennten Kategorien, nimmt in Bezug auf diese also eine Zwischenstellung ein und wird dadurch selbst als Konzept attraktiv. Diese Verortung im Kontext opponierender Kategorien erzeugt eine Funktion des Rhythmus, die im Folgenden als »Interferenz der Antipoden« bezeichnet werden soll. Damit wird nicht der physikalische Interferenzbegriff aufgerufen, der eher ein genau entgegen gesetztes Phänomen beschreibt: Dort werden periodische Schwingungen gestört, weil sie zu eng beieinander liegen, im Fall rhythmischer Interferenzen hingegen entstehen sozusagen periodische Schwingungen zwischen Phänomenen, die sonst zu weit auseinander liegen, um sinnvoll zu interagieren.50 Eine Bedingung für diese Ausweitung des Begriffs ist, dass von Interferenzen durchaus in empirischen Forschungskontexten auch im Zusammenhang mit der Bedeutung der Übertragung oder Wechselwirkung gesprochen wird. Explizit kann der Rhythmus aber erst dort mit der Idee der Interferenz verbunden werden, wo keine empirischen Forschungskontexte vorliegen.51 Eine Formulierung von Hans Ulrich Gumbrecht erscheint in dieser Hinsicht grundlegend, der das »ästhetische Erleben als ein Oszillieren (und mitunter auch als Interferenz) zwischen ›Präsenzeffekten‹ und ›Sinneffekten‹«52 umschreibt.
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Vgl. für die chronologisch ältere Auffassung Flik 1936, Morphologie des Rhythmus, S. 15: »Gegenseitige Beeinflußung in der bekannten Interferenzerscheinung bewirkt Störung des rhythmischen Geschehens der betreffenden Wellenarten.« Für die Verschiebung des Begriffs zur Abbildung rhythmisch-periodischer Interaktionen scheint die folgende Kapitelüberschrift signifikant: »Zur Interferenz der Zeit-, Raum-, Kraft-, Form-Erscheinungen im Bewegungsablauf« (Peter Röthig, Rhythmus und Bewegung. Eine Analyse aus der Sicht der Leibeserziehung, Diss., Dresden 1966, S. 84). Ein Beispiel für diese Verschiebung findet sich bereits bei Hermann Keyserling, »Spannung und Rhythmus«, in: Der Leuchter, Bd. 4, Darmstadt 1923, S. 12: »Der umfassendere Spannungszustand kommt überall erst dort zustande, wo die Partialspannungen sich in der Interferenz harmonisiert haben.« Vgl. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2 2010, S. 57: »Wie bei jeder Entlehnung naturwissenschaftlicher Konzepte sind bei der Übertragung in den politisch-gesellschaftlichen Bereich Abstriche zu machen, trifft doch dort, wie sich zeigen wird, die Bestimmung nicht zu, daß bei Interferenzen keine Wechselwirkung der Einzelwellen festzustellen ist. Nützlich ist der Begriff jedoch insofern, als er signalisiert, daß es sich um die zeiträumliche Kopräsenz zweier verschiedener Bewegungen handelt, die durch ihr partielles Zusammenfallen nicht in ihrer Eigenständigkeit tangiert werden«. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übs. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2004, S. 18.
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Man erkennt in dem Zitat die eigene Interferenz im Begriff der Interferenz: Die Formulierung schwebt zwischen der älteren Bedeutung der unperiodischen Störungen und der zusätzlich angenommenen Bedeutung der rhythmisch vibrierenden Setzungen. Diese Restspannung findet sich fast immer, wenn die Begriffe Interferenz und Rhythmus in einem Satz verwendet werden.53 Die Bezeichnung des Rhythmus als »Interferenz der Antipoden« bezieht sich dagegen auch auf alle Aussagen, in denen eine rhetorische Vermittlungsfunktion des Rhythmus zwischen opponierenden Kategorien nur implizit von Bedeutung ist (und hierfür finden sich unzählige Beispiele): »However, the natural and the rational play only a limited role in the analysis of rhythms, which are simultaneously natural and rational, and neither one nor the other.«54 In den Definitionen des Rhythmus mithilfe der Bedingung der Interferenz wird also das zentrale Merkmal einer minimalen Präsenz von »X« in »-X« auf allgemeine kulturtheoretische Kategorien übertragen. Und es erscheint wenig übertrieben, in dieser Anwendung die wichtigste (und zugleich am wenigsten hinterfragte) Bedingung auch noch einer »kritischen« Rhythmustheorie zu erkennen. Ein Dualismus differenter Bestimmungen ist als Zusammenhang von Gattung und spezifischer Differenz allerdings Bestandteil jeder Definition. Die Bestimmung des Rhythmus als Interferenz zwischen sonst getrennten Bereichen bewahrt eine tautologische Nähe zum Bauprinzip jeder Definition, und dies ist wohl ein wesentlicher Grund, warum Rhythmus dafür anfällig ist, in alles hineingelesen zu werden.55 Daher ist eine Definition des Rhythmus aus dem Merkmal der »Interferenz der Antipoden« abhängig von einer (in sich rhythmisch wirkenden) doppelten Verschärfung dieses Dualismus: Die Interferenz muss die beiden Begriffe im Resultat der rhythmischen Interaktion näher zusammenführen, als dies für eine neutrale Definition notwendig wäre, die Prämisse antipodisch auseinandertretender Kategorien muss die beiden Begriffe hingegen weiter als üblich voneinander trennen. Das Prinzip einer »Interferenz der Antipoden« ist dabei in zwei Richtungen verallgemeinerbar: Erstens im Blick auf die Gegenstände abgesehen vom Rhythmus, die bei ihrer Definition ebenso dieser rhetorischen Strategie zugänglich scheinen. Hierzu zählen zum Beispiel die Konzepte der Gestalt und der Geste. Zweitens im Blick auf eine Liste der antipodischen Kategorien, die einem Gegenstand als Interferenzbeziehung zugeordnet werden können. Für den Rhythmus ist hier das Kategorienpaar von Natur (Körperlichkeit, Irrationalität, Produktion, Objekt) und Kultur (Geistigkeit, Rationalität, Rezeption, Subjekt) von zentraler Bedeutung.56 53
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Vgl. auch die Einleitung bei Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 13: »Die Biologie beispielsweise baut das Verständnis von Lebensvollzügen auf die Interferenz von unterschiedlichen, im Ansatz heteromorphen Rhythmen auf […]«. Lefebvre 2013,Rhythmanalysis, S. 19. Vgl. zur entsprechenden Rhetorik Friedrich Cornelius, Die Weltgeschichte und ihr Rhythmus, München 1925, S. 8: »Sowenig wie mechanisch läßt sich das Kulturleben biologisch erklären. Es ist ein Drittes, das unter seinen eigenen Gesetzen steht, und das nur eines mit dem organischen und dem mechanischen Weltgeschehen, wie auch mit aller echten Kunst gemeinsam hat: den allbindenden Rhythmus«. Vgl. als einflussreiche Diskussion dieser Rhythmusfaszination als »Schaltstelle, an der Natur in Kultur übergeht, aber auch Kultur auf Natur zurückverwiesen werden kann«, insbesondere Christi-
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Bestimmte Überschreitungen von üblichen Trennungen lassen sich für eine rhythmische Erfahrung schlichtweg nicht bestreiten: Auch in der empirisch-quantitativen Perspektive einer Befragung von Probanden, mit welchen Termini der Rhythmus am besten zu beschreiben ist, werden ganz selbstverständlich Merkmale des rezipierenden Subjekts wie des produzierenden (klanglichen) Objekts miteinander vermengt.57 Die Interferenzbestimmung des Rhythmus lässt sich daher bis in die Gegenwart in dessen ganz neutrale Definition selbstverständlich mit einbauen: »Rhythmus ist eine elementare kreatürliche Grunderfahrung und zugleich ein wesentliches Kulturphänomen.«58 Die vom Rhythmus symbolisch oder sinnlich verkörperte Grenze zwischen Natur und Kultur liegt aus Sicht einer modernen Ästhetik aber offenkundig näher an der Natur als an der Kultur: »Der Rhythmus, der als Artikulation der Bewegung alle Sinnessphären durchzieht, versetzt uns an eine von der Philosophie weithin vernachlässigte Schwelle der Sinnbildung, dorthin, wo in der Wiederkehr des Ungleichen als eines Gleichen Ordnungsmuster entstehen und zergehen. Wir stoßen hier gleichermaßen auf die Schwelle von Natur und Kultur, die wir […] nie verlassen haben und nie völlig verlassen werden.«59 Die Interferenz des Rhythmus zwischen Natur und Kultur impliziert also einmal, dass es in der Kultur eine Restpräsenz der Natur gibt, sie impliziert aber auch, dass Rhythmen dort verortet werden, wo eine Präsenz der Kultur in der Natur entsteht. Es ist nun wichtig zu erkennen, dass in solchen scheinbar symmetrischen Sinnbestimmungen dennoch stets eine logische Schlagseite unterstellt werden muss: In einer räumlichen Form kann man sich dies so vorstellen, dass in der imaginären Gesamtstrecke, die vom Pol der Natur zum Pol der Kultur verläuft, der Rhythmus in die erste Teilstrecke abzutragen wäre, welche näher am Pol der Natur als am Pol der Kultur ausgerichtet ist. Am eindeutigsten wird diese Schlagseite im Kategorienpaar von Zeit und Raum: Die Zeit ist dem Rhythmus eindeutig »näher« als der Raum. Daher muss Rhythmus, wird er vom Extrem einer reinen Zeit ohne jeden Raum her bestimmt, eine kürzere »Wegstrecke« durchlaufen, um im Sinne einer Interferenz wirksam zu werden. Es bedarf lediglich einer minimalen Verräumlichung der Zeit, um den Rhythmus sinnvoll in der Zeit zu definieren. Wird der Rhythmus hingegen vom Extrem eines reinen Raums ohne jede Zeit her bestimmt, muss dieser sozusagen die gesamte auf den Raum bezogene Hälfte der imaginären Wegstrecke zwischen den beiden Extremen durchschreiten, bis dieselbe Qualität einer rhythmischen Interferenz hervortritt. Es bedarf nun einer maximalen Verzeitlichung des Raums, um in einer sinnvollen Weise den Rhythmus definieren zu können.
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ne Lubkoll, »Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900«, in: Christine Lubkoll (Hg.), Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposium für Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 2002, S. 90. Vgl. Gino Stefani, »Rhythm: A Popular Perspective«, in: Maciej Jabłoński/Jan Stęszewski (Hg.), Interdisciplinary Studies in Musicology. Report from the Second Interdisciplinary Conference Poznán 1993, Poznán 1995, S. 131-146. Lubkoll 1999, »Rhythmus und Metrum«, S. 104. Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 13.
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Auf der Seite des »natürlichen« Pols erscheint demnach die Rede von einer maximalen Präsenz der Kultur in der Natur für den Rhythmus nicht sinnvoll, während auf der Seite des »kulturellen« Pols die Rede von einer maximalen Präsenz der Natur in der Kultur für den Rhythmus sinnvoll erscheinen kann. Tatsächlich gilt für diese erste Teilungsebene, dass Rhythmus sich rhetorisch einfacher in die Hälfte des irrationalen (bzw. körperlichen, naturhaften) Antipoden eingliedern lässt. Diese Schlagseite erscheint relativ stabil, da dem Rhythmus die zentrale Sinndimension der sprachlichen Semantik abgeht, während im Rhythmus unbestritten Phänomene der körperlichen Präsenz generiert werden. Die Differenz tritt hervor, wenn auch die Sprache in eine Interferenz-Bestimmung gestellt werden soll: Sprache besitzt eine Schlagseite hin zur Kultur auch schon in ihrer historisch ursprünglichen Funktion, Rhythmus eine Schlagseite hin zur Natur auch noch in dessen gegenwärtig ästhetischer Funktion.60 Diese Schlagseite hin zum Pol der »unverbildeten« Natur ermöglicht erst die offen politische Nutzbarmachung der Interferenz-Rhetorik insbesondere in der »esoterischen« Rhythmuslehre: »Das Kulturvolk steht in der Mitte zwischen dem Naturvolk und dem Volk der Zivilisation, welches ganz und gar dem Leben entfremdet, der Mechanisierung zugekehrt ist, oder – im Gegensatz dazu – in hysterischer Flucht zur Natur zurück sein Heil sucht.«61 Diese Aussage Rudolf Bodes ist von der Setzung antipodischer Kategorien, von deren Interferenz in der rhythmisch-künstlerischen Erfahrung, und schließlich auch noch von der Schlagseite in dieser Interferenz hin zum »ursprünglicheren« Pol abhängig: »Stilisierung allein ist überhaupt keine künstlerische Leistung, sondern die Vermählung des Künstlichen mit dem Natürlichen, des Geistigen mit dem Wirklichen, des Subjektiven mit dem Objektiven ist künstlerische Leistung. Aber primär ist das Natürliche, Wirkliche, Objektive.«62 Der Grundgedanke der rhythmischen Interferenz aber kann aus diesem ideologischen Kontext auch gänzlich herausgelöst und in die spätere »kritische« Rhythmustheorie übertragen werden. Dabei tritt in der Beschreibung körperlich-performativer Wissensformen eine Interferenz der produzierenden Akteure auf der Bühne und der rezipierenden Akteure im Publikum in den Vordergrund. Das Schunkeln, Klatschen und Stampfen zur Musik sind nur die einfachsten Belege dafür, wie der Rhythmus hier eine soziale Grenze problemlos überschreiten kann. Die Ästhetik des Performativen von Erika FischerLichte findet für diese Phänomene eines vorsichtigen Kontrollverlusts eine abstrakte Beschreibungssprache, die auf der Ebene der wissenschaftlichen Rezeption die analytische Kontrolle umso spürbarer bewahrt (sicher nicht zuletzt zur Abgrenzung vom Schunkeln und Stampfen): »Indem der Rhythmus die performative Hervorbringung von Materialität organisiert und strukturiert, läßt er also zugleich die performativ hervorgebrachte Materialität als Wirkungsfaktor in der Autopoiesis der feedback-Schleife in Erscheinung treten. Im 60 61 62
Vgl. Jürgen Trabant, Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt a.M. 1998, S. 21. Rudolf Bode, Aufgaben und Ziele der rhythmischen Gymnastik, München 3 1933, S. 28. Ebda., S. 38.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Rhythmus werden die performative Hervorbringung von Materialität und die Autopoiesis der feedback-Schleife für den Zuschauer wahrnehmbar aufeinander bezogen und füreinander produktiv gemacht.«63 Die Frage ist jedoch, inwieweit die Bestimmung des Rhythmus als Interferenzphänomen gerade deshalb in so viele verschiedene begriffliche wie wissenschaftliche Kontexte eingesetzt werden kann, weil damit immer dieselbe relativ einfache, vielleicht geradezu primitive, vermutlich aber auch metrisch gebundene Erfahrung aufgerufen wird. Dies würde den Rhythmus zunehmend in den Darstellungshorizont jener kulturwissenschaftlichen Kategorien des Rituals, des Mythos oder auch der Mimesis verweisen, die ebenfalls eine solche »irrationale Schlagseite« aufweisen.64 Man muss daher den infiniten Regress noch eine Ebene weiterführen: Es erscheint notwendig, innerhalb der Reihe der eher zum »irrationalen« Pol geneigten Phänomene nun dem Rhythmus wiederum im Abgleich etwa zur körperlichen Geste, zur mimetischen Angstreaktion oder zur rituellen Handlung die stärkste Restbedeutung auch des »rationalen« Gegenpols zuzusprechen. Evolutionspsychologisch muss zum Beispiel auffallen, dass Periodizität und Zyklusbildungen in der Natur objektiv sehr häufig vorkommen, während die rhythmische Koppelung an diese vorgegebenen Pulsationen (in empirischer Sprache das »Entrainment«) nur der menschlichen Rationalität zwar nicht exklusiv, aber doch in einzigartiger Variabilität zugänglich ist.65 Ein Argument für diesen rationalen Restwert des Rhythmus könnte zudem dessen Bindung an die relativ »digitalen« und »dominanten« Sinne des Menschen sein. Ein umstrittener Punkt an der Peripherie der Rhythmustheorien ist das ab und an aufgeworfene Problem, ob ein Rhythmus der Gerüche und Geschmäcker gänzlich auszuschließen ist oder als ein Grenzfall der rhythmischen Erfahrung zugestanden wird. Dieser Grenzfall wird dann zumeist als stark abgeschwächte Form der »subjektiven Rhythmisierung« konzipiert (und damit als Transfer aus einer an optischen, motorischen und akustischen Beispielreihen entwickelten empirischen Forschung).66 Wichtig ist nicht, ob man dieser Zurückweisung zustimmt oder auf rhetorische Gegenbeispiele wie die vorhandene Rede von »Duftwellen«67 verweist; wichtig ist vielmehr, dass hier nun umgekehrt eine rein sinnliche Materie nicht mehr der darin stärker ratio-
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Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 239. Vgl. zu diesen Gleichordnungen etwa Frank 1982, Der kommende Gott, S. 86: »Denn es gibt gewisse Rhythmen in der äußeren Natur und in der physiologischen Ausstattung des Menschen (WachenSchlafen, Tag-Nacht, Sommer-Winter, Systole-Diastole usw.), die unmittelbar umgesetzt werden können in rhythmische Aufführungen, feierliche Bewegungen oder Tänze, d.h. in geordnete und regelhafte rituelle Handlungen bis hin zum orgiastischen Taumel«. Vgl. dazu W. Tecumseh Fitch, »The biology and evolution of rhythm: unravelling a paradox«, in: Patrick Rebuschat/Martin Rohrmeier/John A. Hawkins/Ian Cross (Hg.), Language and Music as Cognitive Systems, Oxford 2012, S. 73. Vgl. Edward A. Sonnenschein, What is Rhythm?, Oxford 1925, S. 13f.: »Even the periodic application of smelling salts to the nose, or a pungent flavour to the tongue or pin-pricks to the skin might produce a rhythmical sequence«. Vgl. dazu Albrecht Langelüddeke, »Rhythmus und Takt bei Gesunden und Geisteskranken«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychologie, Bd. 113 (1928), S. 73.
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Die Theorie des Rhythmus
nalen Formlogik des Rhythmus in der gleichen selbstverständlichen Weise unterworfen werden kann. Ein Schritt zur Überwindung dieses infiniten Regresses, der den Rhythmus immer nur irgendwo im Niemandsland zwischen neuzeitlicher Rationalität und mythologischer Repetition verorten wird, muss also den Versuch unternehmen, aus der fehlenden Letztbestimmung der Interferenz gerade das eigene positive Bestimmungskriterium des Rhythmus zu gewinnen.
3.2.2
Schlaglichter der Interferenz
Eine Definition des Rhythmus als Interferenz der Antipoden impliziert, dass Rhythmus als Phänomen stabil erscheint, wo die den Rhythmus definierenden Begriffe zueinander es nicht sind. Rhythmus wird auf diese Weise zur idealen Projektionsfläche philosophischer Entwürfe, die Wissensformen jenseits der sprachlichen Repräsentation zu entwickeln versuchen. In Pascal Michons Theorie politisch-sozialer Phänomene wird zum Beispiel ein philosophischer Zugang eingefordert, der maßgeschneidert scheint, um den Rhythmus als Lösung präsentieren zu können: »Une approche, enfin, qui permette d’articuler les formes de micropouvoirs pénétrant les corps avec les formes macropolitiques étatiques et aujourd’hui impériales.«68 Das Konzept der Interferenz der Antipoden geht der expliziten Rede vom Rhythmus nicht nur in diesem Fall voraus, sondern kündigt dem kundigen Leser auch bei Jacques Garelli bereits an, mit welchem Begriff die aufgestellten Gräben später ausgefüllt werden sollen: »Pour répondre à cette question, les rapports manifestes et latents qui se nouent entre l’ordre proto-ontique et l’ordre individué, doivent être soigneusement évalués.«69 Diese anspruchsvollen Arbeiten einer aktuellen französischsprachigen Rhythmusontologie werden international jedoch kaum rezipiert, was umso auffälliger ist, weil umgekehrt die Referenzen auf den Rhythmus in den poststrukturalistischen Schriften von Gilles Deleuze (insbesondere in den zusammen mit Félix Guattari verfassten Tausend Plateaus) überaus häufig zitiert werden. Die zentrale Bedeutung der dort gegebenen Definition liegt darin, dass die beiden Autoren das Theorieziel einer Abgrenzung vom ästhetisch weniger interessanten Metrum mit dem innovativen Merkmal der Interferenz als Milieuwechsel direkt in Verbindung stellen: »Das Maß ist dogmatisch, aber der Rhythmus ist kritisch, er verknüpft kritische Momente, oder er verknüpft sich mit dem Übergang von einem Milieu in ein anderes. Er wirkt nicht in einem homogenen Zeitraum, sondern operiert mit heterogenen Blöcken. Er ändert die Richtung.«70
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Pascal Michon, Rythmes, pouvoir, mondialisation, Paris 2005, S. 14. Jacques Garelli, Rythmes et mondes. Au revers de l’identité et de l’altérité, Grenoble 1991, S. 17. Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 427.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Der Rhythmus bewahrt das Modell einer Interferenz zwischen getrennten Milieus vielleicht auch im Darstellungsweg von Tausend Plateaus: Rhythmus ist der notwendige Mittelbegriff zwischen dem zentrifugal operierenden Begriff des Rhizoms und dem zentripetal operierenden Begriff des Ritornells. Die Erläuterungen zum Ritornell bilden als ironische Pointe auch formal tatsächlich genau die Mitte des Werks,71 während die Aussagen über den Rhythmus als dessen inhaltliche Mitte aufgefasst werden können: Das Rhizom wie auch das Ritornell sind als zeitliche bzw. sogar musikalische Verlaufsformen konzipiert, deren Beschreibung in zahlreichen Einzeldetails an die Problemstellungen von Rhythmustheorien des 20. Jahrhunderts angebunden bleibt. Die Bestimmung des wurzellos wuchernden Rhizoms beruht auf einem eklatanten »Fehler«, der letztlich nur aus der Zeit- und Rhythmustheorie heraus erklärbar ist: Die erste Bestimmung des Rhizoms ist, dass in ihm alle Einzelpunkte miteinander verbunden werden können; die zweite Bestimmung des Rhizoms ist, dass nur noch Linien und gar keine Einzelpunkte mehr vorliegen.72 Im Rhizom tritt ein grundlegender Interessenkonflikt von »modernistischen« Ästhetiken hervor: Der geometrische Zeitpunkt als Träger metrisch-rationaler Rasterungen muss ausgeschlossen werden, der nomadische Einzelpunkt hingegen muss als Träger einer musikalischen Momentform oder einer unerwarteten Richtungsänderung einbezogen bleiben. Die Geburt des Rhizoms aus dem Geist des Rhythmus wird auch in dessen Definition erkennbar: »Ein Rhizom dagegen verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen.«73 Ein Rhizom verabsolutiert das Prinzip der Interferenz, indem es sich nicht mehr auf antipodisch in Beziehung gestellte Zweierpärchen zurückbeziehen lässt, wohingegen der Rhythmus an diese Restbedingung latent zurückgebunden bleibt: »Der Rhythmus liegt nie auf derselben Ebene wie das Rhythmisierte. Die Handlung läuft in einem Milieu ab, aber der Rhythmus tritt zwischen zwei Milieus auf oder zwischen zwei Zwischenmilieus […].«74 Diese Rückbindung sollte man nicht zu gering veranschlagen: Die Zweizahl der Milieus scheint auch auf die sprachlichen Silbenmetren zu verweisen, die von den rhythmischen Gegenakzenten in einer zweiten Ablaufschicht ergänzt werden. Die am französischen Versmaß orientierten Rhythmustheorien betonen daher in besonders starker Weise die Interferenz-Bestimmung der rhythmischen Akzente, stellen diese Gegenschicht aber auch in besonders starkem Maße in Bezug zu einem soliden »einzelwissenschaftlichen« Normmodell: »Le rythme risque deux dangers : soit être décomposé comme un objet […]; soit être compris en termes psychologiques qui l’escamotent jusqu’à y voir un ineffable, absorbé dans le sens, ou l’émotion. […] La seule manière de parer est de situer la question du
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Vgl. Ebda., S. 37 (der Sachverhalt ist zu offenkundig, um ihn zu verschweigen): »Wir schreiben dieses Buch wie ein Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder komponiert. Wir haben ihm eine zirkuläre Form gegeben, aber nur zum Spaß«. Ebda., S. 16f. Ebda., S. 17. Ebda., S. 428.
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Die Theorie des Rhythmus
rythme dans l’interaction de la théorie et de la pratique comme deux activités solidaires historiquement.«75 Sobald jedoch der »kritische« Inhalt der Interferenz und des Milieuwechsels rhetorisch in einen größeren »kosmologischen« Kontext überführt werden soll, wird der Rhythmus auch in Tausend Plateaus sofort wieder auf die Abbildung eines in sich stabilen einzelnen Milieus reduziert: »Es ist tatsächlich nicht mehr die Bewegung oder der Rhythmus eines Milieus, es sind auch keine territorialisierenden oder territorialisierten Bewegungen oder Rhythmen, bei diesen äußerst umfangreichen Bewegungen spielt der Kosmos eine Rolle.«76 Die Idee des Rhizoms ist sozusagen bis in die Wort-Wurzel hinein eine Radikalisierung des Rhythmus, dessen einschränkende Restbestimmungen überwunden werden: Ein Rhizom muss mindestens einmal mehr als ein Rhythmus unerwartet seine Richtung ändern. Mit dem Rhythmus teilt das Rhizom dagegen die spezifische Verortung zwischen Zeit und Raum. Die Positivbestimmungen der Zeit, die im Fall von Deleuze zumeist aus Bergsons Philosophie der Dauer entlehnt werden, überlappen sich gelegentlich mit den Negativbestimmungen des Raums. So ist zum Beispiel die Mittelphase gegenüber den punkthaften Eckwerten von Anfang und Ende der Träger einer »analogen« Positivbestimmung der Zeit, wohingegen im Raum gerade die Mitte eine eigene »digitale« Punktbestimmung erzeugt. Die folgende Aussage über das Rhizom verlangt einen rein zeittheoretischen Kontext, da ansonsten eine fatale Nähe zum reaktionären Modell einer »Raum-Etymologie« des Rhythmus entstehen würde: »Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet.«77 Ein Ritornell hingegen neutralisiert die negativen Punktbestimmungen der Zeit durch die erneut paradox gewählte räumliche Perspektive auf eine eigentlich zeitlichmusikalische Kategorie: »Die Zeit ist hier keine apriorische Form, sondern das Ritornell ist die apriorische Form der Zeit, die jedesmal unterschiedliche Tempi erzeugt.«78 Das Ritornell ist damit jener Ort eines markierten Reviers, einer heimatlichen Sicherheit, aber auch einer zur Wiederholung geeigneten Struktur, die als in die Zeit versetztes Modell dem Rhythmus zuzusprechen wäre, aber offenkundig dann im Akt der Repetition statt des Richtungswechsels einen metrisch-rationalen Restgehalt offenbaren würde. Das für das Denken von Deleuze zentrale Kategorienpaar von Differenz und Wiederholung muss daher in die Betrachtung mit einbezogen werden. Und in Deleuzes Definition der Wiederholung tritt tatsächlich bereits der Vorgang eines Milieuwechsels hervor, wie er auch für den Rhythmus verbindlich werden soll: »Die Differenz liegt zwischen zwei Wiederholungen. Heißt das nicht umgekehrt, daß die Wiederholung auch zwischen
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Henri Meschonnic, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage, Paris 1982, S. 49. Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 445. Ebda., S. 36 (vgl. dort erneut S. 41, wo die Nähe zum Zeitbegriff der musikalischen Phrasierungslehre hervortritt sowie S. 188, wo die »nomadische« Raumkonzeption jeden Mittelbezug kategorisch ausschließt, außer auf S. 424 für das Ritornell). Ebda., S. 477.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
zwei Differenzen liegt, daß sie uns von einer Differenzordnung zur anderen übergehen lässt?«79 Diese Symmetrie aber verdeckt, dass die aus der Wiederholung erzeugte Form der Differenz im einfachsten Fall eine zeitliche Differenz der Wahrnehmung ist (obgleich derselbe Gegenstand vorliegt, werden zwei differente Erfahrungen bzw. Ereignisse erzeugt), während die aus den Differenzen erzeugte Wiederholung im einfachsten Fall eine logisch-räumliche bzw. synchrone Identität der Wahrnehmung darstellt (obgleich zwei verschiedene Gegenstände vorliegen, wird nur eine Erfahrung gemacht bzw. beide Ereignisse werden mit demselben Begriff bezeichnet). Der »Milieuwechsel« des Rhythmus kann mit dem Grundbegriff der Repetition nur verbunden werden, wenn als dessen eigener Milieuwechsel die zeitliche Ordnung des Rhythmus aus einem räumlichen Modell der Differenz abgeleitet wird. Die Repetition soll nicht die metrische Ordnung einer verräumlichten Zeit repräsentieren, sondern die rhythmische Teilhabe am Zeitbegriff der realen Dauer garantieren. Dies funktioniert nur im Modell einer maximalen Verzeitlichung des Raumes, durch die Setzung des Raums als Ausgangsprämisse eines ästhetisch gegen den Raum gerichteten Ablaufprinzips. Repetition und Differenz gehören dabei erneut zu jenen Gegenständen, die mit dem Modell der Interferenz-Bestimmung in besonders angemessener Weise beschrieben werden können: »Einseitiges Beharren auf dem Identitätsaspekt im Wiederholungsmodus dementiert diesen, weil ein Folgendes nicht zugleich ein Voraufgegangenes ist, wie umgekehrt einseitiges Beharren auf dem Differenzaspekt im Wiederholungsmodus diesen dementiert, weil eine Differenzerfahrung stets Identifikation voraussetzt, womit die Bestimmung der Wiederholung nur als Identität und Differenz ihrer Momente zugleich festzuhalten ist.«80 Das Abschlusscommuniqué der dem Rhythmus gewidmeten Passagen in Tausend Plateaus liest sich wie ein Versuch, diese pragmatische Lösung zugleich so unauffällig wie möglich zuzugeben – und dennoch den rhythmischen Vorgang der Repetition weiter auf eine nicht-triviale Form der im Rhythmus erzeugten Differenzen anstatt auf ein rationales Metrum zu verpflichten: »Ein Milieu kommt zwar durch eine periodische Wiederholung zustande, aber diese führt nur dazu, daß eine Differenz geschaffen wird, durch die es in ein anderes Milieu übergeht. Die Differenz ist rhythmisch und nicht etwa die Wiederholung, durch die sie allerdings erzeugt wird. Daher hat diese produktive Wiederholung nichts mit einem reproduzierenden Maß zu tun.«81 Die Überlegenheit der »kritischen« gegenüber der »esoterischen« Rhythmustheorie liegt nicht darin, dass die Relativierung nun doch durch eine Radikalisierung der Metrumkritik ersetzt wird. Sie begründet sich eher aus dem höheren Maß an Reflexion,
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Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übs. von Joseph Vogl, München 1992, S. 106. Dietrich Mathy, »Vorab ergänzend«, in: Dietrich Mathy/Carola Hilmes (Hg.), Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Opladen 1998, S. 8. Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 428.
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Die Theorie des Rhythmus
mit dem das Eingeständnis der Relativierung und das Einfordern der Radikalisierung in sich rhythmisch miteinander vermittelt werden. Die Interferenz-Bestimmung verkettet den Rhythmus zwar mit Differenzen und Milieuwechseln, aber diese Bestimmung setzt weiter voraus, dass die Kritik am formalistischen Metrum nur mithilfe einer formalistischen (stärker räumlichen als zeitlichen) Maxime erreicht werden kann.
3.2.3
Schlagworte der Interferenz
Die Definition des Rhythmus als »Interferenz der Antipoden« wird zirkulär, wenn sich für das Denkmuster auch Verwendungen nachweisen lassen, die auf den Rhythmus übertragen werden, aber zugleich ursprünglich vom Rhythmus abgeleitet sein dürften. Dabei ist an allererster Stelle von Bedeutung, dass die Musik insgesamt im System der Künste durch ihre Interferenz-Stellung beschrieben werden kann. Eine solche Wahrnehmung der Musik, die von allen Künsten am stärksten direkt und doch auch am stärksten abstrakt ihre Wirkungen entfaltet, erscheint so einvernehmlich, dass Erklärungen von spezifisch musikalischen Wirkungsweisen berechenbar mit diesem fundamentalen Tatbestand beginnen können: »Musik fordert Denken, Sinnlichkeit und Emotion zu einer Einheit zusammen, wie das keine andere Ausdrucksform leistet.«82 Diese Interferenz-Stellung lässt sich in der Historie philosophischer Ästhetiken auch anhand der Verschiebung der Musik zwischen dem späten 18. und mittleren 19. Jahrhundert von einer der tiefsten Stufen auf die höchste Stufe aller Kunstformen ablesen. Folgerichtig muss eine Ästhetik der Musik sich zwingend auch mit diesem Aspekt auseinandersetzen (wie es Lawrence Kramer anhand der Kritik der Urteilskraft ausführt): »In preferring poetry to music, therefore, Kant is striving, indeed rather desperately striving, to shield a group of higher values – culture, reflection, subjective autonomy – from encroachments and appropriations by a group of lower values – enjoyment, sensation, subjective contingency. Music is the loose cannon in this process.«83 Tatsächlich erweist sich die Interferenz-Bestimmung der Musik als so stabil, dass sie an nahezu allen Einzelparametern erfasst werden kann. Dies gilt insbesondere für den Begriff der Harmonie (bzw. Harmonia), die als »discordia concors« in doppelter Hinsicht rhythmisiert scheint: In der Anbindung des Harmonieverständnisses an die horizontale Zeitabfolge von Konsonanz und Dissonanz, und in der Anbindung dieser Zeitabfolge an eine antipodische Begrifflichkeit. Der Verweis im Begriff der Harmonie auf die »Tatsache, daß zwei voneinander verschiedene, sogar gegensätzliche Dinge zusammenpassen oder einander ergänzen«,84 bildet eine Interferenz aber offenkundig in einer etwas anderen Weise ab; die Übertragung dieser spezifischen Variante auf das Rhythmusverständnis kann dieses also wiederum in zweifacher Weise »harmonisieren«: Erstens kön82 83 84
Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart 1998, S. 1. Lawrence Kramer, Music as Cultural Practice, 1800-1900, Berkeley 1990, S. 4. Jacques S. Handschin, Der Toncharakter. Eine Einführung in die Tonpsychologie, Darmstadt 1995, S. 159f. Vgl. zu diesem Begriffsverständnis auch Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968, S. 19.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
nen beide Begriffe an das Vorbild der antiken Ethoslehre zurückgebunden werden und sollen dann harmonisch ineinander verschmelzen, anstatt rhythmisch auseinanderzutreten.85 Zweitens wird die Interferenz entwickelt aus einem Begriff der harmonischen Proportion, sodass das stabile Gesamtbild und nicht die »polarisierte« Getrenntheit des antipodischen Paars hervorgekehrt wird (wobei über den Begriff der Sphärenharmonie sich auch zyklische Strukturen diesem Parameter unterordnen lassen).86 Die »esoterische« Rhythmustheorie des 20. Jahrhunderts ist ein Repräsentant ihrer eigenen Epoche der gesteigerten Geschwindigkeiten, weil sie diese kosmischen Zyklen nun als Rhythmen und nicht mehr als Harmonien versteht. Folglich scheint von den beiden antiken Begriffen derjenige des Rhythmus sich in der Interferenz-Bestimmung stärker von seiner musikhistorischen Vorgeschichte zu befreien; er nimmt eine dezidiert »neuzeitliche« Bedeutung an. Die Rhetorik der Interferenz erhält ihre größte Relevanz, wenn sie sich mit dem Rhythmus verbindet, und nicht mit der Musik insgesamt oder anderen Einzelparametern wie der Harmonik (die aus neuzeitlicher Sicht etwas zu konfliktfrei verbleibt): »Harmonie ist die Einheit des Verschiedenen […] Rein logisch gesehen unterscheidet sich Harmonie nicht von Differenz. Aber mit der Semantik von Harmonie zeigt sich etwas anderes: Harmonie ist sozusagen die positive Sicht auf die Differenz, der positive Aspekt der Differenz.«87 Eine Rhetorik der Interferenz ist jedoch offenkundig auch ein Nebenprodukt des gegenwärtigen akademischen Denkens. Über welches Thema wäre im Vorwort einer Sammelpublikation noch nicht gesagt worden, dass es in sich ganz gegensätzliche Positionen vereint; es lässt sich auf diesem Weg jedes Forschungsgebiet, das bislang wenig Aufmerksamkeit in den engen Grenzen des eigenen Faches erhalten hat, in eine günstigere interdisziplinäre Perspektive verlagern (wie es im Vorwort eines Bands zum Thema des Kitsches in der Kunst vorgemacht wird): »Kitsch wird von Subjekten geortet in einem Zwischenraum, im Diskurs zwischen Menschen und Objekten, zwischen historischen Gegebenheiten und kulturellen Neigungen, aus den verschiedensten Gründen und in den unterschiedlichsten Verfasstheiten.«88 Die besondere Eignung des Rhythmus für diese Rhetorik der Interferenz ist der Wissenschaft dabei natürlich nicht verborgen geblieben: »Gerade dadurch öffnet sich die Semantik des Rhythmus für die unterschiedlichsten Adaptionen, ohne sich auf eine konkrete Bedeutung fixieren zu lassen. Insofern ist die
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Vgl. Irmgard Weithase, »Über einige Grundfragen des sprachlichen Rhythmus«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 4 (1954/55), Heft 3/4, S. 335: »Rhythmus und Harmonie – das war die Anschauung der Griechen – sollen die menschliche Seele erfüllen und das Leben durchdringen, weil sie tüchtig zum Reden und Handeln machen«. Vgl. zu dieser Begriffsdimension auch Spitzer 2004, Metaphor and Musical Thought, S. 142. Wilhelm Schmidt-Biggemann, »Pythagoräisches Musiktheater. Raum-, Zeit- und Zahlenspekulationen«, in: Boje E. Hans Schmuhl (Hg.), Maschinen und Mechanismen in der Musik, Michaelstein 2006, S. 20. Katrin Eggers, »Kitsch und Musik – vom Etikett der Distinktion zur lustvollen Aneignung. Eine Einführung«, in: Katrin Eggers/Nina Noeske (Hg.), Musik und Kitsch, Hildesheim 2014, S. 4.
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Die Theorie des Rhythmus
Karriere des Rhythmus vor allem auch die Karriere einer Faszinationsmetapher, die gerade aufgrund ihrer semantischen Unbestimmtheit die Unbeweglichkeit und Starrheit überkommener Begriffsordnungen und Kategorien zu überwinden verspricht.«89 Dieser Effekt wird naturgemäß durch das Aufkommen der Kultur- und Medienwissenschaften verstärkt, die von einer Aufmerksamkeit für unbeachtete Zwischenräume, von den in diesen Räumen erzeugten Interferenzen und damit auch von den in diesen Interferenzen erkennbaren Rhythmisierungen nicht zu trennen sind.90 Es besteht dadurch eine gewisse Gefahr, dass die Argumentation sich abhängig macht von den formalen Mustern einer inhaltlich stets ähnlich formulierten Logik der Interferenz: »Die vorliegende Arbeit verortet das Phänomen des Unbegreifbaren in ein ›Zwischen‹ von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Gleichfalls fragt sie nach dem SubjektPol und dem Objekt-Pol, die gemäß der phänomenologischen Annahme der Bedingtheit von Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt immer gemeinsam betrachtet werden müssen.«91 Die Vorworte wissenschaftlicher Arbeiten gleichen sich in solchen Formeln einander an wie die Fußgängerzonen der Innenstädte: Die Interferenz-Bestimmung erscheint als eine Art Franchise innerhalb der Forschungsrhetorik, die an wenigen immer gleichen Bausteinen erkennbar ist, sich aber zugleich jeder beliebigen Vorgabe anpassen kann und ohne einen haftbaren Urheber auskommt. Es wird nicht mehr der Rhythmus aus zwei entgegen gesetzten Polen abgeleitet, sondern überall, wo sich zwei entgegen gesetzte Pole behaupten lassen, kann von Rhythmus gesprochen werden. Wie subtil diese Rhetorik auf den Rhythmus als besonders geeigneten Träger der Interferenz zurückbezogen bleiben kann, zeigt der Schlusssatz einer Arbeit über die Versrhythmik Hölderlins: »Die Aufgabe des Ichs, sich in und außerhalb der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen (bzw. nach der Trennung von ihm) und darüber hinaus auch mit der Umwelt in Beziehung zu setzen, ist eine verborgene und dennoch genau notierte Botschaft der Elegie. Lesende verstehen sie über den rhythmisch markierten Subtext.«92 Interferenzen entstehen hier als sprachlicher Doppelsinn (die Aufgabe, welche das Ich rational zu lösen hat, und die Aufgabe, in der ein Selbst sich vom rationalen Ich lösen muss), als Setzung konkreter Gegensätze wie zwischen der Verborgenheit und der genauen Notation, aber auch als Rahmenbildung einfacher Antipoden wie Innen und Außen (bzw. Ich und Gemeinschaft).
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Hendrik Blumentrath/Michael Neumann/Claudia Röser/Anja Schwarz, »Rhythmus und Moderne. Einleitung«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie 7/1 (2013), S. 11. Vgl. programmatisch Stefan Rieger, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2000, S. 30. Denis Leifeld, Performances zur Sprache bringen. Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst, Bielefeld 2015, S. 18. Anita-Mathilde Schrumpf, Sprechzeiten. Rhythmus und Takt in Hölderlins Elegien, Göttingen 2011, S. 267.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Welche konkreten materialen Eigenschaften der Interferenz-Bestimmung dabei als Konstanten wie als Variablen in verschiedenen Begriffen hervortreten, soll anhand eines Vergleichs mit den Konzeptualisierungen einmal der »Gestalt« und einmal der »Geste« kurz angedeutet werden. Die Gestalttheorie erfüllt wie die Rhythmusforschung alle Forderungen nach einer interdisziplinären Überwindung des Gegensatzes zwischen zunehmend defensiv auftretenden Geistes- und zunehmend offensiv auftretenden Naturwissenschaften: Die empirisch messbare Größe einer »guten Gestalt« verbleibt zugleich eine gegenüber der stofflichen Materie indifferente Struktur.93 Gestaltqualitäten besitzen jedoch eine stärker »figurale« Ausrichtung, weshalb diese innerhalb der Interferenz-Bestimmung auch stärker rationalisiert erscheinen als der Rhythmus. Eine körperbezogene Geste dagegen ist in sich ein eigenständiger Vorgang der Interferenz: »Die Geste ist der Ort, in dem sich die Produktion und Rezeption, visuelle Distanz und körperliche Selbstempfindung, Plan und Erfahrung überschneiden.«94 Tatsächlich tritt bei der Definition des Gestischen wie beim Rhythmus die Präsenz zahlreicher Interferenzen als besonderes Signum hervor: Es besteht eine Differenz zwischen dem Begriff der Geste für eine einzelne Bewegung und der Gestik als Gesamthaltung eines Menschen, und man kann eine spezifische Geste als semiotischen Indexverweis und als performative Verweigerung von Eindeutigkeit verstehen. Was Gesten und Rhythmen voneinander trennt, ist die im Begriff der Interferenz bereits angedeutete Qualität der Repetition, der Schwingungen und Pulsationen. Gesten sind genau umgekehrt zu Gestalten noch etwas stärker als Rhythmen von der rationalen Restbestimmung innerhalb einer irrational ausgerichteten Interferenz-Bestimmung getrennt.95 Es gibt kein eigenes Fach der Gestenkunde und keine etablierten Traditionen einer »einzelwissenschaftlichen« Gestenforschung.96 Rhythmus ist demnach in der aktuellen Forschung ein Modellbegriff, an dem sich die Gestenforschung ausrichten kann, um auf wissenschaftlich festeren Boden zu gelangen, während das Prinzip der Gestalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Modell gewesen ist, an dem sich die Rhythmusforschung ausrichten konnte. Anhand dieser beiden Forschungsfelder erkennt man daher einen Paradigmenwechsel, bei dem Forderungen nach einer Reduktion von Interferenz-Bestimmungen durch die Förderung dieser Interferenz-Bestimmungen als akademische Zielsetzung ersetzt worden sind.
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Diese inhaltliche Interferenz steht wiederum am Anfang bei Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer Denkfigur, Köln 2001, S. 1. Vgl. auch Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890-1967: Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1995. S. 1. Helmut Heinze, Brechts Ästhetik des Gestischen. Versuch einer Rekonstruktion, Heidelberg 1992, S. 29. Vgl. bekräftigend Gabriele Brandstetter, Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 151. Vgl. das Vorwort bei Anthony Gritten/Elaine King (Hg.), New Perspectives on Music and Gesture, Burlington 2011, S. 2: »Considered as a whole, it might be noted that scholarship on musical gesture continues to strive for further, and sometimes better, ways to negotiate a fundamental set of distinctions that cuts across virtually all intellectual traditions and methodological biases […]«.
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Die Erforschung der sozialen Rhythmen der Arbeitsvorgänge erscheint hierfür beispielhaft: Die Interferenz-Formulierungen werden in der aktuellen Sekundärliteratur prominenter vertreten als in »Klassikern« wie Karl Büchers Arbeit und Rhythmus (dessen Hauptthese in einem aktuellen Zitat dem Interferenz-Paradigma angepasst scheint): »Die sich wandelnde Rhythmisierung von Arbeitsprozessen löst die Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen Arbeit und Tätig-Sein zunehmend auf.«97 Zugleich werden auch Begriffe einer rhythmusbezogenen Interferenz-Bestimmung unterworfen, für die dies keineswegs mehr selbstverständlich scheint. Die folgende Aussage über die Routine von Arbeitsvorgängen ist in sich also das Ergebnis eines keinesfalls routinemäßigen Arbeitsvorgangs: »In der Routine verschränken sich durch Übung körperliche und geistige Fähigkeiten in einem implizit zusammengeführten Rhythmus. Die Wiederholung durch einen Menschen birgt immer eine Differenz und ist im Gegensatz zum maschinellen Takt, Rhythmus als die ›Wiederkehr des Ähnlichen‹ (Klages). Gerade in diesem ›Ähnlichen‹ offenbart sich die Subversion.«98 Diese Aussage zeigt schlaglichtartig, wie die für eine »kritische« Rhythmustheorie werthaltigen Aspekte der Störung oder eben Subversion direkt aus den Annahmen der »esoterischen« Rhythmustheorien übernommen werden. Eine Differenz liegt hingegen darin, dass die Interferenz-Bestimmung des Rhythmus nun das auslösende Schlagwort ist, das eine Deutung der Routine als Form eines versteckten menschlichen Widerstands gegen das Maschinenmetrum überhaupt erst ermöglicht. Die Verbindung heterogener Milieus und Begriffswelten ist zwar ein modernes Forschungsinteresse, man kann im Fall des Rhythmus aber glaubhaft eben genau diese Wesensbestimmung auch schon für die archaischen Rhythmen der Arbeit oder die Auffassungen der antiken Polis vertreten.99 Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit diesem Paradigma lohnt es sich, nochmals zu der anfangs zitierten Formel einer Interferenz zwischen Präsenz- und Sinneffekten bei Hans Ulrich Gumbrecht zurückzukehren; Gumbrecht selbst identifiziert diese Formel als die am häufigsten in der Rezeption aufgegriffene Textwendung.100 Als »ersten Konvergenzpunkt« der Rezeption benennt Gumbrecht das idealtypische Konstrukt des antipodischen Paars von Präsenz- und Sinneffekten. Als »zweiten KonverInge Baxmann/Sebastian Göschel/Melanie Gruß/Vera Lauf (Hg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009, S. 9. Vgl. als stärker »neutrale« Vorlage mit schwächerer Betonung der Interferenz Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 24: »Bei jeder Arbeitsaufgabe, die dem Menschen gestellt werden kann, lässt sich eine doppelte Seite unterscheiden: eine geistige und eine körperliche«. 98 Sebastian Göschel, »›Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet‹. Arbeit zwischen Horror Laboris und Macht der Gewohnheit«, in: Baxmann/Göschel/Gruß/Lauf 2009, Arbeit und Rhythmus, S. 97. 99 Vgl. etwa Ulf Schmidt, »Der Rhythmus der Polis. Zeitform und Bewegungsform bei Platon«, in: Primavesi/Mahrenholz 2005, Geteilte Zeit, S. 95: »Der rhythmós ist das Bindeglied zwischen aisthêsis und ethos, zwischen psychê und pólis, zwischen dem Bewegten und dem Unbewegt-Ewigen«. 100 Vgl. für die folgenden Punkte Hans Ulrich Gumbrecht, »Vorwort – Etwas Klarer Sehen. Reaktionen auf ermutigende Einwände«, in: Sonja Fielitz (Hg.), Präsenz interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition, Heidelberg 2012, S. xxixff.
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genzpunkt« der Rezeption bestimmt Gumbrecht das Motiv der Oszillation. Dieser Begriff ermöglicht es also wiederum in idealtypischer Weise, die voneinander getrennten Konzepte dennoch beständig miteinander in Beziehung zu stellen. Was in die Theorien hineinkommt, ist immer und immer wieder nur der Rhythmus, weil dieser als lebensweltliches Prinzip genau die beiden rhetorischen Bedingungen der minimalen Präsenz von »X« in »-X« und der maximalen Interaktion zwischen »X« und »-X« verkörpern kann.101 Was aus der Rede von der Rhythmisierung, von der Oszillation oder einfach von der Spannung zwischen getrennten Gegensätzen herausfällt, sind jedoch immer und immer wieder bestimmte Formen des Rhythmus als realer lebensweltlicher Vorgang. Es besteht eine eigene Spannung zwischen der beständigen Referenz auf eine Interferenz, durch welche der Rhythmus in verschiedensten Sujets aufgerufen wird, und der fehlenden Bereitschaft, diese Interferenz-Bestimmung auf konkrete rhythmische (und metrische) Phänomene zu übertragen. Daher sollen im nächsten Teilkapitel genau derartige Bestimmungen entwickelt werden, die den Rhythmus selbst einer InterferenzBestimmung unterstellen.
3.3 3.3.1
Ein Syntheseversuch der Rhythmustheorien Stimulation und Simulation
Rhythmus gehört zu den Gegenständen, die entweder in der Realität tatsächlich vorhanden oder teilweise nur vorgestellt sein können. Dieser Sachverhalt soll verallgemeinert werden durch das Begriffspaar der Stimulation und der Simulation. Beide Bezeichnungen sind eher alltagsnaiv aufzufassen: Es soll weder mit dem Begriff der Stimulation auf den Behaviorismus und einen Determinismus zwischen Reiz und Reaktion verwiesen werden, noch soll das kulturkritische Konzept universaler Simulakren von Jean Baudrillard auf den Rhythmus übertragen werden. In das Begriffspaar bleibt eine Interferenz-Bestimmung des Rhythmus weiter eingeschrieben: Die Simulation als »vorgestellter« und die Stimulation als »vorhandener« Rhythmus überführen zwei Begriffe in eine direkte Beziehung, die zwar aufgrund der nur durch einen einzelnen ergänzten Buchstaben voneinander getrennten Worte miteinander verwandt scheinen, sich in dieser Bedeutung in der rhythmusbezogenen Literatur aber interessanter Weise nicht finden.102 Dort ist die Unterscheidung von Subjekt- und Objektrhythmen von zentraler Bedeutung, doch erweist sich dieser Gegensatz selbst in einzelnen Rhythmustheorien fast immer als irreführend. Im Begriff des Subjektrhythmus verschmelzen zwei Bedeutungen, da einmal das biologische Subjekt (und damit alle körperlich-organischen Vgl. etwa Bernhard Waldenfels, »Die verändernde Kraft der Wiederholung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 46/1 (2001), S. 13: »Wenn wir diese Unterscheidung machen, müssen wir sogleich hinzufügen, dass es eine reine Urproduktion, bei der sich nichts wiederholt, ebensowenig gibt wie eine reine Reproduktion, bei der sich alles wiederholt«. 102 Vgl. aber das Kapitel mit dem Titel »S(t)imulationen« bei Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001, S. 317. 101
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Rhythmen) und einmal nur das mentale Subjekt als Bestimmung herangezogen werden. Das Problem ist also, dass auch Subjekte ihre eigenen Objektrhythmen aufweisen: Bezieht man jedoch den Blutkreislauf oder auch die sogenannten »Biological Clocks« mit ein, dann sind dies zwar eindeutig stimulative Rhythmen, aber sie entziehen sich zugleich dem Zugriff des Subjekts.103 Ein Kompromissvorschlag von Hellmuth Benesch, daher in diesem Fall vom Eigenrhythmus des Subjekts zu sprechen, führt nur zu neuerlichen Problemen. Denn der Subjektrhythmus wird weiterhin so definiert, dass unter diesen Begriff auch einige der biologischen Objektrhythmen subsumiert werden können: »Subjektrhythmus ist der von einem Individuum bemerkte Rhythmus; Objektrhythmus der nicht bemerkte Rhythmus.«104 Subjektrhythmen wären somit alle Rhythmen, die eine Simulation und Stimulation beinhalten, Objektrhythmen solche, die nur aus Stimulationen bestehen (Rhythmen der Verdauung oder der Nervenimpulse bleiben dem wahrnehmenden Subjekt gänzlich unbewusst). Allerdings verschmelzen auch im Begriff des Objektrhythmus zwei nun allerdings grundlegend verschiedene Bedeutungen: Er wird bezogen einmal auf Rhythmen der Außenwelt, die ein rein rezipierendes Subjekt voraussetzen (ein Subjekt kann keine eigenen Rhythmen der Mondphasen oder Meeresgezeiten erzeugen). Er wird aber auch bezogen auf Rhythmen räumlich-statischer Objekte, die ein reproduzierendes Subjekt voraussetzen (ein Objekt im Raum kann nur durch ein ästhetisches »Kunstwollen« eigene Rhythmen in sich aufnehmen).105 Als Objektrhythmen werden also gleichermaßen Rhythmen bezeichnet, in denen der Vorgang der Stimulation sich von jeder Simulation unabhängig macht (die natürlichen Rhythmen der Natur bzw. des Körpers), und Rhythmen, in denen der Vorgang der Simulation sich von jeder Stimulation unabhängig macht (die räumlichen Rhythmen in statischen Objekten). Der erste Vorteil des eher unüblichen Begriffspaars von Simulation und Stimulation ist, dass einzelne Ungenauigkeiten in dem üblicheren Begriffspaar der Subjekt- und Objektrhythmen zum Vorschein gebracht werden können. Dies gilt auch und gerade für den Dualismus geschichtlicher und natürlicher Objektrhythmen: »Geschichtlich sich wiederholende Vorgänge (z.B. der Wechsel zwischen Krieg und Frieden) und Verläufe in der Natur, die der subjektiven Erfahrbarkeit als komplexhafte Erscheinung unzugänglich bleiben (z.B. der Turnus der Jahreszeiten), sind in unserem Verständnis als ›objektive Rhythmen‹ zu bezeichnen.«106
103 Vgl. ausführlicher Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 27. 104 Hellmuth Benesch, »Das Problem des Begriffes Rhythmus«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 4 (1954/55), Heft 3/4, S. 360f. Dem entspricht die folgende Differenz bei Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 306: »Die erlebte Zeit ist stets auch eine gelebte; aber die gelebte braucht keine erlebte, kein Bewußtseinsgegenstand zu sein.« 105 Vgl. etwa Werner Aulich, Untersuchungen über das charakterologische Rhythmusproblem, Diss., Halle 1932, S. 11; relevant ist zudem erneut Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 28. 106 Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 32.
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Diese Kategorie umfasst also Rhythmen, die als Stimulationen vorhanden sein sollen, aber nur aus Subjektvorstellungen abgeleitet werden können (wie die Rhythmen der Geschichte und der Schöpfungszyklen); es gibt aber auch Rhythmen, die als Simulationen vorhanden sind, aber nicht nur Subjektvorstellungen abbilden sollen (wie Rhythmen der Psyche und des Temperaments). Atem und Puls des Menschen bilden in diesen Kategorien eine eigene InterferenzBestimmung: Sie sind einerseits Objektrhythmen, da wir den Herzschlag und die Atmung nicht dauerhaft ein- und ausschalten können, sie sind andererseits Subjektrhythmen, da sie dem persönlichen Zugriff nicht gänzlich entzogen sind. Der Regelfall wäre dabei aber nicht, dass die ästhetische Qualität des Rhythmus auf das Atmen als Quelle zurückgeführt werden kann, sondern der Regelfall wäre, dass der Rhythmus seine eigene ästhetische Qualität auf den Atemvorgang überträgt.107 Es ist der krankhaft veränderte Herzschlag, der eine regelhafte Rhythmisierbarkeit zulässt, was man vielleicht so deuten könnte, dass der gesunde Herzschlag eine evolutionäre Zufallskomponente integriert, um von der Ankopplung an äußere Einflüsse freigehalten zu werden. Es gehört zu den frühen Ergebnissen der empirischen Forschung, den direkten Zusammenhang zwischen der Atemrate und dem Rhythmuserlebnis zurückzuweisen.108 Wie hoch auch immer man eine interne rhythmische Verfasstheit des Menschen veranschlagt, wäre doch zu beachten, dass die eigenen Objektrhythmen sich einem Subjekt teilweise entziehen: So scheinen Probanden nicht in der Lage zu sein, ihren eigenen produzierten Rhythmus wiederzuerkennen.109 Ein weiterer Vorteil des Begriffspaars von Stimulation und Simulation liegt darin, dass es mit dem Prinzip einer minimalen Präsenz des jeweils einen im jeweils anderen Begriff verbunden werden kann. Die Begriffe sollen dabei einen Richtungsgegensatz in der jeweiligen Wahrnehmungssituation markieren: Simulation bezeichnet den Verlauf eines Rhythmus von »Innen nach Außen« (ein vorgestellter Rhythmus verbindet sich mit einem vorhandenen Rhythmus), Stimulation bezeichnet den Verlauf eines Rhythmus von »Außen nach Innen« (ein vorhandener Rhythmus verbindet sich mit einem vorgestellten Rhythmus). Jede Ästhetik des Rhythmus ist daher mit zwei Forderungen zu konfrontieren: Erstens der Forderung nach einer minimalen Simulation innerhalb der rhythmischen Stimulation. Jeder Rhythmus erzeugt nach dieser These im Subjekt ein Bewusstsein auch darüber, dass er teilweise ein Produkt dieses Bewusstseins ist. Zweitens aber auch die
107 Vgl. Trier 1949, »Rhythmus«, S. 137: »Ich kann zwar auf meinen Atem intentionalen Einfluß nehmen und in Hinwendung der Aufmerksamkeit auf ihn ihn als rhythmisch erleben. Ich kann es aber auch lassen und i.a. werd ich es lassen«. 108 Vgl. als frühe Quelle dieses Befunds Christian A. Ruckmich, »The Role of Kinaesthetics in the Perception of Rhythm«, in: The American Journal of Psychology 24/3 (1913), S. 355. Widersprüchlich verbleiben die Auswertungen bei Donald A. Hodges, »Psycho-Physiological Measures«, in: Patrik N. Juslin/John A. Sloboda (Hg.), Handbook of Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford 2010, S. 279-311. 109 Vgl. Albert Spitznagel, »Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung«, in: Katharina Müller/Gisa Aschersleben (Hg.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern 2000, S. 25.
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komplementäre Forderung nach einer minimalen Stimulation innerhalb der rhythmischen Simulation. Hier würde nun jeder Rhythmus ein Bewusstsein dafür erzeugen, dass er nicht nur ein Produkt des Bewusstseins ist, sondern auch eine weniger rational als körperlich spürbare Form der Anwesenheit voraussetzt. In jeder einzelnen rhythmischen Erfahrung gibt es nach dieser These also sowohl Stimulation wie auch Simulation, wohingegen Erfahrungen reiner Simulation und reiner Stimulation grundsätzlich nicht als rhythmische Erfahrungen bestimmt werden können. Das Potenzial wie die Problematik dieser Hypothese (ein anderer Status soll den Behauptungen nicht zuerkannt werden) tritt zutage, wo umgekehrt eine ästhetische Theorie eben einer reinen Stimulation oder einer reinen Simulation aufgestellt wird. Gumbrechts eigene Stellungnahme zum Rhythmus verortet den Begriff zum Beispiel gerade nicht in der Interferenz-Bestimmung zwischen Sinn- und Präsenzeffekten. Rhythmus wird den stimulativen Körperbewegungen der Präsenzebene einseitig zugeordnet; Gumbrecht will zeigen, »[…] daß es eine konstitutive Spannung zwischen den Phänomenen des ›Rhythmus‹ und der Dimension des ›Sinns‹ gibt«.110 Eine Voraussetzung für diese Ausklammerung einer minimalen Simulation ist, dass Gumbrecht seine Präsenzästhetik als eine Ästhetik des Raums und nicht der Zeit konzipiert.111 Um den Rhythmus von der rationalen Zeitdimension metrischer Kontrolle gänzlich zu befreien, muss Rhythmus insgesamt entzeitlicht werden. Bedingung der Darstellung ist Benvenistes Modell einer nicht-organischen, aber fließenden Form, das mithilfe systemtheoretischer Terminologie umformuliert wird. Das rhythmische Erleben erzeugt ein Hineingezogensein in den Text, sodass Rhythmus sich durch diese einschichtige Struktur gegenüber der sprachlichen Semantik definiert, und nicht durch die in sich mehrschichtige Struktur seiner eigenen Syntax: »Beim Erinnern rhythmisch geformter Sprache jedoch hat man die ›Möglichkeit, das vielstrangig Bewusste in ein schlicht in einem Strang Bewusstes zu verwandeln‹.«112 Als Gegenbeispiel einer Theorie, in der umgekehrt das Element einer minimalen Stimulation unterdrückt wird, könnte man vielleicht auf den von Wolfgang Welsch entwickelten Gegensatz des Ästhetischen und des Anästhetischen verweisen. Die Grunddiagnose lautet dabei, dass in einer postmodern-medialen Eventkultur das Ästhetische immer auch das Anästhetische erzeugt: »Ästhetische Animation geschieht als Narkose – im doppelten Sinn von Berauschung wie Betäubung. Ästhetisierung – ich wiederhole diese Formel – erfolgt als Anästhetisierung.«113 Die Frage ist nun aber, ob sich diese Formel umkehren lässt und also die gesteigerte Anästhetik ebenso eine Steigerung oder zumindest eine Restpräsenz des Ästhetischen implizieren würde. Auf den Ebenen der formalen Logik wie der sozialen Moral 110
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Hans Ulrich Gumbrecht, »Rhythmus und Sinn«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1995, S. 715; Rhythmus erscheint selbst als der eine Pol eines antipodischen Paars in Abgleich mit dem sprachlichen Sinn, sodass die poetische Sprache wiederum die Interferenz-Position einnehmen kann (Ebda., S. 727). Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Production of Presence, Interspersed with Absence: a Modernist View on Music, Libretti, and Staging«, in: Karol Berger/Anthony Newcomb (Hg.), Music and the Aesthetics of Modernity, Cambridge, Mass. 2005, S. 343. Gumbrecht 1995, »Rhythmus und Sinn«, S. 720. Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 14.
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kann man das sofort verneinen: Eine Gesellschaft, die immer mehr nützliche Haushaltsgeräte produziert, erzeugt auch unnützen Müll, eine Gesellschaft, die unnützen Müll produziert, erzeugt nicht zwingend immer mehr nützliche Haushaltsgeräte. Daher ist es möglich, mit dem symmetrischen Begriffspaar doch zu einer asymmetrischen Enddiagnose zu gelangen: »Architektonisch wie medial deutet sich ein teuflisches, aber anscheinend realistisches Gesetz an. Seine Formel wäre: Je mehr Ästhetik, desto mehr Anästhetik.«114 Die Forderung nach einer minimalen Präsenz des jeweils anderen Pols kann jedoch auch auf die Dichotomie von Rhythmus und Metrum übertragen werden: Es entsteht dann eine Matrix, in der Metrum und Rhythmus einerseits weiterhin voneinander abgegrenzt bleiben, aber andererseits auch unauflöslich in Beziehung zueinander gestellt werden. Das Metrische ist dabei ganz einfach bestimmbar als diejenige ästhetische Situation, in der eine maximale Stimulation und eine maximale Simulation zusammengeführt werden (sodass also die vorhandene Stimulation die Simulation nicht durch ihre Präsenz reduziert, sondern verstärkt). Im Sinne einer juristischen Terminologie könnte man diese Qualität des Metrums als Stipulation bezeichnen: als einen durch Wiederholung erfolgenden Vertrag, der zustande kommt, wenn statt einer Unterschrift eine von beiden Parteien ausgesprochene Floskel die Gültigkeit der Abmachung garantiert. Ein derartiges »ja-äquivalentes Wiederholen eines Satzes«115 kennzeichnet auch das musikalische Metrum. Rhythmus dagegen ermöglicht Modelle maximaler Stimulation und minimaler Simulation (etwa eine Abfolge wechselnder, aber in sich prägnanter Gesten oder Patterns) und Modelle maximaler Simulation und minimaler Stimulation (also zum Beispiel eine intensive rhythmische Erfahrung auch gegenüber einem gänzlich unbewegten Objekt). Man kann somit gemäß dieser Matrix eine metrische Situation auch dort postulieren, wo eine minimale Stimulation auf eine minimale Simulation trifft. Dies entspricht erneut einer einfachen Erfahrung: Desto weiter die Rede vom Rhythmus sich von realer rhythmischer Präsenz entfernt, desto mehr erscheint insbesondere der Alltagsbegriff des Rhythmischen in sich metrisiert zu sein. Er wird dann wie in der Situation einer metrisch zugleich gesteigerten Stimulation und Simulation an periodische Regularität, zyklische Wiederkehr und berechenbare Bewegungen angebunden (die Vorstellung historisch-kultureller Rhythmen entspricht zum Beispiel diesem Modell).116
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Ebda., S. 10. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a.M. 2000, S. 65. Vgl. im Kontext metrisierter Genealogien des Rhythmischen die Bedeutung dieses Umstands bei Heinz Werner, Ursprünge der Lyrik, München 1924, S. 78: »Wir wissen aus alltäglicher Erfahrung, wie die überzeugende Kraft logischer Tatbestände ersetzt sein kann durch die überredende Wirkung immerfort wiederholter Sätze«. Vgl. dazu auch schon Lubkoll 2002, »Rhythmus«, S. 84: »Spannend wird diese diskursive Konstellation dadurch, dass ›natürliche‹ Rhythmen nur aufgrund bewusster oder intuitiver Vertaktungen überhaupt als solche wahrnehmbar sind (was in vitalistischen Rhythmustheorien der Zeit stets eingeräumt wird) – Rhythmus ist ohne eine abstrakte, übergeordnete Struktur nicht denkbar, oder radikaler: Rhythmus existiert nicht an sich, sondern wird erst über kulturelle Ordnungen erfahrbar«.
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Eine vitalistische Perspektive wird diese minimale Simulation wieder als alternative Form der Stimulation zu bestimmen versuchen; zum Beispiel als seelische statt geistige Mitbeteiligung am rhythmischen Gesamterlebnis, das nicht mehr die Projektion einer spezifisch menschlichen Leistung auch auf natürliche Phänomene darstellen würde, sondern eine Teilhabe des Menschen an einem nahezu universalen Prinzip.117 Eigentlich muss jedoch eher die Behauptung einer minimalen Stimulation zum Problem werden. Bei der Frage, inwiefern für historische Epochen oder für kosmische Vorgänge (zwei zentrale Einsatzorte des Rhythmusbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) dieser »esoterische« Essenzialismus anerkannt werden darf, spielt vermutlich auch der folgende Effekt eine Rolle: Jede Erzählung über einen angeblich vorhandenen Rhythmus in der Geschichte erzeugt einen offenkundig vorhandenen Rhythmus eben in dieser Erzählung; der Aufbau der Buchkapitel und die Faktenauswahl passen sich der Grundhypothese der Rhythmisierung an, sodass durch diese Hypothese tatsächlich in sich rhythmisierte Erzählungen erzeugt werden (die man sich zum Beispiel leichter merken kann).118 Die Behauptung einer immer gegebenen minimalen Stimulation kann man zudem in eine ganz einfache Folgethese übersetzen: Sie besagt, dass die Rede vom Rhythmus niemals eine reine Metapher ist. Man muss dabei zwei Fälle unterscheiden: einmal die Rede von einem »kämpferischen Rhythmus«, einmal die Rede von einem »rhythmischen Kämpfen«. Im ersten Fall wird ein vorgestelltes Attribut auf einen vorhandenen Rhythmus übertragen; diese Attribute können bei ihrer Übertragung auf den Rhythmus metaphorisch oder nicht-metaphorisch sein wie bei ihrer Übertragung auf andere Realphänomene. Man erkennt jedoch schon für diesen ersten Fall, dass der Rhythmus sich gegen bestimmte Formen einer begrifflichen Übertragung auch zu sperren scheint: Es gibt in der Kunstgeschichte einen blauen Reiter und einen gelben Klang, aber keinen violetten Rhythmus (synästhetische Erfahrungen scheinen sich demnach nicht gleich gut in den dafür zu wenig objektzentrierten Rhythmus überführen zu lassen).119 Im zweiten Fall hingegen wird das vorgestellte Attribut des Rhythmus auf einen vorhandenen Gegenstand übertragen, und die nur an diesen Fall angeschlossene Behauptung wäre, dass der Rhythmus dann eben nicht nur ein rein vorgestelltes Attribut ist. Für diese Behauptung gibt es durchaus eine gewisse lebenspraktische Wahrscheinlichkeit. Die Stimulation bzw. der unwillkürlich erfolgende Zwang zur rhythmischen Mitbewegung kann nur schwer vorgetäuscht werden: »It is hard to tell a lie in rhythm.«120 Berühmt ist auch ein Aphorismus Paul Valérys, der sich auf diesen Effekt 117
Vgl. insbesondere die Darstellung bei Gudrun Henneberg, »Der Rhythmusbegriff von L. Klages aus musikwissenschaftlicher Sicht«, in: Hestia 1976/77, Bonn 1977, S. 150. 118 Vgl. dazu auch Jean-Claude Schmitt, »Eine Geschichte der Rhythmen: warum und wie?«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 28f. 119 Vgl. dazu zwei überlieferte Begebenheiten: Der Experimentalfilm Hans Richter wechselt vom Titel des Gemäldes Fuge in Rot und Grün zum abstrakten Titel Rhythmus 23 (Angabe nach Jörg Jewanski/Hajo Düchting, Musik und Bildende Kunst im 20. Jahrhundert. Begegnungen – Berührungen – Beeinflussungen, Kassel 2009, S. 339). Und die Zeitschrift einer fauvistischen Künstlergruppe heißt zunächst »Rhythm« und danach »The Blue Review« (Angabe nach Mark Antliff, Inventing Bergson. Cultural Politics and the Parisian Avant-Garde, Princeton 1993, S. 69). 120 Justin London, Hearing in Time. Psychological Aspects of Musical Meter, Oxford 2 2012, S. 64. Vgl. auch Aulich 1932, Rhythmusproblem, S. 42: »Wir sprechen in diesem Falle, wo die subjektive Einstellung
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der minimalen Stimulation zu beziehen scheint: »Halte dich ruhig und versuche dir einen Rhythmus vorzustellen. Unmöglich. Ich habe jemanden erlebt, der dies tun zu können glaubte und der den Rhythmus mit den Augenlidern schlug. Oder durch Zuckungen in den Mundwinkeln.«121 Tatsächlich ist die Annahme einer minimalen Stimulation lediglich die abgeleitete Variante einer Kognitionstheorie, die alle psychologischen Vorgänge auf eine motorische Ursache zurückführen möchte. In diesem Sinne wäre dann Bewegung tatsächlich eine Bedingung von Rhythmus.122 Der Sachverhalt lässt sich zudem genauso glaubhaft von der anderen Seite aufrollen. Das Modell einer minimal gewahrten Stimulation kann als das eigentliche Wesen der Metaphern angesehen werden: »Kann man Metaphern erfinden, ohne daran zu glauben und ohne zu glauben, daß das in gewisser Weise ist?«123 Man kann Metaphern also nicht definieren, ohne dafür Metaphern zu verwenden. Berühmt für diesen eigenen metaphorischen Anteil ist insbesondere die Definition von Nelson Goodman: »Kurz, eine Metapher ist eine Affäre zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und einem Gegenstand, der sich unter Protest hingibt.«124 Der in diesem Fall bewusst zugespitzte »konkrete« Anteil metaphorischer Übertragungen kann auch in einer stärker »abstrakten« Definition erkennbar bleiben: »Metaphorizität entsteht durch das Aufeinanderbeziehen von zwei Zeichen bzw. Zeichenkomplexen, das eine Interaktion zwischen Implikationssystemen bewirkt und durch einen Konflikt zwischen gemeinsamen und nicht gemeinsamen Merkmalen in Bewegung gehalten wird.«125 Der minimale metaphorische Anteil in jeder Metapherndefinition ist also gerade eine implizite Abhängigkeit von einer ganz bestimmten Vorstellung von Bewegung: Die Metapher ist durch die Antipoden der wörtlichen und der übertragenen Bedeutungsebene bestimmt, zwischen denen jede Metapher eine zwar virtuelle, aber dynamisch konzipierte Spannung herstellt. Diese Bewegungsvorstellung verweist auf die Zeitlichkeit als den wohl äußersten Präzedenzfall eines Gegenstands, dessen Definition immer bereits ein mit zeitlichen
eines Menschen zu seinem Rhythmus eine divergierende ist, wo eine instinktive oder bewusste Täuschung vorliegt, von einem maskenhaften Rhythmus«. 121 Zit. nach Christa Brüstle/Nadia Ghattas/Clemens Risi/Sabine Schouten, »Zur Einleitung: Rhythmus im Prozess«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 11. 122 Vgl. Ruckmich 1913, »Role of Kinaesthetics«, S. 310 zur u.a. von Krueger und Wundt vertretenen Theorie der motorischen Ursachen von psychologischen Phänomenen. Dies wird durch eigene Forschungen eingeschränkt; die »innere« Repräsentation eines etablierten »äußeren« Rhythmus ist möglich (Ebda., S. 359). 123 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, übs. von Rainer Rochlitz, München 1986, S. 249. 124 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, übs. von Bernd Philippi, Frankfurt a.M. 1997, S. 74. 125 Christian Thorau, Vom Klang zur Metapher. Perspektiven der musikalischen Analyse, Hildesheim 2012, S. 64.
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Begriffen durchsetztes Vokabular voraussetzt (das dabei zudem erneut metaphorisch verwendet wird).126 Offenkundig ermöglichen diese Abhängigkeiten eine ähnliche Argumentation wie bei der Frage des Rhythmus als Absenz und Essenz von Dialektik: Was an jeder Definition der Metapher selbst nur eine Metapher ist, wird bei der Anwendung auf den Rhythmus gerade das Element einer Metapher, das niemals nur eine Metapher ist. Das überträgt sich womöglich dann auf die Musik insgesamt, wo der metaphorische Anteil in Formulierungen wie »musikalischer Gedanke« oder »musikalische Landschaft« jedoch wieder bereits deutlich stärker erscheint.127 Metapherntheorien setzen einen ersten Wirt voraus (die Instanz non-metaphorischer Rede), der seine Wortbedeutung dann auf einen zweiten Wirt überträgt (die Instanz metaphorischer Rede). Der Rhythmus entzieht sich diesem Vorgang, indem dessen non-metaphorische Bedeutung der gegliederten, pulsierenden Zeit (der erste Wirt) sich nicht nur metaphorisch auf ein anderes Wortfeld überträgt (der zweite Wirt), sondern zusätzlich auf den Vorgang der Übertragung.128 Metaphern wie das Tischbein und der Schlüsselbart entstehen als Schnittmenge zwischen zwei Prädikaten, die in einzelnen äußeren Elementen gleichartig erscheinen können; die rhythmische Komponente solcher Metaphern ist demgegenüber quasi der Tisch, der im Comic wirklich zu laufen beginnt, der Schlüssel, dessen Bart rasiert werden muss. Der Rhythmus in jeder Metapher ist der nun selbst bildlich gewordene Verweis auf den unterstellten Bewegungsvorgang bei der Einsetzung des einen in das andere Element. Diese Deutung widersetzt sich einer Tendenz der gegenwärtigen Musikästhetik, die einen nahezu universalen Metaphernstatus für alle musikbezogenen Aussagen unterstellt: »Ebenso muss der gesamte Bereich des emotionalen Ausdrucks, der gerade bei der Erfahrung von Musik eine sehr wichtige Rolle spielt, auf der Basis metaphorischer Übertragungsmechanismen erklärt werden. Musik ist niemals selbst ›fröhlich‹ oder ›traurig‹ – diese Eigenschaften kommen ihr nur im übertragenen Sinn zu.«129 Ursula Brandstätter exemplifiziert diese These direkt anschließend mit dem konkreten Beispiel des »aufwühlenden Rhythmus«. Welcher Gegenstand der Welt aber ist in nichtmetaphorischer Weise aufwühlend (oder auch stockend, beschwingt etc.), ohne dabei in irgendeiner Form auch rhythmisch zu sein? Der »aufwühlende Rhythmus« ist die Zusammenziehung einer Metapher der aufwühlenden Musik und eines Rhythmus, der in allen Formen der Aufwühlung sehr wohl mit enthalten sein kann (und also nicht in derselben Weise metaphorisch erscheint). 126
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Vgl. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt a.M. 1972, S. 14: »Es ist unmöglich, für ›Zeit‹ eine zirkelfreie Realdefinition zu formulieren, die sie auf Bestimmungen zurückführte, die man nicht bereits als ›zeitlich‹ bezeichnen würde«. Vgl. Corina Caduff, Die Literarisierung von Musik und bildender Kunst um 1800, München 2003, S. 29. Vgl. George Lakoff/Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, übs. von Astrid Hildenbrand, Heidelberg 1998, S. 13: »Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können«. Ursula Brandstätter, Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper, Köln 2008, S. 92.
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Auch die Metapherntheorie gehört folglich zu den Gegenständen, die beständig mit einer Interferenz-Bestimmung operieren.130 Eine auffällige Differenz der musikbezogenen Metapherntheorien ist allerdings im Abgleich mit dem Rhythmus eine »rationale« Schlagseite in dieser Interferenz: Es geht weniger darum, die maximal metaphorische Sprache der Konzertführer-Literatur neu zu entdecken, sondern es geht darum, auch relativ formalistischen Analysesprachen eine minimal metaphorische und damit bildhaft sinnfällige Qualität zuzusprechen.131 Die besten in sich metaphorischen Definitionen der Metapher sind demnach zugleich die besten Definitionen für das unmetaphorische Wesen des Rhythmus: Jacques Derrida nennt die Metapher etwa einmal das »tierische Wesen des Schriftzeichens«.132 Ein non-metaphorischer Anteil in fast jeglicher Rede vom Rhythmus liefert vor allem jedoch eine Erklärung, warum der Begriff so unbedenklich und universalisierend verwendet werden konnte. Die »esoterischen« Rhythmustheorien sind davon abhängig, dass dem Rhythmus weit eher als anderen Vokabeln auch in offenkundig übertragenen Bedeutungen noch eine teilweise nicht-metaphorische Begrifflichkeit zugestanden wird. Man kann hier einen Satz aus Hanslicks Musikästhetik sinnvoll variieren: Was in anderen Künsten schon Metapher ist, geht für den Rhythmus gerade noch als Natur durch. Der Rhythmus wird Extrembestimmungen zugetrieben, weil das Ventil einer zunehmend metaphorischen Begriffsbildung zu fehlen scheint. Je stärker Rhythmus als ein Nichts bestimmt wird (als gegenüber jeder Materie indifferente formale Bestimmung), desto eher kann er zu Allem werden (als eine jeder Materie inhärente materiale Bestimmung): »Der Rhythmus muß aus ›allem‹ herausgeholt und in ›alles‹ hineingelegt werden können. Denn ›alles‹ ist, sofern es zeitliche Erstreckung besitzt, im Sinne des Zeiterlebnisses zu gliedern. Allem sich zeitlich Erstreckenden muß somit die ›Tendenz‹ zum Rhythmus hin innewohnen […].«133 Eine zeittypische Formel für diese Forderung lautet: »Es gibt keinen schlechten Rhythmus.«134 Eine kritische Reaktion auf diese sich immer stärker enthemmenden Universalisierungen wird umgekehrt den Rhythmus geradezu als die ideale und immerwährende Metapher betrachten, eben weil er sich allen inhaltlichen und ideologischen Prämissen überaus leicht anpassen lässt:
130 Vgl. Thorau 2012, Vom Klang zur Metapher, S. 28: »In diesen dichotomen Szenarien scheint das Musikalisch-Metaphorische einen Zwischenbereich zu bilden, der einerseits über Musikalisch-Internes und Struktur hinausgeht, andererseits aber noch nicht an etwas Externes, Gegenständlich-Begriffliches bzw. Semantisches gebunden ist«. 131 Vgl. beispielhaft Spitzer 2004, Metaphor and Musical Thought, S. 3. 132 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übs. von Rudolf Gasché und Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1976, S. 113. 133 Richard Hönigswald, Vom Problem des Rhythmus. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie, Leipzig 1926, S. 53. Nicht-Rhythmisches ist also immerzu nur »noch nicht« Rhythmisches. 134 Margaret Keiver Smith, »Rhythmus und Arbeit«, in: Philosophische Studien, Bd. 16, Leipzig 1900, S. 292.
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»Rhythm has been classified as alternatively organic or artificial; as oppressing or liberating; as registering the body or echoing the machine; and as being either absolutely critical or completely unnecessary to poetry. In many ways it is the ideal ideological cipher, since it can so easily signify; what rhythm ›means‹ depends on who is using it and in what context.«135 Die starke Widerständigkeit des Rhythmus gegen das Wesen der Metapher hingegen ermöglicht eine Erklärung dafür, warum der Begriff sich so gut dafür eignet, diesen »vorkritischen« Status zu bewahren, obgleich er offenkundig eine rationale Subjektkomponente mit beinhalten kann.136 Eine weitere Voraussetzung dieser Tendenz ist, dass der nicht-metaphorische Rhythmusbegriff Elemente wie die Periodizität, den geordneten Wechsel und die zyklische Wiederkehr umfasst, die tatsächlich auch in kosmischen bzw. natürlichen Phänomenen vorliegen.137 Daraus ergeben sich erste und grundlegende übertragene Redeweisen wie diejenige von einem »Rhythmus der Jahreszeiten«.138 Diese Fälle gewöhnen jedoch womöglich den Leser, eine nicht-metaphorische Bedeutung des Rhythmus auch noch in stärker geweiteten Kontexten zu akzeptieren. Zyklusdenken und Periodizität binden den Rhythmus einerseits am engsten an konkrete Zeitund Bewegungsmuster zurück und ermöglichen es doch andererseits, aus diesen Mustern die am stärksten umfassenden Bestimmungen des Rhythmus abzuleiten.
3.3.2
Non-zyklische Aktualisierung und zyklisches Potenzial
Eine knappe Definition des Rhythmus, die dessen Interferenz-Bestimmung direkt auf konkrete zeitliche Ablaufprinzipien übertragt, könnte folgendermaßen vorgegeben werden: Rhythmus ist das Zusammenspiel von non-zyklischer Aktualisierung und zyklischem Potenzial. Eine zyklische Aktualisierung umfasst dasjenige, was bei einer Wiederholung als identisch markiert wird; eine non-zyklische Aktualisierung umfasst dasjenige, was bei einer Wiederholung als nicht-identisch markiert wird. In einer nicht-identischen Wiederholung aber gibt es ein zyklisches Potenzial, das neue Bestimmungsfaktoren für eine identische Wiederholung in den nicht-identischen Markierungen identifiziert, und in der identischen Wiederholung gibt es ein non-zyklisches Potenzial, das umgekehrt neue Bestimmungsfaktoren für eine nicht-identische Wiederholung in zunächst ein-
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Michael Golston, Rhythm and Race in modernist Poetry and Science, New York 2008, S. 7. Vgl. als typische Referenz auf die dafür zentralen Dualismen Willy Drost, Die Lehre vom Rhythmus in der heutigen Ästhetik der bildenden Künste, Leipzig-Gautzsch 1919, S. 100: »Rhythmus ist ein Akt des Subjekts, der niemals wahrgenommen, sondern nur erlebt werden kann«. Vgl. auch Paul Fraisse, »Is rhythm a gestalt?«, in: Suitbert Ertel/Lilly Kemmler/Michael Stadler (Hg.), Gestalttheorie in der modernen Psychologie, Darmstadt 1975, S. 227: »At first sight, rhythm is a perceptual experience. Tentative definitions of rhythm may be given in terms of order, periodicity or structures. But such definitions cause confusion, because the same content is relevant to the rhythm of seasons, nycthemeral rhythm, as well as to waltz rhythm. And only in the last case is there an experience of rhythm«. Vgl. zu diesem »nicht unbedingt metaphorischen« Beispiel auch Luckner 2000, »Zeit, Begriff und Rhythmus«, S. 129.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
mal identischen Markierungen identifiziert. Das folgende Teilkapitel wird versuchen, diese gedrängten und nicht voraussetzungsfreien Annahmen weiter zu klären. Der Begriff einer non-zyklischen Aktualisierung verweist darauf, dass der Rhythmus zwar meist Kontexte der Zyklusbildung voraussetzt, aber mit diesen niemals gleichgesetzt werden kann. Darin liegt der Unterschied des Rhythmus zum Metrum als psychologischer Projektion, das vom Rhythmus als Ablaufprinzip phänomenaler Präsenz grundlegend getrennt bleibt. Der Begriff eines zyklischen Potenzials impliziert hingegen, dass als ein spezifischer Rhythmus genau jene Vorgänge bezeichnet werden können, die ein Potenzial zur Zyklusbildung aufweisen. Dies setzt eine Begrenztheit und Gliederung voraus, die umgekehrt eine grundlegende Gemeinsamkeit von Rhythmus und Metrum herstellen. Ein erstes mit dieser Definition leicht different zu bestimmendes Problem in einer Ästhetik des Rhythmus ist die Frage, ob Wiederholung zwingend eine Bedingung des Rhythmus sein muss. Eine explizite Ablehnung dieser einschränkenden Bedingung auf empirischer Basis findet sich im Kontext räumlicher Rhythmuskonzepte bei Heinz Werner: »Um das rhythmische Minimum bloßzulegen, führte ich meinen Vpn. einzelne Takte vor; ich forderte sie auf, sich tunlichst auf dieses einzeltaktliche Erlebnis zu beschränken ohne assimilativ zu ergänzen, wie dies z.B. durch Ansetzung eines innerlich erzeugten Taktteiles, Wiederholung im Geiste usw. der Fall wäre.«139 Die dabei gefundenen Ergebnisse aber bleiben nicht nur durch ihren Austausch der metrischen Zeitrepetition mit der symmetrischen Raumrelation problematisch. Einerseits scheint den räumlichen Konfigurationen, die die kleinsten rhythmischen Figuren bestimmen sollen, bereits zu viel Repetition eingeschrieben: Es handelt sich um Figuren mit dem Aufbau 1-2-1 bzw. 2-1-2, die nur dann nicht auf Repetitionen ihrer Teilglieder basieren, wenn die räumlich-symmetrische Konzeption an der zentrierenden Mittelachse ausgerichtet wird. Andererseits sind zweigliedrige Figuren, die räumlich nicht als rhythmisch gelten sollen, von der latent in solche Figuren eingeschriebenen Repetition zu sehr getrennt: Sobald man in diesen Figuren eine imaginierte Wiederholung hinzutreten lässt, wirken sie als spezifische Rhythmusträger (vgl. Abbildung 3.1).140 Der Begriff des zyklischen Potenzials soll eben diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringen: Reale Repetition ist keine Bedingung für ein rhythmisches Potenzial, aber das Potenzial der Repetition ist eine Bedingung für jede Form der rhythmischen Realisierung. Rhythmisch ist mit anderen Worten das, was sich gut wiederholen lässt. Diese Wiederholung aber muss nicht als reale Stimulation, sondern kann auch als antizipierende Simulation erfolgen. Die wesentlichere Frage dürfte also lauten: »Gibt es Wiederholung ohne Rhythmus?«141
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Heinz Werner, »Rhythmik, eine mehrwertige Gestaltenverkettung. Eine phänomenologische Studie«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie, Bd. 82 (1920), S. 204. Vgl. zur verbreiteten Gegenposition u.a. Fraisse 1974, Psychologie du rythme, S. 11: »Personne ne pense qu’il y a rythme sans répétition – au moins implicite«. 140 Die Grafik ist entnommen Werner 1920, »Mehrwertige Gestaltenverkettung«, S. 212. 141 Vgl. auch Andreas Stahl, Kriterien der Wiederholung, in: Dissonanz, Heft 84 (2003), S. 12.
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Abbildung 3.1: Unrhythmische (obere Zeile) und rhythmische (untere Zeile) Elementarformen nach H. Werner
Der Wiederholungsvorgang verbindet zeitlich-akustische und räumlich-optische Rhythmen. Im Kontext räumlicher Rhythmik findet man daher auch jene Definitionen, die den Rhythmus am eindeutigsten auf das Merkmal des zyklischen Potenzials zurückführen.142 Die Kategorie der Wiederholung stellt Rhythmus allgemein in eine Verwandtschaft mit allen Begriffen, in denen als Vorstellungsebenen »Zeit« und »Kreis« zusammengedacht werden: Rhythmus wird beständig mit Begriffen wie Periodik und Zyklus rhetorisch gleichgesetzt, soll jedoch von diesen unterschieden bleiben. Die Auseinandersetzung um diese Begriffe markiert letztendlich einen Deutungskonflikt konkurrierender Wissenschaften: In den empirischen Fächern wird der Begriff des Rhythmus auch dort verwendet, wo dessen Bedeutung mit Periodizität oder Zyklusbildung zusammenfällt; in den stärker hermeneutischen Disziplinen wird die Intentionalität des Subjekts zum mitbestimmenden Faktor erhoben, wodurch periodische Objektrhythmen gänzlich vom Begriff des Rhythmus abgetrennt werden.143 Der Begriff der Periodik nun erscheint schon durch die Reihe eines einfachen wiederkehrenden Ereignisses bestimmbar (also eine Zahlenreihe 1-1-1-1-1). Die periodische Durchgliederung der Zeit kann in einer naturwissenschaftlichen Sprachregelung bereits als rhythmischer Vorgang angesehen werden. Der Begriff des Rhythmus verschiebt sich umso stärker hin zum Phänomen der Periodizität, je weiter er aus seiner ästhe-
142 Schmarsow 1922, »Lehre vom Rhythmus«, S. 114: »So wird also jede unverständliche Reihe, soweit sie eine solche ist, keinem Rhythmus unterworfen sein, jede verständliche Reihe hingegen, soweit sie eben dies ist, die Möglichkeit eines Rhythmus einschließen.« Vgl. auch die Definition der The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics, zitiert bei Golston 2008, Rhythm and Race, S. 7: »A cadence, a contour, a figure of periodicity, any sequence of events or objects perceptible as a distinct pattern capable of repetition and variation«. 143 Vgl. als Zusammenfassung der Debatte Peter Röthig, »Zur Theorie des Rhythmus«, in: Gertrud Bünner/Peter Röthig (Hg.), Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung, Stuttgart 1971, S. 13ff.
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tischen Bestimmung gelöst wird.144 Der Begriff der Periodik dagegen wird bei seiner Parallelisierung mit dem Rhythmusbegriff in sich differenziert: Erstens kann die Wellenförmigkeit der Bewegung und damit ein stärker rhythmisch gegliedertes Moment zur Bedingung des Begriffs der Periodizität erhoben werden (gleichsam als Zahlenreihe 1-0-1-0-1-0; es begegnet demnach neuerlich das Problem der »rhythmisierenden« Reihe).145 Zweitens kann Rhythmus empirisch auch als die in sich gleichmäßige Bewegungsvorgabe gegenüber der als Störung wirkenden Periodizität aufgefasst werden (wie bei der Rede von periodischen Schwankungen in einem sonst stabilen rhythmischen Ablauf).146 Ein Zyklus weist demgegenüber immer eine »Nachtseite« oder »Schattenseite« auf: Die Phasen der Absenz des Anfangsreizes in einem periodischen Ablauf werden hier also positiv zu eigenen Phasen einer vollständigen zyklischen Bewegung erhoben. Ein Zyklus basiert damit notwendig auf einer zweiwertigen Ereigniskette (einer Zahlenreihe 1-2-1-2); anders als bei der Periodizität ist es möglich, einen zumeist willkürlich gewählten Referenzpunkt zum Maß des gesamten Zyklus zu bestimmen.147 Die Konflikte um diese Begriffe erreichen in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen ganz eindeutig in der Quellenlage erkennbaren Höhepunkt. Sie markieren den Moment, in dem die eher fragile Allianz zwischen »esoterischen« und »empirischen« Rhythmusforschungen endgültig zerbricht: »Wenn man Intentionalität als mitbestimmend für die Bildung des Begriffes Rhythmus auffaßt, so muß man – entgegen dem seit der Antike herrschenden Sprachgebrauch – die unwillkürlichen Rhythmen mit dem Begriff der Periodik zu erfassen versuchen.«148 Ein ganzheitlicher Begriff des Subjektrhythmus und ein positivistischer Begriff der empirischen Objektrhythmen drohen vollständig auseinanderzutreten. Damit wird jedoch die Basis der »esoterischen« Lehre von der objektiven rhythmischen Verfasstheit der Welt hinfällig; die Abgrenzung vom empirischen Paradigma der Periodizität »subjektiviert« das Rhythmusdenken: »Tatsächlich würde sich für diese Naturerscheinungen der Terminus Periodik statt Rhythmik ganz generell auch darum empfehlen, weil diese objektive Periodizität als eine rhythmische von uns nicht ohne Anteil unserer Subjektivität erlebt wird.«149
144 Vgl. den umfassenden Versuch zur Abgrenzung der beiden Begriffe bei Albrecht Bethe, »Rhythmus und Periodik in der belebten Natur«, in: Studium Generale 2/2 (1949), S. 67-73. 145 Vgl. zum Beispiel Bolton 1894, »Rhythm«, S. 146. 146 Vgl. dazu ausführlicher Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung S. 18. 147 Vgl. auch Dux 1989, Zeit in der Geschichte, S. 126. 148 Weithase 1955, »Grundfragen des sprachlichen Rhythmus«, S. 332. 149 Erich Rothacker, »Rhythmus in Natur und Geist«, in: Studium Generale 2 (1949), S. 161. Vgl. am selben Ort Trier 1949, »Rhythmus«, S. 137f. Vgl. zur Gültigkeit des Arguments bis in die Gegenwart zudem Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999, S. 8.
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Es erscheint also fast immer notwendig, einen Mehrwert des subjektiv bestimmten Rhythmus gegenüber natürlichen Zyklusvorgängen zu unterstellen.150 Grundsätzlich gilt dabei allerdings, dass die Begriffe der Periode, des Zyklus und des Rhythmus – auch als Form einer variatio delectat – fast immer füreinander einstehen können und beinahe wahllos ausgetauscht werden dürfen: »Von der Ebene der Zellen über die Organe bis hin zur Gehirnaktivität ist unsere Physiologie an diese Periodizitäten gebunden. Der weibliche Zyklus ist ebenso auf sie abgestimmt wie unsere kollektiven Aktivitäts- und Ruhephasen; sie alle fügen sich zu einer prachtvoll orchestrierten und koordinierten Symphonie der Rhythmen.«151 Selbst in derartigen Zitaten (für die sich mühelos zahllose Beispiele anführen ließen) sind noch Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, nach denen Periodik der am stärksten empirisch-objektive Begriff verbleibt und Rhythmus als der am stärksten ästhetisch-subjektive Begriff erscheint; das Zitat nutzt dessen relative Resistenz gegen eine rein metaphorische Bestimmung, um das Bild mit der am stärksten metaphorischen Begriffsbildung abzurunden. Man könnte die Begriffe, die Zeit- und Kreisabläufe miteinander verbinden, versuchsweise auch mit dem Modell der minimalen Restpräsenzen in Beziehung stellen: Periodizität wäre im Sinne der Alltagssprache zu bestimmen als maximale Verräumlichung der Zeit. Man spricht von einer Wahlperiode oder einer Jahresperiode und bezeichnet damit nicht nur die zeitliche Einheit, in der das periodische Ereignis wiederkehrt, sondern den gesamten auf diese Weise begrenzten und verräumlichten Zeitabschnitt. Man kann in sinnvoller Weise sagen: »Wir befinden uns jetzt in der 47. Wahlperiode, die noch zwei Jahre andauern wird«. Man befindet sich also immer in einer ganzen einzelnen Periode, aber nur in einem einzelnen Teil eines Zyklus. Für den Wechsel zwischen diesen räumlich-ganzheitlichen Perioden ist zunächst der Begriff des Turnus zuständig: Er wäre in dem gewählten abstrakten Modell als minimale Verzeitlichung des Raums zu bestimmen. Eine räumliche Größe (zum Beispiel ein mit einem Amt zu besetzender Stuhl) wird über das zeitliche Maß des punkthaften und turnusgemäßen Wechsels definiert. Ein Zyklus verbindet diese beiden Ablaufformen und wäre also bestimmt sowohl als maximale Verräumlichung der Zeit und als minimale Verzeitlichung des Raums: Ein Zyklus fasst längere Zeitstrecken in stabilen Zyklusphasen zusammen und verräumlicht auf diese Weise den stetigen zeitlichen Ablauf, und er prononciert einzelne Wechselpunkte, an denen die räumlichen Phasen am stärksten in der Lebenserfahrung als zeitliche Größen hervortreten.152 150 Vgl. zu dieser typischen Argumentation etwa Benesch 1955, »Problem des Begriffes Rhythmus«, S. 368: »Was ist dieses ›Mehr‹? Es ist die Verzahnung der Merkmale und schon der Grundbestandteile untereinander zu etwas gänzlich Neuem: zu einer Ganzheit«. 151 Barbara Adam, Das Diktat der Uhr. Zeitformen, Zeitkonflikte, Zeitperspektiven, übs. von Franz Jakubzik, Frankfurt a.M. 2005, S. 31. 152 Vgl. John Cohen, »Subjective Time«, in: J. T. Fraser (Hg.), The Voices of Time. A Cooperative Survey of Man’s View of Time as expressed by the Sciences and by the Humanities, Amherst 2 1981 S. 265: »The essence of the cyclical motion is that a stage is reached at which the world comes to an end and then recommences afresh. Notions of this kind certainly survive in modern societies which are
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Man kann mit diesem Modell den Rhythmus somit erneut als minimale Verräumlichung der Zeit und als maximale Verzeitlichung des Raums bestimmen. Ein rhythmischer Ablauf vermag anders als ein Zyklus die periodische Stabilität und den punktuellen Wechsel voneinander zu trennen: Die periodischen zeitlichen Phasen werden durch individuelle Innenverläufe gesteuert (als non-zyklische Aktualisierung), die punkthaften Wechsel werden in eigene stabile Patternabfolgen überführt (als zyklisches Potenzial). Das musikalische Metrum erscheint gemäß diesem Modell als ein in sich notwendig zyklischer Vorgang und somit vor allem erneut als eine Form der maximalen Verräumlichung der Zeit. Das metrische Prinzip wird daher nicht nur die »subjektbezogene« Seite der rationalen Perzeption repräsentieren, sondern kann auch der »objektbezogenen« Seite der natürlichen Zyklusbildung zugeordnet werden (dies bleibt jedoch die Ausnahme, da die »esoterische« Rhythmustheorie letztlich nichts anderes ist als der Versuch, diese Berechenbarkeit der natürlichen Zyklusbildung mithilfe des Begriffs der Polarität vom rationalen Metrum strikt zu trennen).153 Ein Nachteil in einer Bestimmung des Rhythmus als non-zyklische Aktualisierung und zyklisches Potenzial ist offenkundig: Die Definition bleibt allzu eng an einen selbst wieder der Definition bedürftigen Begriff wie denjenigen des Zyklus zurückgebunden. Dieser Nachteil verwandelt sich jedoch in einen Vorteil, wenn dadurch das geläufigere Problem einer allzu weit gefassten Definition des Rhythmus umgangen wird. Diesem Vorwurf ist vor allem schon die Bestimmung des Rhythmus als Ordnung in der Bewegung ausgesetzt (denn unzweifelhaft gibt es geordnete Bewegungen, die mit den spezifisch rhythmischen Formen einer geordneten Bewegung nichts gemeinsam haben müssen).154 Am häufigsten findet man in immer wieder neuen Varianten Definitionen, die den Rhythmus in irgendeiner Weise aus den Vorgängen der Gliederung, Wiederholung und Gestaltung von Zeit zu bestimmen versuchen. Diese Definitionen versuchen zumeist, bereits eine Vorentscheidung zugunsten der stetigen oder der gliedernden Einzelkomponenten anzuzeigen. Dabei bleibt jedoch auch ein Konflikt zwischen einer »empirischen« Darstellungsperspektive und einem »esoterischen« Einfluss der Klages-Schule in den Definitionen häufig erkennbar.155 Seltener findet man Definitionen, welche diesen Widerstreit konkret an spezifischen Phasen einer einzelnen rhythmischen Periode festmachen. Die relative Trägheit der schweren Zählzeit als Faktor der Hemmung und die relative Laxheit der leichten
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supposed to have adopted a linear conception of historical time. For example, when we extend a wish for a ›Happy New Year‹, we never attempt to stretch the wish for two years«. Vgl. etwa Helbling 1999, Rhythmus, S. 84: »Die Differenz zwischen Rhythmus und Metrum wird so zur Spannung zwischen subjektivem und objektivem Lebensverständnis; auch: zwischen Offenbarungs- und Naturreligion«. Vgl. zu diesem Argument Albert Willem de Groot, »Der Rhythmus«, in: Neophilologus 17 (1932), S. 87: »Umgekehrt gibt es aber viele ökonomische Bewegungen, welche nun einmal nicht das Rhythmuserlebnis hervorrufen; man kann ökonomisch eine Zigarre anzünden oder eine Tür aufmachen«. Vgl. beispielhaft Trier 1949, »Rhythmus«, S. 136: »Rhythmus ist die Ordnung im zeitlichen Verlauf gegliederter Gestalten, die durch regelmäßige Wiederkehr wesentlicher Züge ein motorisch gestimmtes Erwartungsgefühl befriedigt«.
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Zählzeiten als Faktor des Antriebs bestimmen dann zum Beispiel die beiden Seiten einer rhythmisch polaren Bewegung.156 Der Vorteil der vorgeschlagenen Definition liegt darin, dass die Teilkomponenten der non-zyklischen Aktualisierung und des zyklischen Potenzials den Rhythmus von vornherein auf eine Präsenz gegenstrebiger Kräfte festlegen. Die non-zyklische Aktualisierung markiert eine »analoge« Teilbestimmung, das zyklische Potenzial komplementär die »digitale« Teilbestimmung. Die einseitigen Definitionen des Rhythmus, die zugunsten oder zuungunsten seiner metrischen Eigenschaften gewichten, können mit diesem Modell wirkungsvoll hinterfragt werden. Beispielsweise lassen sich vier verschiedene Möglichkeiten bestimmen, die non-zyklische Aktualisierung zur vordringlichen Eigenschaft des Rhythmus zu verallgemeinern. Sie vertreten idealtypisch die vier Hauptströmungen der Rhythmustheorie im 20. Jahrhundert. 1. Non-zyklische Aktualisierung der »esoterischen« Rhythmustheorie: Der Unterschied ähnlicher rhythmischer Erscheinungen und genau gleicher metrischer Einteilungen soll für die Trennung organischer Lebenskräfte von der rationalen Geisttätigkeit einstehen: »In allem sich Bewegenden ist nichts mathematisch Exaktes gegeben, sondern ein von gewissen feinen Abweichungen unregelmäßig umranktes Gesetz.«157 Dies erzeugt das logische Problem, dass der Rhythmus mit der ganzen Welt verbunden scheint, während das Metrum zur Sonderform des menschlichen Geistes deklariert wird. Das Prinzip der non-zyklischen Aktualisierung wird in dieser weiten Bestimmung zu einer Tautologie für die empirische bzw. phänomenale Wirklichkeit an sich, in der grundsätzlich alle Ereignisse kleine Unterschiede und feinste Abstufungen produzieren: »Alle lebendigen Formen, auch die Bewegungsbahnen leiblicher Bewegung kennen keine Wiederholung. Nicht zweimal geht zur gleichen Zeit die Sonne auf, nicht zweimal wandelt der Mond im ›gleichen‹ Raume die ›gleiche‹ Bahn, nicht zweimal bricht zur ›gleichen‹ Stunde der Frühling aus, nicht zweimal fällt in den ›gleichen‹ Raum der Herbstnebel ein.«158 Diese Tatsache kann aber zur Bestimmung des Rhythmus offenkundig nicht mehr sehr viel beitragen: »Diese Variabilität, durch die die Elemente auch des gleichförmigsten ›Rhythmus‹ sich in der Tat von den Gliedern des entsprechenden ›Metrums‹ unterscheiden, charakterisiert also das rhythmische Erlebnis nicht, insofern es ein rhythmisches, sondern insofern es ein Erlebnis ist.«159 Rhythmus als Ähnlichkeit zu bestimmen, macht diesen vielen anderen Gegenständen ähnlich: Die Differenz eines Rhythmus, der die metrische Norm taktmäßiger Gleichheit nicht erfüllt, wird aus einer Eigenschaft abgeleitet, die nahezu jeder Gegenstand
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Vgl. zu dieser Form der Definition Ettlinger 1900, »Ästhetik des Rhythmus«, S. 185. Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 87. Rudolf Bode, Das Lebendige in der Leibeserziehung, München 1925, S. 34f. Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 393.
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des Lebens ebenso besitzt. Daher wird die non-zyklische Aktualisierung in der »esoterischen« Perspektive zum Symptom eines noch umfassenderen Gegensatzes (der aus heutiger Sicht mit dem Kategorienpaar des »Analogen« und des »Digitalen« umrissen werden kann). 2. Non-zyklische Aktualisierung der »kritischen« Rhythmustheorie: Das Aufscheinen einer rein empirischen bzw. phänomenalen Restbestimmung am Rhythmus ist fortan kein Merkmal eines allgemeinen Weltprinzips mehr, sondern das Merkmal eines spezifischen ästhetischen Objekts. Je stärker ein Kunstwerk sich in verschiedenen Medien an Konzepten radikaler Abstraktion und Reduktion ausrichtet, desto stärker erhalten in der Rezeption dieser »Anti-Kunst« die Elemente einer verbleibenden nonzyklischen Aktualisierung eine grundlegende Relevanz. Die minimalen Abweichungen und Abstufungen sind nicht mehr empirische Restbestimmungen, die für jede Form künstlerischer Produktion notwendig sind, sondern ästhetische Minimalbestimmungen. Der Verweis auf einen Rhythmus, dessen Qualität der non-zyklischen Aktualisierung gerade in den einfachsten künstlerischen Formen erst hervortritt, in hintereinander gesetzten Linien und Streifen, monochromen Farbflächen oder geometrischen Punktreihen, dient als Nachweis für einen verbleibenden Gestaltungswert: »Die manuelle Pinselführung ist ablesbar; keine Linie entspricht exakt einer anderen.«160 Der Vorgang der non-zyklischen Aktualisierung erhält hier eine gegenteilige Zuschreibung: Als »esoterisches« Lebensprinzip verweisen die Abweichungen auf die notwendige Bedingung einer fehlenden Intentionalität (einen absenten Autor), nun gelten dieselben Abweichungen als hinreichende Bedingung für eine vorhandene Intentionalität (einen weiterhin präsenten Autor). Die Aussagen suggerieren eine minimale ästhetische Mindestbestimmung, wo zunächst einmal lediglich eine minimale empirische Restbestimmung vorliegt. Dieser Verweis erscheint somit nur dann sinnfällig, wenn die ästhetische Konfrontation zwischen dem reduzierten Inhalt und dem performativen bzw. produktiven Schaffensakt maximal gesteigert wird. In einer digitalen Produktionskultur verlieren diese minimalen Differenzen ihre ästhetische Bedeutung, wenn der Produktionsakt selbst auf wiederholbare Medienspeicherungen zurückgreift.161 Zudem muss das Positive der Abweichungen in einer non-zyklischen Aktualisierung stets auf die unwillkürlichen zeitlichen Minimalwerte und damit wohl auch auf zyklische Musterabfolgen beschränkt bleiben, an denen die Abweichungen erst mit dieser Positivbedeutung hervortreten. Niemand käme auf die Idee, den Zugfahrplan der Deutschen Bahn dadurch aufzuwerten, dass die »metrische« Pünktlichkeit durch verschiedenste »rhythmische« Formen der Variantenbildung einer starken non-zyklischen Aktualisierung unterworfen wird. Die non-zyklische Aktualisierung im Rhythmus wird so zum Abwehrreflex eines alten Vorwurfs gegen die neue Kunst, nämlich den fehlenden handwerklichen Exper160 Zit. nach Madeleine Schuppli (Hg.), Rhythm in it. Vom Rhythmus in der Gegenwartskunst, Luzern 2013, S. 55. 161 Vgl. allerdings Philip Auslander, Liveness. Performance in a mediatized culture, London 1999, S. 45: »Since tapes, films, and other recording media deteriorate over time and with each use, they are, in fact, physically different objects at each playing, even though this process may become perceptible only when it reaches critical mass«.
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tennachweis, der in Sätzen wie »Das könnte ich auch selbst so machen« oder »Und das soll noch Kunst sein« zum Ausdruck gebracht wird. Die Apologie mithilfe der non-zyklischen Aktualisierung funktioniert allerdings nur dort, wo eine möglichst kleine und »subversive« Ablaufschicht zum Störfaktor in einer mittleren Ablaufschicht der zyklischen Rasterung erhoben werden kann, weshalb für die jeweils höheren Ablaufschichten oftmals starke formale Reduktionismen notwendig werden.162 Dies gilt auch für die Rhythmus-Definition in Tausend Plateaus, in der die beiden Bestimmungen der Interferenz und der non-zyklischen Aktualisierung direkt in Beziehung zueinander gestellt werden: »Bekanntlich ist der Rhythmus weder Maß noch Kadenz, er ist nicht einmal eine unregelmäßige Kadenz: nichts hat weniger Rhythmus als ein Militärmarsch. Das Tam-tam ist nicht 1-2, der Walzer ist nicht 1-2-3 und Musik ist nicht binär oder ternär, sondern hat, wie in der türkischen Musik, eher 47 verschiedene Formen von tempo primo.«163 Die triviale Form der empirischen Zeit wird in der Musik jedoch durch die nicht-triviale Instanz der einzelnen Aufführung repräsentiert. Man findet in Tausend Plateaus sicher in einem halben Dutzend zentraler Zitate eine Strategie, genau an jenem Punkt, an dem der Restwert rationaler Ordnungen verhandelt werden müsste, in die Welt der performativen Außenbestimmungen zu wechseln: Ein Rhizom hat keine Punkte, weil Glenn Gould auf eine bestimmte »lineare« Weise Bach spielt, ein Ritornell ist ein Apriori der Zeit, weil es sich verschiedenen Tempi öffnet, und ein Tam-tam ist nicht 1-2, weil die non-zyklische Aktualisierung auch für ein Instrument gilt, dessen perkussive Logik mit metrischen Akzentmarkierungen assoziiert wird (die Autoren scheinen eher auf den Namen als den Klang des Instruments zu zielen). Das Problem in allen diesen Verweisen ist, dass Interferenz und non-zyklische Aktualisierung nicht zwingend in einer positiven Korrelation zueinanderstehen. Je stärker der Rhythmus zwischen widerstreitenden Milieus vermitteln soll, desto stärker kann er nicht mehr auf jenen intrikaten Aktualisierungen basieren, die sich am besten für »indigene« Einzelmilieus behaupten lassen (wie in diesem Fall einer nicht näher bestimmten »türkischen Musik«). Die Vereinseitigung der non-zyklischen Aktualisierung ist in der »kritischen« Rhythmustheorie der einzig gangbare Weg, das Eingeständnis einer minimalen Restpräsenz metrischer Rhythmusanteile zu vermeiden.164 Diese Rhetorik lässt
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Vgl. Volker Schürmann, »Reflexion und Wiederholung. Mit einem Ausblick auf ›Rhythmus‹«, in: Franz Bockrath/Bernhard Boschert/Elk Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, Bielefeld 2008, S. 67: »Metronomische Wiederholungen sind nicht tote Wiederholungen, aber sehen eben genau wie tote Wiederholungen aus. Wiederholungen müssen offenbar ihre Differenzen präsentieren, um als rhythmische zu erscheinen«. 163 Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 427. Der Bekannte, mit dem der Satz anfängt, ist dabei Olivier Messiaen, aus dessen Rhythmustheorie die Aussage zum Militärmarsch exakt entnommen ist (auch Bartóks Begriff des Tempo giusto und Tempo rubato könnte eine Rolle spielen). Vgl. zu dieser Anlehnung Steve Goodman, Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, Mass. 2010, S. 115f. 164 Es sei vermerkt, dass gerade diese Restpräsenz die eigene Definition des Rhythmus bestimmt bei Olivier Messiaen, Traité de rythme, de couleur et d’ornithologie, Textauswahl in deutscher Übersetzung, Hildesheim 2012, S. 40: »Nicht die Wiederholung Desselben, nicht das Abwechseln zwischen
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sich jedoch auch auf Vorgänge der sozialen Konditionierung übertragen und wird zum Beispiel bei Helmuth Plessner mit dem regulierenden sozialen Taktgefühl verbunden: »Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen […]«165 3. Non-zyklische Aktualisierung der »einzelwissenschaftlichen« Rhythmustheorie: Wenn einige Historiker einen Sammelband mit dem Titel Rhythmen der Globalisierung herausgeben, scheint der Begriff dabei auf eine erneut andere Form der non-zyklischen Aktualisierung abzuzielen: »Indem also gleichgewichtig neben der vielzitierten time-space compression Phasen der Entschleunigung, der Abschottung, der Deglobalisierung untersucht werden, entsteht das Bild einer Wellenbewegung, in der Expansion und Stagnation/Kontraktion einander abwechseln.«166 Kulturelle Zyklustheorien sollen nicht mehr eine lineare Fortschrittsgeschichte ersetzen, sondern als rhythmisches Störelement in die Akzeleration der Globalisierung eingesetzt werden. Eine non-zyklische Aktualisierung ergibt sich aus einem Modell der Markierung der Eckwerte: Wie ein Fahrzeug vor einer Kurve abbremst und nach einer Kurve wieder beschleunigt, soll auch der Vorgang der Globalisierung nicht als einförmige Linienbewegung, sondern als rhythmisierte Wellenabfolge konzipiert werden. Auch diese auf Expansions- und Kontraktionsphasen zielende Ansicht von der non-zyklischen Aktualisierung ist in verschiedensten Theoriefeldern nachweisbar. Der Rhythmusbegriff bleibt dabei stärker an zyklisch repetierte Aktualisierungen und antizipierbare Vorgänge gebunden: »Das Zustandekommen des rhythmischen Geschehens bei all diesen ›Kippvorgängen‹ beruht auf der gleichen Erscheinung: Eine Spannung baut sich langsam auf und führt zu einer Entladung, sowie diese eine gewisse, immer gleichbleibende Höhe erreicht hat.«167 Dasselbe Prinzip kann auch auf die menschliche Zeitwahrnehmung übertragen werden: »Es scheint mir in der Tat dies das Merkmal früherer Zeitmessung zu sein, daß sie anders als die linear-mechanische Uhrzeit die Zeit zwar in gleichbleibend wiederkehrenden Kreisen, Jahren, Wochen, Tagen organisiert, jedoch innerhalb dieser Kreise keinen
Demselben und dem Anderen, sondern die Folge von Demselben, das immer anders ist, und dem Anderen, das immer irgendeine Verwandtschaft zu Demselben aufweist«. 165 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924, S. 98. 166 Peter Feldbauer/Gerald Hödl/Jean-Paul Lehners (Hg.), Rhythmen der Globalisierung. Expansion und Kontraktion zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert, Wien 2009, S. 9. 167 Bethe 1949, »Rhythmus und Periodik«, S. 70. Vgl. zum Rhythmus der Kontraktion des Herzmuskels nach diesem Modell auch Kenneth Jon Rose, Die menschliche Uhr. Von der Geburt bis zum Tod – die Abläufe in unserem Körper, übs. von Ernst Peter Fischer, München 1994, S. 11.
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gleichmäßigen Ablauf, sondern intensive und weniger intensive Phasen einrichtet, der Zeit gleichsam einen Atem mit wechselndem Puls einflößt und damit die wechselnden Intensitäten sowohl der natürlichen Kreisläufe von Licht und Schatten, Wärme und Kälte wie auch die emotionalen und religiösen Stimmungen in die Zeitmaße einbaut.«168 Die non-zyklische Aktualisierung erzeugt in all diesen Fällen eine »analoge« Variantenbildung für »digitale« Punktbestimmungen nicht mehr durch eine grundierende Stetigkeit, sondern durch einen unerwarteten Richtungswechsel in ruckartigen Bewegungsmustern. Ein Konflikt zur non-zyklischen Aktualisierung tritt vor allem bei Wilhelm Fliess zutage, der eine eigene Lehre der festen rhythmischen Zahlenzyklen aufstellt: »Es gibt aber noch eine zweite Eigentümlichkeit der lebendigen Vorgänge, die sie von den anderen unterscheidet. Sie sind nicht bloß ungleichförmig, sie sind auch unstetig. Sie erfolgen ruckweise.«169 Die für diese Zyklen eingesetzten exakten Zahlen müssen in den Rechnungen exakt aufgehen, sonst gingen die Rechnungen mit anderen Zahlen auch, doch dass sie genau aufgehen, widerspricht dem Wesen der Natur, niemals kalendarisch gleich, sondern immer nur ähnlich in ihren Erscheinungen zu sein. 4. Non-zyklische Aktualisierung der »empirischen« Rhythmustheorie: Die empirische Tatsache der non-zyklischen Aktualisierung wird zu einer relevanten Erfahrung der ästhetischen Theorie, sobald das rhythmische Mikrotiming den weiten in den engen Tatbestand dieses Phänomens überführt. Systematische Abweichungen von der äquidistanten Reihe der akustischen Signale werden bereits in den Experimenten zur »subjektiven Rhythmisierung« nachgewiesen.170 Aber auch in der aktuellen Forschung muss das rhythmische Mikrotiming von der Vorstellung befreit werden, lediglich ein unumgängliches Nebenprodukt der Datenerhebung darzustellen.171 Die non-zyklische Aktualisierung erzeugt jedoch eigene stabile Ablaufprozesse, die sich von einem Erosionsprinzip abgrenzen lassen müssen, bei dem logisch die »[…] ganz geringen Unterschiede der einzelnen Phasen allmählich zu immer größeren Umwandlungen aller Verhältnisse führen.«172 Der lineare Auflösungsvorgang bleibt im zirkularen Ablauf des Rhythmus durch einen lediglich in der Theorie einfach zu formulierenden Grundsatz begrenzt: Die non-
168 Peter Rück, »Die Dynamik mittelalterlicher Zeitmaße und die mechanische Uhr«, in: Hanno Möbius/Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 21. 169 Wilhelm Fliess, Vom Leben und vom Tod, Jena 1909, S. 2f. Vgl. zur Kritik an dieser zahlenmäßigen Fixierung von biologischen Rhythmisierungen schon Ring 1939, Lebewesen im Rhythmus des Weltraums, S. 157. 170 Vgl. zum Beispiel Langelüdekke 1928, »Rhythmus und Takt«, S. 12. 171 Vgl. Christiane Gerischer, O suingue baiano: mikrorhythmische Phänomene in baianischer Perkussion, Frankfurt a.M. 2003, S. 21f.: »Die Größenordnungen der mikrorhythmischen Verschiebungen gegenüber einer abstrakten äquidistanten Gleichmäßigkeit sind so gering, daß sie unter dem Wissen zu subsumieren sind, daß menschliche Handlungen nie mathematisch genau sind. Gegen diese Möglichkeit stehen die Aussagen der befragten Musiker, die sich der mikrorhythmischen Phänomene durchaus bewußt sind«. 172 Carl Haeberlin, Lebensrhythmen und menschliche Rhythmusstörungen, Berlin 1933. S. 2.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
zyklische Aktualisierung muss ihr eigenes zyklisches Potenzial erzeugen. Das Mikrotiming nutzt also die Stabilität einer »rhythmisierten« Reihe (bzw. der generierten Akzentschicht), um die Stabilität der »rhythmisierenden« Reihe (bzw. der generierenden Zählschicht) zu modifizieren. Gemäß einer älteren Ansicht ist diese in sich stabile Modifizierung der einzelnen Zählzeiten rein willkürlich und wird durch die höhere Konstanz der übergreifenden Gruppen ausgeglichen;173 gemäß einer aktuelleren Ansicht erzeugt diese Modifizierung der einzelnen Zählzeiten hingegen das individuelle Profil eines musikalischen Milieus.174 Diese »Rückeinspeisung« der non-zyklischen Aktualisierung in ein eigenständiges und empirisch nachweisbares zyklisches Potenzial scheint jener Punkt zu sein, den die »esoterische« Theorie von Klages nicht für sich akzeptieren kann.175 Es entsteht ein Methodenkonflikt zwischen dem »empirischen Paradigma« der subjektiven Rhythmisierung und dem »esoterischen Paradigma« der rhythmischen Ähnlichkeit. Der Konflikt tritt hervor, sobald der Versuch unternommen wird, die einflussreiche Abgrenzung des Rhythmus vom rationalen Takt durch Klages in einen empirischen Kontext direkt zu übersetzen: »Als Zusammenfassung der bisherigen Erörterungen definieren wir demnach den Rhythmus als die ständige Wiederkehr eines als rhythmische Einheit oder Rhythmuswelle bezeichneten ähnlichen Sachverhalts in ähnlichen Zeiten.«176 Das einfache (und natürlich nicht unlösbare) Problem ist dabei, wie die empirischen Ergebnisse der Probanden anhand dieser Definition eigentlich noch gemessen werden sollen: Ergibt sich die höhere rhythmische Veranlagung dadurch, dass die auch in diesem Fall verwendeten üblichen Klopfaufgaben mit möglichst geringen Abweichungen von der Vorgabe ausgeführt werden, oder ist die höhere Veranlagung gerade erst in der Erzeugung solcher Abweichungen zu erkennen? Im Kontext der zuvor zitierten Definition ergibt sich zum Beispiel die Frage, warum nicht auch Orchester stets nur ähnliche Sachverhalte in ähnlichen Zeiten spielen:
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Vgl. etwa Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 47: »Das rhythmische Ganze übertrifft mit dem Optimalwert für seine Regelmäßigkeit die Teilintervalle um das Dreifache an Genauigkeit. Die rhythmische Periode baut sich nicht aus Einzelintervallen auf, vielmehr hält sie diese zusammen«. Vgl. erneut Gerischer 2003, O suingue baiano, S. 180ff. zum Pattern mittel-kurz-mittel-lang der Unterteilungswerte einer Vierereinheit im Samba (die Verlängerung des letzten Beats als Raum für synkopische Effekte und als Verzögerung des nächsten starken Beats wäre dabei als womöglich kulturübergreifende Tendenz zu diskutieren). Vgl. Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 34f.: »Mäßen wir mathematisch genau die Taktlängen eines tonkünstlerischen Vortrags von rhythmischer Vollkommenheit, so ergäbe sich ein Nacheinander von bald um ein weniges zu kurzen, bald um ein weniges zu langen Takten, für das wir nicht einmal imstande wären, ein Gesetz der Abfolge aufzufinden, geschweige denn der Abweichungsgrößen!«. Lamm 1930, »Experimentellen Untersuchung«, S. 213. Vgl. auch Langelüdekke 1928, »Rhythmus und Takt«, S. 63.
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Die Theorie des Rhythmus
»Der Dirigent vor allem, aber auch jeder Musiker muß kleine und kleinste rhythmische Störungen, metrische Ungenauigkeiten am Spiel des anderen feststellen und genau bezeichnen können, um Verbesserung der betreffenden Stelle zu veranlassen.«177 Die Lösung ist auch hier, bestimmte eigene Regelfälle in den Regelabweichungen des Rhythmus hervorzuheben: »Betonung hat Verlängerung der folgenden Zeitstrecke zur Folge.«178 Von der empirischen Forschung können diese non-zyklischen Aktualisierungen also schon in der ersten Jahrhunderthälfte zum Regelfall rationalisiert werden: »Eine Eigenartigkeit rhythmischer Gestalten besteht darin, daß Schwankungen in der Regelmäßigkeit nicht in jedem Falle zufällige Fehler sein müssen, sondern, wenn sie an einer bestimmten Stelle der Periode bei verschiedenen Vpn wiederkehren, zu den rhythmischen Gestalttendenzen gehören.«179 Daraus ergibt sich eine Theorie der expressiven Devianz als Grundlage der amerikanischen empirischen Musikpsychologie, deren Schwierigkeiten bis heute darin bestehen, dass zum einen unklar ist, auf welcher psychologischen Ebene eine Repräsentation der notationalen Norm ohne non-zyklische Aktualisierung überhaupt vorliegen könnte, und zum anderen unklar ist, welche Form eines stabilisierten zyklischen Potenzials als Normvorgabe einer expressiven, also intentionalen Devianz bestimmt werden kann.180 Die non-zyklische Aktualisierung gehorcht in ihrer wissenschaftlichen Adaption also wiederum einer binären Logik: Die Abweichungen können als Zufallsprodukte komplett herausgerechnet werden oder als intentionale Produkte komplett miteinbezogen bleiben.181 Für die »esoterischen« Theorien hingegen ist vor allem der subjektive Eigenanteil entscheidend: »Was sich jenseits dieser u.E. völlig abstrakt wirkenden Ordnungsprinzipien Metrum und Takt bei dem lebendigen Erleben oder Wiedererleben eines musikalisch-phonetischen Komplexes irrational subjektiviert, das rechnen wir zu den Gebieten Rhythmus, Agogik und Deklamation.«182 Diese »irrationalen« Positionen kämpfen immer mit einem grundlegenden Interessenkonflikt: Es ist zum einen bereits die Ansicht verankert, dass der Gegensatz von Rhythmus und Metrum sich im Gegensatz des phänomenal Gegebenen und des psychologisch
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Lamm 1930, »Experimentellen Untersuchung«, S. 225. Ebda., S. 244f. Dieses Gesetz der »irrationalen Verlängerung der betonten Zeitwerte« findet sich auch in der einzelwissenschaftlichen Forschung (vor allem bei Theodor Wiehmayer) und bindet die rhythmische Ähnlichkeit zurück an die Abbildung metrischer Gleichheit. 179 Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 66. 180 Vgl. Mine Doğantan-Dack, »Philosophical Reflections on Expressive Music Performance«, in: Dorottya Fabian/Renee Timmers/Emery Schubert (Hg.), Expressiveness in music performance. Empirical approaches across styles and cultures, Oxford 2014, S. 7. Die Ausgangstheorie findet sich bei Carl E. Seashore, Psychology of Music, New York 1938, S. 249f. 181 Vgl. Martin Pfleiderer, Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik, Bielefeld 2006, S. 84. 182 Wilhelm Heinitz, Strukturprobleme in primitiver Musik, Hamburg 1931, S. 104.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Gedachten abbilden lässt. Es wird zum anderen aber dieser Gegensatz abgesichert, indem zu den phänomenal vorhandenen metrischen Reihen der psychologisch-irrationale Rhythmus hinzutreten soll. Ein sublimierter Interessenkonflikt um die genaue Funktion der non-zyklischen Aktualisierung bleibt allerdings für die empirische Rhythmustheorie bis in die Gegenwart hinein relevant:183 Rhythmus ist ein idealer Gegenstand zum Nachweis von allen Formen des Mikrotiming, er ist aber auch ein idealer Gegenstand zum Nachweis des Prinzips einer kategorialen Wahrnehmung. Diese beiden Prinzipien scheinen sich als Bestandteile derselben psychologischen Perzeptionen jedoch eklatant zu widersprechen. Es ist unklar, welchen Sinn die mikrorhythmischen Nuancen besitzen, wenn diese im Zurechthören auf ganz wenige Grundproportionen reduziert werden; ebenso kann nur schwer eine kognitiv-neuronale Basis für einen Vorgang angegeben werden, der zwar auf der Ebene der kategorialen Wahrnehmung schon an Proportionen wie 3:4 oder 4:5 scheitert, aber zugleich in den bevorzugten Proportionen wie 1:1 und 1:2 die Qualität der mikrorhythmischen Abweichungen zu honorieren vermag.184 Die pragmatische Abbildung dieses Problems ist, dass sich bis heute die empirische Forschung in zwei Lager teilen lässt: Wer sich mit dem einen Phänomen beschäftigt, vernachlässigt zumeist das andere. Die pragmatische Auflösung des Problems wäre, das Auseinandertreten der beiden Wahrnehmungsmodi wiederum als in sich rhythmischen Vorgang zu bestimmen: In empirischer »Unordnung« tritt die kategoriale Gliederung, in der künstlich erzeugten Ordnung gleicher Zeiten die non-zyklische Aktualisierung stärker hervor.185 Umgekehrt liegt genau hier der Punkt, der es der aktuellen Forschung ermöglicht, die non-zyklische Aktualisierung als Individualisierung des Metrums in den distinkten Ablaufformen einzelner Tänze und Traditionen neu zu konzeptualisieren.186 Dies betrifft oftmals den Sachverhalt, inwiefern ein größerer Grad der Abweichung noch im Rahmen der kategorialen Wahrnehmung toleriert werden kann, oder umgekehrt schon ein kleiner Grad der Abweichung als non-zyklische Aktualisierung ein eigenständiges zyklisches Potenzial entwickeln kann (etwa als eigenständige »mittlere« Zeitlänge, die man zwischen den kurzen und den langen metrischen Zeitereignissen einordnen müsste).187 Unzweifelhaft ist aber, dass in der »kritischen« Rhythmustheorie auch diese ethnologische Begründung, die nun an rhythmischer Komplexität und nicht an reduk-
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Erst rezente Darstellungen streben hier eine Synthese an. Vgl. Henkjan Honing, »Structure and Interpretation of Rhythm in Music«, in: Diana Deutsch (Hg.), The Psychology of Music, London 3 2013, S. 374f. 184 Vgl. Michael H. Thaut, Rhythm, Music, and the Brain. Scientific Foundations and Clinical Applications, New York 2008, S. 6f. 185 Vgl. Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 84, der zwei Versuche durchführt, die genau die gegenläufigen Tendenzen hervorrufen: »Das Gleichmaß fanden wir im Störungsversuch weitgehend hergestellt; während sich in der ›rhythmischen Regelmäßigkeit‹ eine bedeutende Minderung der sonst gefundenen zeitlichen Genauigkeit rhythmischer Perioden ergab«. 186 Vgl. Dirk Moelants, »A Framework for the Subsymbolic Description of Meter«, in: Marc Leman (Hg.), Music, Gestalt, and Computing. Studies in Cognitive and Systematic Musicology, Berlin 1997, S. 269. 187 Vgl. den bereits im Titel programmatischen Aufsatz von Rainer Polak, »Rhythmic Feel as Meter: Non-Isochronous Beat Subdivision in Jembe Music from Mali«, in: Music Theory Online 16/4 (2010).
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tionistischer Einfachheit orientiert ist, dieselbe Funktion eines Abwehrmechanismus gegen den metrischen Rhythmusanteil zugesprochen bekommt: »Die Trommelrhythmen der afrikanischen Musik oder die ebenfalls ausgesprochen komplexen Tanzrhythmen aus dem Balkan klingen für einen mitteleuropäischen Hörer trivial und simpel, weil unser Gehirn die subtilen rhythmischen Schwankungen nicht registriert.«188 Zwischen non-zyklischer Aktualisierung und metrischer Antizipation besteht jedoch nicht ein Verhältnis des wechselseitigen Ausschlusses, sondern eher des wechselseitigen Einschlusses. Das Metrum besitzt gegenüber dem Rhythmus zwar eine komplementäre Funktion, die sich aber aus geteilten Prinzipien ableitet: Das Metrische ist gemäß dieser Logik definiert durch eine zyklische Aktualisierung und ein non-zyklisches Potenzial. Metrische Strukturen sind schlichtweg eine bestimmte Spezies von zyklischen Strukturen, sodass eine zyklische Aktualisierung auch dort wirksam verbleiben kann, wo ein rhythmisches Potenzial nicht mehr vorliegt: Eine metrische Qualität kann nicht nur intern aus einer Reihe rhythmischer Reizmomente abgeleitet werden, sondern kann auch extern einer beliebigen Reizabfolge als chronometrisch gleichförmige Reihe auferlegt werden. Dieser Aspekt ist von der Gestaltprägnanz und Gruppenbildung des Rhythmus deutlich getrennt.189 Ein internalisiertes Metrum ist hingegen die Bedingung für die metrische Qualität des non-zyklischen Potenzials (die einer zyklischen Aktualisierung logisch nachfolgen muss, wohingegen das zyklische Potenzial des Rhythmus einer solchen Aktualisierung logisch vorangehen kann). Der Begriff des non-zyklischen Potenzials besagt, dass jede phänomenale Struktur, die zunächst in zyklischer Aktualisierung erklingt, sich auch partiell von dieser Einbettung lösen kann, ohne als phänomenale Struktur sofort ihre primär metrische und damit auch partiell psychologische Konnotation zu verlieren: Aus einem Uhm-Taa-Taa, Uhm-Taa-Taa, Uhm-Taa-Taa kann ein »Uhm-Uhm-Taa-UhmTaa-Taa-Taa« werden, ohne dass die »metrische Leseoption« als Kolorierung bzw. Konnotation der beiden Elemente sogleich gänzlich verloren geht. Der medienhistorische Ort dieser Erfahrung weist auf Sirenenexperimente zurück, wenn genau umgekehrt in komplexen periodischen Wellenformen mithilfe der Fourier-Analyse die einfachen Grundfrequenzen bestimmt werden können.190 188 Kai Christian Ghattas, Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. und 13. Jahrhunderts, Köln 2009, S. 33. 189 Vgl. Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 32: »Wiederholen sich zum Beispiel verschiedene zeitliche Reize von unterschiedlicher, sich nicht entsprechender Qualität, wie etwa Pfiff, Haus, Schrei, Baum, Trompetenton, Schmerz, Hundebellen, so wird sich ein subjektiv-rhythmischer Eindruck nicht einstellen können«. Vgl. jedoch Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 9 1922, S. 202: »Wenn aber einem Ton A eine Farbe oder ein Geruch B folgt, so weiß man doch immer, daß B auf A gefolgt ist, wobei die Schätzung der Pause zwischen A und B auch ganz unwesentlich durch deren Qualität beeinflußt ist. Es muß also nebenher noch ein Prozeß stattfinden, der von der Variation der Empfindungsqualität nicht affiziert wird, der von derselben ganz unabhängig ist, und an dem wir die Zeit schätzen. Man kann ja einen Rhythmus aus ganz heterogenen Empfindungen, Tönen, Farben, Tasteindrücken u.s.w. herstellen«. 190 Vgl. dazu Stefan Rieger, »Die Gestalt der Kurve. Sichtbarkeiten in Blech und Draht«, in: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 129.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
Der musikhistorische Ort solcher Erfahrungen ist die Musik Strawinskys. Dort tritt dann erstens hervor, dass das non-zyklische Potenzial sich an den allgemeinen Kategorien einer metrischen Perzeption ausrichten kann, wie zum Beispiel der Bedeutung isolierter Bass-Initialakzente zur Markierung eines metrisch stabilen Taktbeginns. Im Sacre du printemps wäre so der Anfang der »Danse sacrale« als virtuoses Spiel nicht nur mit instabil wechselnden Taktlängen, sondern auch mit diesen zunächst eben noch stabilen Taktmarkern zu analysieren. Dabei tritt zweitens hervor, dass das non-zyklische Potenzial des Metrums der non-zyklischen Aktualisierung des Rhythmus zu widersprechen scheint: Die metrisch komplizierten Abläufe sind von einem chronometrisch strikten Zeitbegriff mit unterdrücktem Rubato und reduzierter Phrasierung abhängig.191 Das mechanische Äquivalent eines metrischen Zyklus ist also jene Basteltechnik, bei der eine beliebige gestanzte Folge von Löchern oder Markierungen durch ihre kreisförmig repetierende Anordnung ein ornamentales bzw. zyklisch-temporales Muster erzeugt (wie im Kindergarten die Weihnachtssterne gebastelt werden, und die Loops in der elektronischen Musikproduktion).192 Die non-zyklische Aktualisierung des Rhythmus sind die feinen Unterschiede in den einzelnen Kreissegmenten trotz des identischen gestanzten Musters, das zyklische Potenzial des Rhythmus ist das einzelne gestanzte Muster, das zu einem Kreissegment werden soll (aber nicht werden muss), das non-zyklische Potenzial des Metrums hingegen ist die Möglichkeit, auch den abgerissenen Teil eines Kreissegments, der neu verklebt wird, als ursprünglichen Teil einer zyklischen Reihe zu identifizieren.
3.3.3
Positive und negative Rückkopplung
Eine Interferenz-Bestimmung gilt nicht nur für den Rhythmus, sondern auch für das Metrum, das sowohl die am stärksten »rationalen« wie die am stärksten »irrationalen« Faktoren innerhalb einer rhythmischen Erfahrung bereitstellt. Gänzlich rational erscheint die »digitale« Basis eines abstrakten Rasters geometrischer ZeitpunktBestimmungen, gänzlich irrational das »kinetische« Ergebnis der ekstatisch bewegten Körpermassen. Diese Interferenz des Metrischen kann auch zur allgemeinen Bestimmung des Rhythmus erhoben werden: »The phenomenon of rhythm is singularly well suited to perform this dual role of the primitive and modern, since it can be simultaneously passionate and rational. Rhythm can serve both as a natural origin (metrical affect) and as a source for recursive patterning (metrical order).«193 Die Interferenz-Bestimmung eines verbleibenden Rests des jeweils einen im jeweils anderen Phänomen gilt demnach ebenso für die Relation von Metrum und Rhythmus. 191
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Vgl. Jürg Stenzl, »In Search of a History of Musical Interpretation«, in: The Musical Quarterly 79 (1995), S. 689f. Vgl. allgemein zu diesem Ausschluss einer rhythmischen Eigenschaft durch eine andere rhythmische Eigenschaft auch David Temperley, »Communicative Pressure and the Evolution of Musical Styles«, in: Music Perception 21/3 (2004), S. 316ff. Vgl. London 2012, Hearing in Time, S. 121ff. zur Darstellung von non-isochronen metrischen Zyklen als Kreisdiagramme, in denen die vorhandenen Beats mit Linien verbunden werden. Spitzer 2004, Metaphor and Musical Thought, S. 226.
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Die Theorie des Rhythmus
Diese eigene Interferenz zwischen Rhythmus und Metrum lässt sich abstrakt in einer Vierermatrix abbilden, die zunächst einmal sämtliche Möglichkeiten durchspielt (vgl. hierzu auch Tabelle 3.1). Tabelle 3.1: Logische Bestimmungsfaktoren der Differenz von Rhythmus und Metrum AA
AB
BA
BB
Minimale Stimulation; Minimale Simulation
Maximale Stimulation; Minimale Simulation
Minimale Stimulation; Maximale Simulation
Maximale Stimulation; Maximale Simulation
Zyklische Aktualisierung
Non-zyklische Aktualisierung
Zyklisches Potenzial
Non-zyklisches Potenzial
Vorgeschichte
Tradition
Moderne
Nachgeschichte
Metrum
Rhythmus
Rhythmus
Metrum
Das Metrum ist in diesem Schema das archaischste Element des archaischen Rhythmus und das modernste Element des modernen Rhythmus.194 Wird der Rhythmus zur Utopie einer imaginären Vorgeschichte der Menschheit verklärt, oder auch umgekehrt zur Dystopie einer in naher Zukunft erwarteten Maschinenwelt verdammt, dann bleiben in den Erzählungen die metrischen Komponenten des Rhythmus mit im Spiel. Die universalhistorischen Zyklustheorien setzen eine Projektion in vor- oder nachhistorische Zeitphasen voraus und bewahren schon in dieser Projektionsleistung eine stark metrisierte Perspektive.195 Rhythmus wird zumeist linear durch ein Normmodell der Tradition beschrieben, das trotz oder wegen seiner metrischen Bindung bereits verschiedene Möglichkeiten der Normabweichung besitzt; diese Tradition wird von einem Normverlust in der Moderne abgelöst, der umgekehrt zumeist an bestimmte Momente der Tradition zurückgebunden bleiben muss. Das Metrum wird hingegen entweder rein irrational oder rein rational bestimmt, und gerade diese »Ganz-oder-gar-nicht«-Logik macht es für zentrale Modernetheorien im 20. Jahrhundert weiter interessant, obgleich seine ästhetische Akzeptanz ersichtlich im Schwinden begriffen ist. Die Interferenz von Vorgeschichte und Maschinenmoderne ist insbesondere in den Arbeiten von Fritz Giese einer ebenso originellen wie angreifbaren Lösung zugeführt
194 Vgl. Michael Cowan, Technology’s Pulse. Essays on Rhythm in German Modernism, London 2011, S. 26: »If rhythm figured as the object of a nostalgic reconstruction, the hallmark of holistic communities, it was also seen as the quintessential activity of the body understood as a ›human motor‹, the phenomenon by which the body’s activity, regularized and automatized, most closely resembled that of machines«. 195 Die These gilt insbesondere, wenn man akzeptiert, dass wiederum die Musik insgesamt in eine Interferenz-Funktion eingesetzt werden kann. Vgl. Paul Ligeti, Der Weg aus dem Chaos. Eine Deutung des Weltgeschehens aus dem Rhythmus der Kunstentwicklung, München 1931, S. 133: Die Musik herrscht »[…] immer in den ganz frühen Zeiten und in den ganz späten Zeiten vor«.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
worden. Giese versucht nicht, die körperlich-archaische Seite des Rhythmus von dessen maschinell-zivilisatorischer Seite zu trennen, sondern kritisiert die »esoterischen« Theorien, die die getrennten Rhythmuswelten nicht als zwei Bestandteile derselben Erfahrung verstehen: »Aber der Puls, der Atem, die einfache Spannung und Lösung der Glieder, angeleitet in ihrem Phasenablauf durch die begleitende Akustik, das ist nur eine Seite des Rhythmusproblems.«196 Gieses eigenes Modell muss in seiner konsequenten Durchführung dann jedoch zu der absurden Konsequenz führen, dass der »primitive« Pol der Vorgeschichte mit dem »maschinellen« Pol der Zivilisationsrhythmen umstandslos in eins gesetzt wird: »Den neuen Großstadtrhythmus hat der Neger entdeckt und künstlerisch zuerst geformt.«197 Die Gleichsetzung wie die (weitaus häufiger vollzogene) Trennung der »natürlichen« Rhythmen und der »metrischen« Rhythmen erscheinen wohl deswegen beide möglich, weil die metrische Qualität in naturperiodischen bzw. kulturellen Zyklen zugleich gestärkt und geschwächt wird. Gestärkt erscheint eine solche Qualität durch die klare Regelhaftigkeit und Antizipierbarkeit der zyklischen Vorgänge und durch den Wechsel zwischen voneinander getrennten Ablaufphasen.198 Geschwächt hingegen ist die metrische Qualität im Blick auf die kulturelle Kategorie des Taktes: Der Ablauf der vier Jahreszeiten erzeugt keinen 4/4-Takt. Dies ist eine zentrale Bedingung dafür, dass kosmische Zyklen in die »esoterischen« Rhythmustheorien mit einbezogen werden können, ohne durch ihre kalendarisch regulären Abläufe die verfochtene Metrumkritik zu gefährden.199 Eine Ausnahme ist die Kulturtheorie von Arnold J. Toynbee, die mit einem Schema von dreieinhalb Takten für den Aufstieg und Fall der einzelnen Kulturen operiert. Der Grundkonflikt zwischen einer irrationalen und einer rationalen Bestimmungskomponente einer metrisch stark profilierten Musik findet sich in ganz verschiedenen Theoriekontexten. Als ein zweites Beispiel kann der hierfür zentrale Passus aus der Zwölftontheorie von Josef Matthias Hauer herangezogen werden: »Gibt es eine rein tonale Musik? Auf diese Frage kann jeder Neger einer Jazzband ›schlagend‹ und ›schlagfertig‹ antworten. Er boxt, trampelt, trommelt auf irgend einem ›Ton‹ herum, macht also rein tonale Musik.«200 Hauers Theorie ist geprägt von der Problemstellung, dass auch er ein kulturelles Spätprodukt (die temperierte Skala der zwölf chromatischen Töne) in ein Naturprodukt umdeuten möchte. Zu diesem Zweck wird der Begriff der Melodie (bzw. des Melischen), der sonst für die kinetisch-phänomenale Seite der Musik einsteht, strikt von der klanglichen Präsenz getrennt und zum geistigen Gegenstand erhoben. Gegenpol dieses Melos ist für Hauer dann bekanntlich die Pauke, die – erneut in Umkehrung ei-
196 Giese 1925, Girlkultur, S. 22. 197 Ebda., S. 31. 198 Vgl. Gumbrecht 2003, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, S. 295: »Sobald ein rhythmisches Muster ermittelt ist, kann es dazu dienen, spezifische Momente im Strom der Zeit zu kennzeichnen«. 199 Vgl. Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 87: »Der Viertakt der bisherigen Kosmogonie, Gestirnwelt, Leben, Bewußtsein, Geist, erfolgt in Rhythmen und Gegenrhythmen der Extensivierung und der zeugenden Setzung neuer Innenspannungen«. 200 Josef Matthias Hauer, Vom Melos zur Pauke. Eine Einführung in die Zwölftonmusik, Wien 1925, S. 7.
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ner üblichen Trennung zwischen Rhythmus und Klang – als Vertreter des reinen Klangs in das Theoriemodell eingegliedert wird. Die perkussiven Klangmittel intensivieren aber innerhalb des Rhythmischen neuerlich dessen Interferenz-Bestimmung. Sie erzeugen sowohl eine geräuschhafte Weitung und eine punkthafte Konzentration der klanglichen Ereignisse, und diese beiden Grundeigenschaften können zugleich die »irrationale« Seite des Metrischen wie dessen »ganz rationale« Seite verstärken. In all diesen Formen der Interaktion scheinen zwei Annahmen vorausgesetzt zu sein: Die erste Annahme lautet, dass das Metrum auch ein abstraktes Prinzip darstellt. Dabei muss man weiter unterscheiden zwischen einzelnen Metren in einzelnen Medien (dem Hexameter, dem Akzentstufentakt usw.) als »in bestimmten kulturellen Kontexten kanonisierten Rhythmen«201 und den Ablaufprinzipien, die diese einzelnen Metren miteinander verbinden und als Ausprägungen derselben übergreifenden Grundkategorie erkennbar machen. Dafür ist die zweite Annahme notwendig, dass das Metrum als Prinzip nicht nur abstrakt ist. Die Scheide zwischen dem Rhythmus als phänomenaler Präsenz und dem Metrum als psychologischer Projektion muss zumindest mit berücksichtigen, warum bestimmte Klänge und Instrumente für das Metrum stärker »geeignet« sind, und sie muss zudem berücksichtigen, dass diese Klangstrukturen sich dann im Sinne einer Theorie des non-zyklischen Potenzials aus den engen Grenzen einer psychologischen Metrumperzeption partiell befreien lassen.202 Die eigene Interferenz-Bestimmung des Metrischen erzeugt demnach eine Perspektive, in der die antipodischen Extremwerte nicht mehr miteinander vermittelt sind, sondern quasi direkt aufeinanderprallen. Die rhetorische Differenz zwischen Rhythmus und Metrum besteht darin, dass das Metrum grundsätzlich Strukturen der positiven Rückkopplung, der Rhythmus hingegen Strukturen der negativen Rückkopplung zu erzeugen scheint. Die Erklärung liegt gemäß der hier gewählten Begrifflichkeit in einer wechselseitigen Anfeuerung von Stimulation und Simulation: Der Pol einer unmittelbaren physischen Erfahrung und der Pol eines vermittelten psychischen Zählvorgangs müssen in jeder Rhythmustheorie selbst wieder miteinander vermittelt werden. Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens erkennt man daran, dass dies mit rein ästhetischen Kriterien nur selten gelingen will; beliebt ist das Heranziehen psychoanalytischer Kriterien, die sich als besonders effektiv darin erweisen, das für die Metrumakzeptanz günstige Postulat eines unbewusst-rationalen Subjekts zu sichern: »An Klarheit wäre viel gewonnen, unterschiede man zumindest heuristisch zwischen Wiederholungen eines Themas oder einer Gestalt einerseits und andererseits der Wie-
201 Gumbrecht 1995, »Rhythmus und Sinn«, S. 716. 202 Vgl. dazu auch die Kritik am psychologischen Paradigma des Metrums bei Christian Utz, Komponieren im Kontext der Globalisierung. Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld 2014, S. 295: »Die kognitive Ebene zur alleinigen Voraussetzung einer Definition von Metrik zu machen, scheint mir jedenfalls zu kurz gegriffen. Denn es gibt – nicht nur im 20. und 21. Jahrhundert – musikalische Zusammenhänge und kompositorische Verfahren, in denen gerade die Konflikte zwischen einer metrischen Grundschicht und den tatsächlich in der Musik sich formenden Gruppierungen bzw. Konflikten zwischen solchen Gruppierungen entscheidende Faktoren des musikalischen Gefüges sind […]«.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
derholung des Metrums. Diese beiden Formen könnte man dann (Lacans Unterscheidung zwischen bewußtem Ich und unbewußtem Subjekt folgend) als ichgebunden, das heißt als bewußt, und als subjektiv, aber un- (oder vor-)bewußt bezeichnen.«203 Die positive Rückkopplung des Metrischen resultiert aus dem archetypischen Rhythmusprinzip der Repetition. Dem Vorgang einer »sweet anticipation«204 der jeweils nächsten Repetition fehlt gleichsam ein Ventil, das deren Rezeption begrenzt (man kann das mit dem Angebot der Süßwarenindustrie im Supermarkt vergleichen, da die Lust auf Zucker evolutionär ebenfalls ohne eine Grenze der gesunden Genussmengen im Menschen verankert ist).205 Die positive Rückkopplung der Repetition, bei der mehr Repetition stets noch mehr Repetition einfordert, kann daher mit der metrischen Interferenz von »primitiven« und »posthistorischen« Erfahrungswelten in direkte Verbindung gestellt werden. Das Argument der irrationalen Freude am Abzählen rationaler Zahlen findet sich etwa in der Verstheorie von Andreas Heusler: »Je mehr Gehirnmensch, je verkümmerter ›das Dumpfe‹, die Sinnlichkeit, um so langweiliger erscheint das Gleichmaß. Dem Naiven ist Monotonie süß, nicht ›unerträglich‹.«206 Die Voraussetzung hierfür kann in die modernen Arbeitswelten übertragen werden: Es zeigt sich auch dabei ein Rückkopplungsprozess der Repetition, sodass die über Stunden ausgeführte gleiche Bewegung einmal als enervierend und anstrengend empfunden wird (beim Versuch aktiver Steuerung), und einmal als erfreulich und angenehm erscheinen kann (beim »Aufgehen« in der monotonen Arbeit).207 In diesen Experimenten wird zudem der komplementäre Vorgang einer negativen Rückkopplung des Rhythmischen erkennbar: »So ist z.B. auch für die Betriebspraxis interessant, daß rhythmisch gut veranlagte und geschulte Vpn. gegen die Störung durch den Gegenrhythmus weniger empfindlich sind. Sie werden aber auch durch den Rhythmus entsprechend schwächer beeinflußt.«208
203 Larson Powell, »Der andere Hörplatz: Die Zeitlichkeit zwischen Subjekt und Ich. Adorno und Strawinsky«, in: Richard Klein/Ekkehard Kiem/Wolfram Ette (Hg.), Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, S. 346. 204 Vgl. David Huron, Sweet Anticipation. Music and the Psychology of Expectation, Cambridge, Mass. 2006, S. 184 zu einer Theorie der erfüllten Erwartungen als evolutionärer Belohnungsmechanismus: »The downbeat isn’t merely that moment when events are more likely to occur in music. The downbeat sounds nice. One of the simple pleasures of listening to music is hearing events on the downbeat«. 205 Vgl. zu dieser Metapher explizit auch Elizabeth Hellmuth Margulis, On Repeat. How Music plays the Mind, Oxford 2014, S. 78: »In the same way that modern technologies related to food production hijack appetite tendencies that evolved long before taquitos were invented, modern technologies related to sound production can hijack perceptual tendencies that were in place before the technologies were invented«. 206 Heusler 1956, Deutsche Versgeschichte, S. 19. 207 Vgl. dazu die Studie von Herbert Winkler, Die Monotonie der Arbeit. Ein Beitrag zu dem Problem des psychischen Verhaltens bei gleichförmiger körperlicher Arbeit, Leipzig 1922, etwa S. 4. 208 Ewald Sachsenberg, »Ein Beitrag zum Problem Arbeit und Rhythmus«, in: Zeitschrift für Angewandte Psychologie, Bd. 28 (1927), S. 477.
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Die Analysen der Fabrikarbeit der ersten Jahrhunderthälfte werden nach 1950 sozusagen eins zu eins in eine Ästhetik der populären Musikformen übersetzt. Auch hier stellt sich die Frage, warum die Repetition das ästhetische Grundprinzip einer negativen Rückkopplung unterläuft: »How is it possible to square a psychology of repetition, with its biological aspects and generalizing ambition, and the historically specific Adornian notion of repetition as a function of social control? And, returning to another previously posed question, how can we square the idea of repetition as a source of trance and the Barthesian assumption that jouissance follows not repetition but subversion of the code?«209 Richard Middletons einflussreiche Trennung einer »diskursiven« und einer »musematischen« Form der Repetition gibt eigentlich schon die Antwort auf seine eigenen Fragen. »Diskursiv« ist eine Repetition mit einer ästhetisch negativen Rückkopplung: Es ist legitim, einen Befehl als Bekräftigung einmal zu wiederholen, eine Sonatenexposition nochmals erklingen zu lassen, einen Vordersatz durch einen Nachsatz zu ergänzen, aber es wird dabei eine Beschränkung auf wenige Fälle und zumeist schon eine gewisse Variantenbildung erwartet. Musematisch ist eine Repetition mit einer ästhetisch positiven Rückkopplung: Es ist legitim, ein Riff, ein Ostinato, eine rhythmische Figur nicht nur einmal, sondern sehr viele Male zu wiederholen. Es erscheint als kleiner Exkurs auch relevant, wie die Theorie der Repetition im Vergleich dazu im Kontext der Neuen Musik konzipiert worden ist. Karlheinz Stockhausens Aufsatz zu Struktur und Erlebniszeit bietet hierfür einen zentralen Beleg (wobei sich die Grundaussagen wohl schon für das Konzept der »Fasslichkeit« innerhalb der Ästhetik der Wiener Schule nachweisen lassen). Stockhausen fordert, damit das Interesse an einem Stück durchgängig bewahrt bleibt, die Maximierung einer Rezeptionshaltung der Überraschung: »So wird schon nach kurzer Zeit eine permanente Folge von Kontrasten ebenso ›langweilig‹ wie ständige Wiederholungen: wir geben es auf, etwas Bestimmtes zu erwarten, und können nicht mehr überrascht werden.«210 Die Pointe ist also, dass eine Ästhetik der potenzierten Steigerung genau für jenen Einzelaspekt des Musikalischen eine pragmatische Ästhetik der Mäßigung vorlegt, eine traditionelle negative Rückkopplung zur Vermeidung ungünstiger Extreme, der einer solchen Ästhetik gerade nicht gehorcht, sondern eine Steigerung zur positiven Rückkopplung zulässt. Dies aber bleibt ein einseitiger Vorgang: Die unablässig verweigerte Wiederholung hat sich nicht als ebenso beliebt erwiesen wie die unablässigen Wiederholungen.211 Man kann das auf eine bewusst komplizierte Formel bringen: Die positive Rückkopplung der Wiederholung bildet für die Kräfte positiver Rückkoppelung der Moder-
209 Richard Middleton, Studying Popular Music, Philadelphia 1990, S. 287 (vgl. dort S. 269 zu den beiden Typen der »diskursiven« und »musematischen« Repetition). 210 Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln 1963, S. 87. 211 Dennoch wird versucht, Wiederholung und Absenz von Wiederholung als parallele Vorgänge zu bestimmen. Vgl. Simon Obert, Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2008, S. 192: »Beiden Extrembildungen haftet dadurch ein Moment der Abnützung an, und sie können, würden sie über längere Zeit beibehalten, in ihr Gegenteil umschlagen«.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
ne212 einen Gegenstand negativer Rückkopplung. Man kann es auch einfacher ausdrücken: Der »populäre« Rhythmus bleibt ein Gegenstand, der sich einer »elitären« Ästhetik nicht wirklich gut einschreiben lässt.213 Eine positive Rückkoppelung ist ästhetisch immer dort legitim, wo auch die metrische Normierung in diesem Steigerungsvorgang als ein beteiligter Pol akzeptiert bleibt (nach dem Denkmodell, dass die Normabweichung von der Bezugnahme auf eine Norm abhängig verbleibt).214 Gegenüber den Theorien aus dem Denkhorizont des Serialismus ist Rhythmus gleichsam immer schon der Parameter des Minimalen gewesen: Die Reduktion auf die Repetition eines einzelnen rhythmischen Werts erscheint – etwa im Etüdenstil des 19. Jahrhunderts – weitaus normaler als eine ähnliche Beschränkung der Melodie, Harmonie oder Klangfarbenvielfalt.215 Und bereits hier wird erkennbar, dass diese Reduzierung beim Rhythmus einen Effekt der Steigerung bewirken kann, weil ein bestimmter Wert der begrenzten Rückkopplung nicht in gleicher Weise seine Wirkung geltend macht.216 Der Effekt einer positiven Rückkopplung bleibt davon abhängig, dass das rationale Prinzip der metrischen Ordnung sich zugleich in sinnlich-primitive Reizwirkungen überführen lässt.217 Der daraus erwachsende Konflikt für die Rhythmustheorien wird häufig mit dem für Zuspitzungen ebenso anfälligen Erklärungsmodell der Hirnhemisphären versinnbildlicht. Dabei erweist sich die folgende Kartographie als Grundtendenz: »So scheint die intakte Verarbeitung von Metrum und Konturen in der rechten Hemisphäre die Voraussetzung für die erfolgreiche Verarbeitung von Intervallen und Rhythmen mit der linken Hemisphäre zu bilden.«218 Es ist weniger entscheidend, ob sich eine solche Zuordnung überhaupt durchhalten lässt, sondern dass das Metrum die Grunddifferenz zwischen einer ganzheitlich-figuralen Wahrnehmung (der rechten Hemisphäre) und einer analytisch-rationalen Wahrnehmung (der linken Hemisphäre) durchkreuzt: Melodisierung und Metrisierung können beide als »archaisch-ganzheitliche« Basis für das »rational-gliedernde« Phänomen Vgl. Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt a.M. 2014, S. 197: »Was man die Moderne nennt, ist in technischer, kognitiver, ökonomischer, juristischer, mediologischer und artistischer Sicht das Zeitalter der selbstverstärkenden Prozesse«. 213 Vgl. Elizabeth Hellmuth Margulis, »Aesthetic Responses to Repetition in Unfamiliar Music«, in: Empirical Studies of the Arts 31/1 (2013), S. 45-57. 214 Vgl. etwa Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 3 2004, S. 59: »Überraschungen und Standardisierungen steigern sich aneinander, um Informationswerte zu erzeugen, die anderenfalls nicht oder nicht in verbreitungsfähiger Form vorkommen würden«. 215 Vgl. dazu auch Ulrich Linke, Minimal Music. Dimensionen eines Begriffs, Essen 1997, S. 168. 216 Vgl. die Feststellung bei Eugene Narmour, »The Top-Down and Bottom-Up Systems of Musical Implication: Building on Meyer’s Theory of Emotional Syntax«, in: Music Perception 9/1 (1991), S. 9: »The fact, however – that for some listeners A+A+A yields pleasure every time – requires more research«. 217 Die Trennung dieser Komponenten steht bis zuletzt im Zentrum »esoterischer« Rhythmustheorien. Vgl. etwa noch Leo Schrade, »Das Rätsel des Rhythmus in der Musik«, in: Melos 18 (1951), S. 307: »Da nun die physische Wirkung des Rhythmus die erste und unmittelbarste ist, spielt die verstandesmäßige Erfassung zunächst eine ganz untergeordnete Rolle«. 218 Michael Grossbach/Eckart Altenmüller, »Musik und Emotion – zu Wirkung und Wirkort von Musik«, in: Tillmann Bendikowski u.a. (Hg.), Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 16. 212
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des Rhythmus angegeben werden. Dies verweist erneut auf eine gleichursprüngliche Trennung einer figuralen und einer formalen Rhythmuswahrnehmung.219 Dennoch bleibt ein Bedürfnis bestehen, metrische Erfahrungen ästhetisch einseitig abzuwerten: »Im Erleben des Hörers aber schlägt das rein Quantitative in sein Gegenteil um, in unkontrollierbares, weil assoziativ-subjektives Fühlen. Das auf diesem Wege vermittelte Erleben ist ebenso unecht wie das Leben, auf das es hinzuweisen scheint.«220 Diese Unechtheit kann man zwar leicht behaupten, aber es ist gar nicht so einfach, auch eine Begründung dafür zu liefern. Die Qualität der positiven Rückkopplung des Metrums muss als Übertretung bestimmter Geschmacksgrenzen selbst wiederum einem Modell der negativen Rückkopplung unterstellt werden. Wilhelm Seidel zum Beispiel formuliert dies als Gegensatz eines »Naturwerts« und eines »Kunstwerts« von Rhythmus und Metrum. Ein Metrum mit hohem Naturwert besitzt demnach nur einen geringen Kunstwert, ein Rhythmus mit hohem Kunstwert muss diesen Naturwert auch reduzieren.221 Im Rhythmusbegriff findet sich daher ein beständiger Konfliktherd zwischen jenen alltäglichen Redeweisen, die den Rhythmus mit der positiven Rückkopplung des Metrums in eine enge Beziehung stellen, und jenen ästhetischen Redeweisen, die den Rhythmus mit der negativen Rückkopplung melodischer, aber auch kadenzieller Ablaufparameter in eine Beziehung bringen. Aus der Sicht einer negativen Rückkopplung des Rhythmus wird damit der Satz formulierbar: »Je mehr Rhythmus, desto weniger Metrum«. Diese Annahme ist die Bedingung für alle Aussagen, in denen zum Beispiel Olivier Messiaen einem Militärmarsch (aber auch der Musik Bachs) keinerlei Rhythmus zusprechen will.222 Aus der Sicht einer positiven Rückkopplung des Metrums wird hingegen der Satz formulierbar: »Je mehr Metrum, desto mehr Rhythmus.« Diese Annahme ist wiederum die Bedingung für alle Aussagen, in denen die neuere Musik abgewertet wird, weil diese angeblich keinen Rhythmus mehr enthält. Für die komplizierten Besitzverhältnisse zwischen rhythmischen und metrischen Komponenten muss aber auch darauf eingegangen werden, dass die zyklische Aktualisierung des Metrums für sich genommen natürlich den Inbegriff eines Prinzips der negativen Rückkopplung darstellt. Für die empirische Forschung ist dabei die Relation zwischen der Schnelligkeit des Grundpulses der »rhythmisierenden« Reihe und den Gruppierungen der »rhythmisierten« Reihe von Bedeutung: Je schneller die Zählschicht abläuft, desto mehr Zähleinheiten werden in einer Akzentschicht zu einer Gruppe zusammengefasst, desto langsamer die Zählschicht abläuft, desto kleiner ist diese Grup-
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Vgl. zu dem Konflikt zwischen diesen zwei »Existenzformen« des Metrums auch David Lidov, »Repairing Errors in the Musical Theory of Meter«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 163. 220 Henneberg 1977, »Rhythmusbegriff«, S. 163. 221 Vgl. Wilhelm Seidel, »Rhythmus, Metrum, Takt«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 8, Kassel 2 1998, Sp. 293f. (bezogen auf die Theorietradition des 18. Jahrhunderts). 222 Vgl. Claude Samuel, Entretiens avec Olivier Messiaen, Paris 1967, S. 66ff.
3 Interferenzen: Kritik der rhythmischen Vernunft
pe.223 Die positive Rückkopplung des Metrischen bleibt demnach psychologisch auf einen Mittelbereich phänomenaler Tempoklassen angewiesen.224 Der Rhythmus wäre nach diesem Modell eine zentrifugale Form der negativen Rückkopplung (die ästhetisch vom Zentrum wegführt, aber sich in diesem Vorgang nur begrenzt steigern lässt), das Metrum eine zentripetale Form der positiven Rückkopplung (die immer auf ein Zentrum bezogen bleibt, aber sich in diesem Vorgang beinahe unbegrenzt weiter steigern lässt). Die Differenz der aktuellen empirischen Theorien zwischen dem phänomenalen Rhythmus und dem psychologischen Metrum verweist allerdings vermutlich auch auf eine wiederum hierfür grundlegende Unterscheidung: Jede phänomenale Bestimmung ist die Bestimmung einer Zeitspanne, jede Bestimmung eines Zeitpunkts hingegen ist eine psychologische Bestimmung. Somit mündet die Auseinandersetzung um Rhythmus und Metrum in den Gegensatz zwischen »analogen« Strecken- und »digitalen« Punktbestimmungen (und führt zurück auf die Thematik des vorherigen Kapitels): »Auditive Erscheinungen im Zustand der Statik, das heißt in der Unveränderlichkeit zumindest ihrer Zeitqualitäten, gibt es nicht. Selbst das Pfeifen einer Sirene in gleicher Tonhöhe trägt allein dadurch ein Bewegungsmoment in sich, daß jede Phase der gleichen Tonhöhe zeitlich auf die vorherigen folgt.«225 Ein phänomenaler Einzelton bzw. eine »analoge« Zeitbestimmung ermöglicht also weiterhin Phasen der non-zyklischen Aktualisierung, aber besitzt kein zyklisches Potenzial mehr. Weil jeder Vorgang der Repetition mit dem notwendigen Schnitt zwischen »Instanz 1« und »Instanz 2« das Kontinuum aufbricht, kann man dem Sirenenton zwar noch Bewegung, aber keine Rhythmik mehr zusprechen. Ein psychologischer Einzelpunkt bzw. eine vollständig »digitale« Zeitbestimmung hingegen besitzt bereits ein zyklisches Potenzial, das jedoch ohne jede Möglichkeit einer non-zyklischen Aktualisierung verbleibt. Diese kann erst an einer kontinuierlichen Längenbestimmung gemessen werden. Rhythmustheorien sind also Debatten zwischen der Individualität aller Jetztmomente und dem immergleichen Prinzip der Repetition. Sie unterscheiden sich in dem unterstellten Vorrang einmal der »analogen« und einmal der »digitalen« Zeit- und Raumbestimmungen. Diese Debatten sollen daher in den beiden nächsten Kapiteln anhand dieser Kategorien aufgearbeitet werden.
223 Vgl. zu diesen Bestimmungen bereits Bolton 1894, »Rhythm«, S. 186f. 224 Vgl. dazu London 1998, »Rhythm«, S. 281. 225 Zofia Lissa, Ästhetik der Filmmusik, übs. von Katja Weintraub und Lothar Fahlbusch, Berlin 1965, S. 74.
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4.1 4.1.1
Operationen I: Unvollständige Rhythmusbegriffe Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden
Was »digital« und was »analog« ist, muss man sowohl im wissenschaftlichen wie im praktischen Sprachgebrauch eigentlich nicht definieren. Das liegt einmal daran, dass es wohl zu einfach ist: Komplizierte Kriterien sind auch nicht besser als der Alltagsverstand, der recht sicher zwischen den beiden Beschaffenheiten unterscheiden kann. Es liegt natürlich auch daran, dass es schnell nicht mehr einfach ist: Jede Beschreibungssprache etabliert erneut ein Medium, das sich einer der beiden zu beschreibenden Beschaffenheiten zuordnen lässt.1 Bernhard Siegerts groß angelegte Kulturgeschichte des Digitalen beginnt daher nicht mit einer Definition. Stattdessen wird eine Anekdote erzählt: Ein Pionier der frühen Computertechnologie schreibt einen Brief an seinen betreuenden Professor, er versucht zu erklären, womit er sich anstelle der abgesprochenen Themen derzeit so beschäftige. Der Brief beginnt mit den Worten: »Off and on I have been working […].«2 Eine Potenzierung von Sprachebenen tritt nicht zuletzt in Rhythmustheorien häufiger hervor: Bei der Aufarbeitung der Theoriegeschichte muss demnach neben der »Ebene der Beschreibung« (die Ebene der story, der Signifikate) auch die »Ebene der Beschriftung« (die Ebene des discourse, der Signifikanten) mitberücksichtigt werden. In der empirischen Forschung kann das Problem virulent werden, dass die »Ebene der Beschriftung« (der Versuchsaufbau der Experimente, der Reduktionismus der Ergebnisse) zur Folie für die »Ebene der Beschreibung« erhoben wird. Dies bewirkt eine »Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden«: Die Aspekte des Rhythmus, die sich einer periodischen Regelmäßigkeit entziehen, bleiben in den Beschreibungen ausgeblendet.
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Vgl. auch das Vorwort von Jens Schröter (mit demselben Titel) in dem Band Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum. Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 9f. Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 10.
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In der kulturwissenschaftlichen Forschung wird umgekehrt die »Ebene der Beschreibung« an einer anti-metrischen Funktion des Rhythmus ausgerichtet. Diese Darstellungsform wird durch die »Ebene der Beschriftung« in Frage gestellt, was eine »Wiederkehr des Verdrängten« bewirken kann: Die Aspekte des Rhythmus, die eine periodische Regelmäßigkeit voraussetzen, dringen in die Beschreibungen ungewollt wieder mit ein. Typisch für das Ausmaß der Sprachbarrieren ist eine Arbeitsdefinition des Rhythmus wie die folgende, in der – durch die Unkenntnis der komplementären Position – die »Rhein-Etymologie« mit allen Merkmalen der konkurrierenden »Raum-Etymologie« in Verbindung gestellt wird: »Whereas the concept of time covers all types of succession and duration, rhythm usually implies a particular kind of succession of events, one where the events occur with some repetitive structure. The Latin and Greek roots of the modern word refer to ›flow‹: rhythm can be thought of as the division of such a temporal flow into discrete and regular events.«3 Die Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden besitzt weiterhin das Wiederkehrende als validen Bestandteil des Rhythmus für ihre Experimente und Theorien. Die hermeneutische Forschung hingegen wird durch diesen validen Teilbestand in ihrem Wert begrenzt, denn Rhythmus kann wohl kaum sinnvoll allein über das Nicht-Wiederkehrende definiert werden.4 Solche Antagonismen erzeugen die akademische Angewohnheit, einen Lexikoneintrag zu einem einzelnen Lemma an zwei verschiedene Autoren aufzuteilen. Die Enzyklopädie der Neuzeit enthält zunächst einen Eintrag zum »objektiven« Rhythmus der Naturwissenschaften, der diesen mit Zyklizität und Periodizität nahezu gleichsetzt: »Der Rh. (von griech. rhythmós, ›Fließen‹, ›Gleichmaß‹) als gleichmäßig gegliederte Bewegung bzw. regelmäßige Wiederkehr bestimmter Merkmale ist ein wesentliches Element zur Gliederung von Zeit.«5 Der Eintrag zum »ästhetisch-subjektiven« Rhythmus der Musik zielt jedoch auf einen anderen Begriff des Fließenden, wenn in der Romantik »[…] das Rhythmische als primitive Vorform einer Entwicklung angesehen wurde, die letztlich zum tönenden Fließen Richard Wagners strebte«.6 Die »Metrisierung« und die »Melodisierung« des musikalischen Rhythmus stellen demnach eine konstante Oppositionsbildung bereit, was immer wieder zum Versuch führt, diese Spaltung auch terminologisch herauszustellen. Es sei nur verwiesen auf Wilhelm Seidels Unterscheidung einer (latent metrischen) »numeralen« und einer (la-
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Peter Desain/Luke Windsor (Hg.), Rhythm perception and production, Lisse 2000, S. xii. Vgl. dazu Magdalena Maria Jezek, Rhythmus und Sprache. Zusammenhänge und gegenseitige Beeinflussung von musikalischem und sprachlichem Rhythmus, Wien 2011, S. 10: »Doch obwohl alle periodischen Muster als rhythmisch erscheinen, müssen nicht alle rhythmischen Muster periodisch sein«. Wolfgang Behringer, »Rhythmus [Natürliche Rhythmen]«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart 2010, Sp. 247. Matthias Tischer, »Rhythmus [Musik]«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart 2010, Sp. 253.
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tent melodisierten) »fluktualen« Ausrichtung des Rhythmischen.7 In ähnlicher Weise trennt Steffen A. Schmidt zwischen »Sprache« und »Tanz«8 als Rhythmusorten der Neuen Musik, zudem etabliert er an anderem Ort die Analysebegriffe von »Schnitt« und »Strom« (die allerdings das prototypische Problem aufweisen, dass dort Ströme erzeugt werden sollen, wo Schnitte vorliegen, aber de facto Schnitte dort erzeugt werden, wo die Ströme sich aus der Interaktion verschiedener Schnittlängen und Schnittebenen ergeben).9 Diese Gegensätze werden von Robert Jourdain begrifflich auf ihre historischen wie ästhetischen Ursprünge im späten 19. Jahrhundert zurückgeführt, wenn er zwischen dem »Metrum« (als Beat, Pulsation) und der »Phrasierung« (als Motiv, Spracheinheit) unterscheidet.10 Alle diese Dualismen trennen einen sprachfernen »digitalen« und einen sprachnahen »analogen« Bestandteil des (musikalischen) Rhythmus. Es fehlt jedoch die Bereitschaft, die in den Begriffspaaren zumindest indirekt angezeigten Grundkategorien des Analogen und des Digitalen explizit einzubeziehen. Und es fehlt konträr die Einsicht, dass sich diese Opposition der verschiedenen Schlagworte zumeist konkret auf einen Gegensatz zwischen akzeptierten und abgelehnten geometrischen ZeitpunktBestimmungen zurückführen lässt.11 Die einseitig »melodisiert« oder einseitig »metrisiert« erfolgenden Bestimmungen des Rhythmus verfangen sich demnach in den Fallstricken, die zwischen den beiden Grundkategorien des »Analogen« und »Digitalen« bestehen: So erscheint die diskrete Notenschrift dennoch in sich ungeeignet, die digitalen Verfahren einer elektronischen Musikproduktion abzubilden,12 und der binäre technische Code der digitalen Medien
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Vgl. Wilhelm Seidel, Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1976, S. 4. Dies ist eine Verbesserung der Terminologie einer »numeralen« und einer »affektuosen« Seite bei Walther Dürr/Walter Gerstenberg, »Rhythmus, Metrum, Takt«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 11, Kassel 1963, Sp. 385 (denn der Gegensatz der rationalen Zahl ist sicherlich nicht zwingend der emotionale Affekt). Vgl. Schmidt 2000, Aufwertung des Rhythmus, S. 28. Der Dualismus an sich ist ein altbekannter Topos; vgl. u.a. Gisèle Brelet, Le temps musical. Essai d’une esthétique nouvelle de la musique, Paris 1949, S. 266. Vgl. Steffen A. Schmidt, »Schnitt und Strom: Ansätze zu einer integralen Funktionstheorie des musikalischen Rhythmus«, in: Musik & Ästhetik, Heft 9 (1999), S. 60. Jourdain 2001, Das wohltemperierte Gehirn, S. 161. Dies mag beeinflusst worden sein von der Differenz zwischen »metrical-time« und »experiental-time« bei David Epstein, Beyond Orpheus. Studies in Musical Structure, Cambridge, Mass. 1979, S. 55. Vgl. zum Hervortreten dieser beiden Bedingungen bereits Bergson 2013, Schöpferische Evolution, S. 34: »Es gibt keinen und kann keinen unmittelbar vorhergehenden Augenblick vor einem Augenblick geben, so wenig wie es einen mathematischen Punkt gibt, der an einen anderen mathematischen Punkt stößt.« Daher muss dann wieder das »Analoge« als Gegenprinzip aufgestellt werden: »Man bräuchte jedoch eine unendliche Anzahl von unendlich kleinen Elementen, die unendlich viele Nuancen aufweisen, um das exakte Äquivalent jener Figur zu erhalten, die der Künstler als etwas Einfaches entworfen hat […]« (Ebda., S. 109). Vgl. Harenberg 2012, Virtuelle Instrumente, S. 16.
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überdeckt die binären kulturellen Codes, die an einer früheren Form der Musikerfahrung ausgerichtet bleiben.13 Der locus classicus einer »Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden« innerhalb der kanonischen empirischen Texte dürfte die umfassend rezipierte (und in genau diesem Aspekt oft kritisierte) Studie zur Rhythmuswahrnehmung von Kurt Koffka sein. Dabei sind vornehmlich zwei Faktoren von Bedeutung: Erstens werden bei Koffka die in die Reizvorgaben projizierten Gruppenstrukturen direkt mit dem Rhythmus gleichgesetzt.14 Zweitens besteht in den optischen Testreihen von Koffka die Notwendigkeit, diese geistige Projektion auf die phänomenale Bedingung einer aktivierenden Akzentsetzung einzuengen (und damit auf eben jenes Merkmal einer metrischen Praxis, das um 1900 – wie in der Metrumtheorie von Hugo Riemann, die eigentlich eine Theorie der Phrasierung ist – energisch bekämpft wird).15 Die empirische Forschung vor und nach Koffka ist davon geprägt, dass diese zwar den ersten methodischen Schritt einer stark metrischen Bestimmung des Rhythmus weiterhin akzeptiert, die stark akzentmäßige Bestimmung dieses metrisierten Rhythmus aber vermeiden möchte. Das Problem ist also, wie der rein intentionalen Bestimmung der »subjektiven Rhythmisierung« dennoch eine phänomenale (bzw. eine »analogische«) Qualität zugesprochen werden kann. Dies führt zu Wortschöpfungen wie »Empfindungsstofflichkeit«16 , die jedoch weiterhin unterschätzen, dass die in den Stoff vom Subjekt eingebrachte Rhythmusempfindung nur deswegen möglich ist, weil metrische Strukturen bereits in den gleichmäßig gegliederten Stoff eingetragen scheinen. In der »subjektiven Rhythmisierung« wird im Vergleich zur historisch späteren Forschung oftmals die Axiomatik des phänomenalen Rhythmus und des psychologischen Metrums noch genau spiegelverkehrt den beiden Begriffen zugeordnet.17 Auch Klages Fundamentalkritik richtet sich gegen die direkte Gleichsetzung des Rhythmus mit der Differenz zwischen einer objektiv gegebenen unrhythmischen Reihe und einer subjektiv ergänzten rhythmischen Gruppierung.18 Die »subjektive Rhythmisierung« verführt also dazu, den Rhythmus allein aus einer diachronen Unterscheidung 13
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Vgl. Auslander 1999, Liveness, S. 105: »Although digital technologies are based on binary logic, they have had the ironic effect of dismantling cultural binaries, including distinctions between original and copy, producer and consumer, music and nonmusic (since the digitization of music renders it exchangeable and interchangeable with any other digital information), human being and machine«. Vgl. Kurt Koffka, »Experimental-Untersuchungen zur Lehre vom Rhythmus«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie, Bd. 52 (1909), S. 102 (vgl. auch S. 100 zum Akzent als bedingenden Effekt des Rhythmus). Vgl. dazu Riccardo Luccio, »Die Rhythmusforschung in der deutschen Psychologie um 1900«, in: Salgaro/Vangi 2016, Mythos Rhythmus, S. 94: »Koffka schloss aus seinen Ergebnissen, dass die Regelmäßigkeit nicht in sich selbst Rhythmus sei, weil die Erfahrung der Regelmäßigkeit ein Urteil beinhaltet. Für Koffka ist der Rhythmus eine unmittelbare Perzeption, die der Urteilskraft vorausgeht«. Werner 1920, »Mehrwertige Gestaltenverkettung«, S. 202. Vgl. etwa Smith 1900, »Rhythmus und Arbeit«, S. 294: »Die Verfasserin hat es besser gefunden, das Wort ›Rhythmus‹ als Name des geistigen Zustandes zu brauchen und den Ausdruck ›Takt‹ für die äußeren Bedingungen desselben zu behalten«. Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 13.
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abzuleiten (die erste Reihe ist noch nicht rhythmisch, die zweite ist es bereits), wodurch eine grundlegendere synchrone Unterscheidung verdeckt wird (beide Reihen setzen geometrische Zeitpunkt-Bestimmungen voraus).19 Dieser Fehler erscheint als Bedingung, und auch als Resultat einer rhetorischen Tradition, in der zum Beispiel bei Ernst Meumann (genau wie bei Koffka) die Begriffe Rhythmus und Takt selbst im einzelnen Satz beliebig und beständig ausgewechselt werden können: »[…] die Entscheidung einiger prinzipieller Fragen, die mir für alle Gebiete des Rhythmus in Betracht zu kommen scheinen, mittelst experimenteller Untersuchung des Takte herstellenden und Takte perzipierenden Subjektes soll auch der Gegenstand dieser Abhandlung sein.«20 Grundsätzlich gilt jedoch (und zwar in immer stärkerem Maße), dass diese früheren Axiome einer allzu starken Metrisierung von der empirischen Forschung zunehmend reflektiert und korrigiert werden. In der methodischen Akzeptanz von Punktereignissen hingegen scheint der Rhythmusbegriff der empirischen Wissenschaften von einem Teilaspekt einer »Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden« weiterhin betroffen zu sein.21 Diese Problemstellung kann dabei auch an einem pragmatischen Sachverhalt abgelesen werden, nämlich der Frage, ob Rhythmus gleichwertig mit den Artikulationsarten des Legato und des Staccato assoziiert werden sollte, oder ob ein gewisser Vorrang des Staccato zu akzeptieren ist: »Enfin le son, parce qu’il occupe le temps au lieu d’être ponctuel comme le pur battement du rythme, s’offre lui-même et par lui seul déjà aux pouvoirs de la forme rythmique. Le rythme pur est nécessairement staccato, mais le son et la durée sonore peuvent revêtir les deux aspects de staccato et de legato.«22 Dieser Vorrang bleibt unzweifelhaft in den methodischen Voraussetzungen vieler empirischer Studien impliziert. Als typischer Fall sei auf die Arbeit zur Klassifikation musikalischer Rhythmen von Helga de la Motte-Haber verwiesen. Die Maßnahmen, mit denen die Klangbeispiele für die Beurteilung durch die Probanden möglichst objektiv gehalten werden sollen, erzeugen allesamt auch eine Metrisierung: die Abstraktion von Klangfarbenreizen, die mehrfache Repetition der Patterns, und vor allem die ausschließliche Verwendung von »Kurztoninstrumenten«.23 Die Punktbestimmung ist zudem ein Bestandteil nicht nur der Stimuli, sondern oftmals auch der Reaktionsformen der Versuchsteilnehmer: Hypothesen über rhythmische »Beats« und kognitive »Clocks« werden vornehmlich anhand von performativen »Taps«
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Vgl. dazu ergänzend Rainer Bayreuther »Die Rhythmusbewegung im frühen 20. Jahrhundert und ihre Grundlegung in der empirischen Ästhetik«, in: Die Musikforschung 69/2 (2016), etwa S. 146 zu einer »[…] Differenz des Rhythmischen (der Phänomenalität der akustischen Ereignisse) zum Metrischen (der objektiven Struktur der akustischen Ereignisse)«. Meumann 1894, Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, S. 4. Vgl. die umfassende Kritik an diesen Forschungsprämissen bei Jonathan D. Kramer, The Time of Music. New Meanings. New Temporalities. New Listening Strategies, New York 1988, S. 324ff. Brelet 1949, Temps musical, S. 347. Vgl. Helga de la Motte-Haber, Ein Beitrag zur Klassifikation musikalischer Rhythmen. Experimentalpsychologische Untersuchungen, Köln 1968, S. 76.
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gewonnen.24 Typisch erscheint die Notwendigkeit, dass bei einer Messsoftware die zunächst erzeugte »analoge« Informationsdichte mithilfe eingebauter Algorithmen erst »digitalisiert« werden muss, um aussagekräftige Abbildungen der gemessenen rhythmisch-periodischen Muster zu erhalten.25 Das eigene Methodenprogramm der kulturwissenschaftlichen Gegentheorien kann daher an diesen einfachen Artikulationsaspekt angekoppelt bleiben. Der empirische Vorrang des Staccato muss durch den ästhetischen Vorrang des Legato widerlegt werden. Diese Grundidee verbindet aktuelle »kritische« Rhythmustheorien mit der »einzelwissenschaftlichen« Theorietradition: »Das Lebenselement der Musik ist der Ton und das Nicht-tönen kann nur als Kontrast Bedeutung erlangen. Der Typus musikalischer Bewegung ist nicht das jedem Tone eine Pause nachsetzende Staccato, sondern das die Pause verbannende Legato.«26
4.1.2
Wiederkehr des Verdrängten
Die Interferenz des Metrums zwischen einer vorzeitlichen und einer nachhistorischen Ebene der Referenz begünstigt eine Argumentation, in der diese beiden Projektionsfelder genutzt werden, um eine »schlechte« Verfallsform des Metrums von einer »guten« Verlaufsform des Rhythmus zu trennen.27 Eine »Wiederkehr des Verdrängten« ergibt sich dabei zumeist aus den folgenden drei idealtypischen Schritten: Der erste Abschnitt der Argumentation wird modische bzw. moderne Erfahrungswelten des Metrischen ästhetisch abwerten und rhetorisch zurückweisen. Der zweite Abschnitt der Argumentation versucht, das Gegenmodell einer vom Metrum unabhängigen Rhythmik zu formulieren. Der dritte Abschnitt der Argumentation führt dieses Modell jedoch auf Kategorien der körperlichen Koordination oder der repetierenden Musterbildung zurück, sodass der im ersten Schritt behauptete Abgrenzungsvorgang fraglich erscheint. Das Anfangs- und Endresultat dieses Argumentationswegs können am Beispiel eines Aufsatzes über Kulturen des musikalischen Rhythmus von Steffen A. Schmidt abgeglichen werden. Die populäre Gegenwartskultur wird als nahezu pathologische Form eines aus Kriegstechniken abgeleiteten Kommerzinstinkts schroff abgewertet: »Besonders populär und einflussreich ist die rhythmische Kultur der Marschmusik, die in archaischen Stammesriten wurzeln mag und ihre sprichwörtliche Schlagkraft durch
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Experimente mit Legato-Stimuli besitzen das Problem, dass die Probanden diese weiterhin mit einem »Staccato-Response« beantworten sollen. Vgl. etwa Bruno H. Repp/Rachel J. Marcus, »No Sustained Sound Illusion in Rhythmic Sequences«, in: Music Perception 28/2 (2010), S. 123f. Vgl. hierzu Jörg Langner, Musikalischer Rhythmus und Oszillation. Eine theoretische und empirische Erkundung, Frankfurt a.M. 2002, S. 43. Hugo Riemann, Musikalische Dynamik und Agogik. Lehrbuch der musikalischen Phrasierung auf Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik, Hamburg 1884, S. 10. Vgl. zum Beispiel Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, übs. von Reinhold Werner, Frankfurt a.M. 1978, S. 37f. zu einem Rhythmusbegriff, der im Sinne der Theorie von Benveniste dem Symbolischen des fixierten Zeichens vorgelagert sein soll, und doch im Sinne einer historischen Aktualisierung melodisiert werden muss (vgl. Ebda., S. 94f.).
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den gemeinsamen Kampfgeist gewinnt. Aus ihr würden sich zahllose Formen der Unterhaltungsmusik ableiten, wie auch generell die ins Friedliche gewendete Tanzmusik.«28 Diese These variiert in gewisser Weise Friedrich Kittlers zentrales Theorem, dass die Techniken der Unterhaltungsindustrie eine Fortsetzung der Kriegsproduktion in Friedenszeiten darstellen – was im Übrigen zum Beispiel für den Muzak-Konzern und dessen öffentliche Musikbeschallung ganz unzweifelhaft zu stimmen scheint, da der Gründer ein Signaloffizier des Ersten Weltkriegs gewesen ist, der sein Fachwissen sozusagen von der Front auf die Fahrstuhl-Musik überträgt.29 Der Militärmarsch ist das Standardbeispiel dieser wissenschaftlichen Skepsis gegen metrische Musikwelten, wobei in Schmidts Aufsatz durch den Verweis auf die »Stammesriten« eine vorzeitliche Referenzebene in diese Realitätserfahrung projiziert wird.30 Doch am Ende des Aufsatzes verbindet sich auch der positiv konnotierte Rhythmus mit den archaischen Begriffsfeldern: »Das Es weist eine un- bzw. vorbewusste Struktur auf, die den Trieb selbst bezeichnet und mit den Instanzen des ich und Über-Ich in Konflikt tritt. Ebenso nimmt der Rhythmus diese Funktion ein und erfüllt ein vorsemiotisches (der Melodie, analog zum musikalisch Bewussten, vorgelagert).«31 Das psychologische Metrum verweist also auf regressiv-archaische phänomenale Ursprünge, der phänomenale Rhythmus hingegen verweist auf progressiv-archaische psychologische Wurzeln. Eine »Wiederkehr des Verdrängten« ist dies im konkreten Fall schon deswegen, weil trotz einer spürbaren Distanz zu den referierten Begriffen der Autor nun eben jenes Argumentationsmuster vertritt, das er in seinem früheren Aufsatz zu Schnitt und Strom noch als Klischee kritisiert hat: »Rhythmus, das populärste Moment von Musik und zugleich das Stiefkind der Theorie, umfasst interdisziplinäre Konnotationen gigantischen Ausmaßes. An Aktualität mangelt es dem Begriff nicht, taucht er doch in vielen anthropologischen und ästhetischen Schriften auf. Um so merkwürdiger mutet es an, daß gerade die Musiktheorie sich nur wenig mit ihm beschäftigt. Im Diskurs des Rhythmusbegriffs klafft noch immer die Lücke zwischen populärwissenschaftlichen Beats und mysteriösem Vorbewußten, Unbenannten.«32 Eine »Wiederkehr des Verdrängten« liegt zudem sehr eindeutig innerhalb der Musikhistorie vor: Nachdem vor allem der Serialismus versucht hat, alle Residuen der Pulsation auszuschalten, kehren im Minimalismus Tonalität und Taktprinzip in besonders 28 29 30 31 32
Steffen A. Schmidt, »Kulturen des musikalischen Rhythmus«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 62. Vgl. Joseph Lanza, Elevator Music. A surreal history of Muzak, Easy-Listening, and other Moodsong, New York 1995, S. 21. Vgl. zur Kritik an diesem Klischee auch Rolf Großmann, »Zur Aktualität der Rhythmusbewegung im 21. Jahrhundert. Eine Respondenz«, in: Die Musikforschung 69/2 (2016), S. 158f. Schmidt 2014, »Kulturen des musikalischen Rhythmus«, S. 71. Schmidt 1999, »Schnitt und Strom«, S. 71.
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penetranter Ausprägung und mit ausdrücklicher Annäherung an populäre Stile in die Musikgeschichte zurück.33 Die Rhythmusforschung ist notwendigerweise jenes Gebiet, in dem die Trennung zwischen der immanenten Analyse der autonomen Kunstmusik und der soziologischen Analyse der populären Kommerzmusik sich nicht mehr sinnvoll durchhalten lässt. Stattdessen scheint die Abgrenzung von populären Beats hier selbst zu einem soziologischen Bedürfnis zu werden.34 In der aggressiv-progressiven Musikgeschichte des späteren 20. Jahrhunderts bleiben allerdings zwei Situationen auffällig, in denen dieser Vorgang einer »Wiederkehr des Verdrängten« selbst zu einem musikhistorischen Faktum werden kann. In einer ersten Situation wird die »Fülle« der rhythmischen Ereignisse weiterhin durch die »Leere« einer metrischen Taktnotation belastet. Weil Musik aufgeführt werden muss, beinhaltet nahezu jede Negation eines »internen« Metrums die Notwendigkeit eines »externen« Metrums (als Stoppuhr, Click-Track oder Dirigierschema).35 In einer zweiten Situation wird dagegen eine Ästhetik der »Leere« mit der eigenen »Fülle« dieser metrischen Zeitbestimmungen konfrontiert. Im ersten Fall erfolgt also der Versuch, das Metrum aus dem Rhythmus zu externalisieren, während im zweiten Fall gerade der metrisierte Rhythmus in dieser gänzlich externalisierten Funktion wieder in eine avantgardistische Ästhetik einbezogen werden kann. Der Strukturbegriff bei John Cage ist eng mit der Idee einer vollkommen leeren Zeit verbunden. In der Lecture on Nothing, einer radikalen Abkehr von bislang geltenden Konventionen, überrascht demnach das Bekenntnis zu einer ganz bestimmten Konvention: »Diese vierzig Minuten sind geteilt in fünf große Teile, und jede Einheit ist in gleicher Weise geteilt. Unterteilung anhand einer Quadrat-Wurzel ist die einzig mögliche Unterteilung, die diese mikro-makrokosmische rhythmische Struktur zulässt.«36 Die Zeit soll bei Cage durchaus von dem nachträglich auf die Phänomene projizierten »internen« Metrum getrennt werden. Als rein chronometrische, leere und »externe« Zeit, die zum Container beliebiger Gegenstände werden kann, aber bleibt das metrische Zeitteilungsprinzip akzeptabel, denn es kann der Anspruch erhoben werden, dass eine solche Zeitstruktur in die Ereignisse nicht mehr selbst eingreift. Die Frage ist, ob sich diese Leerbestimmung der Zeit argumentativ durchhalten lässt. In Cages Lecture lässt sich ein innerer Widerspruch recht leicht nachweisen: In der parametrischen Liste aus »Struktur (Leere); Zeit (und Rhythmus); Klang (und Geräusche); Stille, Zufall« soll die Struktur ausdrücklich auch dem Rhythmus noch vorangehen, an anderer Stelle aber spricht Cage von einem »Vortrag mit rhythmischer Struktur«.37 Tatsächlich entwickelt sich Cages Lecture aus der Konkurrenz zwischen einer »digitalen« Basis von Repetitionen und einem »analogen« Überbau, in dem das mög33 34 35
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Vgl. dazu auch Edward Strickland, Minimalism: Origins, Bloomington 1993, S. 120. Vgl. als Beispiel für diese Argumentationshaltung Claus-Steffen Mahnkopf, »Typen posttonaler Rhythmik«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 95. Vgl. dazu grundlegend Marion Saxer, »Die Emanzipation von der metrischen Zeitordnung – eine Utopie? Zeitkonzeptionen in der Musik nach 1945«, in: Primavesi/Mahrenholz 2005, Geteilte Zeit, S. 64. John Cage, Silence, übs. von Ernst Jandl, Neuwied 1969, S. 8. Ebda., S. 43 (erstes Zitat) bzw. S. 35 (zweites Zitat).
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lichst passive Hinnehmen als Rezeptionshaltung sogar auf mögliche Konvergenzen zur Rhythmuslehre von Klages hindeutet. Struktur und Inhalt des Texts gehen dadurch in einer Interferenz-Bestimmung ineinander über: »Die inhaltliche Leere der Struktur kann positiv so gewendet werden, dass Struktur und Inhalt der Lecture größtenteils identisch sind; dies erweist sich an ihrem überwiegend selbstreferentiellen Charakter.«38 Der formale Sinn dieser inhaltlich leeren Struktur verwirklicht sich in dem sprachlichen Reim zwischen einem »reinen« Metrum und »keinem« Metrum: Insofern das Metrische keine eigene positive Bestimmung aufweist, sondern eine Projektion ist, kann diese auch dort noch bestehen, wo keine positiven Bestimmungen mehr vorliegen (wie etwa in sinnlosen Wortfolgen).39 Entscheidend dabei ist, dass jede beliebige Zahlen- und Zeitfolge einen eigenen Inhalt erzeugen wird, der dem Zweck der vollständig unbestimmten Leere widerspricht. Dies gilt wohl auch für Zufallsoperationen: Wenn es Zeit- bzw. Zahlenfolgen sind, welche der Zufall erzeugt, dann ist eine Hervorhebung der Initialakzente der einzelnen Zufallselemente nicht mehr auszuschließen. Jedes non-isochrone Metrum muss, da sein Ablauf nicht aus rein intentionalen Unterteilungen ableitbar ist, auch minimal phänomenal bestimmt sein, um zum Beispiel zwischen den Abfolgen 2+3 oder 3+2 im Fünfertakt zu entscheiden; diese Bestimmung aber überträgt sich auf die zufälligen nonisochronen Folgen. Darum scheint nur das intentionale, ideelle oder eben das »interne« Metrum der quadratischen Unterteilung geeignet zu sein, diese phänomenale Restbestimmung zum Verschwinden zu bringen, aber nur eine variable Zahlenfolge ist geeignet, die Assoziation einer »externen« Struktur mit einem ganz einfachen Metrum zu unterdrücken. Man könnte so weit gehen und sagen, dass Cage keine Wahl hatte; nur eine gegenläufige Bestimmung aus Einzelelementen eines isochronen und eines non-isochronen Metrums kann die Schwachstelle des jeweils anderen Konzepts ausschalten: Das perfekte anarchische Kunstwerk ist ein in sich weiterhin rational kontrolliertes Rezept zur Herstellung eines anarchischen Kunstwerks.40 Es wäre aber unangemessen, Cages Ästhetik hier eine verschwiegene Schwäche zum Vorwurf zu machen, da der Ablaufplan ja beständig thematisiert wird: »Es gibt vier Takte in jeder Zeile und zwölf Zeilen in jeder Einheit der rhythmischen Struktur. Es gibt achtundvierzig solche Einheiten, jede zu achtundvierzig Takten. Das Ganze ist in fünf große Teile im Verhältnis 7, 6, 14, 14, 7 gegliedert. Die achtundvierzig Takte jeder Einheit sind ebenfalls so gegliedert.«41
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Gregor Herzfeld, Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik. Charles Ives bis La Monte Young, Stuttgart 2007, S. 216f. Diese Applikation auf verschiedene Gegenstände verbindet das Metrum mit Cages leerer Struktur: »Eine Struktur ist wie eine Brücke von nirgendwo nach nirgendwo und jeder kann auf ihr gehn. Geräusche oder Töne, Mais oder Weizen.« (Cage 1969, Silence, S. 21). Vgl. zu dieser Nähe von Rezeptur (als etwas, was vor dem Kunstwerk erfolgt) und Rezeption (als etwas, was nach dem Kunstwerk erfolgt) auch Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 72. Cage 1969, Silence, S. 5.
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Die Vorgeschichte solcher Zahlenstrukturen in Cages frühen Perkussionsstücken bleibt jedoch biografisch offenkundig, weshalb das pulsierende Metrum immer als Beleg herhalten konnte, um radikalen Ideen der ästhetischen Inhaltslosigkeit auf einer inhaltlichen Ebene zu widersprechen: »Wer Cage vorwiegend als Autor total indeterminierter ›experimenteller‹ Musik kennt, ist nicht wenig erstaunt, in den rhythmischen Konstellationen seiner früheren Musik alles – wie nach Kapellmeistermanier – am Taktstrich ausgerichtet zu sehen.«42 Tatsächlich lässt sich die struktural-externe Zahlenbasis der Lecture on Nothing mit genau denselben Mitteln analysieren wie die non-isochronen Metren in den frühen Rhythmusstücken. Rainer Cadenbach etwa sieht die Gesamtzahl 48 als bewusst unvollständige, zerstörte Struktur, die eigentlich auf die 49 als Quadratzahl von 7 zielen müsste.43 Zudem bleibt in reizvoller Weise unklar, ob die Zahlenabfolge als Abweichung von der rhythmischen Norm der Achttaktperiode gedeutet werden kann, oder vielleicht auch auf eine musikhistorische Abstraktion verweist (die 48 als zentrale Zahl der Zwölftontheorie, die mit der diatonischen Siebenzahl konfrontiert wird). Wichtig erscheint einfach nur, dass ein ästhetisches Denken in rhythmischen Normen und Normabweichungen verpflichtend bleibt.44 Auf der »Ebene der Beschreibung« wird der metrisierte Anteil des Rhythmus in Frage gestellt, doch auf der »Ebene der Beschriftung«, wobei mit diesem Begriff ganz wörtlich ein Widerspruch zwischen dem Inhalt und der Verpackung angezeigt werden kann, bleibt dieser metrisierte Anteil als Teil der Verpackung relevant. Die syntaktischen Rahmenbildungen sind in den Rhythmustheorien, die gegen eine äußerliche Rahmenbildung argumentieren, nicht neutral, sondern mischen sich als Stilblüten, Doppelsinn und Druckfehler in die Debatte mit ein.
4.2
Exkursionen I: Rhythmus als Dekonstruktion und Druckfehler
Ein Interview mit dem Dirigenten Ivor Bolton behandelt einige Probleme bei der Aufführung der Barockmusik, da nicht alle notwendigen Hinweise zur Umsetzung bestimmter Einzelparameter in der Notation fixiert sind. Das Interview trägt den vielversprechenden Titel »Partituren sind nicht gleich Partituren«. Blättert man neugierig geworden zu dem Passus, in dem diese Aussage erläutert werden soll, findet man dort allerdings aufgrund eines nicht korrigierten Druckfehlers eine noch viel bessere Formulierung: »Partituren sind nicht gleich Parituren« [sic!].45
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Konrad Boehmer, Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Darmstadt 1967, S. 173. Vgl. Rainer Cadenbach, »›That Entertainment called a discussion‹ Zeit, Bedeutung und Nichts in John Cages Lecture on Nothing«, in: Reinhard Kopiez u.a. (Hg.), Musikwissenschaft zwischen Kunst, Ästhetik und Experiment, Würzburg 1998, S. 70f. Cage vertritt dieses »einfache« Normmodell sehr explizit: »Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne Struktur ist nicht wahrzunehmen« (Cage 1969, Silence, S. 9). Das ist vom Gegensatz von Geist und Seele und vom Restwert des Taktes in der »esoterischen« Theorietradition erneut nicht weit entfernt. Dieter David Scholz, Mythos Maestro. Dirigenten im Dialog, Berlin 2002, S. 31.
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Man kann den Übersetzungsvorgang aus dem »digitalen« Notentext in die »analoge« Aufführung nicht besser zusammenfassen. Der Druckfehler erzeugt eine unerwartete Ungleichheit, doch der unterschlagene einzelne Buchstabe verwandelt zugleich die Silbenbedeutung der Ungleichheit in die Silbenbedeutung der Gleichheit. Es wird die rhetorisch konventionelle Form einer kognitiven Dissonanz verdrängt: Die Wortgleichheit in der Formel »Partituren sind nicht gleich Partituren« verweist auf eine verbleibende Ungleichheit – die »analoge« Restunbestimmtheit einer digitalen Struktur. Die fehlerhafte Variante erzeugt eine subtile eigene Form einer kognitiven Dissonanz: Die Wortungleichheit in der Formel »Partituren sind nicht gleich Parituren« verweist auf eine verbleibende Gleichheit – die »digitale« Vorausbestimmtheit der analogen Klänge. Druckfehler erzeugen eine eigene Darstellungsebene, in der in seltenen Fällen diese »Ebene der Beschriftung« zum Metakommentar der »Ebene der Beschreibung« wird. Man kann auch Gründe zugunsten einer zumindest semi-seriösen Wissenschaft von den fehlenden, vertauschten oder ergänzten Einzelbuchstaben vorbringen.46 So könnte man zum Beispiel die Hypothese aufstellen, dass Druckfehler gerade dort signifikant häufiger übersehen bleiben, wo der deviante Sinn sich mit den Präferenzen des Autors deckt.47 Der Druckfehler wäre dann die schriftliche Variante der Freudschen Fehlleistungen; eine in dieser Hinsicht besonders schöne Wortneuschöpfung überführt die ethnologischen Funde bei Richard Wallaschek in eine eurozentrische Werkästhetik: »Auch bei den Indianern finden wir trotz der Armseligkeit der eigenen Musik das werkwürdige [sic!] Nachahmungstalent, das uns schon bei andern Naturvölkern, namentlich den Hottentotten, auffiel. Knaben ergehen sich häufig in der Wiederholung gewisser Abschnitte berühmter Reden, die sie im Gedächtnisse behalten. Es ist ganz merkwürdig, wie rasch die Eingebornen Gesänge auffassen und nachahmen, die sie von Reisenden gehört haben. Sie lernen in kurzer Zeit den 100. Psalm und manchen schottischen Kirchengesang.«48 Auch hier erzeugt die fehlerhafte Variante eindeutig den vielschichtigeren Sinn: Merkwürdig ist das starke Gedächtnis, weil es darauf verweist, wie sehr die schriftliche Fixierung andere Kulturtechniken obsolet macht. »Werkwürdig« wird dasselbe Prinzip aber erst dann, wenn es nicht mehr als Verlust von rhythmischen Nuancen, sondern als Gewinn notierbarer Rhythmisierungen aufgefasst wird. Das Phänomen, die identischen Wiederholungen dem Medium des »modernen« Notentexts, aber auch einer 46
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Die andere Hälfte einer solchen Sammlung besitzt weiterhin rein humoristischen Wert. Vgl. als schönes Beispiel Andrea Lindmayr-Brandl (Hg.), Schrift und Klang in der Musik der Renaissance, Laaber 2014, S. 201: »Im Jahr 1906, im Zuge einer internationalen Kunstausstellung in Mailand, die Kunstschätze der Stadt präsentierte, wurde der vierte ›Gafurius Kodex‹ öffentlich ausgestellt und damit erstmals einem breiteren Publikum gezeigt. In der Nacht des 3. August brach jedoch im Ausstellungsgebäude ein Band [sic!] aus und vernichtete neben wertvollen Dokumenten und anderen Büchern auch große Teile dieser Handschrift«. Vgl. zum Phänomen des »Proofreader’s Error« Andreas C. Lehmann/Victoria McArthur, »SightReading«, in: Richard Parncutt/Gary E. McPherson (Hg.), The Science and Psychology of Music Performance. Creative Strategies for Teaching and Learning, Oxford 2002, S. 141. Vgl. zu den Fehlertypen der »Omissions«, »Additions« und »Substitutions« beim Text- und Notenlesen Bruno H. Repp, »The Art of Inaccuracy: Why Pianists’ Errors Are Difficult to Hear«, in: Music Perception 14/2 (1996), S. 162. Richard Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, Leipzig 1903, S. 46.
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»primitiven« Musik der Schlagakzente zuordnen zu müssen, erzeugt auch bei Adorno einen Widerspruch im Rhythmusbegriff seiner Reproduktionstheorie: »Die musikalische Notation ist ein Stück Disziplin. Sie enteignet das Gedächtnis, indem sie es stützt. Die kultischen Tänze und Lieder werden der Einheit von Erinnerung und Veränderung entzogen. Sie sollen vergessen werden um sich zu fixieren, sie sollen in die identische Wiederholung übergehen, welche die Musik der barbarischen Kulturen bezeichnet.«49 Eine starke Rhythmisierung ist eine Voraussetzung dafür, dass in oralen Kulturen auch ohne Schriftspeicherung ein Vorgang der Memorierung ermöglicht wird;50 diese Rhythmisierung aber erzeugt diskrete Spracheinheiten, die wie eine Voraussetzung der schriftlichen Speicherung erscheinen müssen: Rhythmus ist die Schrift, die das schriftlose Denken aufzeichnet (und kann daher in seinen Repetitionsmustern im Kontext einer Schriftkultur die Rolle des archaischen, primitiven Rests annehmen). Die deutsche Erstübersetzung von Walter J. Ongs grundlegender Theorie dieser Vorgänge erfasst den Übergang von morphologischen Tierzeichnungen zu abstrakten, scharfkantigen Schriftzeichen erneut mithilfe eines ungewollten Druckfehlers; es werden »genau bearbeitete Tonartefakte« angeführt, die »Kühe oder Scharfe [sic!] darstellten oder andere, noch nicht entzifferte Dinge«.51 Derselbe Übergang von materiellen Artefakten (in diesem Fall die Compact Disc als letztes physisches Speichermedium) zu virtuellen Abbildungsformen wie der Mp3Codierung wird konträr zum vorherigen Beispiel durch ein subtil weggelassenes »r« versinnbildlicht: »It will consider the mp3 as an artifact shaped by several electronics industries, the recoding [sic!] industry and actual and idealized practices of listening.«52 Der Druckfehler als Abbild der eigenen Lektürepräferenzen findet sich auch in Medientheorien, die eine Ästhetisierung ihrer technischen Gegenstände nicht nur einklagen, sondern manchmal sogar »einklangen« (als Variante von »eintopfen«?): »Nichts weniger wird Carl Stumpfs epochale Tonpsychologie mit seiner ›Lehre von den Tonverschmelzungen‹ einklangen [sic!].«53 Unzweifelhaft erscheint, dass die Art und Anzahl der Druckfehler einer eigenen medienwissenschaftlichen Geschichte gehorcht. Der getippte Schreibmaschinentext erzeugt bis in die 1980er-Jahre die zufälligen Buchstabendreher, die als Abbildung eher des mechanischen Arbeitsvorgangs als des gedanklichen Analyseanteils zumeist keine eigene Sinnbedeutung in die Texte hineintragen (sondern einfach nur lästig sind). Der am Computer erstellte Text hingegen bewirkt eine Vorselektion, in der die Rechtschreib- und Grammatikprüfung sowohl das Aussortieren mechanischer Fehler
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Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, Entwurf und zwei Schemata, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a.M. 2001, S. 70. Vgl. Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, übs. von Wolfgang Schömel, Opladen 1987, S. 40. Ebda., S. 88 (der Druckfehler ist in der zweiten Auflage korrigiert). Jonathan Sterne, »The mp3 as cultural artifact«, in: New Media and Society 8 (2006), S. 826. Martin Carlé, »Zeit des Mediums. Die Genese des Medienbegriffs im griechischen Denken«, in: Friedrich Kittler/Ana Ofak (Hg.), Medien vor den Medien, München 2007, S. 52.
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wie das Ausblenden der verbleibenden Fehler begünstigt. Die digitale Textproduktion nähert sich wieder den Prinzipien der verbalen Sprachproduktion: »Slips of the tongue often invite substitutions of words by other similar-sounding or -meaning words, but within the constraints of the language, just as notes are constrained by the harmonic system. ›Slips of the tongue‹ can become ›stips of the lung‹ but not ›tlips of the sung‹ because the sound [tl] is not allowed at the beginning of English words.«54 Es verwundert nicht, dass der Druckfehler in einem klassischen Text der Medientheorie als eigener Aussagegehalt entdeckt wird, wenn der Titel The Medium is the Massage als gleichwertige Formulierung zur eigentlich intendierten Botschaft einfach belassen wird.55 Die Variabilität der Druckfehler hinsichtlich einer historischen Achse wird zudem ergänzt durch Konstanten auf einer systematischen Achse: Es gibt »Klassiker« der Wortverdrehung und seltene Kuriositäten, wobei erneut die Tendenz bestehen wird, dass dasjenige die höheren Chancen hat, im fertigen Text stehenzubleiben, was in anderen Texten der tatsächlich gemeinte Sinn sein soll. So enthüllt die bereits für diverse Tagungen und Aufsätze herangezogene Redewendung von der »Ware Kunst« oder von der »wahren Kunst« ihre subversive Kraft erst wieder dort, wo damit die üblichen Trennlinien einer modernistischen Ästhetik ungewollt in Frage gestellt scheinen: »Indessen ist für Webern eine weitere biographische Konstellation zu berücksichtigen. Seine katastrophal verlaufenen Dirigiertätigkeiten an österreichischen und deutschen Theatern, wo er zu einem großen Teil Operetten, Potpourris und Revuen zu leiten hatte, fällt denn auch in etwa mit der Zeit zusammen, in der er seine instrumentalen Miniaturen komponierte. Insofern wenden sich die kurzen, jeglicher formaler Redundanzen entledigten Stücke nicht gegen die großen Formen des 19. Jahrhunderts – wie stark verehrte er Beethoven und Mahler –, sondern ist als implizite Kritik zu begreifen an der musikalischen Massenwahre [sic!] seiner Zeit.«56 Anton Webern ist zudem – ein weiterer dieser Klassiker – öfters das Opfer einer Kürzung seines Namens um den Endbuchstaben. Aussagen zum »harten Kern« der musikalischen Avantgarde werden damit unerwartet zu Aussagen auch über die romantische Tradition (denn man darf davon ausgehen, dass Umberto Eco das folgende Zitat nicht als Apologie für Carl Maria von Weber intendiert hatte): »Das Ende des Textes ist nicht sein endgültiger Zustand, da der Leser aufgefordert wird, seine eigene freie Wahl zu treffen und den gesamten Text vom Gesichtspunkt der Schlußentwicklung erneut zu bewerten. Solch eine Situation ist typisch für viele
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Stephen Handel, Listening. An Introduction to the Perception of Auditory Events, Cambridge, Mass. 1989, S. 455. Vgl. Marshall McLuhan, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New York 1967, S. 22. Obert 2008, Musikalische Kürze, S. 154. Hier tritt erneut ein typischer Effekt hervor: Der abweichende Sinn am Satzende wird von kleineren Ungenauigkeiten vorbereitet, die wie der falsche Singular »ist« statt »sind« (und ebenso zuvor »fällt« statt »fallen«) die nachfolgende »Fehlleistung« bereits ankündigen.
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Avantgarde-Texte (schöngeistige oder nicht) und für nach Weber [sic!] entstandene Musik.«57 Die Häufigkeit einzelner spezifischer Fehler verweist dabei als recht sicherer Indikator auf den Grad der »Angesagtheit« sowohl des Künstlers wie auch im akademischen Bereich des Forschers. Die Arbeitstheorie des Rhythmus von Karl Bücher ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig, sodass niemand den Namen des Autors falsch angegeben hätte; später hingegen findet man ihn als »Karl Bühler« und »Büchner« bezeichnet – und darin steckt wieder ein kleiner Hinweis, dass der sprechende Nachname für einen Theoretiker, der einen Gegenstand aus dem kontemplativen Bereich der schönen Künste auf eine prosaische Tätigkeit überträgt, irgendwie unangebracht wirkt.58 Die Soziologie des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs liefert noch weitere Argumente für die verstärkte Relevanz einer Phänomenologie des Druckfehlers: Der übliche Zustand, dass die Verlage sich für die Publikation von den Autoren der akademischen Qualifikationsarbeit bezahlen lassen, anstatt Autoren für ihre Erzeugnisse zu vergüten, führt zu einer Situation, in der die Quantität der Veröffentlichungen gesteigert werden muss, während die Qualität des Lektorats (wie auch einer Lektüre, die sich an der hohen Fehlerquote stören würde) vernachlässigbar erscheint. Es besteht demnach eine Rangliste, in der die unnötige Publikation einer Abschlussarbeit in einem obskuren Online-Verlag auch die höchste Anzahl stehengelassener Fehler erzeugen wird. Muss man also eine Arbeit über Chomskys Theorie der korrekten Satzbildungen weiterlesen, wenn diese ihre These auf der ersten Seite wie folgt präsentiert: »In einem ersten Schritt soll die Generative Transformationsgrammatik nach Chomsky dargelegt sowie an einem konkrete [sic!] Beispiel illustriert werden um die Arbeitsweise der Theorie zu verdeutlichen.«59 Eine eigene »Ästhetik der Druckfehler« tritt hingegen eher im elitären Höhenkamm der akademischen Veröffentlichungen zutage. Eine literarisierte, metaphorische und in sich kreative Wissenschaftssprache kann Situationen der Unsicherheit erzeugen, in denen wie im folgenden Zitat aus einer Arbeit der Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter nicht ganz klar erscheint, ob ein Neologismus vorliegen könnte, oder ob es sich nur um einen falsch geschriebenen Vokal handelt: »Das Muster der Kontingenz regiert die szenischen Erzählungen der genannten Performances: Erinnerungslocken [sic!], brüchige Muster und splitterhafte Geschichten
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Umberto Eco, Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. von Michael Franz und Stefan Richter, Leipzig 1989, S. 236. Zu dieser These passt der klar abwertende Darstellungskontext bei Jacques Handschin, Musikgeschichte im Überblick, Wilhelmshaven 3 1981, S. 29f: »Ein wirtschaftlich orientierter Gelehrter (Büchner) [sic!] meinte, die Musik müsse zu dem Zweck entstanden sein, um bei gemeinsamer Arbeit die Anstrengung rhythmisch zu koordinieren und zu erleichtern; aber warum finden wir dann bei primitiveren Völkern die Musik viel eher mit Magie, also mit etwas der Religion Ähnlichem, als mit der Arbeit verknüpft?«; die Schreibweise Bühler findet sich hingegen bei Riethmüller 1989, »Musik zwischen Hellenismus und Spätantike«, S. 314. Wolfgang Just, Die generative Theorie tonaler Musik nach Lerdahl und Jackendoff – Darstellung und Kritik, Norderstedt 2005, S. 5.
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erscheinen locker gefügt; und eine besondere Stellung erhält in diesen szenischen Erzählungen eben die Anekdote; die kleine pointierte Geschichte, die die Lücke zwischen Faktum und Fiktion zugleich füllt und wieder öffnet.«60 Einen anderen typischen Fall für das Entstehen grammatikalischer Metaebenen in den ästhetischen Texten erzeugt die Situation, dass jene Werke, die keine Werke mehr sind, sich wie keine anderen mit den Namen ihres Autors verbinden: Das Urinal als Original ist abhängig davon, nicht irgendein Urinal, sondern Duchamps Original zu sein, sodass manchmal in der Sekundärliteratur das Genitiv-S als Teil des Künstlernamens aufgefasst wird. Der Name des Autors verbleibt der einzige Hinweis, dass auch die Präsentation eines Nicht-Kunstwerks weiter dem Präsentationsmodus eines »echten« Kunstwerks gehorcht; aber wie im folgenden Zitat aus Luhmanns Kunst der Gesellschaft wird eben dieser Name daher selbst zu dem willkürlich modifizierten Objekt: »Marcel Duchamps [sic!] hat bekanntlich versucht, diese Frage in der Form eines Kunstwerks aufzudrängen, und es liegt ein Verdienst darin, daß dies durch Eliminierung aller sinnlich erkennbaren Unterschiede geschieht.«61 Die künstlerischen Avantgarden verstärken diese Unschärferelation zwischen den gewollten und den ungewollten Fehlleistungen. Ist der folgende Satz aus Cages Lecture on Nothing in der deutschen Übersetzung einfach nur fehlerhaft (die englische Originalausgabe von Silence enthält an dieser Stelle keinen Stolpermoment), oder doch einer Verdeutlichung der Struktur und der Selbstthematisierung auf mehreren Ebenen geschuldet: »Daß Musik einfach zu machen ist, beruht auf der Bereitschaft, die Beschränkungen durch die Struktur zu zu [sic!] akzeptieren.«62 Man erkennt mit nur ein wenig Gewaltsamkeit, dass der Druckfehler und der Rhythmus in der Anpassung der Silbenzahl an ein vorgegebenes Schema vielleicht auch Verwandte im Geiste sind. Der stets aus dem Kontext gerissene einzelne Satz, auf den eine Druckfehlersammlung notwendig beschränkt bleibt, erzeugt einen Vorrang der syntaktischen Struktur vor dem übergreifenden Sinn, die in sich einer Funktion des sinnfernen Rhythmus entsprechen wird. Natürlich ist zu akzeptieren, dass das Zufallserzeugnis des Druckfehlers sich nur in seltenen Fällen mit einer zusätzlichen Sinndimension versehen lässt, die auch noch auf das Thema der Rhythmustheorien bezogen werden kann. Tatsächlich ist im Kontext des Darwinismus der zufällige Druckfehler, der einen neuen Sinn erzeugt, ein metaphorisches Beispiel für die Funktionsweise des evolutionären Algorithmus aus Mutation und Selektion.63
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Brandstetter 2005, Bild-Sprung, S. 130. Auch hier erkennt man eine zusätzliche Alliteration zu »locker«, während die rhetorischen Doppelungen zu »Lücken« aus dem Textbild verschwinden. Es stellt sich dabei natürlich die Zusatzfrage, ob es sich um das Erinnerungslocken handelt, das also die Gegenwart in die Vergangenheit hinüberzieht, oder um die Erinnerungslocken, sodass frisurentechnisch mit einer Locke vom Haar der Geliebten argumentiert würde. Luhmann 1998, Kunst der Gesellschaft, S. 62. Bei Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M. 1984, S. 10 wandert der Druckfehler in das Urinal als Objekt: »Selbst das bekannte Prozellangefäß [sic!] läßt sich wahrnehmen als ›strahlend weiß‹ […]«. Cage 1969, Silence, S. 7. Vgl. Daniel Dennett, Darwin’s Dangerous Idea, Evolution and the Meanings of Life, New York 1995, S. 110 (mit dem Beispiel »Am I my brothel’s keeper?«).
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Besonders deutlich wird diese eigene Aussagekraft der Druckfehler, wenn ein philosophisches Manifest zur »digitalen Revolution« in der Musik für die Vorteile der Publikation im Eigenverlag wirbt, aber in der recht hohen Anzahl von Fehlern auch den Wert eines guten Lektorats belegt: »Schon Karlheinz Stockhausen kam aufgrund einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung zu dem Schluss, dass es offenbar lukrativer ist, Universal Edition zur [sic!] verlassen und seine Werke selbst zu verlegen.«64 In dieser Debatte um den »digital turn« der Musikgeschichte tritt zusätzlich hervor, dass die direkt hervorblitzende Fehlerhaftigkeit des Druckfehlers um eine stärker aus dem Verborgenen hervortretende Doppelsinnigkeit einzelner Worte zu ergänzen wäre. Eine Analogie zu bilden, auf einen analogen Fall zu verweisen – das sind in dieser Debatte stets doppelt markierte Aussagen.65 Die Rhythmustheorie ist für diesen rhetorischen Doppelsinn erkennbar ein extrem anfälliger Bereich: Die Reichweite erstreckt sich vom bewussten Wortspiel wie »Rhythm in it«66 oder »Rhyth mus(s) sein«67 bis zu subtilen Verschiebungen des intendierten Aussagegehalts. Christopher Hastys strikt an »analoger« Ereignisfülle statt an »digitaler« Gliederung orientierte Projektionstheorie des Rhythmus erweist sich als besonders raffinierter Fall, wie einzelne Sätze zwischen den Möglichkeiten des bewussten oder des ungewollten Doppelsinns oszillieren: »Dauer ist eins der zahllosen Felder der Wiederholung. Sie ist die Empfindung oder das Messen des ›Wie lange?‹, kein Zählen von Einheiten.«68 Dauer ist aber auch das eine »zahl-lose« Feld der Wiederholung: jene Form der Wiederholung, die, wie der Satz ausführt, die Gesamtspanne als ungefähre Gleichheit bemisst und daher ohne einen unterteilenden Zählakt auskommt. Und dies erzeugt gleich den nächsten Doppelsinn: »›Die kontinuierliche Erzeugung neuer gefühlter Ereignisse‹ umgeht, wenigstens für den Moment, die geläufige Identifikation von Rhythmus mit Regelmäßigkeit oder Periodizität.«69 Auch der Moment ist aber in sich der Begriff, der die zeitliche Gegenwart von der periodisierten Punktbestimmung in eine Perspektive der Zeiterstreckung, einer inhalt-
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Harry Lehmann, Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012, S. 17. Vgl. als Variante auch S. 27: »Zudem brauchen die Stücke nicht bis zur letzten Perfektion muss man einstudieren«. Vgl. folgende Aussage von Claus-Steffen Mahnkopf zu seinen zwei Mitautoren in Johannes Kreidler/Harry Lehmann/Claus-Steffen Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse, Hofheim 2010, S. 38: »Beide argumentieren analog, teilweise mit den gleichen Beispielen«. Es wäre aber darauf zu bestehen, dass er es ist, der in der Sache »analog« argumentiert, wohingegen Kreidler und Lehmann »digital« argumentieren. Vgl. Schuppli 2013, Rhythm in it. Der einzelne ausgetauschte Buchstabe verschiebt die Vorstellung des Rhythmus von einem auslösenden Subjekt in ein pulsierendes Objekt. Vgl. hierzu Michael Dartsch, »Ryth mus(s) sein: zur Konzeption eines Kinderkonzertes des Studiengangs Elementare Musikpädagogik zum Thema ›Rhythmus‹«, in: Christian Rolle/Herbert Schneider (Hg.), Rhythmus! Studien und Materialien zur musikpädagogischen Arbeit über und mit Rhythmen, Regensburg 2009, S. 105-108. Christopher Hasty, »Rhythmusexperimente – Halt und Bewegung«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, Bielefeld 2014, S. 168. Ebda., S. 158.
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lich positiven Ausfüllung überführen kann. Es tritt hierin eine allgemeine Erfahrung der Zeit- und Erkenntnistheorie zum Vorschein: Bestimmte Metaphern wie die optischen, militärischen oder eben temporalen Begriffe lassen sich selbst dort nicht vermeiden, wo eine Interferenz zweier Bedeutungsebenen unvermeidlich wird. Dafür finden sich anders als für den Druckfehler sehr regelmäßig Beispiele in Rhythmustheorien: »Ein wesentlicher Unterschied dieser akustischen Rhythmen gegenüber unseren optischen Reihen ist dabei im Auge zu behalten.«70 Oder auch die folgende Aussage, in der die Unreife der Zeit ebenso für die Zeit als Objekt gelten könnte: »Dies alles hat dazu geführt, daß dieses Kapitel nicht als Einführung in die musikalische Zeitgestaltung verstanden werden kann. Zur Abfassung eines solchen Werkes scheint mir die Zeit noch nicht reif.«71 Die »Ebene der Beschriftung« wird jedoch zum exakten Gegenteil der »Ebene der Beschreibung«, wenn das Signifikat der ästhetischen Kritik (ein metrisiertes Rhythmuskonzept) für die sprachlichen Signifikanten weiter verpflichtend bleiben muss. Dies betrifft Aussagen, in denen auf den Punkt verwiesen wird, dass es keine Zeitpunkte gibt, oder in denen der Wegfall von Akzenten einen Akzent setzt. Die Zeitpunktbestimmung ist tatsächlich der Standardfall für diese Stolperfallen: »Die Beobachtung eines über die Symbolisierungsform Musik veränderlichen Jetztmoments führte an einen Schlüsselpunkt des Zusammenhangs von Musik und Welt- bzw. Selbstkonzept.«72 Der Punktbegriff wird in dieser Aussage durch die letztendlich weniger intuitive, jedoch auch weniger metrisierte Begrifflichkeit eines Jetztmoments aus dem ästhetischen Kontext ausgeschaltet, bleibt aber für den eigenen Darstellungsrahmen akzeptiert; dies ließe sich am ehesten legitimieren durch eine romantisierende Weltsicht, in der die Sphäre der Musik von der Sphäre der Welt ganz getrennt sein soll (doch genau dem widerspricht der zweite Satzteil). Der rhetorische Lapsus einer Verwendung des Punktbegriffs in exakt jenem Satz, in dem die mit dieser geometrischen Punktbestimmung erzeugte metrisch-mathematische Verdinglichung ausgeschlossen werden soll, ist zudem eine multilinguale Verfehlung. Im Französischen scheint der Punktbegriff strukturalistisch stärker positiv aufgeladen, aber phänomenologisch noch stärker negativ konnotiert, weshalb der Umschlagpunkt aus der einen in die andere Punktvorstellung besonders stark hervortritt: »En effet, aussitôt que l’on confère au rythme une positivité ontique, que l’on croit décelable en tant que fait objectif, traité sur le mode de l’en-soi, sa dimension transcendantale est détruite à l’instant même où on cherche à la manifester«.73 Im Englischen dagegen ist die Punktvorstellung auch auf das Verb eines Satzes übertragbar und führt zu einer offenkundig nochmals höheren Akzeptanz dieses eklatanten Widerspruchs im einzelnen Satz. Das folgende Zitat bezieht sich zum Beispiel auf 70 71 72 73
Friedrich Sander, »Über räumliche Rhythmik«, in: Neue psychologische Studien 1/1 (1926), S. 157. Hermann Gottschewski, Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen aus dem Jahre 1905, Laaber 1996, S. 164. Mahrenholz 1998, Musik und Erkenntnis, S. 129. Garelli 1991, Rythmes et mondes, S. 423.
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die – für das Problem der verdoppelten Punktbegriffe paradigmatische – Zeittheorie von Henri Bergson: »He pointed out that the mechanical means of measuring time was not in fact a measure of time at all, since it could only derive estimates from distinct points in time rather than from the flow of time itself: it anachronously used hypothetical, static points to measure continuous movement.«74 Dieser Konflikt »digitaler« Signifikanten mit den behaupteten »dichten« Signifikaten erzeugt eine naheliegende Anschlussfrage: Inwiefern kann Rhythmus als InterferenzBestimmung gefasst werden, die voneinander getrennte Kategorien und Ebenen durchkreuzt, wenn zugleich die an der Punktgeometrie weiter haftende Beschreibungssprache und die von der Punktgeometrie befreiten Phänomene vollständig voneinander getrennte Ebenen darstellen sollen? Der Druckfehlerteufel erzeugt in dieser Frage manchmal sogar einen zusätzlichen Sinn, der nicht störend dem gemeinten Sinn entgegentreten muss, sondern diesen nochmals verstärken wird: »Wäre alles gleichbleibend oder umkehrt [sic!] alles verfließend, so gäbe es keine bestimmte Bewegung, die sich von anderen abhöbe; es gäbe nur einen pausenlosen Bewegungsfluß, keine Rhythmik.«75 Das Wort »umgekehrt« wird hier in den Vorgang »umkehren« umgekehrt, sodass abweichend zum gemeinten Sinn nicht eine »digitale« Differenz binärer Kategorien (das eine und umgekehrt dazu das andere) hervortritt, sondern ein »analoges« Tätigsein der Welt, in der das Fließende sich durch seine Umkehr rhythmisiert. Der grammatikalisch fehlende Buchstabe ist die Rache des Digitalen für seine Herabsetzung: »Die Popmusik beruht in beinahe allen ihren Spielarten auf einem solchen durchgehenden Beat, angesichts dessen eine rasterartige metrische Regelmäßigkeit kein abstraktes Prinzip, sondern ein [sic!] real vorliegende Offensichtlichkeit ist.«76 In ironischer Weise treten die Druckfehler mit besonderer Häufung dort auf, wo ihre diskrete Struktur eine inhaltliche Aussage zu dichten Strukturen zu kommentieren scheint (wie in dem folgenden Zitat aus der Kunstontologie von Roman Ingarden): »Gewiß, wollte jemand z.B. den Trauermarsch aus der b-moll-Sonate von Chopin (op. 35) in hohen Rogistern [sic!] spielen, so würde dadurch das Werk wesentlich verändert werden, und man könnte keine adäquate ästhetische Erfassung dieses Werkes von Chopin erlangen. Aber kleine Verschiebungen um einen Bruchteil eines Tones können hier keine wesentliche Rolle spielen. Das Musikwerk scheint auch in dieser Hinsicht nicht völlig eindeutig bestimmt zu sein.«77
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M. J. Grant, Serial music, serial aesthetics. Compositional theory in post-war Europe, Cambridge 2001, S. 24. Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 64. Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 216. Roman Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk; Bild – Architektur – Film, Tübingen 1962, S. 15f.
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Die Druckfehler und die Doppelungen des Sinns verweisen darauf, dass die Differenzen in den Rhythmustheorien zwischen einer archaischen Wirkung und einer abstrakten Wertungsfunktion gleichsam einen starken Druck und Gegendruck erzeugen, der plastisch eher in der rhetorischen Außenseite als in den rhythmischen Konzepten selbst hervortritt. Am folgenden Satz erkennt man brennspiegelartig dieses Grundproblem: »Kann er [= der Rhythmus] eine Antwort sein auf die verzweifelte Feststellung des Zeitgenossen Hofmannsthal in der bekannten Stelle des Chandos-Briefs: daß ›alles in Teile, die Teile wieder in Teile‹ zerfalle?«78 Den Rhythmus zur Antwort auf diese berühmte Fragestellung zu erheben, erscheint zugleich historisch sinnfällig und systematisch völlig absurd: Rhythmus wird tatsächlich zum Heilmittel, weil er getrennte Teile in eine synthetisierende Erfahrung zusammenbinden kann (Arbeit und Tanz, Ökonomie und Kunst etc.), doch Rhythmus beruht auf einer syntaktischen Grundlage, die von dem Prinzip der Teile, die wieder in Teile zerfallen, kaum vollständig getrennt werden kann. Dieser Konflikt überführt die Rhythmustheorien in jene Gedankengebäude, in denen ein Primat von Differenz oder Identität, von Systemanspruch oder Systemsubversion, in immer sublimeren Varianten verhandelt worden ist. Die Argumentation anhand einer Ansammlung von einzelnen Druckfehlern kann dabei zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass eines der berühmten philosophischen Worte des 20. Jahrhunderts eben die Simulation eines Druckfehlers darstellt: Jacques Derridas Begriff der »Différance« verweist auf den Gegensatz der »digitalen« Schrift (wo der Fehler hervortritt) und des »analogen« Phonozentrismus (wo der Fehler nicht existiert).79 Das mit dem Begriff der Différance verbundene Prinzip der Dekonstruktion kann daher mit den unintentionalen Nebenprodukten von intentionalen Prozessen nahezu gleichgesetzt werden: »Der dekonstruktive Analytiker tut fürs erste nichts anderes, als auf die Metaphern, die Sprünge, die Lücken, die Pausen und Versprecher zu lauschen, die möglicherweise verraten, dass im Vortrag des vollendeten Wissens Motive am Werk sind, die seine völlige Schließung in sich sabotieren.«80 Hinzu kommt, dass die Theorie Derridas an musikbezogenen Kontexten entwickelt worden ist.81 Die Grammatologie entsteht als Kritik von Rousseaus Genealogie der Melodie, die entweder aufgrund ihrer »digitalen« Einzelkomponenten stets Artikulation schon voraussetzt, oder aber diese Artikulation als »analoger« Sirenengesang nicht mehr garantieren kann:
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Hanno Möbius, »Teilung und Zusammensetzung. Heinrich von Kleist und die Entwicklung zum Rhythmus-Begriff in Tanz und Arbeit sowie in der Literatur«, in: Hanno Möbius/Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 177. Vgl. zu dieser Eigenschaft u.a. Raymond Monelle, Linguistics and Semiotics in Music, Chur 1992, S. 307. Peter Sloterdijk, Derrida ein Ägypter. Über das Problem der jüdischen Pyramide, Frankfurt a.M. 2007, S. 55f. Vgl. Downing A. Thomas, Music and the origins of language. Theories from the French Enlightenment, Cambridge 1995, S. 85.
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»Durch die Stimme muß die tierische, wilde, stumme, unmündige oder schreiende Natur überwunden werden; durch den Gesang muß die Stimme überwunden oder modifiziert werden. Der Gesang soll aber die Schreie und Wehklagen imitieren.«82 Die Musik bleibt dabei für Derrida lediglich eine Metapher der sprachlichen Artikulation und scheint als ästhetischer Gegenstand nicht selbst für das Theorieprogramm der Dekonstruktion bzw. den Begriff der Différance relevant zu werden (man kann also nicht auf Derridas eigene Rhythmustheorie zurückgreifen).83 Sicher aber wäre es unangemessen, die Theorie Derridas in ein konservatives Plädoyer zu verwandeln, aus dem sich eine notwendige Präsenz metrischer Normbestimmungen ableiten ließe.84 Eher schon wäre eine »erweitert metrische« Auffassung mit einem Theoriemodell kompatibel, bei dem die kinetischen Positivbegriffe nie von ihren kalkulierenden Gegenbegriffen ganz getrennt werden können. Was Derrida am Beispiel der Melodie bei Rousseau kritisiert, ließe sich auch am Beispiel des Rhythmus bei Klages kritisieren (oder sogar noch in den Kulturwissenschaften): »Zwischen dem Sein und der Seele, den Dingen und den Affektionen bestünde ein Verhältnis natürlicher Übersetzung oder Bedeutung; zwischen der Seele und dem Logos ein Verhältnis konventioneller Zeichengebung.«85 Das in diesem Gegensatz angedeutete Argument der Relationsprüfung verweist darauf, dass die Theorie des Rhythmus tatsächlich als konkretes Beispiel in einer Theorie des Gegensatzes von Stimme und Schrift herangezogen werden kann. Entscheidend hierfür scheint zu sein, dass sich Derridas Konzept der Différance (natürlich stark vereinfacht) auch so auffassen lässt, dass ein einzelner Zeitpunkt zwei einander in der Zeit widersprechende Bestimmungen enthalten soll: diejenige des Ursprungs und diejenige des Aufschubs. Die Konstruktion dieses Widerspruchs aber verlangt die partielle Akzeptanz eines Denkens, das ein Ideal der organisch fließenden Zeit auch negiert, weil die beiden Bestimmungen in einer Zeitspanne bzw. in einer erfüllten Gegenwartserfahrung nicht mehr gleichursprünglich gedacht werden müssen, sondern doch wieder82
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Jacques Derrida, Grammatologie, übs. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 339. Vgl. zu dieser Dualität auch schon S. 338: »Rousseau schwankt also im Dictionnaire ebenso wie im Essai zwischen zwei Notwendigkeiten: er muß die Differenz zwischen dem System der stimmlichen Intervalle und dem der musikalischen Intervalle bestimmen, gleichzeitig jedoch daran festhalten, dass in der ursprünglichen Stimme sämtliche Anlagen zum Gesang verwahrt liegen«. Dennoch wäre die Aussage bei Sonderegger 2000, Ästhetik des Spiels, S. 103 aufgrund von Derridas Parallelsetzungen zwischen sprachlichen und musikalischen Ordnungssystemen vorsichtig zu bezweifeln: »Daß Derrida auf die Musik als reproduktive Kunst überhaupt nie eingeht, kann ich mir nur so erklären, daß er sie vor semantischen oder wahrheitsorientierten Mißverständnissen durch ihre extreme Lateralität und Materialität gefeit sieht.« Vgl. etwa Derrida 1974, Grammatologie, S. 367, wo die Tonleiter (die diskreten zwölf chromatischen Tonorte) mit der Funktion der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort für den Bereich der Musik gleichgestellt wird. Vgl. assoziativ zu dieser entzaubernden Funktion von Derrida auch Trabant 1998, Artikulationen, S. 89: »Mit allerlei Schreibgerät in der Hand versucht Derrida, dem Denken die Erinnerung an den trügerischen Gesang der Sirenen auszutreiben. Derrida möchte dem Odysseus die Ohren nachträglich verstopfen. Als wenn das noch nötig wäre«. Derrida 1974, Grammatologie, S. 24.
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um der Ursprung vom Aufschub seiner Differenzbestimmung befreit gehalten werden könnte.86 Derridas Kritik an der phänomenologischen Zeittheorie von Edmund Husserl mündet erneut in einen jener Einzelsätze, in denen der Punktbegriff auf zwei Ebenen zugleich verwendet werden muss: »Man kommt dennoch an dem von uns erreichten Punkt nicht um die Feststellung herum, daß ein bestimmter Begriff des ›Jetzt‹, der Gegenwart als Punktualität des Augenblicks, auf verborgene, aber entscheidende Weise das gesamte System der ›wesentlichen Unterscheidungen‹ autorisiert.«87 Tatsächlich sollen Husserls Konzepte der Retention und Protention die Gegenwartserfahrung einerseits um eine Dimension der Vergangenheit und Zukunft erweitern, aber andererseits soll auch das Einheitsmoment einer stetig fließenden Zeit bewahrt werden. Die Urempfindung (als »esoterischer« Überbegriff) scheint bei Husserl zunächst »analog« und als in sich bewegte phänomenale Qualität bestimmt: »Zugleich aber mit der ersten Retention ist ein neues ›Jetzt‹, eine neue Urempfindung da, und mit jener kontinuierlich-momentan verbunden, so daß die zweite Phase des Flußes Urempfindung des neuen Jetzt und Retention des früheren ist, die dritte Phase abermals neue Urempfindung mit Retention der zweiten Urempfindung und Retention von der Retention der ersten usw.«88 Dieses sozusagen immerzu minimal »analoge« Modell eines kontinuierlich sich verschiebenden Jetztmoments wird jedoch in anderen Formulierungen umso klarer mit dem maximal »digitalen« Modell der geometrischen Punkthaftigkeit zusammengedacht: »Jeden Abstand können wir ja in infinitum teilen und bei jeder Teilung den späteren Teilungspunkt mittelbar durch die früheren erzeugt denken, und so erzeugt sich ein beliebiger Punkt schließlich durch eine von unendlich vielen Steigerungen (deren jede dieselbe unendlich kleine Steigerung ist).«89 Das Modell der Retention beinhaltet in seiner Regression also einen Aspekt der Repetition: Und damit stellt sich die Frage, inwieweit in dem ausgedehnten Jetztmoment der ausdehnungslose Punkt einer repetierbaren Teilung vorausgesetzt ist.90 Derridas Auseinandersetzung mit Husserl zielt auf diese Frage, ob der ontologische Vorrang in der Phänomenologie der Wiederholung oder der Gegenwart zugesprochen werden kann.91 86
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Vgl. etwa Derrida 1976, Schrift und Differenz, S. 311: »Diese Begriffe des ursprünglichen Aufschubs (différance) und der Verspätung lassen sich unter der Autorität der Identitätslogik und sogar unter der des Zeitbegriffs nicht denken«. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übs. von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M. 2003, S. 84. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Hamburg 2013, S. 88. Ebda., S. 108. Vgl. hierzu Manfred Frank, Zeitbewusstsein, Pfullingen 1990, S. 41: »Wir haben hier also nach Husserls Vorstellung mit zwei Dimensionen zu tun: einer, die sich durchs Bild einer horizontal sich ausdehnenden (und stetig retinierenden) Linie, und einer anderen, die sich durch eine von dieser Linie auf jedem Punkt vertikal nach unten abzweigende andere illustrieren lässt«. Vgl. Derrida 2003, Stimme und Phänomen, S. 13ff.
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Diese Weggabelung der Erkenntnistheorie scheint sich sozusagen in den Rhythmustheorien zu wiederholen. Es lässt sich eine Form des Rhythmus beschreiben, die eine (wenn auch womöglich ästhetisch defiziente) Form der Gegenwartserfahrung erst aus der unablässigen Wiederholung erzeugen wird, wie sich eine Form des Rhythmus beschreiben lässt, in der die Bedingung der Wiederholung in einer »Momentform« von Gegenwartsspannen reduziert werden soll. Die »kritischen« Rhythmustheorien bleiben in ihrem Quellenapparat allerdings spürbar begrenzt: Die Phänomenologie von Bergson und Husserl wird direkt mit ihren poststrukturalistischen Varianten bei Deleuze in Verbindung gestellt, wohingegen der Strukturalismus, die Semiotik, aber auch Derridas Modell der Dekonstruktion in auffälliger Weise ausgespart bleiben. Tatsächlich lassen sich bestimmte Einzelaspekte einer Theorie des Zeichenuniversalismus auf das Problemfeld der Rhythmustheorien übertragen (wie zum Beispiel die folgende Frage von Umberto Eco): »Stellen wir also fest, daß ein Kode semantische Äquivalenzen zwischen den Elementen eines Signifikantensystems und denen eines Signifikatsystems herstellt. Aber diese Definition wirft ein neues Problem auf: Weshalb sollten die Signifikate ebenso systematisch organisiert sein wie die Signifikanten?«92 Dies scheint tatsächlich eine zentrale Bruchstelle auch der Rhythmustheorien zu sein: Muss eine für die metrische Projektionsleistung notwendige Durchgliederung auch für die rhythmischen Phänomenalereignisse unterstellt werden oder nicht? Die Phänomenologie und der Poststrukturalismus werden zu den Stellvertretern eines »kritisch«, »kinetisch« bzw. »analog« funktionierenden Rhythmuskonzepts (wobei »kinetisch« als Zustandsform des stetigen Fließens stets auch »analog« ist, während eine »analoge«, also diffuse, dichte Strukturiertheit nicht zwingend auch »kinetisch« sein muss). Eine Dekonstruktion dieser Grundannahmen führt hingegen zur Akzeptanz einer »digitalen« Vorwegbestimmung im Rhythmischen, die sich aus dessen phänomenaler Substanz als punkthafte Simulation nicht vollständig herausrechnen lässt.
4.3
Operationen II: Unhinterfragte Rhythmusbegriffe
4.3.1
Rhythmus als Original und Fälschung
Druckfehler werden grundsätzlich nicht absichtlich einem Text hinzugefügt. Daraus erst ergibt sich die Metaphernfunktion dieser Fehler für die evolutionären Mutationen: »Comparing mutations to misprints, we may increase the probability of misprints by breaking the glasses of the typesetter, but there is no way of selectively increasing the probability of misprints occurring in the second edition of a book that will correct the factual errors of the first edition.«93
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Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, übs. von Günter Memmert, Frankfurt a.M. 1977, S. 86. Elster 1979, Ulysses and the Sirens, S. 5.
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Druckfehler sind in dieser Sicht einem nicht-umkehrbaren Zeitvorgang unterworfen. Ihre Anzahl wird in einem Erosionsprozess zunehmen, sodass ein Selektionsmechanismus notwendig ist, um dennoch einen Evolutionsprozess in den zufälligen Mutationen auszulösen.94 Druckfehler können jedoch durch einen Autor jederzeit intentional korrigiert werden, sodass die höhere Anzahl der Fehler nun oftmals einen Hinweis auf die zeitlich frühere Ausgabe darstellt.95 Die emergierende Sinndimension der Druckfehler verweist also auf den provokativen Kern der darwinistischen Evolutionslehre und widerlegt eine intuitive Gleichsetzung des »Analogen« mit den organischen Lebenskräften und des »Digitalen« mit einem Eingriff in diese Lebenskräfte. Für die Formulierung der »esoterischen« und der »kritischen« Rhythmustheorien ist daher eine Doppelung einer alltäglichen und einer philosophischen Vorstellung des Intuitiven notwendig: Im Alltag wird Rhythmus intuitiv mit teilweise regulären und punkthaften Sukzessionsfolgen in Verbindung gebracht, wogegen ein letztlich rationales (aber natürlich ästhetisch legitimes) Konstrukt gestellt wird, bei dem der Rhythmus von diesem metrisierten Alltagsverständnis befreit werden soll. Die ironische Pointe dieses Vorgangs ist, dass dafür in den Theorien eine Gleichsetzung des metrisierten Rhythmus mit der Ratio und eines fließend-freien Rhythmus mit einer stärker intuitiven Erkenntnisform vorgenommen werden muss. Das Wahrheitspathos der »esoterischen« Rhythmustheorien basiert auf diesen Grundannahmen. Das Wesen einer Person soll sich nicht in seinen rationalen Äußerungen, sondern in seinen vitalen Regungen enthüllen, die dem Zugriff des Bewusstseins teilweise auch entzogen bleiben: »Wie das Schiff zwar mit und ohne Steuer, nicht aber ohne Triebwerk vom Platze kommt, so bedarf auch jede lebendige Bewegung einer treibenden Kraft und diese ist ausnahmslos unwillkürlich, mag in den ungenau schlechtweg willkürlich genannten immerhin zu ihr noch hinzutreten das Steuer des Willens.«96 Die aus diesem Vorrang abgeleitete Rhythmusauffassung lässt sich zu der These zuspitzen, dass das Taktprinzip nicht als eine falsche, sondern als eine gefälschte Form des Rhythmus begriffen werden soll. Wäre das Metrum einfach nur eine falsche Form des Rhythmus, so könnte zwar eine ästhetische Qualitätsdifferenz behauptet werden, nicht aber eine moralische Wertdifferenz. Bei einer gefälschten Form des Rhythmus ist es genau umgekehrt: Da eine Fälschung versucht, den Platz des Originals einzunehmen, muss eine ästhetische Qualitätsdifferenz nicht vorliegen, aber es kann dennoch eine
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Vgl. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, übs. von Friedrich Griese, München 6 1983, S. 146: »Man muß daher sagen, daß die gleiche Störungsquelle, die bei einem unbelebten, das heißt nicht-replikativen System langsam die ganze Struktur vernichten würde, in der belebten Natur am Beginn der Evolution steht und deren totale schöpferische Freiheit ermöglicht […]«. Vgl. auch Türcke 2005, Kainszeichen, S. 227f.: »Die Möglichkeit, genetische Defekte als Schreibfehler darzustellen, eröffnete ganz neue therapeutische Aussichten: ›falsche‹ Buchstaben gegen ›richtige‹ auszutauschen und die morphogenetischen Abläufe in ihren Normalzustand zurückzuversetzen«. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1913, S. 7.
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starke moralische Wertdifferenz behauptet werden. Eine Rhetorik von Original und Fälschung ermöglicht den Effekt, dass ein und derselbe Gegenstand mit zwei grundlegend verschiedenen Wertbestimmungen verbunden werden kann.97 Was aber ist, wenn in der »esoterischen« Auffassung vom Rhythmus eben dieser rationale Vorgang der Wertbestimmung das entscheidende Merkmal für das Vorliegen einer Fälschung sein soll? In dieser Situation kann der Gegensatz des »Digitalen« als Medium der Fälschung (bzw. der abstrakten Kopierbarkeit) und des »Analogen« als Medium des Originals mit dem Gegensatz des Rhythmus als Original und des Metrums als Fälschung dieses Originals gleichgesetzt werden. Die stets nur ungefähre Gleichheit des analogen Mediums ist also das Merkmal der Originale, die stets ganz exakte Gleichheit des digitalen Mediums hingegen ist das Merkmal der Fälschungen: »Wiederholte der Takt das Gleiche, so muß es vom Rhythmus lauten, es wiederkehre mit ihm das Ähnliche; und da nun die Wiederkehr eines Ähnlichen im Verhältnis zum Verflossenen dessen Erneuerung vorstellt, so dürfen wir kürzer sagen: der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert.«98 Die Implikationen dieser behaupteten Wesensdifferenz sollen erst auf einer stärker abstrakten Ebene und danach an einem konkreten Beispiel diskutiert werden. Abstrakt bietet sich an dieser Stelle die Einführung des grundlegenden Begriffspaars von Type und Token an: Ein Token ist das individuelle Einzelzeichen, das an jeder einzelnen Stelle einer Zeichenreihe erneut wieder eingetippt oder ausgesprochen werden muss; ein Type ist die überindividuelle Zeichenklasse, die alle Tokens dieser Klasse identisch bestimmt. Eine »digitale Abweichung« beruht darauf, dass für einen Token eines bestimmten Type ein Token eines anderen Type eingesetzt wird. Eine »analoge Abweichung« kann dagegen auch darauf beruhen, dass für einen Token eines bestimmten Type ein anderer Token desselben Type eingesetzt wird. Die spektakuläre Enttarnung eines angeblichen Exemplars der Erstausgabe von Galileos Sternenboten als Fälschung kann diese Differenzen konkret verdeutlichen: Zwei winzige Einzeldetails, die zur Enttarnung entscheidend beigetragen haben, können belegen, wie Kategorien der Rhythmustheorien sich in diese allgemeinen Zeichenbestimmungen einschreiben. Beide Details setzen voraus, dass ein in wesentlichen Teilen »digitales« Objekt gefälscht wurde. Das erste Detail, das Zweifel an der Echtheit dieses spezifischen Exemplars wecken musste, war die exakte Gleichheit auch des »analogen Rests« eines Einzelbuchstabens auf der Titelseite: Die dunklere Färbung des Papiers wird durch einen digitalen Kopiervorgang zum falschen Bestandteil des originalen Druckvorgangs umgedeutet. Es fehlt in diesem Fall also die non-zyklische Aktualisierung als notwendige Bedingung aller empirischen Objekte: Anstatt identische Types durch minimale Abweichungen des Drucks in individuelle Tokens zu übersetzen, wird ein bestimmter Token durch die exakte Gleichheit in verschiedenen Drucken als gefälschter Type erkennbar. Das zweite Detail, das die Zweifel an der Echtheit bestätigen konnte, besteht hingegen in dem Nachweis eines intentionalen Eingriffs, durch den ein Fehler des origina97 98
Vgl. dazu Henry Keazor, Täuschend echt! Eine Geschichte der Kunstfälschung, Darmstadt 2015, S. 29. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 32.
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len Druckvorgangs korrigiert wurde: Eine einzelne Druckletter ist beim Erstdruck beschädigt und erzeugt an verschiedenen Stellen den nur unvollständigen Abdruck eines Einzelbuchstabens, der sich in exakt dieser Form der Unvollständigkeit aber mehrmals wiederholen muss. Es fehlt in diesem Fall der Fälschung, die diese Lettern korrigiert, also nun das eigene zyklische Potenzial einer repetierten Musterbildung.99 Ein »analoges« Medium erzeugt die stärker fälschungssichere, aber auch stärker fälschungsanfällige Schriftform, in deren irreduziblen, kontinuierlichen und detailgesättigten Texturen nicht mehr exakte Gleichheiten oder völlige Ungleichheiten, sondern individuelle Typusbestimmungen hervortreten. Auch die Ausführungen von Paul Needham zur gefälschten Ausgabe des Sternenboten wechseln am Ende der eigenen Begründungskette zum »analogen« Medium von Galileos Handschrift: »The skilled forger, with sharp eye and agile hand, had followed this model well. But the model is anachronistic. It is the signature not of the forty-six year old man to whose eyes the gates of the heavens had recently begun to swing open, but of the sixty-nine year old, aged and ill and threatened with torture.«100 Die gefälschte Signatur ist angelehnt an eine Vorlage, die einem anderen Lebensabschnitt Galileos entstammt, und besitzt eine Dimension der Falschheit, die einzig in einem »analogen« Medium hervortreten kann. Der Gegensatz von Type und Token umfasst in sich den Konflikt um den Vorrang von Gegenwart und Wiederholung: Die exakte Gleichheit der Tokens markiert in der »digitalen« Fälschung die fehlende Authentizität der Types (weil die Gleichheit nur durch eine Wiederholung zustande gekommen sein kann), die nur ungefähre Gleichheit der Tokens markiert im »analogen« Original konträr eine vorhandene Authentizität gegenüber den Types. Eine Handschrift besitzt das Privileg, diesen Vorrang eines »analogen« Originals in das »digitale« Medium der Schrift einzuprägen, sodass auch in einer Kopie nicht die Wiederholung der Types, sondern die Gegenwart der Tokens vorrangig verbleibt: »Nur das Schreiben, als im Augenblick der Entstehung fixiert, hinterläßt uns für Jahrzehnte und selbst Jahrhunderte dauernde Spuren, die – frei sogar von den möglichen Fehlern der photographischen Platte – ingestalt der Handschrift mit vollkommener Genauigkeit auch die zartesten Schwankungen der erzeugenden Funktionen bewahren.«101 Die biografische Verbindung von Graphologie und Rhythmuslehre bei Klages ist alles andere als ein Zufall. Die Authentizität der Handschrift ist vielmehr derjenige Gegenstand, an dem sich ein »Vorrang des Analogen« nachweisen lässt, wenn die Handschrift als der Ort bestimmt wird, an dem Gegenwart und Wiederholbarkeit miteinander zusammenfallen; diese Interferenz tritt typischerweise aber erst dort ins Zentrum, wo
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Vgl. Paul Needham, »The Evidence of the Forged Printing«, in: Horst Bredekamp/Irene Brückle/Paul Needham (Hg.), A Galileo Forgery. Unmasking the New York Sidereus Nuncius, Berlin 2014, S. 25ff. 100 Ebda., S. 34. 101 Klages 1913, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 46.
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in einer »digitalisierten« Theorieperspektive die eingespeicherten und auftätowierten Handschriftenproben miteinbezogen werden: »Genau in der Doppellogik dieser Polarität liegt das Besondere von Handschrift: sie ist jedes Mal einzigartig und wiederholt dabei doch die Idealtype des lesbaren Abdrucks. Auf den Punkt gebracht: Sie ist zugleich iterabler Abdruck und singuläre Spur: singuläre Iterabilität; iterable Singularität.«102 Selbst eine elektronische Unterschrift verweist immer noch auf den Status eines unfälschbaren Originals, wenn die Handschrift als Beglaubigung einer Kopie eingefordert wird.103 Duchamps ästhetische Umdeutung von Alltagsgegenständen beruht auf diesem bewahrten Vorgang einer authentischen Autorensignatur.104 In der Handschrift werden zwei verschiedene Vorgänge der non-zyklischen Aktualisierung ineinander überführt: Die Übersetzung der Druckbuchstaben in aufgeschriebene Buchstabenfolgen und die Umsetzung der Buchstabenfolgen mittels individueller Schriftmuster. Der erste Vorgang müsste sich in einem Erosionsprozess auflösen (die Types verschwinden im Gekritzel der Tokens), wenn nicht der zweite Vorgang einen Evolutionsprozess auslösen würde (die Tokens speichern als personenbezogenes Muster einer Handschrift die Types). Klages stellt jedoch einseitig nur den ersten Vorgang heraus: »Noch das kürzeste Schreiben bietet keinen Buchstaben in völliger Gleichheit zum zweitenmal, ist ferner voller Kurven, an denen wir nicht einmal Bruchstücke von mathematischer Bestimmbarkeit ausfindig machen und weicht endlich in seinen Geraden von der wirklichen Geraden jedenfalls weiter ab als die mit dem Lineal gezogene, an der man ihren Begriff erläutert.«105 Aus diesem Bild aber lässt sich der wissenschaftliche Anspruch der Graphologie nicht ableiten: Auch wenn zunächst eine Erosion der »digitalen« Vorlage in einen »analogen« Vorgang erfolgt, muss dabei strittig bleiben, inwiefern die Evolution der individuellen Einzelzüge der jeweiligen Handschrift weiter von der Vorgabe immergleicher Einzelzeichen abhängig ist. Der erste Vorgang der non-zyklischen Aktualisierung erzeugt die Auflösung der Types in Tokens, der zweite Vorgang der non-zyklischen Aktualisierung hingegen kann im Extremfall eine Überführung der Tokens in eine eigene und neue Klasse von Types bewirken (etwa als Branding eines Einzelbuchstabens zum Firmenlogo durch eine bestimmte Schriftart und Farbgebung).106 Wenn für die einzelne Handschrift ein vollständiger »Vorrang des Analogen« gelten soll, muss die Gegenwart von übergreifenden Linienzügen und weniger die Wiederho-
102 Sonja Neef, Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2008, S. 89. 103 Vgl. als Fallstudie Fabian Steinhauer, »Der Patriot Act und der Autopen. Eine Geschichte zur Theorie der (Kontra-)Signaturen«, in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Medien der Bürokratie, Paderborn 2016, S. 163-176. 104 Vgl. Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München 1995, S. 152. 105 Klages 1913, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 68. 106 Vgl. dazu auch Türcke 2005, Kainszeichen, S. 194.
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lung einzelner Letternformen ermittelt werden. Klages verwendet hierfür den Begriff des »Formniveaus«, sodass eine Handschrift durch das Umdrehen des Blatts und das Ausblenden der Textaussage am besten beurteilt wird.107 In Klages Entwurf der Graphologie entstehen demnach die identischen Fallstricke wie in seiner »irrationalen« Definition des Rhythmus als polarisierter Stetigkeit; der behauptete Vorrang des Stetigen kann beständig in einen vorhandenen Vorrang der Polarität umgedeutet werden: »In bezug auf die Handschrift kann man nur dann von Rhythmus sprechen, wenn gesetzmäßig vorkommende Wiederholungen von Schriftmerkmalen oder Merkmalskomplexen im Wirkungsfeld polarer Spannungen auftreten.«108 Der Zusammenhang von non-zyklischer Aktualisierung und zyklischem Potenzial ist vermutlich die eigentliche Entdeckung, den die Rhythmustheorie aus der Handschriftenforschung für sich übernehmen konnte. Es stellt sich dann aber immer die Frage, welche »unsichtbare Hand« für die emergierende Musterbildung verantwortlich gemacht werden soll. Eine erste Möglichkeit ist die Unterstellung, dass in den Mustern eine formende Kraft der Natur hervortritt, die als »élan vital« jeder rationalen Selbstkorrektur des Subjekts vorgelagert ist. Der Nachweis dieser Formungskraft ist jedoch partiell von der maschinellen Aufzeichnung der organischen Lebensäußerungen abhängig. Eine zweite Möglichkeit wäre der trivialere Verweis, dass in den Musterbildungen von vornherein die »digitale« Vorgabe einer subjektiven bzw. semiotischen Rationalität ihre Spuren hinterlässt: In den Tokens treten die gleichbleibenden Qualitäten einer Handschrift erst hervor, wenn diese Unterschiede als diskrete Größen bestimmt werden. Die »Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden« als Fehler der empirischen Datenvorgaben und die »Wiederkehr des Verdrängten« als Leerstelle der epistemischen Denkvorgaben werden also in gewisser Weise in den »esoterischen« Rhythmustheorien miteinander kombiniert. Dies hängt mit einem medialen Arbeitsbereich zusammen, in dem die »empirischen« und die »esoterischen« Tendenzen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konvergieren: In den Individualkurven der Handschrift oder anderer Lebensäußerungen tritt eine Zwischenschicht innerhalb von Zeichenordnungen hervor, in der Types und Tokens nicht eindeutig voneinander getrennt sind. Das Beharren auf einer organischen, vitalen und von dieser Interferenz nicht betroffenen Form der rhythmischen Authentizität wird zur Abbildung einer prä-modernen Ästhetik, in der Original und Fälschung als Kategorien möglichst klar voneinander getrennt verbleiben sollen.109 Eine postmoderne Ästhetik kann umgekehrt die Fälschung (bzw. die Kopie) zur Bedingung der Rede von einem Original erheben.110 In diesem Fall wird das Original ein107 Vgl. Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 36ff. (der Begriff des Formniveaus mag von dort in Adornos Musikästhetik gewandert sein, er bewahrt die Eigenschaft, nur schwer falsifizierbar zu sein). 108 Wieser 1973, Rhythmus und Polarität, S. 59. 109 Vgl. dazu auch Hillel Schwartz, Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, übs. von Helmut Ettinger, Berlin 2000, S. 135f. 110 Vgl. Ariane Mensger, »Déjà-vu. Von Kopien und anderen Originalen«, in: Ariane Mensger (Hg.), Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Bielefeld 2012, S. 31.
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seitig durch seine Eigenschaft des zyklischen Potenzials bestimmt, denn es entscheidet die Kopie darüber, welche Elemente des Originals dieses als Original definieren, indem sie auch in die Kopie übernommen werden; dies aber werden primär diejenigen Elemente sein, die Originale und Kopien über eine »digitale« Zeichenbasis prinzipiell miteinander verbinden. Eine Gegenposition wird demgegenüber das Original mithilfe der non-zyklischen Aktualisierung von »analogen« Elementen definieren. Erst die verbesserten Reproduktionstechniken verleihen allerdings der Gegenwart von Farbnuancen einen normativen Vorzug vor der Wiederholbarkeit von Figurengruppen oder der Gesamtkomposition. Das Original wird zwar nun durch jene Elemente bestimmt, die sich in eine Kopie nicht gleichwertig übertragen lassen (bzw. Originale und Kopien prinzipiell voneinander trennen), aber alle diese Details werden nur dann von einer Eigenschaft der zufälligen Oberfläche zur Bestimmung einer individuellen Signatur aufgewertet, wenn sie mithilfe medientechnologischer Innovationen ausgewertet werden.111 Die Maschinenkritik und die Metrumkritik der »esoterischen« Rhythmustheorien dürfen folglich keinesfalls gleichgesetzt werden. Es gibt eine Form des Metrums, das als gültiger Restbestandteil des vitalen Rhythmus dann jedoch nicht maschinell bestimmt ist, und ebenso gibt es eine Form der Maschine, die als ein passiv alle noch so kleinen Regungen aufzeichnendes Kurvenerzeugungsmittel dann jedoch nicht mehr metrisch bestimmt ist.112 Damit ergibt sich ein Bild, bei dem die Unversöhnlichkeit der »esoterischen« Theorien immer nur für einen der beiden bekämpften Protagonisten der zivilisatorischen Moderne funktioniert: Eine Perspektive der rationalen Perzeption bekommt die Maschine aus dem Blick, aber nicht das Metrum, eine Prämisse der maschinellen Produktion hingegen ist notwendig, um das Metrum ganz aus dem Blick zu bekommen. Es tritt die Möglichkeit zutage, anhand des Maschinellen beide rhythmischen Extremwerte zu definieren: Eine aktive und rein »digitale« Konzeption des Maschinellen steht einer vollständig passiven und rein »analogen« Maschine gegenüber. Das folgende längere Zitat aus Erich Schmidts Arbeit über die Gestaltprägnanz von spezifischen Gruppenrhythmen belegt eindrücklich, wie dadurch der Begriff der Wiederholung beständig zwischen zwei Bedeutungen hin- und herspringen muss (nämlich derjenigen einer geleugneten »aktiven« Auszeichnung in den Rhythmusgruppen und derjenigen einer eher unter der Hand eingestandenen »passiven« Aufzeichnung in den Messanordnungen): »Als rhythmische Veränderungen kann man solche Intervallunterschiede freilich nur dann nachweisen, wenn die ganze rhythmische Gestalt wiederholt wird. Aber deshalb sind rhythmische Gestalten nicht von Wiederholung abhängig. Es erscheint sogar recht bedenklich, Wiederholung als bestimmenden oder mitbestimmenden Ge111 112
Vgl. dazu auch Wolfgang Ullrich, Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen, Berlin 2009, S. 44. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übs. von Gustav Roßler, Berlin 2005, S. 35f.: »Wir sehen hier, wie […] ein neuer – durch die neue Verfassung anerkannter – Akteur die Szene betritt: träge Körper, unfähig zu Willen und Vorurteil, aber fähig zu zeigen, zu signieren, zu schreiben und zu kritzeln, und zwar auf Laboratoriumsinstrumente vor glaubwürdigen Zeugen«.
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staltfaktor des Rhythmus anzusehen, wenn die stellenbedingte Verschiedenheit jedes Intervalles in einem weit ausgreifenden rhythmischen Gesamtverlauf Ausdruck seiner im hic et nunc liegenden Einmaligkeit ist. Der gestalthaft verbundene Verlauf wird nicht durch wiederholtes Aneinanderreihen gleicher Glieder garantiert, sondern durch die Ganzheitlichkeit der Sukzessivgestalt, die – wie wir aus der Untersuchung unserer Wiederholungsrhythmen wissen – die zeitlichen Eigenheiten aller ihrer Glieder mit zusammenhaltender Kraft umschließt.«113 Die empirischen Experimente der ersten Jahrhunderthälfte verheddern sich oftmals in dieser Konfliktstellung zwischen einer Rhetorik der organischen Gegenwart und einer Methodik der mechanischen Repetition: Die Abweichungen, die den lebendigen Rhythmus vom ganz exakten Zeitmaß des Taktes zwingend trennen, können zum Beispiel nicht aus der zufälligen Klopffolge einer einmaligen Aktualisierung abgeleitet werden, sondern müssen künstlich als Mittelwerte von gleich mehreren dieser Klopffolgen berechnet werden.114 Die Repetition bleibt bis in die aktuelle Forschung das bewährte Mittel, um die zufälligen Musterabweichungen von den nicht-zufälligen Abweichungen als eigenen Musterbildungen zu unterscheiden: die Möglichkeit einmaliger intendierter und mehrfacher nicht-intendierter Abweichungen kann vernachlässigt werden, weil die Repetition einen Vorgang der Rhythmisierung beinhaltet, der sinnstiftend in den erhobenen Daten wirkt.115 Das Kernproblem einer »esoterischen« Rhythmusauffassung beruht folgerichtig darauf, dass die non-zyklische Aktualisierung in diesen Theorien die Funktion der notwendigen Bedingung einer fehlenden Intentionalität weiter abbilden soll, obgleich sie offenkundig in der Praxis bereits die Funktion der hinreichenden Bedingung einer vorhandenen Intentionalität angenommen hat.116 Die Messung von mikroskopischen zeitlichen Differenzen bleibt zudem eine Herausforderung, und darum wird die nonzyklische Aktualisierung methodisch genau dort zum Nachweis einer »irrationalen« Lebenskomponente, wo die Messgenauigkeit der Maschinen nicht mithalten kann: »Aber in Wirklichkeit handelt es sich bei den aus dem Rhythmus […] bedingten unbewußten Abweichungen von Zeit und Dynamik um sehr geringe Größen, die wir zeitlich mindestens in 1/100 Sekunden messen müssten. Eine solche Messung ist an dem komplexen Inhalt eines Phonogramms bis heute nicht zuverlässig möglich.«117
113 114 115 116
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Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 65. Vgl. dazu konkret die Ausführungen bei Lamm 1930, »Experimentellen Untersuchung«, S. 237. Vgl. etwa John A. Sloboda, »The communication of musical metre in piano performance«, in: Quarterly Journal of Experimental Psychology 35 (1983), S. 379. Vgl. Ludwig Raab, Der Rhythmus des Lebens im Wechsel der Jahreszeiten, Diss., München 1938, S. 1, wo die organischen Naturrhythmen an die Bedingung der immer nur ähnlichen Abfolge gebunden sind: »Einem Bewegungsmechanismus wird aber niemand den Ehrennamen Rhythmus beilegen wollen«. Diese Rhythmen werden aber anhand von Durchschnittswerten ermittelt, in denen die Ähnlichkeit also wieder in typologische Gleichheit überführt wird: »Ebenso notwendig ist beim Studium der Gebundenheit des Menschen an die Rhythmik der Natur die Statistik« (Ebda., S. 26). Erst Empirie erzeugt demnach Esoterik. Heinitz 1931, Strukturprobleme, S. 139.
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Anders als bei den Klopfrhythmen und ihren »digitalen« Punktbestimmungen der Einzelreize wird bei Schallanalysen in den Individualkurven des »analogen« Sprachrhythmus die Dichte des Klangbands die Diskretheit der Abweichungsmuster verdecken: Es ist dieser Unterschied von dichtem Sprachklang und diskretem Schlagklang, der die »esoterische« Theorietradition in eher empirisch-objektive Gestaltmessungen und irrational-subjektive Geistfeindseligkeit scheidet.118 Diese Dualität hat Stefan Rieger an den Arbeiten von Wilhelm Heinitz (dem Autor des vorigen Zitats) aus der Perspektive der modernen Medienwissenschaften kritisiert: »Vielmehr unterzieht er zunächst mittels technischer Verfahren den Menschen einer Entfremdung von metronomisch regulierten Abläufen, die ihn zum Befund einer künstlich hergestellten Asynchronie zwischen der Motorik des Menschen und dem Takt der Maschinen führt.«119 Die neuartigen Verfahren werden zum Beleg eines ganz altmodischen Verstehenskonzepts: »Was die Bewegungsforscher an der Musik greifen möchten, zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, wie sehr dabei an einem alten, an Genie und der Einmaligkeit orientierten Ausdrucksdenken festgehalten wird«.120 Der Fehler von Heinitz liegt aus Sicht der »esoterischen« Grundprämissen jedoch weniger darin, an der Genieästhetik festzuhalten, sondern er liegt darin, die Genieästhetik an ein empirisches Beweisverfahren zu binden, das sich als Grundprinzip der non-zyklischen Aktualisierung für nahezu alle Abläufe aufstellen lässt. Individualkurven entstehen in der Wissenschaft der damaligen Zeit sozusagen an allen Ecken und Enden: Das viel diskutierte Problem der körperlichen Erschöpfung zum Beispiel, durch das der Mensch sich generell von der Maschine unterscheidet, wird durch stabile, aber für jeden Arbeiter individuelle Messkurven abgebildet.121 Ähnliche Rhythmuskurven treten beim Schreibmaschinenschreiben hervor, oder sie bieten die Möglichkeit, den Absender eines Morse-Codes am Rhythmus der Klickfolgen zu erkennen.122 Eine ästhetische Qualität der non-zyklischen Aktualisierung bleibt jedoch am deutlichsten in punkthaften Informationswerten nachgebildet, während bei sprachlich oder semantisch vorstrukturierten Reizen stärker auch auf das kategoriale Zurechthören verwiesen wird.123 Es verbleibt in dieser stark erweiterten Perspektive für eine »esoterische« Theorie nur noch die Möglichkeit, die non-zyklische Aktualisierung zur immerzu gleichen Positivqualität zu überhöhen, die in allen diesen Fällen einen »Vorrang des Analogen« Vgl. zu der Methodendifferenz Dietrich Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus. Mit einer Einleitung über das Problem des Rhythmus und einer Bibliographie zur Rhythmus-Forschung, Leipzig 1937, S. 11f. 119 Rieger 2000, Individualität der Medien, S. 112. 120 Ebda., S. 114. 121 Vgl. dazu Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley 1990, S. 135. 122 Dies ist das eigene Beispiel bei Rieger 2000, Individualität der Medien, S. 316f. 123 Vgl. die Aussage bei Artur Kreiner, Zur Ästhetik des sprachlichen Rhythmus, Diss., Würzburg 1916, S. 5: »Die Zeit, die auf das Lesen einer Silbe und das darauffolgende Intervall bis zum Lesen der nächsten Silbe fiel, betrug etwa 0,5 Sekunden, wobei kleine unvermeidbare Schwankungen nach Aussage der Beobachter für die Beurteilung des Eindrucks nicht in Betracht kamen«. 118
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beweist.124 Der Rhythmus tritt weniger aus dem Grund in das Zentrum der Theorien, weil er selbst einen »Vorrang des Analogen« besitzt (gerade dieser Aspekt erscheint im Gegenteil recht prekär zu sein), sondern weil der Rhythmus als Interferenz-Begriff die verschiedenen empirisch vermessenen Abläufe unter einen geteilten Allgemeinbegriff stellen und glaubhaft miteinander verbinden kann. Ein Rhythmus in diesen Individualkurven aber bleibt auch dann erkennbar, wenn durch Medien wie die Schreibmaschine oder das Morsegerät sich eine Verschiebung hin zu einer »performativ digitalen« Ausführung der Einzelzeichen ergeben wird. Die nonzyklische Aktualisierung erscheint dann nicht mehr als Eigenschaft der individuellen Tokens, sondern nur noch als Eigenschaft der zeitlichen Abfolge in der Ausführung von identischen Types.125 Dieser Rhythmus ist somit von der Präsenz einer »analogen« Handschrift nicht abhängig, da er in einer Abfolge eindeutig voneinander getrennter und punkthaft isolierter Einzelzeichen besonders gut hervortreten kann (nicht umsonst wendet sich Klages vehement gegen »metrische« Schreibgeräte wie die Spitzfeder).126 Erst die an der Maschine abgelesene Metrumkritik des 20. Jahrhunderts macht es also möglich, den Rhythmus mit dem »Vorrang des Analogen« und dem Kontrast von Original und Fälschung zusammenzuführen. Die Grundidee lautet dabei, dass ein Künstler nicht seine eigenen Werke fälschen kann (wie ein Proband nicht seine Individualkurve). Das aber setzt eine historische Situation voraus, in der eine universale organische Qualität erst in einer mechanischen Medienperspektive zur Rhythmusbestimmung erhoben werden kann, aber zugleich umgekehrt auch die Medientechniken noch bestimmten Begrenzungen unterworfen sein müssen.
4.3.2
Rhythmus zwischen Polarität und Progressivität
Ein grundsätzliches Problem der »esoterischen« Rhythmuslehre besteht darin, dass der Vorrang der kontinuierlichen Linienzüge mit einem betont wertkonservativen Modell des Rhythmus in Verbindung gestellt bleiben muss (der nicht zum Träger ästhetischen Fortschritts, sondern zum Garanten lebensgezeugter Ursprünglichkeit erhoben wird). Die Ausrichtung dieser Auffassung an Naturvorgängen wie den Meereswellen, der Gezeitenfolge oder dem Tag-Nacht-Gegensatz ist daher von einem unbedingten »Vorrang des Analogen« abhängig. In »natürlichen Rhythmen« sind mit der Bedingung der zyklischen Wiederkehr, der Opposition komplementärer Einzelphasen und der begrenzten wie berechenbaren Ereignisfolge sämtliche Eigenschaften des Metrums weiter präsent, bis auf eben jene Eigenschaft, dass das Metrum nichts Natürliches ist. Sobald Rhythmus sich ästhetisch modernisiert, indem eine stärkere Willkür der Ablaufphasen ermöglicht wird, ist diese organisch-natürliche Basis nicht mehr gleichermaßen gesichert.
124 Vgl. Klages 1913, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 46: »[…] daß wir es grundsätzlich ebensogut wie an der Handschrift auch dartun könnten am Mienenspiel, der Sprechweise, den Gesten, dem Gange, der Haltung. Keine Gebärde des Menschen, die nicht vom Zustand der Seele geprägt, keine Willkürbewegung, die von ihm nicht gemodelt würde, und darum auch keine, an der nicht sein psychischer Habitus teilhätte«. 125 Vgl. Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800-1900, München 1985, S. 235. 126 Vgl. Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 2f.
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Die Theorie des Rhythmus
Diese Grundproblematik soll anhand eines möglichst allgemeingültigen Strukturmodells weiter ausgeführt werden. Es beruht auf der Annahme, dass in den Rhythmuskonzeptionen des 20. Jahrhunderts die gleichbleibende Vorstellung einer InterferenzBestimmung des Rhythmischen mit wechselnden medien- und zeichentheoretischen Voraussetzungen verbunden worden ist. Dabei sollen drei Ebenen unterschieden werden: Die Ebene des Trägermediums, das »digital« oder »analog« konzipiert ist, die Ebene der Types, die »binär« als starke Anzahlbegrenzung oder »plural« als schwache Anzahlbegrenzung bestimmt sein können, sowie die Ebene der Tokens, wo entweder »symmetrisch« eine gleiche Häufigkeitsverteilung oder »stochastisch« eine ungleiche Häufigkeitsverteilung erzeugt wird.127 Die Buchstaben des Alphabets sind also zum Beispiel gegenüber dem analogen Lautkontinuum der Stimme als ein digitales Trägermedium definiert, das in der Anzahl der Types aber nicht auf eine binäre Codierung begrenzt ist (die man aus dem Gegensatz der Vokale und Konsonanten jedoch ableiten kann, oder aus dem Gegensatz runder und eckiger Teillinien in den Buchstaben). Es gibt mehr als zwei mögliche Zustandsformen, die eine einzelne Zeichenstelle einnehmen kann. Auf der Ebene der Tokens liegt zudem eine stochastische Bestimmung für die Verteilung der Einzelbuchstaben vor: Das Alphabet besitzt starke Schwankungen zwischen sehr häufig und selten verwendeten Zeichen.128 Es ist die Differenz jeder Geheimschrift gegenüber einer gewöhnlichen Schrift, dass diese Abfolge von stochastischen Schwankungen in ein möglichst symmetrisches Muster überführt werden muss, das keinerlei Anzeichen mehr auf sich wiederholende Worte, Silben und Buchstaben enthalten darf. Für den Rhythmus gibt es hingegen mehrere Möglichkeiten einer sinnvollen Zuordnung zu den verschiedenen Ereignisfeldern, wobei sich die gegensätzlichen Grundannahmen der »esoterischen« und der »kritischen« Rhythmustheorien anhand dieses abstrakten Modells in einer ebenso einfachen wie eindeutigen Weise beschreiben lassen. Für alle drei Ebenen lässt sich intuitiv eine »stärker geordnete« Konfiguration der Elemente von einer »stärker ungeordneten« Konfiguration unterscheiden. Auf diese Weise ergeben sich eine digitale, binäre und symmetrische Strukturierung als Modell eines maximal geordneten Systems und eine analoge, plurale und stochastische Strukturierung als Modell eines nur noch minimal geordneten Systems (vgl. auch Tabelle 4.1).
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Vgl. zu Verallgemeinerungen und Vordatierungen des Gegensatzpaars »analog«/»digital« in einem ästhetischen und theoriegeschichtlichen Kontext ergänzend Caduff 2003, Literarisierung von Musik, S. 155ff. sowie Günter Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a.M. 1999, S. 162ff. Vgl. dazu Friedrich Kittler, »Buchstaben – Zahlen – Codes«, in: Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001 S. 44. Fraglich erscheint die These, dass musikalische Zeichenfolgen diese Beschränkung nur in geringem Maße aufweisen, da auch hier die Syntax bestimmte »sprachnahe« Standardmuster erzeugt.
4 Analog-Digital-Wandler: Zur Ökonomie des Rhythmus
Tabelle 4.1: Unrhythmische Ereignisverteilungen Digital X
Analog
Digital
Analog X
Binär X
Plural
Binär
Plural X
Symmetrisch X
Stochastisch
Symmetrisch
Stochastisch X
Eine geteilte Grundbedingung nahezu aller Rhythmustheorien scheint nun zu sein, dass diese beiden Modelle als unrhythmische Extremfälle bewertet werden. Ein »analoges« Trägermedium muss Eigenschaften der gegliederten Ordnung in sich aufnehmen, um als rhythmisch gelten zu können, umgekehrt müssen die Eigenschaften der spontanen, unberechenbaren Unordnung ein »digitales« Trägermedium aufweisen, um als rhythmisch gelten zu können. Die Interferenz-Bestimmung verlangt einen Vorgang des Überkreuz-Lesens, sodass eine Interaktion von Ordnung und Unordnung in einem Wechsel von der linken in die rechte Tabellenspalte abgebildet wird. Zur Erfüllung dieser Bedingung ergeben sich zwei komplementäre Möglichkeiten: Im ersten Fall wird eine Struktur mit möglichst berechenbaren Ordnungsmustern in einem gegebenen »analogen« Trägermedium angestrebt, im zweiten Fall wird ein »digitales« Trägermedium für eine Struktur mit möglichst wenig berechenbaren Ordnungsmustern akzeptiert. Diese Optionen einerseits einer »analog-binären« und andererseits einer »digital-pluralen« Rhythmusauffassung kann man der »esoterischen« Polaritätenlehre bzw. dem Ideal einer »kritischen« Progressivität des Rhythmus zuordnen. Besonders eindeutig ist dieser Zusammenhang für den Begriff der Polarität, der in diversen Rhythmustheorien auf eine »analog-binäre« Strukturiertheit verweisen soll. Der Polaritätsbegriff kann auf diese Weise eine Universalisierung des Rhythmus gewährleisten, die dennoch vom geistig-metrischen Modell der Taktperiodizität befreit bleibt: »Die Rhythmen des Pulsschlages, der Atemzüge, der Herzbewegung, die Rhythmik des Gehens, des Arbeitens, der Nahrungsaufnahme, der Wach- und Schlafzustände, des Geschlechtslebens, die Pendelrhythmen physikalischer Schwingungen und Wellenbewegungen, die Rhythmik der Gestirnverläufe, des Menschenlebens, der weltgeschichtlichen Prozesse erfolgen alle nach demselben Polaritätsprinzip.«129 Allerdings bewirkt der Polaritätsbegriff auch eine starke Verengung des Rhythmischen, da der polare Kräftegegensatz mit der Bedingung einer grundsätzlich binären Ablauffolge gekoppelt scheint: »Und in unserer Wirklichkeitswelt gibt es keine Multipolarität, sondern nur Bipolarität. Nord- und Südpol, Tod und Geburt, Mann und Weib, Systole und Diastole, Öffnung und Schließung, Bejahung und Verneinung, und so fort in beliebiger Anhäufung der Bei-
129
Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 188.
153
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Die Theorie des Rhythmus
spiele: immer und grundsätzlich sind es nur zwei Pole, zwischen denen die Schwingung alles Seienden erfolgt. Niemals sind es drei, sieben oder fünfundzwanzig Pole.«130 Das »analoge« Trägermedium wird also erst durch diese Bedingung einer binären Beschränkung zum umfassenden Polaritätsprinzip rhythmisiert; die Kombination dieser beiden Bestimmungen verlangt für die Ebene der Tokens dann beinahe notwendig die erneute Beschränkung auf eine – grundsätzlich nicht räumlich, sondern statistisch aufzufassende – symmetrische Ereignisverteilung. Das »analoge« Kontinuum setzt voraus, dass eine allmähliche Überführung der einen in die andere polare Zustandsform vorliegen muss (und nicht etwa deren abrupte oder willkürliche Entgegensetzung): Es kann nicht auf den Höchststand der Flut direkt der Tiefstand der Ebbe, auf den Neumond der Vollmond folgen. Und die polaren Kräfte können sich nur dauerhaft erneuern, wenn durch eine solche stetige Reihe von Zwischengliedern auch ein relatives Gleichgewicht in der Häufigkeitsverteilung der Einzelereignisse vorliegt: Zwar gibt es kurze Nächte und lange Nächte, aber in der Summe eines Jahres sollen Tag und Nacht (ebenso wie Ebbe und Flut, Einatmen und Ausatmen etc.) auf einen stabilen Mittelwert einer annähernd gleichen und dadurch rhythmisierten Lebenspräsenz bezogen werden.131 Diese binäre Beschränkung der Kräfte und Gegenkräfte ist dabei nicht nur auf die »horizontale Symmetrie« der rechten und linken Körperhälften, sondern auch auf die »vertikale Proportion« der oberen und unteren Körperglieder übertragbar: »Unser ganzer Körper ist nach der Zweiheit angelegt, von den zwei Schädelhälften bis zu den zwei Füßen. Schon das Ei hat einen polaren Bau, den vegetativen Pol in der unteren, den animalen in der oberen Hälfte.«132 Auf diese Weise kann zum Beispiel in Rudolf Bodes Programmentwürfen zur rhythmischen Gymnastik die Essenz aller Polaritätenlehren eingetragen werden: »Unter diesen Urbewegungen sind die entscheidenden und grundlegenden die Hebung und Senkung des Körpers, das Ringen des Menschenleibes mit der Erdschwere.«133 Der progressive Pol innerhalb des Polaritätsprinzip ist somit die Möglichkeit, den menschlichen Körper stärker in die ästhetischen Entwürfe mit einzubeziehen, denn Körperbewegungen lassen sich ebenfalls als binäre und gleichverteilte Abfolge von Bewegungsphasen beschreiben.134 130 Hueck 1928, Polarität und Rhythmus, S. 63. 131 Vgl. dazu Keyserling 1923, »Spannung und Rhythmus«, S. 5f.: »Die zunächst rein eigensinnig und vom Standpunkt des Ganzen sinnlos gerichteten Kräfte müssen sich auf die Dauer, sofern sie sich gegenseitig nicht entfliehen und zugleich zu bestehen nicht aufhören können, harmonisch-sinnvoll anordnen, denn ein Dauerzustand ist nur möglich auf der Grundlage harmonischer Ausgeglichenheit. Aus diesem Grunde mündet jede Bewegung letztendlich in eine rhythmische ein, die als solche wiederum zwangsläufig ein geschlossenes Ganzes schafft«. 132 Heinrich Blendinger, Der Rhythmus Gottes, Zweite Auflage von Polarität als Weltgesetz, Tübingen 1951, S. 15. Die »analog-binäre« Kosmologie hat in dem randständigen theologischen Anwendungsversuch vor allem Probleme, nicht in die Lehre vom Teufel als notwendigen Gegenspieler Gottes zurückzufallen. 133 Rudolf Bode, Rhythmus und Körpererziehung. Fünf Abhandlungen, Jena 1923, S. 44. 134 Diese Eigenschaft verbindet die »esoterischen« und die »empirischen« Körperlehren. Vgl. zum Beispiel P. F. Swindle, »On the Inheritance of Rhythm«, in: The American Journal of Psychology 24/2 (1913), S. 184: »Repetition of this movement of the organ (the arm) naturally means a series of accented and unaccented elements of movement at comparatively regular intervals«.
4 Analog-Digital-Wandler: Zur Ökonomie des Rhythmus
In der rhythmischen Wiederholung einer Bewegung ist nicht davon auszugehen, dass der eine Bewegungsanteil stark dominant und der andere stark rezessiv ist, weil dieselben Längen- und Gewichtsmaße das Heben wie das Senken, das Ausstrecken wie das Einziehen des Arms steuern: »Daraus ergibt sich für unsere Betrachtung, daß eine Bewegung niemals nur für sich angesehen werden kann, daß sie immer nur ein Teil ist eines Bewegungsgrößeren und daß jede Bewegung die Tendenz zu ihrer Gegenbewegung in sich trägt, d.h. rhythmischen Charakter hat.«135 Das Polaritätsprinzip der »esoterischen« Rhythmustheorien besitzt jedoch weiterhin das Problem, dass sie das Grundaxiom eines »Vorrangs des Analogen« nur aus digitalisierbaren Eigenschaften herleiten kann: aus der Binarität dualistischer Entgegensetzungen und aus der statistischen Symmetrie gleichbleibender Ereignisverteilungen. Die eingeforderte Trennung von Rhythmus und Metrum bleibt daher beständig gefährdet, und die Relation zwischen der objektiven polaren Grundstruktur und ihrer periodischen subjektiven Konkretisierung bleibt labil: »Die periodisch-kosmische Erscheinung hat etwas Tatbestandhaftes an sich. Rhythmik dagegen ist Erlebnis, ist subjektiv. Man wird daher im Rhythmusgefühl im Bodeschen Sinne das Erleben der Periodizität, aber nicht die Periodizität selber sehen können. Vielleicht könnte man auch sagen: Rhythmus ist Periodizitätsbewußtsein.«136 Umgekehrt kann aber auch die Polarität von der Bedingung der Periodizität abgetrennt werden (offenkundig können polare Gegensätze bestehen, wenn keine periodische Stetigkeit diese verbindet).137 Eine weiterhin »binäre«, aber nicht mehr notwendigerweise »analog« gefasste Polaritätenlehre wird für eine konservativere Teilschule der »esoterischen« Rhythmustheorien kennzeichnend. Die von Bode und Klages aufgestellten Positionen werden nur noch bedingt anerkannt und durch stärker metrisierte Alternativpositionen ergänzt.138 Durch diese kulturkonservative Ausrichtung wird die »analog-binäre« Rhythmusbestimmung von der radikalen Rationalitätskritik befreit und verliert in ihrer Kombination einer wieder gesteigerten Metrumtoleranz mit einer gewahrten Moderneskepsis stark an Akzeptanz.
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Langelüdekke 1928, »Rhythmus und Takt«, S. 57. Fritz Giese, Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung, München 1924, S. 94. Vgl. etwa Wieser 1973, Rhythmus und Polarität, S. 14: »Diese polaren Gegensätze wird man begrifflich nicht, wie den periodischen Umlauf im Jahreskreis, mit ineinandergehenden Übergängen verbinden, sondern mit dem Wechsel von Gegensätzen«. Vgl. als frühes Beispiel Bernhard Koch, Der Rhythmus. Untersuchungen über sein Wesen und Wirken in Kunst und Natur und seine Bedeutung für die Schule, Langensalza 1922, S. 32: »Wir können deshalb der Meinung Bodes nicht beitreten, der das Gesetzmäßige als den Tod des Rhythmus bezeichnet. Vielmehr muß hinter jeder Bewegung, die doch an Zeit und Raum gebunden ist, ein Gesetz, ein Wille stehen, der nötigt, sie mit Selbstbeobachtung auszuführen, der die Kräfte nach Zweck und Ziel genau abwägt«.
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Die Theorie des Rhythmus
Tabelle 4.2: Komplementäre rhythmische Ereignisverteilungen Digital
Analog X
Digital X
Analog
Binär X
Plural
Binär
Plural X
Symmetrisch X
Stochastisch
Symmetrisch
Stochastisch X
Der Abgleich der »esoterischen« und der »kritischen« Definitionsmerkmale des Rhythmus macht eine komplementäre Ausrichtung vor allem auf der mittleren Ebene der Types eindeutig (vgl. Tabelle 4.2). Die Anfälligkeit binärer Bestimmungen für ordnungspolitisch reaktionäre und ästhetisch wertkonservative Positionen soll durch eine von vornherein plurale Ausrichtung des Rhythmus vermieden werden. Die abweichenden Konstanten, die das aktuelle Denken über den Rhythmus aufweist, sollen zunächst an einem einzelnen Beispiel zusammengefasst werden. Ausgangspunkt der dabei vorgeschlagenen Definition des Rhythmus ist ein Modell subjektiver Erlebniszeit statt chronometrischer Uhrenzeit, das anstelle einer »esoterischen« Naturnähe aber eine »kritische« ästhetische Innovationskraft herausstellt: »Nicht die zyklische Wiederkehr des Gleichen, sondern die verschiebende Kraft der Veränderung steht hier im Zentrum.«139 Der Rhythmus soll also weiterhin von der Bedingung metrisch-rationeller Regulierung getrennt verbleiben, aber die binär-symmetrische Ereignisverteilung soll durch eine Erfahrungswelt ersetzt werden, die plurale Ereignisklassen und stochastische Ereignisfolgen zulässt: »Entscheidender als die Binarität oder die strenge, gleichförmige Wiederkehr kontrastiver oder komplementärer Elemente ist aber, dass die Musterbildung von einer sinnlich erfassbaren Ähnlichkeit beziehungsweise Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist.«140 Diese Teildefinition bewahrt in sich einen unaufgelösten Konflikt, weil einerseits die Binarität explizit zurückgewiesen wird, aber andererseits ein »Vorrang des Analogen« implizit weiterhin präferiert wird (vor allem in dem Hinweis auf eine sinnlich erfahrbare Phänomenalität). Es ist aber eine explizite Anerkennung binärer bzw. polarisierter Grundstrukturen, die auch noch die aktuellen Rhythmustheorien am einfachsten mit einer anti-metrischen Ausrichtung und einem »analogen« Trägermedium in Verbindung stellen kann. Die »kritischen« Rhythmustheorien vermeiden es daher, das Rhythmische wie die »esoterischen« Theorien aus dem Axiom einer »analogen« Polarität zu bestimmen (und damit »top down« von der obersten zur untersten Tabellenzeile des in diesem Teilkapitel vorgeschlagenen Modells); stattdessen soll eine »bottom up« aus den beiden unteren Ebenen hergeleitete Variabilität der Ereignisverteilung für den Rhythmus ein ästhetisches Modernepotenzial garantieren. Der als Beispiel exzerpierte Definitionsvorschlag 139
Barbara Gronau/Nadia Ghattas/Sabine Schouten, »Zeitwahrnehmung«, in: Christine Lechtermann/Kirsten Wagner/Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 24. 140 Ebda., S. 28.
4 Analog-Digital-Wandler: Zur Ökonomie des Rhythmus
expliziert auch dieses kondensierte Glaubensbekenntnis aller »kritischen« Rhythmustheorien: »Der Begriff des Rhythmus impliziert also nicht nur Regelmäßigkeit, sondern auch Störung, Bruch, Pause, Differenz und Diskontinuität, und zwar im Wechselspiel, in der gegenseitigen Bezugnahme.«141 Damit aber wird der Status der »obersten Ebene« in ihrer Bestimmung bewusst unklar belassen. Auch diese Problematik tritt in einer Formulierung des Einführungstexts beispielhaft hervor: »Im Unterschied also zu Verläufen, die auf das Erreichen eines Zeitpunkts ausgerichtet sind, ist der Rhythmus durch die stetige Wiederholung struktureller Ähnlichkeiten und durch seine Prozessualität gekennzeichnet.«142 Man kann die Subtilität bewundern (oder auch bezweifeln), mit der hier die beiden »analogen« Qualitäten des Stetigen und der Ähnlichkeit an das »digitale« Substantiv der Wiederholung und das »digitale« Adjektiv einer strukturellen statt sensuellen Bestimmung gekoppelt werden. Die Interferenz-Bestimmung ist dem Rhythmus quasi so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass die aus »esoterischer« Theoriesicht widersinnige Verbindung der Attribute nicht mehr auffällt (die vier aufeinander folgenden Worte besagen bei einer polemischen Einsetzung in den zitierten Einzelsatz: »Rhythmus ist durch die analoge Digitalität digitaler Analogien gekennzeichnet«). Eine solche Kompromissformel aber ist das sichere Anzeichen dafür, dass nicht mehr wie im Fall der »esoterischen« Theorien das axiomatische »analoge« Trägermedium mit reglementierenden Bestimmungen eingegrenzt werden muss, sondern ein axiomatisch gesetztes plurales Rhythmusmodell von einem implizit mit aufgerufenen »digitalen« Trägermedium eher unscharf getrennt verbleiben soll. Die ZeitpunktBestimmung wird auf eine teleologische Zielfunktion beschränkt und kann auf diese Weise scheinbar aus dem Rhythmus ausgeschlossen werden (dies ist deutlich angelehnt an die Definition des Rhythmus bei Waldenfels aus dem fehlenden Ende anstelle des vorhandenen Anfangs). Ein zweites Beispiel kann belegen, wie sich in diesen kulturwissenschaftlich und performativ geweiteten Definitionen des Rhythmus die einzelnen Ereignisebenen sofort wieder verschieben, wenn die »vorkritische« metrische Normkomponente für die »kritischen« Normabweichungen der Synkopierung, des Bruchs oder wie im folgenden Zitat der Kollision doch zugestanden wird: »Die hier mit dem Schlagwort der Kollision bezeichnete Spielart musikalischer und musiktheatraler Formen, die einen besonderen Reiz bedeutet, funktioniert nur unter der Voraussetzung eines ganz bestimmten Rhythmus-Begriffs, der von einem Verhält-
141 Ebda., S. 29. 142 Gronau/Ghattas/Schouten 2007, »Zeitwahrnehmung«, S. 27f. Dieser Satz findet sich wie der zuvor wörtlich auch in der Einleitung von Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, »Rhythmus im Prozess«, S. 15f. Nur der vorherige Satz findet sich zudem bei Christa Brüstle/Nadia Ghattas/Clemens Risi/Sabine Schouten, »Rhythmus-Wahrnehmung und Performativität«, in: Paragrana 13/1 (2004), S. 51. Man mag sich die Frage stellen, ob manche Aversionen in akademischen Kreisen gegen die mechanische Wiederholung auch dem schlechten Gewissen über die Tendenz zur Zweitverwertung der eigenen Textbausteine entspringen.
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Die Theorie des Rhythmus
nis des Rhythmus zu Takt und Metrum seinen Ausgang nimmt, von einer Regelmäßigkeit und einer nachvollziehbaren strukturierenden Ordnungsfunktion.«143 Damit verschiebt sich sofort wieder die Perspektive zu einer höheren Akzeptanz auch einer binären Gliederung auf der Ebene der Types: »Rhythmus hat etwas mit Ordnung zu tun, genauer mit einer binären Ordnung, etwa dem Wechsel zwischen schwer und leicht in Analogie zum Heben und Senken des Fußes, Arsis und Thesis, zum Herzschlag oder zum Atmen.«144 Es stellt sich somit die Frage, welche der drei Ereignisebenen eigentlich für die Regularität des Metrums entscheidend ist, und auf welchen dieser Ebenen eine Vorherrschaft des Metrischen zu einer Einschränkung des Rhythmischen führt. Bereits das normierte Prinzip eines pulsierenden Metrums als psychologische Projektion betonter und unbetonter Zeitpunkte bezieht seinen verbleibenden ästhetischen Reiz vermutlich daraus, dass es nicht einfach nur dem Modell eines rein digitalen, rein binären und rein gleichverteilten Ablaufs entspricht. Erstens verwirklicht sich die binäre Opposition von betonten und unbetonten Zählzeiten vertikal auf verschiedenen Zählschichten zugleich (dadurch ergibt sich eine stärkere Variabilität der Akzentgrade, worauf der Begriff des Akzentstufentakts verweist).145 Zweitens ist das Metrum stochastischen Varianten begrenzt zugänglich, da mehr als ein unbetonter Wert einem einzelnen betonten Wert auf derselben Zählschicht zugeordnet werden kann. Eine »erweitert metrische« Perspektive auf die Rhythmuskonzeptionen des 20. Jahrhunderts kann das Modell der drei Ereignisebenen nicht nur zur Aufarbeitung vorhandener Theorien, sondern auch zur Ausarbeitung einer eigenen Theoriealternative heranziehen: Die »kritische« und die »esoterische« Definition setzen den notwendigen Seitenwechsel von der linken Spalte der Ordnung in die rechte Spalte der Unordnung jeweils so, dass zwischen dem Trägermedium und den Ebenen der Types und Tokens ein produktives Spannungsverhältnis hergestellt wird. Eine verbleibende Möglichkeit wäre es jedoch, diesen Seitenwechsel überhaupt erst zwischen den beiden »unteren« Ebenen zu erzeugen. Die rhythmische Konfrontation dieser Ebenen beruht aber notwendig eher auf einem »digitalen« Trägermedium (vgl. auch Tabelle 4.3).
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Clemens Risi, »Rhythmen der Aufführung. Rhythmus-Kollisionen bei Steve Reich und Heiner Goebbels«, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 167f. 144 Ebda., S. 168. 145 Vgl. zur Individualität jedes einzelnen metrischen Zeitpunktes David Temperley, The Cognition of Basic Musical Structures, Cambridge, Mass. 2001, S. 331ff.
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Tabelle 4.3: Erweitert metrische Ereignisverteilungen Digital X
Analog
Digital X
Analog
Binär X
Plural
Binär
Plural X
Symmetrisch
Stochastisch X
Symmetrisch X
Stochastisch
Es gibt somit zwei Varianten, wie das psychologische Metrum in der phänomenalen Musik eine höhere Präsenz und progressive Qualität erhalten kann: In »binär-stochastischen« Texturen ist der willkürliche Wechsel zwischen akzentuierten und nichtakzentuierten Einzelereignissen mit einer strikt begrenzten Anzahl der Ereignisklassen verkoppelt: Je freier die »Tokens« aufeinander folgen, desto stärker müssen die »Types« auf ein binäres Raster fixiert bleiben. In »plural-symmetrischen« Texturen wird hingegen eine geweitete Anzahl von metrischen Zyklusmustern mit einer periodisierten Ereigniswiederkehr kombiniert. Für diese abstrakten Möglichkeiten soll zumindest jeweils ein Musikbeispiel vorgestellt werden. Die anti-psychologische Wirkung einer zufälligen, aber »binären« Akzentfolge wird meist anhand der Musik von Strawinsky diskutiert. Dabei dürften die ersten acht Takte der »Augures printaniers« aus Le Sacre du printemps (1913) den kanonischen Fall für diesen Effekt darstellen (vgl. Notenbeispiel 4.1).
Notenbeispiel 4.1: Strawinsky, Le Sacre du Printemps, Z.13 (reduzierter Streichersatz mit »radikaler« und »konservativer« Lesart der Akzentabfolge)
Man kann in dieser Akzentfolge den Inbegriff einer »negativen Achttaktperiode« erkennen, oder auch eine verrückt gewordene Form der »subjektiven Rhythmisierung« einförmiger Elemente. Nüchtern basieren »Schlagzeit-Rhythmen«146 als »binär-sto146 Vgl. zu diesem Begriff Carl Dahlhaus, »Probleme des Rhythmus in der Neuen Musik«, in: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Mainz 1978, S. 102. Die Lesart ist in ihren Prämis-
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Die Theorie des Rhythmus
chastische« Ablaufform jedoch einfach darauf, dass die gewahrte Bedingung einer »rhythmisierenden Reihe« von der nicht gewahrten Wirkung einer regulär »rhythmisierten Reihe« abgetrennt wird. Es soll zu diesen acht vielleicht am häufigsten analysierten Takten in einer Geschichte (nicht nur) des Rhythmus in der Musik des 20. Jahrhunderts lediglich ein einzelner – und kaum gänzlich neuer – Aspekt ergänzt werden: Die »binäre« Beschränkung auf Akkorde ohne und Akkorde mit Akzentzeichen verdeckt ein virtuoses Spiel mit einer doppelten Codierung, in der die nichtakzentuierten Akkorde ihre »konservative« Lesart als Träger eines regulären Metrums allmählich verlieren, während die akzentuierten Akkorde im Sinne einer »radikalen« Lesart von gegen das Metrum gesetzten Stress-Akzenten zu quasi-metrischen Skansions-Akzenten modifiziert werden.147 Diese beiden Lesarten stehen begrifflich in der Rhythmustheorie für die psychologischen Möglichkeiten, ein gegebenes metrisches Raster »konservativ« trotz vorhandener Gegenakzente durchzuhalten, oder aber »radikal« an diese Gegenakzente anzupassen. Der erste Vorgang erscheint für die Augures-Akkorde kaum strittig: Das zuvor eindeutig etablierte Zweiermetrum kann psychologisch auch in die ersten beiden Takte der Akkordrepetition hineingelesen werden, doch mit jedem irregulären Gegenakzent wird diese Projektion sich zunehmend abschwächen. Der zweite Vorgang hingegen wird von den Analysen nicht immer akzeptiert: Die Einzelakzente sind zunächst auf den beiden leichten Zählzeiten platziert (das »Back-Beat-Schema«, wie es für den dritten Akkordtakt vorliegt, ist für sich als Markierung der unbetonten Zählzeiten stabil). Die Stress-Akzente werden, sobald andere Akzentfaktoren wie Harmoniewechsel, Basseinsätze oder Pattern-Repetitionen wegfallen, zu einem Indikator für die Initialpunkte von metrischen Einheiten mutieren. Derselbe phänomenale Effekt erhält demnach eine genau entgegengesetzte psychologische Funktion als Hinweisgeber auf die Platzierung der starken statt der schwachen Zählzeiten.148 In dem ersten Achttakter können die Akzente dann so gedeutet werden, dass in den drei letzten Takten eine non-isochrone Folge aus 4+5+3 Viertelschlägen angezeigt wird. Besonders interessant ist der Einsatz der Fagottmelodie bei Ziffer 19 der Studienpartitur: Das »Back-Beat-Schema« wird direkt zweimal wiederholt, doch wegen der fehlenden zusätzlichen Taktindikatoren, der Achtelpause auf dem notierten Taktbeginn und der stabilen Schwer-Leicht-Folgen der einzelnen Achtelpaare erscheint es fehlerhaft, diese Takte in den Analysen einfach nur als Äquivalent des dritten Akkordtakts aus
sen zu »konservativ« (Taktstriche repräsentieren eine inhaltsbezogene Metrik), in ihren Resultaten zu »radikal« (Taktstriche bei Strawinsky repräsentieren überhaupt keine Metrik mehr). Die Rhythmik Strawinskys wäre in der Notation anachronistisch – wie die atonale Tonhöhenorganisation aufgrund der Verwendung von Akzidentien. Die Analyse Strawinskys gerät Dahlhaus auf diese Weise zur Apologie Schönbergs. 147 Vgl. allein zur Anwendung dieser beiden Lesarten auf diese Takte des Sacre u.a. Peter Hill, Stravinsky: The Rite of Spring, Cambridge 2000, S. 53f., zudem Pieter C. van den Toorn, »Stravinsky, Adorno, and the Art of Displacement«, in: The Musical Quarterly 87 (2004), S. 480f. sowie Nicholas Cook, Analysing Musical Multimedia, Oxford 1998, S. 187ff. 148 Der irritierende Effekt ist anhand anderer Musikbeispiele (vor allem aus L’histoire du Soldat) bereits identifiziert worden bei Pieter C. van den Toorn, The Music of Igor Stravinsky, New Haven 1983, S. 222f.
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dem ursprünglichen Modell aufzufassen (wie es Pierre Boulez in seiner Analyse, aber auch spätere Autoren unterstellen).149 Sinnvoller erscheint demgegenüber eine hörpsychologische Deutung, wonach die Akzente hier nun schon wieder den umgekehrten Weg nehmen: Sie wirken zunächst als stabile Skansions-Akzente eines Zweiermetrums, aber der erste tatsächlich auf einem Taktbeginn platzierte Akzent restituiert psychologisch unerwartet die ursprüngliche Wahrnehmung als Stress-Akzent. Durch die direkte Sukzession von zwei akzentuierten Achtelnoten wird das »binäre« Modell in besonders wirksamer Weise mit einer »stochastischen« Mutation versehen: Die Stress-Akzente wirken zunächst wie SkansionsAkzente, und der nachfolgende Skansions-Akzent wirkt wie deren Stress-Akzent. Erst mit der Umdeutung dieses Akzents in einen »richtigen« Skansions-Akzent kann sich die willkürliche Logik der Augures-Akkorde in der konventionelleren Textur einer Solomelodie fortsetzen: Strawinskys anti-psychologische Musik ist einzig durch einen psychologischen Analysefokus vollständig zu beschreiben. Die visuelle Umsetzung der Augures-Akkorde in der ursprünglichen Inszenierung verkompliziert zudem die Sachlage weiter, wenn die Tänzer mit den Füßen den regulären Vierertakt ausführen, und nur mit den Händen die irregulären Gegenakzente anzeigen:150 Auf diese Weise wird die »konservative« Deutung nun akustisch hörbar in den Schrittgeräuschen, während die »radikale« Deutung in den stillen Armbewegungen akustisch unhörbar verbleibt. Es entsteht also ein genau komplementäres Verhältnis zur Situation einer reinen Konzertaufführung. Das Gegenprinzip einer »plural-symmetrischen« Ereigniscodierung setzt umgekehrt die Abkopplung des Resultats der »rhythmisierten Reihen« von der Bedingung einer gemeinsamen »rhythmisierenden Reihe« voraus. Diesen Fall kann man an einem weiteren Ursprungsdokument einer geweiteten Rhythmik des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Henry Cowells Suche nach New Musical Resources zielt darauf, rhythmische Pulsationen von der Bedingung metrischer kleinster Einheiten zu trennen, und stattdessen die Kombination vieler verschiedener Zeitunterteilungen durch Drittel-, Viertel- oder Siebtelnoten zu ermöglichen.151 Der Beginn von Cowells Quartet Romantic (1917) zeigt eine kompositorische Umsetzung dieses Prinzips (vgl. Notenbeispiel 4.2). In den ersten Takten bleiben die plural übereinander gelegten Zahlenrhythmen dabei »symmetrisch« an eine berechenbare Häufigkeitsverteilung angebunden (bzw. die notierten Taktstriche bleiben für das Hö-
149 Vgl. Pierre Boulez, »Strawinsky bleibt«, in: Anhaltspunkte. Essays, übs. von Josef Häusler, Stuttgart 1975, S. 181, der vor allem die für die »konservative« Lesart relevanten Anfangstakte der AuguresAkkorde nicht berücksichtigt. Vgl. zudem David J. Code, »The Synthesis of Rhythms: Form, Ideology, and the ›Augurs of Spring‹«, in: The Journal of Musicology 24/1 (2007), S. 126f., der eine eher anachronistische Taktgruppenlogik heranzieht, sowie konkret Daniel K. L. Chua, »Rioting with Stravinsky. A Particular Analysis of the Rite of Spring«, in: Music Analysis 26/1-2 (2007), S. 79: »Second, the pattern in bar 3 with its distinctive double off-beat accent is isolated as a recurring head motif«. 150 Vgl. auch Tamara Levitz, »The Chosen One’s Choice«, in: Andrew Dell’Antonio (Hrsg), Beyond Structural Listening? Postmodern Modes of Hearing, Berkeley 2004, S. 84. 151 Vgl. zum Vorschlag der Einführung neuer Notengattungen Henry Cowell, New Musical Resources, with notes and an accompanying essay by David Nicholls, Cambridge 1996, S. 49ff.
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ren weiter maßgeblich), während danach durch Bruchzahlen eine nochmals erhöhte Komplexität angestrebt wird.
Notenbeispiel 4.2: Cowell, Quartet Romantic, Anfangstakte
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Die Beispiele von Cowell und Strawinsky können mit einigem Recht direkt aufeinander bezogen werden, denn der Gegensatz der beiden Verfahren nimmt ein Grundproblem des Rhythmus in der Musik nach 1950 vorweg: Man kann die zumeist zwölf benötigten Einzelwerte, die den Rhythmus mit seriellen Verfahren der Tonhöhenorganisation kompatibel machen, entweder als Multiplikation eines gegebenen kleinsten Einzelwerts erstellen (und dieses Modell »X mal 1« entspricht dann einer »binär-stochastischen« Musterbildung und dem Beispiel von Strawinsky), oder als Division eines gegebenen größten Einheitswerts (und dieses Modell »1 geteilt durch X« entspricht dann einer »plural-symmetrischen« Musterbildung und dem Beispiel von Cowell).152
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Die Modelle einer serialisierten Rhythmik tendieren dazu, dieses »irrationale« Modell der Bruchzahlen zugunsten des Modells der kleinsten Schlageinheit zu verwerfen. Vgl. etwa Stockhausen 1963, Texte zur elektronischen Musik, S. 106f. sowie Pierre Boulez, Musikdenken heute, Bd. 1, übs. von Josef Häusler und Pierre Stoll, Mainz 1963, S. 45.
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Im Kontext seriellen Strukturdenkens besteht aber das Problem, dass einmal der Einheitswert (als Akzentfaktor der Länge) und einmal der Einzelwert (als Akzentfaktor einer grundierenden Pulsation) bestehen bleiben. Der Serialismus funktioniert daher sozusagen ein bisschen wie das bekannte Computerspiel Pacman: Abwechselnd versuchen die vielen kleinen sich bewegenden Punkte und der einzelne große Punkt einander aufzufressen.153 Man erkennt unschwer in diesem Konflikt einer möglichst stark modernisierten Musik das ganz alte Phänomen einer entweder als »Division« oder als »Progression« bestimmten Definition des Rhythmus, wie sie Wilhelm Seidel für verschiedene Phasen der Musikgeschichte dargestellt hat (sodass Seidels eigene Diagnose einer Krise dieser traditionellen Rhythmuskategorien in der Fortschrittsästhetik des 20. Jahrhunderts die Resultate zu sehr von den Prämissen trennt).154 Diese Perspektive der seriellen Musik lässt sich für die Beispiele von Cowell und Strawinsky auch dadurch rechtfertigen, dass mit den »erweitert metrischen« Verfahrensweisen der spätere Problemhorizont tatsächlich in beiden Fällen prophetisch antizipiert scheint. Im Fall des Sacre du Printemps ist die Willkür der Akzentfolgen in einer ebenso spektakulären wie umstrittenen analytischen Deutung auch aus dem Prinzip erklärt worden, dass Strawinsky aus der Zahlencodierung der dissonanten Akkorde die rhythmischen Muster abgeleitet habe: Der für die Neue Musik eminent wichtige Akkord aus Quarte (5 Halbtonschritte) und Tritonus (6 Halbtonschritte) ergäbe also zum Beispiel eine Folge von 5+6 rhythmischen Werten, und direkt vor dem martialischen 11/4-Takt, der die Einleitung des zweiten Teils des Sacre beendet, wird tatsächlich genau diese Intervallkombination in den Bratschen gespielt.155 Im Fall von Henry Cowell hingegen ist das protoserielle Denkmuster offenkundig, wobei die Anlehnung an die Proportionen der Obertonreihe für den Rhythmus das »divisionale« Prinzip der Unterteilung, aber für das Metrum das »progressionale« Prinzip der Multiplikation vorsieht: »Um die korrespondierenden Metren der anderen Obertöne zu finden, geht Cowell nicht den Weg, dieses Grundmetrum in proportional kleinere Metren zu unterteilen (wie er es mit der Grunddauer einer Ganzenote bei den Tondauern gemacht hatte), sondern umgekehrt die Anzahl der Schläge eines Metrums, die von Schlag 1 zu Schlag 1 vergehen, mit der Nummer des Obertons zu multiplizieren […] Die Metren würden
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Vgl. dazu mit der entsprechenden Metapher Walter Gieseler, Komposition im 20. Jahrhundert. Details – Zusammenhänge, Celle 1975, S. 60: »Komponist und Hörer machen die gleiche Erfahrung, daß längere Dauernwerte die kürzeren Werte ›auffressen‹«. Vgl. Wilhelm Seidel, »Division und Progression: Zum Begriff der musikalischen Zeit im 18. Jahrhundert«, in: Il saggiatore musicale 2/1 (1995), S. 47-65. Vgl. Matthew McDonald, »Jeux de Nombres: Automated Rhythm in The Rite of Spring«, in: Journal of the American Musicological Society 63/3 (2010), S. 506 (zur Ableitung des Rhythmus der AuguresAkkorde aus der Intervallstruktur). Der eigentliche Witz der Deutung liegt darin, dass die erweiterte Harmonik sich auch auf symmetrische Akkorde stützt, die in dieser Übersetzung also wieder die periodischen Rhythmen erzeugen würden (eine »tonale« Rhythmik kann nur durch eine »tonale« Harmonik vermieden werden).
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simultan in verschiedenen Stimmen zusammen beginnen, sich trennen und wieder zusammen enden. Auch dies ist von den Frequenzzyklen der Töne aus der Obertonreihe abgeleitet.«156 Dieses Zitat aus einer Arbeit von Gregor Herzfeld zu den Zeitkonzepten in der avancierten amerikanischen Musik wird aber nur als Vorwand zur Erläuterung angeführt. Tatsächlich wird es aus dem Grund zitiert, weil sich in dem – oben zunächst stillschweigend korrigierten – Originaltext erneut ein ungewollter Druckfehler verbirgt (und zwar sogar der seltene Fall eines sukzessiven Doppelfehlers): »Die Metren würden simultan in verschiedenen Stimmen zusammen beginnen, sich trennen und wieder zusammen enden. Auch dies ist von den Frequenzzyklen der Töne aus der Oberonreihe [sic!] abgleitet [sic!].« Es geht auch in diesem Beispiel nicht darum, eine substanzielle Arbeit durch einen zufälligen Druckfehler abzuwerten, sondern es geht um den Nachweis, dass sich das »digitale« Medium der Schrift gerade dort äußerlich bemerkbar macht, wo eine »digitale« innere Bestimmung für den Rhythmus in Frage gestellt wird. Die daraus abzuleitende Idee lautet dann, dass genau diese notwendige Präsenz einer äußerlichen Struktur auch für die inhaltliche Definition des Rhythmus akzeptiert werden muss. Zumindest kann man nicht besser in zwei Worten zusammenfassen, welche Denkbewegung die »esoterischen« und die »kritischen« Rhythmustheorien miteinander verbindet. Der zweite Druckfehler markiert dasjenige, was aus den Rhythmustheorien herausgenommen werden muss, nämlich die allzu konkreten Extremwerte von Bewegungsformen, die ein »gleitendes« Tonkontinuum oder eine »schreitende« Akzentfolge erzeugen. Der erste Druckfehler markiert hingegen dasjenige, was stattdessen in die Rhythmustheorien hineingenommen wird: Anstelle einer empirisch-physikalischen wird eine alternative kulturelle Herleitung formuliert. Die metrische Projektion wird durch eine ästhetische Projektion ersetzt, in der mal willentlich, und mal wie hier ungewollt hervortritt, wie die »rationale« Metrisierung durch eine »kritische« Melodisierung oder auch Literarisierung ersetzt wird. Unzweifelhaft kann das Metrum aber im Gegensatz zum »digital-pluralen« oder »analog-binären« Rhythmus auch als »digital-binäre« Strukturvorgabe definiert werden. Diese Struktur besitzt als wesentliches Merkmal vor allem die Inhaltslosigkeit: Die Relation von Plus- und Minuspol, von 0 und 1, von starker und schwacher Taktzeit erzeugt den jeweils einen immer nur aus dem jeweils anderen Wert. Daraus ergibt sich ein logischer Vorrang des zweiten vor dem ersten Ereignis, der jeder phänomenalen Ereignisfolge widerspricht. Ein Ablaufmodell, dessen Einzelwerte sich erst durch einen Gegenwert erzeugen lassen, muss als psychologische Projektion jenseits der reinen Präsenz dieser phänomenalen Ereignisfolgen verortet bleiben. Die Überwindung dieser Beschränkungen bleibt als Forderung wie als Faktum sinnvoll. Doch es stellt sich die Frage, welche Bedeutung dieser zweiwertigen Logik insgesamt zugesprochen werden soll. Der womöglich über Gebühr geweitete Blick auf den Rhythmus der Gezeitenfolge oder der Grammatik wäre zur Beantwortung dieses Aspekts allerdings noch um ein weiteres aus geisteswissenschaftlicher Sicht »unseriöses«
156
Herzfeld 2007, Zeit als Prozess, S. 145. Vgl. als Bezugspunkt Cowell 1996, New Musical Resources, S. 68.
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Gewerbe zu ergänzen: Die Auseinandersetzung um den »digital-binären« Anteil des Rhythmischen findet statt auf dem Gebiet der Geldtheorie.
4.4
Exkursionen II: Rhythmus als Denkform und Warenform
Die Relation von Rhythmus und Metrum realisiert sich auch als Variante des spieltheoretischen Paradigmas vom Gefangenendilemma. Die höchste ästhetische Auszahlung, der gänzlich vom Metrum befreite Rhythmus, kann die geringste kommerzielle Auszahlung zur Folge haben, und umgekehrt verbindet sich die höchste kommerzielle Auszahlung, die einen nahezu gänzlich vom Metrum beherrschten Rhythmus voraussetzt, oft mit der niedrigsten ästhetischen Auszahlung. Mit dem Gefangenendilemma versucht man zu erklären, warum rationale Akteure auf optimale Auszahlungen verzichten, und diesen Gedanken könnte man auch auf den Rhythmus übertragen: Es setzen sich Konzeptionen durch, die auf der Seite der rationellen Vorbedingungen (der geordneten Notation etc.) oder der realisierten Ausführungsbedingungen (der kommunikativen Intention etc.) einen Kompromiss akzeptieren. Gerhard Engel begründet jedoch in seiner skeptischen Sozioökonomie der Neuen Musik gerade das Streben nach ästhetischen Neuerungen mithilfe dieser prototypischen Theorieabstraktion: »Die Einführung der Originalitätsnorm hat also eine Situation zur Folge, die strukturell dem Gefangenendilemma gleicht: Der für mich größte Nutzen ist nur unter der Voraussetzung erzielbar, daß die anderen regelkonform handeln, ich selbst aber nicht.«157 Die Nischensituation der Neuen Musik wird mit dem Modell von Engel allerdings nicht erklärt, sondern vorausgesetzt: Die zitierte Annahme ist davon abhängig, dass es bereits eine allgemeine soziologische Kontextualisierung gibt, in der regelkonforme Lösungen kommerziell honoriert werden, sodass erst vor diesem Hintergrund eine spezifische soziologische Kontextualisierung entstehen kann, in der möglichst innovative Lösungen ästhetisch honoriert werden. In diesem Fall kann eine ästhetische Originalitätsnorm also erklären, warum sich in der avancierten Kunstmusik zur Abgrenzung gegen die anderen sozialen Milieus stets die »aggressiven Falken« gegen die »kooperativen Tauben« durchsetzen. Eine »mittlere« ästhetische Auszahlung verbleibt hingegen akzeptabel, wenn für das Musikleben nicht nur der Novitätsgrad maßgeblich erscheint: »Das eingegangene Risiko und der mögliche Gewinn verhalten sich in beiden Fällen analog zur realen Wirtschaft. Ist das Epigonentum die künstlerisch am wenigsten riskante Verhaltensweise, die infolgedessen nicht nur wenig Neues, sondern auch wenig Gewinn erbringt, gleichsam auf ein Nullsummenspiel hinausläuft, halten sich beim risikofreudigeren Künstler die Spekulation und die Absicherung durch Kanonbeleihung
157
Gerhard Engel, Zur Logik der Musiksoziologie. Ein Beitrag zur Philosophie der Musikwissenschaft, Tübingen 1990, S. 344.
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die Waage. Der Avantgardist gliche dann einem Hasardeur, der ohne Absicherung riskiert, seinen künstlerischen Einsatz komplett zu verspielen.«158 Diese Berechnungen verschieben sich jedoch, sobald im Bereich des Rhythmus der soziale Kommunikationswert gegenüber dem ästhetischen Komplexitätsgrad die höhere Bedeutung zugesprochen bekommt. Der Rhythmus gehorcht dem Gedankengang des Gefangenendilemmas auch deshalb, weil in das Gefangenendilemma die Grundprinzipien des Rhythmischen eingeschrieben sind: Die Spielsituation basiert auf dem Zusammenwirken von Repetition und Kooperation in einer Zeitstruktur, die kein vorgegebenes Ende besitzt, sondern deren Anfangssituation beständig wiederkehren muss. Das Gefangenendilemma setzt erstens Zeit voraus: Es basiert auf der Idee, dass man sich im Leben immer mindestens zweimal sieht, sodass ein Kunde, mit dem man mehrfach Geschäfte machen möchte, besser nicht betrogen werden sollte. Die Repetition wird beim Rhythmus aber von der äußeren Bedingung zur inneren Form der Kooperation. Das Gefangenendilemma setzt zudem einen »digital-binären« Entscheidungscode voraus. Digitalität ist also nicht nur eine Eigenschaft bestimmter Geräte, sondern eine umfassendere Handlungskategorie: »Das Digitale und das Analoge sind nicht Episoden einer Geschichte der Medien, vielmehr sind die technischen Medien eine Episode des Digitalen und des Analogen, eine Epoche der graphé.«159 Das Gefangenendilemma setzt drittens einen monetären Auszahlungscode voraus: Man benötigt eine Währungseinheit, mittels der die Spielergebnisse hierarchisch geordnet werden können. Eine nahe liegende Frage ist somit, ob auch diese letzte Bedingung für das System von Rhythmus und Metrum dieselbe Gültigkeit besitzt. Man muss dann ernsthaft diskutieren, was eigentlich Rhythmus und Geld miteinander zu tun haben könnten. Diese Engführung kann sich aber zumindest auf ein wichtiges historisches Vorbild stützen. Bereits Georg Simmels Philosophie des Geldes mündet in eine Schlussabhandlung über den Rhythmus als Kulturtechnik. Eine Relation zwischen Rhythmus und Geld tritt beispielhaft in dem »ThekenspielArgument« hervor, da auch das Geld notwendig eine minimale Addition einer psychologisch-ideellen Zuschreibung in ein rein materiales Objekt darstellen muss, aber zugleich eine minimale Subtraktion von einer rein ideellen Bestimmung notwendig bleibt. Genau diesen Gedankengang formuliert Simmel als zentralen Bestandteil seiner Geldtheorie: »Nach solchen Analogien mag sich das Verhältnis zwischen dem substanziellen Eigenwert des Geldes und seinem bloß funktionellen und symbolischen Wesen entwickeln: immer mehr ersetzt das zweite den ersteren, während irgendein Maß dieses ersteren 158 159
Friedrich Geiger/Tobias Janz, »Ökonomie und Kanon«, in: Klaus Pietschmann/Melanie WaldFuhrmann (Hg.), Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte, München 2013, S. 869. Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 15. Vgl. als Gegenposition einer engen Begriffsbindung Wolfgang Ernst, »Den A/D-Umbruch aktiv denken – medienarchäologisch, kulturtechnisch«, in: Schröter/Böhnke 2004, Analog/Digital, S. 49: »Gemeint aber ist mit der aktuellen Rede vom Digitalen vielmehr das Binäre und der Computer als modellbildend für nicht mehr er-, sondern zählbare Prozesse.« Digitalität muss aber nicht auf Binarität verpflichtet sein, sodass im Rhythmus der Gegensatz »analogen« Erzählens und »digitalen« Zählens aufgelöst werden kann.
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noch immer vorhanden sein muss, weil bei absoluter Vollendung dieser Entwicklung auch der Funktions- und Symbolcharakter des Geldes seinen Halt und seine zweckmäßige Bedeutung einbüßen würde.«160 Offenkundig verhandelt auch die Geldtheorie die Verschiebungen zwischen einem material gebundenen System der Seinsfülle und einem rein funktional bestimmten System der Seinsleere. Rhythmus und Geld basieren partiell auf Projektionsleistungen, und darum sind sie partiell als Fiktionen zu bezeichnen, in denen die reale Welt so behandelt wird, als ob sie den funktionalen Gesetzen des jeweiligen Wertsystems gehorcht. Der einstmals vielgelesene philosophische Großentwurf zu solchen »Als-ObStrukturen« von Hans Vaihinger verweist wenig überraschend ebenfalls auf die zentrale Stellung des »Thekenspiel-Arguments« in diesen rationalen Fiktionen: »Die Imagination vermag den Prozess der Verdünnung, der Evakuation so weit zu treiben, als sie will, so weit, bis die Materie ganz verschwindet. Allein ehe dieses letzte Ereignis eintritt, stellt sie gleichsam ihren Verdünnungsprozess ein, bleibt in dem Momente stehen, wo die Materie so verdünnt ist, dass sie im nächsten Moment ins Nichts zerfliessen würde; mit anderen Worten, sie macht Halt an der Grenze, wo die Materie ins Nichts verschwindet.«161 Rhythmus gilt demgegenüber häufig als eine derjenigen authentischen Erfahrungen, die von diesem Nichts ganz unabhängig gehalten werden können (die »esoterischen« Theorien weisen Vaihingers System entrüstet zurück).162 Die Punkthaftigkeit und die mathematische Zahl bleiben jedoch Grundbedingungen einer metrischen Funktionsrelation, und in Vaihingers Entwurf sind dies zentrale Beispiele für Fiktionen, also für die Abhängigkeit des Denkens von notwendig zur Empirie widersprüchlichen Prämissen.163 In einer anti-metrischen Perspektive erscheint der Rhythmus als das genaue Gegenteil des Geldes, in einer metrisierten Perspektive erscheinen Rhythmus und Geld hingegen beinahe wie ein geheimes Geschwisterpaar. Diese Ähnlichkeit zum Geld begründet sich aus der inhaltslosen Wertdifferenz eines »digital-binären« Codes: So wie man für eine Geldmünze ganz verschiedene Waren erhält, so wird auch der immerzu gleiche Taktakzent auf ganz verschiedene Sprachsilben oder Tonfolgen aufgeprägt. Die »esoterischen« wie auch die »kritischen« Rhythmustheorien versuchen hingegen, die beiden ineinander verwobenen Komponenten doch noch irgendwie sauber voneinander zu trennen. Jedwede Rede über den Rhythmus ist hin- und hergerissen zwischen der Anerkenntnis, dass ein Abstraktionsprinzip auch in der Präsenzerfahrung des Rhythmus weiter gelten muss, und einer Ausnahmeregelung,
160 Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 196. 161 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 7/8 1922, S. 503. 162 Vgl. etwa Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 2f. 163 Vgl. Vaihinger 1922, Philosophie des Als Ob, S. 71: »Die Grundbegriffe der Mathematik sind der Raum und zwar der leere Raum, die leere Zeit, der Punkt, die Linie, die Fläche, und zwar Punkte ohne Ausdehnung, Linien ohne Breite, Flächen ohne Tiefe, Räume ohne Erfüllung. Alle diese Begriffe sind widerspruchsvolle Fiktionen«.
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wonach der Rhythmus von allen Abstraktionsprinzipien getrennt verbleibt. Simmels Geldtheorie ist dafür das beste Beispiel: »Dies ist die philosophische Bedeutung des Geldes: daß es innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht.«164 Der Rhythmus wird aber nicht als Beispiel dafür eingeführt, dass auch noch in einer konkreten sinnlichen Erfahrung dieses Prinzip der Relationsbindung und der funktionalen Inhaltslosigkeit entdeckt werden könnte. Simmel argumentiert stattdessen ganz gemäß der vitalistischen These vom Rhythmusverlust der Moderne. Der Rhythmus als »Hinweis auf eine regelmäßige Hebung und Senkung der Lebensinhalte«165 ist das Weltprinzip, das von der neutralisierenden Wirkung des Geldes verdrängt wird: Geld dominiert dort, wo alles zur selben Zeit erhältlich ist, anstatt dass die Verfügbarkeit von Gütern noch einem saisonalen Rhythmus unterworfen ist. Rhythmus und Geld aber gehören in dieser Gegenteiligkeit auch schon bei Simmel logisch zusammen. In der Rezeption seiner Philosophie wird genau diese InterferenzBestimmung betont: »Simmel begibt sich in eine Schicht von Allgemeinheiten, die zwischen den höchsten Abstraktionen und den rein individuellen Begriffen etwa die Mitte einhält. […] Und so sucht er denn mit Vorliebe die Beziehungen zwischen Gegenständen zu erkunden, die sich an der Oberfläche durchaus fremd sind und den verschiedensten Stoffbezirken entstammen.«166 Rhythmus und Geld erfüllen offenkundig genau diese Bedingung, und daher kommen zwischen den beiden Begriffssphären immer wieder auffällige Konvergenzen zum Vorschein. Zum Beispiel werden dem Geld von Christoph Türcke ironisch sogar göttliche Eigenschaften zugesprochen: »Zudem bringt es zwei Kunststücke fertig, die die Theologie allein dem christlichen Gott vorbehalten hatte: den Ineinanderfall der Gegensätze und das Sprechen in jeder Sprache […].«167 Für eine solche Zuschreibung findet man berühmte Vorbilder, die genau diese Annäherung an das Göttliche auch dem Rhythmus bzw. den versmetrischen Bindekräften zukommen lassen: »Mit ihm konnte man alles: eine Arbeit magisch fördern, einen Gott nötigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigne Seele von irgend einem Übermaße (der Angst, der Manie, des Mitleids, 164 Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 136. Bedingung für diese Abstraktionsleistung scheint zu sein, dass Wertdifferenz wie Existenz (angelehnt also an Kant) kein reales Prädikat eines Dings ist: »So wächst einem Dinge auch dadurch, daß ich es wertvoll nenne, durchaus keine neue Eigenschaft zu; denn wegen der Eigenschafen, die es besitzt, wird es ja grade erst gewertet« (Ebda., S. 25). 165 Ebda., S. 691. 166 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 229 (bzw. S. 240 als Kompilation zweier Zitate). 167 Christoph Türcke, Mehr! Philosophie des Geldes, München 2015, S. 9.
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der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigne Seele, sondern die des bösesten Dämons – ohne den Vers war man nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.«168 In den Parallelen zwischen Rhythmusdenken und Geldtheorie spiegelt sich die zentrifugale Verortung des Metrischen in einer »archaischen« und einer »mechanistischen« Herleitungsform. Die – wohlgemerkt aus der Sicht neuzeitlicher Theorien – zentralen »archaischen« Wirkungen des Rhythmus sind die Mnemotechnik als Distanzverlust zwischen Objekt und Subjekt (als Einverleibung von etwas Äußerem in das Innere) und die Gemeinschaftsbildung als Distanzverlust zwischen Subjekt und Subjekt (als Ekstase des Inneren in das Äußere).169 Diesen beiden Wirkungen kann man aber die beiden Grundparadigmen der Geldtheorie direkt zuordnen, die das Geld einmal als Tauschmittel entstehen lässt (also als Gemeinschaftsbildung zwischen differenten Waren und den Menschen, die sie herstellen), und einmal den Schuldschein als die früheste Geldform benennt (und damit eine Form der Gedächtnisleistung). Der Tauschvorgang verweist auf einen materialen Ursprung des Geldverkehrs: Das immaterielle Geld bleibt an einen realen Vorgang gebunden. Das konkurrierende Schuld-Paradigma dagegen führt das Geld auf ein immaterielles Kreditgeschäft zurück: Geld ist nicht mehr an die Präsenz des getauschten Gegenstandes, sondern an die Nicht-Präsenz des geschuldeten Gegenstandes gebunden.170 Die Geldtheorien unterscheiden sich in einem für die Rhythmustheorien relevanten Punkt: Es wird für den unterstellten Ursprung des Geldes einmal die Forderung nach einer minimalen Stimulation (einer bewahrten materialen Bezugnahme) auch noch in der Simulation, einmal die Forderung nach einer minimalen Simulation (einer erzeugten ideellen Bezugnahme) auch schon in der Stimulation erhoben. Die beiden Paradigmen lassen sich zudem unzweifelhaft partiell zusammenführen: Ein Tausch setzt vorhandene Wertbestimmungen voraus, und Schuldscheine bleiben eine abstrakte Form des Tauschs. Das Tausch-Paradigma betont jedoch stärker die Grundidee einer »binären« Relation, während das Schuld-Paradigma stärker auf den »digitalen« Zeichencharakter in dieser Relation verweist. Die Logik des Kredits verwandelt den berühmten Satz »Zeit ist Geld« in den Satz »Geld ist Zeit« (nämlich die erkaufte Zeit, in der man wiederum Geld für die Rückzahlung aufzutreiben hat). Das Geld gehört erst dadurch zu jenen Gegenständen, die stärker durch den Anfang als durch das Ende bestimmt sind: Schulden bezahlt man mit immer neuen Schulden, während ein einzelner Tausch nicht zwingend einen erneuten Tausch auslösen muss.171
168 Nietzsche 2016, Fröhliche Wissenschaft, S. 94. 169 Vgl. die drei unterstellten Funktionen des Rhythmus bei Gumbrecht 1995, »Rhythmus und Sinn«, S. 716f.: Gumbrecht nennt neben der »gedächtnisstützenden« die »affektive« und die »koordinierende« Funktion. 170 Vgl. das Plädoyer für den Vorrang des Schuld-Paradigmas bei Felix Martin, Geld, die wahre Geschichte. Über den blinden Fleck des Kapitalismus, übs. von Thorsten Schmidt, München 2014, S. 22ff. 171 Vgl. aus epistemischer Sicht auch Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1982, S. 16: »Denn wenn jeder, der anfängt zu denken, einen Anfang machen muß, jede Reflexion auf den Anfang selbst ihrerseits genötigt ist, einen Anfang zu ma-
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Der Tausch ist aus Sicht der Geldtheorien letztendlich eine symmetrische Form des Raubs (bei der für das geraubte Gut eine Gegenleistung zurückgelassen wird).172 Der Schuldschein dagegen wird oft aus dem Ritual abgeleitet: Das Geld entspringt demnach einer Logik der Stellvertretung, wobei der Weg vom Menschen- zunächst zum Tier- und schließlich zum Sachopfer führt.173 Die rechnerische Logik verbindet das Geld, das man zählen kann, und den Rhythmus, mit dem man zählen kann. Werden daher zum Beispiel die drei »Grundfunktionen des Tauschmittels, des Wertaufbewahrungsmittels und der Recheneinheit«174 für das Geld angegeben, so sind diese Funktionen allesamt auf den Rhythmus übertragbar. Auch für einen solchen Übersetzungsprozess gibt es einen Vorläufer in der Rhythmustheorie. Eske Bockelmann vertritt in seiner umfassenden Studie Im Takt des Geldes jedoch eine genau umgekehrte Perspektive. Die Parallelen zwischen Rhythmus und Geld sollen nicht auch schon in den »archaischen« Ursprungsbestimmungen nachgewiesen werden, sondern es soll im Gegenteil der Einfluss des Geldes, das bis in das ästhetische Empfinden seine Wirkung entfaltet, als der entscheidende Auslöser des neuzeitlichen Denkens decouvriert und auch desavouiert werden: »Was hat die Menschen in den westeuropäischen Gesellschaften gegen 1600 überkommen, dass sie mit einem Mal einen solchen Reflex ausbilden? Was setzt dort ein, breitet sich später über die ganze Welt aus und bringt uns heute noch dazu, taktrhythmisch zu hören und Taktrhythmus als den Rhythmus zu empfinden – als hätte es einen anderen nie gegeben? Was also greift da gesellschaftlich so tief in die Menschennatur, dass sie Dinge seitdem mit Vorliebe und mit Freuden auf Takte bringt? Es ist das Geld.«175 Bockelmanns Arbeit besitzt alle Vor- und Nachteile einer etwa fünfhundert Seiten starken Abhandlung, die den Literaturapparat auf eine einzelne Doppelseite begrenzt (Simmels Theorie zum Beispiel wird überhaupt nicht erwähnt), und doch bereits im Vorwort den Anspruch erhebt, nicht etwa einen originellen Quervergleich weiter zuzuspitzen, sondern eine originäre Entdeckung gemacht zu haben.176 Das Geld soll nämlich neben dem taktrhythmischen Hören auch das philosophische Denken und das naturwissenschaftliche Leitbild der Neuzeit in die Welt gesetzt haben, wobei die Verbindung zwischen den rhythmischen Reflexen und der realwirtschaftlichen Geldherrschaft schnör-
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chen, dann behauptet sich schließlich einzig eines: der Anfang selbst, und das heißt: als absoluter Anfang«. Vgl. Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 84ff. Vgl. Türcke 2015, Philosophie des Geldes, S. 59 zur Ableitung des Gelds aus dem Opferritual und S. 29 zur Ausrichtung dieses Rituals an immer »abstrakteren« Opfergegenständen. Dies wird als Merkmal von Schriftkulturen benannt bei Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, übs. von Uwe Opolka, Frankfurt a.M. 1990, S. 88. Bei Türcke 2005, Kainszeichen, S. 39 findet sich für die Genese der Schrift zudem eine sehr ähnliche Theorie Michael North, Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute, München 2009, S. 7. Bockelmann 2009, »Taktrhythmus und Arbeit«, S. 109. Vgl. Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes: Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004, S. 9: »Dieses Buch ist die Geschichte einer Entdeckung. So, wie einmal ganze Länder zu entdecken waren, die noch niemand betreten hatte, oder wie Röntgen auf eine Strahlung gerät, so unvorstellbar bis dahin, dass er staunend nur den Namen des Geheimnisses für sie findet, ein großes X, so habe auch ich hier Mitteilung zu machen von etwas tief, tief Unbekanntem«.
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kellos auf die geteilte Grundlage eines »digital-binären« Codes zurückgeleitet wird: »Das synthetische Verhältnis selbst ist folglich ohne Inhalt: Es ist reines Verhältnis.«177 Dieses Modell einer reinen Wertrelation muss aus der Vorgeschichte und den Vorläuferstadien von Geld und Rhythmus bis zur Neuzeit völlig ausgeschlossen werden: »Einen solchen Übergang in einen neuen, historisch bis dahin nirgends gegebenen Vermittlungszusammenhang gibt es: den Übergang von den weit gefasst feudalistischen in geldwirtschaftliche Verhältnisse.«178 Die Gefahr ist schlichtweg, dass sich eine solche Theorie nicht mehr vernünftig falsifizieren lässt: Es zeigt sich eine Anfälligkeit für die Denkschemata von Verschwörungstheorien, wonach jedes Gegenargument nur weiter beweist, wie tief das »Geld-Metrum« unsere Wahrnehmung schon durchsetzt hat. Tatsächlich erinnert der Stil des Buches von Bockelmann an die Thriller von Dan Brown: In kurzen Kapiteln wird der Leser beständig mit der Frage konfrontiert, ob er bereit ist, die Schauer der nächsten unerhörten Wendung zu vollziehen und den nächsten geheimen Raum zu betreten. Doch enthalten alle Räume immer nur den gleichen Gedanken, dass das nicht-materielle Geld die Ursache auch der anderen nicht-materiellen Gegenstände sein soll. Eine Verbindung der Versschemata mit dem Geldwert findet sich aber auch schon bei Simmel: »Wir können nicht zwei, dem Sinne nach koordinierte Begriffe aussprechen, ohne daß psychologisch der eine den Akzent der Hebung, der andere den der Senkung erhielte: so ist z.B. ›Wahrheit und Dichtung‹ etwas ganz anderes als ›Dichtung und Wahrheit‹.«179 Eine »erweitert metrische« Theorie des Rhythmus steht in genauem Gegensatz zur Theorie von Bockelmann, der diese »digitale« rhythmische Codierung auf den einzigen Fall des neuzeitlichen Taktmetrums begrenzen will; die Parallelen zwischen Rhythmusund Geldtheorien müssen also in einer alternativen Lesart partiell anerkannt bleiben, aber von der isolierten Gleichsetzung mit einer Epochenzäsur um 1600 argumentativ auch wieder abgelöst werden. Ein erstes Argument kann hierbei auf eine Ausweitung des Ursachenkatalogs verweisen: Es gibt ein ganzes Bündel miteinander verwandter Phänomene, in denen die grundlegende Idee einer »digitalisierten« Wertdifferenz erkennbar werden kann. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern löst das Gotteswort in kopierbare Einzeleinheiten auf, die doppelte Buchführung setzt positive Seinsfülle und negative Seinsleere methodisch gleich. Diese Technologien könnte man demnach als vorausgesetzte Ursache jener Vorstellung eines abstrakten und leeren Raums benennen, die wiederum die »digitalbinäre« Codierung des Rhythmus und des Geldes begünstigt haben mag.180 Übertragbar wäre dieses Relationsdenken auch noch auf weitere ästhetische Neuerungen wie die bildnerische Zentralperspektive und die »binäre« Logik der Dur-Moll-Tonalität.181 Insbesondere die isolierten Lettern der gedruckten Schrift können ebenfalls als Wertabstraktion mit umwälzenden Änderungen sogar für das psychologische Bewusstsein theoretisiert werden, wobei historisch bestimmte Formen der Geldwirtschaft von 177 178 179 180 181
Ebda., S. 171. Ebda., S. 164. Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 677. Vgl. etwa Schmitt 1954, Land und Meer, S. 38. Vgl. zu dieser Parallele auch schon Dahlhaus 1968, Entstehung der Tonalität, S. 191f.
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Drucktechniken abhängig sind.182 Dieselbe Zäsurfunktion kann man zudem bereits für die Genese der antiken Schrift unterstellen: »Horizontalisierung, Verzeitlichung, Atomisierung, Kausalität der Zusammengehörigkeit und Dekontextualisierung. Hinter diesen kognitiven Tendenzen, die zur gleichen Zeit, je nach der ›Natur‹ der Objekte, auf die sie angewendet werden, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung, an der Neugestaltung des abendländischen Wissens beteiligt sind, verbirgt sich eine grundlegende, aber völlig unbewußte Struktur.«183 Das Alphabet als Diskretheit der Schriftform markiert dann den ersten Schritt in einem vom Buchdruck endgültig vollendeten »[…] Übergang von der linearen Stetigkeit im Schriftbild aller antiken und frühmittelalterlichen Handschriften zur Schreib- und schließlich Druckweise einer diskreten, wortgegliederten Artikulation.«184 Ein zweites Gegenargument wird den Geldverkehr eher als möglichen Katalysator vorhandener Kulturtechniken bewerten. Es besteht die Möglichkeit, dass durch ökonomische und technische Veränderungen nicht eine gänzlich neue Form der zweiwertigen Taktrhythmik erschaffen wird, sondern dass die vorhandenen Populärformen der zuvor jedoch nicht schriftwürdigen Tonalität und Taktmetrik erst jetzt aufgrund säkularer wie kommerzieller Tendenzen verbreitet werden. Diese These einer »Rückkehr zu einer natürlichen rhythmisierten Musik nach Zeiten der diesbezüglichen (durch die Römer und die Kirche herbeigeführten) Enthaltsamkeit«185 impliziert, dass die europäische Kunstmusik nicht nur artifizielle Wertsysteme, sondern zugleich auch anthropologische Wirkungssysteme in sich integriert.186 Diese theoretische Engführung von neuzeitlichen und natürlichen Entwicklungen darf allerdings nicht zur Kritik an einer progressiven Musikpraxis verleiten, die angeblich diesen naturgegebenen Ordnungsrahmen aufgibt.187
Vgl. zu dieser Einschätzung Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 147: »Solche Gebilde aber – Symbole, die als faktische Dinge behandelt werden – liegen seit dem 15. Jahrhundert empirisch vor: Es sind die Typen im Setzerkasten einer Druckerwerkstatt«. 183 Derrick de Kerckhove, Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, übs. von Martina Leeker, München 1995, S. 29. 184 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, S. 373. Vgl. auch Wolfgang Ernst, »Homer gramm(at)ophon«, in: Wolfgang Ernst/Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund, München 2006, S. 304: »Das Digitale ist ohne den kulturtechnischen Grund des diskreten Alphabets kaum denkbar«. 185 Manfred Spitzer, Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002, S. 355. Eine Gegenposition, auf die sich auch Bockelmann stützt, trennt dagegen strikt den ethnologischen vom neuzeitlichen artifiziellen Rhythmus; man findet dies ausgeführt bei Jourdain 2001, Das wohltemperierte Gehirn, S. 372. 186 Eine starke Fassung dieses Theorems wird vertreten etwa bei Handschin 1995, Toncharakter, S. 95. Eine abgeschwächte Fassung derselben Grundidee findet sich noch bei Richard Parncutt, »The Tonic as Triad: Key Profiles as Pitch Salience Profiles of Tonic Triads«, in: Music Perception 28/4 (2011), S. 349. 187 Vgl. René Dumesnil, Le Rythme Musical. Essai historique et critique, Paris 1949, S. 182: »L’évolution de la musique marque un retour au rythme naturel – loi d’ordre et de proportion, succession nécessaire et non fortuite, dont on ne peut pas dire qu’elle est soumise au temps, mais qu’elle contient le temps«. 182
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Ein drittes Gegenargument muss demgegenüber herausstellen, dass gerade die musikalischen Parallelenbildungen zur geldwirtschaftlichen Abstraktion als ganz allmählicher, nicht abrupter Vorgang aufgefasst werden können. So lässt sich die Musik in den allgemeinen Medientheorien oftmals nicht (oder nur schwer) in die dort aufgestellten technischen Genealogien sowie in das Raster der anderen Kunst- und Medienformen einordnen. Prototypisch wird diese Problematik einer »verfrühten Digitalität« der Musik bei Marshall McLuhan angeführt: »Die Polyphonie zeitigte in der Musik Auswirkungen, die man mit jenen vergleichen kann, die die beweglichen Lettern und das mechanisierte Schreiben auf die Sprache und die Literatur hatten.«188 Man muss nicht so weit gehen wie Jacques Attali, der der Musik eine Fähigkeit zur prophetischen Vorwegnahme von kulturhistorischen Entwicklungen zugesprochen hat. Diese These aber wird mit der Abhängigkeit der »inhaltslosen« Musik von einem abstrakten, nicht-denotierenden Zeichensystem begründet: Neue Zeichenordnungen werden in der Musik früher erspürt, weil der Vorrat der vorhandenen Zeichenkombinationen früher erschöpft ist.189 Das muss nicht bedeuten, dass nun umgekehrt die Musik das Aufkommen des Geldes verursacht, aber es zeigt die Naivität einer Theorie, in der Taktrhythmik einzig als Transfer einer äußeren Wertsphäre in die zuvor davon unberührte Welt der schönen Künste aufgefasst wird. Tatsächlich dürfte es als Spielerei immer möglich sein, die rhythmischen Notationsprinzipien einer musikalischen Epoche mit deren Geldwirtschaft in Verbindung zu bringen. Zum Beispiel besitzt das mensurale System der Notationswerte eine Logik der stetigen Verkleinerung, für die man beinahe allzu leicht ein Äquivalent in der Ökonomie finden kann.190 Bockelmann will diese Zwischenstufen und Vorläuferformen der Taktrhythmik hingegen alle möglichst vollständig aus seinem Modell ausschließen. Nur dann funktioniert die angestrebte Provokation, dass der Taktrhythmus sowohl ein anthropologischer Reflex und doch eine neuzeitliche Erfindung ist. Zur Abgrenzung nicht nur der antiken Quantitätsrhythmik von einer »digital-binären« Codierung muss er jedoch auf eine höchst umstrittene These von Thrasybulos Georgiades zurückgreifen. Dieser unterscheidet die »digitale« Zeitpunkt-Rhythmik des modernen Taktempfindens strikt von einer »analogen« materialen Rhythmik der Antike, deren rhythmische Grundgestalten nicht einem geometrischen Raster, sondern »kleinen festen Körpern«191 entsprechen. Diese Differenz wird in einem zweiten Schritt auf die non-isochrone Zeitstruk188 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, übs. von Max Nänny, Bonn 1995, S. 249. Vgl. ganz ähnlich zur Polyphonie als »Zeichenbeschleuniger« Kittler 2001, »Buchstaben – Zahlen – Codes«, S. 44. Die These von der Entdeckung der mechanischen Uhrenzeit in der mensurierten Musik noch vor ihrer Anwendung in anderen Lebensbereichen wird weiter ausgeführt bei Géza Szamosi, The Twin Dimensions. Inventing Time and Space, New York 1986, S. 91ff. 189 Vgl. Attali 2006, Noise, S. 11: »Music is prophecy. Its styles and economic organization are ahead of the rest of society because it explores, much faster than material reality can, the entire range of possibilities in a given code«. 190 Vgl. zu diesem Aspekt Seidel 1975, Rhythmustheorien der Neuzeit, S. 52. Die allmähliche Eroberung der kleinen Zähleinheiten gilt auch für die Zeiteinheiten von Minute und Sekunde; vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München 1992, S. 261. 191 Thrasybulos G. Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958, S. 17 (vgl. dort S. 54f. zur folgenden spezifischeren These).
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tur der neuzeitlichen griechischen Folklore übertragen, die als Restbestand der antiken Materialitätsrhythmik gedeutet wird.192 Mithilfe dieser riskanten Gleichsetzung können »afrikanische« und »antike« Rhythmen miteinander kategorial verbunden werden, während zugleich beide von der neuzeitlichen Taktrhythmik kategorial getrennt verbleiben.193 Antike Rhythmusmuster und außereuropäische Rhythmen sind offenkundig darin miteinander verwandt, dass in beiden Fällen eine stärker stochastische Ereignisverteilung generiert wird.194 Die Frage ist jedoch, ob non-isochrone Taktmuster aus diesem Grund auf unteilbare quantitative Zeiteinheiten rekurrieren müssen, oder ob diese Taktmuster sich nicht auch aus der Progression eines kleinsten Pulsationswerts herleiten lassen. Eine stochastische Ereignisverteilung lässt sich in verschiedener Weise begründen: Die antike Rhythmik besitzt eine »binäre« Reduktion auf einen kurz-unbetonten und einen lang-betonten Quantitätswert, wobei ein »analoges Trägermedium« tatsächlich vorausgesetzt werden kann.195 Außereuropäische Rhythmen lassen sich jedoch besser als »digital-plurale« Ablaufformen beschreiben. Bockelmann muss demzufolge diese non-isochronen Metren möglichst weit von den einfachen Takten trennen: »Natürlich hindert keine offizielle Macht der Welt einen Komponisten daran, auch in Sieben- oder Dreizehn-Viertel-Takten zu arbeiten, nur wird uns Takthörern eine so gearbeitete Musik nicht mehr reflexhaft-unwillkürlich rhythmisch, sondern bietet unserer rhythmischen Wahrnehmung starke Widerstände.«196 Diese Auffassung wird durch die »erweitert metrischen« Hörkulturen des 20. Jahrhunderts widerlegt. Sie entspricht prinzipiell eher den Vorbehalten einer normativen Taktlehre des 19. Jahrhunderts und verkennt die Leichtigkeit, mit der zwischen verschiedenen Schlagmustern gewechselt werden kann (dies ist eine Grundtechnik gerade einer »gemäßigten Moderne«, als Hörbeispiele bieten sich Sinfonien von Paul Creston oder Vagn Holmboe an, Jazz-Adaptionen bei Bernstein und Copland, die variablen Metren von Boris Blacher, und vieles mehr). Auch in einer anthropologischen Perspektive zeigt sich, dass isochrone und non-isochrone Taktmuster von Säuglingen noch mit der gleichen Mühelosigkeit verarbeitet werden, sodass weder ein Vorrang der neuzeitlichen
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Vgl. als Zusammenfassung und vorsichtige Kritik dieser These Frieder Zaminer, »Musik im archaischen und klassischen Griechenland«, in: Albrecht Riethmüller/Frieder Zaminer (Hg.), Die Musik des Altertums, Laaber 1989, S. 130ff. Dabei besteht auch das Problem, dass die motorische Qualität der Tanzfolklore nicht zu der von Georgiades gemäß der »Raum-Etymologie« postulierten Statik der antiken Quantitätsmetrik passt (auf diesen Aspekt konzentriert sich die Kritik bei Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 199). 193 Vgl. Bockelmann 2004, Takt des Geldes, S. 82f. 194 Vgl. zu dieser Parallelisierung auch Messiaen 2012, Traité de rythme, S. 70ff. 195 Bockelmann 2004, Takt des Geldes, S. 23: »Will man das Wort in seiner antiken Bedeutung fassen und so, dass es nicht sogleich falsch mit unserem modernen Begriff von Rhythmus in eins gesetzt wird, so wäre es am genauesten zu übersetzen mit ›Proportion‹«. 196 Eske Bockelmann, »Rhythmus und Metrik: Naive und dogmatische Wissenschaft um 1900«, in: Salgaro/Vangi 2016, Mythos Rhythmus, S. 125.
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»binären« Muster noch eine Andersartigkeit der non-isochronen Muster sich empirisch direkt bestätigen lässt.197 Die verengte Perspektive verweist auf ein letztes Gegenargument: Die These vom neuzeitlichen Taktreflex steht selbst in einer »esoterischen« Traditionslinie, in der die materiale, natürliche und körperliche Rhythmusdimension vom rationalen Metrum vollständig getrennt werden soll. Das Argument der Relationsprüfung verweist allerdings darauf, dass dabei in sich »taktmetrisch« auf einen strikten Dualismus zurückgegriffen wird, sodass der »betonte« Wert einer inhaltlichen Rhythmik und der »unbetonte« Nicht-Wert der inhaltslosen Taktmetrik beständig konkurrieren. Wer Rhythmus mit Geld identifiziert, ist in seiner eigenen Theorie vom Geld bereits infiziert: Anstatt bestimmte Anzeichen des neuzeitlichen Akzentmetrums für die vorherigen Abschnitte der europäischen Musikgeschichte198 und für die Artenvielfalt der verschiedenen Rhythmuskulten zu akzeptieren, wird die Logik von Zahlungsmitteln angewendet, die entweder ganz oder gar nicht gültig sind. Der Dualismus »voller« (also analog bestimmter) und »leerer« (also digital konnotierter) Zeit ist jedoch in sich eine neuzeitliche Denkfigur, wobei der postulierte »Vorrang des Analogen« stets auf einen Irritationspunkt zurückgeworfen wird, über den auch schon Klages gestolpert ist: die Trommelmusik der außereuropäischen Musikkulturen entzieht sich durch ihre ausgeprägte Zeitpunkt-Akzentuierung einer Vorstellung, nach der das »Digitale« zwingend historisch später als das »Analoge« einzuordnen wäre.199 Für die Langlebigkeit einer solchen Werthierarchie innerhalb der eigenen Konjunkturzyklen und Kreditrichtlinien der Rhythmustheorie muss man daher nach einer anderen Ursache suchen. Und als zumindest ein wesentliches Ursachenbündel wäre dabei gerade die Aversion gegen das Geld zu benennen. Die Rhythmustheorie ist stärker als andere ästhetische Teilaspekte mit einer Relevanz populärer und kommerzieller Erscheinungen konfrontiert, die jedoch letztendlich auf dieselbe grundlegende Matrix des Metrischen wie die kanonisierten Autoren der Hochkultur zurückgreifen. Dies erzeugt einen Distinktionsdruck, der symptomatisch auch in Bockelmanns Theorie hervortritt: »Deshalb herrscht, wo das Geld regiert, nun diese Art von Rhythmus. Deshalb spielt nach Takten noch nicht die Musik der Renaissance, aber die des Barock. So wurden möglich die Beethovenschen Wunder an Taktmusik und musste es jetzt, auf dem inzwischen erreichten, einem einstmals völlig unvorstellbaren Stand weltweit wüten-
Vgl. Erin E. Hannon/Sandra E. Trehub, »Metrical Categories in Infancy and Adulthood«, in: Psychological Science 16/1 (2005), S. 48-55. 198 Vgl. Ruth I. DeFord, Tactus, Mensuration, and Rhythm in Renaissance Music, Cambridge 2015, S. 113. 199 Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 49f.: »Wenn der Rhythmus, wie wir doch annehmen müssten, klanglich besser zum Ausdruck käme durch die verhältnismäßige Stetigkeit der Melodie als durch die Schläge, die jene fortwährend taktgebend unterbrechen, so sehen wir uns vor die verfängliche Frage gestellt, warum nichtsdestoweniger der Taktschlag umso mehr überwiegt, je mehr wir den Uranfängen des Tanzes und damit einer Lebensstufe uns nähern, für die unser Gedankengang das entschiedenste Übergewicht des rhythmischen Flusses über die messende Regel fordert«.
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der Abhängigkeit vom Gang der Geldgeschäfte, zur ebenso wütenden Markierung der Taktschläge kommen im großen Bum-bum der heute herrschenden Musik.«200 Es ist hier durchaus ein kürzerer Exkurs zur akademischen Erfolgsgeschichte des Begriffs der Bum-bum-Musik angebracht: Das Bum-bum markiert den Vorrang der Zwei vor der Eins, wobei in der Kleinschreibung des zweiten Bum die metrische Wertdifferenz, in der Großschreibung des ersten Bum der Vorrang der immerzu gleichen Wiederholung vor der Gegenwart des einzelnen erfüllten Moments angezeigt wird. Eine Bum-Musik wäre noch nicht gleichermaßen rhythmisch (sondern beinahe eine synkopische Auflehnung gegen das Bum-bum), ein ergänztes drittes Bum erzeugt einen Konflikt der Groß- und Kleinschreibung, weil es entweder als Bum-bum-bum die nerventötende Berechenbarkeit, oder aber als Bum-bum-Bum den – wenn auch primitiven – Lustgewinn der metrischen Gliederung repräsentiert.201 Die Rhythmusforschung wird so zum letzten Reservat eines einstmals großen Reichs der Zivilisationskritik, deren vitale, irrationale und manchmal germanozentrische Grundannahmen eine erstaunliche Langlebigkeit zu besitzen scheinen. Hierzu gehören insbesondere der Vorrang des Werdens vor dem Gewordenen, der Vorrang ganzheitlicher Präsenz vor der gliedernden Prädetermination der Zeiterfahrung und eben auch ein »Vorrang des Analogen« gegenüber dem metrisierten Zeitpunkt-Denken. Das spezialisierte Forschungsfeld der Rhythmuslehre bekommt in den modernekritischen Monumentalwerken eine erstaunlich bedeutsame Rolle zugewiesen. Als Beispiel kann man direkt auf den allerberühmtesten dieser Weltentwürfe verweisen. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes definiert den Dualismus »apollinischer« Denkformen in der Antike und »faustischer« Denkformen in der Neuzeit über diejenige Grundkategorie, die auch Metrum und Rhythmus auseinander halten soll; die Antike kennt noch nicht den rationalen Punkt als Generator eines homogenen Raumes: »An Stelle des sinnlichen Elements der konkreten Strecke und Fläche – dem spezifischen Ausdruck antiken Grenzgefühls – tritt das abstrakt-räumliche, mithin unantike Element des Punktes, der von nun als Gruppe zugeordneter reiner Zahlen charakterisiert wird.«202 Die rhetorische Doppelgesichtigkeit des Punktbegriffs führt bei Spengler jedoch dazu, dass das antike Denken, das den Punkt nicht kennt, zugleich durch seine punktförmige Denkform charakterisiert werden kann: »Aber das antike Dasein, euklidisch, beziehungslos, punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig beschlossen.«203 Es gibt also einen Punktbegriff, der auf die Statik und Ortsgebundenheit der antiken Rhythmik sogar besser zutrifft, und es gibt einen Punktbegriff, der nur für die Dynamik und Ortlosigkeit der neuzeitlichen Rhythmik zutrifft.
200 Bockelmann 2004, Takt des Geldes, S. 232. 201 Vgl. etwa J. T. Fraser, Die Zeit: vertraut und fremd, übs. von Anita Ehlers, Basel 1988, S. 364: »Rhythmische Bewegung führt oft zur Ekstase des Tanzes. Der Tanz zu einem regelmäßigen Takt konzentriert die Gefühle des Tänzers auf den Rhythmus. Ein stetiges Bum-bum-bum hat so wenig wie das Ticken der Uhr eine ausgezeichnete Zeitrichtung«. 202 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1981, S. 100. 203 Ebda., S. 172f.
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Auf der einen Seite soll also der archaische oder antike Gegenpol zum neuzeitlichen Denken vom Prinzip der Taktrationalität strikt getrennt werden, auf der anderen Seite soll der Rhythmus mit seinem archaischen Ursprungspol weiter verbunden sein. Dies erzeugt das Problem, dass die archaische Qualität des Rhythmischen zwar nicht mit dem neuzeitlichen Metrum gleichgesetzt werden darf, aber andererseits von seiner metrischen Basis nicht ganz getrennt werden kann. Das Problem betrifft zum Beispiel in bezeichnender Weise die einzige Stelle in der Theorie zur Genese des Geldes von Türcke, die explizit auch einmal auf den Rhythmus zu sprechen kommt: »Dazu gehört ihre Erwählung (etwa durch Loswerfen), ihre Versetzung in einen wehrlosen Zustand (etwa durch Steinigung), die Selbstversetzung des ganzen Kollektivs in einen ekstatischen Zustand (etwa durch Selbstverletzung, durch Wiederholung immer gleicher rhythmischer Bewegungen und Laute, durch daraus entstehende kollektive sexuelle Erregung, durch Rauschmittel), der den Ausführenden den Opfervollzug erträglich machen sollte.«204 Das Metrum erzeugt eine »digitale« Differenz in sich: Derselbe Vorgang muss einmal »metrisch negativ«, einmal »metrisch positiv« markiert werden, weil neuzeitliche Taktbegriffe nicht in die Beschreibung archaischer Riten eingesetzt werden können, aber die Repetition immer gleicher Rhythmen aus neuzeitlicher Sicht natürlich eine metrische Reaktionsform darstellt. Büchers Herleitung des Rhythmus aus der Arbeit erscheint zum Beispiel etwas zu naiv, wenn diese neuzeitliche Funktion des »digital-binären« Metrums mit dem archaischen Ursprung der »analog-binären« Arbeitsgesänge noch einigermaßen direkt gleichgestellt wird: »Der deutlichste Beweis für die rhythmische Unselbständigkeit dieser Gesänge liegt aber wohl darin, dass, wenn sie sich von der Arbeit loslösen, zu der sie gehören, künstliche Hilfsmittel nöthig sind, um ihnen den Rhythmus zu verleihen, sei es Stampfen mit den Füssen, Händeklatschen oder ein Schallinstrument.«205 Die Ursprungstheorien verbinden um 1900 den »archaischen« Rhythmus mit der Urteilslogik der metrischen Antizipation und der psychologischen Projektion. Dies macht insbesondere die Theorie vom Ursprung der Musik aus rhythmischen, nicht aber arbeitsbezogenen Lebensvorgängen von Richard Wallaschek sehr einfach angreifbar: »Die taktmäßige Bewegung erregt auch unser Interesse, denn sie versetzt das Nervensystem in den Zustand der Erwartung (eines Schlages zu einer bestimmten Zeit) und Erfüllung (befriedigende Wahrnehmung des rechtzeitigen Schlages), und erzielt somit einen geistigen Anteil an der Bewegung, die ohne Takt ein rein körperlicher Vorgang geblieben wäre.«206
204 Türcke 2015, Philosophie des Geldes, S. 403. 205 Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 54. 206 Wallaschek 1903, Anfänge der Tonkunst, S. 267.
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Eine solche Position setzt eine gänzlich unhistorische Basis des Rhythmusbegriffs voraus. Diese Annahme findet sich etwa in einer sehr typischen Form in der Schallanalyse von Eduard Sievers: »Die Bildung der Melodien unterliegt in den verschiedenen Zeiten und bei den verschiedenen Völkern den mannigfaltigsten Modifikationen: für sie lassen sich also allgemeine Regeln kaum aufstellen. Die Grundgesetze des Rhythmus aber sind für alle Zeiten dieselben gewesen und werden ewig dieselben sein.«207 Die »analog-binäre« Rhythmusauffassung muss jedoch zwischen einem ursprünglichen Fließen und der ungehemmten Zirkulation von ökonomischen Handelswaren auch strikt unterscheiden: Ökonomie und Rhythmustheorie verbinden sich nur in der Polemik.208 Der Rhythmus soll ein Urerleben des Menschen auch noch in der Gegenwart abbilden;209 die Ursprünge des Rhythmischen müssen dafür jedoch wie im folgenden Zitat von Spengler in eine gänzlich irrationale Wertsphäre projiziert werden: »Die Imitation ist aus dem geheimen Rhythmus alles Kosmischen geboren.«210 Rhythmus ist damit einseitig wieder als das Gegenteil des Geldes bestimmt. Stattdessen findet man bei Spengler an anderer Stelle einen Verweis auf einen Zusammenhang »[…] zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem.«211 Ähnlich wie bei McLuhan ist die Musik zu wenig das Leitmedium der Darstellung, um für eine derartige Parallelisierung die am besten geeigneten Beispiele zu wählen (oder es wäre zu akzeptieren, dass man mit Geld alles bezahlen kann, und also kann man auch alles mit Geld vergleichen, wie hier wohl das wuchernde Kreditsystem und den ebenso wuchernden Kontrapunkt). McLuhan hingegen weiß zu erzählen, dass gerade der taktmäßige Marschtritt keine natürliche, sondern eine noch den Soldaten Napoleons nur mühselig beizubringende Bewegungsform gewesen ist.212 Der kulturelle Übergang zum marschmäßigen Exerzieren wird dabei historisch wiederum auf die alles entscheidende Epochenzäsur der Neuzeit um 1600 datiert (und ist damit ein weiteres Indiz für oder gegen die Geldtheorie des Taktrhythmus von Bockelmann).213
207 Eduard Sievers, Rhythmisch-melodische Studien. Vorträge und Aufsätze, Heidelberg 1912, S. 41. Vgl. in ganz ähnlicher Weise Mathis Lussy, Le rythme musical. Son origine, sa fonction et son accentuation, Paris 1884, S. vi: »Le mélos change; chaque peuple a son système tonal et modal; mais le rythme reste et restera éternellement invariable«. 208 Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 49: »Das lebensphilosophische Ideal des Fließens und das Zivilisatorische der Zirkulation von Ware, Arbeitskraft und Geld, die für einen Moment verschmolzen waren, spalten sich unversöhnlich auf«. 209 Vgl. als Beispiel für dieses Aussagepathos Koch 1922, Rhythmus, S. 7: »Der Rhythmus ist so alt wie die Menschheit. In der gesamten Daseinsentwicklung war er stets wirksam als lebensspendende Kraft, sei es als Begleiter und Förderer jeglicher Art von Arbeit, sei es als Ordner von Spiel und Fest«. 210 Spengler 1981, Untergang des Abendlandes, S. 246. 211 Ebda., S. 8. Das Beispiel fällt ins Auge, weil es die allererste Probe für das Modell eines zyklischen Denkens darstellt. 212 Vgl. dazu McLuhan 1995, Gutenberg-Galaxis, S. 182. 213 Vgl. McNeill 1995, Keeping Together in Time, S. 3.
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Für das Grundproblem einer Ursprungsbestimmung des Rhythmus, die vom Metrum getrennt und doch mit diesem irgendwie verwandt sein muss, ist demgegenüber vor allem interessant, mit welcher Selbstverständlichkeit der Schlagwerkklang zugleich die Funktionen des modernen technischen Mittels und der primitiven Reizwirkung in sich aufnehmen kann: »Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts kommen die Landsknechte mit ihren großen Trommeln, die man dem Orient entlehnt hatte. Die Trommel mit ihrer stark hypnotischen, unmusikalischen Wirkung bezeichnet treffend den Übergang von der ritterlichen Periode zur modern-militärischen; sie bedeutet ein Stück Mechanisierung des Krieges.«214 Es muss also in den Ursprungstheorien eine Qualität der Repetition für den Rhythmus vorausgesetzt werden, bei der die geräuschhafte Weitung und die geordnete Taktbindung in den »digitalen« Schlagklängen mehr oder minder stark zusammengeführt sind.215 Diese Verschiebung wird von einer Anthropologie herausgestellt, die wie bei Arnold Gehlen von einer Interferenz-Bestimmung der Seele im technischen Zeitalter ihren Ausgang nimmt: »Dieses elementare menschliche Interesse an der Gleichförmigkeit des Naturverlaufes ist höchst bemerkenswert, es entspricht einem instinktähnlichen Bedürfnis nach Umweltstabilität, denn in einer zeitunterworfenen und notwendig wandelbaren Wirklichkeit besteht das Maximum an Stabilität in einer automatischen, periodischen Wiederholung des Gleichen, wie sie die Natur ja auch annähernd zeigt.«216 Es gibt demzufolge schlichtweg keinen Gegenstand mehr, der vom neuzeitlichen Taktmetrum vollständig getrennt verbleibt, aber dennoch in die archaischen Repetitionsvorgänge als Inhalt (und damit als Präsenz der Inhaltslosigkeit) eingesetzt werden kann. Pascal Michons Theorie der kollektiven Rhythmen der Gesellschaft führt dies mit dem bereits bekannten Lapsus vor, das implizit ausgeschlossene Metrum durch das explizit metrische Anfangssubstantiv zurückzuholen: »Dans la mesure où elle désigne les formes historiques du mouvement de l’individuation psychique et collective, la notion de rythme exclut les cycles cosmiques, les cycles biologiques et les cycles économiques.«217
214 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. von Kurt Köster, Stuttgart 1961, S. 139. 215 Vgl. als Beispiel für diese Widersprüchlichkeit etwa Wilhelm Wundt, Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Leipzig 1912, S. 95: »Der Tanz wird im allgemeinen bei den primitiven Völkern nicht von Musik begleitet. Höchstens Lärmmittel werden herbeigezogen, die den Takt angeben«. Vgl. auch Werner 1924, Ursprünge der Lyrik, S. 116: »Besteht also ein von verschiedenen motorischen Gebieten getragener Antrieb zur in sich gebundenen, wiederholten Bewegungsäußerung, dann gestaltet sich Rhythmik von selbst. Rhythmus gestaltet sich von selbst, sobald die Beweglichkeit des Körpers auf die psychisch einfachste Form des Ausdruckes abzielt«. 216 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 15. 217 Michon 2005, Rythmes, S. 425 (bezogen auf die Theorie von Meschonnic).
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Die am weitesten ausgearbeitete Anthropologie mit einer expliziten Ausrichtung der Ästhetik am Rhythmus dürfte sich finden bei André Leroi-Gourhan: Dieser erkennt bereits in den an die Wände von Höhlen gekritzelten »rhythmischen Folgen von Strichen oder Punkten«218 einen Vorrang der Symbolfunktion vor der ikonischen Abbildungsfunktion, aber formuliert dann in typischer Weise einen Begriff des Rhythmischen, der sowohl archaisch an den Naturzyklen und abstrakt an der semiotischen Zeichenrepetition ausgerichtet wird.219 Die Aporien in den Rückprojektionen treten in der Rezeption dieser Rhythmushypothese zutage: »Daß es sich hierbei um ein rhythmisches Hilfsmittel mit Beschwörungs- und Deklamationscharakter handelt – wie André Leroi-Gourhan annimmt –, ist nicht auszuschließen. Doch die Tatsache, daß auf diesem Knochen Kerben nicht einfach aneinandergereiht, sondern zugleich in Fünfergruppen gebündelt sind, macht die Interpretation wahrscheinlich, daß hier ein Zählvorgang mit Hilfe schriftlicher, zweidimensionaler Zeichen festgehalten wurde, welcher vielleicht – nicht anders als das Rechensteinsystem im antiken Mesopotamien – buchhalterischen Zwecken diente.«220 Die Schwierigkeit liegt darin, dass hier wieder ein Gegensatz zwischen einer »archaisierenden« rhythmischen Funktion und einer »abstrahierenden« ökonomischen Funktion unterstellt wird, der in dieser Form nicht bestehen muss, oder aber auf das Problem verweist, dass die Aussagen in all diesen Ursprungstheorien immer anachronistische Projektionen voraussetzen (denn eine Gruppierung ist natürlich aus neuzeitlicher Sicht auch das Merkmal einer Rhythmisierung). Für den Einbau des Rhythmus in diese Kulturarchäologien erscheint vor allem die sehr schön verknappte Formel von Claude Lévi-Strauss bedeutsam, wonach die Opferhandlung nicht dem Gesetz der Kausalität (bzw. der Ähnlichkeit), sondern der Kontiguosität gehorcht.221 Wichtig ist nicht, was einem Gott dargeboten wird, sondern dass diesem Gott irgendetwas dargeboten wird. Diese Annahme führt auch zurück zu den Ursprungstheorien des Geldes aus dem Opferritual: »Nun ist zwar die einzelne Kultordnung in sich konstant; d.h. die für eine bestimmte Gottheit oder bei einem bestimmten Fest verordnete Opfergabe kann nicht durch andere ersetzt werden. Dagegen ist das Opfer selbst einer Entwicklung unterworfen; was heute als Opfergut gilt, an dessen Stelle tritt morgen ein anderes.«222 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übs. von Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1980, S. 241 (die Formulierung bezieht sich auf eine Bestimmung der frühesten Kunsttechniken). 219 Vgl. Ebda., S. 342: »Kann man nun in der Wahrnehmung und Hervorbringung rhythmischer Symbole gleichfalls nach einer Quelle suchen, die in der Tierwelt gründet und die in dem Augenblick, da sie auf menschlichem Niveau erscheint, die gleichen Merkmale zeigt wie Technik und Sprache?«. 220 Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988, S. 9. 221 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, übs. von Hans Naumann, Frankfurt a.M. 1968, S. 260. 222 Bernhard Laum, Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Tübingen 1924, S. 81.
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Man könnte daraus die Idee ableiten, dass der suggestive Rhythmus diesen zunehmenden Abstraktionsvorgang gleichsam verbergen soll. Die Funktion des Rhythmus wäre also diejenige der Kompensation: Das rhythmische Lärmen und Klappern ist unnötig, wenn das Ritual noch »intakt« ist, es wird erst notwendig, wenn die Routinen der stellvertretenden Opfergaben sich verstärken. Verallgemeinert man diesen Gedankengang, dann ergibt sich daraus ein ebenso einfaches wie eindrückliches Gesetz: Rhythmus erscheint umso archaischer, je moderner er ist. Je stärker demnach bestimmte Formen der Ursprünglichkeit nicht mehr gegeben sind, desto stärker wird der Rhythmus erst dadurch zu seiner neuzeitlichen Rolle finden, diese Ursprünglichkeit kompensatorisch zu repräsentieren: Archaisierung setzt Abstraktion bereits voraus.223 Einmal ergibt sich damit ein Austauschvorgang, bei dem natürliche Rhythmen durch die Kultur des Menschen negiert werden, wobei der Mensch jedoch an deren Stelle seine eigenen zivilisatorischen Rhythmen setzt: »Se séparant des animaux, ils ont adopté une vie sexuelle totalement indépendante de la succession des saisons […] Parallèlement, les hommes ont organisé rythmiquement des activités qui étaient au contraire jusque-là tout à fait irrégulières.«224 Das Geld ist aber auch der Auslöser eines Rhythmusverlusts, der sich nun als linearer Vorgang diagnostizieren lässt, bei dem der Geldverkehr und damit erst der neuzeitliche Kulturkontext die Abkehr des Menschen von den zivilisatorischen Lebensrhythmen erzeugt bzw. verstärkt.225 Je stärker der Rhythmus von dieser merkantilen Gegenwart befreit werden soll, desto stärker tritt dessen eigenes »Gefangenendilemma« hervor. Die beteiligten Parteien müssen auf das Maximum individueller rhythmischer Entwickeltheit verzichten, um ein koordinatives Zusammenwirken weiter garantieren zu können.226 Diese minimal zu bewahrende metrische Norm entspricht also einem Modell des reziproken Altruismus, der nicht nur für das soziale Taktgefühl bedeutsam wäre, sondern auch für den ästhetischen Taktbegriff.227 223 Diesem Konzept entspricht zum Beispiel ansatzweise der Rhythmusbegriff bei Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zur einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893, S. 31: »Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses«. 224 Michon 2005, Rythmes, S. 113. Vgl. auch schon Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 683f. 225 Vgl. erneut Michon 2005, Rythmes, S. 115: »C’est la monnaie qui, historiquement, a été le premier vecteur de l’aplanissement des rythmes et de la mise en place d’une temporalité plus libre pour l’action individuelle.« Vgl. zum Geld als Ursache des Rhythmusverlusts auch Lefebvre 2013, Rhythmanalysis, S. 43. 226 Vgl. Steven Mithen, The Singing Neanderthals. The Origins of Music, Language, Mind and Body, London 2005, S. 214: »Thus music-making is a cheap and easy form of interaction that can demonstrate a willingness to cooperate and hence may promote future cooperation when there are substantial gains to be made such as in situations of food sharing or communal hunting«. 227 Vgl. Plessner 1924, »Grenzen der Gemeinschaft«, S. 99: »Die Weisheit des Taktes: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen.« Vgl. dazu auch Günter Gödde/Jörg Zirfas, »Die Kreativität des Takts. Einblicke in eine informelle Ordnungsform«, in: Günter Gödde/Jörg Zirfas (Hg.), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie, Bielefeld 2012, S 17: »Taktvolles Verhalten ist ein Verhalten des als ob: man unterstellt, dass man selbst und der andere eine gemeinsame Basis des Schonenswerten hätten«.
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Erneut ist die Darstellung damit an einen Punkt gestoßen, an dem sich eine wissenschaftliche Seriosität eigentlich nicht aufrechterhalten lässt, aber die behandelten Thesen und Themen in den Universaltheorien des Rhythmus gerade die »esoterischen« und die rezenten »kritischen« Entwürfe miteinander verbinden, sodass eine Abhandlung dieses Problemzusammenhangs nur als Darstellung auch dieser Randbereiche vollständig sein wird. Es erscheint an dieser Stelle der Überlegungen daher sinnvoll, nochmals zu dem eigentlichen Problem zurückzukehren, wodurch Rhythmus und Geld miteinander vergleichbar werden, und wodurch sie sich gerade in einem solchen Vergleich auch wieder unterscheiden. Die wissenschaftsgeschichtlich erste Zusammenführung von »Denkform« und »Warenform« bei Alfred Sohn-Rethel etwa steht ganz quer zur Theorie einer Symbiose von Geld und Rhythmus, weil sie einerseits diese Rückführung des Geistigen auf die Ökonomie auch schon für die Antike vertritt, aber andererseits die Parallele nicht wirklich auf den ästhetischen Bereich ausdehnt.228 Die Verbindung der abstrakten Begriffe mit dem abstrahierenden Geld ist dabei sicher nicht neuartig, sie verweist vielmehr auf einen Gegensatz von Punktabstraktion und Phänomenalität, von dem aus das Theorem sich auch in die Rhythmustheorien überträgt.229 Der einzige implizite Konnex zum Feld des Rhythmischen bei Sohn-Rethel ist hingegen die sehr deutlich herausgestellte Interferenz-Bestimmung: »Die Form, in der der Warenwert sinnfällig in Erscheinung tritt, nämlich das Geld und speziell gemünztes Geld, ist abstraktes Ding, ein Widerspruch in sich.«230 Der Taktrhythmus ist demgegenüber jedoch eher ein »konkretes Nicht-Ding«, und als solches die Negativbestimmung, die sich komplementär dem Geld gegenüberstellen lässt. Darauf beruht die Pointierung in der Theorie von Bockelmann: Im Rhythmus verbindet sich das rational äußerste Element des Geldes mit einem ganz unbewusst reflexhaften Vorgang, doch nicht die Rationalität wird aus dem Reflex geboren, sondern der rhythmische Reflex aus dem rationalen Geldprinzip. Es ist aber die Frage, ob es tatsächlich derselbe Vorgang ist, bei dem durch eine »binäre« Codierung ein Geldwert auf einen Gegenstand und ein Taktwert auf ein Zeitereignis bezogen werden. Bockelmann bringt dies auf die folgende Formel: »Etwas kostet etwas: Es sind zwei Etwas, es sind genau zwei Einheiten, die hier zusammentreten und doch getrennt einander gegenüber stehen. Und zwar kostet eine Ware Geld.«231 228 Diese Ausweitung auf das Gelehrtenideal der Antike erscheint beinahe als Tabubruch. Die Kritik an Sohn-Rethel beschränkt sich daher stark auf diesen Punkt, vgl. insbesondere die entsprechende Polemik bei Eske Bockelmann, »Abschaffung des Geldes«, in: Rudolf Heinz/Jochen Hörisch (Hg.), Geld und Geltung. Zu Alfred Sohn-Rethels soziologischer Erkenntnistheorie, Würzburg 2006, S. 98. Umgekehrt ist es möglich, die Tatsache, dass die »Griechen das Prinzip des ›Prinzips‹ gefunden« haben, auf die Nähe zwischen Geld und Gesetz zurückzuführen; vgl. Johannes Lohmann, »Die Erfindung des Geldes«, in: Friedrich Kittler/Ana Ofak (Hg.), Medien vor den Medien, München 2007, S. 230. 229 Vgl. etwa Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 4/5 1922, S. 45: »Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem enthält, ist gleich dem Gelde. Z.B. der Begriff Atom oder der Begriff Energie«. 230 Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1971, S. 105. 231 Bockelmann 2004, Takt des Geldes, S. 177.
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Die neuzeitliche Geldwirtschaft dürfte jedoch weniger auf der Erfahrung beruhen, dass viele verschiedene Waren mit demselben Preis ausgezeichnet werden, sondern dass ein und dieselbe Ware mit ganz verschiedenen Preisen gehandelt wird (die Tulpenkrisen sind das berühmteste Beispiel für diese historisch frühen Spekulationsblasen). Die Wertdifferenz des Geldes betrifft also einerseits den Umgang mit den materialen Waren, aber andererseits auch das Geld selbst. Und dies scheint beim Taktrhythmus nicht der Fall zu sein, der keine Inflation und Deflation erzeugt, der nicht zum Kredit wird, sondern ein einfacher Tausch verbleibt. Die Binarität des Geldes besitzt zudem in sich eine Interferenz-Struktur aus der Zahlseite und der Kopfseite einer Münze: »Der Kopf (ver)leiht der Zahl auf der anderen Seite die Autorität und Geltung, die diese an den Kopf zurückreicht.«232 Die beiden Seiten einer Münze sind material gleichartig, aber sie werden symbolisch so ungleich wie möglich definiert: Die Zahlseite ist das Symbol der funktionalen Wertbestimmung, die Kopfseite dagegen vertritt die Autorität eines Staates oder Fürsten, der für den materialen Gehalt der ideellen Währungseinheit eine Garantie abgibt.233 Im Rhythmus sind die beiden Seiten genau umgekehrt per definitionem als ungleich bestimmt (der Kopf löst eine andere Handlung aus als die Zahl, dies entspricht also dem Münzwurf als repetierter Aktion), aber beide Seiten gehören dem gleichen Symbolsystem der punkthaften Zähleinheiten an. Geld prägt also den Kopf auf die Zahl, Rhythmus die Zahl auf den Kopf: Das Geld bindet die ideelle Wertdifferenz an die immer wieder neu herzustellende Bedingung der intersubjektiven Gültigkeit; der Rhythmus bindet die intersubjektive Wirksamkeit an die jedes Mal herzustellende ideelle Wertdifferenz.234 Voraussetzung hierfür aber erscheint zu sein, dass Ökonomie und Musik auf diskrete Zähleinheiten, auf notationale Wertsysteme zurückgreifen.235 Geld ist also ein materialer Gegenstand, der dennoch rein ideell bestimmt wird und so auf einen anderen materialen Gegenstand als Wert projiziert werden kann. Im Fall des Metrums sind im Tausch von Etwas gegen Etwas jedoch beide Wertelemente zugleich materiell und beide ideell. Diese kleine Differenz der Codierung aber verleitet dazu, die beiden rein ideellen Bestimmungen der aufeinander bezogenen guten und schlechten Zählzeiten von den beiden materialen Trägern einer Silben-, Ton- oder Bewegungsfolge auch wieder ganz abzulösen. Eine rein »kinetische« Rhythmik soll von einer rein »digitalen« Metrik unterschieden werden. Die spezifische Codierung erzeugt jedoch eher wieder eine Logik, in der das alte ökonomische Gesetz zu gelten scheint, dass man das eine nicht ohne das andere bekommen kann. Diese Kompensationslogik und das leise Bedauern darüber hat Jacques Handschin in eine prägende Kurzformel zusammengebracht: 232 Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a.M. 1996, S. 16. 233 Vgl. zu diesem Aspekt auch Türcke 2015, Philosophie des Geldes, S. 104. 234 Vgl. einen Aphorismus bei Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, übs. von Jürgen Neubauer, München 2013, S. 228: »Das liegt daran, dass die Religion uns auffordert, an etwas zu glauben, und das Geld uns auffordert zu glauben, dass andere Menschen an etwas glauben«. 235 Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 167: »Vielmehr sind immer Einheiten gemeint, die von einem beobachtenden System konstruiert (unterschieden) werden, zum Beispiel die Recheneinheiten des Geldes oder die Töne in der Musik«.
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»So stehen wir vor der uns paradox erscheinenden Tatsache, daß wo der Takt gestampft wurde, er sich im Klingen selbst kaum konkretisierte, während in der neuen Musik das Taktschlagen unhörbar wurde, die Musik aber stampfen lernte.«236 Das Problem des Rhythmus verbindet sich dabei vor allem mit einem konkreten Gegensatz, der von zentraler Bedeutung auch über das enge eigene Feld der Rhythmustheorien hinaus ist: Dies aber ist der Konflikt zwischen den Komponenten der Phänomenalität und der Punkthaftigkeit. In der empirischen Forschung werden diese beiden Bedingungen selbstverständlich verknüpft. Die »kritischen« Rhythmustheorien beobachten hingegen eine Widersprüchlichkeit der beiden Bedingungen: Wenn etwas phänomenal präsent ist, dann kann es keine Punktbestimmung mehr aufweisen, und wenn etwas durch punkthafte Akzente psychologisch gegliedert ist, dann muss es von der phänomenalen Präsenz bereits getrennt sein. Das folgende Kapitel wird sich einer möglichst umfassenden Aufarbeitung dieser konträren Positionen widmen.
236 Handschin 1981, Musikgeschichte im Überblick, S. 71.
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Chronologie: Zwei Wellen der Rhythmusforschung
In diesem fünften Kapitel soll zunächst aufgezeigt werden, wie sich drei systematische Zeitebenen in der Beschreibung rhythmischer Phänomene (die als Ebenen innerhalb, unterhalb und oberhalb der psychischen Präsenzzeit der »subjektiven Rhythmisierung« bezeichnet werden können) mit zwei historischen Zeitphasen der Rhythmusforschung in Beziehung stellen lassen. In der Datierung dieser Zeitphasen besteht eine große Einmündigkeit. Man kann zwei Wellen eines starken Forschungsinteresses am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts von einer Phase mit einem deutlich reduzierten Ausmaß der Rhythmusforschung in der Jahrhundertmitte abgrenzen.1 Pascal Michons Festlegung der ersten dieser beiden Forschungswellen auf einen Zeitrahmen von 1890 bis 1950 erscheint ausgesprochen exakt.2 Die zeitlichen Grenzziehungen lassen sich durch eine Reihe argumentativer Einzelbeobachtungen weiter bestätigen, was chronologisch zunächst für einen Anfangspunkt etwas vor der Jahrhundertwende und danach für einen Endpunkt erst einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert werden soll. Ein erster Einfluss ist die lineare Entwicklung der experimentellen Forschung: Es wird möglich, in empirischen Untersuchungen entsprechend kleine Zeitintervalle so exakt zu messen, dass objektive Aussagen über die »subjektive Rhythmisierung« getroffen werden können. Hierbei bilden Untersuchungen zum menschlichen »Zeitsinn« eine Vorgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei der Suche nach kleinstmöglichen Zeitintervallen, die noch differiert werden können, wird das Phänomen der rhythmischen Gruppenbildungen beinahe zufällig als Nebeneffekt aufgedeckt.3 Ein zweiter Einfluss dürfte das exponentiell steigende Ausmaß von ethnologischen Forschungen sein, sodass in den Jahren um 1900 eine Reihe von Arbeiten zu
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Vgl. Spitznagel 2000, »Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung«, S. 3. Vgl. Michon 2005, Rythmes, S. 413. Vgl. zu dieser Vorgeschichte ausführlich Luccio 2016, »Rhythmusforschung«, S. 83ff.
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den Anfängen von Musik und Kunst angeregt wird. Ein dritter Einfluss auf die Entstehung einer eigenständigen Rhythmusforschung ist zudem das wissenschaftssoziologische Faktum, dass in diesen Jahren die Einrichtung universitärer Einzeldisziplinen forciert wird.4 Der Rhythmus bietet aber die Möglichkeit, die neu geschaffenen Lehrstühle an einen Begriff zu binden, der die Notwendigkeit dieser Einzeldisziplinen begründen kann, und doch zugleich die neuen Fächer in einem gesamtkulturellen Forschungsrahmen belässt. Diese institutionelle Funktion dürfte der Forschung allerdings bereits eine gewisse inhaltliche Vorprägung einschreiben: Eine gegen reines Spezialistentum und modernistische Zersplitterung argumentierende Universaltheorie kann aus dem Rhythmus ihren eigenen Existenzanspruch glaubhaft ableiten, nicht jedoch eine an der Errichtung abgeschlossener Elfenbeintürme interessierte Spezialforschung.5 Der Rhythmusbegriff ermöglicht es, eine teilweise radikale Alternative zur empirisch-objektiven Forschung für einen Gegenstand zu postulieren, der dieser Forschung dennoch zugänglich ist.6 Der Relevanzzugewinn des Rhythmus um 1900 erklärt sich dann als Bestandteil einer umfassenden »Gelehrtenrevolte« gegen die einseitige Vorrangstellung der empirischen Naturwissenschaften: »Angesichts einer in ihren Augen übertriebenen Aufwertung von technischen und arithmetischen Fähigkeiten und der Konzentration von Wissenschaftlern auf Details erblickten verschiedene Autoren in der transdisziplinären Erforschung von rhythmischen und periodischen Phänomenen die Perspektive einer Versöhnung von Naturund Geisteswissenschaften, die das Ende einer unproduktiven Konkurrenz und einer unheilvollen materialistischen Gesinnung mit sich bringen würde.«7 Der konkrete historische Hintergrund kann bis in die Besetzungsverfahren einzelner Lehrstühle vor allem der psychologischen und sogar philosophischen Disziplinen verfolgt werden, die am Ende des 19. Jahrhunderts stark von empirischen Lehrparadigmen bedrängt werden. Die Phänomenologie als nicht-empirischer Zugriff auf »die Sachen selbst« und vor allem das Gestaltdenken als ganzheitliche Variante einer empirischen Erkenntnisweise erhalten für die Rhythmusforschung eine zentrale Bedeutung.8 Rhyth-
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Vgl. Georg Vasold, »Anschauung versus Erlebnis. Der Rhythmus in der deutschsprachigen Kunstforschung um 1900«, in: Sigrid Brandt/Andrea Gottdang (Hg.), Rhythmus. Harmonie. Proportion. Zum Verhältnis von Architektur und Musik, Worms 2012, S. 36, der konkret eine »[…] auffallend häufige Verwendung des Rhythmusbegriffs in den Schriften der Gründergeneration der akademischen Kunstgeschichte« vermerkt. Vgl. dazu auch Hans Hermann Russack, Der Begriff des Rhythmus bei den deutschen Kunsthistorikern des XIX. Jahrhunderts, Diss., Leipzig 1910, S. 7. Der Rhythmusbegriff kommt gerade dort zur Geltung, wo »esoterische« Themen wie die Astrologie an ein Mindestmaß »empirischer« Theoriesubstanz gekoppelt werden sollen. Vgl. etwa Ring 1939, Lebewesen im Rhythmus des Weltraums, S. 14: »Das Absurde der astrologischen Auffassung liegt vor allem darin, daß sie Ursachen annimmt, die zum Bereich der Naturwissenschaften gehören, und von Folgeerscheinungen spricht, deren Untersuchung geisteswissenschaftlichen Methoden obliegt«. Olivier Hanse, »Der Rhythmus als Grundlage einer Erneuerung der Wissenschaften und als Instrument einer sozialen Therapie«, in: Salgaro/Vangi 2016, Mythos Rhythmus, S. 31. Vgl. zu diesen institutionsgeschichtlichen Aspekten auch Ash 1995, Gestalt psychology, S. 18f.
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mus erscheint dabei nahezu immer als Kampfbegriff gegen den Verlust einer umfassenden Geistesbildung in zersplitterten Expertenkulturen. Die Warnung vor dieser Gefahr wird in der Zwischenkriegszeit mit besonderer Vehemenz vorgetragen, während sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in das Reservat einer reaktionären Modernekritik zurückzieht.9 Die Anfangsphase der empirischen Rhythmusforschung zeigt demgegenüber eindrücklich, dass auch der Empiriker den Nutzen seiner eigenen Methodik gegenüber ehrwürdigen bestehenden Theorietraditionen nachweisen muss. Die beiden »Gründungsdokumente« dieser Forschung von Meumann und Bolton belegen im Jahr 1894 genau diesen Zwiespalt. Bolton erläutert defensiv den eigenen Wert der empirischen Forschungen: »The experimental study of rhythm which is to be presented in this paper, is an attempt to push the lines of exact science a little farther forward into a field that borders more closely upon the field of aesthetics than any other that experimental psychologists have tried.«10 Meumann dagegen kritisiert zunächst mit deutschem Gelehrtenselbstbewusstsein den eklektizistischen Zuschnitt einer nicht-empirischen Forschung: »Dazu huldigen die meisten modernen Ästhetiker noch der unheilvollen Manier, die ästhetischen Kategorien der verschiedensten Gebiete des ›Schönen‹ in der wildesten Weise zu vermengen.«11 Die Rhythmusforschung wird damit zu einem zentralen Umschlagplatz, an dem die empirische Wissensbildung in das alte humanistische Bildungswissen überführt werden kann. Ganz typisch erscheint der Satz, mit dem Bücher seine mehrere hundert Seiten starke Abhandlung einleitet: »Endlich schien der Gegenstand geeignet, weitere Kreise von Gebildeten zu interessieren.«12 Damit die »Gebildeten« am Gegenstand einfacher rhythmischer Zähl- und Gruppierungsvorgänge aber tatsächlich ein Interesse entwickeln, ist dessen Übertragung auf neue Disziplinen hilfreich, auf den Rhythmus der Bildkunst, des Arbeitens, der Geschichte etc. Und für diese Ausweitungen scheint erneut die Gestaltwahrnehmung »[…] den entscheidenden Vorzug zu bieten, daß sie eine in der Moderne hochgradig unwahrscheinliche Beobachtungsform, eine von der Spezialisierung unberührt gebliebene Totalwahrnehmung erlaubte.«13 Stärker als in der musikalischen Rhythmusforschung wird dabei in der sprachlichen Rhythmik die Konfrontation des tradierten Mediums mit den neuen experimentellen Methoden erkennbar: »Reim und Rhythmus, Vers und Metrum werden auf einem Feld behandelt, das jedenfalls nicht mehr länger germanistisches Kernland ist – etwa in Zeitschriften zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, im Umfeld der experimentellen Psychologie,
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Vgl. zum Beispiel Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 5 1951, S. 146. Bolton 1894, »Rhythm«, S. 146. Meumann 1894, Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, S. 12. Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. vi. Simonis 2001, Gestalttheorie, S. 119.
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aber auch in Kontexten, die wie die experimentelle Pädagogik, oder angewandte Psychologie durchaus praktischen Belangen gelten.«14 Für diese erste Welle der Rhythmusforschung erscheint vor allem kennzeichnend zu sein, dass eine »esoterische« Rhetorik nicht als Widerspruch zu einem »empirischen« Objektivitätsanspruch empfunden worden ist. Vielmehr wird man sagen dürfen, dass das Hervorkehren einer irrationalen Beschreibungssprache sich in der skizzierten soziologischen Situation durchaus als rationale Entscheidung erweisen konnte. Die »vitalistische« Rhythmusforschung ist damit aber äußerst schlecht immunisiert gegen politische Verführungen und die Verstrickung in völkische Ideologien. Ihre Endschwelle um 1950 lässt sich am leichtesten mit dem starken Missbrauch des Rhythmusideals im Faschismus begründen.15 Allerdings findet sich eine Fortsetzung der »esoterischen« Publikationen gerade in Deutschland noch einige Jahre nach dem Kriegsende, und dabei zeigt sich eher die Logik eines Revisionismus, bei dem großrhythmische Geschichtsentwürfe die konkrete historische Schuld mindern sollen. Typisch für dieses Auslaufen ist die Tendenz zur Neuausgabe von zuvor publizierten Werken, die nun jedoch keine Wirkungsmächtigkeit mehr entfalten.16 Der »esoterische« Rhythmus wird erst in den folgenden Jahrzehnten endgültig esoterisch und erhält eine neue soziale Funktion in der Ökologiebewegung und Kirchentagsrhetorik.17 Dieses Auslaufen der »esoterischen« Rhythmusauffassung erst nach 1945 wird ergänzt durch ein spürbares Abflauen der »empirischen« Forschungen schon vor 1945: Dabei spielt sicher auch, aber nicht nur der Kriegsbeginn eine Rolle, der den Laboren wichtigere Aufgaben zuweist als rhythmische Abzählvorgänge. Vielmehr zeigt seit etwa Mitte der 1930er-Jahre das empirische Rhythmusdenken alle Anzeichen eines vollständig erschlossenen und endgültig kartographierten Wissensgebiets: Bibliografien und zusammenfassende Sammelrezensionen ergänzen die vorherige Publikationsflut.18 Auch der fehlende Interessenrückgang nach dem Ersten Weltkrieg spricht gegen eine einfache politische Deutung dieses Abflauens: In den Schriften der 1920er-Jahre erscheint stets nur das Großstadtleben als sozialpsychologische Pathologie, während das Grauen der Schützengräben fast nie erwähnt wird. Ein Zusammenhang zwischen
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Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 273f. Vgl. zu dieser Ursachenbestimmung etwa Golston 2008, Rhythm and Race, S. 210. Vgl. als die »extremste« dieser Arbeiten Richard Benz, Rhythmus deutscher Kultur. Versuch einer Deutung der Geschichts-Kräfte, Hamburg 1948, S. 92: »Strebt in solcher rhythmischen Umkehr der Epochen die deutsche Seele zu ihrem Ursprung zurück? Gelangt Sie wieder zu der Grenze, wo Mythos und Kultur sich scheiden? Beginnt ein Kreislauf neu, der neues Unsichtbares zum Inhalt und Zentrum neuer werkend-bauender Epochen setzt; oder kehrt verklingender Schöpfergeist in freie Natur der alten Wälder zurück, in Frühe jenseits der Kultur?«. Vgl. Jürgen Kuhlmann, Rhythmus statt Rivalität: die absolute Spannung (›Trinität‹) als weltanschauliches Friedensprinzip, Stuttgart 1981, S. 23 zum Ideal von »Stereo-Einheiten« statt »Mono-Polen« als Medienupdate der »esoterischen« Metaphorik. Vgl. die Bibliografie in Seckel 1937, Hölderlins Sprachrhythmus, und die Sammelrezension von Hellmuth Christian Wolff, »Das Problem des Rhythmus in der neuesten Literatur (ca. 1930 bis 1940)«, in: Archiv für Sprach- und Stimmphysiologie und Sprach- und Stimmheilkunde 5 (1941), S. 163-195.
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Kriegserlebnissen und Rhythmusdenken entsteht eher durch die Möglichkeit, ein Weltprinzip postulieren zu können, das den Blick auch ohne beständigen Zugriff auf Bibliotheken schärfen kann. Dieser Blick »[…] klärte sich, als im Feld die äußeren Verhältnisse dazu zwangen, anstatt die Kenntnisse zu erweitern, den bis dahin gewonnenen Stoff immer von neuem durchzudenken. Damals ist mir der Gedanke des Rhythmus aufgestiegen und zugleich die Gliederung der abendländischen Entwicklung klar geworden.«19 Die Idee vom Rhythmus der Weltgeschichte entsteht also durch Rhythmus: durch das immer neue Durchspielen des Grundgedankens anstelle einer Konsultation von Spezialliteratur; und diese Idee erzeugt wiederum Rhythmus: im Absehen von Details und in dem Anspruch einer Gesamtschau.20 Das entstehende Weltbild transzendiert die eigene Kriegserfahrung: »Die biologischen Metaphern von Wachstum, dem Organischen und dem gleichnishaft Schöpferischen lassen aus der Kriegserfahrung eine Naturerfahrung werden und machen diese zugleich zu einem neuen Ursprung der Kunst.«21 Das Wissenschaftsklima der ersten Forschungswelle begünstigt eine solche universalistische Methode, während die nach 1950 aufkommenden »Ismen« umgekehrt für den Rhythmus ein eher ungünstiges Forschungsbiotop darstellen. An erster Stelle wird hier für den empirischen Bereich der Behaviorismus häufiger genannt: Er verweigert sich mit seinen spröden Reiz-Reaktions-Schemata den rhetorischen Lizenzen, die es ermöglichen, Querverbindungen zwischen natürlichen und ästhetischen Rhythmen zu erstellen. Die eigene »Rhythmik der Rhythmusforschung«22 tendiert nun dazu, den Gegenstand und dessen Darstellung strikt voneinander zu trennen, anstatt sie auch zu vermengen; je stärker eine solche Vermischung von Beschreibungssprachen akzeptiert wird, desto akzeptabler scheint jedoch die Rhythmusforschung: die »esoterischen« und die »kritischen« Rhythmustheorien verbindet philosophiehistorisch nicht zuletzt die Revolte gegen eine positivistische Wissenschaftssprache. Eine Abrechnung mit der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas benennt denn auch als eine der bemängelten Eigenschaften die allzu »rhythmusscheuen«23 Gedankenfolgen. Die empirische Wissenschaft muss schlichtweg abwarten, bis durch neue technische Erfindungen (MIDI-Pianos, Tapping-Software etc.) und durch neue ästhetische Entwicklungen (vor allem der populären Musik und des Minimalismus) eine zweite Welle der Rhythmusforschung einsetzt. Die empirischen Arbeiten von Paul Fraisse, die genau in dieser Zwischenphase entstehen, müssen hingegen beständig auf teilweise
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Cornelius 1925, Weltgeschichte und ihr Rhythmus, S. vii. Vgl. Ligeti 1931, Weg aus dem Chaos, S. 237. Anja Zimmermann, »Biologische Metaphern. Zu einem Denkstil zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Biologie«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, Berlin 2014, S. 30. Spitznagel 2000, »Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung«, S. 3 (der diese Formel explizit gegen den Behaviorismus richtet, für den der Rhythmus kein bedeutsames Thema gewesen sei). Vgl. Werner Hamacher, »REPARATIONEN (1984)«, in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, München 2013, S. 17.
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mehrere Jahrzehnte alte Ergebnisse rekurrieren. Fraisse weist selbst darauf hin, dass die Ablösung der Gestalttheorie durch den Behaviorismus für diesen Interesseverlust am Rhythmus mitentscheidend gewesen ist.24 Interessant ist auch der Hinweis bei Rabinbach, dass in der Zeit nach 1950 durch die verstärkte Automatisierung der Konflikt zwischen menschlicher und maschineller Arbeitskraft an Bedeutung verliert.25 In den Geisteswissenschaften dürfte die konvergierende Ablösung der Lebensphilosophie durch den Existenzialismus eine zeitlich parallele Abwertung des Rhythmischen mitverursacht haben. Man kann sogar den Versuch wagen, diese anti-rhythmische Ausrichtung anhand von Begriffen wie dem Absurden ganz konkret zu belegen (wie im folgenden Zitat von Albert Camus): »Das Absurde ist im wesentlichen eine Entzweiung. Es ist weder in dem einen noch in dem anderen der verglichenen Elemente enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstellung.«26 Dies ist eine genau gegenteilige Definition zur Interferenz-Bestimmung des Rhythmus, wo die antipodischen Begriffe stärker in eine Verbindung zueinander gestellt werden sollen: Rhythmus fordert die Überwindung, das Absurde die Überhöhung von Entfernungen. Durch den Vorgang der Arbeitserleichterung würde der Rhythmus dazu führen, dass man sich Sisyphos sozusagen auch beim Aufstieg mit dem Stein als glücklichen Menschen vorstellen kann, nicht nur beim Abstieg in den kontemplativen Pausenphasen.27 Das Einsetzen einer zweiten Welle der Rhythmusforschung vollzieht sich demgegenüber erneut in verschiedenen Theorieströmungen: Auf der »einzelwissenschaftlichen« Ebene findet sich ab 1970 vor allem in den USA eine verstärkte Beschäftigung mit Rhythmusproblemen, wo die Analysemethode von Heinrich Schenker auf den Parameter der Tondauer übertragen werden soll. Eine »kritische« Rhythmustheorie nimmt in derselben Zeit als Teil einer poststrukturalistischen Revolte gegen geschlossenes Systemdenken ihren Anfang. Zum Thema eigener Publikationen wird der Rhythmus jedoch eigentlich erst nach 1990 (und endgültig sogar erst im beginnenden 21. Jahrhundert). Dabei besitzt der Abstand historischer Forschung zu ihrem Gegenstand sicher einen erheblichen Einfluss: Die zweite Welle behandelt als Thema die erste Welle der Rhythmusforschung. Die Gründe für diese gegenwärtige Popularität muss man jedoch besprechen, ohne das Postulat des notwendigen historischen Abstands einhalten zu können: Unzweifelhaft dürfte sein, dass Rhythmus immer dann für die akademische Auseinandersetzung attraktiv scheint, wenn dort Interdisziplinarität eingefordert wird. Auch der ökonomische Druck auf die Universitäten macht den Rhythmus zum geeigneten Thema für Cluster-Anträge und Synergie-Effekte. Es bestehen durchaus Parallelen zur historischen Situation der ersten Forschungswelle um 1900, doch steht jetzt nicht mehr die Illusion einer reduzierten interdisziplinären Distanz im Vordergrund der Rhythmusfaszination, sondern die Illustration einer möglichst hohen interdisziplinären Dichte. Die Aufstellung einer »kritischen« Rhythmustheorie besitzt vor allem im deutschsprachigen 24 25 26 27
Vgl. Fraisse 1974, Psychologie du rythme, S. 9. Vgl. Rabinbach 1990, Human Motor, S. 11. Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, übs. von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 44. Vgl. Ebda., S. 99: »Auf diesem Rückweg, während dieser Pause interessiert mich Sisyphos«.
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Raum jedoch eine publikationstechnische Einseitigkeit, die ebenfalls thematisiert werden sollte: Es gibt eine Vorherrschaft von Sammelbänden zum Thema Rhythmus, die nahezu im Jahresabstand erscheinen, wohingegen ausführliche Monografien eine Seltenheit darstellen.28 Dies erzeugt zwei erkennbare Tendenzen: Erstens dient Rhythmus häufig als Thema, bei dem Autoren ihre quantitativen Veröffentlichungspflichten eher nicht mit dem großen theoretischen Entwurf, sondern mit einer weniger wichtigen Nebenarbeit ableisten können. Die aufgestellten Theorieannahmen der Vorworte (oder der einleitenden Absätze eines Aufsatzes) müssen daher zweitens niemals tatsächlich vollständig ausgearbeitet werden, sondern werden in einer Logik der permanenten Vorläufigkeit mit einer Reihe von kurz angetippten Einzelbeispielen verbunden (die in den Sammelbänden allerdings zumeist unverbunden nebeneinanderstehen). Spekuliert man nach Gründen für diesen relativ geringen Ausstoß von Monografien, kann man an Überlegungen von Bernhard Waldenfels anschließen: Erstens ist der Rhythmus belastet mit einer äußerst schwer verbalisierbaren elementar-archaischen Sinndimension, zweitens fehlt die Kontrollinstanz der Denotation, und drittens gilt Rhythmus in akademischen Expertenkulturen als Gegenstand einer Musiktheorie, die eine spezifische Analysesprache voraussetzt.29 Die Interferenz-Bestimmung des Rhythmischen macht sich hier also einmal negativ bemerkbar: Die Kulturwissenschaftler schrecken vor den musikalischen Kontexten des Rhythmus zurück, der sich einer interdisziplinär verfügbaren Theoriesprache stets auch entzieht, und die Musikwissenschaftler bleiben umgekehrt Außenseiter in den Kulturwissenschaften. Eine Monografie über den Rhythmus aus musikwissenschaftlicher Sicht, die jedoch in weiten Teilen gerade die musikübergreifenden Aspekte des Themas behandeln möchte, muss daher zu zwei teilweise auch riskanten Manövrierungen bereit sein. Erstens muss die Logik der Vorworte der Sammelbände für die gesamte Monografie repräsentativ bleiben: Die Sammlung von Einzelzitaten aus verschiedenen Kontexten und das Springen zwischen divergenten Quellen dienen nun dem Nachweis einer Kontinuität von Denkmustern in der Begriffsgeschichte. Zweitens muss eine solche Monografie (bzw. in anderen Worten: diese Monografie) die Logik der Einzelartikel zunächst für sich zurückstellen: Anstelle der vielen konkreten Beispiele wird eine abstrakte und verallgemeinerbare Beschreibungssprache entwickelt, in die dann im Idealfall auch möglichst viele der Einzelphänomene in bereichernder Weise eingeordnet werden können. Eine ähnliche Bevorzugung der kurzen Texte kann man schon für die erste Welle der Rhythmusforschung und einen Teilbereich der »esoterischen« Theorien belegen: Der Festvortrag und das mündliche Referat im kämpferischen Tonfall, die zu drängenden Zeitfragen möglichst eindeutig Stellung beziehen, sind besonders typische Textformate für eine Überhöhung des Rhythmischen. Eine ähnliche Tendenz kann man zeithis-
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Dies ist womöglich eine verallgemeinerbare Tendenz bei stark interdisziplinären Thematiken. Vgl. auch Khaled Saleh Pascha, ›Gefrorene Musik‹. Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie, Diss., Berlin 2004, S. 14. Vgl. zu diesen drei Argumenten Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 68.
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torisch für andere Modethemen mit Breitenanspruch erkennen wie die Hygiene (und vermutlich auch die Hysterie).30 Die vorgegebene Kürze entlastet die Autoren von der Problematik, wie sich ein kosmischer Anspruch des Rhythmus behaupten lässt, wenn konkrete Analysen nicht geliefert werden können. Der Rahmen eines erbaulichen Abendvortrags ermöglicht es, wie in der von Eduard Norden gehaltenen Rektoratsrede zum Thema Logos und Rhythmus, die umfassenden Vorgaben dieses Themas dennoch im Rahmen von knapp dreißig publizierten Seiten abzuhandeln. Nach einer Würdigung der Gefallenen des Weltkriegs schließt der Vortrag mit der folgenden Betrachtung: »Wir alle sind beherrscht vom Gefühl einer Zeitenwende. Im Rhythmus geschichtlichen Werdens scheint sich eine Periode zu schließen. Die neue Periode wird auch eine vielfach veränderte Lebensgestaltung fordern. An ihr sehen wir die Jugend arbeiten.«31 Die üblichste Motivation derartiger Aussagen ist die konservative Verteidigung des bürgerlichen Bildungsideals gegen kollektivistische oder auch kommerzästhetische Zivilisationstendenzen: »Denn die Zusammenfassung zerstreuter Einzelheiten zu einem beherrschten Ganzen ist immer eine Tat geistiger Freiheit und ein kraftbewußtes Spiel der Gedanken, während der Besitz von tausend Einzelheiten bestenfalls dem eines Kästchens voller Edelsteine gleicht, die des kundigen Fassers harren, um zum Kunstwerk gefügt zu werden.«32 So formuliert es Edmund von Sallwürk am Beginn einer Schrift, die sich der Rolle des Rhythmus im Geistesleben auf exakt vierundzwanzig Druckseiten widmet. Der Publikationsort Langensalza verweist dabei auf den sozialen Rahmen dieser erbaulichen Abendvortrage: sie werden oftmals im Kontext der zur rhythmischen Erziehung begründeten Institutionen gehalten und durch die entsprechenden Verlage verbreitet. Die »esoterische« Rhythmustheorie besitzt in Ludwig Klages einen Leitautor, dessen Rhythmuskonzept ebenfalls in diesem Rahmen bekannt gemacht wird. Dabei gilt als stabile Grundregel: Klages kennen und zitieren alle, die anderen Schriften kennt und zitiert nahezu niemand. Klages wesentliche Arbeit zum Thema erscheint zwar erst 1934, doch bereits etwa ein Jahrzehnt früher (u.a. durch die Publikation in einem Sammelband über künstlerische Körperschulung) besitzt seine Theorie diesen stark dominierenden Einfluss. Es reden über rhythmische Bewegungen in der »esoterischen« Theorietradition also sehr häufig Autoren, die tatsächlich in eigener Praxis diese Bewegungsformen ausführen, in den »kritischen« Theorien beschreiben die Autoren hingegen die Bewegun-
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Vgl. dazu auch Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M. 2001, S. 168f.: »Die Hygieniker überlegten sich daher genau, in welcher Form sie ihre Inhalte präsentieren wollten. Oft wählten sie knappe pädagogische Formen: Rund um die Hälfte all jener Schriften, für welche ich Angaben zum Umfang habe, sind weniger als 150 Seiten lang, mit einem in einige kurze Kapitel unterteilten Text«. Eduard Norden, Logos und Rhythmus, Berlin 1928, S. 27. Edmund von Sallwürk, Der Rhythmus des Geisteslebens, Langensalza 1924, S. 4.
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gen anderer Subjekte oder Objekte.33 Der Fokus verschiebt sich sozusagen vom Turnen zu den akademischen Turns. Das Turnen ist allerdings gerade ein Konkurrent der rhythmischen Gymnastik, und man versteht sehr viele der völkischen Ausfälle in den vitalistischen Rhythmusverherrlichungen, wenn man sich klarmacht, dass der Hauptkonkurrent des Rhythmus nicht der Rationalismus ist, sondern die Reckstange. In den Schriften, die einer Eigenwerbung für die rhythmischen Erziehungsideale dienen, muss immer auch der Vorwurf bekämpft werden, dass die Eurhythmie im Vergleich mit dem Turnen oder dem Kraftsport eine etwas verweichlichte, nicht militärisch taugliche und eher ästhetisch als moralisch erhebende Körperformung darstellt.34 Dies ist ein Grund, warum die elementarpädagogischen Rhythmuskonzepte hier nicht als eine eigenständige Theorieströmung behandelt werden, obgleich die Rhythmik als akademisches Unterrichtsfach eine eigene einzelwissenschaftliche Aufwertung gerade in dieser und nur in dieser Funktion der musischen wie motorischen Erziehung erhalten hat. Die Dalcroze-Schule, die Gartenstadt in Hellerau und die Debatten um die rhythmische Erziehung sind in gewisser Weise der Humus, auf dem alle anderen Theorieströmungen wachsen, aber es entsteht dabei eigentlich keine eigene Theorie des Rhythmus: Die Publikationen vertreten die Prämissen vor allem der »esoterischen« Anschauung, es geht um die Akzeptanz oder kämpferische Ablehnung des zergliedernden Metrums (symbolisiert durch die Schulen einmal von Dalcroze, einmal von Rudolf Bode) sowie um die Auseinandersetzung mit der Doppelfunktion des Maschinellen als Symbol primitiver Urkräfte und zivilisatorischer Urbanität.35 Die Eckdaten der beiden Wellen der Rhythmusforschung treten auch deshalb so deutlich hervor, weil eine »esoterische« Rhythmusauffassung ein Bestandteil nur der ersten Forschungswelle, eine »kritische« Rhythmusauffassung hingegen Bestandteil nur der zweiten Forschungswelle ist. Dabei liegt eine Gemeinsamkeit dieser beiden Positionen in der Möglichkeit, Rhythmus als lebensweltlichen Allgemeinbegriff zu verstehen. Die Differenzen zwischen der »esoterischen« und der »kritischen« Rhythmustheorie verweisen hingegen darauf, dass die ästhetische Moderne im ersten Fall als Erfahrung ausgeblendet oder direkt bekämpft wird, während sie im zweiten Fall stärker mit einbezogen und auch beglaubigt werden soll. In einer »esoterischen« Theorie sollen viele verschiedene Dinge ein und demselben Rhythmus gehorchen, in einer »kritischen« Rhythmustheorie soll ein einzelnes Ding vielen verschiedenen Rhythmen zugänglich sein. Gaston Bachelards Dialektik der Dauer ist ein frühes Beispiel dafür, wie sich diese Verschiebung jenseits der ästhetischen Debatten in den erkenntnistheoretischen Denkgebäuden vorbereitet: »De même qu’une étude temporelle de l’esthétique musicale et poétique conduit à reconnaître la multiplicité et la corrélation bien réciproque des rythmes, une étude pure-
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Vgl. zu diesem methodischen Problem auch Adriaansen 2015, Rhythm of Eternity, S. 18. Vgl. dazu August K. Wiedmann, The German Quest for Primal Origins in Art, Culture, and Politics 19001933; die ›Flucht in Urzustände‹, Lewiston 1995, S. 158. Vgl. dazu auch Stephanie Jordan, Stravinsky Dances: Re-Visions across a Century, Alton 2007, S. 104.
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ment temporelle de la phénoménologie conduit à considérer plusieurs groupements d’instants, plusieurs durées, superposées, qui soutiennent différents rapports.«36 Die epistemischen Ausgangsbedingungen bleiben im Übergang von der »esoterischen« zur »kritischen« Perspektive konstant: Beide Theoriestränge beruhen idealtypisch auf dem unbedingten Vorrang der Phänomenalität vor der Punkthaftigkeit. Die konkrete Umsetzung dieses Vorrangs ist hingegen einem klaren Wechsel unterzogen: Die Transformation des Metrischen vollzieht sich nicht mehr konservativ als Wechsel in größere geordnete Zeitabläufe, sondern progressiv als Wechsel in noch kleinere chaotische Zeitdimensionen.
5.2
Systematik: Drei Ebenen des Rhythmuserlebens
Die psychologische Rhythmusforschung, in der die beiden Bedingungen der Phänomenalität und der Punktbestimmung zusammengeführt werden, begrenzt die Perzeption rhythmischer Abläufe auf ein klar begrenztes Zeitfenster: »The word rhythm may be used to describe any form of temporal periodicity observable in the physical universe, from molecular vibrations (period: about 10-13 sec) right up to the ›rhythm‹ of expansions and contractions of the universe between hypothetical big bangs (period: about 1018 sec). By comparison to this inconceivably broad spectrum, the periodicities of musical rhythms are confined to a very narrow range – roughly 200-1800 ms.«37 Das obere Maximum dokumentiert, dass nicht nur die Formwahrnehmung, sondern auch schon die Verkettung einzelner musikalischer Phrasen jenseits dieses rhythmisch-metrischen Bereichs verortet werden muss: Die Akzentpunkte liegen zu weit auseinander, sodass nicht mehr in einer sinnvollen Weise unterteilende Zählpunkte bestimmt werden können. Das untere Minimum, das auf ungefähr 100 Millisekunden reduziert werden kann, definiert umgekehrt einen Grenzwert, in dem die Impulse zwar noch akustisch eindeutig voneinander getrennt empfunden werden, aber nicht mehr als Zählschicht wirken, die eine gruppierende Akzentschicht generiert.38 Allein für den menschlichen Organismus lassen sich sowohl neuronale Vorgänge unterhalb und tageszeitliche Rhythmen weit oberhalb des psychologischen Zeitfensters empirisch nachweisen (deren Erforschung einen eigenständigen Aufgabenbereich bildet, dessen Fachsprache sich am wenigsten in die kulturwissenschaftlichen Rhythmussammelbände eingliedern lässt).39 36 37 38 39
Bachelard 1950, Dialectique de la Durée, S. 90. Richard Parncutt, »A perceptual Model of Pulse Salience and Metrical Accent in Musical Rhythms«, in: Music Perception 11/4 (1994), S. 452. Vgl. als guten Überblick über diese Schwellenwerte Justin London, »Cognitive Constraints on Metric Systems: Some Observations and Hypotheses«, in: Music Perception 19/4 (2002), S. 535f. Vgl. William Olds (Hg.), Sleep, Circadian Rhythms and Metabolism. The Rhythm of Life, Toronto 2015, S. xviii: »Circadian rhythms are 24 hour oscillations in many behavioral, physiological, cellular and molecular processes that are controlled by an endogenous clock which is entrained to environmental factors including light, food and stress«.
5 Digital-Analog-Wandler: Die Geometrie des Rhythmus
Die drei Zeitebenen innerhalb, unterhalb und oberhalb der psychologischen Präsenzzeit lassen sich auch in das folgende idealtypische Schema sortieren: In der mittleren Ebene der Präsenzzeit werden vollständige rhythmische Perioden als Zusammenspiel der einzelnen Zählelemente mit dem Gruppenganzen wahrgenommen, in der Makroebene schon der musikalischen Phrasen, aber auch der universalen Kulturzyklen kann nur ein Teilausschnitt und somit weniger als eine rhythmische Periode in der Präsenzzeit wahrgenommen werden, und in der Mikroebene der Impulse und Schwingungen kann immer nur mehr als eine einzelne Periode wahrgenommen werden (also zum Beispiel die Wellenkurve, die viele dieser Impulse erzeugen). Das Modell vermag zunächst einmal die Bezugnahme auf die natürlichen Zyklen besser erklären: »Zeitzyklen sind an vielen Ereignissen des täglichen Lebens ablesbar, an der Wiederkehr von Tag und Nacht, am jahreszeitlichen Rhythmus. Die Zeit vergeht nicht; sie kehrt vielmehr wieder.«40 Wie aber ist diese Wiederkehr ablesbar? Hierfür muss die einzelne stimulative Zyklusphase (die anbrechende Nacht, wenn es kälter und dunkler wird) eine eigenständige psychologische Qualität besitzen, die stellvertretend für die Wahrnehmung des gesamten Zyklus einstehen kann (denn eine Wiederkehr der Zeit kann eben nicht direkt wahrgenommen werden, wenn die dafür maßgeblichen Zyklusvorgänge außerhalb der Präsenzschwelle liegen). Diese Zugriffsmöglichkeit nur auf die eine eigene, gerade gegenwärtige Zyklusphase erhält eine besonders große argumentative Bedeutung, wenn ein Autor mit dem Nachweis einer zutreffenden Zyklusdiagnose für die eigene Zeit das Zyklusdenken auch für die gesamte geschichtliche Zeit legitimieren möchte.41 Die drei Zeitebenen sollen der Einfachheit halber mit den Funktionsbegriffen der Oszillation, der Orientierung und der Ordnungsvorstellung auseinandergehalten werden.42 Die Ausweitung der Mikrozeit und Makrozeit gehorcht dabei in vielen Rhythmustheorien einer zentrifugalen Grundtendenz: Obgleich die für eine psychologische Perzeption »zu großen« Zeitspannen schon im Minutenbereich beginnen, werden kosmische Zeitdimensionen diskutiert, ebenso definieren die neuronalen Reize und nicht der Sekundenbereich die »zu kleinen« Zeitspannen. Die Differenz dieser drei Zeitebenen ist einerseits in der nicht-empirischen Literatur nur schwer direkt nachweisbar (die explizite Thematisierung psychologischer Schwellen entspricht nicht einer »entgrenzenden« Funktionalisierung des Rhythmus-
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Helga de la Motte-Haber, Musik und Bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber 1990, S. 16. Vgl. Spengler 1981, Untergang des Abendlandes, S. x: »Der Titel, seit 1912 feststehend, bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang wir gegenwärtig stehen«. Vgl. dazu auch Ligeti 1931, Weg aus dem Chaos, S. 183; das Zyklusdenken trennt nun in der Makrozeit wiederum drei Zeitebenen der Generationenfolgen, der Einzelkulturen und der Universalzyklen, sodass die eigene Zeit als »Taktakzent« eines mehrere Jahrtausende umfassenden Zeitverlaufs überhöht werden kann. Der Begriff der Oszillation ist empirisch für mikrozeitliche Vorgänge etabliert; vgl. Daniel J. Cameron/Jessica A. Grahn, »The neuroscience of rhythm«, in: Susan Hallam/Ian Cross/Michael Thaut (Hg.), The Oxford Handbook of Music Psychology, Oxford 2 2016, S. 362.
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Die Theorie des Rhythmus
begriffs), doch kann sie andererseits als grundlegendes und letztlich triviales Kulturwissen aufgefasst werden. Wenn Paul Klee also zum Beispiel kosmische, organische und kulturelle Rhythmen voneinander unterscheidet, dann kann man darin vielleicht sogar noch das Modell des Boethius von Musica mundana (Rhythmen oberhalb der Präsenzschwelle als unhörbare Sphärenharmonie), Musica humana (Rhythmen unterhalb der Präsenzschwelle) und Musica instrumentalis (Rhythmen innerhalb der Präsenzzeit) wiedererkennen.43 Attraktiv am Rhythmus ist jedoch sein Vorhandensein in allen drei temporalen Strukturebenen. Daher kann für den Rhythmusbegriff verschiedener historischer Epochen eine Ausrichtung an derjenigen Ebene der Zeitstrukturierung nachgewiesen werden, die der eigenen Axiomatik jeweils am besten zu entsprechen scheint. Erneut idealtypisch stechen dabei seit den ersten Anfängen einer »autonomen« Musikästhetik drei sukzessive Stufen heraus. Das 18. Jahrhundert und beginnende 19. Jahrhundert zielen auf eine Metrisierung der Mathematik. Friedrich Kittler hat mit gehörigem Sarkasmus nacherzählt, wie von der idealistischen Musikästhetik die reale Ebene der Schwingungsfrequenzen an das eigene Medium der sinnvoll gegliederten Sprachsequenzen angepasst werden musste: »So tautologisch ist Musikhermeneutik. Ihr eigenes Medium Alltagssprache verschlingt alle anderen, vom Rauschen bis zur Arithmetik, und sorgt dafür, daß seine Selbstbestimmungen als Sachbestimmungen wiederkehren.«44 Tatsächlich löst die Vorstellung dieser stärker idealisierten Bewegung in der Musik eine ältere Erregungstheorie der musikalischen Wahrnehmung ab, die von einer konkreten, durch Musik ausgelösten Bewegtheit auch des Zuhörers ausgeht (und diese Reaktion klangphysikalisch aus dem »unbewussten Zählen« von Frequenzen und Proportionen hervorgehen lässt).45 Die Rhythmustheorien des 19. Jahrhunderts bis ins beginnende 20. Jahrhundert zielen hingegen vor allem auf die Melodisierung des Metrischen: Es erfolgt eine Überführung der rhythmischen Skansion in performative Schattierungen und sinntragende Phrasierungseinheiten.46 Riemanns Theorie der normativen Auftaktigkeit einer metrisch bestimmten Achttaktperiode markiert den Endzustand einer Grundtendenz: Punkthaftigkeit wird durch Phänomenalität verdrängt, wobei das Rhythmische nun durch die Zielfunktion der Kadenzbildung definiert wird, und nicht mehr durch die Reiteration von metrischen Anfangsakzenten. Die innere Spannung, die dabei entsteht, ist diejenige zwischen der Phrasierungseinheit, die in Parallele zu den rein aufzeichnenden und kontinuierlichen Kurvenereignissen der empirischen Forschung gedacht werden kann, und der Metrumlehre, in der diskrete, abgeteilte Zweitakteinheiten als Basis verpflichtend bleiben.47 43 44 45 46 47
Vgl. Paul Klee, Das bildnerische Denken. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre, hg. und bearbeitet von Jürg Spiller, Basel 2 1964, S. 268. Kittler 1995, »Musik als Medium«, S. 93. Vgl. dazu Wolfgang Auhagen, »Theorien zu Bewegung in Musik«, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.), Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen 2004, S. 61. Vgl. die grundlegende Darstellung bei Spitzer 2004, Metaphor and Musical Thought, S. 279ff. Vgl. Wolfgang Scherer, Klavier-Spiele. Die Psychotechnik der Klaviere im 18. und 19. Jahrhundert, München 1989, S. 216.
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Äußerliche Folge dieser veränderten Zeitperspektive ist eine Verschiebung des Metrumbegriffs, der auf die »höheren« Zeiteinheiten der Taktpaare und Taktgruppen bezogen wird, während der Begriff des Rhythmus die Taktunterteilung der Zählzeiten bezeichnet (diese Relation stellte sich hundert Jahre früher genau umgekehrt dar, mit dem Rhythmus als Träger der formwirksamen Periodenfolgen und dem Metrum als deren Grundierung in kleineren Takteinheiten).48 Das spätere 20. Jahrhundert zielt hingegen auf eine Mathematisierung der Melodie: Die Tonfolge und dessen gestalthafte Prägnanz werden verdrängt vom Paradigma des isolierten Einzeltons, an dem verschiedene Tonparameter abgelesen werden können. Die oszillatorische Mikroebene der Frequenzen wird zur Bedingung einer seriellen Ästhetik, die in periodisierten Schwingungen die gemeinsame Basis von Tonhöhen- und Tondauerordnung vorfindet. Die übergreifende Pointe dieser gerafften Darstellung, die eine eigenständige monografische Abhandlung mehr als verdient hätte, liegt darin, dass es vielleicht keinen anderen Gegenstand der Musiktheorie gibt, der so wenig anhand seines »Normalzustands« beschrieben wird: Die motorischen Wirkungen der metrischen Mittelebene werden in ihrer Bedeutung zugunsten der weniger präsenten, aber semantisch präsentablen Zeitebenen zurückgedrängt. Diese Möglichkeit macht das Modell der drei Zeitebenen auch für einzelne Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts zu einer wichtigen Bezugsgröße. Die Attraktivität des Begriffs der Polarität für die »esoterische« Rhythmusauffassung liegt zum Beispiel darin begründet, dass in diesem Vorgang die Oszillationen der Mikrozeit und Ordnungsvorstellungen der Makrozeit gleichgesetzt werden können. Dasselbe Prinzip gilt für die kleinsten wie für die größten Dinge, und darum kann man alle zeitlichen Vorgänge als Polaritäten wieder im Modus der Präsenzzeit beschreiben. Dies wird dadurch begünstigt, dass auch das »analog-binäre« Rhythmusmodell für alle Zeitebenen gültig bleiben kann.49 Die rassenideologisch, religiös oder wie auch immer abgeleiteten Rhythmusfantasien müssen die psychologisch enge Zeitebene einer phänomenalen Präsenz auch in ihrem Wert reduzieren.50 Wo Rhythmus in allem enthalten sein soll, lässt sich jedoch keine einzige konkrete ästhetische oder analytische Aussage mehr erstellen, sondern es kann nur noch diese Allgemeinheit in zunehmend schwärmerischen Varianten behauptet werden: »Alles Lebendige ist dynamischer Natur und gehorcht dem Weltgesetz des Rhythmus.«51 Polarität basiert damit auf Projektion: Die simulativ behaupteten Rhythmen und die stimulativ beobachtbaren Rhythmen werden beharrlich gleichgesetzt. Die Polarität ist hierbei ein zunächst räumlich gedachtes Axiom, das jedoch durch den Rhythmus verzeitlicht wird: »Jeder Rhythmus, die Wellenbewegung so gut wie der Pulsschlag des 48 49
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Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, »Musikalische Rhythmustheorien um 1900«, in: Barbara Naumann (Hg.), Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 141-156. Vgl. zur Verschränkung der Zeitebenen in der »esoterischen« Polarisierung von Lebensvorgängen auch Olivier Hanse, Rythme et civilisation dans la pensée Allemande autour de 1900, Diss., Siegen 2007, S. 211. Vgl. etwa Blendinger 1951, Rhythmus Gottes, S. 20. Hueck 1928, Polarität und Rhythmus, S. 82.
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Lebens und die Wandlungen der Menschen und Kulturen, ist eine in die Zeit gedehnte Gleichzeitigkeitsspannung.«52 Damit kommt es bei der Beschreibung von Rhythmen aber endgültig nicht mehr darauf an, wie lange sie eigentlich dauern, da die ursprüngliche Raumpolarität alle Zeitdifferenzen verschlingt. Offenkundig bleibt die Zusammenführung der getrennten Zeitebenen mit einer hohen Willkür verbunden, sodass sich jede auch nur etwas seriösere einzelwissenschaftliche oder empirische Forschung von diesen irrationalen Auswüchsen zumeist mit großer Entschiedenheit abgrenzt.53 Das Begriffspaar von Polarität und Steigerung scheint für die Zwecke der Rhythmustheorien perfekt zu passen, weil es auf alles passt. Man kann es mit dem metrischen System Riemanns in Verbindung bringen, wo die motivische Paarigkeit sich aus der Einzeltaktebene fortpflanzt in die höhere Phrasenordnung;54 man kann es ebenso auf die Hierarchien im Analysesystem Schenkers beziehen, das umgekehrt eine Komprimierung der real verfließenden Zeit anstrebt.55 Hinzu kommt, dass zwar das Resultat einer universalen Polaritätenlehre mit dem Ende der »esoterischen« Rhythmustheorie sofort jeden diskursiven Halt verliert, aber die Motivation einer Verschiebung des Rhythmusbegriffs weg von der Mittelebene der psychologischen Realzeit auch für die nachfolgende »kritische« Rhythmustheorie von hoher Bedeutung verbleibt. Erneut ist die Rhythmusdefinition in Tausend Plateaus der maßgebliche Ort, an dem die dafür notwendige Anlehnung an eine modernistische Musikästhetik erlernt werden kann: Nach deren Modell erfolgt eine Verlagerung der periodischen Regulierungen in die begrifflichen Sphären der Oszillationen, Schwingungen und Vibrationen. Will man metrisch konnotierte Begriffe von genau dieser Konnotation befreien, dann müssen diese Begriffe sich möglichst eng mit einer zeitlichen Mikroebene assoziativ verbinden: »Jedes Milieu vibriert, das heißt, es ist ein Block aus Raum und Zeit, der durch die periodische Wiederholung der Komponente gebildet wird.«56 Die Oszillations-Ebene ermöglicht sogar eine glaubhafte Annäherung der gegenteiligen Begriffe Rhythmus und Chaos, sodass die Periodizität sich dem Modus der Unberechenbarkeit annähert: »Die Milieus sind offen für das Chaos, das sie zu zerrütten oder zu durchsetzen droht. Aber der Rhythmus ist das Gegenmittel der Milieus gegen das Chaos. Die Gemeinsamkeit von Chaos und Rhythmus ist der Zwischenraum, der Raum zwischen zwei Milieus.«57 Die »esoterische« Verschiebung in die Makroebene der Ordnungsvorstellungen versucht, alle Zeitebenen mit der Stabilität der metrisierten Mittelebene zu verbinden, während die »kritische« Verschiebung in die Mikroebene der Oszillationen umgekehrt
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Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 11. Vgl. schon die Kritik der Polaritätenlehre bei Wolff 1941, »Rhythmus in der neuesten Literatur«, S. 175. Vgl. Seidel 2003, »Rhythmus«, S. 309. Vgl. ausführlich William Pastille, »Music and morphology: Goethe’s influence on Schenker’s thought«, in: Hedi Siegel (Hg.), Schenker Studies, Cambridge 1990, S. 29-44. Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 426f. Ebda., S. 427.
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versucht, gerade diese metrisierte Mittelebene auch für instabile Zeitabläufe offen zu halten.
5.3
Oszillationen: Auflösungen der Mikroebene
Die Verschiebungen innerhalb der Musiktheorie zwischen einer syntaktischen Grammatik, einer organischen Kinetik und einer strukturalistischen Parameteranalyse könnte man auch in eine Perspektive grundlegender Medienwandlungen überführen. Die folgende Liste von historischen Stationen der Körperlehre zum Beispiel scheint weitgehend dieselbe Wegstrecke abzustecken: »Descartes dachte an ein mechanisches und hydraulisches Uhrwerk; die Physiologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden ihn als thermodynamische Kraftmaschine; heute erscheint der Körper vor allem als ›informationsverarbeitende‹ Maschine.«58 Diese Transformationen verstärken den Einbezug verschiedenartiger Erfahrungsebenen in dieselben Grundbegriffe, sodass zum Beispiel der Rhythmusbegriff gemäß der »inneren Motorik« der neuronal-kognitiven Prozesse zeitlich immer weiter verkleinert wird, während er zugleich in der »äußeren Motorik« der zivilisatorischen Maschinenwelten räumlich immer weiter vergrößert wird.59 Für den Einbezug einer Mikrozeit der Oszillationen werden vor allem die Elektrizitätslehre und Energetik des 19. Jahrhunderts als historische Erfahrungen relevant. Auch der diskrete Code der Schriftzeichen vermittelt durch seine Verstetigung eine Vorstellung des Oszillierens, indem er in immer höherer Geschwindigkeit abgespielt und aufgezeichnet werden kann.60 Diese Konzepte sind auch für den engeren Rahmen der Musiktheorie nachweisbar: Das Ideal der Melodisierung bedingt gleichsam einen Wechsel von der Teilchen- zur Wellennatur musikalischer Bewegung und verlangt die zumindest implizite Annahme einer Tiefendimension, in der sich eine weiterdrängende Kontinuität über die einzelnen Melodietöne hinweg konstituieren kann.61 Der Rhythmus umfasst ebenfalls nicht nur einen Vorgang, bei dem einfache Ausgangselemente zu sinnvollen Gruppen zusammengesetzt werden, sondern kann medienhistorisch auch als Vorgang bestimmt werden, bei dem diese Gruppen sich wieder in pulsierende Einzelelemente zersetzen: »Die Ästhetiken und Ökonomien des 19. und 20. Jahrhunderts unterstehen wie ihre Kanäle in zunehmendem Maße nicht mehr dem Regime des Takts, sondern dem der Frequenz.«62
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Sarasin 2001, Reizbare Maschinen, S. 19f. Vgl. zu diesem Begriffspaar Monika Woitas/Annette Hartmann, »Innere und äußere Motorik«, in: Monika Woitas/Annette Hartmann (Hg.), Strawinskys ›Motor Drive‹, München 2009, S. 8ff. Vgl. Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 252 sowie Rieger 2000, Individualität der Medien, S. 194. Vgl. dazu (an anderer Stelle auch mit der Metapher von Welle und Teilchen) Spitzer 2004, Metaphor and Musical Thought, S. 281: »The point about metaphorical melody is that it operates beneath a level at which the literal distinction between rhythm and melody applies, a level denoting dynamic, energetic flow«. Balke/Siegert/Vogl 2011, Takt und Frequenz, S. 5.
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Dadurch werden die beiden rhythmischen Extremwerte für die Begriffsbildung zunehmend bedeutsam: Der »digitale« Extremwert der Punktreihe kann durch Beschleunigung in den »analogen« Extremwert des Linienzugs umgewandelt werden, doch bei einer starken Verlangsamung treten die »digitalen« Frequenzen als Basis auch von »analogen« Klängen hervor. Dieser Sirenen-Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Tondauer dient nicht nur einer parametrischen Logik der Musik nach 1945, sondern zumindest in einzelnen Fällen auch schon der Theoriebildung der ersten Welle der Rhythmusforschung als entscheidender Bezugspunkt: »Wir möchten den Ton einen anderen Aggregatzustand des Rhythmus nennen. An demselben Punkt nämlich, an dem eine gleichförmige rhythmische Reihe so schnell wird, daß sie als solche nicht mehr apperzipiert werden kann, verwandelt sie sich für das Ohr in den Ton, während anderseits der tiefe Ton an dem Punkt, wo er als solcher nicht mehr wahrnehmbar ist, sich in einen gleichförmigen Rhythmus auflöst.«63 Eine oszillatorische Zeitbestimmung verwandelt also die voneinander getrennten Extremwerte in eine für sich kontinuierliche Reihe miteinander verbundener Klangerzeugungen. Als konkreter Inhalt ästhetischer Erfahrungen gewinnt diese Zeitstruktur jedoch erst in der Konzeptkunst der zweiten Jahrhunderthälfte eine größere Wirksamkeit. Alvin Luciers Repetitionsstück I am sitting in a room ist das vielleicht berühmteste Beispiel für die bewusste Emergenz eines oszillatorischen Kontinuums, das sich »hinter« dem organisierten Sprachrhythmus verbirgt. Es gibt in der Umsetzung des von Lucier auf einen Tape-Recorder gesprochenen Texts einen Rhythmus der Artikulation und einen Rhythmus der Oszillation, wobei scheinbar zunächst nur der erste und zuletzt nur der zweite in der Tonspur präsent ist: Der verständliche Text wird auf Band aufgenommen, danach wird die Bandaufnahme abgespielt und wieder auf Band aufgenommen usw. Der Text verweist aber explizit darauf, dass der Rhythmus bei der allmählichen Verstärkung der Resonanzen womöglich als einziger Parameter nicht zerstört wird. Rhythmus wäre damit sozusagen die Oszillation in der Artikulation und die Artikulation in der Oszillation.64 Die Beschreibungen des Stücks bleiben jedoch oft beim geschriebenen Text und der generierten Technologie der Endlosschleife stehen und verpassen so die Erwähnung einer ganz auffälligen Pointe, in der Lucier genau diese mögliche Interferenz des Rhythmischen als Effekt einsetzt. Lucier, der beim Sprechen vom Problem des Stotterns geplagt ist, verbindet eben das Textwort »rhythm« mit der typischen mehrfachen sehr raschen Repetition des initialen R-Lauts (bezogen auf die Aufnahme bei Lovely Records
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Hermann Wolfgang von Waltershausen, »Rhythmus in der Musik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 264. Vgl. die ausführlichere Analyse bei Florian Cramer, »With Perhaps the Exception of Rhythm: Sprechen, Stottern und Schleifen in Alvin Luciers I am sitting in a room«, in: Barbara Naumann (Hg.), Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 208.
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aus dem Jahr 1981).65 Damit wird der Effekt des ganzen Stückes vorweggenommen, weil bereits hier ein Rhythmus zerstört wird (die gewohnte Abfolge des denotierenden Sprechens) und ein Rhythmus erzeugt wird (der konkrete sprachferne Effekt einer raschen Repetition). Doch in der Abfolge der sprachlich immer weniger und schließlich gar nicht mehr verständlichen Durchläufe des Texts kehrt sich an dieser Stelle der makroformale Verlaufsweg um: Der oszillatorische Rhythmus des Stotterns wird zum Signal einer weiterhin gut erkennbaren Textstelle, durch die das artikulatorische Original besonders lange auch noch in den mikroperiodischen Hallklängen vernehmlich bleibt.66 Man erkennt an diesem Stück also, dass der Rhythmus der Oszillation immer einer Übersetzung bedarf, um seine Funktion der Störung oder auch der Sinngebung innerhalb der psychologischen Präsenzzeit ausüben zu können. Luciers ebenfalls berühmte Music for Solo Performer (1965), bei dem abgetastete Gehirnwellen in einem ganz spezifischen Frequenzband akustische Klänge von Perkussionsinstrumenten auslösen, betont genau diesen Transfervorgang: »Über das erste Werk der Geschichte hinaus, das Gehirnwellen verwendete, war Music for Solo Performer auch – und das war noch wichtiger – das erste Stück, in dem ein Interpret aufgefordert wird, Klänge durch absolutes Stillhalten hervorzubringen.«67 Auch hier also kann ein Rhythmus der Oszillation nur hervortreten, indem ein sonst gewohnter Rhythmus der Körperartikulation unterdrückt wird. Diesen Vorgang einer Übersetzung von Rhythmen in Rhythmen kann man konkret zur Definition des Oszillationsbegriffs heranziehen: Mikroskopische Rhythmen als Oszillationen sind oftmals davon bestimmt, dass sie nicht nur akustisch wahrgenommen werden, sondern ein optisches oder haptisches Rhythmuserleben begünstigen (wie beim Vibrationsgefühl tiefer Klänge eher im Bauch als im Kopf). Klanginstallationen sind ein besonders relevanter Bereich für die ästhetische Verwendung von oszillatorischen Effekten, weil eine Zeitebene, bei der akustisch beständig mehr als eine einzelne rhythmische Periode wahrgenommen wird, sinnfälliger optischsimultan im Raum abgebildet werden kann. Für die Sichtbarmachung oszillatorischer Rhythmen ist in der Praxis wie in der Theorie das Wasser von zentraler Bedeutung: »Zunächst ist gerade das Wasser das Milieu par excellence, aus dem man die Bewegung des Bewegten oder die Beweglichkeit der Bewegung selbst gewinnen kann; von daher die visuelle und akustische Bedeutung des Wassers bei der Suche nach rhythmischen Gestaltungen.«68
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Vgl. zur bewussten Verbindung der beiden Ebenen Lucier 1995, Reflexionen, S. 99: »Ich stottere, wie du weißt. Ich habe also nicht versucht, mir interessante Sprachmuster auszudenken, weil ich entdeckte, daß meine eigenen Sprachmuster bereits interessant genug sind«. Vgl. eine aktuelle Deutung anhand des Modells eines minimal bewahrten »digitalen« Rests in einer »analogen« Struktur bei Bernhard Rietbrock, »Alvin Lucier und das Reale. Eine Ästhetik der minimalen Differenz«, in: Alvin Lucier. Musik-Konzepte 180/181, hg. von Ulrich Tadday, München 2018, S. 5-46. Lucier 1995, Reflexionen, S. 427. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild (Kino 1), übs. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M. 1989, S. 111.
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Rhythmische Oszillationen repräsentieren in der bewegten Wasseroberfläche das Modell einer minimalen »digitalen« Einschreibung in ein »analoges« Trägermedium und damit die Logik der maximalen Verzeitlichung einer gegebenen räumlichen Struktur.69 In Oszillationen tritt jedoch der Rhythmus nicht mehr als stabile Entgegensetzung eines Minus- und eines Pluspols hervor. Die rhythmische Bewegung kann zwar weiterhin so konzipiert werden, dass sie sich notwendig immer bei einem der »digitalen« Eckwerte befindet (und zwischen diesen Extrempunkten unablässig hin- und herspringt), aber die Wahrnehmung dieser Bewegung verschiebt sich bei ihrer gedachten oder tatsächlichen Beschleunigung in einen Bereich zwischen den beiden Eckwerten. Dieser Mittelbereich der Raumrhythmik kann aber nur jenseits des metrisierten Mittelbereichs der Zeitrhythmik hervortreten. Der Begriff der Oszillation verbindet sich folgerichtig mit dem Vorstellungsfeld des Rhythmischen gerade dann, wenn bei dem beschriebenen Vorgang kein konkreter Einzelrhythmus mehr gemeint sein kann (wie zum Beispiel im Fall der performativen Flüchtigkeit der Beziehung zwischen Bühne und Publikum): »Das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstbezüglichkeit und auf die Assoziationen, die es auszulösen vermag, nenne ich die Ordnung der Präsenz.«70 Der gedachte Verlauf der Oszillationen verwirklicht sich dabei vermutlich als strikt »binäre« und nahezu »symmetrische« Codierung: Die Ereigniskette soll zwischen genau zwei Polen oszillieren, und damit ein Stabilitätsfeld erzeugt wird, darf keiner dieser beiden Pole eine deutlich höhere Ereignishäufigkeit besitzen. Der konkrete Verlauf lässt allerdings »stochastisch« unerwartete Einzelereignisse zu (als typisch »digitale« Eigenschaft eines Zeichensystems), wobei jedoch als Gesamteindruck das Verschmelzen aller Ereignisse in einen einzigen Ereignisstrom dominiert (als typisch »analoge« Eigenschaft eines Zeichensystems). Die hohe Attraktivität des Begriffs der Oszillation liegt auch darin, dass er nicht eindeutig einem »digitalen« oder einem »analogen« Trägermedium zugeordnet werden kann. Das rhythmische Prinzip der Interferenz überträgt sich in einem Vorgang der Oszillation als »originelle Organisation der Unordnung«71 vielmehr auf diese Grunddifferenz. Das ermöglicht es, Vibration und Oszillation als Positivbegriffe einzusetzen, die Rhythmus stärker mit Störung, Bruch und Synkopierung identifizieren.72 Das Grundprinzip der Moderne, dass Kontinuität auf der Ebene der Wahrnehmung durch Diskontinuität auf der Ebene der Herstellung erzeugt werden kann, wird vom Modell des Kinobilds auch zum Modell der Kognition erhoben: »Die zeitliche Digitali-
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Vgl. zu diesen Aspekten auch Inge Hinterwaldner, »Phänodramen oszillierender Membranen«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 128: »Sodann könnte man auch hier zu bedenken geben, dass durch die Übertragung eines Tons in Wasserwellen distinguierbare Einheiten vorliegen, was eine Rhythmisierbarkeit durch die Rezipienten zumindest ermöglicht«. Erika Fischer-Lichte, »Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff«, in: Erika Fischer-Lichte/ Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 20. Eco 1973, Das offene Kunstwerk, S. 128, der diese Unordnung wiederum explizit als ein Oszillieren zwischen Information und Bedeutung bezeichnet. Vgl. etwa Goodman 2010, Sonic Warfare, S. 82: »Vibrations always exceed the actual entities that emit them. Vibrating entities are always entities out of phase with themselves«.
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sierung oder ›Rhythmisierung‹ stellt mithin ein Mittel dar, sowohl prozessuale ›Außenwelt‹ als auch ›Zeit‹ in der Wahrnehmung zu verarbeiten.«73 Diese These von Simone Mahrenholz widerspricht aber nicht zwingend einem psychologischen »Vorrang des Analogen«, wenn die Autorin in einem anderen Text davon ausgeht, dass der »[…] ›Primärprozeß‹ des Unbewußten – vor allem in bewegten Bildern repräsentiert – den analogischen Symbolisationsformen, hingegen der ›Sekundärprozeß‹ des Bewußtseins, als primär sprachlich verfasst, den digitalen Repräsentationsweisen zuzurechnen ist.«74 Eine Beschreibung der »tiefsten Ebene« des Neuronenfeuerns muss sich mit einer quantitativen Logik verbinden, bei der die sehr hohe Anzahl von aktiven Neuronen in der Summe schon auf dieser Ebene den qualitativen Eindruck eines kontinuierlichen Signals erzeugen wird: »Because neurons can only fire or not fire, rather than fire stronger or weaker, the change in magnitude of the brain wave in relation to the duration of the beat interval indicates that the cerebral time coding was caused by the synchronized firing of more activated neurons (within an ensemble or circuit of neurons) working together in a fixed time pattern, similar to an orchestra performing together.«75 Dies verweist auf ein methodisches Problem, immer wenn »digitale« Frequenzabläufe zur Basis von »analogen« Empfindungsqualitäten gemacht werden sollen. Die rhythmisch oszillierende Abbildung der Intervallproportionen, wie sie die Theorie von Theodor Lipps als Ursache der Konsonanzwahrnehmung annimmt, erscheint Carl Stumpf ungeeignet, diesen Zweck zu erfüllen, da die Diskontinuität der erzeugenden Ebene nicht der erzeugten Tonwahrnehmung entspricht: »Irgendwo innerhalb dieser Kette von Vorgängen, welche die Klangwelle mit unseren Empfindungen verbinden, geht also faktisch hier Diskontinuität in Kontinuität über.«76 Stumpf fehlt letztlich noch die Idee einer quantitativen Synchronisierung: Das Problem feiner Abweichungen von der perfekten Intervallproportion, wie es durch ein Vibrato oder temperierte Stimmungssysteme empirisch beständig gegeben ist, zerstört nicht einen auf der rhythmischen Proportion basierenden Konsonanzeindruck, weil das 73
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Mahrenholz 1998, Musik und Erkenntnis, S. 180. Vgl. zudem Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild (Kino 2), übs. von Klaus Englert, Frankfurt a.M. 1991, S. 346: »Denn andererseits bringt das Bewegungs-Bild bereits ein Bild der Zeit hervor, die sich von ihm durch Überschuss oder Mangel unterscheidet, einer Zeit oberhalb oder unterhalb der Gegenwart als empirischer Verlauf«. Simone Mahrenholz, »Logik, A-Logik, Analogik. Musik und die Verfahrensformen des Unbewussten«, in: Richard Klein/Ekkehard Kiem/Wolfram Ette (Hg.), Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, S. 374f. Thaut 2008, Rhythm, Music, and the Brain, S. 46. Carl Stumpf, Konsonanz und Dissonanz, Leipzig 1898, S. 25. Vgl. Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 334 mit einem ähnlichen Argument: »Vor allem scheint noch die Brücke vollständig verborgen zu sein, welche psychische und organische Wirkungen des Rhythmus mit einander verbindet«. Vgl. zusätzlich Helmholtz 1913, Lehre von den Tonempfindungen, S. 14, wo zwischen der Periodizität des Schalls und der Kontinuität des Toneindrucks strikt geschieden wird: »Ein musikalischer Klang dagegen erscheint dem Ohr als ein Schall, der vollkommen ruhig, gleichmäßig und unveränderlich dauert, solange er eben besteht, in ihm ist kein Wechsel verschiedenartiger Bestandteile zu unterscheiden«.
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Gehirn sozusagen ohnehin immerzu mit statistischen Mittelwerten aus den unzähligen Neuronensignalen arbeiten muss.77 Entscheidend ist, dass in der Zeitebene der Oszillationen auch diskontinuierliche Ablaufprozesse mit der »kritischen« Rhetorik von Abweichung und Störung verbunden werden können – bis hin zur Projektion quantenmechanischer Begriffe in den Bereich der Ästhetik. Den Oszillationen kommt dabei die Funktion eines Generators zeitlicher Stabilität zu, der in den unprognostizierbaren Einzelereignissen jedoch kreativ unberechenbar erscheint (wie in der Theorie des Zeitbaums von Friedrich Cramer): »Strukturbildende Zeitkreise, Oszillationen, reversible Vorgänge sind systemerhaltend, aber sie sind in Wahrheit nur Warteschleifen, in denen das System so lange kreist, bis es an einen Chaos-Ordnungs-Übergang kommt. Dann erfolgt ein Zeitsprung, und es entsteht etwas Neues.«78 Dieses Verhältnis zwischen stabilen Pulsationen und unerwarteten neuen Einzelereignissen kann wieder als in sich rhythmischer Vorgang umschrieben werden, sodass die entscheidende Interferenz gerade zwischen sozialen Makrozyklen und kognitiven Mikrozeiten angesetzt wird: »L’appareil psychique apparaît comme un système à la fois oscillant et en bouleversement permanent, qui cherche, en s’appuyant sur des cycles sociaux, à régulariser et à limiter l’amplitude de ses oscillations, mais dont les forces de désorganisation internes l’empêchent de se transformer en une simple mécanique répétitive; il est un rythme de rythmes.«79 Es erscheint nicht sonderlich schwer, in einer solchen Konstruktion oszillatorischer Rhythmen auch eine apologetische Logik zu erkennen, mit der ein eigentlich äußerst einfacher Vorgang der Bezugnahme von Normabweichungen auf eine gegebene Normvorgabe verborgen werden soll. Es sind nun die unberechenbaren Normabweichungen das Ausgangsaxiom, die niemals in einer rein repetierenden Normvorgabe aufgehen: Die »gute« Diskontinuität der oszillatorischen Mikroebene ersetzt die »böse« Diskontinuität der metrischen Mittelebene. Für diese Transformation einer »esoterischen« Rhythmustheorie der kosmischen Kontinuitäten in eine »kritische« Rhythmustheorie der oszillatorischen Diskontinuitäten liefern Verschiebungen innerhalb des physikalisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds eine entscheidende Bedingung. Schon Bachelards Vorstoß zu einer Dialektik der Dauer geht von der Beobachtung aus, dass auf dieser Mikroebene der vitale Bewusstseinsstrom eben nicht mehr als kontinuierlicher Ablaufmodus gedacht werden kann.80 77
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Vgl. zur Rehabilitierung von Zeittheorien der Konsonanz Martin Ebeling, »Zum Wesen der Konsonanz: Neuronale Koinzidenz, Verschmelzung und Rauhigkeit«, in: Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd. 20, Göttingen 2009, S. 71-93. Friedrich Cramer, Der Zeitbaum. Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, Frankfurt a.M. 1993, S. 121f. Cramer verweist auch darauf, dass die Naturwissenschaften längst zu »analogen« Begriffen wie Schwamm, Schaum, Teppich, String etc. zurückgekehrt sind (Ebda., S. 190f.). Michon 2005, Rythmes, S. 149. Vgl. Bachelard 1950, Dialectique de la Durée, S. 39: »La continuation n’est pas naturelle au niveau du réflexe«.
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In dieses kognitive Modell integriert Bachelard die genuin rhythmische Idee der nonzyklischen Aktualisierung: »Mieux, les petites variations énergétiques impliquées dans l’activité psychique supérieure entraînent des idées nouvelles.«81 Die philosophischen Schwierigkeiten bei der Vermittlung zwischen der »Diskontinuität« auf der Zeitebene der kognitiven Oszillationen und der »Digitalität« einer psychologischen Metrisierung kann eine andere aphoristisch pointierte Formulierung von Bachelard belegen: »Croire à la permanence des choses, c’est ouvrir les yeux toujours à la même phase de leur rythme.«82 Das Modell der drei Zeitebenen belegt ein verbleibendes Problem in dieser Formulierung: Jeder konkrete Verweis auf eine Einzelphase eines rhythmischen Vorgangs wird erst auf der Zeitebene der psychologischen Präsenzzeit sinnvoll. Ein Vorrang diskontinuierlicher Zeitereignisse hingegen wird nur jenseits dieser Ebene der Präsenzzeit angenommen. Das Postulat einer derartigen Diskontinuität setzt immer einen gewissen Abstand zu konkreten ästhetischen Analysebeispielen voraus. Dies ist einmal ein generelles Übersetzungsproblem bei der Übertragung kulturwissenschaftlicher in kunstwissenschaftliche Theorien: Es geht gerade den Medientheorien oft um eine Ästhetisierung ihrer technischen Untersuchungsgegenstände; in den Kunstwissenschaften erzeugt derselbe Ansatz hingegen eine Technisierung ästhetischer Gegenstände. Dies ist ein konkretes Problem für jenen Seitenast der Rhythmustheorie, der mit der Begrifflichkeit einer »Rhythmanalysis« operiert: Das marxistisch eingefärbte Konzept beruht letztendlich darauf, den Diskontinuitätsbegriff der oszillatorischen Mikrozeit umstandslos auf die soziologische Analyse von Strukturen der geordneten Makrozeit zu übertragen. Rhythmus erhält damit eine gewissermaßen homöopathische Logik: Die Analyse wird abhängig von der Idee, dass eine reduzierte Dosis dennoch eine stark gesteigerte Wirkung hervorrufen kann. Diese Assoziation ist keineswegs absurd, sondern entspricht recht exakt der historischen Genese des Konzepts der »Rhythmanalysis«:83 Der Begriff wandert in den 1930er-Jahren aus einer Arbeit des Philosophen Pinheiro dos Santos, der explizit mit der Homöopathie argumentiert, aber heute nur aus dritter Hand rekonstruierbar ist, in die Theorie Bachelards, der die homöopathische Methode mit der zeitlichen Mikroebene zusammenführt: »La dilution, toujours très grande en homéopathie, favorise en somme la temporalisation vibrée de la substance médicale.«84 Der oszillatorische Rhythmusbegriff soll die gegebene Bedingung einer minimalen Stimulation in die Wirkung einer maximalen Stimulation umwandeln. Die dafür einzuschaltende maximale Simulation wird von der Homöopathie allerdings energisch
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Ebda., S. 67. Ebda., S. 64. Vgl. auch Goodman 2010, Sonic Warfare, S. 88. Bachelard 1950, Dialectique de la Durée, S. 133. Der konkrete Verweis auf das homöopathische Prinzip findet sich auf S. 136: »Il faudrait donc mettre à la base de l’hygiène rhythmanalytique le principe: petites causes, grands effets; petites doses, grands succès.« Ein Verweis auf die Homöopathie findet sich auch bei Blendinger 1951, Rhythmus Gottes, S. 73f. (das Konzept belegt eindrücklich die Parallelen der »esoterischen« Polaritätenlehre und der »kritischen« Rhythmustheorien).
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bestritten. In der Rhythmustheorie nimmt die metrisierte Mittelebene somit jene Position ein, die in der alternativen Heilkunde die Schulmedizin erhält. Ein Problem der »Rhythmanalysis« ist folgerichtig ein Placebo-Effekt, weil dem realen Vorgang sein wesentlicher Wirkstoff entzogen wird: das geschärfte Bewusstsein für die Gliederung der Zeit. Rhythmus erscheint auch bei Henri Lefebvre, der das Konzept der »Rhythmanalysis« popularisiert hat, als Modus der Entzeitlichung von Zeit durch Zeit: »Whether normal or exceptional, it is a time that forgets time, during which time no longer counts (and is no longer counted). It arrives or emerges when an activity brings plenitude, whether this activity be banal (an occupation, a piece of work), subtle (meditation, contemplation), spontaneous (a child’s game, or even one for adults) or sophisticated. This activity is in harmony with itself and with the world. It has several traits of self-creation or of a gift rather than of an obligation or an imposition come from without. It is in time: it is a time, but does not reflect on it.«85 Für die Rückübersetzung dieses oszillatorischen Begriffs einer kreativen und rhythmisierten Zeiterfahrung in die Perspektive psychologischer Zeittheorien verweist das Zitat von Lefebvre auf einen weiteren Darstellungskontext: Die beschriebene Form einer sinnerfüllten Aktivität würde man heute wohl am einfachsten als Flow-Erlebnis bezeichnen. Das Konzept des Flow besitzt offenkundig einige Parallelen zu einem in dieser Weise kognitiv geweiteten Begriff des Rhythmischen: Die Umwandlung diskreter motorischer Bewegungsfolgen in einen Zustand der Zeitvergessenheit, die Zurückstellung rationaler Reflexion bei gewahrter Kontrolle und die Adaption dieses Organisationsprinzips an ganz verschiedene Tätigkeitsfelder. Mihaly Csikszentmihalyi stellt gerade diesen Aspekt der Interferenz zwischen sonst voneinander getrennten Lebensbereichen für sein Konzept heraus. Flow entsteht dabei durch Vorgänge, die eine innere Rhythmisiertheit voraussetzen, aber auch durch Vorgänge, die mit einer direkten Rhythmisiertheit nicht mehr zwingend verbunden sind: »Die erste Überraschung, auf die wie bei unserer Studie stießen, war, wie ähnlich sehr unterschiedliche Aktivitäten beschrieben wurden, wenn sie besonders gut liefen. Offensichtlich fühlte sich ein Langstreckenschwimmer bei der Durchquerung des Ärmelkanals fast genauso wie ein Schachspieler bei einem Turnier oder ein Bergsteiger beim Aufstieg in eine steile Felswand.«86 Der Begriff des Flow kann auch an die Forschungen zur Rhythmisiertheit der Arbeit der ersten Jahrhunderthälfte anknüpfen, wo das Fehlen dieses Konzepts explizit als Mangel vermerkt wird: »Mit dem Wort ›Monotonie‹ wird eine gefühlsmäßige Reaktion auf die Gleichförmigkeit der Arbeit zum Ausdruck gebracht, aber nur die nach der Seite des Widerwillens.
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Lefebvre 2013, Rhythmanalysis, S. 85. Mihaly Csikszentmihalyi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, übs. von Annette Charpentier, Stuttgart 1992, S. 73. Die Bezeichnung des Flow als »autotelische« Tätigkeit (Ebda., S. 274) verweist zudem auf Parallelen zu Definitionen des Rhythmus als »Unterwegs-Sein«.
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Für die ebenfalls auftretende Gefühlswirkung des Angenehmen gibt es keinen sprachlichen Ausdruck.«87 Man würde heute sicher in vielen Fällen einen Begriff wie Flow verwenden, wo in der früheren Literatur der Begriff des Rhythmus eingesetzt wird. Ein Zusammenhang besteht insbesondere, wenn die Arbeitsforschung nicht nur die motorische Entlastungsfunktion, sondern auch den kognitiven Energieaufwand einer Rhythmisierung mit in den Blick nimmt. Die Rhythmisierung eines Arbeitsvorgangs nützt dann nämlich, anders als es die Theorie von Bücher unterstellt, weniger der Arbeitseffizienz, sondern dem Subjekt, das diese einförmige Arbeit ausführen soll: Die Arbeit wird ästhetisiert, indem sich das Subjekt gegen die Monotonie und Müdigkeit mithilfe des Rhythmus anästhetisiert.88 Das Flow-Erlebnis ist einerseits stärker subjektbezogen und bleibt an einen rationalen Akteur gebunden (es gibt einen Rhythmus, aber keinen Flow der Wassertropfen), für dieses Subjekt ist das Flow-Erlebnis jedoch stärker objektbezogen, denn es bleibt auf spezifische Tätigkeiten eingegrenzt (es gibt ein Flow-Erlebnis, aber keinen Rhythmus einer chirurgischen Operation). Eine Gemeinsamkeit der Konzepte besteht in der Voraussetzung der Repetition, wobei im Fall des Rhythmus eine einförmige Vorgabe durch Brüche oder Komplexitätssteigerungen veredelt werden soll, während beim Flow in komplexen Vorgängen dennoch der Eindruck einer reibungslos-rhythmischen Bewegung entsteht.89 Rhythmus überführt den elitären Anteil des Flow-Konzepts in eine Perspektive der ästhetischen Massenwirkungen. Eine Verbindung von Flow und Rhythmus könnte zwar auf die kognitive Organisation der ausübenden Musiker und deren komplexe Handlungen verweisen, doch die produzierten Rhythmen können hier eben auch in sich ganz einfach sein und (womöglich gerade dann) auf nur nebenbei Zuhörende übergreifen.90 Die Übertragung einer realen in eine imaginierte Bewegung verbindet den Rhythmus zudem mit einem weiteren Begriff aus dem populären Werkzeugkasten der Kognitionswissenschaften: Das Modell der Spiegelneuronen, die ein Empathiegefühl auch dann auslösen, wenn wir eine Aktion nur beobachtend nachvollziehen, und zwar so, als ob wir diese Aktion selbst vollziehen würden, erklärt jene Funktion eines plötzlichen Flashs in der Übertragung zwischen Produzent und Rezipient, die der Rhythmus ebenso besitzt, aber dem Zustand des Flow fehlt. Spiegelneuronen sind als Teil eines fachspezifischen Rhythmuskonzepts für die Tanzwissenschaft wichtig, wo der Relation zwischen Aktion und Rezeption sowohl in der Übertragung von Musik in Bewegungen wie im Erlernen der Schrittmuster eine zentrale Rolle zukommt.91 87 88 89 90 91
Winkler 1922, Monotonie der Arbeit, S. 42. Vgl. Smith 1900, »Rhythmus und Arbeit«, S. 294f. Vgl. zu dieser Relation auch Margulis 2014, On Repeat, S. 69. Vgl. die verbleibende Skepsis in der Musikpsychologie bei Helga de la Motte-Haber, »Flow«, in: Helga de la Motte-Haber u.a. (Hg.), Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, Laaber 2010, S. 119. Vgl. Allen Fogelsanger/Kathleya Afanador, »A Mirror in Which to Dance: Actions and the Audiovisual Correspondences of Music and Movement«, in: Stephanie Schroedter (Hg.), Bewegungen zwischen Hören und Sehen. Denkbewegungen über Bewegungsräume, Würzburg 2012, S. 129: »This neurological connection between seeing, hearing and doing may help explain how we judge the appropriateness of a music and dance combination.« Vgl. auch Beatriz Calvo-Merino, »Mirrors in the
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Man könnte daraus ein Modell entwickeln, bei dem in einer gelingenden Rhythmuserfahrung diese komplementären Zustandsformen des »Flow« und des »Flash« miteinander vermittelt werden. Flow markiert einen andauernden Zustand der intensivierten und ästhetisierten Zeiterfahrung: Die Sukzession der Zeitpunkte wandelt sich in eine einzige ideelle Zeitspanne um. Flash verweist auf eine plötzliche Zustandsänderung durch die Synchronisierung mit einem Gegenstand: Die Sukzessionen innerhalb einer Zeitspanne verdichten sich in einen einzigen ideellen Zeitpunkt. Die mit diesen Grundmustern verbundene Idee lautet dann immer, dass der Rhythmus auf eine bestimmte Phase der rationalen Kontrolle und kognitiven Verarbeitung verzichten kann und den Zugriff auf eine primäre Sinndimension ermöglicht. Rhythmus wird dadurch in der ästhetischen Selbstfindung manchmal auch zu einer Art Schockvokabel, mit der zum Beispiel Gumbrecht einen Schritt ins Freie aus allen akademischen Selbstverweisungszusammenhängen inszeniert: »Um jeder möglichen Verwechslung dieses existentiellen Zustands mit bestimmten hyperkomplexen Formen der (bei uns Theoretikern nur allzu beliebten) Selbstreflexion vorzubeugen, bediene ich mich zur Beschreibung dieser spezifischen Form von Gelassenheit einer bewußt anschaulichen Formulierung und spreche von dem Gefühl, daß man im gleichen Rhythmus schwingt wie die Dinge dieser Welt.«92 Oszillationen der Mikrozeit setzen dafür aber Ordnungsvorstellungen der Welt voraus, die auch in Sloterdijks Flirten mit der Kosmologie von Joachim Ernst Berendt wieder durch Musik- und Rhythmusbilder abgesichert werden: »Die Welt ist nach ihm vom Grunde her gut und vollkommen, weil sie sich, dank göttlicher Tonalität und Arithmetik, selber in Ordnung hält.«93 Eine »kritische« Rhythmustheorie, die sich von dieser »esoterischen« Rhetorik befreit halten will, wird daher die Zeitebene der Oszillation nicht mit dem Gegenpol einer kosmischen Ordnung verschwistern, sondern muss diese Zeitebene unmittelbar in die Interferenz-Bestimmung des Rhythmus überführen. Die Überlegungen von Simone Mahrenholz zum Rhythmus als Oszillation zwischen Inkommensurablem wählen diesen Weg, um den Begriff mit Erkenntnissen der Kognitionsforschung und der Kreativitätstheorie anzureichern. Dabei verweist die Kombination einer stabilen Periodisierung mit der plötzlichen Emergenz neuer Informationen erneut auf eine Ebene der Mikrozeit: »Rhythmus oszilliert also, bewegt sich zwischen solchen Gegensatzkategorien wie Körper und Geist, Materie und Idee, Identität und Differenz, Zeit und Raum.«94 Besonders interessant ist, dass Mahrenholz auch in einer musikanalytischen Anwendung vorführt, wie eine oszillatorische Zeitebene in die Taktrhythmik projiziert werden kann. Dafür wird der Anfang von Beethovens Waldsteinsonate als Exempel gewählt: »In Takt 3 wird das ›Ohr‹ rückwirkend und ›umschlaghaft‹ informiert, dass die
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Brain as Connection to the World«, in: Monika Woitas/Annette Hartmann (Hg.), Strawinskys ›Motor Drive‹, München 2009, S. 34f. Gumbrecht 2004, Diesseits der Hermeneutik, S. 138. Sloterdijk 1987, Kopernikanische Mobilmachung, S. 98. Simone Mahrenholz, »Rhythmus als Oszillation zwischen Inkommensurablem. Fragmente zu einer Theorie der Kreativität«, in: Primavesi/Mahrenholz 2005, Geteilte Zeit, S. 155.
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Repetition nicht als Puls, sondern als melodisches Motiv wahrzunehmen ist.«95 Die Pointe dieses Beispiels liegt darin, dass es die historisch »älteste« und die systematisch »aktuellste« Form einer Verschiebung der Zeitebenen in sich vereint: Die metrische Mittelebene wird einerseits melodisiert und wandert aus der akkompagnierenden Pulsation in den Modus gestalthafter Phrasen. Die metrische Mittelebene wird durch den schnellen Puls andererseits an eine Grenze rhythmischer Gruppenbildung geführt und verweist auf die oszillatorische Logik von Schallfrequenzen, die allmählich höher werden, wenn sie schneller ausgeführt werden (Mahrenholz assoziiert den Melodieverlauf folgerichtig mit dem Sirenenton und der seriellen Ästhetik von Stockhausen). Auf diese Weise werden die Prämissen einer »kritischen« Rhythmustheorie eingelöst, wie sie in der Einleitung des zentralen Sammelbands über Geteilte Zeit ausformuliert sind (der auch den erwähnten Artikel von Mahrenholz enthält). Das erste Axiom dieser Theorieperspektive lautet, dass die rhythmische Repetition erst dann ihre stärkste ästhetische Wirkung entfaltet, wenn sie mit Stolperschwellen und Störmomenten verbunden wird: »Rhythmus kann als Abweichung in der Wiederholung, als Störung von Erwartungen die Wahrnehmung schärfen. Damit und nicht etwa durch gleichförmige Repetition eröffnet er ein Potential ästhetischer Erfahrung.«96 Das zweite Axiom lautet als spiegelbildliche Gegenaussage, dass hierfür eine minimale Präsenz auch von Repetitionen akzeptiert werden muss: »Damit Rhythmus also Störung von Erwartung, Abweichung in der Wiederholung sein und zu jenem produktiven Schock werden kann, der die Wahrnehmung intensiviert, ist das Element der Unwiederholbarkeit nicht einseitig zu verabsolutieren.«97 Eine Verabsolutierung der Wiederholungen hingegen kann und darf aus einem Arsenal der ästhetisch akzeptablen Gegenstände gänzlich ausgeschlossen werden. Dieser pathologische Fall einer eher betäubenden als betörenden Rhythmik wird in bezeichnender Weise mit einem »Vorrang des Digitalen« und einer kommerziellen Dauerbeschallung assoziiert: »Gerade das Digitale des Es-gibt-nur-0-und-1 beinhaltet den Zwang zum Kontinuum: führt dazu, dass das permanente Weiterlaufen des Systems, der Flow zu einer (Über-)Lebensfrage, einer Frage von Sein oder Nichtsein geworden ist.«98 Der Begriff des Flow steht hier – abgeleitet aus der Theorie des Fernsehens als Medium einer entmündigenden Absentierung von jeglichem Inhalt – für das reine Faktum des Angeschaltet-Seins und das Weiterlaufen des Programms über alle möglichen Zäsuren hinweg: Da mit der Aufmerksamkeit des Konsumenten gar nicht mehr gerechnet wird, muss er gerade deswegen beständig mit starken Reizmitteln beschäftigt gehalten werden. Dies generiert eine falsche Form eines »digitalen Kontinuums«, das den gebannt auf den Bildschirm starrenden Blick garantiert.99 Es ist nur diese Negativform des Flow-Zustands, die in den »kritischen« Rhythmustheorien mehrfach disku95 96 97 98 99
Ebda., S. 161. Patrick Primavesi/Simone Mahrenholz, »Einleitung«, in: Patrick Primavesi/Simone Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2005, S. 15. Ebda., S. 19. Ebda., S. 22. Vgl. zu diesem abweichenden Begriff Raymond Williams, »Programmstruktur als Sequenz oder flow«, in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001 S. 33-43. Das Konzept verliert jedoch gerade im Zeitalter digitaler Medi-
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tiert wird. Die Diagnose lautet dann, dass ein rein »digitales« Medium bzw. eine rein metrische Struktur (für Techno-Musik dürfte dasselbe gelten) nicht mehr durch die Absenz, sondern durch die vollständige Dominanz eines Zeitkontinuums die ästhetische Erfahrung auf ein vorgegebenes Raster reduziert. Dieser »Vorrang des Digitalen« vernichtet quasi sämtliche anderen Zeitebenen zugunsten der metrisierten Mittelebene.100 Die ästhetisch negative Erscheinungsform des Analogen in diesem »digitalen Kontinuum« muss in den Rhythmustheorien komplementär durch eine ästhetisch positive Erscheinungsform des Digitalen ergänzt werden, durch die Möglichkeit also einer in sich »kritischen« Generierung von Diskontinuität. Die Verschiebung dieser diskontinuierlichen Zeichenqualität in die Zeitebene der Oszillationen erfüllt dabei zwei strategische Grundbedingungen: Die alte kosmologische Vorstellung einer rhythmisierten und irgendwie auch regulär geordneten Welt wird auf diese Weise von exakt einer Eigenschaft befreit (der Wirklichkeit einer metrischen Vorgliederung der Zeit) und mit exakt einer neuen Eigenschaft ausgestattet (der Möglichkeit unerwarteter und »analog-diskontinuerlicher« Störereignisse). Eine so gelagerte Verschiebung des Rhythmusbegriffs zugunsten des Oszillatorischen ist jedoch von spezifischen medienhistorischen Erfahrungen abhängig;101 sie steht in gewisser Weise selbst der ersten Welle der Rhythmusforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht in gleicher Weise als kulturell selbstverständliche Vorentscheidung zur Verfügung.102
5.4 5.4.1
Ordnungsmodelle: Einschaltungen der Makroebene Ästhetische Schulungen des Rhythmus
Einzelne theoretische Aussagen erfüllen in der allgemeinen Umgebung der Ästhetik und in der spezifischen Umgebung der Rhythmustheorien nicht zwingend dieselbe Funktion: Die »lokale« Theorie der rhythmisierten Zeit und die »globale« Theorie einer gelingenden ästhetischen Zeiterfahrung sind konzeptuell nicht in jedem ihrer Bausteine deckungsgleich. Diese Problematik kann an einer Formulierung aus der Ästhetik des Spiels von Ruth Sonderegger vorgeführt werden: »Die ästhetische Erfahrung endet gar nicht. Ihr Spiel ist ein strukturell unendliches.«103 en seine Gültigkeit; vgl. Roman Marek, Understanding YouTube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld 2013, S. 45. 100 Vgl. zu diesem medienkritischen Begriff auch Lorenz Engell, »Flow: Fernsehen jenseits von Takt und Frequenz«, in: Balke/Siegert/Vogl 2011, Takt und Frequenz, S. 137. 101 Vgl. David S. Landes, Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, Mass. 1983, S. 3: »With the introduction in the twentieth century of quartz and then atomic regulators, scientists have abandoned all dependence on heavenly measures and established as the fundamental time unit the second, defined not as a fraction of a year but as a large number (over nine billion) of very rapid oscillations«. 102 Vgl. aber Cowan 2011, Technology’s Pulse, S. 82 zur Bedeutung einer »oszillatorischen« Ästhetik des zeitgenössischen Tanzes. Vgl. zudem Bayreuther 2016, »Rhythmusbewegung«, S. 152 zu »oszillatorischen« Tendenzen auch bei Klages und Bode. 103 Sonderegger 2000, Ästhetik des Spiels, S. 14.
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Dekliniert man diese Aussage durch, dann ist klar, dass ästhetische Erfahrungen sehr wohl enden müssen, denn sonst könnte man am Tag nach dem Konzert gar nicht wieder zur Arbeit gehen. Es muss ein Strukturbegriff eingeschaltet werden, der den Anspruch der Kunst, im Rezipienten über den einen Konzertabend hinaus eine Wirkung zu hinterlassen, bereits ein wenig modifiziert. Dieselbe ästhetische Zeitstruktur besitzt nämlich in einem rhythmischen Impuls ihren einfachsten Erfüllungsfall, wenn ein phänomenal präsentes Zeitmuster noch einige Sekunden psychologisch fortgesetzt wird (oder weitaus länger als wiederkehrender »Ohrwurm«). Aussagen, die auf der »globalen« Ebene der ästhetischen Theorie sinnvoll sind, werden auf der »lokalen« Ebene der Rhythmustheorie durch die metrisierte Mittelebene der Zeit mit einem ungewollten Nebensinn versehen. Rhythmus setzt an die Stelle einer ästhetischen Unbegrenztheit eine triviale Form der schlechten Unendlichkeit, bei der jedes mögliche Ende durch neue Anfänge negiert wird. Je mehr dieses »globale« Theorieinteresse dominiert, desto stärker kann dem Rhythmus eine Funktion zugeschrieben werden, die in Opposition zu seinen »lokalen« Theoriebausteinen stehen muss: »Denn im Begriff des Rhythmus, so wie wir ihn heute verstehen, klingt zuviel an gemessener und geordneter Wiederholung mit – mit anderen Worten, zuviel an Form (wie Nietzsches Bemerkungen zum ›akzentuierenden Rhythmus‹ deutlich machen). Deshalb könnten wir heute zu bedenken geben, daß die Aufgabe darin bestehe, Zeit als Spur des Ur-Rhythmus zu denken.«104 Rhythmus wird im Kontext philosophischer Theoriebildung selbst unzweifelhaft ein Rhizom: Die ursprüngliche Begriffswurzel ist abgestorben, wodurch Rhythmus wild wuchernd zum Bestandteil verschiedenster Programmentwürfe werden kann. Der Begriff wird jedoch vornehmlich ein Baustein von Theorien, die zwischen dem rein mimetischen und dem semiotischen Verstehen eine Art »missing link« suchen (und hierfür mit rhetorischer Berechenbarkeit die Interferenz-Bestimmung heranziehen). In diesem Fall muss jedoch die Diskontinuität des Einzelereignisses vor der Digitalität einer sich wiederholenden Ereignisreihe geschützt werden; zugleich bleiben für das von Wiederholung und Formgebung befreite Rhythmuskonzept eine Verräumlichung der Zeit und auch eine gewisse archaische Qualität als Vorstellungshorizont verpflichtend: »Mit diesem Begriff des Rhythmus wird es möglich, uns der Proto-Zeitlichkeit zu nähern, die unser Zeitbewußtsein konstituiert, ohne selbst zeitlich verfaßt zu sein.«105 Diese Funktionalisierung des Rhythmus setzt eine Nichtberücksichtigung von empirischen und einzelwissenschaftlichen Forschungsprämissen voraus. Im Kontext »globaler« Theorieanwendungen kann und darf das Rollenbild der Musik als Leitmedium der »lokalen« Rhythmustheorie bestritten werden. Die Idee, dass der musikalische Rhythmus eine Vorlage gibt, was Rhythmus insgesamt ausmachen kann, und daher eine gewisse Vorrangstellung einnimmt, fixiert diesen womöglich zu stark auf die Funktion der Zeitgliederung (Rhythmus muss zudem im Kontext der Musiktheorie 104 Robin Durie, »Die Spur und der Rhythmus«, in: Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt 1997, S. 158. 105 Ebda., S. 152.
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nicht in derselben Weise einen »Vorrang des Analogen« erhalten, da mit der melodischen und tonal-harmonischen Strebekraft andere parametrische Bausteine vorliegen, die diese Funktion einnehmen können). Steht in der ersten Welle der Rhythmusforschung noch der Gedanke im Vordergrund, wie der akustisch-musikalische Rhythmus auf andere Erscheinungsformen übertragen werden kann, erscheint nun genau dieser Gedankenweg als irreführende methodische Vorentscheidung: »Dies bedeutet, dass mit und an der Musik lange Zeit (bis ca. in die Mitte des 20. Jahrhunderts) auf anschauliche Weise dem Denken Vorschub geleistet wurde, der Rhythmus sei immer ein durch gleichmäßige Bewegung und taktartigen Wechsel gekennzeichnetes (eigenständiges) Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, das aus der allgemeinen Zeitlichkeit ausgegrenzt ist, weil es eine eigene Zeitlichkeit entwickelt.«106 Ein Gegenmodell wird mit dieser Kritik bezeichnenderweise nicht für Kunst oder Tanz, sondern für den Bereich der Sportwissenschaft eingefordert: Dabei werden nicht mehr verschiedene Aktionen demselben Schema angepasst, sondern ein und dieselbe Aktion kann an verschiedene Schemata angepasst werden (also zum Beispiel die Schwierigkeit des Geländes usw.).107 Das verwendete Beispiel des Schwungs beim Skifahren zeigt, dass damit jedoch lediglich wieder das »digital-plurale« durch ein »analog-binäres« Rhythmusmuster ersetzt werden soll.108 Die Pointe des sportwissenschaftlichen Ansatzes liegt darin, diese »binäre« Stabilisierung nicht mehr als Ausdruck von kosmischen Polaritäten, sondern als fragile Leistung der jeweiligen Performance neu zu bestimmen. Je weiter man sich von einer musikalischen Ästhetik entfernt, desto stärker treten nicht andere Kategorien des Rhythmus hervor, sondern andere Deutungskontexte für dieselben Kategorien. Binarität ist im Leitmedium der Musik der zu überwindende Ausgangspunkt, im Sport dagegen der zu erreichende Zielpunkt der rhythmischen Bewegungsausführung. Gerade auf Regelhaftigkeit und Repetierbarkeit zielende Rhythmen lassen sich also relativ leicht von der musikästhetischen Folie des Taktprinzips ablösen, wobei der Aussagekontext dann sehr häufig darauf zielt, den Resultatcharakter einer solchen Rhythmisierung herauszustellen (das im musikpsychologischen Kontext am stärksten metrisierte Prinzip des Beat Finding wird sofort utopisch aufgeladen, wenn die Synchronisierungsleistung sich in die reale Lebenszeit verlagert): »Die Einzelnen müssen ihren Rhythmus zwischen Berufstätigkeit und Freizeit, Anspannung und Entspannung in wechselnden Kontexten selbst organisieren und fähig sein,
106 Elk Franke, »Rhythmus als Formungsprinzip im Sport«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, Bielefeld 2005, S. 97. 107 Vgl. Ebda., S. 99: »Bei der Skiabfahrt im Tiefschnee gibt es weder (beziehungsweise selten) eine akustische Gestaltungsform noch ein visuelles Vorbild. Grundlage für die Entwicklung der Bewegungsgestalt ist eine vorübergehende, das heißt labile Anordnung kinästhetischer Konfigurationen, die als Ordnungsgestalt jederzeit wieder zerbrechen können«. 108 Vgl. Elk Franke, »Raum – Bewegung – Rhythmus. Zu den Grundlagen einer Erkenntnis durch den Körper«, in: Franz Bockrath/Bernhard Boschert/Elk Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, Bielefeld 2008, S. 34.
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ihre individuellen Arbeits- und Lebensrhythmen mit denen der Anderen zu synchronisieren.«109 In diesen außerästhetischen Kontexten verschiebt sich der Rhythmus also von der inneren Zeit des Metrums auf die äußere Zeitgliederung des Tempos, wodurch die Rede vom Rhythmus sich zumeist auf die Diagnose beschränken kann, ob er vorhanden oder nicht-vorhanden ist. Die bei Sportübertragungen grassierende Floskel, eine Mannschaft habe in den letzten Minuten ihren Rhythmus gefunden (oder verloren), ist hierfür ein besonders bekanntes Beispiel. Es besteht eine Konkurrenz zwischen einer internen Projektion, bei der Rhythmus in die Musik projiziert wird, und einer externen Projektion, bei der musikalischer Rhythmus in andere Dinge projiziert wird. Rhythmus als musikalisch notwendiger, aber nicht notwendig musikalischer Parameter bewirkt im ersten Fall eine Verräumlichung der Zeit, welche die Musik mit einer syntaktischen Gliederung versieht, und im zweiten Fall eine Verzeitlichung des Raums, die eine gegebene Syntax mit musikalischer Strömungskraft ausstattet. Theoretiker einer universalen Mediencodierung wie Kittler inszenieren die Musik in romantisierender Weise als verklärten Ort des Realen (und dies erscheint als Symptom nicht einer fehlenden musikalischen Kompetenz, sondern einer fehlenden methodischen Konsequenz).110 Eine Vermittlung zwischen den »globalen« und »lokalen« Begriffsapparaten zur Beschreibung von Rhythmen scheint demgegenüber am stärksten erschwert, wenn das Leitmedium der Musik und der Zeitmodus der ästhetischen Gegenwart ihre grundsätzliche Vorrangstellung weiter beibehalten sollen. Eine prosaische Bedingung dieser Theoriekonflikte ist die Frage, wie die einzelwissenschaftliche Rhythmusforschung der aktuellen Musiktheorie bewertet und eingearbeitet wird. Die deutschsprachigen Publikationen scheinen bei den einschlägigen Einführungstexten von Wilhelm Seidel stehengeblieben zu sein, die nur einen unvollständigen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Forschung erlauben, und in denen die ästhetische Gegenwart einseitig als Verfallsgeschichte eines normativen Rhythmusbegriffs beschrieben wird.111 Die englischsprachige Forschung hat durch den stärkeren Einbezug empirischer Ansätze in die einzelwissenschaftlichen Analysen inzwischen eine Führungsrolle eingenommen.112 Die abstrahierte Zeitpunktbestimmung dieser Analysen erscheint aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedoch weiterhin auf einen allzu metrisierten Rhythmusbegriff festgelegt.113
109 Baxmann 2009, »Arbeit und Rhythmus«, S. 15. 110 Vgl. zu dieser Kritik Larson Powell, »Der Witz und seine Beziehung zur Filmmusik«, in: Victoria Piel/Knut Holtsträter/Oliver Huck (Hg.), Filmmusik. Beiträge zu ihrer Theorie und Vermittlung, Hildesheim 2008, S. 98f. 111 In außermusikalischen Kontexten versperrt Seidels Monopolstellung oftmals den Blick auf vorhandene Beschreibungsalternativen; vgl. etwa Tim Reinfeld, Der Schutz von Rhythmen im Urheberrecht, Göttingen 2006, S. 17. 112 Vgl. Hans Neuhoff, »Historische Musikwissenschaft: Krisenprofil und Perspektiven«, in: Michele Calella/Nikolaus Urbanek (Hg.), Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013, S. 240. 113 Vgl. Christan Grüny/Matteo Nanni, »Einleitung«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 9.
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Es besteht allerdings auch ein enger historischer Zusammenhang zwischen der Genese der poststrukturalistischen Theorie und der avantgardistischen Musik in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: Dieser Konnex macht eine Absicherung in den einzelwissenschaftlichen Analysetechniken teilweise hinfällig, da die »globale« ästhetische Anwendung sich ohnehin aus der Anverwandlung einer »lokalen« musikalischen Praxis herleiten lässt.114 Diese Transplantation aus der Musik in die Theorie und von dort zurück in die Theorie der Musik wird jedoch nicht ohne begriffliche Verschiebungen erfolgen. Die philosophischen Texte können zwar in ihrer Genealogie stark von der Musik geprägt sein, aber in ihrem inhaltlichen Zuschnitt bleibt die Auseinandersetzung mit dem Paradigma des sprachlichen Sinns bedeutsamer. Die »Rückübertragung« insbesondere der Differenzphilosophie von Deleuze in musikästhetische Kontexte führt zum Auslöschen aller konzeptuellen Differenzen: Man kann mit dem Begriffspaar von Differenz und Wiederholung sowohl die repetitive Musik des Minimalismus legitimieren, die sich gegen serielle Wiederholungsverbote wendet,115 und die komplexe Musik einer zweiten Moderne, die diese Verbote weiterhin vertritt.116 Diese hohe Streuungsrate wird in den Texten von Deleuze besonders an jenen Stellen bereits vorweggenommen, an denen sich die seltenen Hinweise auf konkrete künstlerische Konzepte finden. So werden Alban Bergs Vertiefung der Leittontechnik im Wozzeck und Andy Warhols Pop-Art-Serienbilder als Referenzen nebeneinander gestellt.117 Dieser Vergleich spielt mit der verräterischen begrifflichen Nähe zwischen »Serial Art« und »Serial Music«, die jedoch zwei völlig konträre Umgangsweisen mit dem Phänomen der Wiederholung in der Zeit und im Raum repräsentieren. Man erkennt bei Deleuze womöglich das durchaus utopische Ideal, wonach serielle Musik (mit ihrer Ausschaltung von perzeptuellen Wiederholungen) und serielle Kunst (als Reihenbildung der eingeschalteten Wiederholungen) synthetisiert werden müssten. In der gegenwärtigen Musikästhetik geht es hingegen darum, einen wieder erhöhten Anteil von hörbaren Wiederholungen zu legitimieren. Der hierfür am häufigsten zitierte Satz aus Deleuzes Differenz und Wiederholung, den auch der Komponist Bernhard Lang den Erörterungen zu seiner gleichnamigen Werkserie voranstellt, stammt jedoch gar nicht von Deleuze, sondern von David Hume: »Die Wiederholung ändert nichts am sich wiederholenden Objekt, sie ändert aber etwas im Geist, der sie betrachtet.«118 Die non-zyklische Aktualisierung ändert in Wiederholungen jedoch sehr wohl etwas auch an der phänomenalen Beschaffenheit des Objekts, und als zyklisches Potenzial
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Vgl. Alastair Williams, Music in Germany since 1968, Cambridge 2013, S. 6. Vgl. Wim Mertens, American Minimal Music, übs. von J. Hautekiet, New York 1983, S. 120. Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jahrhunderts, Kassel 1998, S. 89f.: »Solch einen Differenztypus mit der Musik zusammenzubringen, heißt, ihn mit dem vielleicht einzigen Grundprinzip des gesamten Abendlandes, mit Polyphonie, zusammenzubringen, die nur über den Differenzbegriff verstanden werden kann«. Vgl. Deleuze 1992, Differenz und Wiederholung, S. 365. Zit. nach Deleuze 1992, Differenz und Wiederholung, S. 99 (wobei zumeist unterschlagen wird, dass Deleuze selbst direkt danach klarstellt, dass dieser Satz seinem Konzept nicht entspricht).
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ist es die psychologische Wahrnehmung des Subjekts, die den Tatbestand einer identischen Wiederholung erst hervorbringt. Die Auseinandersetzung mit dem für die Musik ebenso konstitutiven wie konservativen Element der Wiederholung verleitet einzelne Autoren dazu, den Gegensatz zwischen den »globalen« Theorieanteilen und dem »lokalen« Theoriekontext ins Extrem zu treiben. Die Formulierungen spielen nicht mehr mit Paradoxien, sondern etablieren bewusst offene Widersprüchlichkeiten: »Der Rhythmus der Wiederholung wird immer ein gewissermaßen arhythmischer, hinkender sein, die Wiederholung eigentlich nie ganz genau, nie völlig mit sich identisch.«119 Die Herausforderung einer »kritischen« Rhythmustheorie liegt darin, dass ein »Rhythmus der Wiederholung« und ein »arythmisches Hinken« offenkundig nicht gleichgesetzt werden können, weil es sonst nicht mehr notwendig wäre, das eine als Gegenteil des anderen zu kennzeichnen. Es ist demnach einzig eine partielle Einschreibung dieser arhythmischen Qualitäten möglich: »Wenn uns etwas vor der lähmenden Monotonie oder dem erzwungenen Gleichschritt bewahrt, so sind es arhythmische Störungen, Abweichungen, Stolpersteine, Einbrüche des Ungeregelten, infolge deren die Gangart sich ändert.«120 Es erscheint jedoch ungenau, die Extremformen des monotonen Regelmaßes und des unrhythmischen Stolperns direkt aufeinander zu beziehen: Die Darstellung klammert bewusst den großen Mittelbereich aus, in dem entweder die Störungen auch aus einer rhythmischen Norm generiert werden können, oder umgekehrt schon die Norm des Rhythmischen eine Funktion der Störung gegenüber einer denotativen Sinnstruktur ausüben soll (diese Funktion verschiebt den Rhythmusbegriff der Sprachtheorien spürbar im Abgleich zur Musik). Der Begriff der Störung verbleibt metaphorisch, damit der Rhythmus metaphysisch sein kann. Dieses Sprachspiel funktioniert dann am besten, wenn der Rhythmusbegriff von jedem »lokalen« Analysekontext getrennt wird, um in einem »globalen« Aussagekontext mit seinem arythmischen Gegenprinzip nahezu gleichgesetzt zu werden: »Der Rhythmus besteht nicht aus reiner Wiederholung und Wiederherstellung des Gleichen, sondern aus unendlicher Variation, Differenzierung, Gleichgewichtsstörung, einer ständigen ›Krise‹.«121 Der »globale« Theorieanspruch kann zudem angezeigt werden, indem bereits auf der »lokalen« musikbezogenen Ebene eine Konnotierung des affirmativen Rhythmusbegriffs mit avancierten Referenzvokabeln vorgenommen wird: Rhythmus soll atonal, dissonant und polyphon werden. Diese musikalischen Termini benutzen die Kulturwissenschaften immer schon als geeignete Schlagworte, um den kritischen Anspruch der eigenen Theoriebildung sinnbildlich vorzuführen: »But this global, contrapuntal analysis should be modelled not (as earlier notions of comparative literature were) on a symphony but rather on an atonal ensemble.«122 119 Powell 2000, »Der andere Hörplatz«, S. 343. 120 Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 85. Ein Vorbild für die Strategie, das Arhythmische als »atonalen« Weitungsbegriff in das Rhythmische bewusst mit einzubeziehen, findet sich bei Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, Revidierte Neuauflage, Bern 2004, S. 144. 121 Schmitt 2014, »Geschichte der Rhythmen«, S. 24. 122 Edward W. Said, Culture and Imperialism, London 1993, S. 386.
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Die Funktion dieser Begriffsverschiebungen für die »kritische« Rhythmustheorie liegt darin, dass auf diese Weise ein um sein Gegenteil geweiteter Begriff des Rhythmischen wieder auf sein ursprüngliches Leitmedium der Musik bezogen werden kann. Auch für Deleuze und Guattari ist dabei der Kontrapunkt der primäre Positivbegriff, der sogar in andere musiktheoretische Termini als stärker metaphorische Projektionsebene integriert wird: »Die einfachsten Fälle sind die Melodie, ein monophonisches Ritornell; das Motiv, das bereits polyphonisch ist, wobei ein Element einer Melodie in die Entwicklung einer anderen eingreift und sich zum Kontrapunkt macht; das Thema als Objekt harmonischer Veränderungen über die melodischen Linien hinweg.«123 Als weiteres Beispiel kann der Dualismus des lesbaren Texts (negativ) und des geschriebenen Texts (positiv) von Roland Barthes herangezogen werden. Mithilfe musikalischer Begriffe erfolgt die Klarstellung der eigenen Position durch die Konfrontation mit einer metrischen Tradition: »Der Raum des (lesbaren) Textes ist in jedem Punkt mit einer (klassischen) Musikpartitur vergleichbar. Die Aufteilung des Syntagmas (in seiner fortschreitenden Bewegung) entspricht der Aufteilung des Tonflusses in Takte (die eine ist kaum weniger willkürlich als die andere).«124 Dieses Modell wird kurz darauf von Barthes nochmals anders in Szene gesetzt, da nun auch auf Aspekte der Melodie und Harmonie verwiesen wird: »Die Analogie geht noch weiter. Man kann den zwei Suiten der polyphonischen Tafel (der hermeneutischen und der proaïretischen Folge) die gleiche tonale Bestimmung geben, die Melodie und Harmonie in der klassischen Musik innehaben: der lesbare Text ist ein tonaler Text […].«125 Es bleibt unklar, ob hier Melodie und Harmonie beide »tonale« Ablaufparameter sind, die somit der zuvor genannten Takteinteilung synchron zu stellen wären, oder ob man zwischen den beiden Parametern einen Gegensatz erkennen soll: Die Dechiffrierung auf der Textebene des Diskurses, die nach dem kausalen Sinn hinter der Sukzession fragt, entspricht der funktionalen Tonalität der Harmonie, die Chiffrenfolge auf der Textebene der Story, die sich der kontiguosen Sukzession aussetzt, entspricht dann hingegen der linearen Motivstruktur der Melodie. Aber selbst Derridas Grammatologie nutzt diesen Rekurs auf musikalische Erläuterungsbegriffe: »Die Schrift ist also immer atonal. Der Platz des Subjekts/Sujets wird von einem anderen eingenommen; er ist verborgen. Der gesprochene Satz, der nur ein einziges Mal
Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übs. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 2000, S. 226. 124 Roland Barthes, S/Z, übs. von Jürgen Hoch, Frankfurt a.M. 1976, S. 33. 125 Ebda., S. 34. 123
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etwas gilt und ›allein an dem Ort eigentümlich bleiben kann, wo er ist‹, verliert seinen Ort und seine eigentümliche Bedeutung, sobald er niedergeschrieben wird.«126 Diese Gleichsetzung erscheint noch ungenauer: Das tonale Zentrum wäre hier also der Sprecher, der im Phonozentrismus als »unsichtbare« Präsenz hinter der Aussage mitgedacht werden muss wie der Tonartenbezug in einer Klangfolge. Die Vorgänge der Stellvertretung und der Ablösung vom performativen Sprechakt, die von der Schrift als artikuliertem Zeichensystem ermöglicht werden, entsprechen in ihrer Logik aber ebenfalls der Tonalität (die Aussage von der »atonalen« Schrift ist demnach ein wörtlicher Verweis auf das Fehlen einer phonetischen Stimmgebung). Die Analogie bezieht sich auf den unterstellten Status der Schrift innerhalb der Sprachtheorien und assoziiert das Atonale mit dem Randständigen und Unterdrückten. Christian Grünys Analyse der Performance Both sitting duet, in der Aufführungsgesten von ihrem Kontext der Klangerzeugung getrennt werden, unterscheidet sich durch die erkennbare Vorsicht, mit der die musikästhetischen Positivbegriffe eingesetzt werden: »Kontrapunkt sollte hier im weitesten Sinne verstanden werden und nicht als spezifische Kompositionstechnik, also als Chiffre für jede Art des Zusammenklangs, der sich nicht auf reines Unisono, eine harmonische Verschmelzung oder ein FigurHintergrund-Verhältnis bringen lässt.«127 Der Positivbegriff des Polyphonen umfasst also eine Kritik an allen Formen der »Vertikutierung« der Zeitlichkeit: Eine Funktion zeiträumlicher Vorgliederung kann Tonalität, Taktmetrum und Melodiebildung zusammenführen, während beim Kontrapunkt die Pluralität der Ereignisse eben nicht in einen einheitlichen Deutungskontext überführt werden muss. Das ermöglicht es, der in diesem Sinn kontrapunktischen Performance auch eine spezifische Materialbasis zuzusprechen: »Wenn man so will, ist Both sitting duet damit ein atonales Stück, das sich ganz auf nicht kodifizierte formale Verhältnisse verlassen muss und auch die Grundstruktur seines Ablaufs nicht aus einer geregelten Progression beziehen kann.«128 Es besteht aber das Problem, dass damit zwei nicht deckungsgleiche Weitungen des Begriffs des Kontrapunktischen ins Spiel gebracht werden: Ein visueller Kontrapunkt impliziert eine gewisse Trivialisierung des Begriffs, denn die simultane Präsenz mehrerer Ablaufschichten kann nun auch in der räumlichen Simultaneität und nicht nur in der zeitlichen Sukzession wahrgenommen werden. Ein atonaler Kontrapunkt impliziert eine noch weit stärkere Trivialisierung des Begriffs, denn ohne einschränkende Konsonanzregeln ist jede Form der simultanen Zusammenführung von zeitlichen Sukzessionen zunächst einmal erlaubt. Die beiden Weitungen müssen einander gegenseitig stützen, und dafür kann wiederum der Rhythmus als Klebebegriff dienen: »Gestischrhythmische Gestaltung ist keineswegs auf Tonalität angewiesen, und wer im Medium
126 127 128
Derrida 1974, Grammatologie, S. 539. Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 30. Ebda.
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der Körperbewegung formal gestalten will, hat keine Wahl, als dies auf atonale Weise zu tun.«129 Es wird damit jedoch das Paradox erzeugt, dass Rhythmus einerseits derjenige Vorgang ist, der in der Performance unzweifelhaft vorhanden ist, aber zugleich ist Rhythmus derjenige Begriff, der in einer »kontrapunktischen« und »atonalen« Wertungsvorgabe nur in einer modifizierten Form zur Beschreibung der Performance aufgerufen werden kann: Im Begriff des rhythmischen Kontrapunkts müssen die Punkte entfernt werden, um das »Kontra-« behalten zu können. Eine Ästhetik, die der Kunst eine wie auch immer opponierende Funktion zubilligen möchte, lässt sich mit dem Begriff des Kontrapunkts nahezu immer, mit dem Begriff des Rhythmus aber nur unter Vorbehalt zusammenführen: Die Eigenschaft der Diskontinuität, die in Schlagworten wie dem Sperrigen, dem Schockhaften usw. aufgerufen ist, droht zur Eigenschaft der Digitalität verengt zu werden. Dieses Problem impliziert zwei Gegenmaßnahmen: Erstens kann die Diskontinuität des Einzelereignisses so stark prononciert werden, dass die resultierende Ästhetik sich einer Anwendbarkeit auf den Rhythmusbegriff endgültig zu entziehen scheint. Zweitens kann umgekehrt die Kontinuität der Ereignisfolgen nochmals stärker prononciert werden. Für den ersten Fall sei auf die Kategorie der Plötzlichkeit verwiesen, die einen Jetztbegriff der Zeit voraussetzt, der als absoluter Vorrang der Eins vor der Zwei umschrieben werden könnte: »Inwiefern läßt sich die Grenze des ästhetischen Phänomens gegen das nichtästhetische an der zeitlichen Modalität der ›Plötzlichkeit‹ darstellen. ›Plötzlichkeit‹ verstanden als Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität und Nichtidentischem, was immer sich der ästhetischen Integration sperren mag.«130 Plötzlichkeit ist darum als Gegenfolie zum Rhythmusdenken interessant, weil hier ein logisch diskontinuierliches Ablaufmodell dennoch in seinem Wesen unrhythmisch verbleibt, insofern der Wechsel in eine andere Sphäre sprunghaft und nicht-antizipierbar erfolgt. Die Alternative hierzu bildet eine Ästhetik des Erscheinens, in der ein allmählich-passives, aber ebenfalls nicht antizipierbares Aufgehen in der Zeit zur Ermöglichungsbedingung von Kunsterfahrungen wird: »Schwellenerfahrungen tauchen überall dort auf, wo wir von einem Erfahrungsraum oder Lebensbereich in den anderen überwechseln, so im Falle von Einschlafen und Aufwachen, Erkranken und Genesen, Heranwachsen und Altern, Ankommen und Fortgehen, Begrüßung und Abschied, Geburt und Tod.«131 Diese Interferenzen würden sich beim Rhythmus eher als beständiges Hin- und Herspringen zwischen den Zuständen beschreiben lassen: Ein Rhythmus ist sicherlich die Abfolge von Schlaf und Wachsein, aber nicht zwingend der Zustand des Halbschlafs. Im Theorem der Plötzlichkeit wird der Gegensatz der Antipoden weiter auf die gegeneinander konfrontierten Extremwerte konzentriert, während im Theorem der Passivität
129 Ebda. 130 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 7. 131 Waldenfels 1999, Sinnesschwellen, S. 9.
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dieser Gegensatz in einer Verschmelzung der beiden Extreme stärker aufgelöst wird. Die Ästhetik des Plötzlichen garantiert die Diskontinuität des Einzelereignisses, aber nicht mehr eine zeitliche Kontinuität der Ereignisabfolge, die Ästhetik der Passivität hingegen garantiert zwar eine derartige Kontinuität, aber nicht mehr das Auftreten von diskontinuierlichen Einzelereignissen. Die Trennung von »Flash« und »Flow« in den rhythmusfernen Ästhetiken verweist auf die Verbindung dieser beiden grundlegenden Zustandsformen einer Zeittransformation im Rhythmusbegriff. In einer Ästhetik der Passivität wird hierbei vor allem die rhythmische Relation von Anfang und Ende in einer erneut anderen Weise bestimmt: »Demgegenüber heißt die Zeit geschehen zu lassen, ein Nichtauszeichenbares, Indifferentes ereignen zu lassen: Ereignis, das, von der Zeit her, je einzig zu-fällt. Verlangt sind dazu keine ausgefeilten Regien der Verzeitlichung, wie sie der klassische Tanz, das Theater oder die Komposition entwickelt haben, sondern lediglich die kontingente Setzung eines Anfangs- und Schlußpunktes – einer Spanne, die wiederum ›nichts‹ bedeutet, vielmehr die Kontingenz der Zeit bezeichnet, innerhalb deren ›etwas‹ passieren kann oder auch nicht.«132 Diese passive Vorgabe eines offenen Raums erzeugt die Möglichkeit einer vollständigen Externalisierung der punkthaften Zeitbegrenzungen. Die Kontingenz der Zeit benötigt weiterhin die Bereitstellung von Kontingenten der Zeit, die jedoch nicht Bestandteil der auf diese Weise markierten Zeitspanne sind, sondern diese nur gänzlich äußerlich begrenzen. Der Zeitmodus des Performativen wird von Dieter Mersch zusätzlich an eine grammatikalische Differenz geknüpft: Ein Substantiv zeigt an, dass der Mensch aktiv ein Ding benennt, ein Verb, dass ein Zeitvorgang passiv vom Satzsubjekt empfangen wird.133 Diese Idee von einem Vorrang des Verbs vor dem Substantiv lässt sich erneut mit der Rhythmusästhetik direkt verbinden.134 Rhythmus erscheint dann wie ein falsch gesetztes Substantiv für einen Vorgang, der eigentlich nur durch das Verb eines Satzes beschrieben werden kann (dasselbe Argument findet man auch für den Zeitbegriff).135 Daraus ergibt sich zu allererst eine nahe liegende Kritik der »esoterischen« Rhythmustheorie, die den kinetischen Vorrang des passiven Dahinströmens nicht in Verbformen, sondern weiterhin mit pathetischen und überfrachteten Substantiven beschreibt.136 Die Verwendung der Passivform ist zudem eine artifizielle Sprechhandlung, die eine spätere grammatikalische Form heranzieht, um auf einen angeblich früheren Zustand zu verweisen.137
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Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, S. 227f. Vgl. Ebda., S. 248f. Vgl. hierzu insbesondere Bachelard 1950, Dialectique de la Durée, S. 17. Vgl. zu dieser Position (die zurückgeht auf Wittgenstein) Bieri 1972, Zeit und Zeiterfahrung, S. 15. Vgl. dazu Gabriele Brandstetter, »Rhythmus als Lebensanschauung. Zum Bewegungsdiskurs um 1900«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 38. Vgl. dazu Wilhelm Köller, Philosophie der Grammatik. Vom Sinn grammatischen Wissens, Stuttgart 1988, S. 135.
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Diese Aspekte kann man an einem weiteren Beispiel nochmals schlaglichtartig vorführen, das erneut einer der dualistischen Zuspitzungen in Tausend Plateaus entnommen ist: »Es hat in der Sprache immer einen Kampf zwischen dem Verb ›être‹ und der Konjunktion ›et‹ gegeben, zwischen est und et. Diese beiden Terme verstehen und vermischen sich nur zum Schein, denn der eine wirkt in der Sprache als Konstante und bildet die diatonische Tonleiter der Sprache, während der andere alles variiert und die Linien einer verallgemeinerten Chromatik bildet.«138 Diese Oppositionsbildung verbindet ihre abstrakte Aussageintention explizit mit einer Metapher aus dem Bereich der atonalen Musik und implizit mit Merkmalen der eigenen Rhythmustheorie (dem »digitalen« Spiel mit dem ergänzten Druckbuchstaben sowie dem Milieuwechsel). Auch der Rhythmus ist für Deleuze und Guattari nicht eine »SeinForm«, sondern eine »Und-Form«, die verschiedene Sprachteile miteinander verbindet, statt sie begrifflich zu fixieren. Der einfache philosophische Gedanke beruht darauf, dass das Wort »sein« die Verbformen in die Logik der Substantive überführt, wohingegen das Wort »und« die Substantive in die Logik der Verbformen überführen kann. Das rhythmische Zählen des »Eins-und« dagegen verbindet die auf diese Weise sauber getrennten Bereiche und benutzt sozusagen die Und-Konjunktion als ihren eigenen diatonischen Normalfall. Es besteht erneut das Problem, dass eine Ästhetik der Diskontinuität zur Digitalität verengt wird: Was auf der »globalen« Ebene positiv konnotiert ist, muss auf der »lokalen« Ebene negativ konnotiert bleiben. Eine »kritische« Rhythmustheorie, die diesen Restanteil von diskreten Einzelkomponenten nicht akzeptieren möchte, muss für den Rhythmus nicht eine neue Form der Komplexität, sondern eine wesenhaft andere Form der Einfachheit voraussetzen. Die Umsetzung dieser Priorität erfolgt aber letztlich durch ein Postulat, bei dem die diskontinuierlichen Syntaxbegriffe (wie im folgenden Zitat die Periodizität) mit einer verschobenen ästhetischen Präferenz verkettet werden: »Die sinnliche Erfahrung rhythmischer Ereignisse – darin sind sich alle Autor/innen einig – wird mit den weit verbreiteten schematischen Vorstellungen von Rhythmus, Takt und Metrum nicht hinreichend beschrieben. Es gilt vielmehr, diese Vorstellungen hinsichtlich eines Kontinuums aus verschiedenen Periodizitäten zu denken: Sie müssen gleichsam ›aus dem Takt‹ geraten.«139 Periodizitäten bleiben jedoch auch im Plural das Gegenteil eines Kontinuums. Es gibt demnach keine einzige wörtliche, sondern nur verschiedene bildliche Lesarten, was hier mit dem Begriff des Kontinuums eigentlich innerhalb der Rhythmuserfahrung aufgerufen werden soll: Erstens impliziert ein »Kontinuum aus Periodizitäten« wohl eine Verschiebung in die Zeitebene der Oszillation. Dem widerspricht allerdings der Hinweis auf die sinnliche Erfahrung und damit die Bedingung der psychologischen Präsenz. Zweitens ließe sich ein Kontinuum zwischen ganz regulären und überhaupt nicht 138 139
Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 137. Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, »Rhythmus im Prozess«, S. 26.
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mehr regulären Periodizitäten denken, sodass der Rhythmus mit einem traditionellen Modell der auf eine Norm weiter rückbezogenen Abweichungsfälle zu beschreiben wäre. Drittens kann man die Formulierung so lesen, dass kategorial verschiedene Formen der Periodizität einbezogen werden sollen: sowohl die »digital-pluralen« Muster einer geweiteten Metrik wie auch die »analog-binären« Muster der lebensweltlichen Rhythmusformen. Viertens kann man den Verdacht äußern, dass im Begriff des Kontinuums die Metrumkritik zwar rhetorisch aufgerufen wird, aber realiter durch die gewahrte Interferenz-Bestimmung zum Gegenbegriff der Periodizitäten nicht wirklich eingelöst wird. Eine »erweitert metrische« Theorie wird demgegenüber darauf beharren, dass die Formulierung umgedreht werden muss, um zu einer sinnvollen Kategorie des Rhythmischen zu werden: Rhythmus setzt immer ein periodisiertes Kontinuum voraus, eine ästhetische Erfahrung, die nicht nur synthetisierend, sondern auch selektiv ist, und darum umso stärker auch in irreguläre und non-isochrone Abläufe eingeschrieben werden kann, wenn diese durch diskrete Schichten und »digitale« Zeichenstellen einen direkten Zugriff auf eine gegliederte Zeit weiter erlauben. Es geht keineswegs darum zu behaupten, dass der Rhythmus jenseits einer metrischen Bindung hinfällig wird, sondern es geht darum zu beschreiben, warum auch ein geweitetes Verständnis des Rhythmischen sozusagen für diese Bindung anfällig ist.
5.4.2
Nationale Schulen der Rhythmusästhetik
Nationalistische Denkkategorien gehören zu den unangenehmen Konstanten in der ersten Welle der Rhythmusforschung, wenn zum Beispiel einzelne deutschsprachige Autoren die Rhythmus-Metrum-Dichotomie allzu einfach auf den Gegensatz klassizistischer Clarté und romantischer Tiefgründigkeit übertragen: »Der Italiener kann, ebenso wie der Franzose, die Freude am Lenken und an der menschlichen Überlegenheit, die sich darin kundtut, aus dem Rhythmuserlebnis nicht wegdenken.«140 Dieser Gegensatz kann dann verallgemeinert werden zur Dichotomie zwischen der deutschen Kultur mit ihrer Bindung an den Dialekt der Volkssprache und der französischen Zivilisation, die ein vergleichsweise elitäres Sprachverständnis entwickelt.141 Die Faszinationskraft des Rhythmus um 1900 hingegen war ein übernationales Phänomen, das in Frankreich wie in Deutschland nachgewiesen werden kann und sich in beiden Ländern mit denselben Ideen eines kinetischen Fließens und einer nicht mehr
140 Gustav Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, Augsburg 1928, S. 119. 141 Vgl. im Kontext der »esoterischen« Polaritätenlehre Cornelius 1925, Weltgeschichte und ihr Rhythmus, S. 325: »Einen weiteren Beleg im damaligen Frankreich bietet die akademische Abtötung der Sprache um der klassischen Geste willen. Was volkstümlich klang, was Erdgeschmack hatte, wurde verbannt, die Sprache von allen Dialektausdrücken gereinigt, in genaueste Regeln gepresst, mit einer Menge lateinischer Fremdwörter verbildet. Solange diese Vorschriften galten, war das Französische nicht mehr fähig, lebenswarmem Gemüte Ausdruck zu geben.« Vgl. ebenso Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 220: »Die deutsche Sprache ist ein ewig Werdendes, die französische konventionell gefestigt, apollinisch abgegrenzt, eine geformte Plastik. Die deutsche Sprache hat ihren Reichtum noch nicht durch Vernützlichung so weit unterdrückt, wie dies in anderen Sprachen der Fall ist«.
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Die Theorie des Rhythmus
verräumlichten Zeit verbindet. Zu erklären wäre jedoch, warum für französische Autoren der Dualismus zwischen Rhythmus und Metrum als Topos eine geringere Tragweite zu besitzen scheint.142 Es ist hierbei wichtig, sich einen elementaren Unterschied in Erinnerung zu rufen: Im Französischen ist das Versmetrum einer anderen Organisationsform unterworfen als die Musik, während im Deutschen (und im Englischen) die Organisationsformen des neuzeitlichen Taktmetrums und des neuzeitlichen Versmetrums einander gleichgestellt werden können. Dadurch aber wird im französischen Theoriekontext eine spezifisch musikalische Rhythmik zur Abweichungsqualität in einer vornehmlich sprachorientierten Ästhetik. Eine Parallele von Sprachmetrum und musikalischem Takt ergibt sich nicht als triviale Gleichsetzung, sondern erst als Ergebnis einer bewussten Analogiebildung.143 Eine weitere in diesem Kontext relevante Beobachtung ist, dass sich im 20. Jahrhundert keine einzelwissenschaftliche Rhythmusforschung in Frankreich etabliert. Man findet folgerichtig bei den französischen Autoren manchmal eine Klage darüber, dass für die Konsultierung aktueller Rhythmustheorien vornehmlich deutschsprachige Publikationen herangezogen werden müssen (aber keine englischsprachigen, weshalb die Perspektive nicht-empirisch verbleibt).144 In Frankreich entwickelt sich stattdessen gleichsam als historischer Ersatz für die »esoterische« Rhythmusauffassung eine Theorietradition mit Schriften zum »temps musical«. Dabei soll ein Einfluss insbesondere von Strawinsky und des Neoklassizismus – und damit ein dezidiert stärker diskontinuierlicher Zeitbegriff – mit den Elementen einer kinetischen Zeitauffassung verbunden werden, die sich vor allem aus dem Einfluss von Bergsons Konzept der Dauer herleiten lassen. Bei Gisèle Brelet zum Beispiel wird auf diese Weise eine für die deutschen Autoren zentrale Unvereinbarkeit zwischen den »analogen« Naturzyklen und der »digitalen« Metrik aufgehoben: »Car l’isochronisme ne symbolise pas seulement le temps intelligible de la science, mais la puissance élémentaire de ce temps objectif de l’univers, temps subi que nous sentons régner en nous malgré nous et dont notre pouls nous offre en nous-mêmes l’image saisissante. La mesure, c’est donc le temps homogène du monde, et le rythme, la durée de la volonté et de la liberté, et aussi de l’individualité subjective qui peut tour à tour détruire l’ordre du temps homogène ou y superposer un ordre nouveau.«145 Die Theorien zum »temps musical« sind in Deutschland zumeist mit einer skeptischen und wohl auch einer routiniert überheblichen Abwehrhaltung nur am Rande rezipiert
142 Vgl. auch Inge Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000, S. 8. 143 Vgl. zum Beispiel Lussy 1884, Rythme musical, S. 77: »De même qu’on trouve dans un mot des syllabes longues et des syllabes brèves, de même il y a dans la mesure des sons forts et des sons faibles«. 144 Vgl. prototypisch für diesen Vermerk Lefebvre 2013, Rhythmanalysis, S. 67. 145 Brelet 1949, Temps musical, S. 307.
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worden, wobei die Konkurrenz zwischen der Schönberg-Schule und der internationalen Ausrichtung an Strawinsky sicher eine Rolle gespielt hat.146 Zudem werden Sport und Gymnastik als Mittel der Volkserziehung in Frankreich verspätet, nie ganz vollständig und auch mit dem Bemühen um eigene Ausprägungen rezipiert (das Radfahren ersetzt das Reckturnen), sodass die an die Körperpädagogik gebundene Forderung nach einer ganzheitlichen Rhythmuslehre hier eher als Fremdimport erscheinen musste.147 Die Ansiedelung der Dalcroze-Schule in einen primär deutschsprachigen Publikations- und Institutionskontext ist nur das sichtbarste Zeichen dieser verringerten und veränderten Rezeptionsformen. Die Ausrichtung der Rhythmuslehre an den quantitativen und silbenzählenden Sprachversen erzeugt vor allem jedoch bestimmte Verschiebungen, die in einer mindestens bis zu Rousseau reichenden Deutungstradition einzelne Konzepte aus der Rolle der metrischen Norm in die Rolle der sprachmetrischen Abweichung überführt. So ist eine intentionale Projektion von Betonungsmustern nicht mehr die generierende Eigenschaft des metrischen Zeitpunkt-Rasters, sondern dient eher zur Herausstellung von Gegenrhythmen, die das vorgegebene Silbenschema bereits variieren.148 Der wichtigste Unterschied besteht dabei zwischem einem musikalischen und einem sprachsemantischen Akzentbegriff: Im musikalischen Taktraster wird die strukturelle Artikuliertheit durch stetige Akzentsetzungen erzeugt, während in der französischen Metrik die Akzentuierung als ausdrücklicher Gegenbegriff zur verbalen Artikulation aufgefasst werden kann.149 Auch Derridas Grammatologie entwickelt sich noch wesentlich als Auseinandersetzung mit der Theorie südlicher Vokal- und nördlicher Konsonantensprachen: »Je artikulierter eine Sprache, desto weniger akzentuiert ist sie, je vernünftiger, desto weniger musikalisch ist sie, desto weniger verliert sie also, wenn sie geschrieben wird, und desto besser drückt sie das Bedürfnis aus. Sie wird nordisch.«150 Man kann diese Verschiebungen bis in die Terminologie der französischsprachigen Rhythmustheorien des 19. Jahrhunderts verfolgen: Die Norm des sprachlichen Einzelverses ist dort syntaktisch auf einer anderen Ebene angesiedelt als die musikalische Norm des Einzeltakts. Der Begriff einer rhythmischen »Cadence« als Atemeinheit ermöglicht für diese kleineren syntaktischen Einheiten eine Beschreibungslogik, die sich in dieser Form im deutschsprachigen Raum nicht nachweisen lässt: Bereits auf der Einzeltakt-Ebene können motivische Repetitionen als organische und vollständige Ablaufeinheiten definiert werden.151 In der Theorie von Riemann müssen die Einzeltakte 146 Vgl. zum Beispiel Haber 1968, Klassifikation musikalischer Rhythmen, S. 15: »Ergebnis sind meist nur Mystifikationen, als deren Paradebeispiel das zweibändige Werk von Gisèle Brelet gelten darf«. 147 Vgl. dazu McNeill 1995, Keeping Together in Time, S. 140. 148 Vgl. zu dieser veränderten Perspektive etwa Garelli 1991, Rythmes et mondes, S. 428. 149 Die positive Konnotation des Akzentbegriffs löst sich dabei von der historisch engeren Bedeutung von »Artikulation«, die im 18. Jahrhundert den konsonantischen Sprachanteil bezeichnet (vgl. hierzu Trabant 1998, Artikulationen, S. 67f.). 150 Derrida 1974, Grammatologie, S. 416. Vgl. dazu auch John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven 1986, S. 85. 151 Vgl. zur »longue durée« dieser Kategorie aus der Theorie des 19. Jahrhunderts die Bedeutung, die Paul Fraisse dem Begriff zuschreibt (und die in einem deutschen Theoriekontext völlig undenkbar wäre): »La perception de la répétition régulière d’un même élément sonore, c’est-à-dire d’une ca-
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Die Theorie des Rhythmus
in größere syntaktische Einheiten überführt werden, um ein Metrum der Vier- und Achttaktgruppen aus der harmonischen Kadenzierung abzuleiten. Im Französischen verbindet sich hingegen der zentrale Abwehrbegriff gegen einen metrischen Schematismus mit diesen größeren Ablaufeinheiten: Nicht die einzelnen Taktakzente, sondern erst die »Carrure« der vier- und achttaktigen Perioden erzeugt die stärkste Negativwirkung.152 Es ist deswegen nicht übertrieben, für die französische Musikästhetik von einer veränderten »Ökologie«153 zu sprechen: Es gibt hier eine Notwendigkeit, sprachbezogene Erfahrungen auf die Musik erst übertragen zu müssen, anstatt die beiden Bereiche in bestimmten Kontexten direkt gleichsetzen zu können. Hinzu kommt, dass man eine weit höhere Durchlässigkeit zwischen wissenschaftlicher und dichterischer Sprache konstituieren kann.154 Diese Differenzen ermöglichen es, die Metrumkritik zu verabsolutieren und doch einen unterschwellig stark metrisierten Begriff des Rhythmus zu bewahren. Dabei erweist sich die abweichende Etymologie von Émile Benveniste als eine Art Sammelplatz, von dem tatsächlich nahezu alle Vertreter einer »global« geweiteten französischen Rhythmustheorie ihren Ausgang nehmen. Dies entpflichtet die Autoren auch davon, den eigenen Rhythmusbegriff im Blick auf diesen erkennbaren Widerstreit zwischen den metrisierten Teilkomponenten und der anti-metrischen Thesenbildung ernsthaft zu befragen. Es werden Analysen mit dem Begriff des Rhythmus, aber keine Analysen von Rhythmen durchgeführt. Jacques Garellis Philosophie der prä-individuellen Erkenntnisformen verwendet zum Beispiel den Rhythmus in typischer Weise als mehr angedeutete denn vollzogene Antwort auf die zuvor entwickelten Problemstellungen: Es entsteht so in den Texten ein eigener Rhythmus der wiederholten (aber nicht immer eingelösten) Anfänge.155 Der Hinweis auf Benvenistes Formel vom Rhythmus als in sich beweglicher Form, die als etymologische Positionierung wie gesehen weder historisch neuartig noch systematisch völlig konsistent ist, da sie ein atomistisches Axiom für ihre kinetische Auslegung akzeptieren muss, wandert als Referenz auch in die Sammelbände der deutschsprachigen Rhythmusforschung.156 In den wenigen Fällen, in denen die Theorie Benvenistes einmal nicht rezipiert wird, muss dann auffallen, dass dessen etymologische
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dence, nous est apparue comme la forme rythmique la plus simple.« (Fraisse 1974, Psychologie du rythme, S. 107). Vgl. etwa Brelet 1949, Temps musical, S. 266: »La musique emprunte ses formes à la danse ou au chant. Dès les origines de l’art musical se rencontre la dualité de la carrure et du rythme libre; mais il faut dire que la carrure nait de la danse et non de la musique même«. Vgl. Roland Barthes, »Die Musik, die Stimme, die Sprache«, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übs. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1990, S. 281: »Die französische Melodie besitzt sozusagen eine andere Ökologie: Das Milieu, in dem sie entstand, sich herausbildete und aufgenommen wurde, ist nicht volkstümlich und nur deshalb national (französisch), weil die anderen Kulturen sie nicht beachteten; dieses Milieu ist der bürgerliche Salon«. Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 136. Vgl. Garelli 1991, Rythmes et mondes, S. 421. Vgl. beispielhaft für diesen Einfluss Grüny/Nanni 2014, »Einleitung«, S. 11f.
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Thesen sofort durch ebenso schlüssige Alternativdeutungen verdrängt werden: Man erkennt auch daran, dass Benvenistes Modell einer erst mit Platon anzusetzenden Metrisierung des Rhythmusbegriffs weniger den antiken Quellen, sondern eher den aktuellen ästhetischen Interessen entspricht.157 Benveniste gelingt jedoch unzweifelhaft eine Umkehrung der Relation zwischen Norm und Normabweichung: Indem die rhythmische Formbildung als flüchtig und flüssig bestimmt wird, erscheint es möglich, nicht mehr die Norm als Denkvoraussetzung der Normabweichung zu setzen, sondern die Normabweichung kann sich gleichsam ihre Norm jeweils selbst erschaffen.158 Der Autor, der diese konzeptuelle Vorlage in eigenständige und ausführliche Analysen von Rhythmen überführt hat, ist Henri Meschonnic. Man kann seine Theorie dabei als den Versuch klassifizieren, eine zugleich »anthropologische« und »kritische« Rhythmustheorie zu erstellen.159 Benvenistes entschiedene Wegführung von der metrischen Betonungsordnung wird genutzt, um die kritische Dimension der Auflösung eines vorhandenen Sinns (bzw. einer metrischen Struktur der Versfolgen) mit der anthropologischen Dimension der Genese einer eigenen rhythmischen Sinnstruktur zusammenzuführen: »Der Rhythmus ist nicht mehr der Wechsel von betontem und unbetontem Takt auf der lautlichen Ebene; der Rhythmus ist die Organisation der Bewegung der Rede in der Schrift durch ein Subjekt.«160 Dieses Konzept der Verstetigung aber bleibt von zwei Voraussetzungen abhängig: Die erste davon ist, dass die Theorie eine Trennung der sprachlichen und musikalischen Typen des Rhythmus mit aller Konsequenz vertreten muss.161 Die Musik verfehlt für Meschonnic das mit der Formel von der flüchtigen Form angezeigte Potenzial, weil sie quasi zugleich auf spätere und auf frühere antike Traditionen verweist: »La musique a suscité et suscite encore un syncrétisme des tendances pythagoricienne et héraclitéenne qui se résout en adoration de l’ordre.«162 Der Rhythmus wird bei Meschonnic gleichsam direkt in seiner Funktion als interpretierende zweite Ablaufschicht der sprachlichen Signifikanten geboren (der Tanz etwa wird als möglicher vorsprachlicher Ursprung des Rhythmischen explizit zurückgewiesen).
Vgl. die zu Benveniste ganz konträre Aussage bei Ghattas 2009, Rhythmus der Bilder, S. 36: »Platon ist nicht der Erste, der den Rhythmus mit Begriffen wie ›Ordnung‹, ›Gesetz‹ oder ›Gliederung‹ in Verbindung bringt. Auch vor ihm begreift man den Rhythmus als das, was ›die Menschen in seinen Banden hält‹«. 158 Vgl. auch Henri Maldiney, »L’Esthétique des rythmes«, in: Regard, Parole, Espace, Lausanne 1973, S. 156: »Les chemins de la forme sont des ›chemins qui marchent‹ ou des courants sans rives. Loin d’être un vecteur, repérable et calculable par rapport à un système de référence permanent, une forme esthétique crée son système de référence à chaque instant décisif de son autogenèse«. 159 Vgl. zu dieser Einordnung auch Jürgen Trabant, »Rhythmus versus Zeichen. Zur Poetik von Henri Meschonnic«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Bd. 100 (1990), S. 193-212. 160 Henri Meschonnic, »Rhythmus«, in: Christoph Wulf (Hrsg), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997, S. 613. Dieser kurze Text bietet eine hilfreiche Zusammenfassung der Theorieziele in deutscher Sprache (übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Trabant). 161 Vgl. Meschonnic 1982, Critique du Rythme, S. 127: »Faire de la musique et de la poésie les substituables d’une même série présentative, c’est nécessairement retirer le rythme au sens«. 162 Ebda., S. 169
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Als zweite Voraussetzung ergibt sich damit aber, dass die Theorie von Meschonnic nicht nur vom Vorhandensein von Sprache, sondern sogar vom Vorhandensein der spezifischen Vorlage des französischen Versmetrums abhängig erscheint (bzw. in diesem Kontext weitaus stärker ihre Überzeugungskraft entfalten kann). Alles hängt davon ab, dass eine mehrschichtige, aber durchaus weiterhin »digitale« Analyse von abgestuften Akzentstärken und Gegenbetonungen der rhythmischen Verlaufslinien im Sprachvers bereits den Anspruch einer »kinetischen« Auflösung des gegebenen Sinns erfüllen kann.163 Dem entspricht eine Auflistung, gemäß der Meschonnic Rhythmus definiert »[…] als Organisation der Bewegung des Sinns, als kontinuierliche Bewegung und als Akzentpluralität.«164 In dem deutschsprachigen Text muss noch stärker auffallen, dass die Organisation der Bewegung sowohl mit einer »analogen« und mit einer »digitalen« Zeichenqualität verbunden wird.165 Der silbenzählende Sprachvers ermöglicht es zudem stärker als der musikalische Rhythmus, die »digitale« Stufung der Betonungsgrade in einen »kontinuierlichen« Eindruck von verschiedenen Betonungsnuancen zu übersetzen.166 Meschonnic verweist damit auf eine Ausdeutungstradition, in der vor allem der biblische, aber auch jeder lyrische Text nur durch eine konkrete sprachliche Aktualisierung vollständig interpretiert wird.167 Seine Theorie ist daher anders als Benvenistes Formel von der flüchtigen Form nur schwer in die Theoriekontexte der Kulturwissenschaften übertragbar.168 Bei einer solchen Übertragung muss vor allem auffallen, dass in den französischen Texten, in denen die musikbezogenen Rhythmusbegriffe als Abweichungsfälle eines sprachbezogenen Rhythmusbegriffs behandelt werden können, letztendlich wieder das traditionelle Denkmodell von Norm und Abweichung bedient wird.169 Dieses Modell wird daher in einem musikbezogenen Kontext keine Abweichungen erzeugen, sondern mit den erprobten einzelwissenschaftlichen Analysekategorien nahezu zusammenfal-
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Vgl. dazu auch Angelika Corbineau-Hoffmann, »Rhythmus«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 1031. Meschonnic 1997, »Rhythmus«, S. 611 (bezogen auf den Rhythmus von Prosatexten wie der Bibel). Meschonnics Rhythmusästhetik lässt sich widerstandslos in eine musikalische Axiomatik der Diskontinuität zurückübersetzen. Vgl. Lucie Bourassa, »Articulation et rythme: matière, pensée et création dans le discours«, in: Michael Cowan/Laurent Guido (Hg.), Intermédialités, Heft 16 (2010), S. 206: »Les marques n’organisent pas seulement une signifiance, mais, tout comme les pauses, elles produisent un découpage dans le flux, des groupements et des intervalles, une forme de discontinuité«. Vgl. dazu auch Schrumpf 2011, Sprechzeiten, S. 23: »Vier und mehr Betonungsgrade können zwar noch bewusst hergestellt, von Ungeübten aber hörend kaum mehr unterschieden werden. Andererseits reichen binäre Kategorisierungen (entweder ›betont‹ oder ›unbetont‹) zur Bewertung von Silbenakzenten in Prosa-Sprachaufnahmen in den seltensten Fällen aus«. Vgl. zu diesem Aspekt von Meschonnics Theorie auch Kerckhove 1995, Schriftgeburten, S. 114ff. Vgl. Brandstetter 2005, »Rhythmus und Lebensanschauung«, S. 33 zur Absetzung gegen Meschonnic: »Das Thema Bewegung und Körper (auch nicht die Körperlichkeit des Sprechens) spielt – auffällig genug – für die Theorie Meschonnics kaum eine Rolle«. Vgl. zum Beispiel Meschonnic 1982, Critique du Rythme, S. 82: »Une théorie du rythme est une théorie du sens non parce que le rythme est le sens, mais parce que le rythme est en interaction avec le sens«.
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len (und für dieses Ergebnis scheint sich der Aufwand kaum zu lohnen, der mit der Adaption der komplexen Theoriesprache verbunden ist).170 Auch Deleuze verbleibt an der einen Stelle, an der seine Ausführungen zu Differenz und Wiederholung konkretisiert werden, im Rahmen dieser spezifisch sprachmetrischen Voraussetzungen: »Die metrische Wiederholung ist eine regelmäßige Zeiteinteilung, eine isochrone Wiederkehr identischer Elemente. Eine Dauer aber existiert nur dann, wenn sie durch einen betonten Akzent bestimmt, von Intensitäten gesteuert wird. Man würde sich über die Funktion der Akzente täuschen, wenn man behauptete, sie reproduzierten sich in gleichen Intervallen. Die betonten und intensiven Werte wirken im Gegenteil durch die Erzeugung von Ungleichheiten, Inkommensurabilitäten in metrisch gleichen Dauern oder Räumen. Sie schaffen ausgezeichnete Punkte, privilegierte Augenblicke, die stets eine Polyrhythmie kennzeichnen.«171 In der Musik ist jedoch eine Akzentqualität mit dem Metrum bereits gegeben, anstatt gegen das Metrum erst generiert zu werden. Das Axiom der Polyrhythmie ist im mehrschichtigen Zeichenmodell der Sprache viel einfacher bereits in einem traditionellen Normmodell gegeben, während es sich in Musik und Tanz gegen die dominante Akzentsukzession durchsetzen muss. Dies kann einen Kategorienfehler auslösen, wenn der ursprünglich musikalische Begriff in einer vorschnellen Analogie von den sprachbezogenen wieder zurück auch auf musikalische Ablaufmuster übertragen wird (wie im folgenden Zitat, dessen Aussage für den zweiten Bereich trivial und für den ersten Bereich in gewisser Weise anmaßend erscheint): »Auch der geringste Tanz ist immer polyrhythmisch, so wie auch das kleinste Gedicht immer vieldeutig ist.«172 Auch bei einer Übertragung dieses Ideals des Polyphonischen auf das einzelne Schriftzeichen wird auffallen, dass diese Behauptung im Französischen aufgrund der stärkeren Differenz von Laut- und Schriftfolge besser und einfacher funktioniert.173 Benvenistes Konzept der flüchtigen Form erlaubt demgegenüber die metaphysische Aufladung des Rhythmus zum Beispiel zu einer »Differenzierungs-Bewegung, in der nichts differiert.«174 Die Idee ist dabei immer diejenige, dass Rhythmus zwar einen Formprozess auslöst, aber dieser Prozess im Rhythmus auch so verstetigt werden kann, dass er niemals sein kristallinisches Ende erreicht. Die mit dem Rhythmusbegriff verbundene Vorstellung in der Erkenntnistheorie ist also diejenige der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt (oder eines Münchhausen, der sich aus seinem Trilemma
170 Vgl. Martin Zenck, »Wiederholung – Eine grundsätzliche Kategorie nicht nur der Musik«, in: Archiv für Musikwissenschaft 70 (2013), S. 71, der die Theorie so zusammenfasst, dass »[…] sich eine regelmäßig repetitive Versstruktur und eine relativ freie, expressionistische Akzentsetzung einander überlagern«. 171 Deleuze 1992, Differenz und Wiederholung, S. 39. 172 Georges Didi-Huberman, »Reglos Tanzend«, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München 2007, S. 204. 173 Vgl. dazu Derrida 1974, Grammatologie, S. 161: »Ein und derselbe Signifikant kann einen einzigen oder mehrere lautliche Werte besitzen, er kann homophon oder polyphon sein«. 174 Durie 1997, »Spur und Rhythmus«, S. 157.
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am eigenen Schopf herauszieht). Der Rhythmusbegriff ist dann zwar in der kritisierten metrischen Ausgangsversion und in der erwünschten anti-metrischen Endversion universal einsetzbar, aber der entscheidende Übergang von der einen in die andere Version erfolgt mithilfe eines engen Argumentationsvorrats. Er ist bei Benveniste wie bei Meschonnic an die Bedingungen einer abzählenden statt akzentuierenden Sprachnorm gebunden, da nur dann die metrische Akzentpulsation abgewehrt, aber die ebenso zeichenhaft-diskrete rhythmische Akzentpluralität beibehalten werden kann. Eine derartige Kategorienverschränkung ist zudem nicht auf den einen, wenn auch besonders wichtigen Fall der französischen Metrik beschränkt. Auch für den amerikanischen Pragmatismus kann man zeigen, wie eine Variante der »esoterischen« Rhythmusauffassung auf die entstehende nationale Verslehre übertragen werden soll: »But this affection of consciousness, the passing of the perception of rhythmic forms arising fortuitously on our environment – as the roll of thunder or the run of wind in tall grass – through the sensorium into the subconscious, is experiential in its nature.«175 Die »analog-binären« Rhythmen der Naturzyklen stehen nicht mehr in einem Gegensatz zum rationalen Subjekt (bzw. zur Analyse der strukturierten Sprachrhythmen), sondern binden diese beiden Aspekte über den Begriff der Erfahrung aneinander, wie er in der Kunsttheorie von John Dewey vertreten wird. Dessen Definition des Rhythmus als »geordnete Variation des Wandels« wird jedoch zumeist ohne den direkt folgenden Satz zitiert, der seine Ästhetik weiterhin an die Bedingung einer minimalen Verräumlichung zurückbindet: »Ein gleichmäßig dahingleitender Fluss ohne die Veränderung von Stromstärke und Geschwindigkeit hat keinen Rhythmus.«176 Deweys Ideal einer »Wiederherstellung der Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen«177 stützt sich erneut auf das empirische wie ästhetische Faktum einer non-zyklischen Aktualisierung von rhythmischen Ereignisfolgen. Das Element der Störung oder des Widerstandes wird jedoch nicht nur als kinetische Infragestellung von diskreten Ablaufeinheiten, sondern auch durch Abweichungen von den kontinuierlichen Bewegungsformen konstituiert.178 Es werden zwar bestimmte Prämissen der »esoterischen« Rhythmustheorien übernommen, aber zugleich ermöglicht der Pragmatismus ein Konzept rhythmischer Pulsationen, das sich nahezu vollständig von der starren Polaritätenlehre freihält. Für die »kritischen« Rhythmustheorien gilt hingegen, dass diese in ihren Prämissen von der »esoterischen« Auffassung weit entfernt scheinen, aber in den aufgestellten Resultaten
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Mary Austin, The american Rhythm: studies and reëxpressions of amerindian songs, Boston 1930, S. 3. In diesem Programm steckt auch eine Ideologie: Der »amerikanische« Rhythmus wird vom Jazz der Afroamerikaner weggeführt und mit dem von den Indianern eroberten Landbesitz assoziiert (Ebda., S. 44). John Dewey, Kunst als Erfahrung, übs. von Christa Velten, Gerhard vom Hofe und Dieter Sulzer, Frankfurt a.M. 1988, S. 179. Vgl. Ebda., S. 18. Vgl. Ulrich Pütz, Der Rhythmus der Erfahrung in der Ästhetik, Ethik und Logik John Deweys, Diss., Bochum 2000, S. 160: »Die aktive rhythmische Formgebung erfordert Widerstände, die Spannung erzeugen und somit eine periodische Anhäufung und Freisetzung interaktiver Energien bewirken«.
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wie deren Fortsetzung wirken. Es ist verblüffend, mit welcher Mühelosigkeit einzelne Texte manchmal sozusagen direkt von Klages zu Deleuze modulieren.179 Ohne eine Referenz auf die kulturkonservativen Vorläufer wird die Terminologie einer »polaren« und einer negativ eingefärbten »digitalen« Zeichenqualität auch von Autoren wie Jean Baudrillard weiter vertreten.180 Die Konfrontation des Rhythmus mit atonalen, dissonanten und polyphonen Zuschreibungen erzeugt einen größtmöglichen Gegensatz zur reaktionären Gesellschaftsutopie der ersten Welle der Rhythmusforschung: In den Rhythmus soll ein Element der Unordnung statt Ur-Ordnung hineingelesen werden. Dennoch bleiben die »kritischen« Rhythmustheorien bis in die Details hinein von einer »kinetischen« Umdeutung der metrisierten zeitlichen Mittelebene abhängig.
5.5 5.5.1
Orientierungen: Anpassungen der Mittelebene Der Rhythmus und das Mondgesicht
Die Frage einer Akzeptanz oder Ablehnung von ausdehnungslosen Zeitpunkten produziert für die verschiedenen Rhythmustheorien zwei klar voneinander getrennte Lager. Ein Großteil der empirischen Forschung nutzt das Konzept als unhinterfragte Voraussetzung zur Beschreibung von metrisch regelhaften wie von rhythmisch geweiteten Ablaufstrukturen. Die Mehrzahl der »kritischen« Rhythmustheorien plädiert für eine zumeist ebenso unhinterfragte Zurückweisung der Zeitpunkt-Kategorie, weil die Projektion der immer gleichen Punktvorstellung den direkten Zugriff auf die stets veränderliche Phänomenalität des Rhythmischen unmöglich macht. Dieser Konflikt zwischen einer selbstverständlichen Gliederungsfunktion und einer selbsttäuschenden Ablauflogik von Zeitpunkt-Folgen kann zudem nicht durch eine Verschiebung in die beiden Zeitebenen der beständigen Oszillationen oder der beharrenden Ordnungsvorstellungen umgangen werden. Als simulierende Projektionen sind Zeitpunkte an die engen und eindeutigen Grenzen der psychologischen Gegenwart gebunden: Man kann nur innerhalb dieser Grenzen sinnvoll davon sprechen, dass ein phänomenaler Rhythmus von einem präformierten Metrum überlagert wird, und daher ist eigentlich auch nur innerhalb dieser Grenzen die Aussage sinnvoll, dass ein phänomenaler Rhythmus sich von diesem überformenden Metrum emanzipiert. Die Akzeptanz eines Zeitpunkt-Rasters scheint allerdings selbst noch »irreguläre« Rhythmen mit einer metrischen Logik zu versehen, während die Ablehnung dieser Rasterung sogar »regulären« Rhythmusfolgen eine gewisse Unabhängigkeit von einer metrischen Verlaufslogik verleiht. So eindeutig die Projektion von Zeitpunkten dabei die Theorien auf das empirische Zentrum der psychologischen Gegenwart zurückverweist, so unbegrenzt erscheint an-
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Vgl. etwa Claudia Röser, »Raumgewinn: Rhythmus und Raum in der Moderne. Rilkes Sonett ›Atmen‹«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie 7/1 (2013), S. 104f. 180 Vgl. Jean Baudrillard, Von der Verführung, übs. von Michaela Meßner, München 1992, S. 216ff.
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dererseits das Konglomerat der Vorbehalte, das in dieser kritischen Zurückweisung auf die Zeitpunkt-Kategorie projiziert wird. Die Identifikation der rationalistischen, inhaltsleeren und schlecht abstrakten Punktvorstellung mit den zerstörerischen Kräften der Zivilisation ist sozusagen selbst der eine geometrische Punkt, an dem sich die verschiedensten Autoren und Theorien allesamt zu treffen scheinen. Die Kritik am »cartesianischen« Koordinatennetz, in dem die abstrahierten Zeit- und Raumpunkte symbolisch verdichtet sind, verbindet eine modernistische Ästhetik und eine reaktionäre Modernekritik.181 Die Allianz zwischen einer Anzahl von ansonsten höchst unterschiedlichen Autoren, die durch diesen einen Aspekt der Ablehnung von Zeitpunkten ausgelöst wird, begründet sich vermutlich vor allem aus einer sehr konstanten Hypothese der neuzeitlichen Zeittheorie, in der ein Vorrang der »subjektiven« Erlebniszeit anstelle der »objektiven« Uhrzeit auf diesem Weg begründet wird: »Den Punkt gibt es nicht. Die Annahme des Punktes ist die größte und fundamentalste Täuschung, ja Verführung des logischen Denkens. Insofern gibt es auch keinen Zeitpunkt.«182 Eine geweitete Anwendung dieses Arguments findet sich in vielen Beschreibungen, in denen die Entfremdung des neuzeitlichen Subjekts mit einem Gegensatz zwischen souveränem Zeiterleben und punkthaft mechanisierten Existenzformen zusammengeführt wird (wie im folgenden Zitat von Siegfried Kracauer): »Sein Dasein zerfällt in eine Reihe organisatorisch geforderter Tätigkeiten, und nichts entspräche mehr der Mechanisierung, als daß er gleichsam zum Punkt sich zusammenzöge, zum nutzbaren Glied der intellektuellen Apparatur.«183 Dieselbe Vorstellung findet sich aber in Sedlmayrs konservativer Kritik an der modernen Kunst: »Verloren ist ihm die Gegenwart; sie ist ihm nicht das Stillstehen der Zeit in dem ›Augenblick‹, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren, sondern nur ein ausdehnungsloser Punkt, zwischen dem, was nicht mehr und dem, was noch nicht ist.«184 Und genau diese Abgrenzung verbleibt auch dort erkennbar, wo die abstrakten Bildersprachen verteidigt werden, die von Sedlmayr bekämpft worden sind: »Der Augenblick im Bild und als Bild ist dann nicht als Zeit-Punkt aus dem Kontinuum möglicher Zeitpunkte relevant, sondern als Gestus, wie Barthes im Rückgriff auf Diderot und Brecht formuliert.«185 Es ist diese symbolische Funktion von Zeitpunkten, durch die sich reaktionäre und progressive Ästhetiken des 20. Jahrhunderts beinahe beliebig miteinander verbinden lassen. Vor allem im Kontext der »kritischen« Rhythmustheorien bleibt dieser Vorstellungskomplex von grundlegender Bedeutung. Als konkretes Beispiel kann das an einer Engführung der beiden Musikphilosophien von Christian Grüny und Gunnar Hindrichs
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Vgl. zur Rückführung der Zeitpunkte auf das cartesianische Koordinatensystem Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2 2000, S. 26: »Als Subjekt ohne Körper aber wurde das Ego cogito ganz zwangsläufig zum euklidisch ausdehnungslosen Punkt. Er stand der Welt als reiner Ausdehnung oder eben geometrischer Figuration also wie eine leere mathematische Variable gegenüber«. 182 Cramer 1993, Zeitbaum, S. 191. 183 Kracauer 1977, Ornament der Masse, S. 45f. 184 Sedlmayr 1951, Verlust der Mitte, S. 170. 185 Brandstetter 2005, Bild-Sprung, S. 151.
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verdeutlicht werden (die Opposition zum Zeitpunkt-Denken vereinigt Autoren, die ansonsten in ihren methodischen Prämissen kaum zusammenzuführen sind).186 Die Parallelität der Ablehnung verlangt nach Erklärungen, in welcher Weise die Zeitpunkt-Kategorie überhaupt noch verteidigt werden kann. Gerade in der vorsichtigen Argumentationshaltung von Grüny liest sich jedoch die entsprechende Passage eher wie das Referat eines geteilten kulturellen Vorurteils: »Bewegung ist zeitliche Form, und diese Zeitlichkeit muss ernstgenommen werden. Die Bewegung lässt sich nur abstraktiv in Phasen und überhaupt nicht in Punkte zerlegen bzw. und das ist entscheidend, sie ist nicht aus ihnen zusammengesetzt. Sie muss kontinuierlich gedacht werden, als Übergehen nicht von einem Pol zu einem anderen, sondern als irreduzible Prozesshaftigkeit.«187 Die stärker zugespitzte Position von Hindrichs zielt dagegen auf die Forderung, diese Prozessualität direkt in die Genese des Metrischen einzuschreiben: »In die oben eingeführte Begrifflichkeit übersetzt heißt das, dass das Metrum nicht von dem Begriff der Vergleichungsgrößen, die man addiert oder dividiert, her verstanden werden kann, sondern aus der erzeugenden Kontinuität einer fließenden Größe.«188 Die beiden Musikphilosophien stützen sich dabei auf dieselbe Referenz: Christopher F. Hastys programmatisch betiteltes Buch Meter as Rhythm unternimmt den Versuch, das psychologische Metrum von der Ausgangsbedingung der nicht-phänomenalen Zeitpunkte rigoros abzutrennen. Dazu wird eine Theorie der Projektion aufgestellt, wonach der Beginn einer zweiten Zeitspanne psychologisch mit dem Potenzial ausgestattet ist, durch eine äquidistante Dauer dieser zweiten Zeitspanne die Dauer einer verklungenen ersten Zeitspanne rhythmisch-metrisch zu vollenden. In diesem Modell ist der Beginn der ersten Zeitspanne metrisch akzentuiert (da erst von diesem Beginn die zweite Zeitspanne ihre rhythmische Bestimmung erhält), aber zugleich phänomenal unbestimmt (da dieser Beginn nicht als Zeitpunkt erfolgt, sondern als Präsenz einer Zeitspanne psychologisch immer schon erfolgt sein muss). Hastys Modell modifiziert also den »digitalen« Vorrang des Anfangs vor dem Ende innerhalb eines klanglichen Einzelereignisses, indem der Anfang des zweiten Ereignisses einseitig aus dem Ende des ersten Ereignisses abgeleitet wird. Genau diese Transformation ist in Hastys eigenen Beschreibungen zu erkennen, in denen Projektion definiert wird als »[…] the process in which a mensurally determinate duration provides a definite durational potential for the beginning of an immediately successive event.«189 Zu den ersten Erkenntnissen der empirischen Experimente einer »subjektiven Rhythmisierung« gehört jedoch, dass die Äquidistanz der vollständigen realen Zeitstrecken durch die rhythmische Gruppierung verletzt werden kann, ohne dass die 186 Vgl. die Sammelrezension von Tobias Janz, »Revolution – Übergang – Autonomie. Drei neue Philosophien der Musik«, in: Musik & Ästhetik, Heft 76 (2015), S. 71: »Der Unterschied ihrer Ansätze ist allerdings so grundsätzlich, dass ein die Gegensätze harmonisierender Mittelweg schwer vorstellbar scheint«. 187 Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 149. 188 Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014, S. 123. 189 Christopher F. Hasty, Meter as Rhythm, New York 1997, S. 84.
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Stabilität der wahrgenommenen Zeitpunkt-Akzentuierungen sich verringert.190 Auch Hastys Theorie muss die Zeitstrecken also weiterhin im Kontext phänomenaler Realisierungen definieren: Es handelt sich stets nur um ungefähr gleiche und keineswegs um »digital« vorgegebene, exakt gleiche Zeiterstreckungen. Es gibt demnach einmal eine Identität der metrischen Punktabfolge gegen die chronometrische Zeit (eine Art »Rubato-Resistenz«, die das Punktmetrum gegen Temposchwankungen stabil hält, weil es aus der »vertikalen« Interaktion verschiedener Pulsreihen entspringt, und eben nicht aus der »horizontalen« Kontinuität einer einzelnen Pulsreihe); bei Hasty hingegen wird eine Identität der Zeitspannen mit dem Ziel unterstellt, das Metrum direkt aus der phänomenalen Zeiterfahrung extrahieren zu können (wobei durch diese »Rubato-Relevanz« vor allem die Interaktionen zwischen notational fixierter und performativ kreierter Zeit tatsächlich besser abgebildet werden).191 Ein Zeitpunkt-Metrum internalisiert die realen Distanzen in ein ideelles Raster genau gleicher Abstände, Hasty dagegen implantiert dieses äquidistante Raster in die reale chronometrische Zeit. Die Theorie von Hasty beruht in gewisser Weise auf einer Übertragung der sprachmetrischen Isochroniethese in einen musikalischen Theoriekontext; sie besitzt daher ironischerweise ihre größte Relevanz nicht in den »analog-binären« zeitphilosophischen Prämissen, sondern in den »digital-pluralen« analytischen Ergebnissen: Hasty beschreibt überzeugend, wie durch den motivischen Gehalt die Dauern der metrischen Projektionen auch gedehnt oder komprimiert werden, sodass eine Abfolge differenter Zeitlängen dennoch in einer einzelnen metrischen Auffassungsreihe zusammengeführt werden kann.192 Die Bedeutung von Hastys Theorie gerade zur Beschreibung dieser geweiteten Rhythmusmuster begründet sich aus einer Verschiebung, die sich gegenüber der sprachlichen Isochroniehypothese in einem musikalischen Taktmetrum ergibt: erst in einer erweiterten, non-isochronen musikalischen Metrik ist die sprachmetrische Ausgangsbedingung der Isochronie gegeben, nämlich die Möglichkeit zur Einbettung einer schwankenden Anzahl von unbetonten Silben zwischen die betonten Einzelsilben.193 Für diese »irregulären« Pulsationen muss die Punktbestimmung der Anfänge der veränderlichen Zeitstrecken jedoch psychologisch der Bestimmung einer punktlosen Phänomenalität von gleichartigen Zeitstrecken eigentlich schon wieder vorangehen. Hastys Annäherung des Metrums an die Phänomenalität des Rhythmus erzeugt zugleich eine besonders metrisierte Bestimmung des Rhythmischen: Die Theorie hat ihre 190 Vgl. bereits Kurt Ebhardt, »Zwei Beiträge zur Psychologie des Rhythmus und des Tempo«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 18 (1898), S. 118: »Daraus geht hervor, dass die Einführung der rhythmischen Betonung von störendem Einfluss auf die Innehaltung der Zeiten ist«. 191 Vgl. die Analyse von chronometrischen Fermatendauern als ergänzte metrische Zeiteinheiten (dies ist eine ebenso alte wie kontroverse Theorieidee) bei Hasty 2014, »Rhythmusexperimente«, S. 168ff. 192 Vgl. Hasty 1997, Meter as Rhythm, S. 113f. 193 Vgl. schon Groot 1932, »Der Rhythmus«, S. 85 zum wohl zentralen Argument gegen die unbedingte Axiomatik der sprachmetrischen Isochroniethese: Rhythmus liegt bereits dort vor, wo die Isochronie zwischen zwei »Hebungsabständen« noch gar nicht gemessen werden kann, weil nur eine einzelne Hebung vorliegt.
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Tauglichkeit für musikwissenschaftliche Analysen am stärksten bewiesen, wenn mit dem Modell der Projektionen, die auf eine bestätigende zweite (und zumeist auch dritte) Zeitspanne angewiesen sind, das Beat-Finding und damit die Erzeugung eines psychologischen Zeitpunkt-Metrums beschrieben wird.194 Selbst zur Analyse elektronischer Tanzmusik kann dieses Projektionsmodell adaptiert werden: »If the works Hasty analyzes call for meter as rhythm, electronic dance music seems to suggest rhythm as meter. At the same time, a projective approach might also provide a way of coming full circle: meter as rhythm as meter (and so on).«195 Die Theorie von Hasty besitzt also das Problem, dass sein Prinzip der metrischen Projektion genau das verabsolutieren soll, was wir schlecht können, nämlich chronometrische Zeitstrecken auch nur einigermaßen exakt zu bestimmen, und dafür genau das ausgeschlossen werden soll, was diesen Vorgang vereinfacht, nämlich die Vorstellung »leerer« Zeitintervalle und deren Ausrichtung an initiierenden Zeitpunkt-Abfolgen. Die Theorie wird in der »einzelwissenschaftlichen« Forschung völlig anders rezipiert als in den »kritischen« Rhythmustheorien: Auch Justin London verweist in seinem Standardwerk zur musikalischen Metrik vor allem darauf, dass in Hastys Alternativentwurf entgegen aller Beteuerungen eine diskrete Zeitkonzeption vorausgesetzt bleiben muss.196 Hasty unterzieht den Rhythmus stattdessen rhetorisch einer Logik der Verlangsamung, die eine eher meditative als motorische Aufmerksamkeitsteuerung einfordert: »Das Gefühl in den Rhythmus einzubeziehen heißt, ihn als ästhetische Kategorie zu sehen. Als solche beinhaltet er Wert und Intensität – so können Dinge etwa als mehr oder weniger rhythmisch betrachtet werden; wo weniger Aufmerksamkeit, weniger Sorgfalt ist, wo es weniger auf die Dinge anzukommen scheint, gibt es weniger Rhythmus.«197 Diese Theorie ist anti-metrisch, weil die mnemotechnische und kollektivierende Funktion des Rhythmus genau dieses Gesetz der Rückkopplung teilweise außer Kraft setzen kann. Auch bei Hasty wird stattdessen die »kritische« Theorieausrichtung in eine »esoterische« Beschreibungssprache überführt (mit neuerlich homöopathischen Tönungen): »In der substanztheoretischen Perspektive sind Dinge zuerst einmal als selbstgenügsame, umgrenzte Entitäten voneinander getrennt. Danach ist Artikulation eine Grenze, die trennt, und nicht ein Verbinden, das heilt oder ganz macht.«198 Die zustimmende Rezeption der Theorie von Hasty in der »kritischen« Rhythmusauffassung ist nicht daran ausgerichtet, dass sich mit dieser Theorie die »atonal« geweiteten Rhythmen besser beschreiben lassen, sondern sie ist daran ausgerichtet, dass sich mit dieser Theorie der Normalfall einer metrisch regulierten Rhythmusabfolge nur schlecht beschreiben lässt. Diese Vermutung kann man implizit bestätigen, wenn man zu den Musikphilosophien von Grüny und Hindrichs zurückkehrt, deren teilweise eng 194 Vgl. Danuta Mirka, Metric Manipulations in Haydn and Mozart. Chamber Music for Strings, 1787-1791, Oxford 2009, S. 30. 195 Mark J. Butler, Unlocking the Groove. Rhythm, Meter, and Musical Design in Electronic Dance Music, Bloomington 2006, S. 105. 196 Vgl. London 2012, Hearing in Time, S. 80. 197 Hasty 2014, »Rhythmusexperimente«, S. 157. 198 Ebda., S. 164f.
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an Hasty angelehnte Definitionen für den Rhythmus erkennbar auch an diesem Ziel einer Abwertung des Normalfalls ausgerichtet sind. Hindrichs findet für diese kinetisch modifizierte Rhythmusauffassung eine ebenso elegante wie neuartige Formel: »Der musikalische Begriff für werdende Klänge lautet ›Rhythmus‹.«199 Eine derartige Definition muss nicht direkt zurückgewiesen werden, aber sie setzt eine Distanz zu empirischen und einzelwissenschaftlichen Auffassungen voraus, die erwähnt werden sollte. Fragwürdig muss vor allem erscheinen, dass Rhythmus damit zwar dem »analogen Extremwert« des kontinuierlichen Einzeltons zugesprochen werden kann, aber der »digitale Extremwert« der diskreten Punktreihe die Definition nicht erfüllt. Tatsächlich ist eine sophistische Ungenauigkeit in der Definition spürbar zwischen der Pluralbildung der Klänge und der Partizipialform des Werdens: Wenn ein einzelner Klang schon rhythmisch wäre, dann müsste unklar sein, warum Rhythmus einen Plural mehrerer aufeinander folgender Klänge überhaupt verlangt, und wenn dieser Plural für die Rhythmuswirkung entscheidend ist, dann erfüllen in der Sukzession zwar zuerst der eine, und danach der andere Klang die Bedingung des Werdens, niemals aber beide zusammen. Es gibt keine werdenden Klänge, es gibt nur einen Klang, der gerade im Werden begriffen ist, und einen, der es schon gewesen ist (oder noch nicht ist). Rhythmus beruht nicht auf einer »Wird-Funktion«, in der die phänomenale Präsenz des zweiten sich auch auf den ersten Klang überträgt, sondern auf einer »Wirts-Funktion«, in der bereits ein erster Klang von einer Punktbestimmung definiert ist, die sich auch auf den zweiten Klang überträgt. Die Gleichsetzung mit dem zeitlichen Werden widerspricht also dem »inneren Decrescendo« des einzelnen Klangs: Die Formulierung erzeugt eine merkwürdige Idealisierung, weil sie ein Rückwärts-Lesen des nach vorne gerichteten Werdens verlangt, sobald die erste werdende Zeitspanne nur durch ihr Ende und erst die zweite werdende Zeitspanne auch durch ihren Anfang bestimmt werden soll; der Anfang des zweiten Klangs wird wie bei Hasty nicht durch eine eigene Punktbestimmung, sondern durch die phänomenale Endbestimmung des verklungenen ersten Klangs abgebildet: »Werdende Klänge begründen das einheitliche Kontinuum, indem sie statt Punkten in der Zeit sich erfüllende Zeit darstellen. Und dieses Kontinuum ermöglicht die Vergleichungsgrößen des musikalischen Früher und Später, indem das Werden des einen Klanges das Werden des anderen Klanges beendet.«200 Metrisch »wertende« Klänge besitzen jedoch einen psychologischen Vorteil gegenüber metrisch »werdenden« Klängen, wenn sie sich mit den Schalleigenschaften eines mehr oder weniger rasch abklingenden Attack Points besser verbinden lassen. Daher wird derselbe »Vorrang des Analogen« in der Musikphilosophie von Grüny mit einem differenten logischen Modell begründet: »Rhythmus wird hier nicht von einer gegebenen zeitlichen Ordnung her verstanden, die in der Regel als regelmäßige Abfolge von Ereignissen aufgefasst wird, sondern als
199 Hindrichs 2014, Autonomie des Klangs, S. 126. 200 Ebda., S. 125.
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Gliederungsform von Kontinuität, deren Regelmäßigkeit nicht von vornherein vorausgesetzt ist, sondern sich erweisen muss bzw. auf dem Spiel steht.«201 Der »Vorrang des Analogen« wird hier durch den Wechsel vom Modell (X+1) der »digitalen« Addition rhythmischer Ablaufschichten zum Modell (1-X) der Subtraktion aus einer gegebenen »dichten« Strukturqualität gewährleistet. Grüny setzt nicht mehr Kontinuität als Bedingung des Rhythmus voraus, sondern er setzt Rhythmus einer Bedingung der Kontinuität aus (so wie man ein einheimisches Tier in eine exotische Lebensumgebung umsiedelt). Rhythmus bleibt damit aber von einer minimalen Zergliederung des phänomenalen Zeitkontinuums weiter abhängig: »Als Rhythmus sieht man das sich musikalisch Ereignende unter dem Gesichtspunkt seiner Diskontinuität, als Gestisches unter dem Gesichtspunkt seiner Kontinuität an.«202 Beide Musikphilosophien vermeiden Maximalforderungen, wie sie sich nur in einem musikfernen, zumeist bildrhythmischen Kontext sinnvoll behaupten lassen. Die Ästhetik von Maldiney kann hierfür als Beispiel herangezogen werden: »Mais une configuration résultant de l’arrangement ou de la disposition instantanés d’un élément fluide ou fluent n’est pas un rythme : il y manque la continuité interne d’une durée, le geste du mouvant […]«203 Weil »flüssige« (temporale) Abläufe erst in ihrer minimalen Verräumlichung rhythmisch genannt werden können, muss die kinetische Umdeutung des Rhythmus aus einem »nicht-flüssigen« Ausgangszustand und damit als maximale Verzeitlichung des Raums abgeleitet werden. Zentraler Stichwortgeber ist dabei für Maldiney erneut die abweichende Etymologie von Benveniste: »L’acte d’une forme est celui par lequel une forme se forme: il est son autogenèse.«204 Auf diese Weise wird der Rhythmus als jene Form des zeitlichen Werdens bestimmt, die den Endzustand einer geregelten Ordnung nie erreicht (sodass gleichsam die erste werdende Zeitstrecke niemals zu ihrem Ende kommen darf). Realistischer ist es natürlich, Rhythmus weiterhin mit der Zeitsukzession mehrerer Ereignisse zusammenzudenken. Das relevante Zeitmodell ist dabei das wohl einfachste mögliche: es ist das Modell eines Ereignisses, auf das ein nächstes Ereignis folgt. Man definiert in diesem abstrakten Ablaufmodell zwei Wegpunkte A und B sowie eine Wegstrecke zwischen A und B. Die kinetische Umdeutung des Rhythmischen fordert nun, dass der Weg von A nach B bestimmt ist durch die Wegstrecke zwischen den beiden Ereignissen, wodurch der Endpunkt B für die Bestimmung dominant wird. Eine Punktdeutung verlangt dagegen, dass der Weg von A nach B bestimmt ist durch die beiden Eckwerte, weshalb der Anfangspunkt A für die Bestimmung dominant ist. Diese Differenz ist gleichsam das einfachste jener Tausend Plateaus, von dem aus alle anderen Dualismen und Divergenzen hergeleitet werden; es muss nur immerzu gelten, dass ein Vorrang der bewegten Zeitspanne vor den unbewegten Zeitpunkten bewahrt bleibt: »Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten unterge-
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Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 80. Ebda., S. 141. Maldiney 1973, »Esthétique des rythmes«, S. 157. Ebda., S. 155.
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ordnet: man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet.«205 Selbst diese Differenz lässt sich zudem weiter reduzieren auf eine scheinbar nichtige, tatsächlich aber entscheidende Prioritätenverteilung: Entweder es wird aus zwei gegebenen Zeitpunkten eine Zeitspanne erzeugt, oder es werden durch eine gegebene Zeitspanne zwei Zeitpunkte nur impliziert. Auch dies wird in Tausend Plateaus mit großer Klarheit offengelegt: »Glattes und Gekerbtes unterscheidet sich zuerst durch die umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt zwischen zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die Art der Linie (gerichtet-glatt, offene Intervalle; dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle).«206 Wichtig ist, dass auch eine gerade gezogene Linie eine negative ästhetische Bestimmung erhält, wenn sie als Verbindung zwischen homogenen und rationalen Ordnungspunkten gedacht wird (wie in der Vorstellung eines linearen technischen Fortschritts). Wichtig ist zudem, dass ein Punkt zwar als Ausgangsbedingung für jede Form der verräumlichten Zeit angesehen werden kann, aber als ausdehnungsloser Zeitpunkt auch dem Raum eigentlich nicht zugehörig ist.207 Der einzelne Punkt besitzt als sein einziges und eigenes Potenzial eigentlich nur dasjenige der Erzeugung eines zweiten Punkts. Der Dualismus von Punkt und Linie aber wird im Rhythmus eher ausgetragen, als dass er für den Rhythmus aufgrund zeittheoretischer oder ästhetischer Präferenzen in eine Richtung aufzulösen wäre. Zur Abbildung dieser Konfliktstellungen kann man einen bekannten kurzen Abzählvers heranziehen, der auf den Gegensatz zwischen den »geometrischen« und den »gestalthaften« Elementen in rhythmischen Figuren verweist: »Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.« Ein solcher Vers ist unzweifelhaft rhythmisch, aber ist für diesen Vers deswegen sinnvoll eher ein Vorrang der Punktbestimmung oder ein Vorrang der Linienbestimmung zu unterstellen? Man kann den ersten Halbvers sprachmetrisch als trochäische Folge von Anfangsakzenten lesen, sodass also auf dem ersten Punkt und dem Komma die Hebungen liegen, man kann ihn auch als Folge von vier kurzen Einzelimperativen lesen, die in sich stetig steigernder Richtungsanlage auf das Zielwort Strich hinzielen. Und zudem erscheint intuitiv eine Leseoption möglich, bei der die beiden Punkte gemäß der Isochroniethese ebenso viel Zeit erhalten wie danach das Komma und der Strich jeweils für sich. Der zweite Halbvers ermöglicht noch eindeutiger die üblichen sprachmetrischen Analysen, die zwischen Schema und individueller Erfüllung dualistisch unterscheiden, da die zum Ende hin iambische Folge durch das unterdrückte »und« zu Beginn der
205 Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 663. 206 Ebda., S. 666. 207 Vgl. als Gegenposition hierzu Schmidt-Biggemann 2006, »Pythagoräisches Musiktheater«, S. 20: »Der Punkt ist die anfängliche Bestimmung des Unbestimmten: Mit dem Punkt wird Raum konstituiert, denn jeder Punkt bestimmt einen Ort«.
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zweiten Vershälfte unklar belassen wird (anders als es in der Folge »und fer – tig ist – das Mond – ge sicht« der Fall wäre); auch hier ist eine stärker auftaktige Lesart zielend zum Hauptakzent Mond möglich. Der kurze Vers symbolisiert nicht nur den Konflikt zwischen Punktakzenten und Linienkontinuitäten, er referiert in gewisser Weise auch selbstreflexiv die Gründe dafür, warum eine »erweitert metrische« Theorie die ästhetische Überwindung des engen Modells von Schema und Erfüllungsfall innerhalb der Grenzen der »digitalen« Rhythmusanteile und nicht in einer Gegentheorie der »kontinuierlichen« Rhythmusanteile ansiedelt. Man kann den Vers erstens so lesen, dass in der ersten Vershälfte das »Komma« wörtlich als Trennungszeichen zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen vom Wesen des Rhythmus zu deuten wäre: Es besteht dann ein Konflikt zwischen einer Auffassung »Punkt-Punkt«, in der sich ein Vorrang des Anfangs vor dem Ende und eine Akzeptanz der diskreten Zeitstrukturierung symbolisch durchsetzt, und einer Auffassung »Strich«, für die erst das sinnfällige Ende und dichte Zeitstrecken einer rhythmischen Bewegung ihren Wert verleihen. Die konkrete Abfolge des Verses ist jedoch ernst zu nehmen: Die Auffassung »Punkt-Punkt« geht der Auffassung »Strich« voraus, sodass eine kinetische Rhythmustheorie stets nur als Unterdrückung eines vorhandenen Punkt-Potenzials verwirklicht werden kann. Der Gegensatz zwischen der Punktsukzession und dem einzelnen Strich verweist zugleich darauf, dass verschiedene rhythmische Lesarten nicht einfach in einer übergreifenden phänomenalen Erfahrung aufgehen, sondern selbst wiederum in getrennte Leseoptionen zerfallen. Für deren Bestimmung aber gilt sozusagen das Prinzip: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« (jede Form der rhythmischen Analyse zergliedert den Satz bereits in distinkte Einzelsilben und Zeichenstellen). Man kann den Vers aber zweitens auch so lesen, dass die zweite Vershälfte den Gegensatz zwischen Punkt und Strich nun umgekehrt nahezu gänzlich verleugnet: Die Handlungsanleitung verweist darauf, dass auch der Strich sich als kurze Einzelsilbe zum isolierten Zeitpunkt auflösen lässt, und auch der Punkt sich als konkrete Einzelstelle des gemalten Gesichts in phänomenale Präsenz übersetzen lässt. Will man die Selbstreferenz ins Extrem treiben, dann kann man sagen, dass die beiden Vershälften eine ziemlich gute Zusammenfassung vor allem der ersten Welle der Rhythmustheorie ergeben: Aus den »digitalen« Bestandteilen der ersten Vershälfte soll doch ein fertiges Ganzes entstehen. Auch für die zweite Welle der Rhythmustheorie symbolisiert das fertige Mondgesicht jedoch das Problem, dass die Kinetik einer fließenden Zeit sich in figürlichen Raumbildern besser beweisen lässt als in zeitlichen Sukzessionsreihen. Es gilt nun das Prinzip: »Wer zuletzt kommt, malt zuletzt« (der kinetische Rhythmusbegriff fließender Zeit geht unmerklich in räumliche Statik über). Der Konflikt zwischen Punkt und Linie erhält allerdings eine ganz veränderte Färbung, wenn man die Handlungsanweisungen mit einbezieht, die für die Malerei des 20. Jahrhunderts als Programm der Rhythmisierung konzipiert wurden (insbesondere bei Paul Klee und Wassily Kandinsky). Der Punktbegriff der bildnerischen Rhythmustheorien ist nämlich nicht mehr nur mathematisch, sondern auch in sich material aufgefasst: Er wird am einfachsten abgeleitet aus der Maltechnik mit der aufgesetzten Pinselspitze und wird als einzelner Raumpunkt, nicht als sich verdoppelnder Zeitpunkt
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bestimmt.208 Auch in einer taktilen Ableitung, wie sie vor allem August Schmarsow vertritt,209 erscheint der Punkt zwar als geistige Idealisierung, die aber zugleich auf eine anthropologische Bedingung bezogen wird: die Fläche ist das Tasten mit beiden Händen, der Punkt ist das Tasten mit dem einzelnen Finger (dem »digitalen« Körperteil).210 Der bewegliche Punkt, der die gezogene Linie erzeugt, ist demnach nicht eine Denkabstraktion, sondern ein konkreter Bewegungsvorgang: »Der Punkt (als Agens) bewegt sich weg, und es entsteht die Linie als erste Dimension. Verschiebt sich die fortbewegte Linie zur Fläche, so erhalten wir ein zweidimensionales Element.«211 Im malerischen Zusammenhang ist also der Punkt stärker phänomenal als die Linie: Der Punkt wird material mit dem Pinsel gesetzt, die Linie intentional zwischen gesetzten Punkten gezogen. Der Anfangspunkt erzeugt nicht zuerst einen weiteren Anfangspunkt, sondern eine Linie (weshalb der Punkt für Klee das Symbol des Chaos, des Urzustands vor der Ordnung ist).212 Dabei bleibt die rhythmische Bedingung einer notwendigen Anreicherung dieser ersten Struktur bestehen: Der bildnerische Punkt ist die minimale Präsenz der Ordnung im Chaos bzw. die minimale Gliederung der »flüssigen« Linienformen.213 Klee steht eher vor dem Problem, wie dem phänomenal bestimmten Punkt auch seine metrisierten Eigenschaften belassen werden können: »Der Punkt ist nicht dimensionslos, sondern unendlich kleines Flächenelement, das als Agens die Bewegung Null ausführt, es ruht. Die Beweglichkeit ist Vorbedingung zur Veränderung. Es gibt unbewegte Dinge. Der Punkt ist kosmisch als Urelement. Die Dinge auf der Erde sind in ihrer Bewegung gehemmt und müssen einen Anstoß erfahren. Die Urbewegung, das Agens, ist ein Punkt, der sich in Bewegung setzt.«214 Die Auseinandersetzung mit dem phänomenalen und psychologischen Begriff des Punktes findet sich ebenso bei Kandinsky: »Abstrakt gedacht oder in der Vorstellung ist der Punkt ideellklein, ideellrund. Er ist eigentlich ein ideellkleiner Kreis. Aber ebenso wie seine Größe, so sind auch seine Grenzen relativ. In realer Form kann der Punkt unendlich viele Gestalten annehmen.«215 Diese Gestalten kann man demnach nicht mehr genau begrenzen: Der Übergang vom »digitalen« gedachten zum phänomenalen gemalten Punktelement ist in sich »analog«
208 Vgl. Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926, S. 22: »Der Punkt ist das Resultat des ersten Zusammenstoßes des Werkzeuges mit der materiellen Fläche, mit der Grundfläche«. 209 Vgl. August Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft. Am Übergang vom Altertum zum Mittelalter kritisch erörtert und in systematischem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1905, S. 7. 210 Vgl. dazu auch Horst Wenzel, »Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 26. 211 Klee 1964, Bildnerische Denken, S. 24. 212 Vgl. zu dieser Symbolik auch weiter erläuternd Christiane Dessauer-Reiners, Das Rhythmische bei Paul Klee. Eine Studie zum genetischen Bildverfahren, Worms 1996, S. 190. 213 Daher ist eine Abgrenzung fraglich, die den »euklidischen« Kandinsky und den »kinetischen« Klee in einen dualistischen Gegensatz überführt. Vgl. dazu insbesondere Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, übs. von Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M. 2000, S. 29. 214 Klee 1964, Bildnerische Denken, S. 105. 215 Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 24.
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(bzw. stetig; was auch bedeutet, dass der Punkt in der Malerei ein Objekt der nonzyklischen Aktualisierung sein kann). Das verweist auf die fundamentale wie triviale Differenz zwischen Sukzession und Simultaneität. In den Bildkünsten liegt keine zeitliche Struktur vor, in der ein Anfang einen logischen Vorrang vor dem Ende erhalten kann, sondern beide Eckpunkte einer Wegstrecke erhalten grundsätzlich denselben räumlichen Status. Dies gilt auch bei dreidimensionalen Formen, für die Kandinsky einen erneut anderen Modus der Punktgenese vorschlägt: »In der Plastik und Architektur ist der Punkt das Resultat der Überschneidung mehrerer Flächen – er ist der Abschluß eines Raumwinkels und andererseits der Kernpunkt der Entstehung dieser Flächen.«216 In der Malerei erzeugt also der einzelne Punkt die Flächigkeit, in der Architektur hingegen die Mehrzahl der Flächen den einzelnen Punkt. Nur in der metrisierten Zeitsukzession der Musik besteht demgegenüber ein fundamentaler Konflikt zwischen den abstrakten Punkten und der phänomenalen Ausgefülltheit der Zeitintervalle. Insbesondere die einzelne Linie ist in der Praxis der Malerei eine eher nüchtern verhandelte und weiterhin vorläufige Struktur, da eine Linie immer noch weniger ist als eine Figur (oder auch nur eine Fläche), wohingegen das Lineare in der Theorie der musikalischen Zeit bereits eine stark idealisierte, endgültige Struktur darstellen kann, weil eine Linie bereits mehr ist als ein Punkt (oder eine Punktsukzession).217 Der Punkt ist also erst dann eine rationale Abstraktion, wenn er verzeitlicht wird, weil er dabei unvermeidlich die Zeit wiederum verräumlicht. Diese Bedingungen treten zwingend auch in der Malerei etwas stärker hervor, wenn der Blick auf die bildnerische Linie sich an den Prämissen der zeitorientierten Rhythmustheorien ausrichtet: »So schließt jede schön geschwungene Linie Bewegung in sich ein. Hier besteht kein Teil mehr für sich in gesonderter Existenz, sondern sie vereinigen sich alle zum einheitlichen Flusse einer Bewegung, jeder Punkt ist das Ergebnis der früheren und gibt die Vorbereitung auf die folgenden.«218 Die Bedingungen der zeitlichen Punktsukzession treten zudem immer dann zutage, wenn die figürlichen Raumelemente einer ornamentalen oder mechanischen Logik der Repetition unterworfen werden. Wenn Kandinsky also für die »Wiederholung einer Geraden«, die »Wiederholung einer Eckigen« und die »Wiederholung einer Gebogenen« anschauliche Beispiele vorführt, dann werden alle bildnerischen Linienstrukturen derselben »eckigen« Prämisse unterworfen, indem die gestalthafte Gesamtfigur dupliziert wird.219 Als letzte Variante einer medial verschobenen Bewertung der Punktkategorie kann zudem auf die utopisch-positive Bestimmung des einzelnen Punktes verwiesen werden, sobald dieser als nun eher metaphorischer Endzustand einer maximal komprimierten Zeitspanne konzipiert wird (was vor allem innerhalb der im letzten Teilkapitel erwähnten Ästhetiken der Plötzlichkeit und der passiven Epiphanien regelmäßig 216 217 218 219
Ebda., S. 34. Vgl. auch Gottfried Boehm, »Bild und Zeit«, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 23. Drost 1919, Lehre vom Rhythmus, S. 104. Vgl. Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 88.
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vorgeschlagen wird).220 Die Leitvorstellung ist also nicht mehr das abstrakte Auseinandertreten zweier ansonsten völlig identischer Zeitpunkte, sondern das ideelle Zusammenfallen zweier eigentlich ganz verschiedener Zeitpunkte: »Die Deckung zweier gleicher, nicht gleichzeitiger ›Jetzt‹-Punkte schafft im Augenblick des zweiten jenes Unbewußtheits-Glück, in dem man schon früh eine Aufhebung der Zeit erkannt hat.«221 Eine solche Struktur muss vom geometrischen Zeitpunkt zwar strikt getrennt verbleiben, aber beansprucht doch dessen wesentliches Merkmal der Ausdehnungslosigkeit: »Das Kontinuum der Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird im Augenblick aufgerissen, während er als Modus des Übergangs doch gerade die Voraussetzung für diese Kontinuität ist. Die Diskontinuität, die neben dem Augenblicksbegriff auch dem der Ewigkeit zu eigen ist, besteht also darin, daß der Augenblick auf einer Zeitachse gewissermaßen gar nicht eingetragen werden kann, weil er immer noch zwischen zwei so genannten Jetztpunkten liegen würde.«222 Es muss pragmatische Bedingungen geben, in denen sich die Zeitpunkt-Kategorie für das rhythmische Erleben nicht nur als das Gegenteil, sondern auch als Bestandteil phänomenaler Zeitpräsenz sinnvoll darstellen lässt. Der Konflikt zwischen Punkt und Linie führt letztlich zu einer Pattsituation: Zugunsten der kinetischen Rhythmusanteile kann man – ganz im Sinn der Theorie von Hasty – auf die notwendige Phänomenalität des Psychologischen verweisen. Es gibt grundsätzlich in der phänomenalen Wirklichkeit keine Zeitpunkte, sodass jede psychologische Wahrnehmung von Zeitpunkten eine phänomenale Präsenz bereits einer Zeitspanne voraussetzen muss.223 Es gibt umgekehrt aber auch eine Psychologisierung des Phänomenalen: Es kann kein Zweifel bestehen, dass bestimmte phänomenale Zeitspannen psychologisch als Zeitpunkt-Ereignisse verarbeitet werden. Die Pattsituation verweist also auf einen paradoxen Widerstreit: »Aber die Augenblicklichkeit der Tendenz bedeutet nur, daß der Augenblick selbst Tendenz ist, nicht Atom, und daß er nicht verschwindet, ohne in den anderen Augenblick überzugehen.«224 In einer rhythmisierten Zeitstruktur besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Tendenz des Augenblicks eben darin bestehen könnte, zum Atom zu werden (also den nächsten Augenblick, in dem der vorherige verschwindet, ganz oder teilweise identisch mit dem vorhergehenden Augenblick zu setzen). Rhythmustheorien müssen die 220 Vgl. Herzfeld 2007, Zeit als Prozess, S. 16f.: »In Epiphanien wird ein bestimmter, punktartig ausdehnungsloser Moment so intensiv erlebt, dass er einerseits ein besonders hervorgehobenes Erlebnis von Zeit darstellt. Eine musikalische Epiphanie wird also ein intensives Erlebnis musikalischer Zeit vorführen. Andererseits nähert die Epiphanie sich der Erfahrung von Zeitlosigkeit an, da der Verlauf von Zeit in ihr negiert und dadurch ein Stillstand von Zeit symbolisiert wird«. 221 Bohrer 1981, Plötzlichkeit, S. 192 (bezogen ist das Zitat auf Zeitdarstellungen bei Marcel Proust). 222 Jens Roselt, »Erfahrung im Verzug«, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 34. 223 Vgl. Hasty 1997, Meter as Rhythm, S. 76 (mit der üblichen Punktmetapher in dem Satz, der die Existenz geometrischer Punkte für den Rhythmus zurückweist): »As I have pointed out, beginning as a definite, irrevocable decision is, in this sense, always past – if an event is present, it has begun and has duration, and whatever duration has been attained is past and irrevocable«. 224 Deleuze 2000, Die Falte, S. 190.
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Illusion einer kinetischen Phänomenalität bewahren, die sich in der Perspektive der Medientechnologien längst in unendliche Punktmengen auflösen lässt: »Was man für das Reelle gehalten hatte, war bloß die imaginäre Gestalt einer durchgezogenen Linie gewesen, die man immer mit dem Reellen verwechselt hatte.«225 Bernhard Siegert bietet für diese Imagination ein anschauliches Beispiel aus den Diskussionen des 19. Jahrhunderts. Der Mathematiker Hermann Hankel erstellt in seiner »Zertrümmerung des Quadrats« das folgende einfache Gedankenexperiment: Die Diagonale eines Quadrats mit der Seitenlänge 1 hat die Länge Wurzel 2, man kann von der linken unteren Ecke des Quadrats zur rechten oberen Ecke des Quadrats aber natürlich auch mithilfe einer gezackten Linie gelangen, die sich aus Teilen der Seitenlinien zusammensetzt und somit in der Summe immer 2 ergibt. Die Differenz zwischen diesen beiden Summenbestimmungen bleibt gleich, auch wenn die optische Distinktion zwischen der »glatten« und der »gekerbten« Linienführung durch eine immer höhere Anzahl der Unterteilungen immer weiter verkleinert werden kann: »Lässt man nun die Zahl der Quadrate im Netz beliebig wachsen, wird sich diese Treppenkurve immer mehr der Diagonale annähern, und lässt man die Zahl der Quadrate ins Unendliche wachsen, wird die Treppenkurve mit der geraden Linie scheinbar zusammenfallen.«226 Das Beispiel zeigt die beiden Perspektiven, die grundsätzlich für den Gegensatz zwischen einer »digitalen« Punktstruktur und einer »analogen« Linienkontinuität eingenommen werden können. Die erste ist die mathematisch »dogmatische« Perspektive, in der unabhängig von der optischen Gestalt die gezackte Linie, die weiterhin die Summe 2 ergibt, und die gerade Linie der Diagonale, die als Summe die Wurzel 2 besitzt, auf eine Wesensdifferenz verweisen, sodass eine »digitale« Codierung durch gegliederte Einzelstufen und eine »analoge« Codierung durch die stufenlose Diagonale voneinander getrennt verbleiben (nicht zufällig ist die Diagonale der entscheidende Positivbegriff der Zeit in der Differenzästhetik von Deleuze).227 Die zweite dagegen ist die psychologisch »pragmatische« Perspektive, in der kein Unterschied mehr zwischen jener Erfahrung der Kontinuität besteht, die auf der »diagonalen« Linienführung beruht, und jener Erfahrung der Kontinuität, die auf einer »digitalen« Linienführung beruht. Die Pointe des Beispiels liegt natürlich darin, dass die »dogmatische« Perspektive (nicht nur) in den kinetischen Rhythmustheorien mithilfe der phänomenalen Unmittelbarkeit argumentiert, aber in diesem Fall der phänomenale Augenschein die »pragmatische« Perspektive bestätigt. Der »Vorrang des Analogen« wird durch derartig konstruierte Beispiele gezwungen, die grundlegende Differenz zwischen den beiden Zeichencodierungen nicht mehr
225 Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 317. 226 Ebda., S. 324. 227 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 402f. Die Diagonale ist abzuleiten aus der Theorie der Zwölftonmusik, wo Horizontale und Vertikale keinen Gegensatz mehr bilden sollen, doch besteht die Gefahr einer allzu konkreten Anwendung in Form der Glissando-Klänge. Vgl. Campbell 2013, Music after Deleuze, S. 75f.: »Whatever the philosophical validity of conflating Boulez’s ideas of smooth and striated space with the concept of the pitch diagonal, the resulting conjunction of concepts produces only musical confusion«.
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anhand der phänomenalen gezogenen Linie zu treffen, sondern nur anhand jener sozusagen virtuellen Trennlinie, die weiterhin zwischen der rationalen und der irrationalen Zahlbestimmung gezogen werden kann. Phänomenal hingegen kann die digitale Rasterung sich der kinetischen Realbewegung durch logisch verstetigte Repetitionsvorgänge scheinbar vollkommen angleichen. Dieser Vorgang bringt die Rhythmustheorien mit der berühmtesten Provokation eines psychologischen Pragmatismus in Verbindung: mit den eleatischen Zeitparadoxien, die umgekehrt den Beweis für die Seinsunmöglichkeit der Realbewegung erbringen sollen.
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Das Metrum und die Schildkröte
Für seine etwa 1500 Seiten umfassende Darstellung vom Widerstreit zwischen Geist und Seele bietet Ludwig Klages an einer Stelle auch eine nun umgekehrt nur knapp 15 Worte benötigende Zusammenfassung, die einen »Gegensatz des zeitlich fließenden Lebens zur Intermittenz zeitlich punktueller Akte des Geistes«228 quasi als den Ursprung allen Übels ausmacht. Die monumentale Darstellung bewegt sich dabei von epistemischen Prämissen zu eher esoterischen Resultaten, wobei der Rhythmus sich in dem Hauptwerk nur als Nebensache präsentiert (als Begriff, durch den man glaubhaft machen kann, dass eine irrationale Erkenntnislehre in einem geordneten Kosmos genügend Halt findet).229 Die Anfangskapitel hingegen widmen sich dem Problem der Realität der Zeit und den eleatischen Paradoxien, sodass die Bewegungsrichtung des Buchs von Klages umzukehren wäre: das Resultat der »esoterischen« Rhythmik muss selbst mit dieser »erkenntnisskeptischen« Prämisse der Zeittheorie konfrontiert werden. Zenons berühmte Paradoxien beruhen letztendlich auf dem Begriff der zeitlichen Gegenwart, die einerseits nicht ausgedehnt sein darf, weil sie sonst immer mehr als sich selbst enthält, und also in zwei Hälften geteilt werden kann, von denen eine nicht gegenwärtig ist, aber andererseits nicht ausdehnungslos sein darf, weil sie sonst sich selbst auch nicht mehr enthält.230 Das Paradox verschwindet kaum, wenn man auch zu seiner wissenschaftlichen Lösung das Problem in immer kleinere Teilprobleme aufzulösen versucht.231 Die weitere Darstellung stützt sich daher vor allem auf Rafael Ferbers grundlegende Auseinandersetzung, dem eine Bündelung der Problemstellung auf zwei einfache Denkschritte gelingt. Der erste Denkschritt identifiziert die beiden folgenden Bedingungen als Voraus-
228 Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 461. Die Formulierung verweist auf die Schriften von Melchior Palágyi und wandert von dort in die Rhythmuspädagogik; vgl. auch Bode 1925, Lebendige Leibeserziehung, S. 7f. 229 Vgl. Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 827: »Wer der großen Symphonie der Rhythmen denkend nachgeht, sieht sich früher oder später veranlaßt, organische und kosmische Abläufe für polar gegensätzliche Formen eines rhythmischen Ganzen zu halten, das demgemäß leben würde ob auch überorganisch. Steht doch mindestens unsere Erde im Zeichen des beständigen Pulsens!«. 230 Vgl. Ebda., S. 11f. 231 Vgl. Heinrich Kraft, »Die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen als Voraussetzung für die Entfaltung der Glaubenslehren«, in: Paul Geyer (Hg.), Das Paradox: eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 252.
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setzung der Paradoxien: 1) Zeitpunkte sind unteilbar; 2) Zeitstrecken sind als Kontinuum unendlich teilbar. Der zweite Denkschritt unterstellt dann, dass die beiden Bedingungen entweder auf eine Wesensdifferenz verweisen müssen oder einen Widerspruch enthalten.232 Der Widerspruch bestünde darin, dass die unendliche Teilbarkeit der Zeitstrecken an irgendeiner Stelle auf die »grundierende« Schicht der Zeitpunkte stoßen müsste (ansonsten ist der Teilungsvorgang eben nicht unendlich). Die Annahme einer Wesensdifferenz beruht konträr darauf, dass der Teilungsvorgang niemals auf die Zeitpunkte stoßen kann, weil das Kontinuum der Zeitstrecken grundsätzlich anders zu denken ist als die Diskretheit der Zeitpunkte. Ferbers Widerlegung der Paradoxien beruht auf dem Argument des Widerspruchs, die üblichere Widerlegung hingegen greift auf das Argument der Wesensdifferenz zurück.233 Als zusätzliches Differenzkriterium kann zudem unterschieden werden, ob eine Argumentation sich primär an der »mittleren« Zeitebene der psychologischen Gegenwart ausrichtet oder durch den Teilungsvorgang der Zeitstrecken auch eine oszillatorisch »tiefere« Zeitebene einbezieht. Eine Widersprüchlichkeit der beiden Bedingungen liegt nämlich nur vor, wenn eine Perspektive der zeitlichen Unendlichkeit eingenommen wird (bzw. der unendlich kleinen Zeitteile), in einer Perspektive der zeitlich unteilbaren Gegenwart hingegen ist eine Selbstverständlichkeit für das Zusammengehen dieser Bedingungen zu konstatieren: Die Kombination unteilbarer Zeitpunkte und unendlich teilbarer Zeitstrecken ist die Basis der musikalischen Notation und insbesondere von Analyseverfahren des musikalischen Metrums. Die »dot notation«, die vor allem durch die generative Theorie von Lerdahl und Jackendoff als gegenwärtiger Standard empirischer und einzelwissenschaftlicher Methoden der Metrumanalyse gelten kann, beruht auf jenem Prinzip, das Achilles an der Schildkröte scheitern lässt: Man kann beliebig weitere Ebenen der Unterteilung erzeugen, die an unteilbaren Zeitpunkten ausgerichtet bleiben, die wiederum mit den kontinuierlichen Zeitstrecken der rhythmischen Gruppierungen koordiniert sind (vgl. Abbildung 5.1).234 Ein Widerspruch entsteht dabei einfach deswegen nicht, weil die kognitive Zeitpunkt-Kategorie im musikalischen Metrum einer rigiden Beschränkung auf die »mittlere« Zeitebene der Präsenzwahrnehmung unterworfen bleibt. Dieser Pragmatismus betrifft schon Zenon, der einen Wechsel der Zeitebenen latent verbergen muss: Die Aufstellung der Paradoxie wird von einer rhythmisch-metrischen Bedingung abhängig gemacht, indem die Darstellung immer von einer Halbierung der Strecke spricht; dies verbindet den Ablauf mit der höchsten Anzahl von Teilungsvorgängen innerhalb der
232 Vgl. Rafael Ferber, Zenons Paradoxien der Bewegung und die Struktur von Raum und Zeit, Stuttgart 2 1995, S. 32. 233 Vgl. zu diesem verbreiteten Argument u.a. Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984, S. 74: »Kontinuität der Linie bedeutet, daß ihre Elemente miteinander zusammenhängen. Da Punkte unteilbar sind, können sie nicht zusammenhängen und daher auch nicht Elemente der Linie sein«. 234 Vgl. Lerdahl/Jackendoff 1983, Generative Theory, S. 27.
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Abbildung 5.1: Analyse der Sinfonie Nr. 40 KV 550 von Mozart bei Lerdahl und Jackendoff
© 1982 Massachusetts Institute of Technology, with permission of the MIT Press.
psychologischen Präsenzzeit, obgleich das Argument logisch bei einer Verkürzung der Strecke jeweils auf ein Millionstel ihrer Länge genauso funktionieren würde.235 Deshalb ist es keineswegs ein Paradox, wenn man die musikalische Notation als Abbild der beiden eleatischen Bedingungen begreift, aber der Konflikt zwischen Achilles und der Schildkröte in der Musik dennoch nicht direkt darstellbar erscheint. Das gleichnamige Stück des dänischen Komponisten Per Nørgård entscheidet sich schon zu Beginn dafür, einen genau umgekehrten Weg zu gehen: Der uneinholbare Vorsprung beruht hier nicht darauf, dass trotz einer Tempodifferenz die immer kleineren zeitlichen Abstände niemals ganz geschlossen werden können, sondern er beruht darauf, dass durch eine Tempobeschleunigung ein zunächst kleinstmöglicher räumlicher Abstand illustriert wird. Derselbe Ton wird als »optische Paradoxie« im Wechsel der beiden Hände auf zwei Notationssysteme verteilt, worauf sich ein Wettrennen anschließt, bei dem der zu Beginn generierte höhere Ganzton seinen Vorsprung bewahren kann, gerade weil die Pulsationsbänder auf gleichschnelle Notenwerte zurückgreifen (vgl. auch Notenbeispiel 5.1). Musikalische »Zeitparadoxien« entstehen im weiteren Verlauf nicht durch die Unterteilung der Bewegung in immer kleinere Noteneinheiten, die weniger grafisch als psychologisch wohl recht schnell an eine Grenze des sinnvoll Möglichen stoßen dürfte, sondern durch die Emergenz von langsameren Melodieschichten und Patterns innerhalb der äußerst schnellen Grundbewegung. Das Stück von Nørgård führt diese Effekte
235 Vgl. London 2012, Hearing in Time, S. 45f. zur Anwendung genau dieses Arguments im Kontext der Metrumtheorie: »We are biased against triple meters (and to a lesser extent, triplet subdivision) simply because there are fewer ternary options that lie comfortably within the range of maximal pulse salience«.
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Notenbeispiel 5.1: Nørgård, Achilles and the Tortoise (1983), Anfang
© 1983 Edition Wilhelm Hansen. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by Permission of Hal Leonard Europe Limited.
in ähnlicher Weise vor, wie es auch in Ligetis Continuum geschieht: Das weitaus berühmtere Werk verweist schon im Titel auf den Konflikt zwischen »digitaler« Notation und »analoger« Perzeption und erzeugt ein Kontinuum auch zwischen der Negativform der »digitalen« Punktsukzession und der Positivform der »kinetischen« Informationsdichte. Die Mittelebene der Präsenzzeit wird der Mikroebene der Oszillationen so weit angenähert, wie es den Händen des Cembalisten zugemutet werden kann (vgl. Notenbeispiel 5.2). Eine »eleatische« Weitung des Rhythmischen stellen demgegenüber vielleicht am ehesten die »valeurs ajoutées« von Olivier Messiaen dar: Die »mittlere« Zeitebene der Gestaltprägnanz wird bewusst durch die Kombination sehr großer und sehr kleiner rhythmischer Werte unterlaufen, wobei letztere an jede vollständige Figur mit dem nächstkleineren Notenwert angehängt werden und wie die Schildkröte einen anarchischen Vorsprung gegenüber der Vorlagefigur besitzen.236 Für die Theorie der Relation von diskreten Zeitpunkten und kontinuierlichen Zeitstrecken ist es jedoch von Bedeutung, dass sich für das Argument einer Wesensdifferenz die psychologischen Zeitkontexte umzukehren scheinen: Eine Wesensdifferenz zwischen den Bedingungen liegt nur in einer Perspektive der zeitlichen Unteilbarkeit vor, wohingegen in einer Perspektive zeitlicher Unendlichkeit die zwei Bedingungen selbstverständlich miteinander kombiniert werden können (die unteilbaren Zeitpunkte
236 Vgl. Olivier Messiaen, Technik meiner musikalischen Sprache, übs. von Sieglinde Ahrens, Paris 1966, S. 13.
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Notenbeispiel 5.2: Ligeti, Continuum (1968), Anfang
© Mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz
und die unendlich teilbaren Zeitstrecken repräsentieren dieselbe Zeitlogik der diskreten Zeitschnitte). Das Kontinuum der Zeitstrecken ist also innerhalb einer »phänomenalen« Zeiterfahrung zur Unteilbarkeit der Zeitpunkte wesensdifferent, aber nicht widersprüchlich, während das Kontinuum in einer »geometrischen« Zeitperspektive zu den Zeitpunkten zwar nicht wesensdifferent, aber widersprüchlich ist. Zenons Paradoxien lassen sich demnach auch als simple Verwechslung von »digitalem« Zählen und »analogem« Messen verstehen. Die Unhintergehbarkeit des Anfangs (der Vorsprung der Schildkröte gegenüber Achilles) wird zwar in der Reiteration dieses Anfangs verstetigt, doch wird dabei der Fehler begangen, dass man die gemessenen Strecken zählt (auch bei der dritten, vierten, fünften Halbierung wird die Schildkröte nicht eingeholt), anstatt die gezählten Strecken auch einmal zu messen (und festzustellen, dass Achilles zum Beispiel den stärkeren Vorwärtsdrang, den längeren »Bremsweg« und den höheren Aufprall bei abruptem Stillstehen besitzt, was auf das Vorhandensein realer Bewegung hindeutet). Das ist zudem ein Problem von Theorien, die umgekehrt gerade das Metrum »irrational« und den Rhythmus »rational« bestimmen wollen. Die Irrationalität von Gewichtsdifferenzen in »schweren« und »leichten« Takten beruht weiter auf Teilungsvorgängen des Zählens, nicht auf ungefähren Messungen von Energiequalitäten.237 237 Vgl. Peter Benary, Rhythmik und Metrik. Eine praktische Anleitung, Köln 2 1973, etwa S. 87: »Rhythmus und Metrum stehen sowohl abhängig als auch widersprüchlich zueinander. Der Widerspruch beruht vor allem auf der in einfachen Zahlenproportionen begründeten Rationalität des Rhythmus und der im numeralen Sinn irrationalen Komponente des Metrums«.
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Die Kontinuität der realen Bewegung wird aber schon in der Kritik der eleatischen Paradoxien bei Aristoteles als eine Existenzform gedacht, die in einer Nicht-Existenz ihren Seinsgrund hat; die Bewegung ist das Potenzial eines sich bewegenden Objekts, das durch die Bewegung in Aktualität überführt werden kann.238 Die Frage ist, wie in die Zeittheorien ein solches Potenzial einer realen Bewegung eingetragen werden kann. Im Kontext der eleatischen Paradoxien ist dabei vor allem eine Umkehrung der beiden Bedingungen von entscheidender Bedeutung: Die Eigenschaft der Unteilbarkeit wird nicht mehr den ausdehnungslosen Zeitpunkten, sondern dem Kontinuum der Zeitstrecken zugesprochen. Es werden also nicht mehr unendlich teilbare, sondern unteilbare Streckenbestimmungen vorausgesetzt, etwa bei Bergson, der genau dieses Argument formuliert, aus dem sich ergibt, dass […] nach einer gewissen Zahl dieser unteilbaren Akte oder Sprünge Achilles die Schildkröte überholt haben wird.«239 Dasselbe Argument ist auch für Husserls Theorie der Retention von elementarer Bedeutung: »Von dem Ablaufsphänomen wissen wir, daß es eine Kontinuität steter Wandlungen ist, die eine untrennbare Einheit bildet, untrennbar in Strecken, die für sich sein könnten, und unteilbar in Phasen, die für sich sein könnten, in Punkte der Kontinuität.«240 Das Problem ist jedoch, dass Zeitstrecken natürlich teilbar sind: Die Zeitstrecke einer einzelnen Bewegung lässt sich offenkundig in diskrete Kinobilder oder in eine Anfangs- und eine Endhälfte unterteilen. Daher kann diese Behauptung der Unteilbarkeit nicht mehr mit dem Argument des Widerspruchs, sondern nur mit dem Argument einer Wesensdifferenz verbunden werden. Dies ist eine Klarstellung, die insbesondere Deleuze mehrfach zur Rettung von Bergsons Konzept der Dauer ausgeführt hat: »Der durchlaufene Raum ist teilbar, sogar unendlich teilbar, wohingegen die Bewegung unteilbar ist oder sich nicht teilen lässt, ohne sich bei der Teilung in ihrer Beschaffenheit zu ändern.«241 Dieser Vorschlag von Deleuze, die Teilbarkeit der Zeitstrecken anzuerkennen, ohne damit deren Wesensdifferenz abzuschaffen, setzt aber eine Modifizierung des Begriffs der Teilung voraus. Teilbarkeit muss stärker im Sinn von Kopierbarkeit verstanden werden, denn dann erscheint es weitaus schlüssiger, jeder Zeiterfahrung einen unteilbar individuellen Gehalt zuzuschreiben: Ich gehe zwar jeden Tag denselben Weg zur Arbeit, aber die Erfahrung, die ich dabei mache, ist nicht auf die identisch gedachte Wegstrecke kopierbar, weil sie doch jeden Tag anders ist (gemäß der empirischen Bedingung der non-zyklischen Aktualisierung). Wichtig ist zudem, dass der Begriff der Teilung in diesem erweiterten Modus der Kopierbarkeit zwei differente Vorgänge betreffen kann: Einmal eine einfache geome238 Vgl. auch Luckner 1994, Genealogie der Zeit, S. 35: »Bewegung ist demnach, als (wirklicher) Ausdruck eines Mangels an Wirklichkeit zielgerichtet, insofern die Bewegung ihren Grund in der Aufhebung des Mangels an Form hat«. 239 Bergson 1919, Materie und Gedächtnis, S. 189. 240 Husserl 2013, Phänomenologie des Zeitbewußtseins, S. 30. 241 Deleuze 1989, Bewegungs-Bild, S. 13. Vgl. auch Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 670: »Die Dauer ist keineswegs unteilbar, aber sie läßt sich nicht teilen, ohne bei jeder Teilung ihr Wesen zu verändern (die Strecke des Achilles läßt sich in Schritte teilen, aber gerade diese Schritte setzen sie nicht in der Art von Größen zusammen)«.
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Die Theorie des Rhythmus
trische Zeitteilung, bei der aus einer Entität zwei Entitäten erzeugt werden, die als die beiden Hälften der ursprünglichen Entität diese nur unvollständig bewahren. Der Begriff der Teilung kann aber auch in der Art der Zellteilung verstanden werden, sodass aus der einzelnen Entität zwei Entitäten erzeugt werden, die beide vollständig die ursprüngliche Entität in sich bewahren.242 Die Conclusio lautet, dass die unteilbaren Zeitstrecken (bzw. ein »Vorrang des Analogen«) dadurch abgesichert sind, dass die Kontinuität der realen Bewegung bereits dem ersten Modell der einfachen Zeitteilung aufgrund ihrer nicht-wiederholbaren Einzigartigkeit widerspricht, während die unendlich teilbaren Zeitstrecken (bzw. alle Formen der »digitalen« Codierung) sich nur in der zweiten Form der Zellteilung in das philosophische Ideal der wahrhaften Dauer mit eingliedern lassen.243 Die Argumentation überträgt damit den Aspekt einer Wesensdifferenz auch in die Zeitebenen jenseits der psychologischen Präsenzzeit. Auf diese Weise kann die in der Realität zu akzeptierende Teilbarkeit der Zeitstrecken in einer Theorie der unteilbaren realen Bewegung dennoch ausgeklammert werden. Eine »erweitert metrische« Theorie muss daher nicht auf das Argument der Wesensdifferenz, sondern auf das Argument des Widerspruchs zwischen unendlich teilbaren Zeitstrecken und unteilbaren Zeitpunkten zurückgreifen. Auf diese Weise würde umgekehrt eine Widerlegung der eleatischen Paradoxien, die sonst in der »oszillatorischen Mikroebene« der Zeit ausgeführt wird, auch auf die Mittelebene der psychologischen Zeitwahrnehmung übertragen. Eine Theorie der Wesensdifferenz, die durch die Annahme unteilbarer Zeitstrecken geleitet wird, könnte demnach ergänzt werden durch eine Theorie der Widersprüchlichkeit, für die eine Annahme teilbarer Zeitpunkte notwendig ist. Man muss dafür einen »phänomenalen Atomismus« akzeptieren, sodass die unendliche Teilbarkeit der Zeitstrecken irgendwann tatsächlich die zwar extrem kleine, aber doch ausgedehnte Zeit- und Raumerstreckung der Punktatome berührt (und in diesem Moment würde Achilles die Schildkröte einholen). Genau dieser Weg wird von Ferber vorgeschlagen: »Ein physikalisch-empirischer Raumpunkt ist eine atomare, endlich kleine Längen-, ein physikalisch-empirischer Zeitpunkt eine atomare, endlich kleine Zeiteinheit.«244 Der antike Atomismus entsteht tatsächlich auch als Antwort auf die eleatischen Paradoxien, indem der unendlich teilbare Raum durch die ausgedehnten Atome strukturiert wird.245 In einer neuzeitlichen Perspektive ist es hingegen das Kinobild-Modell einer Diskontinuität der tiefsten Zeitebene, das die »analoge« Phänomenalität auf eine »digitale« Punkthaftigkeit zurückprojiziert:
242 Vgl. zu diesem Modell der Teilung Deleuze 2000, Die Falte, S. 19. 243 Vgl. bereits Bergson 2013, Schöpferische Evolution, S. 108: »Ein einfacher Blick auf die Entwicklung des Embryos hätte ihm indes gezeigt, daß das Leben die Dinge ganz anders angeht. Sein Weg ist nicht die Zusammenfügung und Addition von Elementen, sondern die Aufspaltung und Zweiteilung«. 244 Ferber 1995, Zenons Paradoxien, S. 56 (vgl. zudem S. 68 zur Trennung dieser Größeneinheit von der Zeitebene einer psychologischen Präsenzzeit). 245 Vgl. Wladimir Velminski, »›Noch Fragen? Rechnen wir!‹ Zur Leibnizschen Diagrammatik des Denkens«, in: Friedrich Kittler/Ana Ofak (Hg.), Medien vor den Medien, München 2007, S. 247.
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»Ist ein Raum- bzw. Zeitpunkt eine atomare, endlich kleine Längen- bzw. Zeiteinheit, so bildet eine Raum- bzw. Zeitstrecke von endlicher Ausdehnung kein unendlich teilbares Raum- bzw. Zeitkontinuum mehr, sondern ein in endlich viele Teile teilbares Raumbzw. Zeitdiskontinuum.«246 Dieses Modell aber kann auf die psychologische Präsenzzeit übertragen werden: Klänge werden bis zu einer gewissen Zeiterstreckung vom Gehirn als Punktinformationen verarbeitet, und ab einer gewissen Zeiterstreckung als Streckeninformationen.247 Dem entspricht schon die übliche Unterscheidung zwischen gefüllten und leeren Zeitintervallen. Nichts ist einfacher als das, und es ist daher schlichtweg nicht einzusehen, warum die Theorie des Rhythmus von diesen Bedingungen der Zeitpunkt-Akzeptanz abgetrennt werden sollte.248 Zur Rettung der »kinetischen« Gegenperspektive bleibt daher auch bei Deleuze nur die Option, wiederum zwischen den geometrisch ausdehnungslosen Zeitpunkten und diesen phänomenal ausgedehnten Zeitpunkten eine möglichst umfassende Wesensdifferenz zu postulieren: »Der physische Punkt ist derjenige, welcher die Inflexion durchläuft oder der Inflexionspunkt selbst: das ist weder ein Atom noch ein cartesischer Punkt, sondern ein elastischer oder plastischer Falte-Punkt.«249 Gegenüber dieser dichotomischen Entgegensetzung könnte man jedoch auch vermuten, dass der »elastische« und der »eleatische« Punkt im Rhythmus ineinander verschmelzen. Alle vorherigen Überlegungen laufen auf diesen einen Kritikpunkt hinaus: Für die unteilbaren Zeitstrecken wird eine pragmatische Weitung zugelassen (phänomenale Teilbarkeit wird als psychologische Unteilbarkeit definiert), doch für die ausdehnungslosen Zeitpunkte bleibt eine dogmatische Verengung vorausgesetzt (psychologische Unteilbarkeit wird als phänomenales Nicht-Vorhandensein verstanden). Die Oppositionsbildung zwischen unendlicher Teilbarkeit und unmöglicher Teilbarkeit ist also nicht etwa durch elaborierte Abstraktionen, sondern pragmatisch durch einen Mittelbereich zwischen den Extremen zu widerlegen: Dass Punkte phänomenal immer als Strecken erscheinen müssen, heißt nicht, dass kurze Strecken nicht psychologisch als Punkte erscheinen können. Die dogmatische Gegenposition verengt sich hingegen auf einen Grundgedanken, den zum Beispiel auch noch die Musikphilosophie von Hindrichs nahezu wörtlich von Hasty übernimmt (der sich wiederum auf Bergson Theorie bezieht usw.): »Der Beginn eines Klanges ist kein Zeitpunkt, sondern das Potential einer Dauer, das mit dem Beginn eines anderen Klanges vollendet wird.«250 246 Ferber 1995, Zenons Paradoxien, S. 62 (vgl. S. 75 zur Assoziation mit dem Kinobild). 247 Empirisch gibt es Hinweise darauf, dass die Anfangsakzentuierung eines »attack points« unabhängig vom jeweiligen Ereignistempo in gleichbleibender Weise neuronal verarbeitet wird, wobei ein Minimum etwa 200 ms nach dem Ereigniseintritt auftritt. Vgl. Hugo Merchant, Jessica Grahn, Laurel J. Trainor, Martin Rohrmeier, W. Tecumseh Fitch, »Finding the Beat: A Neural Perspective across Humans and Nonhuman Primates«, in: Henkjan Honing (Hg.), The Origins of Musicality, Cambrigde, Mass. 2018, S. 180. 248 Vgl. als ähnlich pragmatische Auflösung des Konflikts, wonach in verschiedenen Wahrnehmungen die Punkt- und Linienkonzepte gleichermaßen gültig sind, Goodman 1984, Weisen der Welterzeugung, S. 142. 249 Deleuze 2000, Die Falte, S. 42. 250 Hindrichs 2014, Autonomie des Klangs, S. 126.
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Der Beginn eines Klangs ist demgegenüber genau dann ein Zeitpunkt, wenn anstelle des Strebens zum Beginn des nächsten Klangs das Beginnen dieses ersten Klangs selbst herausgestellt wird: Eine perkussive Klangfarbe mit kurzen Einschwingzeiten und schnellem Abreißen, eine starke Markierung des Anfangs durch ein Sforzato und die »eleatische« Ausführung einer Legato-Note durch ein Staccato des nächstkleineren Notenwerts mit sich anschließender Pause sind lediglich die typischsten phänomenalen Vorgänge, mit denen ein rhythmischer Vorrang des Anfangs vor dem Ende sich abbilden lässt. Auch in diesen Fällen erfüllt sich das Potenzial der Dauer des ersten Klangs erst mit dem Beginn des zweiten Klangs: Doch erscheint dieses Potenzial nun als der phänomenal rezessive Vorgang gegenüber der Punktbestimmung des Anfangs, und nicht dieser Punktakzent als der regressive Vorgang gegenüber der phänomenalen Bewegung in den nächsten Klang. Man muss zur Behauptung dieses Dauerpotenzials also die fragwürdige Praxis übernehmen, bei der ein Längenakzent sowohl durch den erfüllten Klang (also die tatsächlich längere Note) wie durch den absenten Klang (also die tatsächlich kürzere Note) definiert wird.251 Eine derartige Punktpräsenz aber bleibt unzweifelhaft zumindest partiell mit einem Vorgang der psychologischen Projektion gegenüber der phänomenalen Realbewegung verbunden. Es ist nur die Frage, ob sich dieser Vorgang aus dem Rhythmus wirklich ganz extrahieren lässt. Das Prinzip der nützlichen Fiktionen, wie es die Philosophie des Als Ob von Vaihinger erstellt hat, ergibt durchaus eine brauchbare Beschreibung für den »polarisierten« Rhythmus: »Das richtige Resultat wird erreicht durch die Methode der entgegengesetzten Fehler.«252 Die beiden entgegengesetzten Fehler sind in diesem Fall aber die psychologische Bestimmung einmal von unteilbaren Zeitstrecken und einmal von teilbaren Zeitpunkten. Man kann nur versuchen, den einen Fehler vor dem anderen zu verstecken und mit dem so erzeugten einseitig anti-metrischen oder einseitig metrisierten Modell irgendwie durchzukommen. Es gibt keinen »reinen« und »rein erlebten« Rhythmus: Dieser ist entweder nicht mehr reiner Rhythmus, weil er sich zum Schutz gegen die intentionale Zeitpunkt-Bestimmung an phänomenale Träger binden muss, in denen der Rhythmusbegriff selbst nur noch eine übertragene Bedeutung besitzen wird (wie insbesondere verschiedene »analog-binäre« Zyklusmodelle belegen), oder er ist nicht mehr rein erlebt, weil Rhythmus sich mithilfe intentionaler Projektionen und diskreter Zeitfolgen verwirklicht. Auch in Vaihingers System beruht das philosophische Rollenbild des Rhythmus darauf, dass er einerseits als Inbegriff einer nützlichen Fiktion betrachtet werden kann (schon der Titel des Buchs wirkt mit seinem »digitalen« Dualismus von Als-Alpha und Ob-Omega latent rhythmisch); andererseits soll der Rhythmus auch das Gegenbild eines realen, fiktionsfreien Lebensvorgangs repräsentieren: »In Empfindungen wurzelt
Vgl. zum Beispiel Peter Petersen, Musik und Rhythmus. Grundlagen, Geschichte, Analyse, Mainz 2010, S. 20. 252 Vaihinger 1922, Philosophie des Als Ob, S. 206. 251
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all unser geistiges Leben und in Bewegungen gipfelt es; was dazwischen ist, ist reiner Durchgangspunkt.«253 Ausgangspunkt und Endpunkt werden in diesem Modell somit von jeder Punkthaftigkeit befreit, während die gesamte Wegstrecke dazwischen, das eigentlich sinnvolle Feld eines empirischen Forschens, rhetorisch auf einen Punktwert reduziert wird. Und auch Vaihinger scheint nicht davor gefeit, den Rhythmusbegriff als unkritischen Rest in diese Konstruktion einzusetzen.254 Eine Bedingung für die Beharrungskraft dieser Skepsis gegenüber der ZeitpunktKategorie ist also eine letztendlich romantisierende Form der Beschreibung, wobei der Rhythmus als eine Art Ding an sich von seinen »fiktionalen« Erscheinungsbedingungen getrennt verbleiben soll. Diese »esoterische« Vorstellung bleibt auch bei stärker »einzelwissenschaftlich« eingebetteten Autoren wie zum Beispiel Curt Sachs erkennbar.255 Die Theorie von Hasty nutzt ebenfalls dieses Verfahren, um psychologische Allgemeinbegriffe mit dem Fluidum des Besonderen zu versehen: »Man könnte sagen, dass Rhythmus der tatsächliche Gang der Dinge in seinem Vollzug ist, und zwar ein gefühlter Vollzug – ein Fühlen oder Spüren von Veränderung und Differenz.«256 Ein hierfür zentrales terminologisches Werkzeug ist die bereits mehrfach erwähnte Differenz einer »glatten« und einer »gekerbten« Struktur, die im einen Fall also eine in sich minimierte, im anderen Fall eine in sich metrisierte Form der Verräumlichung von Zeit abbildet. Der »glatte« Raum wird dabei mit der Vorstellung einer »analogen« Zeichensättigung nahezu gleichgesetzt: »Ein solcher amorpher, glatter Raum entsteht durch die Häufung von Nachbarschaften, und jede Häufung definiert eine Zone der Unausmachbarkeit, die dem Werden eigen ist.«257 Der einfache Dualismus zwischen dem »glatten« und dem »gekerbten« Raum besitzt allerdings durchaus komplizierte Voraussetzungen, da nur die heterogene Zeit oder der heterogene Raum, die sich also nicht in gleiche Teilabschnitte vorstrukturieren lassen, mit dem Begriff des Glatten in Verbindung gebracht werden sollen: »Der homogene Raum ist keineswegs ein glatter Raum, er hat im Gegenteil die Form des geriffelten oder gekerbten Raumes. Ein Raum der Säulen.«258 Es entsteht damit das erste Problem, dass sich die Attribute des Glatten und Homogenen bzw. des Gekerbten und des Heterogenen intuitiv eigentlich einfacher miteinander verbinden lassen: Heterogene Strukturen setzen einen Gegensatz mehrerer Entitäten voraus, die also eine latent »digitale« Disjunktion implizieren, glatte Strukturen jedoch eine »analoge« Verschmelzung zu einer einzelnen Entität. Das Ideal des
253 Ebda., S. 178. 254 Vgl. Ebda., S. 298: »Gegeben sind der Seele also ausser dem Material der Empfindungen als solcher noch die Zeitverhältnisse, in welcher sie in dieselbe eintreten; der Rhythmus, in dem das Spiel der Empfindungen und Wahrnehmungen erfolgt«. 255 Vgl. Curt Sachs, Rhythm and Tempo. A Study in Music History, New York 1953, S. 11: »Disenchanted, the author is, alas, compelled – as more or less every writer on art – to describe the technical traits, the dactyls and double dots, proportions and metrical patterns, rather than the elusive, indescribable essence of rhythm«. 256 Hasty 2014, »Rhythmusexperimente«, S. 157. 257 Deleuze/Guattari 1992, Tausend Plateaus, S. 676. 258 Ebda., S. 508.
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Die Theorie des Rhythmus
glatten Raums bzw. der glatten Zeit muss tatsächlich aber das Glatte und das Heterogene miteinander verbinden, weil beide Eigenschaften die Griffigkeit einer vorweg erzeugten metrisierten Gliederung negieren können (und diese Unterscheidung geht bereits auf Boulez zurück): »Die amorphe Zeit ist ohne weiteres mit der glatten Fläche zu vergleichen, die pulsierende Zeit mit der eingeritzten Fläche; ich mache also einen Analogieschluss und nenne die beiden Kategorien fortan glatte Zeit und eingekerbte Zeit.«259 Es besteht aber auch noch das zweite Problem, dass sich für das Attribut des Glatten bei einer geweiteten kulturwissenschaftlichen Anwendung leicht eine Negativbedeutung einstellen kann (wie im technischen Begriff, dass alles glatt gelaufen ist), wie sich für das Attribut des Gekerbten eine Positivbedeutung erfinden lässt (als Widerständigkeit des Materials etc.).260 Der Begriff des glatten Raums, der eigentlich das Fehlen griffiger Schrittsicherheit anzeigen soll, führt daher selbst aufs Glatteis, auf dem die akademische Rezeption des Begriffspaars häufiger ausrutscht, weil der gekerbte Raum fälschlich als der »analoge« Positivbegriff identifiziert wird, während der glatte Raum umgekehrt als der »digitale« Negativbegriff missverstanden scheint.261 Das negative Kontinuum der »digitalen« Zeitpunkte und das positive Kontinuum der »analogen« Zeitspannen lassen sich nicht so einfach auseinanderhalten, wie es der suggestive Begriffsgegensatz nahezulegen scheint. Es gelten auch für die Relation von »analogen« und »digitalen« Zeitstrukturen die Gesetze der Grundrechenarten. »Plus mal Plus« ergibt dabei weiterhin Plus: Kinetisch dichte Texturen behalten diese Eigenschaft auch noch bei ihrer Multiplikation, sofern die Hinzufügung als »analoge« Anreicherung der vorhandenen Schichten und nicht als »digitale« Addition von abweichenden Schichten in einem musikalischen Satzbild
259 Boulez 1963, Musikdenken heute, S. 77. 260 Vgl. zur Umstellung der Attribute Hartmut Böhme, »Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne«, in: Christine Lechtermann/Kirsten Wagner/Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 61: »Je anstrengungsloser die Bewegung, desto glatter der Raum. Der Gebirgspfad ist die Kerbung des Raums durch Mühsal all derer, die ihn vor mir gegangen sind und den Pfad erst dadurch gebildet, artikuliert haben«. 261 Vgl. die irritierende Aufzählung im ansonsten wohltuend skeptischen Referat von Alexander Jakobidze-Gitman, »Die Tücken des Binären, oder warum Gilles Deleuze die Betrachtung des Rhythmus in der Barockmusik aufgegeben hat«, in: Grüny/Nanni 2014, Rhythmus – Balance – Metrum, S. 35f.: »In Tausend Plateaus stehen sich die Kriegsmaschine und der Staatsapparat gegenüber, das Axiom dem Code, das Rhizom dem Baum, die nomadische Wissenschaft der Staatswissenschaft, der gekerbte Raum dem glatten Raum, die Geschwindigkeit der Bewegung, und, last but not least, der Rhythmus dem Maß/der Kadenz und der Barock der Klassik«. Der Raum scheint hier als Störung in einer Ästhetik der Störung falsch platziert in der Liste der Positiv- (erste Stelle) und Negativpole (zweite Stelle). Vgl. ebenso Ethel Matala de Mazza, »Der Rhythmus der Arbeit. Fritz Gieses Amerika«, in: Balke/Siegert/Vogl 2011, Takt und Frequenz, S. 90: »Im letzten und resümierenden Kapitel seines Buches beschreibt er den Umbruch von der Vormoderne zum Industriezeitalter als doppelten Wechsel vom Handwerk zur maschinellen Fertigung und vom Regime translatorischer Auf- und Ab-Bewegungen zur Rotation, d.h. – mit Gilles Deleuze und Felix [sic!] Guattari – vom Operieren im ›gekerbten‹ Zeitraum zum Arbeiten unter der Bedingung ›glatter‹ Strukturen«.
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erfolgt. Die drei anderen Möglichkeiten aber erzeugen für einen »Vorrang des Analogen« ungünstigere Bedingungen. »Minus mal Plus« ergibt ebenso wie »Plus mal Minus« im Ergebnis Minus: Die Konfrontation einer gegliederten und einer nicht-gegliederten Schicht erzeugt im Ergebnis eine gegliederte Struktur. Zudem lässt sich aus »digitalen« Texturen der Eindruck eines Kontinuums herstellen: »Minus mal Minus« ergibt Plus (wobei eine mikroformale Ebene oszillatorischer Pulsationen vorrangig wird). Die Klangflächen-Kompositionen von György Ligeti sind die zentrale Referenz sowohl für eine Präsenz einzelner auffälliger Schnitte wie auch für das Verschwinden aller Schnitte, wenn die Anzahl und Geschwindigkeit der Einzelstimmen erhöht wird.262 Um den Begriff des Kontinuums für diese gewahrte Präsenz der notationalen Partiturdiskretheit offen zu halten, bezieht sich auch Boulez auf die eleatische Logik der wiederholten Zeitschnitte: »Das Kontinuum ist ganz gewiß nicht die von einem zu einem andern Raumpunkt fortlaufend ›ausgefüllte‹ Strecke (sei es im zeitlichen Ablauf oder in der momentweisen Übereinanderschichtung). Das Kontinuum manifestiert sich durch die Möglichkeit, den Raum nach gewissen Gesetzen zu schneiden; die Dialektik zwischen Kontinuum und Diskontinuum geht also über den Begriff des Schnittes; ich würde sogar behaupten, daß das Kontinuum die Möglichkeit selbst ist, denn es enthält Fortdauer und Unterbrechung gleichermaßen: der Schnitt gibt, wenn man so will, das Kontinuum unter anderem Vorzeichen. Je feiner der Schnitt wird, je mehr er einem Epsilon der Wahrnehmung zustrebt, desto näher kommt man dem eigentlichen Kontinuum, das nicht nur eine physikalische, sondern vor allem eine physiologische Grenze ist.«263 Die serielle Zeitästhetik dreht also die Logik von Achilles und der Schildkröte genau um: Die Bedingung einer minimalen Verräumlichung der Zeit wird zur Herausforderung durch die Frage, wo dieses Minimum tatsächlich vorliegt (die zumeist vorgegebene Zwölfzahl erzeugt rhythmisch bereits »dichte« Dauerproportionen, doch bleibt eine »diskrete« Logik der Datengewinnung weiterhin verpflichtend).264 Bei Henri Bergson hingegen steht diese Logik einer immer feineren Zeitteilung noch dafür ein, dass eine kinetische Unteilbarkeit der ursprünglich-realen Zeitstrecken verleugnet werden soll: »Wenn man dem Verstand entgegenhält, daß zwischen diesen Punkten etwas vor sich geht, so schiebt er schnell neue Positionen dazwischen und immer so weiter, bis ins Unendliche. Von dem eigentlichen Übergang von Punkt zu Punkt wendet er seinen Blick ab.«265
262 Vgl. Rudolf Frisius, »Musik als gestaltete Zeit: Formverläufe in der Neuen Musik – fließende Zeit und geschnittene Zeit«, in: Reinhard Kopiez u.a. (Hg.), Musikwissenschaft zwischen Kunst, Ästhetik und Experiment, Würzburg 1998, S. 173-190. 263 Boulez 1963, Musikdenken heute, S. 73. 264 Vgl. die skeptische Kommentierung dieses weiterhin an der Partiturnotation orientierten Konzepts des Kontinuums von Boulez bei Maldiney 1973, »Esthétique des rythmes«, S. 159. 265 Zit. nach Henri Bergson, »Denken und schöpferisches Werden« (1934/1948), in: Walter Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 226.
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Die Theorie des Rhythmus
Gegenüber diesen epistemischen Verallgemeinerungen der eleatischen Zeittheorie wäre für eine »erweitert metrische« Theorie des Rhythmus darauf zu beharren, dass die »digitalen« Zeitpunkte hierbei die Rolle der Schildkröte einnehmen: Es gibt immer einen wenn auch kleinen Vorsprung der Zeitpunkt-Kategorie gegenüber ihren Kritikern. Man kann für den Rhythmus höchstens eine salomonische Anteilsgleichheit von »schwingenden« und »springenden« Rhythmen fordern.266 Die Ablehnung der Zeitpunkt-Kategorie verweist somit auf genau jene Aspekte, in denen sich die »kritische« Rhythmustheorie als direkte Fortsetzung »esoterischer« Prämissen darstellen lässt. Die besondere Bedeutung von Deleuze in dieser Linie der Kontinuität liegt darin, dass dessen Philosophieren im Vorrang der Kontinuität der Linie ihre am stärksten konservative Grundentscheidung aufweist. Im »lokalen« Bereich der Rhythmustheorien muss man in dieser einen Frage ein Zusammenfallen von Theorieströmungen feststellen, für die auf jeder stärker »globalen« Theorieebene die Gegensätzlichkeit der verfochtenen Positionen hervortreten würde. Daher soll im folgenden Teilkapitel nachgetragen werden, welche Argumente bei Klages und seinen Anhängern von der »eleatischen« Zeitteilung zur »esoterischen« Rhythmuslehre führen.
5.5.3
Der Geist als Widersacher des Wassers
Die Polaritätenlehre besitzt das beständige Problem, dass Geist und Leib, Takt und Bewegung nicht als vollständige Opposition einander gegenübergestellt werden können. Es ist zu offenkundig, dass erstens selbst eine rein mechanische Taktierung unmittelbare körperliche Reaktionen auszulösen vermag, und dass zweitens jede vitale Rhythmisierung auf eine verbleibende kognitive Kontrollinstanz angewiesen bleibt. Der Dualismus von Geist und Leib muss daher durch einen weiteren Dualismus innerhalb der Sphäre des Geistigen ergänzt werden:267 Es muss eine vorrationale Form der Intentionalität, die auch im Rhythmus wirksam ist, von einer rationalen Form der Intentionalität getrennt werden, die nur gegen den Rhythmus wirksam ist.268 Die Bedeutung der Rhythmus- und Erkenntnistheorie von Klages liegt vornehmlich darin, dass mit dem Gegensatz von Geist und Seele ein Modell bereitgestellt wird, das diesen Dualismus in sich wirkmächtig abbildet. Der Restwert des rationalen Takts in der rhythmischen Erfahrung kann auf diese Weise elegant erklärt werden: In dem Dreieck, dessen erste Seite den Körper und die Seele als unbewusste Wissensformen miteinander verbindet, und dessen zweite Seite die Seele und den Geist als Wahrheitsformen strikt voneinander trennt, erfolgt die Affizierung des Seelischen durch das Geistige mittels der dritten Seite des Dreiecks, deren Status am wenigsten eindeutig ist: Die
266 Vgl. zu diesen beiden glücklich gewählten Begriffen Aulich 1932, Rhythmusproblem, S. 19. 267 Vgl. den Gegensatz des »analytischen« und des »synthetischen« Denkens bei Auerbach 1924, Tonkunst und bildende Kunst, S. 1f. 268 Vgl. auch Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 78: »Vor allem in der Literatur der Rhythmischen Gymnastik ist vielfach bestritten worden, daß die Intentionalität ein Merkmal der rhythmischen Bewegung sei. Dies geht jedoch offenbar von einer falschen Voraussetzung aus; nämlich von der Gleichsetzung von Intentionalität und Rationalität«.
5 Digital-Analog-Wandler: Die Geometrie des Rhythmus
körperlichen Reaktionen sind das Einfallstor der geistigen Reflexionen in die seelischen Rhythmisierungen.269 Diese Bedingung einer verdoppelten Intentionalität tritt besonders hervor, wenn ein Dualismus von Zivilisation und Kultur (oder von Gemeinschaft und Gesellschaft) bekräftigt werden soll. Offenkundig benötigt der positiv-organische Pol des Seelischen einen Zugriff auch auf geistig-intentionale Kompetenzen, während der Negativpol des Geistigen von allen seelischen Kompetenzen nahezu völlig abgeschnitten werden kann.270 Klages Dreiecksverhältnis erlaubt eine Modulation nach zwei Richtungen hin: Im ersten Fall kann man zwischen Seele und Leib ein Verhältnis der synästhetischen Einheit aufstellen, sodass zwischen Seele und Geist nicht mehr ein destruktiver Dualismus, sondern auch eine fruchtbare Polarität besteht (diese Lesart vertritt eine konservative Rezeption der Schriften von Klages).271 Im zweiten Fall hingegen wird diese Polarität bereits zwischen Seele und Leib aufgestellt, sodass die Austreibung des Geistes forciert werden muss.272 Die Relation des Geistes zur Seele wird nun einzig ein »negativer« Dualismus der Getrenntheit, aber nicht ein »positiver« Dualismus der polaren Verbundenheit abbilden (dies ist die Lesart in der Adaption von Klages Rhythmuslehre durch Rudolf Bode).273 Die Möglichkeit einer kulturkonservativen Wende zur ersten Position bleibt strategisch jedoch immer gegeben, wofür die späteren Schriften von Bode bereits einzelne Beispiele enthalten.274 Bei Klages selbst scheint eine organische Verbindung zwischen Rhythmus und Takt dagegen die frühere Position des Graphologen zu sein, die sich in seiner »esoterischen« Erkenntnislehre zunehmend verschärft.275
269 Vgl. Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 816: »Unser Gegensatz zu jeder Art von Ideologie vollendet sich mit dem entscheidenden Zusatz, daß seinen Stützpunkt im Lebensganzen der (abendländische) Geist gerade nicht an der Seele, sondern am Leibe finde«. 270 Vgl. als Beispiel die methodische Differenz von »Kürwille« (als geistigem Willkürakt) und »Wesenwille« (als seelisch unbewusstem Willen) bei Tönnies 1922, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 85ff. 271 Vgl. etwa Blendinger 1951, Rhythmus Gottes, S. 192: »Die Dreiheit Leib-Seele-Geist ist noch keine echte Dreiheit, sondern im Grund eine Zweiheit. Leib und Seele bilden eine Einheit gegenüber dem Geist«. 272 Vgl. zu diesem Problem der Vermittlung zwischen Dualismus und Polaritätenzweiheit Julia Wagner, »›Summe der Schnappschüsse‹ und ›Urtümliche Bindekräfte‹. Ludwig Klages und Alexander Rodtschenko«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie, 7/1 (2013), S. 79f. 273 Vgl. Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, o.S. (Vorwort): »Der Kosmos lebt, und alles Leben ist polarisiert nach Seele (Psychae) und Leib (Soma).« Vgl. zudem Haeberlin 1993, Lebensrhythmen, S. 6: »Leben fordert allein diese beiden Pole, Leib und Seele, und webt stets nur in ihnen.« 274 Vgl. Rudolf Bode, Musik und Bewegung, Berlin-Lichterfelde 2 1942, S. 39f: »Jedes große Kunstwerk ist eine Synthese von Rhythmus und Takt. Takt ist ein aus dem Geistigen stammendes konstruktives Prinzip, dessen restlose Durchsetzung den Tod aller gestaltenden Kräfte bewirken würde, indem eine tote Ordnung schließlich das Leben ersticken würde. In der Synthese mit dem rhythmischen Prinzip aber bedeutet Takt eine Steigerung der dynamischen Kräfte […]« (wohl nicht zufällig treten solche Aussagen als Ausdruck einer faschistischen Opportunität statt einer radikalen Opposition nun stärker hervor). 275 Vgl. etwa Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 126: »Gemäß der früher besprochenen Rhythmik aller Lebenserscheinungen verläuft keine menschliche Tätigkeit in ununterbrochenem Fluß, sondern sie pendelt zwischen zwei Grenzzuständen und vorbereitet dadurch den geistigen Takt«.
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Die Theorie des Rhythmus
Diese Differenz zwischen Geist und Seele kann durch den Gegensatz zwischen Zeitpunkten und Zeitstrecken konkretisiert werden, aber auch durch eine Gegenüberstellung von Gleichheit und Ähnlichkeit weiter verallgemeinert werden. Klages ungemein einflussreiche Formel von der rhythmischen Erneuerung des Ähnlichen und der taktmäßigen Wiederholung des Gleichen liefert vielen Rhythmustheorien einen entscheidenden Anker für den angenommenen »Vorrang des Analogen«. Diese Opposition bleibt konstant anschlussfähig an das Problem einer doppelten Intentionalität und den Dualismus von Kultur und Zivilisation (so findet sich zum Beispiel in Spenglers Untergang des Abendlandes eine Begriffsbildung, die eben dieser Funktion entspricht): »Damit hat sich in voller Deutlichkeit ein Unterschied offenbart, den wieder ein unklares Wort, Bewußtsein, zu trüben pflegt. Ich unterscheide Dasein und Wachsein. Das Dasein hat Takt und Richtung, das Wachsein ist Spannung und Ausdehnung.«276 Gleichheit beruht in all diesen Modellen auf »digitaler« Getrenntheit, Ähnlichkeit hingegen auf »analoger« Verschmelzung. Daher wird der Begriff bei Klages auch zunächst nicht am Rhythmus, sondern an der Melodie erläutert: Der »analoge Extremwert« eines kontinuierlichen Flötentons besitzt in einem Kontext größtmöglicher Identität immer noch die Eigenschaft, dass die vierte oder fünfte Klangsekunde der vorherigen Zeitspanne nicht gleich, sondern nur ähnlich ist.277 Ähnlichkeit ist notwendig ein Begriff mit unscharfen Rändern, Gleichheit dagegen ein Begriff mit scharfen Rändern (denn in den beiden Begriffen muss sich die Differenz zwischen Trennung und Verschmelzung spiegeln). Das Konzept der Ähnlichkeit bei Klages wird daher falsch verstanden, wenn in dem Begriff nur eine irrationale Abkehr von Grundbedingungen empirisch seriöser Datenerhebung gesehen wird. Ähnlichkeit wird in diesem Fall zu »verschwommen« bestimmt. Der Begriff wird jedoch auch falsch bestimmt, wenn er selbst wieder einer »digitalen« Datenlogik unterworfen wird und dann zum Beispiel definiert wird als die »Gleichheit einzelner wichtiger Merkmale (mindestens eines, jedoch nie aller).«278 Ähnlichkeit ist demgegenüber in einer »esoterischen« Zeitperspektive genau umgekehrt jene Eigenschaft, bei der zwar alle Teile, aber nicht die Gesamtheit eines Objekts als gleichartig wahrgenommen werden können: »Zeigt nun die Reihung jener Phasen eine gewisse Ordnung, wird auf Grund der Bewegung in ähnlichen Zeiten annähernd Gleiches gebracht, d.h. folgt einer zeitlichen Phase in ähnlichen Abständen immer eine fast gleiche zeitliche Phase, folgt einer räumlichen Phase in ähnlicher Reihe immer eine fast gleiche räumliche Phase, so sprechen wir von dem Rhythmus eines sich bewegenden Materials.«279
276 Spengler 1981, Untergang des Abendlandes, S. 563. Die Differenz ist, dass Mikrozeit und Makrozeit bei Spengler selbst dualistisch getrennt werden, anstatt im Polaritätsbegriff verallgemeinert zu sein: »Alles Kosmische trägt das Zeichen der Periodizität. Es besitzt Takt. Alles Mikrokosmische hat Polarität. Das Wort ›gegen‹ drückt sein ganzes Wesen aus. Es besitzt Spannung« (Ebda., S. 559). 277 Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 8. 278 Benesch 1955, »Problem des Begriffes Rhythmus«, S. 362. Vgl. auch Ziehen 1927, »Rhythmus«, S. 190, der Gleichheit und Ähnlichkeit als zwei gleichwertige Erfüllungsformen des poetischen Verses ansieht. 279 Aulich 1932, Rhythmusproblem, S. 9.
5 Digital-Analog-Wandler: Die Geometrie des Rhythmus
Die zentrale Qualität der non-zyklischen Aktualisierung wird hier gegenläufig funktionalisiert: Bedingung des Rhythmus ist nicht nur, dass ein Gleiches in seiner zeitlichempirischen Präsenz sich selbst immer nur ähnlich ist, sondern auch, dass diese Ähnlichkeit sich weiterhin auf eine Vorgabe der Gleichheit beziehen lässt. Es ist einmal die Gleichheit vorausgesetzt (als metrische Taktierungsvorgabe), die eine minimale Abweichung zum nur noch Ähnlichen erfährt, während nun die Ähnlichkeit aller Dinge vorausgesetzt wird (als rhythmisches Lebensprinzip), was eine maximale Anpassung zum in sich Gleichen bewirkt. Daher muss Klages sogar noch die Gleichheit in das Gesetz der empirisch weitesten Form der non-zyklischen Aktualisierung mit einbeziehen, die immer nur Ähnlichkeit erzeugen wird: »Das Gleiche ist ein Gedankending, das, wenn auch niemals exakt genau, so doch annähernd genau im Anschauungsstoff verwirklicht wird durch menschliches Machen; das Ähnliche ist ein unabhängig von der Tätigkeit unsres Geistes stattfindender Erlebnisinhalt, auf den unser Denken nur hinweist […].«280 Dieses »esoterische« Rhythmuskonzept der Ähnlichkeit tritt in seiner Eigentümlichkeit nochmals etwas stärker hervor, wenn man es mit dem aktuelleren Konzept einer »Ästhetik des Ähnlichen« vergleicht, das eher im Umfeld der »kritischen« Rhythmustheorien zu Bedeutung gelangen kann. Auch hier etabliert sich ein »digitales« Denkmodell der Gleichheit, das in den Gegenständen eine kategoriale Gliederung voraussetzt: »›Gleich‹ sind zwei Gegenstände immer nur bezüglich einer bestimmten Qualität, sie mögen beide rot sein, die gleiche Länge haben oder dem gleichen Diskussionszusammenhang entstammen – was sie sonst noch sind, bleibt außer Betracht.«281 Die Differenz liegt jedoch darin, dass in der ästhetischen Erfahrung die Ähnlichkeit gerade als Aufscheinen gemeinsamer Eigenschaften zwischen Dingen konzipiert wird, die für das logische Denken weit auseinanderliegen, und nicht als Aufscheinen einer immer gleichen Eigenschaft der empirischen Ähnlichkeit, die auch an nahezu gleichen Dingen abgelesen werden kann. Ähnlichkeit bleibt in beiden Fällen ein Begriff der Interferenz zwischen Identität und Differenz, und daraus erklärt sich bereits seine mögliche Verbindung mit dem Rhythmusbegriff.282 Doch die Ähnlichkeit soll unerwartete Identitäten in vorhandene Differenzen einschreiben, während Rhythmus erwartbare Differenzen in vorhandenen Identitätsabfolgen erzeugt. Daher bleibt die »esoterische« Rhythmik des sich stetig erneuernden seelischen Erlebens an jene Formen von Ähnlichkeit gebunden, die nur an einer Serie gleicher Objekte hervortreten können (an Naturzyklen, der Wellenbewegung, den Körperschwingungen etc.). Das Grundproblem ist, dass ein Effekt der Rhythmisierung, der eine Angleichung ungleicher Objekte im Vorgang einer taktmäßigen Repetition bewirkt, ausgeschlossen werden muss, sodass nur der komplementäre Effekt einer Rhythmisierung
280 Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 33. 281 Gerald Funk/Gert Mattenklott/Michael Pauen, »Symbole und Signaturen. Charakteristik und Geschichte des Ähnlichkeitsdenkens«, in: Gerald Funk/Gert Mattenklott/Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen, Frankfurt a.M. 2000, S. 10. 282 Vgl. Brandstätter 2008, Grundfragen der Ästhetik, S. 23: »Ähnlichkeitsbeziehungen sind grundsätzlich offene Beziehungen, sie nutzen den offenen Zwischenraum zwischen Identität und Differenz«.
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akzeptiert werden kann, bei dem gleiche Objekte die empirisch ähnlichen Ablaufinstanzen in einem Vorgang der rhythmischen Erneuerung bereitstellen. Dadurch bleiben offene Ereignisstrukturen ohne vorgegebene Beantwortung unberücksichtigt: Eine polare macht eine pluralisierte Rhythmik unmöglich. Der Konflikt für Klages lautet, wie in dieser Konzeption einer rhythmischen Ähnlichkeit noch ein Abwehrprogramm der »subjektiven Rhythmisierung« möglich ist, unter den beiden ungünstigen Bedingungen, dass erstens nicht eine Verschiebung in eine differente Zeitebene vorgenommen werden kann, sondern ein Primat einer sinnlichen (bzw. seelischen) Wahrnehmung gültig bleiben muss, und dass zweitens der Rhythmus sich nicht durch stochastische Weitungen der metrischen Antizipierbarkeit entziehen kann, sondern ein Primat von regelhaften Ablauffolgen vorliegt. Das Problem ist, dass sich das Seelische in dem Augenblick, in dem die rationale Gleichheit in bestimmten Fällen als die »natürlichere« Form der Rhythmisierung erscheint, nur noch durch ein aktives Eingreifen behaupten könnte, aber damit genau durch jenen Akt, dessen Fehlen das Seelische im Rhythmuserleben ausmachen soll (man muss aktiv eingreifen, um nicht aktiv einzugreifen). Es muss ohne eine »subjektive Rhythmisierung« dennoch ein »rhythmisiertes Subjekt« erzeugt werden. Eine erste Bedingung hierfür ist es, die »rhythmisierte« Reihe und deren polare Wirkung von der »rhythmisierenden« Reihe der lediglich periodisierten Zeitintervalle abzutrennen: »Ist darnach die vollkommenste Regelerscheinung die abgemessene Einser-Reihe und erst nächst ihr die Zweier-Reihe, die uns als Muster des Takts gelte, so bezeugt sich im Zweitakt der Geist mit der identisch wiederholbaren Spanne, dagegen das Leben mit dem Wechsel des Auf und Ab.«283 Es bleibt aber das Problem bestehen, dass eine kontinuierliche Stetigkeit so zwar zwischen jeder einzelnen Phase des Auf und Ab besteht, aber nicht in der Reiteration der Auf-Ab-Folgen. Es besteht immer die Gefahr, dass beim Einbezug der Reiterationen sofort wieder die metrisch-rationale Rhythmusebene mit zurück ins Spiel kommt. Die verbleibende zweite Bedingung muss daher zur Abwehr der »subjektiven Rhythmisierung« nichts weniger tun, als die »objektive Rhythmisiertheit« der Welt vorauszusetzen: Die Trennung in eine »rhythmisierende« und eine »rhythmisierte« Reihe wird durch deren immer schon gegebene Verschmolzenheit hinfällig. Rhythmus ist nicht mehr der geistige Akt, der die beiden Reihenformen zunächst trennt, um sie wieder zu synthetisieren, sondern das passive seelische Wahrnehmen, das sie von vornherein synthetisiert belässt. Diese Entgrenzung des zum Weltprinzip erhobenen Rhythmus hat jedoch einige ebenso große Begrenzungen zur Folge. Erstens besteht dadurch eine nahezu unüberwindlich große Distanz innerhalb der ersten Welle der Rhythmusforschung zwischen der dominanten Theorie und der gleichzeitigen ästhetischen Praxis. Die Modernisierung der Rhythmik erfolgt dort als Emanzipation der »rhythmisierenden« von der »rhythmisierten« Reihe (oder umgekehrt), deren Trennbarkeit also vorausgesetzt bleibt.
283 Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 54.
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Zweitens ergibt sich auf diese Weise eine extreme Asymmetrie des Beispielapparats: Der Rhythmus repräsentiert den gesamten Kosmos, der Takt repräsentiert einzig sich selbst. Die unzähligen Rhythmusformen, die im Bereich der Gleichheit des Geistes ästhetisch erfunden werden, müssen alle ausgeklammert bleiben, während der riesige Bereich des Lebendigen auf den einen Normalfall der polarisierten Rhythmik zusammenschrumpft.284 Es wird damit ausgesprochen kompliziert, die vielen alltäglichen Erfahrungen des Rhythmischen unter diesen einen Begriff der polarisierten Stetigkeit zu stellen und der seelischen Ähnlichkeit gegenüber der »subjektiven Rhythmisierung« ihren Vorrang zu belassen. Klages diskutiert dieses Problem anhand des Klapperns der Räder auf den Schienen bei einer Eisenbahnfahrt: »Nicht der Rädertakt als solcher entspannt und löst, sondern das im fraglichen Falle untrennbar mit ihm verknüpfte Erlebnis des Fortbewegtwerdens.«285 Klages unterstreicht sein Argument mit einem bewusst überkonstruierten Beispiel: Wenn der Zug anhält, wird der Reisende unruhig und verliert den Eindruck rhythmischer Behaglichkeit, selbst wenn zufällig in genau diesem Moment durch den Fabriklärm neben der Bahnstrecke das stampfende Takterlebnis sich in exakt gleicher Form fortsetzen würde. Man erkennt in dieser Konstruktion leicht wieder ein Dreieck aus (a) dem Rädertakt des Geistes, (b) dem stetigen Bewegungserlebnis der Seele und (c) dem entspannten »Flow-Zustand« des Körpers. Die These von Klages lautet, dass (a) nur dann zu (c) führen kann, wenn es durch (b) vermittelt ist. Es besteht jedoch das Problem, dass (b) auch ohne (a) vorliegen kann und dann weiterhin im Passagier des lautlos dahingleitenden Schnellzugs der Gegenwart das Gefühl (c) auslösen wird, das nun aber nicht mehr mit einem genau so starken Gefühl der Rhythmisiertheit verbunden ist. Daher muss man zur ästhetischen Abwertung der »subjektiven Rhythmisierung« auch Beispiele vorbringen, dass sich für (c) beim Vorhandensein von (a) ohne das gleichzeitige Vorhandensein von (b) nicht mehr ein entspannender, sondern ein enervierender Eindruck einstellen wird. Für diesen Gegenzustand gibt es ein Beispiel, das von ganz verschiedenartigen Schriften über den Rhythmus herangezogen wird, einen imaginären Horrorfilm mit dem Namen »Der tropfende Wasserhahn«.286 Es wird eine »rhythmisierende« Reihe dargeboten, deren Umwandlung in eine »rhythmisierte« Reihe nicht mehr als Vergnügen, sondern zumeist nur als Qual empfunden wird. Der Tropfenfall ist das prototy-
284 Vgl. Haeberlin 1933, Lebensrhythmen, S. 1: »Leben ist pausenloses Fließen, ewiges Sichverwandeln; Geist, in diesem streng festgelegten Sinne psychologischer Fachausdrucksweise, ist die nur im menschlichen Bewußtsein und sonst nirgends in der Welt sich findende Fähigkeit zur Trennung, Sonderung, Feststellung«. 285 Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 29. Vgl. dazu auch Cowan 2011, Technology’s Pulse, S. 37 sowie Seashore, Psychology of Rhythm, S. 138: »A good illustration of this is found in a very crude way when one is lying in a Pullman sleeper and the successive beats coming from the crossing of rail joints set up a time which carries tunes that come into one’s head«. 286 Vgl. zum Rhythmus der Tropfenfälle beispielhaft Gerold Baier, Rhythmus. Tanz in Körper und Gehirn, Hamburg 2001, S. 57. Vgl. zum negativen Effekt der metrischen Antizipation beim Tropfenfall zudem Rose 1994, Menschliche Uhr, S. 9 sowie auch schon Benesch 1955, »Problem des Begriffes Rhythmus«, S. 377.
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pische Beispiel für die in sich unzureichenden »digitalen« Rhythmusanteile, was man durch einige Vermutungen aber zumindest etwas nivellieren kann: So signalisieren das Tropfen und der stehenbleibende Zug von vornherein einen fehlerhaften Zustand, und die Tropfenabfolge passt sich zudem nicht zwingend den günstigen Zeitfenstern für eine rhythmische Gruppierung an. Schließlich dürften sich auch Fälle finden lassen, in denen ein metronomisches Klickgeräusch als angenehme Einschlafhilfe empfunden wird. Populäre Darstellungen vereinfachen zudem den Übergang von »analogen« Naturereignissen zu »digitalen« Zählakten genau in diesem Fantasiebild eines möglichst gleichmäßigen Tropfenfalls: »Wasser tropft in gleichmäßigen Abständen auf einen Felsen; jemand aus einer Gruppe von Frühmenschen ahmt das nach, indem er mit einem Holzstock auf denselben Felsen klopft. Ein anderer fällt ein und findet Spaß daran, genau doppelt so schnell zu schlagen, so dass man sich bei jedem zweiten Schlag trifft: Rhythmus und Metrik. Ein dritter entdeckt, dass der Klang anders ist, wenn er statt auf den Felsen auf Holz schlägt: Tonfarben.«287 Für die Differenz zwischen dem unangenehmen Gefühl des Tropfenfalls und dem angenehmen Gefühl des Wellenrauschens lässt sich aber versuchsweise noch eine weitere Erklärung in Anschlag bringen: Der Gegensatz »analoger« Ähnlichkeit und »digitaler« Gleichheit wird in jeweils verschiedene Richtungen modifiziert. Die ans Ufer schlagenden Wellen oder auch der prasselnde Regen erzeugen ein angenehmes Gefühl einer »analogen Gleichheit«, bei dem die Differenzen der einzelnen Impulse sich in ein immerzu gleiches Grundrauschen auflösen.288 Das an den Nerven zerrende Warten auf den nächsten Wassertropfen erzeugt demgegenüber ein unangenehmes Gefühl, weil nun in einer »digitalen Ähnlichkeit« gerade ein Widerspruch besteht zwischen der Fokussierung auf die diskreten wie monotonen Einzelereignisse und der Empirie des nächsten Ereigniseintritts, der eben nicht vollständig exakt berechenbar ist. Das angenehme Gefühl der »analogen Gleichheit« beruht darauf, dass die Stetigkeit gesteigert wird, aber die Polarisierung so weit reduziert ist, dass keine Zeitpunkte mehr hervortreten, an die sich eine »subjektive Rhythmisierung« anheften kann. Und das unangenehme Gefühl der »digitalen Ähnlichkeit« lässt sich ebenso einfach erklären als Ablösung der Polarität, die in dem Wechsel zwischen dem langsam wachsenden Tropfen und seinem finalen schnellen Hinabfallen weiterhin besteht, von dem Eindruck einer grundierenden Stetigkeit. Klages muss daher seine Definition des Rhythmus als polarisierte Stetigkeit so modifizieren, dass der Vorrang der Polarität, der für die Bedingung der »objektiven Rhythmisiertheit« der Welt notwendig ist, wieder durch einen Vorrang der Stetigkeit in den konkreten Beispielen abgelöst wird, die gegen die »subjektive Rhythmisierung« gerich-
287 Thomas Richter, Warum man im Auto nicht Wagner hören sollte. Musik und Gehirn, Stuttgart 2012, S. 26. 288 Vgl. dazu etwa Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 33: »Sowenig wir Ebbe und Flut wollen können, sowenig können wir das Rhythmische wollen. Die Woge rollt gegen den Willen«.
5 Digital-Analog-Wandler: Die Geometrie des Rhythmus
tet sind. Es wird dadurch ein aktivierender Rhythmus der Erregung gegen einen beruhigenden, passiven Rhythmus der Einschlafhilfen ausgetauscht. Es entsteht demnach wieder ein Modell, bei dem eine maximale Naturalisierung von gegebenen künstlich-rationalen Prozessen konstatiert werden kann, wo eine minimale Artifizialität beim Erleben gegebener natürlicher Prozesse geleugnet werden soll. Wie die Wellenbewegung selbst kann auch das Modell des Rhythmischen, das aus dieser Bewegung gewonnen wird, beständig in eine vollständig metrisierte Perspektive umkippen. Aus Sicht des Gestaltdenkens wird dann die rhythmische Qualität der Wellenbewegung nicht mehr durch Polarität und Stetigkeit erzeugt, sondern vielmehr durch die »[…] zeitliche Gleichheit der Abstände in den Wendepunkten der Wasserteilchen.«289 Der Gegensatz von Rhythmus und Takt kann so beim Referat von Klages Theorie in rhetorisch fataler Weise selbst mit dem Ideal der rhythmischen Ähnlichkeit verknüpft werden: »Diese dem Rhythmus ähnlichen, aber keineswegs verwandten Leistungen des Geistes, werden von ihm als Takt bezeichnet, in krasser Gegenüberstellung zum Rhythmus.«290 Das Zusatzproblem der »esoterischen« gegenüber der »kritischen« Rhythmustheorie besteht darin, dass »Digitalität« unter der erschwerenden Bedingung von »Binarität« bekämpft werden muss. Kritisiert wird einzig eine Umsetzung der Polarität durch leere statt gefüllte Zeitintervalle: »Rhythmische Ordnung gilt nun als um so vollkommener, je genauer und schärfer die Gleichheit der Stöße und ihrer Abstände voneinander durchgesetzt wird. Wobei die Abstände, um über die keinen Halt gebende Leere hinweg als genau gleich empfunden werden zu können und die Leere nicht zu peinlich fühlen zu lassen, sehr kurz genommen werden müssen. Daher nun die Vorliebe für maschinenhaft gleichförmige und möglichst enge Schlagzeug-Akzentuierungen in der Musik.«291 Was die erste Welle der Rhythmusforschung als Genesungsvorschlag in dieser Modernekritik anbieten kann, sind sehr verschiedene Formen einer Ausfüllung der »leeren« Zeitintervalle. Die Erzeugung eines sinnfälligen Zeiterlebens kann durch die Kurvendiagramme der empirischen Experimente erfolgen, durch den Summenüberschuss der Gestalttheorie oder auch durch die Mitbewegungslehre einer musikalischen Stiltypologie. Das nächste Kapitel erstellt eine Aufarbeitung dieses medienhistorischen Projekts zur Auffüllung leerer Zeiten, wobei der Weg von der Laborsituation um 1900 bis zur ideologischen Eingliederung in den Faschismus nach 1930 führen muss.
289 Flik 1936, Morphologie des Rhythmus, S. 2. 290 Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 57. Vgl. auch Baxmann 2009, »Arbeit und Rhythmus«, S. 15: »Rhythmus bedeutet gleichmäßige Wiederholung des Ähnlichen«. Das erscheint ungenau, da gleichmäßig entweder ein Synonym für Ähnlichkeit ist, oder aber die Gleichheit ein Antonym der Ähnlichkeit sein soll. 291 Rudolf Steglich, »Über Wesen und Geschichte des Rhythmus«, in: Studium Generale 2 (1949), S. 150.
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6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
6.1
Labor
Die Sirenensituation der Odyssee lässt sich auch in einem ganz konkreten Sinn als Abbild einer Versuchsanordnung deuten: Die Position des Odysseus, in aufrechter Haltung, mit geschärfter Wahrnehmung, aber teilweise fixierten Gliedmaßen, nimmt ziemlich genau das Rollenbild des Probanden vorweg, dessen Reaktionen unter kontrollierten Bedingungen protokolliert werden. Zu den ästhetischen Reizen, die in den Experimenten seit dem späten 19. Jahrhundert eingesetzt werden, gehören dabei natürlich auch die neuzeitlichen Sirenenklänge der isolierten Einzeltöne und kontinuierlichen Klangmodulationen. Tatsächlich ist in der Sirenenepisode der Odyssee im Grunde auch ein Paradigmenwechsel abgebildet, durch den dieses Rollenbild sich entscheidend verändern wird. Odysseus freiwillige Konfrontation mit dem Sirenengesang verweist auf das altbewährte Modell des wissenschaftlichen Selbstversuchs, bei dem ein mit außergewöhnlich scharfen Sinnen begabtes Einzelsubjekt zum Träger des Erkenntnisgewinns werden muss (wenn also zum Beispiel nur ein besonders geübtes Ohr in einer schwingenden Saite auch besonders viele Obertöne identifizieren kann). Die Ruderer im Unterdeck des Schiffs, die durch verstopfte Ohren von Informationen zunächst abgeschnitten werden, repräsentieren demgegenüber die neuartige Idealsituation, bei der ein Experiment am besten funktioniert, wenn die Probanden gar nicht wissen, dass sie gerade an einem Experiment teilnehmen. Das neue Paradigma der Läsionsstudien leitet von nun an die empirischen Erkenntnisse umgekehrt aus besonders wenig begabten, psychisch oder physisch beeinträchtigen Versuchspersonen ab.1 Es gibt also in der empirischen Laborsituation um 1900 einen Ausschluss des »Normalbürgers« einmal weiterhin zugunsten der Selbstversuche des überdurchschnittlich
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Vgl. dazu auch Rieger 2000, Individualität der Medien, S. 336: »Blinde, Taubstumme und nicht zuletzt die Rumpfmenschen halten mit ihrem Defekt dem ganzen Menschen die Möglichkeit seiner Zergliederung vor, konfrontieren den ganzen Menschen mit jener programmatischen Unganzheit, von der man sich so viel Erkenntnis über das Anthropologicum erhoffte und diese zum Teil auch bekam«.
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Die Theorie des Rhythmus
begabten Einzelnen, und einmal zugunsten der unterdurchschnittlich begabten Randgruppen (und auch durch den Einbezug von »primitiven« Kulturen).2 Dieses alternative Modell wird auch für Fragestellungen in der Musikwissenschaft wichtig, zum Beispiel in der Verschmelzungstheorie der Konsonanz von Carl Stumpf, die sich nur belegen lässt, wenn das Kriterium, dass zwei Töne umso stärker miteinander konsonieren, wenn sie wie ein einziger Ton erscheinen, anhand von unmusikalischen Versuchspersonen ermittelt wird.3 Experimente zur rhythmischen Gruppenbildung sind durch die elementare Einfachheit der abgefragten Daten, die anthropologisch universale Mechanismen abbilden sollen, eigentlich ein geeigneter Gegenstand für das neue Paradigma der Läsionsstudien, werden aber um 1900 ganz aus dem Geist des alten Paradigmas der Selbstversuche heraus etabliert. Studien zur Rhythmisierung bei Kindern oder auch bei Kranken finden sich zwar durchaus unter den empirischen Arbeiten innerhalb der ersten Welle der Rhythmusforschung; sie erscheinen aber erst in der Auslaufphase dieser Forschungswelle und verweisen auch selbst auf ihren Ausnahmecharakter.4 Bei Experimenten mit Schizophrenen wird hierbei der für die »subjektive Rhythmisierung« entscheidende Übergang von der »rhythmisierenden« zur »rhythmisierten« Reihe durch den einen Fall gestört, der als Abfolge von »successive downbeats« bis heute für die Theorie der metrischen Perzeption einen umstrittenen Problemfall darstellt: Die Patienten neigen als Probanden dazu, in den Experimenten bereits in der Reihe der gleichartigen Schläge jedes einzelne Element mit derselben starren Betontheit vorzutragen.5 Einen Hauptanteil machen demgegenüber Experimente aus, in denen für die Beobachtung der Rhythmisierungen von vornherein fast nur mit dem Forschungsfeld bereits vertraute Personen herangezogen werden. Das hat zur Folge, dass sich für die Gestaltlogik der Gruppierungsprozesse eine Beschreibungssprache etabliert, die von denjenigen Personen bestimmt wird, die an einer aufscheinenden Sinndimension in den einfachen Sukzessionfolgen berufsbedingt das meiste Interesse besitzen. Diese Präsenz des charismatischen Institutsleiters scheint im deutschsprachigen Raum besonders stark ausgeprägt gewesen zu sein. So findet man im psychologischen Institut in Zürich, das von Ernst Meumann geleitet wird, in einer Studie von Margaret Keiver Smith zum Zusammenhang von Rhythmus und Arbeit die Versuchsperson »E.M.«, der seiner weiblichen Assistentin die Ergebnisse ihres eigenen Experiments gleichsam publikationsfertig in 2 3
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Vgl. beispielhaft Kittler 1985, Aufschreibesysteme, S. 250f. Vgl. mit verteidigender Grundhaltung Stumpf 1898, Konsonanz und Dissonanz, S. 36: »Wenn es auch paradox klingt, daß die Grundlage der Musik an Unmusikalischen aufgezeigt werden soll, so ist der Zusammenhang bei näherer Überlegung doch durchsichtig genug«. Vgl. zudem Ash 1995, Gestalt psychology, S. 30 zum Selbstversuch als Gegenprinzip. Vgl. insbesondere Rudolf Leibold, Akustisch-Motorischer Rhythmus in früher Kindheit. Eine strukturpsychologische Studie, München 1936, S. 1: »Blickt man auf die wachsende Fülle der Veröffentlichungen über Rhythmus, so findet man unter zahlreichen, von Metaphysik durchtränkten, keine entwicklungspsychologische Fragestellung«. Vgl. Langelüdekke 1928, »Rhythmus und Takt«, S. 43. Vgl. als aktualisierte Bestätigung auch Karl Theodor Kalveram, »Stottern: Eine Rhythmusstörung in einer hierarchisierten Handlungssteuerung?«, in: Katharina Müller/Gisa Aschersleben (Hg.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern 2000, S. 212f.
6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
die Feder diktiert (wobei es bedeutsam für die genieästhetische Inszenierung der Institutsleiter ist, dass dieses Diktat niemals anders herum erfolgt).6 Während ein empirisches Experiment heute umso besser funktioniert, je weniger die Probanden über das eigentliche Erkenntnisziel informiert sind, gilt die Versuchsperson in dieser früheren soziologischen Konstellation eher noch als Ehrenmann, der auch dort nicht betrügen wird, wo es ihm durch die Transparenz der Versuchsbedingungen leicht möglich wäre.7 Die Sekundärliteratur einzelner Aufsätze aus dieser Zeit wird so in manchen Fällen zugleich zur Primärquelle für die Probandenliste, wenn die Professoren sowohl durch ihre eigenen Aufsätze und als Teilnehmer der Experimente in den empirischen Arbeiten der Assistenten präsent sind. Die statusbewussten Auflistungen der Versuchspersonen lesen sich wie die Vorstellungsrunden bei einem Fachkongress: »Als Vpn. nahmen daran teil die Herren: Prof. Dr. Wirth, Prof. Dr. Kirschmann, Dr. med. Starke, Lektor Peters und cand. phil. Hoh«.8 Die Angaben zu den Versuchspersonen lassen zudem eine Konservierung des alten Rollenbilds der Selbstversuche durch dessen Kollektivierung im elitären Milieu einer wissenschaftlichen Forschungsstätte erkennen: »Alle Herren waren Mitglieder des Psychologischen Institutes der Universität Leipzig und hatten z.T. eine gründliche psychologische Schulung aufzuweisen.«9 In den protokollierten Antworten tritt dann folgerichtig besonders eindrücklich hervor, wie die Beschreibungen von optisch einfachen Reihen, in denen entweder rhythmische Ordnungsmuster oder chaotische Abfolgen von Punkten und Strichen präsentiert werden, beständig in den Bereich der politischen und ästhetischen Vorurteile abwandern. Es entsteht beinahe ungewollt eine Art rhythmischer Rorschach-Test zur Mentalitätsgeschichte der 1920er-Jahre. Eine typische Antwort zur Abbildung der Abscheu gegenüber einer unrhythmischen Punktreihe ist dabei, diese wirke wie die »Parteien im Reichstag« (und auch in den weiteren Antworten bleibt der Gegensatz figural geordneter und abstrakter Punktfolgen mit einer überzogenen moralischen Dimension aufgeladen: »Ich hasse diesen Widerstreit, diese Eigenwilligkeit jedes Teilchens« bzw. »Ich bin unfähig, mich dem eigenwilligen Stoff gegenüber durchzusetzen«).10 Man sollte sich also überlegen, ob man mit den Mitgliedern des Psychologischen Instituts eine Ausstellung moderner Kunst besuchen möchte. Als soziologische Erklärung kann man in solchen Expertisen unschwer eine Anpassung des Bilds vom charismatischen Universalgelehrten an die veränderten Bedingungen einer empirischen und einzelwissenschaftlichen Spezialisierung erkennen. Es 6 7
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Vgl. Smith 1900, »Rhythmus und Arbeit«, S. 93. Vgl. als Beispiel Albert Wellek, Das absolute Gehör und seine Typen, Bern 2 1970, S. 5f.: »Die Instruktion ist lediglich negativer Art. Es wird den Vpn eingeschärft, daß die Stützung der absoluten Tonerkennung durch Behelfe welcher Art immer zu vermeiden ist. Besonders also ist das Intervallgehör auszuschalten«. Paulssen 1920, »Gliederung der Vorperiode«, S. 213. Sander 1926, »Räumliche Rhythmik«, S. 136. Vgl. auch Kreiner 1916, Ästhetik des sprachlichen Rhythmus, S. 6: »Alle Beobachter bis auf zwei Herren waren psychologisch soweit vorgebildet, daß sie mindestens an einem Einführungskurs in die experimentelle Psychologie teilgenommen hatten; die übrigen Herren brachten der Psychologie so viel Interesse entgegen, daß sie nach den Vorversuchen die Bedingungen zur ästhetischen Beurteilung der Rhythmen erfüllen konnten«. Sander 1926, »Räumliche Rhythmik«, S. 140 bzw. S. 137.
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ergibt sich ein Austauschprozess, bei dem einerseits die Rhythmusforschung sich den Naturwissenschaften annähert, aber andererseits in die empirischen Rhythmusabfolgen die altbekannten humanistischen Bildungsideale eingetragen werden.11 Die Rezeption dieser Studien in der zweiten Welle der Rhythmusforschung kehrt diesen Prozess um: Was damals empirische Objektivität für sich behaupten wollte, wird nun zum Bestandteil ideengeschichtlicher Konzepte oder zur Anregung für ästhetische Beschreibungsprogramme.12 Der Konflikt zwischen den »objektiven« und den »subjektiven« Anteilen der Rhythmusforschung tritt am stärksten in der mit dem Namen von Eduard Sievers verbundenen Schallanalyse hervor. Der Begriff bereits zeigt das differente wissenssoziologische Konzept, denn die Klanganalyse des physikalischen Tons bleibt im 19. Jahrhundert an dessen periodische Geordnetheit gebunden, die Analyse der empirischen Gesamtheit aller Schallvorgänge dagegen kann sich scheinbar von der Referenz auf den Teilbestand der geordneten Klänge befreien, gerade weil sie sich stets nur auf die im Schall enthaltenen Sprachäußerungen stützt; der Begriff suggeriert also eine Absenz jedweder geisteswissenschaftlicher Vorbedingungen, die schlicht in dieser Form nicht vorliegt.13 In den empirischen Experimentalanordnungen kann daher ein eklatanter Konflikt hervortreten zwischen den Apparaturen, die völlig unnatürliche Beschränkungen des Gesichtsfelds durch Drahtverhaue, Trichter etc. voraussetzen, und der Annahme, dass die mit diesen Mitteln erzeugten Individualkurven nur aussagekräftig sind, wenn sie einen möglichst natürlichen und unvoreingenommenen Vortrag in sich abbilden.14 Die dafür notwendige Verschiebung von der grafisch »digitalen« Abbildung einzelner betonter und unbetonter Akzentpunkte zum Vorrang der kontinuierlichen Kurvendiagramme überträgt sich sogar noch in die normativen Verslehren und in einen
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Vgl. Stefan Rieger, »Draht«, in: Benjamin Bühler/Stefan Rieger, Kultur. Ein Machinarium des Wissens, Berlin 2014, S. 47: »Weil diese Fundierung im Körper sowohl für die originale Herstellung als auch für mögliche Reproduktionen gelten soll, erscheint die Schallanalyse als Lösung für ein akutes Methodenproblem innerhalb des Disziplinengefüges: Sie verheißt den notorisch als subjektiv verschrienen Geisteswissenschaften den ersehnten Status der Objektivität«. Vgl. Simonis 2001, Gestalttheorie, S. 71f.: »Es ergibt sich der paradoxe Befund, daß die Gestaltmodelle in dem Augenblick, in dem sie in der Biologie und angrenzenden Wissenschaften unwiderruflich obsolet werden, eine neue, wenn auch etwas anders gelagerte Karrierechance erhalten.« Ähnlich lässt sich das für die Mitbewegungslehren von Sievers, Becking und Truslit konstatieren. Vgl. zu diesen drei Namen Patrick Shove/Bruno H. Repp, »Musical motion and performance: theoretical and empirical perspectives«, in: John Rink (Hg.), The Practice of Performance. Studies in Musical Interpretation, Cambridge 1995, S. 65. Vgl. auch Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 43. Vgl. zur Geburt der empirischen Wissenschaften aus dem Geist der Varietékünstler etwa die Aussagen zum Gedichtvortrag unter der erschwerenden Bedingung des Feuerschluckens bei Karl Marbe, »Über die Verwendung rußender Flammen in der Psychologie und deren Grenzgebieten«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 49 (1908), S. 212: »Statt sich der empfindlichen Kapsel zu bedienen, kann man daher auch direkt auf die Sprachflamme sprechen. Doch ist dies, wenn man nicht weitere Vorkehrungen trifft, praktisch mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden. Zunächst muß man den Mund in die Nähe der Flamme bringen, was Unbequemlichkeiten mit sich führt. Hierbei ist es nicht leicht, so zu sprechen, daß nur die Sprachflamme und nicht auch die Zeitflamme beeinflußt wird«.
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nicht-empirischen Analysekontext. Die Taktlehre des sprachlichen Vortrags von Andreas Heusler verdankt sich zum Beispiel einem ohne diesen Medienhintergrund unvorstellbaren Denkmodell, bei dem normative Schemata strikt verpflichtend bleiben, aber das Taktprinzip stets als organischer Tiefenverlauf »hinter« der konkreten Silben- und Akzentanzahl entdeckt werden soll.15 Der Witz ist also, dass der Selbstversuch in der Schallanalyse von Sievers funktionieren muss, als wäre er einzelnen Bedingungen einer Läsionsstudie unterworfen. Man muss jeglichen geistigen Eigenanteil ausschalten, um im Vortrag fremder Texte oder im Nachzeichnen gehörter Musik nur die Eigenkurve des Erstautors wiedergeben zu können: »Das kann aber nicht anders geschehen, als indem der Vortragende sich zunächst in Inhalt und Stimmung der Dichtung so versetzt, daß sie in ihm, wie einst in ihrem Urheber, wieder lebendig wird, daß er von ihr so ergriffen wird, als ob er sie im Augenblick aus eigener Stimmung heraus selbst erzeugte.«16 In ähnlicher Weise fordert Rudolf Steglich, bei den Mitbewegungen, die Gustav Becking für eine musikalische Typenlehre entwickelt hat, müsse das »Befangensein im eigenen, unter Umständen noch gehemmten oder verbildeten Grundrhythmus«17 überwunden werden. Die Logik einer Bewahrung der Genieästhetik unter empirischen Bedingungen erzeugt freilich ein terminologisches Paradox, denn das Ergebnis, in denen der eigene Wille des Autors unbedingt nicht mehr hervortreten darf, heißt dann natürlich doch wieder Beckingkurve. Es ist also die vollständige Ausschaltung des eigenen Selbst notwendig, um die Einschreibung dieses Selbst in das alte Forschungsmodell der außergewöhnlich begabten Einzelpersonen noch erreichen zu können: Odysseus muss die Rolle der Ruderer einnehmen, um Odysseus bleiben zu können. Die dafür verwendete Methode erscheint im Grunde vor allem ethnologisch: Es ist das Privileg eines einzelnen Forschers, aufgrund von jahrzehntelanger Arbeit eine bestimmte Schrift oder Sprache entschlüsseln zu können. Doch besteht der Widerspruch, dass diese ethnografische Methode nun eurozentrisch auf den Bildungskanon der eigenen Kultur angewendet wird. Der »esoterische« und der »empirische« Weltzugriff können in der Schallanalyse miteinander verbunden werden, sodass für deren Ergebnisse eine unbedingte Objektivität einverlangt wird.18 Offenkundig ist diese Zielsetzung wiederum nicht ohne einen
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Vgl. Ghattas 2009, Rhythmus der Bilder, S. 27: »Die für Heuslers Rhythmustheorie symptomatische Verschränkung von Norm und Erleben ist paradox: Normative Schemata können, so die erste Aussage, den Rhythmus nicht beschreiben; doch dieser entsteht wiederum, so die zweite, nur aus dem Wissen um die eigentliche Intention des Dichters, nicht aus der Wahrnehmung der rhythmischen Performanz«. Vgl. Sievers 1912, Rhythmisch-melodische Studien, S. 39. Steglich 1949, »Wesen und Geschichte des Rhythmus«, S. 142. Vgl. Eduard Sievers, Ziele und Wege der Schallanalyse, Heidelberg 1924, S. 65: »Was ich Ihnen vorzutragen habe, sind nicht irgendwelche verstandesmäßigen Lehrsätze, die durch Überlegung oder Spekulation gewonnen wären, die sich also auch rein verstandesmäßig lernen und nachprüfen lassen, über die man also, mit anderen Worten, auch mit Erfolg debattieren kann«.
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Die Theorie des Rhythmus
Blick auf die Maschine als neuen Konkurrenten des feinen Gehörs eines Geniegelehrten zu verstehen. Das geistlose Objekt kann stets genauere Aufzeichnungen liefern als selbst das begabteste Subjekt, und daher muss dieses Subjekt für sich die absolute Objektivität einer maschinellen Messung beanspruchen. Um die Maschine als zwischengeschaltetes Medium ausschalten zu können, muss der Mensch selbst in den Modus einer rein passiv aufzeichnenden Maschine versetzt werden. Stefan Rieger hat das für die Schallanalyse von Sievers eindringlich als einen entscheidenden Faktor herausgestellt: »Er selbst wird zum intentional ungedämpften Instrument, das sich im Zuge einer metaphorisch veranschlagten Selbstjustierung immer genauer auf den Stand der zu analysierenden Dinge einstellt und dadurch dem Ruch von mangelnder Objektivität und Selbstmanipulation aussetzt.«19 Die veränderte Logik von Läsionsstudien lässt sich mit der Datenverarbeitung der Maschinen assoziieren, etwa wenn selbst in vollständig unsinnigen Silbenfolgen noch mögliche Muster ermittelt werden. Die Idee einer »digitalen« Zergliederung in kleinste unteilbare Elemente wird dadurch hervorgebracht, dass in einer maschinellen Analyse anstelle einer Selektion nur auf die sinnvollen Varianten stochastisch vollständige Listen aller möglichen Kombinationsformen erzeugt werden.20 Die Passivität der Aufzeichnung wird auch in der Handschriftenlehre von Klages als eine Art kriminologisches Wahrheitskriterium inszeniert, doch übersehen die »esoterischen« Rhythmustheorien geflissentlich die ästhetisch progressiven Möglichkeiten, die sich durch eine Auslagerung des Lesevorgangs in die Maschinen ergeben.21 Wird der Rhythmus stattdessen in einer »esoterischen« Theorieperspektive als das Hervortreten tiefster Lebensströmungen verstanden, so erzeugt dies genau jene Eigenschaften, die auch bei Experimenten mit Fischen beobachtet werden können, die im Labor fixiert wurden, um so ihre Vitalbewegungen zu messen: Das zuckende Tier dokumentiert bei völliger Passivität weiterhin eine rhythmische Disposition, die in dem periodisierten Kurvenverlauf festgehalten wird.22 Ein Messprogramm, das sich historisch im Umfeld von Tierversuchen entwickelt hat,23 wird nun auf die Germanistik und Musikwissenschaft übertragen:
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Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 282. Vgl. Kittler 1986, Grammophon. Film. Typewriter, S. 139: »Einen Unsinn, den (mit der einen Ausnahme Freud) nur technische Medien hervorlocken konnten, machen auch nur technische Medien speicherbar«. Vgl. zudem Bernhard Siegert, »Das Amt des Gehorchens. Hysterie der Telephonistinnen oder Wiederkehr des Ohres 1874-1913«, in: Jochen Hörisch/Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920, München 1990, S. 83-106. Vgl. zu diesem Konnex am Beispiel von Ezra Pound auch Golston 2008, Rhythm and Race, S. 63. Vgl. zudem am Beispiel des George-Kreises auch Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, S. 154. Vgl. die Abbildung des Experiments bei Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 391. Vgl. zum historischen Kontext einer Suche nach Alternativen zur Vivisektion auch Rabinbach 1990, Human Motor, S. 95 sowie Sarasin 2001, Reizbare Maschinen, S. 66f. Die Relevanz dieser historisch früheren Methoden tritt noch hervor bei Bolton 1894, »Rhythm«, S. 150.
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»Dabei wird der Leser die Melodien des Dichters wenigstens ihrem Grundcharakter nach um so sicherer und treuer reproduzieren, je naiver und reflexionsloser er sich dem Gelesenen hingibt, d.h. je mehr sein Vortrag den Charakter einer unwillkürlichen Reaktion auf unbewußt empfangene Eindrücke trägt.«24 Die Fehlleistung einer im Labor operierenden Lebensphilosophie liegt womöglich darin, dass der Mensch unterschätzt wird in dem Ausmaß, in dem er auch »notational« bestimmt ist; zugleich wird die Maschine überschätzt in dem Ausmaß, durch das sie nur »notational« bestimmt ist (und also ohne Einvermengung ihres eigenen Wesens die gesuchten Lebensrhythmen aufzeichnet).25 Die »subjektive Rhythmisierung« lässt sich von der Schallanalyse jedoch als weitaus seriösere Form der Wissensbildung abgrenzen, deren Ergebnisse bis heute nicht bestritten und teilweise aus den frühesten Experimenten übernommen werden können. Doch auch das Gestaltideal ist nicht frei von »esoterischen« Versuchungen, in denen der Rhythmus als Strukturform eines ganzheitlichen Erlebens einer Melodisierung und Idealisierung unterzogen wird.
6.2.
Gestalt
Das Anfangsdokument der Gestaltpsychologie ist auch der Anfang einer engen Verbindung dieser holistischen Betrachtungsweise mit dem spezifischen Beispiel des Musikalischen. Christian von Ehrenfels stellt dabei insbesondere einen Aspekt heraus: »Der Ausgangspunkt von der Lehre über Gestaltqualitäten war der Versuch der Beantwortung einer Frage: Was ist Melodie?«26 In einer historischen Perspektive kann man sagen, dass das Gestaltdenken seinen ureigenen Gegenstand der Melodie zunehmend rhythmisiert: Untersuchungen über Gesetze der rhythmischen Gruppierung werden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zumindest eine ebenso große Rolle erhalten wie Melodiestudien. In einer systematischen Perspektive wird dadurch allerdings der Rhythmus zunehmend melodisiert: die rhythmischen Sukzessionen werden mit Vorstellungswerten beschrieben, die auf eine simultane Ganzheitlichkeit verweisen. Entscheidend ist demzufolge das Faktum, dass in der Gestaltlehre die Sukzession von diskreten Einzelelementen zur zentralen methodischen Vorbedingung für eine Beschreibung von dichten Summengestalten erhoben wird.27 Im Gestalterleben erfolgt eine Synthese zwischen den Wahrnehmungs24 25
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Sievers 1912, Rhythmisch-melodische Studien, S. 61. Vgl. zum Einfluss dieses Modells auch noch auf Theorien des »élan vital« Antliff 1993, Inventing Bergson, S. 10: »To enter into intuitive relation to the self was, paradoxically, to dissolve self-presence altogether«. Christian von Ehrenfels, »Über ›Gestaltqualitäten‹« (1890/1922), in: Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie, hg. von Reinhard Fabian, München 1988, S. 168. Diese Referenz auf die Melodie ist eine Konstante auch bei Bergson oder bei Husserl 2013, Phänomenologie des Zeitbewußtseins, S. 11. Vgl. dazu Viktor von Weizsäcker, Gestalt und Zeit, Göttingen 2 1960, S. 3: »Gestalt ist das Festgewordene; aber gerade dieses erweist sich dann wieder als das Flüssige. Gestalt ist in Figuren und Formen; aber diese sind offenbar nicht Anfang, nicht Ende, sondern selbst Gewordene und Werdende«.
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prinzipien der Plötzlichkeit und der Passivität, wenn der Mehrwert der Summe gegenüber den einzelnen Teilen sich zum einen als unvermittelter Wissenszugewinn darstellt, aber sich zum anderen dieser Zugewinn dann nicht einstellt, wenn die Wahrnehmung den entsprechenden Vorgang erzwingen will.28 Die Gestaltlehre vermittelt in der ersten Welle der Rhythmusforschung zwischen deren eigenen »empirischen« und »esoterischen« Tendenzen und wird in Folge dessen normativ teils extrem stark aufgeladen, weil hier ein Bindeglied entdeckt werden konnte, durch das sich ein geistig vermitteltes Erkennen auf ein seelisch unbewusstes Erleben zurückführen lässt.29 Die Melodisierung des Rhythmischen wird zum konkreten Problemfall eben für dieses Postulat: Wenn eine musikalische Ereignisabfolge in eine Summengestalt überführt wird, kann einmal die »analoge« Qualität der melodischen Gesamtlinie und einmal die »digitale« Quantität der rhythmischen Gruppenglieder vorrangig erfasst werden. Die Gestalttheorie und die daraus abgeleitete Phänomenologie der Melodie kämpfen beständig mit der Fragestellung, ob die Unteilbarkeit der melodischen Zeitstrecke unabhängig gedacht werden kann von den Bedingungen der diskreten Einzelintervalle (und damit der notationalen Zeitpunkte) und der tonalen Strebewirkungen (und damit einer geistigen Projektion von Wertdifferenzen). Wird diese Abhängigkeit zugestanden, ist die Theorie sofort mit einer stark konservativen Schlagseite versehen. Wird jedoch diese Abhängigkeit zurückgewiesen, dann ist die Theorie mit einer esoterischen Schlagseite versehen, da sich die energetischen Kräfte nur noch schwer analytisch-begrifflich fixieren lassen.30 In der einzelwissenschaftlichen Forschung führt Ernst Kurth das Kinetische als expliziten Begriff in seine energetisch ausgerichtete Musiktheorie mit ein.31 Dabei tritt das Problem zutage, dass das Kinetische einerseits einen Gegenbegriff eben zum Rhythmischen bilden soll, aber auch die Anwendung dieses Konzepts für eine atonale Melodielehre den heftigen Widerstand vonseiten Kurths erfahren hat. Die erste Bedingung der diskreten Zeitpunkte kann also immer nur mit der zweiten Bedingung der tonalen Zentrumswirkungen bekämpft werden. In der Gestalttheorie dürfte sich dieser Sachverhalt jedoch umgekehrt darstellen: Die an der Melodielinie erkannten Gestaltgesetze sollen als Gegenstand verallgemeinert werden, weshalb die Darstellung fast nie auf konkrete Tonsysteme, aber nahezu immer auf Punktsukzessionen angewiesen bleibt. Der Einflussverlust der Gestalttheorie nach dem Ende der ersten Welle der Rhythmusforschung erklärt sich dann einerseits damit, dass in der »kritischen« Rhythmus-
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Vgl. Ash 1995, Gestalt psychology, S. 408 (dort bezogen auf Analogien zu Thomas Kuhns Modell des Paradigmenwechsels). Vgl. beispielhaft dazu Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 963: »Die Gestalt ist keine Ureigenschaft des Dinges, wohl aber die einzige sekundäre Eigenschaft, ohne deren Mitanwesenheit die Ureigenschaft in den Abgrund bloßer Möglichkeiten hinabsänke«. Vgl. Helmuth Plessner, »Anthropologie der Sinne« (1970), in: Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt a.M. 1980, S. 348: »Ob Dissonanz oder Konsonanz, Tonleiter hin, Tonleiter her, Töne müssen in Höhenlagen sukzessiv dargeboten werden, damit ihre Verbindungs- und Verschmelzungsmöglichkeiten sich entfalten können«. Vgl. Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ›Tristan‹, Hildesheim 1975, S. 5.
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theorie deren konservative Schlagseite immer stärker hervortreten musste,32 während die teilweise heftige Ablehnung des Gestaltdenkens in den Zeittheorien der seriellen Musik der 1950er-Jahre sich andererseits auch daraus ableiten lässt, dass dort die esoterische Schlagseite der Gestaltkinetik in Konflikt gerät mit der Ableitung der rhythmischen Dauern aus diskreten Tonhöhenreihen.33 Der Versuch einer Rhythmisierung des Melodischen führt in einzelnen Ansätzen die empirische Gestaltpsychologie aber auch schon zur Vorwegnahme des seriellen Prinzips, die rhythmischen und diastematischen Zahlenrelationen aus den gemeinsamen Proportionen wie 1:1 oder 2:3 abzuleiten (wobei immer das Übersetzungsproblem besteht, dass die Oktave als harmonisch-rhythmisches Primärintervall mit der einfachsten Proportion kein melodisch übliches Intervall darstellt, während die Sekunde als melodisches Normalintervall mit der stärksten kinetischen Wirkkräftigkeit keine harmonisch-rhythmisch konsonante Proportion mehr bereitstellt).34 Der gegenläufige Versuch einer Melodisierung des Rhythmischen hingegen ist davon abhängig, dass die »esoterische«, rein melodische Kinetik mehr oder minder explizit von der »empirischen« Gegebenheit einer tonal-harmonischen Kinetik abhängig bleibt. Die Aussagen zur energetischen Qualität der Melodie und die Ableitung dieser Qualität aus tonalen Akkordfolgen müssen in den Rhythmus- und Zeittheorien beständig künstlich wieder voneinander getrennt werden. Als prägnantes Beispiel für das Problem kann man den Dualismus zwischen einer »irrationalen« und einer »rationalen« Form der Tonalität anführen, den Wilhelm Heinitz vorgeschlagen hat: »Die mögliche Unbestimmtheit der tonalen Bezogenheiten führt uns nunmehr zu der Unterscheidung von irrationaler und rationaler Tonalität. Die irrationale stellt die Bezogenheit auf das ›einer jeden klanglichen Situation Entgegengesetzte‹ dar, also des Hohen auf das Tiefe, des Steigens auf das Fallen, des Verharrens auf das Sichbewegen usw. Dagegen sehen wir in der rationalen Tonalität die schon oben behandelte Bezogenheit auf das ›einer jeden klanglichen Situation Gemeinsame‹, also auf Anfang, Ende, Hauptton und Tonika.«35 Diese saubere Trennung funktioniert nur, indem im ersten Fall eine Rhythmisierung des Melodischen als Prämisse unterstellt wird (die »irrationale« Tonalität ist ein genaues Äquivalent der rhythmischen Polaritätenlehre), während der zweite Fall als Resultat eine Melodisierung des Rhythmischen ermöglicht (ohne die »rationale« Tonalität kann man weitaus schwerer erklären, warum eine Sukzession von Einzelelementen in einer transponierten oder leicht modifizierten Abwandlung dennoch ihre spezifische Ge32 33
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Vgl. explizit in diese Richtung Baxmann 2000, Mythos: Gemeinschaft, S. 102: »In der Suche nach ›Gestalt‹ zeigen sich die Ängste vor Entgrenzung, vor Ambiguität und Mischungen«. Vgl. hierzu Marion Rothärmel, Der musikalische Zeitbegriff seit Moritz Hauptmann, Regensburg 1963, S. 105: »Der häufigste Irrtum beruht in der Identifizierung des musikalisch Fließenden mit der Zeit«. Vgl. zu diesem Ansatz, der aber eher eine Außenseiterposition bleibt, J. K. von Hoesslin, »Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens«, in: Archiv für die Gesamte Psychologie, Bd. 39 (1920), S. 246ff. Heinitz 1931, Strukturprobleme, S. 163.
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staltqualität bewahrt). Was die Gestalttheorie sowohl in ihrer empirischen wie in ihrer epistemischen Ausrichtung schlicht und einfach bewirkt, ist ein Vorgang, bei dem die »esoterische« Schlagseite der irrationalen Polaritätenlehre reduziert wird (wenn diskrete Zeitpunkte als nochmals stärkere Rhythmisierung akzeptiert werden), aber stattdessen die »konservative« Schlagseite einer rationalen Tonalitätsvorstellung verstärkt wird (wenn eine rhythmische Zeitgestalt dieselben Eigenschaften der Mehrwertigkeit gegenüber den Einzelteilen besitzen soll wie eine abgeschlossene Melodie). Der Nachweis, dass eine Gestalt mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile, ist bereits bei Ehrenfels von der Setzung eines »digitalen« Trägermediums abhängig, da ein »analoges« Trägermedium auch einen stetigen Übergang von der Gleichheit zur Verschiedenheit zulässig machen würde.36 Angelehnt an die Theorie von Ehrenfels kann man also festhalten, dass alle Gestaltbildung in der Zeit stattfindet bzw. notwendig eine zeitliche Komponente der Perzeption umfasst, aber alle Gestaltbildung die Zeit auch partiell in dem generierten Summeneindruck negiert. Für die reinen Raumgestalten gilt dabei, dass die Summe den Summanden vorausgehen kann (sodass also die Verzeitlichung durch den Rezipienten erfolgt), bei Zeitgestalten hingegen, dass die Summanden der Summe vorausgehen müssen (und nun die Verräumlichung durch den Rezipienten erfolgt).37 Es ist genau diese Überführung einer Sukzession von Summanden in die simultane Präsenz einer Gestaltsumme, in der sich Melodie und Rhythmus klar voneinander zu unterscheiden scheinen. Für den Vorrang der figürlichen Eigenschaften vor den konkreten Einzelintervallen hat sich in der Musiktheorie der Begriff der Melodiekontur etabliert: Er erzeugt einen Mehrwert, indem die Kontinuität einer übergreifenden kinetischen Linie zwischen den einzelnen Tonstufen betont wird, aber auch eine Subtraktion, weil ornamentale Verzierungen und die exakte Einzeltonfolge vernachlässigt werden können.38 In der entsprechenden Bestimmung einer Rhythmuskontur macht sich hingegen der erste Vorgang eines Mehrwerts weniger bemerkbar, während der zweite Vorgang einer Subtraktion früher und stärker störend hervortritt. Konfliktstellungen zwischen den Beschreibungsformen der Gestalttheorie und dem Rhythmus bestehen daher nicht auf der Ebene jener Prinzipien, die bereits für einzelne Summanden gelten (den Gesetzen der Nähe und Ähnlichkeit, der guten Fortsetzung und des geteilten Schicksals), sondern einzig auf der Ebene der übergreifenden Gestalteigenschaften, zu denen vornehmlich die Übersummativität und die Transponierbarkeit gehören. Die erste Welle der empirischen Forschung versucht, den Rhythmus als idealen Bestimmungsfall nicht nur für diese erste Ebene zu verwenden, sondern auch eng mit der zweiten Ebene der Summeneigenschaften zu verknüpfen, während die aktuelle psychologische Melodietheorie sich vom Primat der Gestaltsummen auch zu befreien versucht und sich der ersten Ebene zuwendet, die Gesetzmäßigkeiten für jeden einzelnen Schritt
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Vgl. Ehrenfels 1988, »Gestaltqualitäten«, S. 156. Vgl. Ebda., S. 137. Vgl. Burton S. Rosner/Leonard B. Meyer, »The Perceptual Roles of Melodic Process, Contour, and Form«, in: Music Perception 4/1 (1986), S. 1f.
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einer melodischen Sukzession bereitstellt.39 Der Gestalttheorie fehlt aus heutiger Sicht also gerade die Gestaltqualität: Es ist unklar, welcher Mehrwert in der Beschreibung einfacher Gruppierungsvorgänge durch den Gestaltbegriff noch erzielt werden kann. Relativ unproblematisch verbleibt für den Rhythmus zudem das Gesetz der Transponierbarkeit, weil ein einzelner Rhythmus auch bei der Übertragung auf ein anderes Instrument oder Material erkennbar bleibt (also bei einer weiterhin räumlichen, nicht zeitlichen Form der Modifizierung). Abwandlungen der Einzelelemente führen im Fall einer Melodie zwingend zu einem Konflikt zwischen zwei Deutungen: Die nahezu unveränderte Melodiekontur kann als Beweis einer gewahrten Gestaltqualität angeführt werden, während eine nahezu zerstörte Melodiequalität unterstellt werden muss, sobald die Implikationen eines tonalen Bezugssystems hervortreten (wenn zum Beispiel ein kadenzierender in einen dissonierenden Tonschritt verwandelt wird). In den »digitalen Summanden« einer rhythmischen Sukzession wird jedoch weder der Mehrwert der Gestaltsumme bei kleinen Abänderungen in der gleichen Weise bewahrt, noch tritt dort eine Minderung der Summenqualität durch ein vorgegebenes Wertsystem gleichermaßen hervor. Die konservativen Voraussetzungen stechen also weniger stark heraus, wenn nicht mehr das »Digitale« tonaler Funktionsbestimmungen in die melodische Kinetik projiziert werden muss, sondern die Kinetik in das von vornherein gegebene »Digitale« rhythmischer Punktsukzessionen projiziert werden kann. Auch daher kann und muss der Rhythmus den Beweis antreten für alle Behauptungen, die in der Gestalttheorie anhand des Beispiels der Melodie aufgestellt werden. Der Begriff der Gestaltsumme und deren logischer Vorrang des Endes vor dem Anfang werden damit jedoch gebunden an eine Struktur, in der immerzu nur Anfänge gegeben sind.40 Eine Gestalt ist eine Abfolge von Teilen, die den Eindruck eines Ganzen erzeugen kann, ein Rhythmus dagegen ist jenes Ganze, das sich insgesamt wiederum als Teil einer Sukzessionreihe einsetzen lässt. In den Experimenten, in denen Gestalt und Rhythmus als Konzepte miteinander verbunden werden sollen, tritt stets auch diese Differenz als unerwünschter Nebeneffekt hervor: »Die dynamischen Spannungen des Vorgestalterlebnisses drängen über dieses hinaus und beruhigen sich erst, wenn die Gestalt ›fertig‹ ist. Dagegen die dynamischen Spannungen der rhythmischen Gestalt ›bleiben im Spiele‹, sie sind sich selbst genug, in sich geschlossen.«41 Für die Verdrängung der »konservativen« durch eine »esoterische« Schlagseite der Theorien ist es bezeichnend, wie hier die Eigenschaft der Geschlossenheit auf die
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Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Gestaltbegriff Eugene Narmour, The analysis and cognition of basic melodic structures. The implication-realization model, Chicago 1990, S. 62: »Psychologists have never demonstrated that anything other than the parts working together generates a perceived whole«. Röthig 1966, Rhythmus und Bewegung, S. 132 erkennt darin eine Differenz von Melodie und Rhythmus: »Mit der Melodie ist eine ganz bestimmte Strecke (von Tönen), mit einem Anfang und einem Ende, abgesteckt. Der Rhythmus hingegen besitzt diese Begrenzung nicht«. Schmidt 1939, Aufbau rhythmischer Gestalten, S. 9.
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Teile übertragen wird, statt die Eigenschaft der Unvollständigkeit auch für das rhythmische Gestaltganze zu akzeptieren. Wenn die Teile der rhythmischen Gestalt aber in sich geschlossen sind, was man hier eher in der Bedeutung eines geschlossenen Schaltkreises lesen sollte, dann ist es das dadurch erzeugte (und in der Formulierung bewusst verborgene) eigene Weiterdrängen, die neuerliche Reiteration der Teile, das beim Rhythmus ein »Weiterdrängen« in die Ruhelage der Gestalt behindert.42 Selbst eine kürzestmögliche Definition des Rhythmus als »Wiederkehr einer Form«43 lässt diese Differenz zwischen Gestaltdenken und Rhythmuserfahrung bereits prägnant hervortreten: Form als organischer Gestaltbegriff idealisiert den Rhythmus, indem bereits mehr als nur eine Sukzession von Einzelpunkten vorausgesetzt wird; Wiederkehr dagegen rhythmisiert diese Form und verweist auf einen Vorgang, der nicht etwa eine Formqualität erzeugt, sondern auf jede erzeugte Form erneut angewendet werden kann. Rhythmus wird als Gestalt nicht nur definiert durch die non-zyklische Aktualisierung (die Längen- und Intensitätsdifferenzen, mit denen die rhythmische Gesamtgruppe stabiler gehalten wird als deren Einzelteile), sondern auch durch ein eigenes zyklisches Potenzial (die Instabilität der Einzelteile kann über die Gesamtgruppe hinweg fortwirken). Der Mehrwert der Summe wird beim Rhythmus erzeugt, indem ein »Minderwert« der Einzelteile ausgeglichen werden muss, wobei sich jedoch nicht nur die Eigenschaften der Gestaltsumme auf die Teile übertragen, sondern auch die Eigenschaften der Teile auf das Gestaltdenken. Rhythmus ist »mehr« als eine Gestalt, indem er beständig »weniger« als eine Gestalt bleibt.44 Das Denken in ganzheitlichen Gestalten entspringt also dem Messen von diskreten Einzelereignissen. Erneut bezeichnend ist die Art und Weise, wie Max Wertheimer die »Staccato-Punktfolge« nicht als Grundbedingung der melodischen Kinetik diskutiert, sondern als erschwerende Zusatzeigenschaft, in der eine bereits vorausgesetzte melodische »Legato-Linienkontinuität« dennoch bewahrt werden kann: »So ist es auch noch, wenn keinerlei Reizkontinua in Frage kommen; wenn die Melodie mit ihrer Begleitung etwa von einer der alten Spieluhren gespielt ist, in lauter kurzen, einzelnen Glockentönchen; im Optischen etwa, wenn auf sonst homogenem Grund Figuren, Gestalten sich voneinander abheben, die aus diskontinuierlichen Teilen (z.B. Punkten) bestehen.«45 Diese rhetorische Verschiebung aber ist verräterisch, denn die Gestaltgenese wird gerade durch das verschwimmende Legato gestört, wenn also die melodische Kinetik
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Man erkennt eine Anerkenntnis dieses Problems in den Hilfsbegriffen, mit denen die einzelnen Gruppen bei Sander 1926, »Räumliche Rhythmik«, S. 127 als »abgegrenzte Teilganze« bezeichnet werden. Weizsäcker 1960, Gestalt und Zeit, S. 18. Vgl. Fraisse 1975, »Is rhythm a Gestalt«, S. 232, wo die Übersummativität der Gestalt gegen diese selbst gewendet wird: »Rhythm is a Gestalt, but it is much more: a preferential mode of uniting perception and action, the source of social manifestations and the basis of arts of succession and movement«. Wertheimer 1923, »Lehre von der Gestalt«, S. 301f. Vgl. dort auch S. 310 zum Vorrang des Staccato als Übertragung des Abbildungsprinzips optischer Punktreihen auf akustische Informationen.
6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
nicht mehr auf diskrete Bestimmungsstellen zurückgreifen kann; und zudem suggeriert Wertheimer, er würde an dieser Stelle seiner Ausführungen die Bedingung der Punkthaftigkeit einführen, obgleich diese in der grafischen Darstellung der Einzelelemente schon zuvor stets vorausgesetzt ist. Als weiteres Beispiel für diese Problematik kann man auf die drei Kriterien verweisen, die Heinz Werner zur Typologisierung verschiedener Gestaltformen vorschlägt. Gestalten sind demnach entweder homogen oder heterogen (im ersten Fall tragen die Teile wie beim Einzelton oder der geraden Linie das Wesen des Ganzen schon in sich, im zweiten Fall wie beim Dreieck oder der Melodie nicht), sie sind zudem entweder gegliedert oder ungegliedert (enthalten also diskrete Einzelteile oder nicht), und schließlich sind sie entweder zentriert oder unzentriert (es gibt eine Über- und Unterordnung innerhalb der Einzelteile oder nicht). Nach der Einführung dieser drei Kriterien formuliert Werner deren Verhältnis nur für einen einzigen konkreten Anwendungsfall: »Der Rhythmus ist eine gegliederte, zentrierte Gestalt. Er ist eine gegliederte Gestalt: denn die Gegenüberstellung von betonten und unbetonten Teilen gehört zu seinem Charakter. Er ist eine zentrierte Gestalt: denn er ist zentriert in den betonten, gewichtigen Stellen, während die leichten, unbetonten Stellen auf die gewichtigen hinweisen, diese Gestaltschweren fordern. Das Charakteristische der Rhythmik ist demnach ganz allgemein darin gelegen, daß durch die besondere Bindung zentrale, schwere, tragende Teile leichte Teile mitbedingen, mittragen.«46 Es fällt natürlich auf, warum drei Kriterien vorgegeben werden müssen, wenn dann nur zwei für die Definition benötigt werden. Die Aussage macht in erneut typischer Weise für das Primat des Ganzheitlichen und Geschlossenen den Rhythmus zu zentriert, indem die homogene Qualität der Einzelteile rhetorisch unterschlagen wird: Gliederung wird in der »subjektiven Rhythmisierung« nur durch Zentrierung und Zentrierung nur anhand von homogenem Material gewonnen. Diese Homogenität aber wird in Werners Beispielen immerzu als »analoge« Qualität der kontinuierlich gezogenen Linie, nicht als »digitale« Qualität der diskreten Ereignisstellen aufgefasst. Die Tatsache, dass Gestalten als figürliche Entitäten dennoch aus nicht-figürlichen Einzelteilen zusammengesetzt sind, erzeugt zwingend die Frage nach dem Umkipppunkt der einen in die andere Zustandsform. Dies führt zu einem infiniten Regress, da nun die Gestaltsumme in immer kleinere Einzelteile aufgelöst werden müsste, die weiterhin ganz oder teilweise die Befähigung zur Summenbildung besitzen. Insbesondere für Ehrenfels scheint daher erneut die Idee eines »phänomenalen Atomismus« von Bedeutung gewesen zu sein, als Grenze kleinster Elemente, die gegeben sein müssen, damit die Perzeption überhaupt Figuren und Summen bilden kann.47 Als ein letztes Beispiel für die Virulenz dieser Problematik kann auf die Ästhetik von Richard Hönigswald verwiesen werden. Deren phänomenologische Ausrichtung beinhaltet auch einige eindringliche Warnungen vor der Möglichkeit, die nicht geleugnete, aber in ihrer Bedeutung reduzierte Bedingung der diskreten Einzelteile für das 46 47
Werner 1924, Ursprünge der Lyrik, S. 114f. Vgl. zu diesem Theoriehintergrund Barry Smith, »Gestalt Theory: An Essay in Philosophy«, in: Barry Smith (Hg.), Foundations of Gestalt Theory, München 1988, S. 16f.
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Erleben einer organischen Gestaltsumme im Rhythmus zu stark zu gewichten: »Wer also den Rhythmus ,zerlegt‹, kennzeichnet einen Gegenstand, der nur vermöge der Tatsache des Erlebens überhaupt Gegenstand ist.«48 Das Erleben als seelische Qualität wird hier erneut vom Zerlegen als geistiger Tätigkeit getrennt. Die Gefahren einer nachträglichen Zerlegung beantworten aber nicht die Frage, ob das Ganze der Summe sich nur durch eine vorweg gegebene Abfolge von Einzelsummanden überhaupt als Erleben aufstellen lässt. Man erkennt daran eine zentrale Funktion der Gestalttheorie, mit deren Werkzeugkasten methodisch die vitalistische Begrifflichkeit des Erlebens mit dem metrischen Projektionsvorgang der Gruppierung und Akzentuierung synthetisierbar gehalten werden kann: »Erst durch den Wechselbezug, der in der gestaltenden Produktion selbst vorliegt, bestimmt sich auch das Einzelelement. Erst in ihrer durch das Gesetz der Gestalt geforderten Gemeinschaft treten die Einzelelemente auseinander.«49 Auch in dieser Aussage werden politisch-soziale Wertdifferenzen mit einer Abgrenzung von den metrischen Wertsystemen verbunden und damit zugleich innerhalb der weiter gegebenen Beschreibungskomponenten der Gestalttheorie vorgenommen, die für beide Aussagebereiche gültig erscheint. In der politischen Begriffssphäre würde somit das »Gesetz der Gestalt« durch die zivilisatorische Logik der Gesellschaft zerstört,50 wohingegen das Verschmelzen der Einzelinteressen in einer Gemeinschaft weiterhin mit einem (rhythmischen) Gestaltideal direkt verknüpft werden kann.51 Die Voraussetzung hierfür aber verbleibt eine Melodisierung der Rhythmuskonzeptionen: »Das Rhythmuserleben setzt das Gegebensein von Elementen voraus, die an sich und in ihrer bloßen Summe, oder besser: in beliebiger Gruppierung, den Rhythmus noch nicht ergeben würden.«52 Eine äquidistante Schlagreihe kann jedoch kaum eine beliebige, also mannigfaltige Möglichkeit von Gruppierungen erzeugen, und der Eigenwert »digitaler Summanden« wird daran erkennbar, dass jede beliebige Gruppierungsfolge zumindest partiell eine Rhythmusqualität bewahren wird. Der Rhythmus selbst erhält daher im Gestaltdenken die antike Funktion eines Rhythmizomenon: Es geht nicht nur darum, dasselbe formale Ablaufprinzip in verschiedenen stofflichen Medien umzusetzen, sondern es geht auch darum, diesem formalen Prinzip selbst eine in sich stoffliche Bestimmung zuzusprechen. Die Ästhetik 48
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Hönigswald 1926, Problem des Rhythmus, S. 20. Vgl. zum rhetorischen Problem, eine seelische Qualität in geistige Quantitäten übersetzen zu müssen, zudem Leibold 1936, Rhythmus in früher Kindheit, S. 14: »Die rhythmische Erscheinungsform ist eine seelische Sukzessivgestalt, eine sich wiederholende, gegliederte Folge von rhythmischen Einheiten (Wundt), Rhythmuswellen oder rhythmischen Unterganzen […]«. Hönigswald 1926, Problem des Rhythmus, S. 26. Vgl. die rhetorische Formel bei Kracauer 1977, Ornament der Masse, S. 126: »Der Geist der Gruppe: das ist der Zusammenklang der Geister sämtlicher Gruppenglieder, die Gruppe ist nichts anderes als die Summe ihrer Angehörigen«. Vgl. Hönigswald 1926, Problem des Rhythmus, S. 12: »Beim Rhythmus Bestimmtheit des Einzelelements vermöge der Norm einer Gemeinschaft, der es angehört; bei der ›Abstraktion‹, wenn sie überhaupt möglich wäre, der Gedanke, daß sich die Gemeinschaft auf eine ihr vorausliegende und von ihr recht eigentlich unabhängige Bestimmtheit der Einzelelemente gründe.« Ebda., S. 7f.
6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
von Ettlinger bietet für diesen Zusammenhang eine griffige Formel an: »Es gibt keine rein rhythmischen Kunstwerke«.53 Die erste Welle der Rhythmusforschung scheint über alle Unterschiede der Methoden und des Standorts darin verbunden, dass sie aufgrund dieser einfachen Tatsache den Rhythmus nun scheinbar überall finden kann, wo sich das Programm einer Ersetzung von diskreten Einzelteilen durch vitale Erlebenskategorien umsetzen lässt. Die Gestalttheorie fungiert letztendlich auch als abkühlende Begrenzung dieser Begeisterungsspirale: Sie belässt das Leben im Labor, anstatt den Rhythmus aus dem Labor zu befreien und ins Leben zu entlassen.
6.3
Jargon
Rhythmus lässt sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unzweifelhaft einordnen unter jene »bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter«54 , die von Adorno als Jargon der Eigentlichkeit zusammengefasst und kritisiert worden sind. Der Begriff des Rhythmus wird von Adorno selbst zwar nur ein einziges Mal in der Polemik aufgerufen, doch verweist der Kontext dieser Erwähnung direkt auf jene ursprünglichen Existenzformen, zu denen auch der Rhythmus einen Zugangsschlüssel bereitstellen soll: »Vorgeblich heiles Leben […] wird durch seine eingeschliffene Sprachgestalt, fern aller gesellschaftlichen Besinnung, agrarischen Verhältnissen oder wenigstens der einfachen Warenwirtschaft gleichgesetzt als einem Ungeteilten, schützend Geschlossenen, in festem Rhythmus und ungebrochener Kontinuität Verlaufenden.«55 Der Jargon einer Abkehr von der verdorbenen Jetztzeit verbindet sich mit einer doppelten Stoßrichtung: Der Handwerker, der Bauer und die ländliche Dorfgemeinschaft werden als lebensphilosophische Idealbilder mit der urbanen Gegenwart kontrastiert, während den neuzeitlichen Lebenskontexten des Ökonomischen und des Technologischen mit tief verwurzelten Vorbehalten begegnet wird.56 Bauer und Handwerker sind die beiden Trumpfkarten, mit denen zuverlässig die föderalistische Zersplitterung und die fehlenden Revolutionen in die Ideologie einer in Deutschland angeblich stärker bewahrten lebensweltlichen Ursprünglichkeit umgedeutet werden können. Sie besitzen daher in den »esoterischen« Rhythmustheorien einander ergänzende Beweisfunktionen. Das Bäuerliche dient vor allem zur Rückbindung eines vitalistischen Rhythmusbegriffs an das Vorbild der Naturzyklen: »Noch für den Bauern und Landmann, und eigentlich nur noch für ihn, gelten die Rhythmen von Tag und Nacht und diejenigen der Jahreszeiten.«57 Der Rhythmus bleibt in diesem Bild des bäuerlichen Lebens zudem am Ideal der kreisförmig um eine feste Mitte gezogenen Gemeinschaft ausgerichtet, für die das Ge53 54 55 56 57
Ettlinger 1900, »Ästhetik des Rhythmus«, S. 161. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a.M. 1965, S. 9. Ebda., S. 52. Vgl. auch Gehlen 1957, Seele im technischen Zeitalter, S. 7. Haeberlin 1933, Lebensrhythmen, S. 7.
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höft oder das Bauerndorf, auch noch die um die Kirche organisch gewachsene Kleinstadt, aber nicht mehr das städtische Verkehrschaos als Vorbild benannt werden können.58 Der Handwerker garantiert hingegen mit seiner Tätigkeit die Rückbindung der lebensweltlichen Rhythmen an einen Vorrang von »analog-binären« Bewegungsmustern: »Beim Werkzeug bleibt der Mensch Herr über die Mittel, weil er die Quelle der bewegenden Kraft bleibt.«59 Darin steckt immer auch eine Ablehnung der neuzeitlichen Kapitalwirtschaft, die in den sozialen Lebenswelten der bürgerlichen Wohnhäuser ihre Spuren hinterlässt: Eine Studie zum Rhythmus in deutschen Haushalten der 19020er-Jahre verweist zum Beispiel mehrfach darauf, dass alle Gelddinge zu den Aufgaben der Hausfrau gehören, während der mit Geistesdingen beschäftige Ehemann nur an Geld interessiert ist, insoweit es seine eigenen Ausgaben betrifft.60 Vor allem jedoch kann sich die Idealisierung des Handwerklichen auf einen breiten kulturellen Konsens stützen, der auf diese Weise eine Trennlinie zur stumpfsinnigen Maschinenarbeit zieht: »Die Maschine ist nicht mehr Handwerkszeug: sie ist emanzipiertes Werkzeug, das heißt: der Hand entglittenes Werkzeug. Sie ist dies im wörtlichsten Sinne, denn dieses Werkzeug glitt dem Menschen ex manu (e-man-zipierte sich), geriet ihm aus Hand und Herrschaft, wurde autonom, selbstherrlich.«61 Damit Rhythmus Hand und Fuß besitzt, muss immer die Hand als stärker »analoger« Körperteil der kontinuierlichen Kurvenbewegungen gegen den Fuß als stärker »digitaler« Körperteil der stampfenden Schreitbewegungen in den Vordergrund gestellt werden. Der rhythmische Jargon der Eigentlichkeit basiert folgerichtig auf der Handschriftenlehre bei Klages, auf dem Einbezug des schwingenden Oberkörpers bei Bode gegenüber dem metrischen Schreiten in der Dalcroze-Schule, und auf Mitbewegungen der Hände bei Becking und Sievers.62 Es dürfte kein Argument häufiger und entschiedener vorgetragen sein als jenes, bei dem mit dem Bild der zerstörerischen Maschinenwirkungen (an dem man nicht zwingend nur Zweifel anmelden muss) zugleich das Bild eines zünftigen Handwerkerlebens
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Vgl. als Fortsetzung und Kritik dieses Bilds von der Stadt Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, übs. von Linda Meissner, Berlin 1995, S. 34: »Die Stadt bringt Menschen zusammen, die verschieden sind, sie intensiviert die Komplexität des sozialen Lebens, sie stellt Menschen einander als Fremde vor«. Bode 1933, Aufgaben und Ziele, S. 22. Vgl. auch Sallwürk 1924, Rhythmus des Geisteslebens, S. 18. Vgl. Marie Baum/Alix Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens. Das von einer Familie täglich zu leistende Arbeitspensum, Berlin 1931, S. 17. Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Teil 2, Schaffhausen 1986, S. 413. Vgl. auch Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 114 sowie Tönnies 1922, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 24f. Vgl. Bode 1942, Musik und Bewegung, S. 52: »Nur die Marsch- und Tanzmusik ist vom Schritt- und Stampfrhythmus durchpulst, aber diese Vertikalform der Bewegung ist nur eine mögliche Form (bedingt durch die bei jedem Schritt auftretende Hemmung des Fußes durch den Boden), die wesentlich umfassendere Form ist die Horizontalschwingung, bedingt durch die wesentlich feinere Bewegungsgestaltung der Arme (wie beim Dirigieren)«.
6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
beschworen wird (gegen dessen idyllische Zeichnung man sicherlich Zweifel bewahren darf): »Fragt man nach den Gründen dieser Abkehr vom Rhythmus, so ergibt sich, daß die allmähliche Umgestaltung des Lebens, die Trennung von Kopf- und Handarbeit, die Differenzierung von Arbeit und Kunst und letzten Endes die Maschine es waren, welche den Rhythmus verdrängten.«63 Die Gegenüberstellung der Lebenswelten des Handwerkers und der Maschinenarbeit dient als zentrales Argument bei der Aufstellung der Diagnose einer »Arythmie« der Gegenwart, die durch die pädagogischen oder ästhetischen Reformbemühungen überwunden werden soll.64 Die Schriften von Rudolf Bode stellen für diese Rhetorik eine bewährte Quelle bereit, denen man beinahe wahllos einzelne Zitate entnehmen kann: »Daß der Entrhythmisierungsprozess weit vorgeschritten ist, dafür sprechen viele Anzeichen wie z.B. der Grad, in welchem die natürlichen Bindungen des Lebens – Rasse, Volk, Stamm, Familie – sich verwischen, die damit verbundenen ethischen Gefühle – Rassenstolz, Nationalstolz, Familienstolz – ihre innere Stärke verlieren, der Internationalismus sich ausdehnt und mit ihm das ganze Heer rationaler Begriffe und wurzelloser Gefühle.«65 Die kritischen Auseinandersetzungen mit dieser Diagnose der Arythmie, die ebenso häufig und entschieden erfolgt sind, haben es daher sehr leicht, einen offenkundigen Widerspruch zwischen dem Ideal einer von allen Verderbnissen der Zivilisation getrennten Ursprünglichkeit und dem Entspringen dieser Vorstellung eben aus derartigen zivilisatorischen Bedingungen festzuhalten.66 Das Argument wird in prototypischer Form von Annette Hartmann in der Auseinandersetzung mit Heinz Pollacks Theorie von der Revolution des Gesellschaftstanzes durchgeführt: »Einerseits offenbart sich hier ein eklatanter Widerspruch in Pollacks Denken, da er zwar der Ragtime-Musik einen Urrhythmus beimisst, der zwangsläufig zu vermeintlich natürlichen Bewegungen führe, zugleich aber körperliche Normen und regelmäßiges Training postuliert, da diese überhaupt die Voraussetzung seien, um einen natürlichen Körperrhythmus zu erlangen, der seinerseits für die adäquate Ausführung der neuen Gesellschaftstänze notwendig sei.«67 Der Nachweis dieser inneren Widersprüche bleibt in der zweiten Welle der Rhythmusforschung aber selbst unvollständig, wenn dabei nicht auf drei verbleibende Aspekte verwiesen wird, die wiederum für die Diagnose einer Arythmie mitentscheidend sein dürften.
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Koch 1922, Rhythmus, S. 8. Vgl. zum Eindringen dieses medizinischen Begriffs auch Hanse 2007, Rythme et civilisation, S. 137ff. Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 33. Vgl. grundlegend zu dieser Kritik Brandstetter 2005, »Rhythmus als Lebensanschauung«, S. 42. Annette Hartmann, »Rhythm is it! Rhythmus in Tanz und Bewegung nach 1900«, in: Monika Woitas/Annette Hartmann (Hg.), Strawinskys ›Motor Drive‹, München 2009, S. 144f.
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Als erster begünstigender Faktor für eine solche Diagnose muss anerkannt werden, dass sich der grundlegende Vorgang einer reduzierten Anbindung des gesellschaftlichen Lebens an natürlich vorgegebene Zeitzyklen kaum gänzlich leugnen lässt.68 Deswegen kann man die Diagnose vom Rhythmusverlust im Grunde für jede Phase der Modernisierung wieder von Neuem aufstellen.69 Zweitens wird die Annahme, dass die Rückkehr zu einer ursprünglichen Rhythmusform möglich ist, dadurch begünstigt, dass es Körperprozesse gibt, die eine rhythmisierte Zeitgliederung als anthropologische Konstante gegen alle zivilisatorische Veränderung im Menschen bewahren.70 Als dritter begünstigender Faktor ist schließlich darauf zu verweisen, dass sich gerade auch für die am stärksten ideologischen Auswüchse im »lokalen« Schrifttum der Rhythmustheorie relativ einfach Parallelen ziehen lassen zu bestimmten »globalen« Denkfiguren derselben Zeitepoche.71 Für die »esoterischen« Rhythmustheorien dürfte insbesondere die Geschlechterphilosophie von Otto Weininger einen Einfluss ausgeübt haben, da diese erstens dem Umfeld der rhythmischen Kosmologie von Wilhelm Fliess entspringt und zweitens in den einschlägigen Schriften der Polaritätenlehre als Beispiel einer »androgynen« Logik dient, bei der im männlichen Anteil eine minimale Präsenz des weiblichen Gegenprinzips (und umgekehrt) zu unterstellen ist.72 Die Zeitgebundenheit der »esoterischen« Polaritätenlehre kann man demgegenüber vor allem anhand einer einzelnen Parallele zur »empirischen« Gestalttheorie nachweisen: Das Programm einer Rhythmisierung der Welt beruht auch bei einer kosmisch-universalhistorischen Weitung weiterhin auf der beständigen Melodisierung des Rhythmus.73 Als Beispiel seien einige Passagen aus den Schlussparagraphen eines Buches zitiert, das Friedrich Cornelius im Jahr 1925 unter dem Titel Die Weltgeschichte und ihr Rhythmus publiziert hat. Der allerletzte Satz verweist direkt auf die amoralischen Konsequenzen, die sich aus einem zyklischen Geschichtsbild ergeben: »Für den abendländischen Menschen ist der Rhythmus ein trostloser Gedanke.«74 Eine Trostfunktion verbleibt einzig in der Möglichkeit, dieses Zyklusverhalten zu durchschauen: »Mag jede Kultur im einzelnen sich eigenartig gebärden, nie sich das 68 69
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Vgl. hierzu Harari 2013, Geschichte der Menschheit, S. 429 und Michon 2005, Rythmes, S. 452. Vgl. Hartmut Rosa, »Jenseits von Hahnenschrei und Werkssirene. Die Auflösung sozialer Rhythmen in der Beschleunigungsgesellschaft«, in: Zeitschrift für Analytische Psychologie 45/1 (2014), S. 8595. Vgl. dazu ergänzend Klinger 1995, Flucht, Trost, Revolte, S. 9. Vgl. beispielhaft Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a.M. 2014, S. 27f. zur Polarisierung des antiken und deutschen Denkens. Vgl. die entsprechenden Hinweise auf eine Geschlechterpolarität bei Blendinger 1951, Rhythmus Gottes, S. 23; Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 108; Hueck 1928, Polarität und Rhythmus, S. 172 sowie Bode 1925, Lebendige Leibeserziehung, S. 88 (dort wiederum bezogen auf Goethes Pflanzenlehre). Vgl. zum Zusammenhang konservativer musikalischer und kosmischer rhythmischer Qualitäten Heinrich Frieling, Harmonie und Rhythmus in Natur und Kunst, München 1937, S. 127: »Sowohl in der Physik wie in der Musik stoßen wir auf ein auffallend gleichartiges Bildungsprinzip, die Polarität. Hier ist es das positive Proton und das negative Elektron im Atomgeschehen, dort der Dualismus von Dur und Moll. Weiterhin gründet sich aber auf eine solche Polarität stets der Rhythmus«. Das Theorem vom »Verlust der Harmonie« bestimmt Breuer 2010, Völkischen in Deutschland, S. 11f. als eine Grundfigur der zeitaktuellen Gesellschaftsdebatten. Cornelius 1925, Weltgeschichte und ihr Rhythmus, S. 383.
6 Innenräume: Die Melodisierung des Rhythmus
gleiche wiederholen – aber als Großes, Ganzes ordnet sie sich einer bestimmten wiederkehrenden Melodie unter.«75 Doch wie das trostlose Bild des Rhythmus sich im erhabenen Bild von der Melodie auflösen lässt, muss in dieser Metaphernfolge zugleich die Melodie sich in harmonische Bindungen begeben: »Innerhalb des Verlaufes einer Kultur gibt es keinen Fortschritt. Das Genie ist ebenso vollkommen in der Frühzeit wie am Ende, wenn es die Aufgabe seines Augenblicks erfüllt. Dagegen folgt der Übergang von einer Kultur zu einer neuen dem Gesetz der musikalischen Steigerung: daß nämlich eine Dissonanz sich auflöst in den Grundakkord der neuen Tonart.«76 Der Grundakkord, auf den sich alle Versuche beziehen lassen, zwischen der Gedankenwelt der rhythmischen Polaritätenlehre und den Forderungen eines bürgerlichen Bildungshorizonts zu modulieren, heißt dabei überraschenderweise Goethe. Die Legitimationsfunktion von Goethe für die »esoterischen« Rhythmustheorien, die sich um 1900 etablieren, kann nur schwer überschätzt werden, weil sich in der Person Goethes die beiden eigenen Polaritäten im Programm einer Rhythmisierung der Welt verbinden lassen: die Abwehr einer positivistischen Wissenschaftskultur zugunsten vitaler »Urphänomene«, die in Goethe als Naturforscher ein Vorbild besitzt, und die Absicherung einer irrationalen Rhetorik mit anerkannten Bildungswerten, für die im Bücherschrank wiederum Goethe als Poet einstehen kann. So verwundert es nicht, dass wirklich nahezu alle Hauptautoren der »esoterischen« Theorieströmung ihre Bücher mit GoetheZitaten beginnen lassen. Das allein ist natürlich aber noch kein Alleinstellungsmerkmal von Büchern, die sich mit der »Arythmie« der Gegenwart beschäftigen. Friedrich Kittlers Gegenüberstellung der Aufschreibesysteme von 1800 und 1900 beginnt in einem »Vorspiel auf dem Theater« mit einer Analyse eines berühmten Zitats aus dem Faust, bei dem aus dem übersetzten Bibeltext »Am Anfang war das Wort« die bessere Variante »Am Anfang war die Tat« erstellt wird. Der Vorgang spiegelt sich in doppelter Weise in Kittlers Darstellung. Er entspricht erstens dem Übergang von einer scholastisch-textgebundenen in eine hermeneutische Auslegung: »Die Wiedergabe durch ›Tat‹ ist selber die Tat, den Wortlaut abzuschreiben (oder in den Wind zu schlagen), statt ihn weiter abzuschreiben (oder zu überliefern).«77 Die Verschiebung entspricht zweitens Kittlers eigenem medienarchäologischen Programm, bei dem nicht mehr die Worte im Mittelpunkt stehen, die Goethe verfasst hat, sondern die Taten, mit denen sozusagen diese Worte erst mithilfe von Lesefibeln und Schreibmaschinen in die Welt gebracht werden. Für das Aufschreibesystem des Rhythmus um 1900 ist dagegen das Wort Goethe – oder auch ein Wort von Goethe – der entscheidende Verweis, mit dem sich das lebensphilosophische Programm vom Vorrang der Tat abbilden lässt. Dabei dokumentieren die Goethe-Zitate in den Rhythmustheorien im Grunde einen umgekehrten Übersetzungsprozess: Es soll angezeigt werden, dass die »amoralische« Tat einer nicht mehr rationalen, sondern rhythmischen
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Ebda., S. 382. Ebda. Kittler 1985, Aufschreibesysteme, S. 22.
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Weltdeutung dennoch mit der Sphäre des gediegenen Worts verbunden bleibt.78 Man erkennt dieses Programm teilweise schon anhand der Publikationslisten: Ernst Barthel, der die Welt als Spannung und Rhythmus beschreibt, hat von der Auflagenanzahl her beurteilt seinen größten Erfolg mit Goethe: Das Sinnbild deutscher Kultur. Diese bildungsbürgerlichen Referenzen wirken manchmal wie ein Monopolyspiel der besonders wertvollen Straßennamen: Auch Klages verweist als Hauptbeispiel in seiner Handschriftenlehre darauf, dass nicht nur der Bücherwurm, sondern auch Bismarck regelmäßig schreibt, und unregelmäßig nicht nur der Gesinnungslose, sondern auch Beethoven.79 In ähnlicher Weise dient die empirische Überprüfung, ob die von Eckermann protokollierten Aussagen Goethes der Rhythmuskurve von Goethe entsprechen (und dann als authentisch gelten) oder derjenigen Eckermanns, als entscheidender Beweisfall für die Validität der Schallanalyse bei Sievers.80 Der unablässige Verweis auf Goethe über berühmte oder weniger berühmte Einzelzitate ist demgegenüber die am wenigsten eindeutige, da kaum spezifische Form der Referenz, die aber zugleich besonders eindeutig die Motivationen hinter dieser Referenz aufdecken kann, weil der Zitatinhalt in vielen Fällen den entscheidenden »Vorrang des Analogen« in sich widerspiegelt. Die Goethe-Zitate sind also selbst das einigende Band, das die Teile in der Hand miteinander in jenem Augenblick verbinden kann, der schön ist, weil er verweilt (also »analoge« Dichte besitzt, statt »digitale« Messungen zu generieren). Das für die Dichotomie zwischen Takt und Rhythmus tatsächlich geradezu ideal geeignete Zitat vom allein fehlenden geistigen Band stellt zum Beispiel Becking seiner Schrift zum Rhythmus als Erkenntnisquelle voran.81 Ein anderes Goethe-Zitat wird vielleicht deswegen besonders häufig angeführt, weil es wie hier bei Rudolf Bode auf die Interferenz-Funktion und auf die kosmische Universalisierung des Rhythmischen verweist: »Und wir verstehen tiefer das geheimnisvolle Wort Goethes: ›Der Rhythmus hat etwas Zauberisches, er macht uns glauben, das Erhabene gehöre uns an.‹ Weil der echte 78
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Vgl. als typische Aussage beispielsweise Fischer 1925, Rhythmus des kosmischen Lebens, S. 209: »Wer über diese Dinge nachsinnen will, um an wirklichen Kulturäußerungen einzelner großer Männer nachzuprüfen, was hier gesagt wurde, der denke vielleicht nur an Goethe. Gerade in diesem naturhingegebenen Leben, aus dessen Äußerungen wie selten wieder der Rhythmus spricht und dessen Genialität Hand in Hand geht mit einem gewaltigen kosmischen Schauen, der wird erkennen, wo die Wurzel liegt, aus der die Führer der Menschheit emporwachsen«. Vgl. Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 15. Vgl. Bode 1923, Rhythmus und Köpererziehung, S. 72 mit dem Hinweis, dass Bismarck gerne getanzt hat: Die Pickelhaube muss in die Polaritätenlehre sozusagen stets integrierbar bleiben. Vgl. bei Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 335ff. das Kapitel »Beglaubigungskartelle: Goethes Eckermann oder Eckermanns Goethe«. Vgl. als typische Aussage Sievers 1924, Ziele und Wege der Schallanalyse, S. 74: »Selbst ein Mann wie Goethe, der an klanglichem Reichtum weitaus alles übertrifft, was mir sonst bekannt geworden ist, bleibt von Anfang bis zu Ende seines Lebens seiner einen Beckingkurve getreu«. Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 7. Vgl. zur Konstanz dieses Zitats als Bekenntnisformel in konservativen Musiktheorien auch Friedrich Neumann, Die Zeitgestalt. Eine Lehre vom musikalischen Rhythmus, Textband, Wien 1959, S. 9 sowie Leo Dorner, Studien zu den ›formalen‹ Grundlagen des tonalen Systems im 19. Jahrhundert, Tutzing 1977, S. 196. Eine Referenz auf das Zitat findet sich auch bei Sievers 1912, Rhythmisch-melodische Studien, S. 38.
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Rhythmus aus jener Zeit stammt, die von uns getrennt und doch mit uns polar verbunden ist, der Welt des Kosmischen und Ewigen.«82 Zur Deutung dieses Zitats scheint relevant, dass Goethe selbst durchaus auch noch einen Begriff des Rhythmischen kennt, der am mathematischen Modell musikalischer Zahlenverhältnisse orientiert ist; Rhythmus steht dann in negativer Bedeutung eher für die Abgrenzung von der eigenen Naturauffassung (wie in der folgenden Kritik am Empirismus von Bacon): »So löst er die Grammatik in Rhythmik, die Logik in Musik auf und erklärt die Mathematik wegen Sicherheit ihrer Demonstrationen für die besser Logik.«83 Goethe verweist aber auch darauf, wie eine solche verengte Rationalität durch den Rhythmus überwunden werden kann, weil beobachtende Subjekte und beobachtete Objekte den gleichen Gestaltungsgesetzen unterworfen sind. Das berühmte Zitat lautet in diesem Fall: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken«.84 Die Rezeption dieser vor allem an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und Theorien orientierten Rhythmuslehre setzt jedoch eine genaue Kenntnis und regelmäßige Lektüre voraus, da die entsprechenden Verweise aus verstreuten Einzelbemerkungen rekonstruiert werden müssen, aber keineswegs in einer Schrift zusammengefasst sind (auch die Pflanzenlehre enthält sozusagen nur die Keime für das vollständig entwickelte Prinzip). Mit der Kenntnis nicht nur der Einzelzitate, sondern der daran geknüpften Erkenntnislehre werden also auch die intensiveren Lektürezeiten vor der Erfindung der technischen Bild- und Tonaufzeichnung nachgewiesen.85 Unzweifelhaft findet sich unter diesen Voraussetzungen dann bei Goethe die »Ursprungsversion« einer Polaritätenlehre, an deren Modell man eine Rückkehr der Wissenschaften zu einer sinnlich direkten Form der Wahrnehmung ausrichten kann.86 Dabei sind auch Zitate vorhanden, in denen die Idee einer Rhythmisiertheit der Welt vorausklingt: »Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft.«87 82
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Bode 1933, Aufgaben und Ziele, S. 40. Weitere Referenzstellen für dieses Zitat sind Steglich 1949, »Wesen und Geschichte des Rhythmus«, S. 143; Heusler 1956, Deutsche Versgeschichte, S. 400 (dort jeweils mit der korrekten Formulierung: »sogar macht er uns glauben«). Zit. nach Johann Wolfgang Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften. Erster Teil, Zürich 1949, S. 354. Vgl. zur Verschiebung des Erhabenen vom Natürlichen zum Maschinellen seit dem späten 18. Jahrhundert Klaus Bartels, »Vom Erhabenen zur Simulation. Eine Technikgeschichte der Seele: Optische Medien bis 1900 (Guckkasten, Camera Obscura, Panorama, Fotografie) und der menschliche Innenraum«, in: Jochen Hörisch/Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920, München 1990, S. 34. Zitiert u.a bei Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 1135. Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1980, S. 278: »Im gleichen Maß, wie die musikalische Klassik im 20. Jahrhundert zu einem allgemeinen ästhetischen Besitz wurde, ist die dichterische Klassik aus den Lektüre-Gewohnheiten allmählich verschwunden. (Mozart zu hören, ist heute ebenso selbstverständlich, wie Goethe nicht zu lesen)«. Vgl. dazu Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, S. 46: »Goethe versucht noch einmal eine Existenz des Seinsvertrauens; er ist durchdrungen von dem Glauben, daß es immer genügt, das Auge weit zu öffnen, um dem Sich-zeigen der Wahrheit zu begegnen«. Goethe 1949, Naturwissenschaftliche Schriften, S. 889.
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Zugleich übernimmt die »esoterische« Rhythmustheorie nie jene Fachbegriffe der Pflanzenlehre, die geeignet wären, eine Priorität »dichter« gegenüber »diskreten« Strukturen zu bestätigen; man könnte zum Beispiel auf den Begriff der »Anastomose« als das Zusammenfließen fädriger Gebilde verweisen.88 Stattdessen findet man vornehmlich den Versuch, das bei Goethe ja noch sehr dynamisch gedachte Zusammenspiel von Entzweiung und Vereinigung (bzw. von Polarität und Steigerung) in ein statisches Universalmodell zu verabsolutieren, bei dem die Rhythmisiertheit eine Abwehr jedweder Veränderung impliziert: »Zwei Sachverhalte aber, die sowohl aufeinander angewiesen als auch unvertauschbar sind, heißen nach gemeingültigem Sprachgebrauch Pole.«89 Von Bedeutung ist hierbei zudem, dass der Verweis auf Goethe eine Ansicht bestätigt, gemäß der die Polaritätenlehre auch als ein spezifisch deutsches Kulturgut wahrgenommen werden kann.90 Das Bekenntnis zu dieser Tradition besitzt daher in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine immer stärker kulturkonservative Ausrichtung.91 Die marxistische Theorie spielt eher den Revolutionär Schiller gegen den Hofbeamten Goethe aus, und im dialektischen Materialismus der Klassengegensätze ist naturgemäß kein Platz für eine kosmologische Polaritätenlehre.92 Das Denken in rhythmischen Zyklen dient bei Spengler, Toynbee und deren Epigonen nicht nur der Abgrenzung vom Marxismus, sondern auch der konkreten Ausgrenzung Russlands, das vom europäischen Geschichtszyklus dann immer etwas abseitssteht und eher ein Teil Asiens ist. Die Maschinenkritik in der Arythmie-Diagnose lässt sich oftmals auch als Ausdruck eines zwar nur selten explizit gemachten, aber dennoch wirksamen Anti-Bolschewismus deuten.93 Die moderne Zivilisation als notwendige Verfallsphase der Kulturentwicklung lässt Klages in einer pessimistischen Gegenwartsdiagnose symbolisch mit dem Tod Goethes beginnen: »Die Verwüstung des Erdantlitzes, die so furchtbare Folgen zeitigt, hat spürbar erst seit Goethes Tode begonnen und hat das rasende, immer sich steigernde Tempo, mit dem 88 89
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Vgl. zu dem Begriff Johann Wolfgang von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, Neudruck der Ausgabe 1790, mit Erläuterungen und einem Nachwort von Dorothea Kuhn, Weinheim 1984, S. 42. Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 103. Vgl. zusätzlich die Referenz auf Goethes Polaritätsbegriff nun in einer Entwicklungstheorie vom Primitiven (mit gering ausgeprägter Polarität) zum Entwickelten (mit ausgeprägter Polarität) bei Werner 1924, Ursprünge der Lyrik, S. 1. Vgl. Blendinger 1951, Rhythmus Gottes S. 13: »Dieses Wissen um die Polarität wurde immer neu gewonnen, besonders auf deutschem Boden […] und in jüngerer Vergangenheit vornehmlich von Goethe.« Typisch ist auch die Gleichschaltung germanischen und antiken Denkens wie bei Jaeger 1973, Paideia, S. 7: »Die Besinnung auf das Urphänomen setzt selbst eine der griechischen verwandte Geistesart voraus, ähnlich wie sie in Goethes Naturbetrachtung […] wiederauflebt«. Vgl. auch Lethen 1994, Verhaltenslehren der Kälte, S. 134: »Die Trennungsspezialisten sammeln sich im linken Lager – es gibt nicht nur Ursprungs-, es gibt auch Trennungsmythen. Die Verteidiger des Verschmelzungswunsches rühren sich im rechten«. Vgl. Andeutungen zum Vorrang von Schiller vor Goethe bei Bode 1923, Rhythmus und Köpererziehung, S. 52. Vgl. hierzu auch Wolfgang Mende, »Der ›neue Mensch‹ im Taylor-Takt. Frühsowjetische Debatten über Rhythmus und Biopolitik«, in: Ralf Konersmann/Dirk Westerkamp (Hg.), Zeitschrift für Kulturphilosophie 7/1 (2013), S. 87-98.
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wir sie heute wüten sehen, nicht länger als ungefähr fünfzig Jahre inne. Seit 1830 etwa begann deshalb in der Menschheit unaufhörlich das zu zerbrechen, was man ›Kultur‹ zu nennen pflegt und gegenwärtig wohl allgemein von der sog. Zivilisation (– Verbürgerlichung) unterscheidet […]«94 Die Definition dieses grundlegenden Dualismus bleibt zudem oft an einer medienästhetischen Unterscheidung zwischen »digitaler« Getrenntheit und »analoger« Verbundenheit ausgerichtet: »Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.«95 Daher sind alle diese Modelle des Urtümlichen auch derselben Gegenkritik ausgesetzt, bei der das Gemeinschaftsideal als »erfundene Tradition«96 selbst erst einem Interesse der neuzeitlichen Gesellschaft entspricht (und entspringt). Goethes naturwissenschaftliche Schriften – und auch Schillers Programm der ästhetischen Erziehung – markieren einen frühesten Punkt, der einen Jargon der rhythmischen Eigentlichkeit aus dem deutschen Bildungskanon legitimieren kann. Demgegenüber verweisen Dualismen wie Gemeinschaft und Gesellschaft (oder Vernunft und Verstand, Kultur und Zivilisation etc.) auch auf einen historischen Endpunkt, an dem diese Legitimität aus heutiger Sicht zerbrechen muss: Die Rassenlehre und völkische Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus.
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Kraft
Wenn Siegfried Kracauer eine faschistische Zeitschrift der 1920er-Jahre mit dem Titel Die Tat auf die Wahl dieses Wortes hin befragt, dann tritt die Verbindung des reaktionären Jargons der rhythmisierten Gemeinschaft mit ästhetisch konnotierten Grundwerten zutage: »Der romantisch gebrauchte Begriff meint ersichtlich das Volk als etwas Gewachsenes und richtet sich sowohl wider alle im weitesten Sinne liberalen Theorien, die den Einzelnen der Gemeinschaft zugrunde legen, wie gegen den modernen Begriff der Masse.«97 Die Rhythmusbegeisterung, die von der ästhetischen Wende der Zwischenkriegsjahre kaum beeinflusst wird, sondern sich sogar gesteigert fortsetzen kann, führt logisch zur Frage nach dem Fortleben der Romantik des 19. Jahrhunderts in einem Zeitalter, das
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Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 1141f. Tönnies 1922, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 39. Baxmann 2000, Mythos: Gemeinschaft, S. 7. Vgl. zur Bedeutung dieser Begriffsgegensätze im Kontext der Jugendmusikbewegung zudem Hodek 1977, Musikalisch-pädagogische Bewegung, S. 45f. Kracauer 1977, Ornament der Masse, S. 83.
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sich selbst grundsätzlich durch die neusachliche und objektive Abkehr von allzu individuellen Gefühlswerten bestimmt. Das Fortleben romantischer Ideen muss an neue Begriffe gebunden werden, um nicht einfach als Rückfall in ein veraltetes und verachtetes Lebensmodell kritisiert werden zu können. Rhythmus erfüllt offenkundig genau diese Funktion, aber auch die Rassentheorie erweist sich als geeignete Hülle, um alte Vorurteile in scheinobjektive allgemeingültige Aussagen zu verwandeln. Unzweifelhaft findet man in der frühromantischen Ästhetik die Beschreibung einer entrückten Kunsterfahrung, die in der Rhythmuslehre von Klages im beseelt auf die Natur gebannten Blick weiterwirkt.98 Die Aufwertung der ästhetischen Erfahrung wird historisch jedoch durch eine politische Romantik konterkariert, bei der sich eine immer stärkere Aufladung des romantischen Ideenguts auch mit rassischen Verwerfungen ergibt: Konkret ist das erkennbar an Aussagen, die mit musikalischen Nationalcharakteren arbeiten, und also dem einen Volk die höhere Begabung zum äußerlich glänzenden Melos, dem anderen zum verinnerlichten Kontrapunkt zuschreiben. Diese traditionellen Denkschemata lassen sich nun rassisch als angeblich empirisch beweisbare Tatsachen neu begründen. Für diese rassentheoretische Beschlagnahme von ästhetischen Wertbegriffen ist wiederum die Rhythmustheorie ein besonders eindeutiges Beispiel. Rassenlehre und Rhythmusverherrlichung besitzen dieselbe Logik, den irrationalen Anteilen im romantischen Subjektivismus eine Ersatzheimat bieten zu können.99 Das ökologische Denken von Klages lässt sich zum Beispiel von seinen Adepten problemlos in ein Programm der Eugenik umwandeln, bei dem die natürliche Auslese durch den Eingriff der Zivilisation in die rhythmischen Lebensgesetze gefährdet wird, wenn auch Kranke und Schwächliche sich fortpflanzen.100 Selbst ein Forscher wie Fritz Giese, der in seinen Beschreibungen der neusachlichen Maschinen- und Zivilisationswelten stets eine skeptische Distanz zur »esoterischen« Verdammungslogik bewahrt, vertritt eine Position, bei der zwar die Freizeitforschung ein Thema ist, für das sich ein angesehener Wissenschaftler auch entschuldigen muss, während die Ableitung eugenischer Thesen einen selbstverständlichen wie seriösen Anwendungsfall derselben Theorien darstellt.101 Gieses eigene Rede von der Sonderrolle der Deutschen im Aufriss der neuzeitlichen Welt besitzt dabei eine dezidiert rhythmisierte Ausrichtung. Deutschland erscheint als Volk ohne Mitte, bei dem Spitzenbegabungen und pathologische Fälle eine starke soziale Polarisierung erzeugen: »Nach alten psychologischen Gesetzen ist Höchstleistung niemals nur mit einem Vorzeichen gese-
98 Vgl. Klages 1960, Geist als Widersacher, S. 888ff. zur Relevanz der Romantik für die Polaritätenlehre. 99 Vgl. grundlegend zu diesem Zusammenhang Golston 2008, Rhythm and Race, S. 5. 100 Vgl. Haeberlin 1933, Lebensrhythmen, S. 14 zu dieser »medizinischen« Anwendungsmöglichkeit. Vgl. zur generellen Tendenz auch Cornelius 1925, Weltgeschichte und ihr Rhythmus, S. 359: »Wir halten das Zölibat der Führermenschen für unsittlich, viel wichtiger ist es, daß sich der bedeutende Mensch als daß sich der Durchschnitt fortpflanze.« Vgl. zudem Hueck 1928, Polarität und Rhythmus, S. 283: »Die Forderung etwa: Du sollst nicht töten! – erweist sich als Gebot extravertierter Sozialethik, sie bedarf einer polaren Gegenforderung und findet sie in dem individualethischen Gebot: Du darfst töten!«. 101 Vgl. Giese 1925, Girlkultur, S. 86.
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hen. Und gerade auch diese Menge der kriminellen, pathologischen und anbrüchigen [sic!] Naturen zerrt die Mitte herab.«102 Erneut ist es der »digitale« Druckfehler, der die polare Logik der Plus- und Minusvorzeichen in eine zutreffende Diagnose des aufkommenden Faschismus verwandelt: Die Gefahr beginnt dann, wenn die anrüchigen Bevölkerungsanteile einen politischen Anbruch einfordern. Die vitalistische Lebens- und Rhythmustheorie ist daher in gewisser Weise immer auf einen Evolutionismus noch vor der Entdeckung der »digitalen« Erbgesetze verpflichtet: »Fortpflanzung ist die in ähnlichen Zeitspannen erfolgende Wiederkehr ähnlicher Bilder.«103 Es besteht für diese Theorien, die wie hier bei Klages die evolutiven Abläufe ganz auf die sinnlich äußeren Erscheinungsformen abstellen, ein auch für den Darwinismus vor der Entdeckung der Erbsenforschungen von Mendel relevantes Problem, warum die Extreme nicht zunehmend ineinander verschmelzen. Die digitale Codierung der Genetik bietet auf dieses Problem eine Antwort, die das Theorem von der ursprünglichen Polarisierung des Lebens hinfällig werden lässt. Auch dies kann das Verschwinden der »esoterischen« Rhythmustheorien nach 1950 miterklären. Die Interferenz-Bestimmung macht den Rhythmusbegriff zum idealen Träger eines empirischen Halbwissens, mit dessen Hilfe man glaubhaft die Lücke zwischen den nachgewiesenen Naturgesetzen und der gewünschten ganzheitlichen Naturdeutung ausfüllen kann.104 Die »esoterische« Theorie hat demgegenüber wortwörtlich den Rhythmus noch im Blut. Die Eingliederung des Rhythmusideals in die Rhetorik und die Rituale der nationalsozialistischen Herrschaft erscheint unter den Prämissen einer politischen Romantik und einer angeblich empirischen Rassenlehre wie eine beinahe logische Konsequenz. In der Rezeption der Rhythmusformen, die durch den Missbrauch im Faschismus dauerhaft und substanziell beschädigt worden sind, muss man jedoch einen Theoriekonflikt konstatieren: Aus der Sicht der aktuellen »kritischen« Rhythmustheorie ist es vor allem die metrische Komponente des starren und einförmigen Marschtritts, die von der nationalsozialistischen Massenästhetik in Verruf gebracht wird.105 Aus der zeithistorischen Sicht der »esoterischen« Rhythmustheorie geht es hingegen vor allem darum, die Kritik des rationalen Takts gegenüber dem vitalen Rhythmus auch für diese Massenästhetik relevant zu halten. Unzweifelhaft lassen sich Zitate wiedergeben, die aus dem Kontext der Neuen Musik heraus die Präsenz eines rassisch aufgeladenen Rhythmusbegriffs in der faschistischen Ideologie belegen. Mehrfach etwa wird verwiesen auf einen Ausspruch von Alfred
102 Ebda., S. 80f. 103 Klages 1949, Handschrift und Charakter, S. 36. 104 Dieser Konflikt ist besonders klar erkennbar bei Wilhelm Fliess, dessen biologische Forschungen zwar schon Chromosomen und die »magische Zahl« 23 kennen, nicht aber das Faktum der 23 menschlichen Chromosomenpaare (vgl. zum Chromosomenbegriff Fliess 1909, Leben und Tod, S. 71). 105 Vgl. Primavesi/Mahrenholz 2005, »Einleitung«, S. 13.
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Rosenberg: »Die ganze atonale Bewegung widerstrebt dem Rhythmus des Bluts und der Seele des deutschen Volkes.«106 Typischer aber erscheint der Versuch, die Grundthesen der »esoterischen« Rhythmuslehren in den eigentlich dafür nicht geeigneten Kontext der Massenanordnungen zu überführen. Helmut Günther verweist in seiner grundlegenden Aufarbeitung der Rhythmusbewegung etwa auf das folgende Zitat, das eine Synthese des Marschtritts und der »esoterischen« Metrumkritik entwirft: »Welche Zeit sah denn eine ähnliche freiwillige Massendisziplin, einen solchen mitreißenden Rhythmus wie unsere Tage? Gleichtakt in kleinem Verbande kann kommandiert werden, gleicher Rhythmus will von schöpferischen Händen geweckt werden. Unser Volk ist im Rhythmus, d.h., es wiederholt nicht Gleiches, es drängt über abgewandeltes Gleiches weiter zur erfüllten Anderswerdung. Rhythmus ist gleichzusetzen dem Lebendigen.«107 Diese Umdeutung der Massenästhetik mit ihrer notwendigen metrischen Koordination in einen Vorrang des vitalen Rhythmus diskutiert Olivier Hanse anhand der Schriften von Rudolf Bode: »In der Tat widerstehe, so Bode, die im Rhythmus schwingende Masse am Besten allen metrischen Forderungen so, dass die vitalen Kräfte gegenüber dem Bewusstsein die Oberhand gewinnen und dass sich jeder mit den anderen zusammen durch den lebendigen Tanz des Kosmos mitgezogen fühle.«108 Für diesen Übersetzungsprozess der rhythmischen Bewegung in das geordnete Marschieren sind zwei voneinander getrennte logische Schritte notwendig, für die sich als besonders klares Beispiel die beiden Belegstellen anführen lassen, in denen Hellmuth Christian Wolff in seiner Sammelrezension der neueren Literatur zum Rhythmus im Jahr 1941 direkt auf den Kontext von Rassendifferenzen zu sprechen kommt. Der erste Schritt bewahrt die Differenz geistig-rationaler Taktierung und seelischer Rhythmisierung, deren Höherwertigkeit mithilfe einer Synthese von Rassenlehre und politischer Romantik erläutert werden kann: »Sehr wertvoll ist der Nachweis, daß die einfachen Rhythmen mehr dem klassischen Empfinden entsprechen und auch dem Ausdruckswillen der Romanen nahe stehen, 106 Vgl. die Wiedergabe des Zitats u.a. bei Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Stuttgart 1994, S. 357. Vgl. weitere Beispiele bei Jürgen Oelkers, »Der Klang des Ganzen. Über den Zusammenhang von Musik und Politik in der deutschen Reformpädagogik«, in: Anselm Gerhard (Hg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, Stuttgart 2000, S. 153. 107 Zit. nach Helmut Günther, »Historische Grundlinien der deutschen Rhythmusbewegung«, in: Gertrud Bünner/Peter Röthig (Hg.), Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung, Stuttgart 1971, S. 56 (aus einem Artikel von Hermann Grauerholz in der Zeitschrift Der Tanz im Jahr 1933). 108 Hanse 2016, »Rhythmus als Grundlage«, S. 34. Vgl. als Bezug Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 44: »Denn aller Rhythmus ist letztlich ein Massenerlebnis. Je mehr Masse im Rhythmus schwingt, um so größer die Berührungsfläche mit dem kosmischen Lebensrhythmus, um so geringer die Möglichkeit, diesen Massenschwung in den Dienst des metrischen, d.h. messenden Intellekts zu zwingen«.
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während der Germane sich immer stärker in arhythmischen Formen und in reicheren Differenzierungen und Verwickelungen des Rhythmus äußert. In den letzteren kommt ein irrationales Moment zum Ausdruck, das auch in allen ›romantischen‹ Kunstepochen wirksam ist.«109 Diese Abgrenzung gegenüber dem metrisch gliedernden Zeitdenken muss aber wiederum von modernistischen Ausweitungen des Rhythmischen abgetrennt bleiben: »Ein ähnlicher Gegensatz besteht zwischen nordischer und ostischer Rasse: die nordische bevorzugt taktmäßig geregelte Bewegungen, die ostische dagegen einen regellosen Bewegungsablauf.«110 Die Kritik der faschistischen Vereinnahmung des Rhythmus anhand des stupiden Marschtritts bleibt unzweifelhaft zutreffend, sie wäre aber durch eine Perspektive zu ergänzen, in der die Selbstbezeichnung des Nationalsozialismus als eine »Bewegung« ernst genommen werden muss. Das Problem des politischen Marschierens ist, dass es eigentlich nur in dem historisch kurzen Moment der Revolution, beim Sturm der Bastille (oder des Hofbräuhauses) tatsächlich als politisch bedeutsames Ereignis hervortritt.111 Dieser eine kurze Moment des Aufstands gegen die alte Ordnung muss in die Inszenierungswege der neuen Ordnung eingeschrieben werden.112 Faschistische Herrschaft unterliegt damit selbst einem rhythmischen Wiederholungszwang, weil die Paraden, Parolen und Plakate immer dem Zweck dienen, die Selbstlegitimation aus diesem einen Moment der Marschbewegung durch dessen Nachspielen in Erinnerung zu halten.113 Die Analyse der Massenästhetik bei Kracauer stellt genau diesen Aspekt in den Vordergrund, dass die revolutionären Leitbegriffe mit dem Erfolg der Revolution ihre Legitimation verlieren: »In den Zeiten des Kampfes, wie überhaupt des status nascendi, war es die Gruppe, die von der Idee sich ihre ganze Kraft und Herrlichkeit entlieh, jetzt, in den Zeiten der errungenen Macht, muß die Idee der Gruppe für alles dankbar sein, was diese ihr etwa zukommen läßt.«114 Die Selbstbeschreibung des Nationalsozialismus als Bewegung verlangt also eine Begründung, wie sich in den Massenaufmärschen der kinetische Rhythmus der Hände in den metrischen Rhythmus der Füße zurückübersetzen lässt.
109 Wolff 1941, »Rhythmus in der neuesten Literatur«, S. 164 (die Aussage bezieht sich auf Flik 1936, Morphologie des Rhythmus). 110 Ebda., S. 171 (diese Aussage ist bezogen auf eine Arbeit von Gerd Cehak, die 1937 in der Zeitschrift für Rassenphysiologie erschienen ist). 111 Vgl. dazu auch Sennett 1995, Fleisch und Stein, S. 373ff., der anhand der Guillotine aufzeigt, wie sich die öffentliche Hinrichtung vom einmaligen Ereignis zum Vorgang »mechanischer« Wiederholung wandelt. 112 Vgl dazu auch Bolz 1989, Auszug aus der entzauberten Welt, S. 102. 113 Vgl. McNeill 1995, Keeping Together in Time, S. 1f. zur militärisch unnützen, aber dennoch bewahrten Existenzform des Exerzierens: Das Zeit-Totschlagen erscheint als erste Übungsform des Totschlagens. 114 Kracauer 1977, Ornament der Masse, S. 151.
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Eine erste Möglichkeit ist die Rückwärtsbindung der beständigen sozialen Rhythmisierungen: Der Aufmarsch dient als Erinnerung an den vergangenen Moment des Kampfes, weshalb alle autoritären Regime eine »neo-mittelalterliche« Neigung besitzen, die Anzahl der Feiertage zu erhöhen und Gedenk- und Jahrestage zu erfinden, an denen rhythmische Körperbewegungen sinnvoll eingesetzt werden können.115 Der Versuch der französischen und russischen Revolution, den Jahreskalender zu rationalisieren, sodass zum Beispiel alle Monate die gleiche Anzahl von Tagen besitzen und die Anzahl der Wochentage mit dem Monatswechsel koordiniert ist,116 wirkt wie das genaue »zivilisatorische« Gegenteil dieser Rückbindung der »Kultgemeinschaft«117 an die soziale Rhythmik der Sonnwendfeiern und altgermanischen Riten. Eine zweite Möglichkeit ist natürlich die Vorwärtsbindung der Aufmärsche: Die Notwendigkeit, für das Marschieren der Massen beständig neue Legitimationen zu finden, macht den Krieg zur naheliegenden Zielmarge der faschistischen Herrschaftslogik.118 Selbst in dieser Radikalisierung des militärischen Bewegungsideals findet man noch Spuren einer dezidiert kinetischen Ästhetik: Die Diagramme der Kriegsführung wechseln von statischen Abbildungen und eckigen Formen zu dynamischen Pfeilbewegungen, mit denen eine unwiderstehliche Kraft angezeigt werden soll, die maximale Raumgewinne in kurzer Zeit ermöglicht.119 Soziologisch könnte diese Blüte des rhythmisierten Bewegungsbegriffs aus der Kontrastfolie des Ersten Weltkriegs abgeleitet werden, der als Stellungskrieg der Schützengräben das kinetische Überwindungsideal gleichsam bis in die ästhetischen Entwürfe hineintragen würde. Dabei ist für die Ästhetiken der Zwischenkriegsjahre ein Aspekt von entscheidender Bedeutung: Je stärker der Begriff der Bewegung von der realen Körperbewegung im Raum abgelöst wird, desto stärker müssen als Ursache der kinetischen Bewegungsvorgänge »unsichtbare« Kräfte unterstellt werden.120 Diese Vorstellung erzeugt wiederum zwei gegensätzliche, aber doch klar verbundene Theorievorschläge in der einzelwissenschaftlichen Forschung: Eine Gestalttheorie der rein ideellen Bewegung, die von realer körperlicher Bewegung ganz getrennt werden kann, und eine Gestentheorie der rea-
Vgl. dazu Michon 2005, Rythmes, S. 316: »Les régimes totalitaires redonnent des rythmes à des masses dérythmées«. 116 Vgl. zu diesen Kalenderreformen Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge, Mass. 1983, S. 14. 117 Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 14 verweist mit diesem Begriff auf die Ableitung der rhythmischen Festlichkeit aus dem religiösen Feiertag. 118 Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. II: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, Basel 1978, S. 231: »Der Krieg, und nur der Krieg macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben«. 119 Vgl. dazu Martin Warnke, »Spatial Graphics«, in: Karol Berger/Anthony Newcomb (Hg.), Music and the Aesthetics of Modernity, Cambridge, Mass. 2005, S. 28ff. 120 Vgl. hierzu auch Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, etwa S. 10: »Die Ästhetik der Kraft begründet eine Anthropologie der Differenz: zwischen Kraft und Vermögen, zwischen Mensch und Subjekt«. 115
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len körperlichen Bewegungen, die mit der ideellen Bewegung auch verbunden werden soll.121 Die energetische Musiktheorie von Ernst Kurth und die rhythmische Mitbewegungsmethode von Gustav Becking können paradigmatisch für diese beiden Möglichkeiten einstehen. Im zweiten Fall werden dabei Rhythmus, Romantik und Rasse eng zusammengeführt, wenn der Nachweis erfolgen soll, dass in der realen Körperbewegung die Individualkurven ästhetischer Epochen- und Nationalcharaktere dechiffriert werden können. Im ersten Fall hingegen wird von Kurth ein Konzept der melodischen Kinetik und Kraftwirkungen aufgestellt, das von Rasse, Rhythmus und Romantik gleichermaßen getrennt werden kann.122 Es soll in diesem Zusammenhang nur kurz darauf verwiesen werden, dass Kurths Definition mit dem Melodiebegriff der Gestalttheorie bei Ehrenfels nahezu deckungsgleich ist: »Der Grundinhalt des Melodischen ist im psychologischen Sinne nicht eine Folge von Tönen […], sondern das Moment des Übergangs zwischen den Tönen und über die Töne hinweg.«123 In klarem Gegensatz zur empirischen Gestaltforschung sieht Kurth jedoch in der rhythmischen Sukzession, die in gewisser Weise ja ebenfalls zwischen den einzelnen Tönen Verbindungen herstellt, nicht einen Anwendungsfall dieser kinetischen Melodielehre, sondern deren genaues Gegenteil. Die Pointe dieser Auffassung liegt darin, dass auf diese Weise die reale Bewegung als triviale Vorform der ideellen Bewegung abqualifiziert werden kann: »Die im Rhythmus liegende spezifische Erscheinungsform der viel allgemeineren Grundempfindung von Bewegungsenergie beruht darin, daß hier die kinetische Empfindung auf eine bestimmte körperliche Bewegungsempfindung projiziert ist, u. zw. auf jene drimitive [sic!] körperliche Bewegung, die aus dem Gleichmaß des Schrittgefühls am spürbarsten und sinnfälligsten in uns pulsiert.«124 Der musikalische Rhythmusbegriff kann also in bezeichnender Weise erst dort wieder stärker mit seiner körperlich-metrischen Dimension zusammengeführt werden, wo das Rhythmische insgesamt unter negative Vorzeichen gestellt wird. Kurth bewahrt in der Auseinandersetzung mit der Theorie von Riemann durchaus dessen Zurückweisung einer musikalischen Grammatik, in der die Formgliederung aus der akzentmetrischen Bestimmung des Rhythmus generiert wird. Kurth etabliert jedoch nicht mehr wie Riemann ein Gegenmittel innerhalb des Rhythmischen, sodass ein Metrum der auftaktigen musikalischen Phrasierung selbst zum Träger einer ideellen Bewegungskinetik werden kann, sondern bestimmt das Melodische als eine gänzlich außerhalb des Rhythmischen
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Eine ganzheitliche Theorie musikalischer Bewegung versucht allerdings bis heute genau diese allererste Differenz »realer« und »ideeller« Bewegungsformen vermeiden. Vgl. Teresa Leonhardmair, Bewegung in der Musik. Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen, Bielefeld 2014, S. 316. 122 Vgl. Ernst Kurth, Musikpsychologie, Berlin 1931, S. 86 zur Kritik einer allzu konkreten »graphischen Hermeneutik«. 123 Ernst Kurth, Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Bern 5 1956, S. 2. 124 Ebda., S. 52.
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angesiedelte Kraftwirkung. Als deren Gegenprinzip kann der Rhythmus dann aber wieder anhand der tradierten Akzentuierungskategorien definiert werden.125 Das Grundproblem aller Theorien einer musikalisch »ideellen« Bewegung ist jedoch, dass die kinetische Zeit einerseits als die positiv gefüllte, nicht in sich negierende Zeit beschrieben wird, aber andererseits immer ex negativo als die abgeleitete, eigentlich unbeschreibbare Zeit auftritt (von der man vor allem sagen kann, was sie nicht ist).126 Der Evolutionsbegriff der sich entwickelnden Kräfte kann in der Notation und der begrifflichen Analyse konkret jedoch immer nur auf die Eckwerte des Bewegungsvorgangs bezogen werden. Der musikalische Kraftbegriff muss so konzipiert werden, dass bereits in den Notationszeichen als Drängen aus sich heraus und Weiterdrängen über sich hinaus ein kinetisches Potenzial vorliegt: »Die Begriffe der Kraft und Spannung tragen Züge von Ursprungsbegriffen, die in ihrer Abstraktheit gleichzeitig produktiv erscheinen und überall einen Konflikt im Ursprünglichen wiedererkennen lassen, im Ton, im Anfangsklang, im musikalischen Erlebnis.«127 Diese Eigenschaft gleichsam eines Mangels bzw. einer Unvollständigkeit des Anfangs ist jedoch mit dem Modell der rhythmischen Reiteration eben dieses Anfangspunkts nur schwer vereinbar. Die Ästhetik der musikalischen Kraftwirkungen besitzt die Problematik, dass die theoretische Annahme, der Rhythmus sei niemals nur eine Metapher, sich in der konkreten Analysesprache immer nur durch einen besonders hohen Anteil von Metaphern ausdrücken lässt. Das Programm einer Melodisierung des Rhythmischen schließt in letzter Konsequenz somit die reale Körperbewegung aus einer rein ideellen Bewegungskinetik aus. Die Mitbewegungslehre hingegen treibt die Idee einer Rhythmisierung der Welt umgekehrt so weit voran, dass die reale rhythmische Bewegung des eigenen Körpers zum Messgerät für die kinetischen musikalischen Kräfte erhoben werden kann.
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Mitbewegung
Der Körper ist einmal dasjenige, was sich empirisch am einfachsten messen lässt: Die realen Bewegungen organischer Prozesse oder unbelebter Objekte können durch Individualkurven und andere Notationssysteme wiedergegeben werden. Der Körper ist aber auch dasjenige, mit dem sich am schwersten messen lässt: Die Frage ist nun, ob sich umgekehrt Notationssysteme in Körperbewegungen überführen lassen, sodass Mess-
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Vgl. auch die Darstellung der Rhythmuslehre von Kurth bei Seidel 1975, Rhythmustheorien der Neuzeit, S. 229. Vgl. zur irrationalen Konsequenz dieser Position Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 80: »Die Welt des Werdens können wir begrifflich nur negativ beschreiben, indem wir sagen, was ihr nicht angehören kann. Nicht gehört ihr an die Existenz, der beharrende Raum, die gleichförmig fließende Zeit, die Dinge (Objekte), die Personen (Subjekte), die gegenständliche Bewegung, die Kausalität«. Eckhard Tramsen, »Kunstphilosophie und -theorie im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Musikästhetik, Laaber 2004, S. 48.
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werte der ideellen Bewegungsvorgänge innerhalb einer musikalischen Komposition erstellt werden können.128 Die Mitbewegungslehre wendet zu diesem Zweck eine Methode direkt auf den Notentext an, die aus empirischer Sicht an einzelnen Interpretationen dieses Notentexts ausgerichtet sein müsste. Die Kurventypologien sollen jedoch keinesfalls nur die subjektive Interpretation der jeweiligen Testperson repräsentieren. Das Ausschalten eines Vermittlungsschritts, der konkret durch den neuzeitlichen Dirigenten repräsentiert wird, führt dazu, dass die Dirigierbewegungen in der Mitbewegungslehre nicht mehr als Anweisung funktionieren, mit deren Hilfe eine Interpretation erzeugt wird, sondern als Abbild der Komposition, die sich gleichsam selbst interpretiert. Die Mitbewegungslehre ist dadurch in ihren methodischen Grundannahmen mit den Prämissen der »esoterischen« Polaritätenlehre eng verbunden. In diesem Zusammenhang muss erstens die Ablehnung einer rationalen Ausrichtung des Rhythmuserlebens an den Vorgaben des Notentexts genannt werden, wie es der Dalcroze-Schule von Rudolf Bode zum Vorwurf gemacht worden ist: »Dieser Grundfehler lag darin, dass seine Gymnastik als Methode sich nicht aufbaute auf dem rhythmischen Bewegungselement der Musik, sondern auf ihrem metrischen – Notenbild.«129 Dadurch ergibt sich zweitens die Notwendigkeit, die Dirigierbewegungen nicht mehr als aktive Umsetzung dieses Notenbilds zu begreifen, sondern gemäß dem Ideal der rein aufzeichnenden Maschine als passive Aufzeichnung einer erspürten Ebene »hinter« dem Notenbild: »Es gilt sich dem Erklingenden unterzuordnen, vom musikalischen Kunstwerk sich dirigieren zu lassen.«130 Diese Methode macht aber nur dann Sinn, wenn ein Vorhandensein kinetischer Kraftwirkungen unterstellt wird, die einerseits mit den realen Bewegungsvorgängen der aufzeichnenden Hand verwandt sind, aber andererseits von den analysierbaren Tatbeständen des Notentexts wie der Harmonieabfolge oder der Melodiekontur substanziell getrennt verbleiben. Der innovative Charakter der Mitbewegungsmethode auch aus Sicht der aktuellen Musikanalyse liegt darin, dass sämtliche Probleme mit dem rein ideellen Charakter musikalischer Bewegung quasi wie beim Zerschlagen des gordischen Knotens durch die Einführung realer Bewegungen gelöst werden können.131 Dennoch verweisen Wiederbelebungsversuche vor allem darauf, dass damit auch alle Nebeneffekte lebensphilosophischer Begriffsunschärfe neu erweckt werden.132 128 129 130 131
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Vgl. dazu ergänzend Baxmann 2000, Mythos: Gemeinschaft, S. 117. Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 40. Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 19. Vgl. Shove/Repp 1995, »Musical motion and performance«, S. 58: »Why have so many theorists failed to acknowledge that musical movement is, among other things, human movement?« Die Schwachstellen in diesem Konzept der Kreisbewegungen werden mit einem denkwürdigen rhetorischen Lapsus verdeckt: »Clearly, this method is somewhat circular and by no means scientifically rigorous« (Ebda., S. 71). Vgl. Nigel Nettheim, »A Schubert Fingerprint related to the Theory of Metre, Tempo and the Becking Curve«, in: Systematische Musikwissenschaft 6/4 (1998), S. 363-413, wo das Problem hervortritt, dass die Anbindung an tradierte Analyseverfahren den Mehrwert der Mitbewegung wieder in Frage stellt. Vgl. zudem die »esoterische« Theorie des »composers pulse« bei Manfred Clynes, »What can a musician learn about music performance from newly discovered microstruture principles
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Die Mitbewegungslehre kann man somit als ein medienhistorisches Zwischenspiel betrachten, bei dem die Idee der empirisch objektiven Individualkurven bereits vorhanden ist, aber diese Kurvendiagramme noch durch subjektive Interpretationen erstellt werden müssen.133 Es muss daher immer die Behauptung aufgestellt werden, dass das einzelne Subjekt der Mitbewegungen in die Ergebnisse keinen interpretativen Eigenanteil einbringt.134 Diese ästhetisierte Variante eines empirischen Selbstversuchs verwendet damit erneut eine Technik, deren Ursprünge auch in Läsionsstudien gefunden werden können (wie bei der Überwindung von Sprachstörungen durch unterstützende Mitbewegungen).135 Wichtig zum Verständnis der Eigenlogik von motorischen Mitbewegungen ist, dass sich bei dem Übersetzungsprozess von »ideellen« in »reale« Bewegungen eine Verschiebung gegenüber einer musikalischen Aufführung ergeben wird: Die Mitbewegungen verwandeln die »mehrschichtige« vertikale Anordnung des Partiturtexts in eine horizontal »einschichtige« Kurvenlinie. Es entsteht ein ähnlicher Effekt wie bei einem Mitlesen des Notentexts, das sich eher an der Oberstimme als am Bassverlauf ausrichtet: Die Mitbewegungslehre erzeugt unumgänglich in der Nachzeichnung des Rhythmischen einen Vorrang des Melodischen gegenüber dem Metrischen. Die Beschreibung des musikalischen Zeitverlaufs durch die räumlich realen Mitbewegungen ist zudem auf stark reduktionistische Vorbedingungen zentriert. Man kann Beckings Methode als den Versuch beschreiben, die »digital-binäre« Codierung des notierten Metrums in die »analog-binäre« Codierung der annotierenden Körperbewegungen zu überführen.136 In der Erzeugung der einzelnen Kurve wird die Binarität verdoppelt, indem die Abbildung des immerzu gleichen Metrums und die Ausbildung der individuellen Kurventypen ineinander verschränkt werden: 1. Eine erste binäre Begrenzung wird erzeugt in der Abbildung der metrischen Taktwerte: »Die Strömungen des Rhythmus umspielen stets metrische Schwerpunkte. Jeder Verlauf hat sein Aufundab: die Wellen des rhythmischen Stromes steigen auf Höhen hinauf und fallen in Tiefen zurück.«137 2. Eine zweite binäre Begrenzung ergibt sich durch die notwendige Unterteilung der kreisförmigen realen Mitbewegungen in zwei einander ergänzende Phasen: »Auf die Vollschwere eines jeden Taktes wird irgendwie abwärts geschlagen, danach wird
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(PM and PAS)?«, in: Alf Gabrielsson (Hg.), Action and perception in rhythm and music, Stockholm 1987, S. 215: »The lengthened and moderately soft second tone largely contributes to the Schubertian flavor, the gentle element of longing of non-erotic quality«. Vgl. zu Medienkombinationen von Schall und Film bei Alexander Truslit aber Hans Brandner, Bewegungslinien der Musik. Alexander Truslit und seine Lehre der Körpermusikalität, der Kinästhesie der Musik, Augsburg 2012, S. 9 (auch S. 60). Vgl. zu diesem Teilproblem bereits Kurth 1931, Musikpsychologie, S. 102: »Zudem wird es sehr schwer zu scheiden sein, wie weit es die melodische Bewegungsenergie und wie weit es die allgemeine künstlerische Erregung ist, die jene physiologischen Erscheinungen auslöst«. Vgl. den Hinweis bei Rieger 2009, Schall und Rauch, S. 286. Vgl. auch Arne Stollberg, »Klang-Körper. Auf der Suche nach einer musikalischen Physiognomik«, in: Arne Stollberg/Jana Weißenfeld/Florian Henri Besthorn (Hg.), DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik, Basel 2015, S. 371. Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 11.
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der Stab irgendwie gehoben, um den Niederschlag des nächsten Taktes wieder beginnen zu können.«138 Die Bestimmung von genau drei Rhythmuskurven ist also darin fragwürdig, dass diese notwendigen Begrenzungen des eigenen Systems zu umfassenden Bedingungen in der Sache erhoben werden: Es gibt nur vier Wertzuschreibungen, die ein einzelner Messpunkt in diesem System erhalten kann. Am Ausgangspunkt und am Wendepunkt der jeweiligen Kurve kann eine »spitze« Struktur vorliegen, als metrisch stark markierte, punktförmige Unterbrechung der Bewegung, oder eine »runde« Struktur, als metrisch kaum markierte, linienförmige Weiterführung der Bewegung.139 Aus diesen vier möglichen Zuordnungen ergeben sich dann die drei Kurventypen »rund-rund«, »spitz-spitz« und »spitz-rund«, weil der Kurventyp »rund-spitz« nicht zugelassen wird. Einerseits ist dies dadurch erklärbar, dass er lediglich eine halbtaktige Verschiebung des Typs »spitz-rund« darstellt. Setzt man die erste Stelle für den Anfang einer Einzelkurve, die zweite Stelle für deren Ende, dann erkennt man in der ausgeschlossenen Folge »rund-spitz« andererseits aber auch den rhythmischen Vorrang des Anfangs vor dem Ende: Man kann den vorhandenen, logisch »spitzen« Schlagbeginn abrunden, man kann das nicht vorhandene, und daher logisch »runde« Schlagende zuspitzen, aber es erscheint nicht mehr glaubhaft, für beide Eckwerte die jeweils unlogische Wertbestimmung einzusetzen. Den »spitz-runden« Typus (Mozart) bezeichnet Becking als »Fluß in natürlichen Akzenten«, den »rund-runden« Typus (Beethoven) als »Schnürung«; der chronometrische »spitz-spitze« Typus (Bach) dagegen wird aufgefasst als »zeitteilender Puls«.140 Der entscheidende Vorteil dabei ist, dass sich diese Typologien nicht mehr als metrisches Raster, sondern als empirische Individualkurven abbilden, deren non-zyklische Aktualisierung es dann ermöglicht, über die Bestimmung der Grundtypen hinaus in den Protokollen der Selbstversuche unzählige minutiöse Widerstände und Abwandlungen der Kurvenprofile berichten zu können.141 Zugleich bleibt eine geradezu unwiderstehliche Neigung erkennbar, genau diese Nuancierungen wieder in dualistische Begriffspaare zurückzuübersetzen, sodass beispielsweise auch noch die Differenzen von Dualismus und Monismus, Spiritualismus und Materialismus sowie Idealismus und Naturalismus aufgestellt werden.142 Der Einbezug empirischer Nuancen suggeriert eine qualitative Weitung in der Klanganalyse, die eine quantitative Verengung der Kategorienanzahl zulässt: »Auch für den Rh. dürfte die These Gültigkeit haben, daß – 138 139
Ebda., S. 21. Darum bleibt auch eine Kritik unzureichend, die Becking nur diese Vereinfachung auf drei Grundtypen vorwirft. Vgl. beispielhaft Helga de la Motte-Haber, Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 2 1996, S. 45. Vgl. zu den drei Typen Becking 1928, Rhythmus als Erkennitsquelle, S. 53. 140 Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 75. 141 Vgl. etwa noch Schmidt 2000, Aufwertung des Rhythmus, S. 52: »Tatsächlich ist Beckings Betrachtung ein Höhepunkt einer Bewegungsästhetik, wo es um die Gestaltung der Bewegung geht, wo die Grundzeit nicht einfach nur ›da‹ oder ›nicht da‹, also von außen Gegebenes ist, sondern zusätzlich ein kreatives Moment beinhaltet, bzw. beinhalten kann«. 142 Vgl. Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 49. Vgl. zudem Sievers 1924, Wege und Ziele der Schallanalyse, S. 101, der verschiedene Kurventypen differiert (neben der Beckingkurve auch eine Signalkurve und eine Taktfüllkurve).
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prinzipiell – in jeder sprachlichen Äußerung sich die Eigenart eines Menschen unverwechselbar kundtut, daß es also beispielsweise keinen Satz Goethes gibt, der seinem Rh. nach auch von Schiller stammen könnte.«143 Diese Aussage ist erkennbar nur dann sinnvoll, wenn der Rhythmus zugleich starr typologisiert und von überindividuellen Normvorgaben möglichst stark befreit ist. Aus der Ideologie vom Rhythmus des Blutes entsteht gleichsam eine Typologie der verschiedenen rhythmischen Blutgruppen (weshalb alle Materialproben von Schiller und Goethe rein auf der Ebene der drei Grundtypen zwingend entweder ganz gleich oder ganz verschieden sein müssen). Es erfolgt offenbar eine Übersetzung naturwissenschaftlicher Objektivitätsansprüche in ideologische Subjektivierungen. Wo aber das empirische Labor und die metrisierte Gestalt überwunden werden sollen, tritt das Problem eines auf nationale Stereotype beschränkten Jargons umso deutlicher hervor. Es geht in der Mitbewegungslehre pointiert gesagt darum, ein vorhandenes Wissen über den Umweg der direkten körperlichen Abbildung in veränderte Objektivitätskulturen zu übersetzen, aber es geht nicht darum, ein wesenhaft neues Wissen zu generieren.144 Die Mitbewegungslehre beschränkt sich daher auch stets auf eine strikt qualitative und eng begrenzte Auswahl ihrer Beispiele.145 Der Gegensatz geistigen Taktierens und seelischen Rhythmisierens bietet hierbei vor allem eine günstige Ausgangsbasis, um die Abwertung der italienischen Operntradition und der französischen Ballettmusik gegenüber einer Kultur der deutschen Instrumentalmusik fortzuschreiben. Bei Becking dominiert allerdings die faustische Darstellung des ewig suchenden Deutschen: »Dem Franzosen bestätigt sich mit jeder rhythmischen Bewegung aufs neue die Erfahrung, daß er unbestreitbar hat; dem Deutschen, auch wenn er auf Besitz pocht, fehlt letzten Endes diese Gewißheit.«146 Eine Einzelstudie von Fritz Giese verändert die methodischen Ausgangsbedingungen, da die Kurventypologie nicht mehr nur durch ein Individuum, sondern durch eine größere Anzahl von Probanden erstellt wird. Dabei erfolgt ein Nachdirigieren von Schallplatten, das zugleich durch ein Aufzeichnungsverfahren mittels Lichtspurtechnik gespeichert wird. Die eigentliche Pointe liegt aber darin, dass sich in dieser stärker empirischen Versuchsanordnung die Ergebnisse eben nicht verändern (wie eine Aussage zur Differenz von Debussy gegenüber den Beispielen mit deutscher Musik belegen kann): »Er braucht beide Hände seitens des wiedergebenden Hörers, aber nicht aus gro-
143 Seckel 1937, Hölderlins Sprachrhythmus, S. 11. 144 Vgl. die Bemerkung zu Becking bei Peter Petersen, »Rhythmische Komplexität in Bachs Musik – eine Herausforderung an die Musiktheorie gestern und heute«, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 9 (1986), S. 235: »Man bedenke, daß bereits im Titel anklingt, daß der Leser nicht Erkenntnisse über den musikalischen Rhythmus erwarten soll, sondern daß er auf Erkenntnisgewinn durch den musikalischen Rhythmus hoffen kann«. 145 Vgl. Gustav Becking, »Klassik und Romantik«, in: Bericht über den I. Musikwissenschaftlichen Kongress der Deutschen Musikgesellschaft in Leipzig, Leipzig 1926, S. 292: »Wo es um die Erkenntnis geistiger Gehalte geht, bietet die Untersuchung vieler Fälle keine erhöhte Gewähr für die Richtigkeit der Ergebnisse«. 146 Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 123.
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ßer, den Menschen einfangender Wucht des Themas (Bach, Beethoven), sondern weil eine geistige Zwischenschaltung – fast des Intellekts – plötzlich statt hat.«147 Dem empirischen Urteil entspricht die Aussage eines Standardwerks über den Dirigentenberuf, das hermeneutisch zu begründen versucht, warum die Franzosen als »geborene Rhythmiker« dennoch bislang keine bedeutenden Vertreter in diesem Berufsstand hervorgebracht haben: »Erklärt kann dieses Fehlen der großen Dirigentenpersönlichkeit nur so werden, daß auch die musikalische Massenseele fehlt, aus der ein großer Dirigent hervorgeht. Nur vom Hintergrunde einer Musikkultur, die Aussprache einer tiefinnerlichen, einer Gemütsbeziehung zur Musik ist, kann sich die Erscheinung des Dirigenten abheben.«148 In allen diesen Beschreibungen erkennt man unschwer den Gegensatz eines »metrisch Eckigen« gegenüber einem »rhythmisch Runden«, einen Gegensatz von Kopfgesteuertheit und intuitivem Körpergefühl. Auch dies ist somit zunächst einmal die Fortsetzung einer musikalisch-politischen Romantik mit anderen Mitteln.149 Eine Einbindung der langlebigen kulturellen Vorurteile in den politischen Faschismus muss dabei nicht zwingend vorgegeben sein: In der Studie Beckings fällt der fehlende Antisemitismus erfreulich auf, bei dem Meyerbeer und Mendelssohn sehr wohl den »deutschen« Rhythmustypen zugeordnet werden, während Wagner eher schlecht wegkommt, auch weil sich deutliche Nachwirkungen von Nietzsches Wagner-Kritik ausmachen lassen.150 Die Nachzeichnung dieser Bewegungskräfte zeigt sich allerdings gegenüber einer Auflösung der periodisierten Melodiebildung in der Musik empfindlich, weil der Bezug auf eine Ordnungsvorgabe notwendig verbleibt, die in den Mitbewegungen abgebildet werden kann.151 In der Untersuchung von Fritz Giese kommt es zu dem Problem, dass die in den Jahren 1931 und 1932 ermittelten Datensätze erst im Jahre 1934 in einer Fachzeitschrift veröffentlicht werden. Zur subtilen Anpassung der Ergebnisse an den politischen Systemwechsel erweist es sich dabei als vorteilhaft, dass schon in die Werkauswahl die üblichen Wertpräferenzen eingeflossen sind (von Beethoven werden zum Beispiel die Coriolan-Ouvertüre und das Streichquartett op. 95 ausgewählt, was einen Nachweis
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Fritz Giese, »Individuum und Epoche in Taktierbewegungen bei verschiedenen Komponisten«, in: Archiv für die Gesamte Psychologie, Bd. 90 (1934), S. 402. 148 Adolf Weissmann, Der Dirigent im 20. Jahrhundert, Berlin 1925, S. 165f. 149 Vgl.auch die Darstellung ästhetisch-historischer Epochen durch einfache Diagramme runder und spitzer Linienformen bei Heinitz 1931, Strukturprobleme, S. 102. 150 Vgl. Becking 1928, Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 58: »Niemals zieht Ruhe und selbstverständliche Gewißheit in die Schläge ein; die erregte Gebärde, die fluktuierende Aktivität, das heftige Mitmachen ist aus ihnen nicht zu bannen«. 151 Schmidt 2000, Aufwertung des Rhythmus, S. 88f. konstruiert daraus Parallelen zwischen Becking und Strawinsky durch die Akzeptanz einer formgebenden kleinsten Grundzeit; doch werden die Differenzen »digital-pluraler« und »analog-binärer« Anwendungssituationen dabei wohl über Gebühr vernachlässigt, um das zu erreichen, was am wenigsten möglich ist: ein einheitliches Bild der Epoche zu erzielen, bei dem zwischen Theorie- und Kompositionsgeschichte ein produktiver Austausch besteht.
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»männlicher« Qualitäten in den Mitbewegungen vereinfacht).152 Auch hier ist es vor allem als Abbildung der Ressentiments einer distinguierten Bildungsschicht aussagekräftig, was explizit als mögliche Differenz »arischer« und »nicht-arischer« Probanden in den Mitbewegungen protokolliert wird: Nicht-Arier neigen zu offen erotisierenden Bewegungen »[…] gerade bei klassischen (Mozart) oder solchen Beispielen, die keinesfalls in diese Richtung geschrieben waren.«153 Die als Vermutung formulierte Aussage, »[…] dass ›arische‹ Musik in ihrer echtesten Formung nur bei abkunftgemäßer Verwandtschaft des Hörenden zu einer Auswertung kommt, wie sie der Komponist eigentlich meinte«154 , kann man hingegen am ehesten für ein eingeschobenes Pflichtbekenntnis halten, denn es gefährdet potenziell die methodische Voraussetzung einer Ausschaltung des Selbst. Die »irrationalen« Implikationen der Mitbewegungsmethode scheinen mit der faschistischen Ideologie dennoch insgesamt so direkt verbunden, dass sich ein starker Ansehensverlust in den einzelwissenschaftlichen Arbeiten zur Rhythmusanalyse direkt nach 1945 nachweisen lässt.155 Dieser Ansehensverlust mag allerdings auch damit zu tun haben, dass die Aussagekräftigkeit der Mitbewegungslehre eine tonale Syntax voraussetzt. In atonaler musikalischer Prosa, aber auch in populären motorischen Stilen ergeben sich für eine Melodisierung des Rhythmischen weniger Möglichkeiten; bei Giese wird dabei zeittypisch dieser »motorische« Stil mit dem Etikett einer »atonalen« Musik versehen, doch verweisen die Beschreibungen weitaus stärker auf ein Problem der Mitbewegungsmethode als auf ein Problem in der Musik: »Jene Ähnlichkeit der Formen der Taktfiguren lockert sich auf zu rein persönlichsten Gebilden bei den Atonalen: damit aber ist deutlich, dass diese Zeit keine epochale Musik kontaktgebender Allgemeinverständlichkeit schafft, keine Sprache ist, die volkhaft (auch bei Gebildeten) verstanden wird.«156 In den Versuchsanordnungen der Mitbewegungslehre bleiben folglich sowohl der Sirenenton einer realen melodischen Bewegungskontinuität wie umgekehrt auch der »digitale Extremwert« einer einförmigen Punktabfolge konsequent ausgeschlossen. Die kinetische Theorie ist von der konservativen Theorieannahme abhängig, dass für das Musikalische bereits ein Vorrat diskreter Tonhöhenverhältnisse vorgegeben sein muss (wie es im folgenden Zitat Carl Stumpf gegen die Ableitung des Musikalischen aus den rhythmischen Arbeitsvorgängen bei Karl Bücher ausführt):
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Vgl. das protokollierte Ergebnis bei Giese 1934, »Individuum und Epoche«, S. 400: »Frauen versagten vielfach bei Beethoven (musikalische unter der Aussage, daß er ihnen nicht liege, was objektiv stimmen wird, da er ausgesprochen männliche Kunst darstellt […])«. Ebda., S. 390. Ebda. Vgl. Hellmuth Christian Wolff, »Der Rhythmus bei Johann Sebastian Bach«, in: Max Schneider (Hg.), Bach-Jahrbuch 37 (1940/48), Leipzig 1948, S. 117f.: »So möge die vorstehende Untersuchung mit dazu beitragen, auf die bewußte künstlerische Gestaltung, die sich im Rhythmus kundtut, hinzuweisen und diesen Rhythmusbegriff scharf von dem sonst heute recht verbreiteten allgemeinen ›Bewegungsbegriff‹ des Rhythmus zu trennen«. Giese 1934, »Individuum und Epoche«, S. 403. Es werden Werke von Hindemith und Kurt Weill – der von Giese konsequent als Weil [sic!] geschrieben wird – unter diesem Label zusammengefasst.
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»Sie macht wohl Anlässe und Motive namhaft, die zum Singen führen konnten, aber die Erklärung versagt wieder gerade da, wo das spezifische Unterscheidende der Musik beginnt, nämlich bei der Frage, wie die Menschen dazu kamen, die Linie der Töne, die an und für sich durchaus stetig ist, in bestimmte Intervalle zu gliedern. Den Rhythmus konnten sie durch abgehackte unartikulierte Laute oder Geräusche ebenso gut und besser ausdrücken.«157 Die Melodisierung des Rhythmus beruht hier auf der Rhythmisierung der Melodie: Es ergibt sich eine komplementäre Rollenverteilung, wonach in der Melodie die ideelle Bewegung an diskrete Ausgangsbedingungen gebunden bleiben muss, während beim Rhythmus die gegebene diskrete Ausgangsbedingung in ideelle kinetische Bewegungen übersetzt werden soll. Diese eigene rhythmische Kinetik ist für Kurth dort am größten, wo der Rhythmus sich durch perkussive Schlagfolgen vom Melodischen ganz befreit. Daher muss die melodische Kinetik zumindest heuristisch ebenso in eine Sphäre überführt werden, die vom Rhythmischen ganz befreit ist. Kurth akzeptiert mit aller Vorsicht die kontinuierliche Melodiebildung des Glissandos als Abbildung der energetischen Tendenzen vom ersten zum nächsten Ton (und genau das erzeugt einen willkommenen Angriffspunkt, mit dem seine Theorie sich widerlegen lässt): »In musikalisch noch halbgeformten Ausdrucksbewegungen, melodischen Bildungen, die halb Rufen und Jauchzen, halb schon ein Singen, in unmittelbarer Primitivität tönenden Schwung und Bewegung darstellen, sind melodische Formungen zu erblicken, welche, noch frei von rhythmischer Ordnung und tonartlicher Klärung, verhältnismäßig am urtümlichsten das Bewegungsmoment im Melodischen zutage treten lassen.«158 Eine verwandte Position wird in dieser Kontinuität einzig eine ungeformte Naturkraft erkennen: »Die Natur selbst stellt nur ein kontinuierliches Tonband her, wie es die Tonerzeugung einer Sirene am besten darstellt. Alle anderen Begriffe, wie Tonverschmelzung, Obertonreihe, Tonnachbarschaft sind bereits Erkenntnisse menschlich-musikalischen Denkens.«159 Tatsächlich tritt in den gestaltorientierten Theorien das Problem hervor, dass zwar das Ideal der kontinuierlichen durchgezogenen Linie für das Erleben der Rhythmusgestalten gelten soll, aber deren akustisches Analogon dennoch ausgeschlossen bleiben muss: »Aber diese Einheit ist keine objektive, wie beim lang angehaltenen Ton, kein Sich-
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Stumpf 1911, Anfänge der Musik, S. 21. Vgl. Kurth 1956, Grundlagen des linearen Kontrapunkts, S. 14: Vgl. zur Gegenposition etwa Handschin 1981, Musikgeschichte im Überblick, S. 52: »Mit anderen Worten: ein indeterminiertes Rutschen ist keine musikalische Bewegung.« Vgl. zur Relevanz dieses Übersetzungsproblems auch noch Grüny 2014, Kunst des Übergangs, S. 82: »Das Glissando als scheinbar unmittelbares Äquivalent der Geste ist tatsächlich musikalisch kaum brauchbar, weil es ins Diffuse abgleitet«. Friedrich Schadler, Das Problem der Tonalität, Zollikon 1950, S. 34.
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gleichbleiben der Empfindung. Es wechseln vielmehr momentane Empfindungen mit empfindungsleeren Zeiten.«160 Das Tonglissando konfrontiert also die »analog-binäre« Rhythmusauffassung mit einem zutiefst unrhythmischen Phänomen, an dessen »analoger« Kontinuität ebenso wenig Zweifel bestehen können wie an der »binären« Logik der Aufwärts- und Abwärtsrichtung. Wird die Bewegung der Hände direkt in akustischen Klang übersetzt, entstehen immer nur Sirenenklänge (das Theremin ist das berühmteste Beispiel für ein Instrument, das an glissandierenden Tonveränderungen ausgerichtet bleibt, weil die kontinuierlichen Handbewegungen nicht mehr durch die materielle Kontaktstelle eines Instruments in diskrete Tongebungen umgewandelt werden). Soll hingegen der akustische Klang in die reale Bewegung der Hände übersetzt werden, entsteht sozusagen alles außer Sirenenklängen.
6.6
Zählakt
Eine wesentliche Differenz zwischen der »realen« Körperbewegung und der »ideellen« Bewegung der Musik begründet sich daraus, dass reale Bewegungen vorbereitet und abgeschlossen werden müssen, während in der Musik diese Phasen der Vorbereitung und des Beschließens sozusagen an reale Bewegungen ausgegliedert werden können (an das Auftreten des Künstlers und Anheben des Geigenbogens, oder auch den Applaus des Publikums).161 Relevant sind hierbei insbesondere eine notwendige auftaktige Vorbewegung vor jeder ausgeführten Bewegung und eine notwendige Rückbewegung nach jeder ausgeführten Bewegung: Wenn also der Arm des Dirigenten gehoben werden soll, dann ist eine Vorbereitung dieser Bewegung zum Beispiel durch die muskuläre Anspannung und kognitive Fokussierung notwendig, während der gehobene Arm des Dirigenten eine triviale Logik in sich abbildet, dass die nächste Armbewegung nach unten gehen muss. Diese Differenz von musikalisch-rhythmischen Zeitintervallen (der Anfang ist dem Ende übergeordnet) und plastisch-statischen Rhythmen (das Ende der Bewegung ist dem Anfang übergeordnet) ist ein elementarer Bestandteil der Theorien von Dalcroze.162 Die notwendige Vorausbewegung ist weniger stark mit einer konkreten körperlichen Ausführung des Vorgangs verknüpft. Das erlaubt die hypothetische Annahme, dass eine Aktivierung der Motorik insgesamt logisch allen Akten der Musik vorausgehen muss (und zwar nicht nur als physiologische Notwendigkeit, sondern auch als phänotypische Ursprungstheorie).163
160 Ettlinger 1900, »Ästhetik des Rhythmus«, S. 168. 161 Vgl. Friedrich Platz, Wenn der Musiker erscheint. Der audiovisuelle Eindruck im Konzert, Marburg 2014, insbesondere S. 25f. zur Begrenzung auf die einzelne direkt vorbereitende Ausführungsgeste in der Musikpsychologie und Musikpädagogik. 162 Vgl. Émile Jaques-Dalcroze, Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst. Sechs Vorträge zur Begründung seiner Methode der rhythmischen Gymnastik, hg. von Paul Boepple, Basel 1907, S. 85f. 163 Vgl. zur Theorie der Musik als letzter »sichtbarer« Phase einer motorischen Erregung Heinitz 1931, Strukturprobleme, S. 24.
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Die notwendige Vorausbewegung symbolisiert eine »kinetische« Weitung des Rhythmus, die notwendige Rückbewegung hingegen dessen »symmetrische« Regulierung: Eine »analog-binäre« Rhythmusordnung setzt sich aus genau diesen beiden Komponenten zusammen (und dies mag ein wesentlicher Grund sein, warum sich zwischen den »esoterischen« Kosmologien und den pädagogischen Körperlehren so starke Verbindungen finden lassen). Der Verweis auf die beiden Phasen vor und nach der eigentlichen Hauptbewegung ermöglicht es, die Körperrhythmik an einem organischen Zeitmodell auszurichten, das wiederum der rhythmischen Phrasierung in der Musik entspricht. Bode postuliert zum Beispiel »[…] die natürliche Gliederung jeder Bewegung, sowie aller größeren Bewegungszusammenhänge nach Anschwung, Hauptschwung und Abschwung (oder mit Bezeichnungen aus der Musik: Auftakt, Hauptakzent, Abtakt).«164 Riemanns Auftaktprinzip des Metrums ließe sich vermutlich ebenso aus diesen Bedingungen ableiten. Phrasierungsvorschläge, die dem musikalischen Sinn eindeutig nicht entsprechen, wären nicht Ersetzungen auf der notationalen Ebene (doch so scheint es natürlich dem Benutzer der Ausgaben), sondern Einsetzungen einer zweiten performativen Ebene, deren motorische Vorausbewegung über die Zäsur oder den abtaktigen Akzent hinweg die musikalische Spannung aufrechterhalten soll. Die Musik als ideelle Bewegungsform muss jedoch nicht die Bedingungen realer Bewegung für sich übernehmen. Und es ist interessanter Weise ausgerechnet der »irrationale« Rudolf Bode, der in seiner Kritik am Auftaktdogmatismus dieses rationale Argument vorbringt: »Die Tongebung wird auftaktig erlebt in gleichem Sinn wie ein Faustschlag vom Ausführenden immer auftaktig erlebt werden muß, da der Weg vom Anfang der Bewegung bis zum eigentlichen Schlag zur Auftaktphase gehört.«165 Es muss auch ein abtaktiger musikalischer Anfangspunkt mit einer motorischen Auftaktigkeit verbunden werden. Die reale Bewegung, die in dieser Sichtweise tatsächlich notwendig auftaktig ist, kann jedoch auch abtaktige Formen wie zum Beispiel Märsche sinnvoll begleiten. Bode vermerkt ergänzend, dass diese Vorausbewegungen im rhythmischen Zählvorgang durch das eingeschobene »und« abgebildet werden: »Die dem entsprechende sprachliche Wiedergabe des Marschierens verlangt daher nicht ein Zählen 1 2 3 4, sondern 1 und 2 und 3 und 4, wobei das ›und‹ den Auftakt wiedergibt.«166 Eine interessante Frage ist, ob ein solches »und« also auch vor der ersten »Eins« notwendig ist: Empirische Untersuchungen zur Zählpraxis würden vermutlich zeigen, dass diese Abbildung der notwendigen Vorausbewegung zwar durchaus üblich ist, aber die Absetzung und Dehnung das vorangestellte »und« von der eigentlichen Zählreihe auch getrennt hält. Eine zweite interessante Frage ist zudem, ob die musikalischen Auftakte, die durch das »und« zwischen den Ziffern erzeugt werden, grundsätzlich nicht eher mit der Abbildung der notwendigen Rückbewegung verbunden sind. Für diese notwendige Rückbewegung gibt es in der Musik aber nun die umgekehrte Möglichkeit, dass die Metrik auch der Motorik vorausgehen könnte. Ein einfaches
164 Bode 1942, Musik und Bewegung, S. 43. 165 Ebda., S. 63. 166 Ebda., S. 59.
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Beispiel für diesen Effekt wäre die beständige Repetition eines aufsteigenden Dreitonmotivs auf einem Instrument; dies verlangt eine Rückbewegung des Arms zum Ausgangston, aber diese Rückbewegung kann als metrisch »totes Intervall« wahrgenommen werden und ändert somit nichts daran, dass in der Klangsukzession direkt auf den dritten Ton wieder der erste Ton folgt.167 Alle Begleitbewegungen sind also immer bereits Interpretationen des Metrums: Sie setzen eine bestimmte rhythmisierte (und melodisierte) Konzeption des Metrischen voraus, die nicht für das Metrum selbst notwendig ist, sondern für den Träger der realen körperlichen Bewegung.168 Das Zeitpunkt-Metrum der Musik besitzt seinen Reiz gerade darin, dass es diesen kinetischen Vorgaben nicht entspricht, die aus den kontinuierlichen, aber zugleich stets auch binären Vor- und Rückbewegungen des Körpers abgeleitet werden.169 Man kann diese Differenz des musikalischen Metrums von den Bedingungen realer Bewegungen anekdotisch belegen: Musiker aus der Band des Komponisten Michael Nyman, der eine Abfolge extrem stark betonter Einzelakzente im Stil der Marschmusik als Markenzeichen entwickelt hat, beklagen sich über die Schmerzen, die dieses unnatürliche Überbetonen immer nur der einen Bewegungsphase auslöst.170 Maschinelle vorproduzierte Musiktracks haben also nicht nur den Vorteil, dass die Schwierigkeit der Musterbildungen erhöht werden kann, sondern auch, dass die Müdigkeit bei ihrer immerzu gleichen Ausführung später einsetzt.171 Diese Differenz ist ein ausgesprochen wichtiger Bestandteil in der Maschinenkritik der »esoterischen« Rhythmustheorien.172 Erst die notwendige Rückbewegung erlaubt eine Rückbindung rhythmischer Regulierungen an ein polarisiertes Organismusmodell: »Der ganze Körper wird angeregt zum Schritt (Marsch), zum Sprung (Tanz und Gebärdung). Alle organische Bewegungen manifestieren sich durch Diastolen und Systolen. Ein anders ist, den Fuß aufheben, ein anders, ihn niedersetzen.«173 167
Die Differenz ist auch außerhalb des ästhetischen Bereichs relevant: Die Rhythmen der Arbeit sind organisch an Vor- und Rückbewegungen gebunden, der »Rhythmus des Arbeitsmarktes« aber setzt für die gemessene höchste Rate an neu eingestellten Arbeitern jeweils am Wochen- oder Monatsanfang keine organische Rückbewegung am Wochenende, sondern einfach nur den Anfang der nächsten Woche voraus. Vgl. Alfred Gürtler, Das Problem des Rhythmus des Arbeitsmarktes und die Methode seiner Erfassung und Darstellung, Graz 1906, S. 92. 168 Vgl. dazu auch Jordan 2007, Stravinsky Dances, S. 92: »For movement, the added tension is that the old symmetries, defined by the organisation of the human body, are disrupted«. 169 Vgl. zum Beispiel Brelet 1949, Temps musical, S. 264: »Et si la danse veut adopter un rythme vraiment libre, ce rythme est épuisant pour la danseuse: car le corps humain, mobile assujetti à l’espace, naturellement s’appuie sur le retour périodique et symétrique des accents«. 170 Vgl. auch folgenden Aphorismus des Dirigenten Jean Morel: »The difference between ballet and opera is that when the dancers go to the top, they have to come down« (zit.n. Leonard Slatkin, Conducting Business. Unveiling the Mystery behind the Maestro, Milwaukee 2012, S. 60; das Faktum der notwendigen Rückbewegung ist den Dirigier- und Taktierlehren natürlich schon immer bekannt gewesen). 171 Vgl. Butler 2006, Unlocking the Groove, S. 65. 172 Vgl. beispielhaft Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 14: »Daueranspannung tritt an die Stelle des Wechsels von Spannung und Entspannung, dieses rhythmischen Urgesetzes alles Geschehens«. 173 Goethe 1949, Naturwissenschaftliche Schriften, S. 908.
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Die kinetische Logik dieser Grundtatsachen ist klar: Man steigt niemals zweimal mit demselben Fuß (weil dieser zunächst wieder fallen muss). Die Forderung nach einer auftaktigen Logik in der »ideellen« Bewegung der Musik wird daher nicht die notwendige Vorausbewegung, sondern die notwendige Rückbewegung zum Ausgangsaxiom des eigenen Modells erheben.174 Diese Verbindung körperlicher und kinetischer Kategorien erzeugt erneut eine eigene Variante einer konservativen Melodisierung des Rhythmischen, die in den späteren Schriften von Bode klar zutage tritt: »Daher besteht auch die Tatsache zu Recht, daß wir bei den Naturvölkern, wo nur das Schlagzeug herrscht, eine primitivere Kulturstufe finden als dort, wo Konsonanz und Dissonanz in das Erlebnis eingehen. Diese sind körperlich überhaupt nicht greifbar!«175 Das Paradigma des Rhythmus kann nicht durch Rhythmus erfüllt werden, weil sozusagen nicht die ästhetischen Eigenschaften des Rhythmischen im Körper abgebildet werden dürfen, sondern die notwendigen Eigenschaften des Körpers auch für das Rhythmische gültig werden sollen. Daher muss das Rhythmuserleben beständig an musikalische Kategorien gebunden werden, die sich erst aus der Syntax tonaler Harmonik und Melodik sinnvoll ableiten lassen. Die notwendige Vorausbewegung ist eine Abbildung des Modells (X+1): Sie ergänzt für jede beliebige Bewegung, sei sie einheitlich, gegliedert, einfach oder komplex, eine einzelne weitere Bewegungsphase. Es ist aber gerade diese Bewegungsphase, die sich in ein »digitales« Modell des Rhythmus niemals direkt einschreiben lässt, weil die allererste Phase einer Bewegung durch ihr vorgegebenes Ende und den unbestimmten Anfang sich jeder Möglichkeit der Repetition am wirksamsten entzieht. Die notwendige Rückbewegung ist hingegen eine Abbildung des Modells (1-X): Sie ergänzt als unfreie, zwingend vorgegebene Bewegungsphase nur ganz bestimmte Bewegungen. Die rhythmische Repetition dieses Vorgangs kann daher zur Ausgangsidee der Polaritätenlehre erhoben werden, und zwar immer dann, wenn in einem binären Paar beide Bewegungsphasen einer Logik der notwendigen Rückbewegung in die jeweils andere Phase unterworfen sind. Die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen der »mentalen« Rhythmusseite einer Sukzession von Zeitpunkten und der »motorischen« Rhythmusseite einer Sukzession von Bewegungsphasen sind die rhythmisierten Zählakte. In ihnen wird durch Betonungsdifferenzen, eingeschobene Pausen und Bindewörter sowie durch die Varianz der zu Grunde gelegten Zahlenreihen die Anbindung oder Abkopplung des Rhythmus sowohl von einer »realen« körperlichen Rückbewegung wie von einer »ideellen« kinetischen Vorausbewegung indirekt abgebildet. Als Ausdruck des interdisziplinären Charakters der Rhythmusforschung verwundert es nicht, dass eine ausführliche Theorie des rhythmischen Zählens bereits am Ende des 19. Jahrhunderts vorgelegt wird, die jedoch eine einzelwissenschaftliche Methode
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Vgl. etwa Hugo Leichtentritt, Musikalische Formenlehre, Leipzig 1911, S. 2: »Gerade wie beim Fortschreiten der Fuß erst gehoben werden muß, ehe man ihn senkt, so ist es auch beim Motiv das Naturgemäße, daß es mit dem Auftakt beginnt«. Bode 1942, Rhythmus und Bewegung, S. 44.
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zum Erlernen der elementaren Rechenoperationen im Mathematikunterricht entwickelt. In sich rhythmisiert ist diese Theorie vor allem dadurch, dass sie vom Vorrang der »Eins« als Zählelement ihren Ausgang nimmt. Diese Funktion der Eins als Stellvertreter aller anderen Zahlen wird zudem in einer quasi »digitalen« Formulierung herausgestellt: »Hauptsache ist ja immer, die Abstraktion der Eins, deren Inhalt sowohl jedes Etwas, wie jedes Nichts sein kann, zu vollenden.«176 Die Zahlen werden in dieser Theorie aus dem Zählen abgeleitet, sie sind keine »Urphänomene«, die aus einer Erfahrung der Zweiheit oder Dreiheit entspringen (aus der simultanen Darbietung der Zählsumme), sondern werden pädagogisch als »unendliches Nacheinander von Einsen«177 in einem sukzessiven Zählvorgang erlernt. Der Zahllaut der Zwei ist somit im Zählakt der Einsen einfach die lautliche Differenzierung der zweiten empfundenen Eins, die Drei die lautliche Differenzierung der dritten empfundenen Eins usw.178 Für die allgemeine Rhythmustheorie ist dies durchaus interessant, weil es erklären kann, warum eigentlich so unproblematisch anstelle des Weiterzählens in einer sukzessiven Zahlenreihe eine neue Eins gesetzt werden kann. Die Theorie des rhythmischen Zählens besitzt jedoch trotz des Vorrangs der Eins eine verblüffende Parallele zu Riemanns Auftaktprinzip, da für die gebildeten Zweier- und Dreiergruppen immer ein Vorrang des Zielwerts angenommen werden muss: »So werden zwei Einsen, ganz gleichgültig, welchen Zählwörtern sie assoziiert sind, zu dem Nacheinander einer leichten und einer betonten, analog der dunkleren und geklärteren Einsvorstellung in unserm Bewusstsein, zur ›eins, Zwei‹.«179 Der Grund dafür scheint schlichtweg zu sein, dass auch die zeitlich »offenen« Zählvorgänge dem vorgegebenen Ziel der Bewältigung von Rechenaufgaben unterstellt werden, bei dem die letzte Zähleinheit das gesuchte Ergebnis repräsentiert: Das längere und lautere Aussprechen der letzten Zahl, wenn eine Reihe von Münzen oder Murmeln gezählt wird, dient dann dem Zweck, die gefundene Summenzahl von der vorherigen Sukzession der Zahlenreihe abzugrenzen. Das rhythmische »Unterwegs-Sein« schließt jedoch genau diese Vorgabe einer Zielzahl aus: Die Eins, die allen Zahllauten als Zählakt unterliegt, ist beim Rhythmus nicht mehr die unterlegene Zahl. Man kann die rhythmische Erfahrung als denjenigen Zustand bestimmen, bei dem der Zählakt sich gegenüber der Zahlbedeutung durchsetzen soll: Rhythmus erzeugt somit eine Situation, in der ebenso intuitiv in jeder beliebigen Zahlenreihe, die mit einer »Eins« beginnt, auch dieser »Eins« der Hauptakzent zugesprochen wird (das heißt nicht, dass dieser metrische Normalfall dem Rhythmus vor-
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K. Emil Fährmann, Das rhythmische Zählen, der Konzentrationspunkt des elementaren Rechnens. Eine psychologisch-pädagogische Studie, Plauen 1896, S. 27. Ebda., S. 23. Vgl. Ebda., S. 32 zur Differenz von Zählakt und Zahllaut: »Einmal assoziieren wir jedem Laute dasselbe Glied (Ding), die gleiche Eins, zum anderen aber assoziieren wir jedem folgenden Laute den Inhalt der nächst höheren Zahl«. Ebda., S. 37.
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gegeben ist, sondern es heißt nur, dass den rhythmischen Zählakten dieser Normalfall vorgegeben ist).180 Das Gestaltdenken interpretiert diesen unbedingten Vorrang der Eins bzw. die Möglichkeit des Weiterzählens in typischer Weise wieder als Ausprägung einer Gruppenganzheit: »Der Vorteil, der darin liegt, wenn diejenigen Elemente, welche uns über ein ganzes Gebilde belehren, zuerst gegeben sind, liegt auf der Hand.«181 Dieses Argument soll den Vorrang der abtaktigen Abfolge Schwer-Leicht bei der Gruppierung einer »rhythmisierenden« Reihe in rhythmische Zweiergruppen erklären: Das ist aber ungenau, weil die markierte Eins ja gerade keine Informationen über das Gesamtgebilde hergibt, also ob zum Beispiel eine Zweier- oder Dreiergruppe vorliegt, sondern die akzentuierte Eins legt nur fest, dass ein rhythmischer Zählakt der Gruppenbildung als Grundlage dienen soll. Für eine Theorie des rhythmisierten Zählens ist eine Unterscheidung zwischen reinen Zählakten und situationsgebundenen Handlungsakten wichtig: Im ersten Fall veranlasst eine vorhandene Zeitgliederung den Zählvorgang (hierunter fällt das Mitzählen zur Musik), im zweiten Fall veranlasst hingegen das vorhandene Handlungsziel einen Zählvorgang, der dann eine Form der Zeitgliederung erst erzeugt (»Oins-Zwoa-DroaGsuffa« wäre hierfür ein weit verbreitetes Beispiel). Die Differenzen zwischen diesen beiden Formen des Zählvorgangs sind nicht zu unterschätzen: Ein Hauptunterschied liegt darin, dass der Handlungsakt von der musikalischen Codierung eines metrischen Zählvorgangs befreit werden kann. Die Zahlenfolge 1-2-3-4 zum Beispiel erlaubt als Akzentabstufung nun das stetige Stärker- oder Schwächerwerden jedes einzelnen Zählelements. Sprachlich ist dieser Zählvorgang mit der Steigerung des »noch eines« verbunden, was zum Beispiel durch die immer höhere Lautstärke angezeigt wird (wie bei der Steigerung der Begeisterung: »ein Geschenk, zwei Geschenke, drei Geschenke« usw.).182 In diesem Fall wird also weder ein vorgegebenes Zielelement als Zählergebnis betont, noch wird die vorgegebene Eins betont, wenn wie beim Rhythmus das Zählen selbst das Ziel ist, sondern es wird jede einzelne Zahl als Zielwert inszeniert, was dann aber durch die Fortsetzung der Einserreihe negiert wird, weshalb der nächste Zählwert als nächster Zielwert wieder stärker als derjenige zuvor betont sein muss (die immer schwächere Betonung beruht letztlich auf demselben Prinzip).183 Handlungsakte verändern also durch ihre objektive Rhythmisiertheit die Notwendigkeit und die Natürlichkeit der »subjektiven Rhythmisierung«. Folgerichtig werden Abweichungen gegenüber den einfachen rhythmischen Gruppierungsgesetzen dort erzeugt, wo die Experimente der Gestalttheorie in der Laborsituation nicht mehr Zählakte suggerieren, sondern Handlungsakte simulieren. Zumeist wird in den Aufsätzen jedoch nicht diese Vertauschung der Prämissen diskutiert, sondern die Verschiebung 180 Vgl. zu dieser Differenz Feyerabend 1984, Wissenschaft als Kunst, S. 127: »In der Zahlenreihe gibt es zu jedem Element ein vorhergehendes und ein nachfolgendes, in der Linie gibt es so etwas nicht«. 181 Ettlinger 1900, »Ästhetik des Rhythmus«, S. 187. 182 Hinweise auf diese Zählweise im Kontext sprachlicher Artikulation bzw. ethnischer Ritualformen finden sich bei Groot 1932, »Der Rhythmus«, S. 196 sowie Werner 1924, Ursprünge der Lyrik, S. 81. 183 Das berühmte Beispiel des Zählens der Schafe als Einschlafhilfe entspricht womöglich diesem Fall: Die offene Reihe 1-2-3-4-5 wird dadurch von der subjektiven Rhythmisierung 1-2-3, 1-2-3 befreit gehalten.
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der rhythmischen Präferenzen in den Ergebnissen wird so präsentiert, als ließen diese sich für alle rhythmischen Gruppierungsformen verallgemeinern. Als erstes Beispiel kann man auf eine Studie aus dem Jahr 1913 verweisen, in der ein Vorrang binärer Gruppierungsfolgen bestritten werden soll: »There seems to be no reason for concluding that rhythm of any sort is instinctive, but only that generally in life certain movements are called for more often than others and hence become more automatic, more habitual.«184 Diese Hypothese eines auch nur habituellen Vorrangs der häufigeren Taktarten basiert auf Experimenten, bei denen die Rhythmisierung von Handlungsvorgaben wie dem Einschlagen eines Nagels in ein Brett untersucht wird. Für die Hammerschläge ergibt sich typischerweise dann aber eine Abfolge mehrerer schwacher Vorwegschläge und eines einzelnen Hauptschlags, sodass durch diesen Zielwert nicht die Bedingungen rhythmischer Zählakte eingehalten sind.185 Die Rhythmisierung erfolgt in anderer Art und Weise, wenn nicht mehr die Anpassung an eine Sukzessionsfolge untersucht wird, sondern die Anpassung dieser Sukzessionsfolge an eine vorgegebene Aufgabe. Paulssen untersucht zum Beispiel in einer Reihe von Experimenten die »Gliederung der Vorperiode«, wobei die Zeitphase vor einer akustischen Signalreihe durch schwächere Vorsignale abgegliedert wird. Die rhythmische Gruppierung betrifft also nicht mehr eine offene, sondern eine vom Zielwert des Hauptschlags abgeschlossene Sukzessionsreihe. Dabei wird ein Gegensatz erkennbar zwischen den impliziten Initialakzenten in den auftaktigen Gruppierungen (sodass der Vorrang der Eins des Zählakts sich auch in die Vorschläge vor dem Hauptsignal projizieren lässt) und dem expliziten Endakzent der Gesamtgruppe (sodass der Vorrang des Zielwerts gerade diese impliziten Initialakzente unterdrücken wird): »Bei zwei Vorsignalen geht dem einfachen Jambus ein leicht betonter Auftakt voraus; bei häufiger Wiederholung zeigte jedoch dieser Rhythmus die Tendenz, sich in den Anapäst zu verwandeln, wobei eine starke Steigerung der Intensität des letzten Schlages eintrat.«186 In diesem Experiment wird die Auftaktigkeit der notwendigen Vorausbewegung selbst einem rhythmischen Zählvorgang unterworfen (und dadurch teilweise an den unbedingten Vorrang der Eins zurückgebunden). Typisch daran ist die Situation, dass auch in dem auftaktigen Zählen hin zu einem Zielwert sich die Tatsache bemerkbar macht, dass eine rhythmische Sukzession durch den Vorrang des Anfangs vor dem Ende von realen Bewegungsbedingungen getrennt ist. Der Zählvorgang besitzt bei einem Handlungsakt immer das Problem, dass der Zielwert erneut durch ein Zählelement und damit durch ein weiteres Anfangsereignis gesetzt wird: Diese Logik nutzt der rhythmische Zählakt als sich selbst verstärkendes System, während beim Zielwert des Handlungsakts unklar wird, ob die Aktion »auf drei« erfolgt oder »nach drei« (als praktischen Leitfaden kann man sich die Szene mit der Bombe auf der Toilette in dem Actionfilm
184 Swindle 1913, »Inheritance of Rhythm«, S. 191. 185 Vgl. Ebda., S. 200 zur Definition eines Handlungsakts: »Learning to perform, by means of one or many different members of the body, a purposive action of n movements of which one is ›bigger‹ than the (n-I) others and being then able to tap on the table in such a manner as to accentuate every nth tap«. 186 Paulssen 1920, »Gliederung der Vorperiode«, S. 183f.
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Lethal Weapon 2 vor Augen führen). Auch Karl Bücher stolpert bereits über dieses Problem, weil das von den Arbeitsbewegungen erzeugte Geräusch des Materials (das Klopfen auf dem Stein etc.) am Ende der einzelnen Arbeitsbewegung steht und damit in eine Konkurrenz zur akustischen Begleitung durch die rhythmischen Arbeitsgesänge tritt (der Zweck der Koordination muss früher einsetzen als das Arbeitsgeräusch und bedarf einer eigenen Tongebung).187 Daher ist auch für Bücher die notwendige Rückbewegung die Quelle der Arbeitsrhythmik, weil dann das am Ende der Arbeitsbewegung stehende Geräusch auch deren Umschlagspunkt zurück in die Ausgangsstellung markiert: »Die Messung wird hierbei erheblich dadurch erleichtert, dass jede Arbeitsbewegung sich aus mindestens zwei Elementen zusammensetzt, einem stärkeren und einem schwächeren: Hebung und Senkung, Stoss und Zug, Streckung und Einziehung.«188 Arbeitsrhythmen sind also auftaktig in dem Sinne, dass sie als Handlungsakte eine notwendige Rückbewegung in die rhythmischen Anfangsbestimmungen eintragen (wie bei dem für Büchers Theorie paradigmatischen Ausruf »Hau-Ruck«). Die selbst gewählte Rhythmisierung der Arbeit dient dabei der Kontrolle gegen ein zu rasches Tempo, um Belastungen zu vermeiden, die fremd bestimmte Rhythmisierung dient hingegen häufig dazu, eine Kontrolle gegen den Abfall eines raschen Tempos zu installieren und auf diese Weise also höhere Belastungen zu ermöglichen.189 Büchers ethnologische Beobachtungen münden folgerichtig in eine berühmte Passage, in der die antiken Metren zur Differenz verschiedener Arbeits- und Abzählvorgänge verdichtet werden: »Der Iambus und Trochäus sind Stampfmasse: ein schwach und ein stark auftretender Fuss; der Spondeus ist ein Schlagmetrum, überall leicht zu erkennen, wo zwei Hände im Takte klopfen; Daktylus und Anapäst sind Hammermetren, noch heute in jeder Dorfschmiede zu beobachten, wo der Arbeiter einem Schlage auf das glühende Eisen zwei kurze Vor- oder Nachschläge auf den Amboss vorausgehen oder folgen lässt.«190 Dies ist ein Hinweis darauf, dass das rhythmische Zählen, das den Spondeus der immer gleichen Schläge durch die »subjektive Rhythmisierung« zugleich ausschließt und verabsolutiert, einen außeralltäglichen, letztlich ästhetisch autonomen Zustand anzeigt, der sich weder mit den notwendigen Vorausbewegungen und Rückbewegungen des Körpers noch mit den motorischen Zielbestimmungen der Arbeitsvorgänge direkt gleichsetzen lässt.191 Vgl. konkret Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 27: »Dieser Ton fällt in der Regel ans Ende der einzelnen Arbeitsbewegung, und es ist kein Zweifel, dass das Festhalten eines gleichen Zeitmasses der Bewegung dadurch erleichtert wird. Er ist das Kennzeichen des Arbeits-Rhythmus; aber er ist an sich kein Ton-Rhythmus«. 188 Ebda., S. 26. Vgl. dazu auch Koch 1922, Rhythmus, S. 30: »Wenn dieser als wesentliche Elemente der Arbeitsbewegung ein stärkeres und schwächeres Moment, Hebung und Senkung, Stoß und Zug, Streckung und Einziehung bezeichnet, so ist das eben schon die in der Arbeit sich äußernde rhythmische Urveranlagung des Menschen«. 189 Vgl. als empirische Studie mit genau diesen Ergebnissen Dobri Awramoff, »Arbeit und Rhythmus«, in: Philosophische Studien, Bd. 18, Leipzig 1903, S. 520ff. 190 Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 311. 191 Vgl. dazu auch eine Aussage von Arnold Schönberg: »Da in der musikalischen Metrik eine spondeische Bildung ebenso möglich ist und auch oft genug vorkommt, wie in der Rhythmik unserer 187
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Definiert man Arbeit als Prozess der Umformung, bei dem ein Zustand vor in einen Zustand nach der Bearbeitung eines Gegenstands überführt wird, dann verweist dies zusätzlich auf die eigene Umformung, die dabei die einfachen rhythmischen Zählakte durch die Anpassung an den Zielwert einer Aktion oder einer Arbeitsbewegung erhalten.192 Eine weitere typische Differenz liegt beispielsweise darin, dass durch den festgelegten Zielwert im Handlungsakt die Zahlenabfolge zum Countdown umgekehrt werden kann. Dies erzeugt eine Zahlenlogik, bei der nicht mehr die Eins als Anfangszahl fest vorgegeben ist, aber als Zielzahl die Null mit einbezogen werden muss. Dieser Einbezug der Null erzeugt in einer aufsteigenden Zahlenreihe eine Differenz zwischen einem Zählen von Zeitpunkten und einem Messen von Zeitstrecken. Ein Zollstock ist zum Beispiel ein Instrument zum Messen von Strecken, daher ist der erste Markierungspunkt mit der Ziffer Null versehen, eine Ergebnistafel beim Minigolf hingegen ist ein Instrument zum Zählen von Werteinheiten, daher ist hier der erste Markierungspunkt mit der Ziffer Eins versehen. Messen und Zählen können somit logisch voneinander getrennt werden, sodass das Messen sich dem Konzept der kinetischen Kraftwirkungen zuordnen lässt, und das Zählen dem Konzept der rhythmischen Sukzession: »Das Messen ist die Anwendung der diskreten Grössenvorstellungen auf die kontinuierlichen Grössen. […] Zählen ist das umgekehrte Verfahren des Messens, es ist die Anwendung der Stetigkeitsvorstellung auf Diskretes.«193 Messen ist der stärker »analoge« Begriff: Er erlaubt ungefähre Angaben wie »schwerer als« oder »größer als«, in denen die dichte Gesamtsumme unabhängig von den Einzelteilen bestimmt wird. Im Zählen können hingegen diese »digitalen« Einzelelemente in eine stetige Reihe gleichartiger Glieder überführt werden. Eine Messbestimmung nach dem Modell des Zollstocks würde in den metrischen Zählreihen durchaus einen handgreiflichen Vorteil erzeugen: Die Werte der metrisch starken Taktzeiten entsprechen nun dem Integer dieses Taktes (die Zählfolge 012-345-678 bindet den Dreiertakt auch an die Vielfachen des Teilerwerts). Der Vorrang des reinen Zählakts zeigt sich darin, dass dieser Vorteil sich nicht gegen das Primat der Eins durchsetzt. Taktrhythmus hat entgegen hartnäckiger Theoriegerüchte nur wenig mit Messen zu tun, weil die Null nicht in das System mit einbezogen werden kann; das Metrum ist ein Messen, das durch Zählen erfolgt.194 Der Einbezug der Null ist hingegen sinnvoll, wenn musikalische Intervalle als Raumstrecken mathematisiert werden sollen (weil nur dann der Tritonus – gerechSprache, beim Schreiten jedoch zwei vollkommene Senkungen des Beines nicht ausführbar sind, so wird es klar, daß diese natürliche Tätigkeit mit jener künstlerischen in der Hauptsache nicht verglichen werden kann« (zit.n. Schmidt 2000, Aufwertung des Rhythmus, S. 59f.). 192 Vgl. zu dieser Arbeitsdefinition G. Günter Voß/Cornelia Weiß, »Wenn die Arbeitenden immer mehr zu Subjekten werden… Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit. Erläutert am Beispiel eines Außendienstmonteurs«, in: Baxmann/Göschel/Gruß/Lauf 2009, Arbeit und Rhythmus, S. 50. 193 Vaihinger 1922, Philosophie des Als Ob, S. 569. 194 Genau diese Differenz tritt hervor, wenn das rhythmische Zählen pädagogisch einmal zum Lernen von Zahlenreihen eingesetzt wird (etwa der Reihe 3-6-9), aber einmal zum Erlernen rhythmischer Bewegung genutzt wird (nun verschiebt der Vorrang der Eins die Akzente auf die Reihe 1-4-7 in den Dreiergruppen). Vgl. Gustav Klar, Der Rhythmus und seine Bedeutung für den Unterricht, Langensalza 1919, S. 9ff.
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net vom jeweils als Nullwert bestimmten Ausgangston – als vollendeter sechster Halbtonschritt mit der Ziffer 6 als Teilerwert der Oktave 12 oder als Bestandteil des Kleinterzzirkels 3-6-9-12 ausgezeichnet wird). Der Einsatz der Null bei der Bezeichnung rhythmischer Zeitintervalle ist daher oftmals ein Hinweis, dass die Tondauerordnung aus der seriellen Tonhöhenordnung supplementär abgeleitet wird.195 Die Interferenz-Bestimmung des Rhythmischen ließe sich zusammengefasst also auch noch für dessen einfache Zahlenbasis ausformulieren: Die neuzeitliche Logik der »digitalen« metrischen Wertdifferenzen basiert auf Elementen einer »archaischen« Zahlentheorie, denn die Null muss aus dem System ausgeschlossen werden und die Eins besitzt eine Sonderstellung, sodass sie wie in der antiken Mathematik nicht als eigenständige Zahl, sondern als Einheitsgröße aller anderen Zahlen aufgefasst wird.196 Der »digital-binäre« Code aus Eins und Null in den Algorithmen der Computerwissenschaften kann jedoch vom »digital-pluralen« Code der sukzessiven Einsen in den rhythmischen Zählakten klar unterschieden werden.197 Die Zählvorgänge besitzen in der Geschichte der Rhythmustheorie aber auch ihre eigene Interferenz: Eine Reduktion auf Zahlenwerte verweist einmal auf die am stärksten »empirische« Ausrichtung des Rhythmus an der selbstverständlichen Prämisse metrischer Zeit- und Zählpunkte, doch eine Faszination für Zahlenwerte kann auch die am stärksten »esoterische« Aufladung des Rhythmus zur kosmologischen Geheimwissenschaft anzeigen.198 Die Nüchternheit der Zählakte verwandelt sich dann in eine Zahlenmystik, die sich nun aber an den Messpunkten »gefüllter« Zeitstrecken orientieren wird. Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Periodenlehre von Wilhelm Fliess. Fliess deutet das Weltgeschehen als Überkreuzung der »weiblichen« Lunarzyklen von 28 Tagen und der »männlichen« Zyklen von 23 Tagen.199 Mit diesen Zahlenwerten können dann verschiedenste spekulative Berechnungen durchgeführt werden, bei denen sich Geburts- und Todestage oder historische Zeitspannen von zumeist drei- oder vierstelligen Zahlensummen aus den beiden Grundzahlen ableiten lassen. Die Multiplikation oder Addition der Zahlen erzeugt somit Zeitstrecken, in denen nicht mehr wie im
195 Vgl. David Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, New Haven 1987, S. 23. 196 Vgl. dazu auch Krämer 1988, Symbolische Maschinen, S. 58f. 197 Das Verb »computare« verbindet sich historisch mit konkreten Abzählvorgängen, die vom neuzeitlichen Computercode wie vom rhythmischen »numerus« der Zahlenproportionen abzugrenzen wären. Vgl. dazu Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 3 2004, S. 24. 198 Vgl. zur gleichsam in sich »rhythmischen« Interferenz der Zahlen zwischen Zeit- und Raumvorstellung grundlegend Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburg 2010, S. 95: »Und als die konkreten Ausdrücke dieser ›Ganzheit‹, als ihre anschaulichen Schemata, erweisen sich in beiden Fällen die Grundformen des Raumes und der Zeit, denen sich als dritte die Form der Zahl zugesellt, in der die Momente, die in Raum und Zeit gesondert auftreten, das Moment des ›Beisammen‹ und das des ›Nacheinander‹, sich wechselseitig durchdringen«. 199 Vgl. Fliess 1909, Leben und Tod, S. 13. Die Zahlenkosmologie wird dabei an Beispielen entwickelt, die zwischen elitärem Selbstversuch und Läsionsstudien schwanken: Ahnentafeln von Adligen und Statistiken von Totgeburten binden die universale Geltung der beiden Tageszyklen an genau jene sozialen Faktoren, die eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« nicht kennt. Vgl. zu dieser Richtung der Rhythmuslehren einführend auch Hanse 2007, Rythme et civilisation, S. 198ff.
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Taktmetrum ein Vorrang der Eins besteht, sondern die Einserreihe mit den vorgegebenen Zielwerten in Beziehung gestellt werden muss (in Rechnungen wie 2x23+1x28=74). Dabei verbleiben die Summanden gegenüber den Summen stets in einer untergeordneten Position, und genau diese Vorstellung wird zumindest in einer Quelle umstandslos mit einer reaktionär-politischen Begründung des Führerprinzips assoziiert: »Die Menge – es ist ein alter Satz – besteht aus Nullen, die eine einzige Eins zu Tausenden und Zehntausenden macht, wenn sie führend vor die Nullen tritt.«200 Man kann in den Zahlensummen allerdings auch die Einzelsummanden isolieren: Die 2 und 8 verweisen in der Zahl 28 als Teile der geometrischen Multiplikationsreihe 2-4-8-16 symbolisch auf den Nennerwert einer neuzeitlichen Taktangabe und damit auf eine »analog-binäre« Konzeption des Rhythmischen. Die 2 und die 3 der Zahl 23 verweisen als Summanden auf die arithmetische Additionsreihe des Zählerwerts einer neuzeitlichen Taktangabe und damit auf eine »digital-plurale« Konzeption des Rhythmischen. Die Ablehnung der Zeitpunkt-Kategorie, die Rede von der seelischen Ähnlichkeit statt geistigen Gleichheit, der Jargon der Ursprünglichkeit und schließlich auch noch die reale Körperbewegung als Träger notwendiger Rückbewegungen dienen allesamt dem Zweck, den regulären Rhythmus der Zweierpotenzenreihe von der metrischen Ablauflogik einer Zahlensukzession zu befreien. Die Ausweitung des Metrischen in nonisochronen, stochastischen und synkopischen Zeitpunktfolgen hingegen befreit in der ästhetischen Praxis diese Zahlensukzessionen von der Bindung an die Zweierpotenzen. Die Musikalisierung anderer Kunstformen verlangt jedoch eine wiederum veränderte Relationsform zwischen dem metrischen Zähler (Geber) und Nenner (Empfänger): Das abschließende Kapitel soll ausführen, wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Tendenz zur Melodisierung der musikbezogenen rhythmischen Innenräume durch eine Tendenz zur Rhythmisierung von musikfernen Außenwelten beantwortet wird.
200 Sallwürk 1924, Rhythmus des Geisteslebens, S. 25.
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Raum
Die Kompliziertheit der Zeit ist eine Bedingung für die Einfachheit des Rhythmus. Hinter dieser Annahme verbirgt sich ein eurozentrisches Argument: Wo abstrakte Zeitkonzepte vorliegen, wird das Rhythmuskonzept eher dessen einfache Basiswerte abbilden, wo die Zeitempfindung jedoch nicht rationalisiert wird, kann die Rhythmusempfindung auch komplexere Muster ausbilden. Europäische Rhythmustheorien müssen nicht erst im 20. Jahrhundert begründen, warum die ethnologischen Polyrhythmen für das eigene Fortschrittsdenken unwesentlich bleiben können. Man kann in dieser Frage vor allem auf einen Vorgang der negativen Rückkopplung verweisen: Die entwickelte Harmonik und Kontrapunktik der musikalischen Mehrstimmigkeit erfordern demnach eine relativ einfache rhythmische Materialbasis.1 Dabei kann auch die musikalische Verschriftlichung als Bedingung sowohl der abstrakten Zeitkonzepte wie der Taktkonzeptionen angeführt werden: Die Wiederholbarkeit »digitalisierter« Zeichenstellen reduziert die Akzeptanz und Relevanz der Improvisation und der non-zyklischen Aktualisierung, die für die Genese von in sich komplexen Rhythmusbildern entscheidend sind. Ein Eigenwert der einfach belassenen Taktrhythmen ergibt sich dann höchstens noch aus einem »synkopischen« Widerstreit mit dem ähnlich konzipierten System der funktionalen Tonalität.2 Ein ästhetisches Programm zur »Rhythmisierung der Welt« um 1900 besitzt somit zwei einfache Möglichkeiten: Man kann entweder die Rhythmik des Jazz, der Folklore oder auch der urbanen Maschinenklänge für dieses Programm einsetzen und auf
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Vgl. Langelüdekke 1928, »Rhythmus und Takt«, S. 92: Es scheine ein »[…] Wechselverhältnis zu bestehen derart, daß bei zunehmend harmonischer Gestaltung der Akkordfolgen die rhythmischen Verhältnisse einfacher werden«. Vgl. weitere Referenzen auf dieses Argument (man findet es noch bei Wilhelm Seidel) bei Heinitz 1931, Strukturprobleme, S. 5 sowie Stumpf 1979, Anfänge der Musik, S. 47. Vgl. vor allem Lidov 2005, »Repairing Errors«, S. 171: »According to an odious cliché which has surrounded me during my entire teaching career, African and Asian music developed complicated rhythms while European music, lazy in its rhythms, developed harmony. What nonsense! Harmony raises the interplay of acoustic rhythmic and embodied metrical performance to an exalted level«.
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diese Weise gleichsam die eigene Welt anderen Rhythmen aussetzen; oder aber man kann ein neuartiges philosophisches Zeitkonzept auf den Gegenstand des Rhythmischen übertragen und auf diese Weise die altbekannten Rhythmen mit abgeänderten Weltentwürfen aktualisieren. Überschneidungen zwischen den Zeit- und Rhythmustheorien ergeben sich insbesondere, wenn die Interferenz-Bestimmung und Interdisziplinarität auch in den Zeitentwürfen als methodische Ausgangsbedingungen hervortreten.3 Typisch ist dabei eine ästhetische Gleichsetzung eigentlich unvereinbarer Zeittheorien: Man findet in Referenzen auf einen Emanzipationsvorgang von der einfachen Taktrhythmik häufig Verweise sowohl auf den Einfluss der Relativitätstheorie von Einstein, durch die Raum und Zeit ineinander überführt werden, und auf das Konzept der reinen Dauer von Bergson, durch das Zeit und Raum unüberwindbar voneinander getrennt werden.4 Für die »esoterische« Polaritätenlehre bleibt demgegenüber eine Position von Bedeutung, die aus dem Vorrat der populären Formeln zum Wesen der Zeit den Dualismus von Kant heranzieht, der zwar Raum und Zeit als Anschauungsbedingungen des Subjekts gleichstellt, aber zwischen dem Raum als äußerem Sinn und der Zeit als innerem Sinn unterscheidet; dies lässt sich auf den Gegensatz vom »geistigen Sein« und »seelischen Werden« gut übertragen.5 Daraus ergibt sich ein nicht logisch zwingender, aber methodisch einleuchtender Syllogismus: Wenn Räumlichkeit das Zeitverstehen erleichtert, und Rhythmisierung ebenso das Zeiterleben erleichtert, dann ist es eine sehr naheliegende Annahme, den Rhythmus als eine Form der Verräumlichung der Zeit zu definieren. Das Grundproblem ist erneut, dass die räumliche, chronometrische Zeit einerseits die »falsche« Zeitform sein soll, sich aber andererseits sehr einfach beschreiben lässt, während die kinetische, ideelle Zeit zwar als die positiv ausgefüllte, nicht rein negierende Zeit beschrieben werden soll, die sich aber nur ex negativo beschreiben lässt (man kann von dieser Zeitordnung vor allem sagen, was sie nicht ist).6 Medienhistorisch scheint hingegen das Idealbild einer homogenen, fließenden Zeit erst seit der Präsenz auch von diskreten Zeitmessungen aufgekommen zu sein;7 es besteht aber kulturhis-
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Vgl. dazu auch Luckner 1994, Genealogie der Zeit, S. 24. Vgl. als typisch generalisierende Aussage zur »longue durée« der rationalisierten Taktrhythmik Laurenz Lütteken, Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis, Kassel 2011, S. 146: »Dieser neuzeitliche Zug stabiler Zeitstrukturen, der sich in klaren Mensurrelationen und schließlich im (modernen) tactus abbildet, sollte die Musik bis ins frühe 20. Jahrhundert bestimmen, erst dann beanspruchte die Zeitgestaltung, beginnend mit Komponisten wie Charles Ives und Edgard Varèse, neuerlich ein genuines kompositorisches Eigeninteresse, kaum zufällig in einer Epoche, in der sowohl der philosophische, bei Henri Bergson oder Martin Heidegger, als auch der physikalische Zeitbegriff, bei Ernst Mach oder Albert Einstein, grundlegenden Erschütterungen ausgesetzt war«. Vgl. zu den rationalitätskritischen Referenzen auf Kant auch Hueck 1928, Polarität und Rhythmus, S. 27 sowie Spengler 1981, Untergang des Abendlandes, S. 224. Vgl. Adam 2005, Diktat der Uhr, S. 51. Vgl. dazu insbesondere Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt a.M. 1984, S. 5f. Konkret kann man zeigen, dass die Sanduhren als Symbole »analoger« Zeitmessung immer eine abgeleitete Variante der »digital« bestimmten gleichlangen Stunden sind (vgl. Dohrn-van Rossum 1992, Geschichte der Stunde, S. 114f.).
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torisch kein Zweifel, dass um 1900 der intuitiv einsichtige Begriff des Rhythmischen sich als Lösung für genau dieses Problem der Versprachlichung aufdrängt: Eine Entlastung von der Kompliziertheit der Zeit, die der Rhythmus vermutlich gerade durch seine Raumaffinität ermöglicht, soll der Rhythmus nun auch dort bereitstellen, wo die Kompliziertheit einer vom Raum gänzlich befreiten Zeitvorstellung begrifflich vermittelt werden muss. Dadurch übertragen sich Formulierungsprobleme der komplizierten Zeittheorien auch auf den einfachen Gegenstand der regulären Rhythmusabfolgen. Es besteht ein doppeltes Paradoxon: Erstens muss der Zeitbegriff vom Raumaspekt befreit werden, um auf den Rhythmus übertragen werden zu können, der jedoch in sich als Inbegriff einer verräumlichten Zeit erscheint; zweitens ist es dieses von der Verräumlichung scheinbar befreite Rhythmuskonzept, das ästhetisch für dessen Ausweitung auch auf die Raumkünste mitbestimmend werden kann. Zur Begründung einer von der Chronometrik befreiten Rhythmik erweisen sich dabei zwei ganz differente Anknüpfungen in der allgemeinen Zeittheorie als maßgeblich: Neben der Theorie der reinen Dauer von Bergson kann auch der berühmte Irrealitätsbeweis der Zeit von McTaggart einbezogen werden (nicht nur in der Häufigkeit und Heftigkeit der Widerlegungen ist dieser Entwurf unzweifelhaft das neuzeitliche Äquivalent zu den eleatischen Zeitparadoxien). Auch der Gegensatz unteilbarer Zeitspannen und unendlich teilbarer Zeitstrecken lässt sich mit dem Ausgangsdualismus von McTaggart verbinden. Dieser trifft eine Unterscheidung zwischen einer A-Reihe der Zeit, die durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmt wird, und einer B-Reihe der Zeit, in der Ereignisse früher oder später erfolgen. Diese Differenzierung lässt sich zwanglos in den Dualismus eines subjektiven Rhythmus der A-Reihe und eines objektiven Metrums der B-Reihe übertragen. Die Begriffe der A-Reihe verweisen auf ein wahrnehmendes Subjekt, sodass sich von der Gegenwart aus überhaupt erst die anderen Zeitbestimmungen entfalten (denn eine subjektive Wahrnehmung ist immer nur als Gegenwartswahrnehmung dieses Subjekts möglich, sodass der Zeitpfeil also von der Zukunft über die Gegenwart zur Vergangenheit verläuft).8 Die B-Reihe dagegen kommt zwar ohne ein wahrnehmendes Subjekt aus, doch die Zeitbestimmung verweist nun auf einen »metrischen« Vorgang der Wertdifferenz: Man muss mindestens zwei Gegenstände voraussetzen, die als Vorrang der Zwei vor der Eins die relationalen Aussagen wie »früher« und »später« überhaupt sinnvoll machen, und daher wird in dieser Zeitbestimmung umgekehrt die Gegenwart ausgeschlossen bzw. erst aus dieser Relation erschlossen (wobei der Zeitpfeil nun von dem früheren zum späteren Ereignis verläuft).9 Der Irrealitätsbeweis beruht auf zwei Denkschritten: Erstens muss eine Abhängigkeit der B-Reihe von den Bestimmungen der A-Reihe bewiesen werden, und zweitens 8 9
Vgl. zu dieser Umkehrung der Richtung des Zeitpfeils Hindrichs 2014, Autonomie des Klangs, S. 110f. (wobei die »eigene« Zeit der Musik mit der B-Reihe gleichgesetzt wird). Vgl. aber womöglich bereits als Ungenauigkeit John McTaggart Ellis McTaggart, »Die Irrealität der Zeit« (1908), in: Walter Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 68: »Der Kürze halber werde ich die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weit entfernten Zukunft verlaufen, als »A-Reihe« bezeichnen. Die Reihe der Positionen, die von früher bis später verlaufen, werde ich ›B-Reihe« nennen«.
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muss eine innere Widersprüchlichkeit in dieser ganz von der B-Reihe abgetrennten AReihe bewiesen werden. Für den »lokalen« Kontext der Rhythmustheorien ist relevant, ob die beiden Beweisschritte sich durch die Einführung eines Konzepts ausdehnungsloser Zeitpunkte modifizieren lassen.10 Das Konzept psychologischer Zeitpunkte modifiziert die Differenz zwischen den Zeitebenen der A-Reihe und der B-Reihe, da die »objektiven« Wertbestimmungen auch durch die »subjektive« Wahrnehmung erzeugt werden. Ein Konzept physikalischer Zeitpunkte, mit deren Hilfe sich die Bedingung einer Veränderung der Zeit in der B-Reihe unabhängig von der A-Reihe konstituieren ließe, setzt hingegen voraus, dass Zeitpunkte unabhängig von einer subjektiven Wahrnehmung existieren, sodass also jeder Weltmoment von jedem anderen Weltmoment eindeutig in sich unterschieden ist (was in der Auseinandersetzung mit McTaggart explizit vor allem Bertrand Russell zu beweisen versucht hat).11 Psychologische Zeitpunkte sind ein intuitiv einfaches Konzept, physikalische Zeitpunkte ein überaus voraussetzungsreiches Unterfangen: daher können psychologische Zeitpunkte sich mit der Simplizität des Rhythmischen verbinden, während die Kompliziertheiten der Zeittheorien mithilfe physikalischer Zeitpunkte kaum überzeugend aufgelöst werden. Aus Sicht des Rhythmus könnte man die zwei Beweisschritte demnach vielleicht schon deswegen in Frage stellen, weil der Dependenzbeweis darauf beruht, Zeitpunkte aus der »physikalischen« B-Reihe auszuschließen, während der Widerspruchsbeweis die »psychologische« A-Reihe doch wieder wie eine Abfolge distinkter Zeitmomente zu beschreiben scheint.12 McTaggarts Zeittheorie bleibt eine späte und seltene Referenz innerhalb der Rhythmustheorien, weil nicht die Hypothese einer »irrealen« Zeit, sondern die Gegenhypothese einer »reinen« Zeit, die von allen Raumbedingungen befreit sein muss, auch mithilfe von rhythmischen Erfahrungen begründet werden soll. Es ist diese Zielstellung, durch die das philosophische Denken Bergsons für verschiedene Rhythmustheorien eine privilegierte Funktion erhält: Dessen anspruchsvolle Überlegungen lassen sich auf die eine zentrale Aussage kondensieren, dass die Zeit umso reiner bestimmt ist, je weniger sie räumlich bestimmt ist. Dieser Gedanke lässt sich in das Umfeld des Rhythmischen leicht übertragen: ein metrisierter Rhythmus bleibt stärker verräumlicht als ein »kontinuierlicher« oder »kinetischer« Rhythmus. Die Zeitordnung der realen Dauer, die auf der »Ebene der Beschreibung« eine intuitive Überwindung dualistischer Trennungen abbilden soll, setzt auf der »Ebene der Beschriftung« jedoch das Ausschalten der intuitiven und räumlichen Zeitbegriffe und damit einen gewahrten starken Dualismus voraus.13
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Vgl. Bieri 1972, Zeit und Zeiterfahrung, S. 22. Vgl. McTaggart 1993, »Irrealität der Zeit«, S. 70, der das Konzept der Zeitpunkte durch die Bedingung der subjektiven Wahrnehmung von Veränderung widerlegt: »Und da die B-Reihen permanente Relationen anzeigen, könnte kein Zeitpunkt jemals zu sein aufhören, noch könnte er ein anderer Zeitpunkt werden«. Vgl. dazu erneut Bieri 1972, Zeit und Zeiterfahrung, S. 31. Vgl. zu diesen beiden Argumenten bereits Adorno 1975, Negative Dialektik, S. 20.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
Bergson kennt zwar durchaus auch einen positiven Raumbegriff, der den vitalen Kräften als ursprüngliche Extensivität mit zugehörig ist; der Einbezug einer diskreten Rhythmusordnung in diese Extensivität scheitert allerdings am Argument der Relationsprüfung: »In Bergsonian terms the rhythm of the machine could be united to the temporal rhythm of a given racial group, if the notion of qualitative extensity could be extended to encompass the inanimate.«14 Man kann das Extensive aber nicht nochmals extensiver machen, um die verräumlichte Zeit mit einzubeziehen, da entweder das Extensive von vornherein diesen geweiteten Begriff mit umfasst (da er eine Logik »analoger« Dehnbarkeit verkörpert), oder der ursprüngliche Begriff in dieser Weitung verletzt wird (da er eine Logik »digitaler« Teilbarkeit verhindern soll). Bei Bergson tritt zur Lösung dieses Problems in einigen Passagen ein sozusagen »vorkritischer« Rhythmusbegriff zutage, mit dessen Hilfe genau diese Frage nach der eigenen Relation zwischen dem »analogen« Verbundensein und dem »digitalen« Getrenntsein beantwortet werden soll: »Zwischen den Empfindungsqualitäten, als Elementen unserer Vorstellung, und diesen selben Qualitäten, als berechenbaren Veränderungen, besteht also nur ein Unterschied im Rhythmus der Dauer, ein Unterschied der inneren Spannung.«15 Der Begriff des Extensiven erhält dabei exakt die Interferenz-Bestimmung des Rhythmischen: »Gegeben, wirklich ist eine Art Zwischending zwischen der geteilten Ausdehnung und dem reinen Unausgedehnten; wir haben es das Extensive genannt.«16 Das Problem ist also, dass bereits wieder vorausgesetzt sein muss, was auch zu beweisen wäre: dass der pulsierende Rhythmus sich mit den »kinetischen« Begriffen der Dauer und Spannung ursprünglicher in Beziehung stellen lässt als mit den »digitalen« Gegenbegriffen der Berechnung und des Auseinanderbrechens. Die Rhythmisierung der Welt setzt auch bei Bergson eine Melodisierung des Rhythmus voraus, sobald dessen in sich räumliche Entlastungsfunktion mit dem Ideal einer radikalen temporalen Raumfeindschaft verbunden werden soll. Diese Abkehr vom Räumlichen besitzt in ihrer Vehemenz alle Züge einer Ersatzreligion, für die das Rhythmische eine alternative Erfahrungsgrundlage bereitstellt: »Bergson thus asks us to imagine something which is unimaginable, conceive of an action of that unimaginable image which is inconceivable, and then effect a limitation of our attention to an aspect of that action which is impossible.«17 Das unaufhaltbare elementare Strömen des élan vital strömt in unaufhaltbar elementarer Weise in die Kulturtheorien und überwindet dabei nationalistische Schranken und Sprachbarrieren, die einzig in der deutschsprachigen Polaritätenlehre die Rezeption spürbar eindämmen.18 Man erkennt die Reichweite des Bergsonismus daran, dass der duale Begriffsgegensatz selbst zur Legitimation der Metrik von Strawinsky wie selbstverständlich herangezogen werden kann; dabei enthüllt sich die duale Logik 14 15 16 17 18
Antliff 1993, Inventing Bergson, S. 15. Bergson 1919, Materie und Gedächtnis, S. 248. Vgl. zudem auch Bergson 2013, Schöpferische Evolution, S. 150. Bergson 1919, Materie und Gedächtnis, S. 245. Kern 1983, Culture of Time and Space, S. 25. Vgl. dazu Antliff 1993, Inventing Bergson, S. 104f.
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Die Theorie des Rhythmus
in diesem Konzept, wenn wie bei einem On- und Off-Schalter die »ontologische« Zeit den Vorrang vor der subjektiven »psychologischen« Zeit erhalten soll.19 Dies verweist auch auf ein allgemeines Problem der Medienübersetzung: Für die Zeitkunst der Musik sind bei einer modernistischen Weitung der eigenen Möglichkeiten naturgemäß nicht die von vornherein gegebenen, sondern die neu zu erobernden Parameter am interessantesten. Daher lässt sich im 20. Jahrhundert beständig auch eine Infragestellung und Überwindung der Zeit in den Musikästhetiken nachweisen, wobei zumeist ein stark modifizierter Rhythmusbegriff in eine musikimmanente Raumutopie eingebracht werden soll.20 Die Zeittheorie Bergsons stellt hierfür nicht die geeigneten Mittel bereit, weshalb sich im Umfeld des Serialismus nach dem Zweiten Weltkrieg auch scharfe Abgrenzungen von dessen Konzeptionen finden.21 Insbesondere in der ersten Welle der Rhythmusbegeisterung vor dem Zweiten Weltkrieg begünstigt die Zeittheorie von Bergson hingegen in entscheidender Weise einen Austausch des Räumlichen durch das Rhythmische. Es besteht in den Raumkünsten allerdings die Möglichkeit, den »kinetischen« Zeitbegriff mit den Bedingungen der geometrischen Abstraktion und der diskreten Punktsukzession weiter verbunden zu halten oder sogar in eine neuartige Verwandtschaft zu stellen.
7.2
Bildgrenzen
Rhythmus erweist sich als idealer Relationsterm zwischen optisch-räumlichen und akustisch-zeitlichen Kunstformen; es wird nicht eine distinkte Qualität des einen Mediums in die distinkte Qualität eines anderen Mediums übersetzt, sondern in der gleichen Qualität des Rhythmischen, die in beiden Medientypen vorausgesetzt ist, bleibt der Übersetzungsvorgang selbst vermittelt.22 Der Widerspruch in einer geweiteten Auffassung des Rhythmischen zwischen der Raumkritik und der Übertragung auf die Raumkünste lässt sich dabei erneut in einem Modell auflösen, bei dem eine maximale Verzeitlichung von ursprünglich räumlichen Ausgangsprämissen konstatiert werden kann. Erstens wird in einer räumlich bestimmten Rhythmik selbst eine offenkundige Präsenz von Punktwerten anders als in einer zeitlich bestimmten Rhythmik keine metrische Zeitordnung implizieren.23 Stattdessen kann die Repetition als grundlegender Vorgang bestimmt werden, der sich sowohl zeitlich wie räumlich abbilden lässt. Es wird zweitens jedoch ein Rhythmus der Repetitionen durch die zeitliche
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21 22 23
Vgl. dazu Ute Henseler, Zwischen ›musique pure‹ und religiösem Bekenntnis. Igor Stravinskijs Ästhetik zwischen 1920 und 1939, Hofheim 2007, S. 86. Bernd Alois Zimmermanns Konzept einer »Kugelgestalt der Zeit« ist das berühmte Beispiel, und auch dieses Konzept lässt sich aus den Zeittheorien von Bergson und Husserl mit ableiten. Vgl. dazu Keil 2012, Dissonanz und Harmonie, S. 50f. Vgl. zur Abwehrhaltung gegen Bergson etwa Boehmer 1967, Theorie der offenen Form, S. 100, ebenso Rothärmel 1963, Zeitbegriff, S. 43 sowie erläuternd Grant 2001, Serial music, S. 230. Vgl. dazu auch Jewanski/Düchting 2009, Musik und Bildende Kunst, S. 75. Vgl. Boehm 1987, »Bild und Zeit«, S. 6: »Für die Bildzeit – wenn es sie überhaupt gäbe – könnte das Ideal des Messens nicht gelten; mit Zeitmessern (z.B. der Uhr) wäre ihr nicht beizukommen«.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
Sukzession direkt erzeugt, während er in der gegebenen räumlichen Simultaneität sozusagen erst noch entdeckt werden muss.24 Dabei besteht erneut auch eine Konfliktstellung zwischen einer progressiven ästhetischen Praxis und einer konservativen theoretischen Entfaltung der Raumrhythmik.25 Eine explizite Annäherung an das Musikalische wird in programmatischen Traktaten, aber vor allem in einer enormen Anzahl von Werktiteln herausgestellt, wobei der Rhythmusbegriff mit weiteren musikalischen Schlagworten wie vor allem dem Kontrapunkt, der Polyphonie und der Fuge verbunden wird.26 Die Malerei ermöglicht in gewisser Weise eine von der Musik selbst nicht bewältigte Synthese, weil das »motorische« und das »kinetische« Rhythmusideal im ästhetischen Prinzip des visuellen rhythmischen Kontrapunkts zusammengeführt werden können.27 Eine Wirksamkeit polyphoner oder kontrapunktischer Strukturen kann in der räumlichen Simultaneität einfacher als in einem zeitlich-musikalischen Kontext unterstellt werden.28 Der Begriff des Kontrapunkts verbindet sich dann mit sämtlichen Möglichkeiten eines bildnerischen Kontrasts, für den sowohl die enge Formtechnik der Fuge oder die – in diesem geweiteten Kontext – ähnliche Formtechnik des Rhythmischen einstehen.29 Es erzeugt keinen Widerspruch, wenn in einem als »Fuge« betitelten Gemälde die Abbildung eines Notentexts integriert wird, der in seiner motorischen Konstanz auf die barocke Form des Präludiums verweist, weil diese Einzelkomponente in ihrem Kontrast zu den anderen Bildelementen wieder mit dem Kontrapunktbegriff verbunden werden kann.30 Das fertige Kunstobjekt erscheint zudem als grafisches Äquivalent einer musikalischen Partitur. Klees Gemälde Rhythmisches, strenger freier (1930) ist ein augenfälliges Beispiel dafür, dass die rechteckigen Farbelemente an die übliche Anordnung einer Partiturnotation angepasst werden: Die am stärksten geometrisch reguläre Elementabfolge befindet sich in der untersten Bildzeile (dies ist gleichsam die motorische Begleitbewegung der »linken Klavierhand«), eine irreguläre Reihe aus verschobenen und verformten Einzelelementen befindet sich in der obersten Bildzeile (dies ist sozusagen die melodisch freie Sololinie der »rechten Klavierhand«).31 Die Differenz von progressiver Praxis und konservativer Theorie begründet sich auch daraus, dass in der theoretischen Entfaltung eines räumlichen Rhythmusbegriffs die dafür notwendige minimale Verzeitlichung des Raums aus dem vorliegenden Objekt
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29 30 31
Vgl. auch Peter Vergo, The Music of Painting. Music, Modernism and the Visual Arts from the Romantics to John Cage, London 2010, S. 59. Vgl. auch Dittmann 1984, »Probleme der Bildrhythmik«, S. 193ff. Vgl. zur Konkurrenz dieser beiden Begriffssphären auch Haber 1990, Musik und Bildende Kunst, S. 186. Vgl. etwa Kandinsky 2004, Geistige in der Kunst, S. 59. Vgl. dazu Vergo 2010, The Music of Painting, S. 207 sowie auch das berühmte Diktum von Paul Klee: »Die polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein Räumliches ist. Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor« (zit.n. Toni Stooss, Paul Klee. Melodie, Rhythmus, Tanz, Salzburg 2008, S. 89f.). Vgl. auch Jewanski/Düchting 2009, Musik und Bildende Kunst, S. 301f. Vgl. ein besonders prägnantes Beispiel bei Maur 1985, Klang der Bilder, S. 45. Vgl. zu dieser naheliegenden Deutung schon Dessauer-Reiners 1996, Rhythmische bei Paul Klee, S. 138.
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Die Theorie des Rhythmus
wiederum in ein vorgestelltes Subjekt irgendwie verlagert werden muss: Dieser Vorgang verweist insbesondere auf einen Aspekt der Produktion (zum Beispiel die rhythmischen Pinselstriche) und einen Aspekt der Rezeption (die rhythmische Blickbewegung). Rhythmus wird gegenüber dem »fertigen Bild« immer davor im Produktionsakt oder danach im Rezeptionsakt verortet. Diese beiden Zugriffsmöglichkeiten aber sind grundsätzlich voneinander geschieden: Die Phase der Produktion durch die Pinselstriche umfasst eine »reale« Bewegung mit einem höchstens sehr geringen Anteil einer »ideellen« Bewegung, die Phase der Rezeption durch die Blickbewegung ist eine rein »ideelle« Bewegung mit einem entsprechend geringen Anteil einer »realen« Bewegung. Die Pointe der Raumtheorien in der ersten Welle der Rhythmusforschung liegt darin, dass diese beiden einschränkenden Bedingungen wiederum in ihr gegenteiliges Extrem eingesetzt werden: Man kann die »ideelle« Bewegung der Rezeption in eine »reale« Raumbewegung übersetzen, indem ein Gebäude abgeschritten wird oder ein Objekt taktil abgetastet wird.32 Und man kann die »reale« Bewegung der Produktion in eine »ideelle« Raumstruktur hineinlesen, indem dieser Rhythmus in den spezifisch räumlichen Qualitäten der Symmetrie und Simultankontraste entdeckt wird.33 Diese Möglichkeiten, einen Raumrhythmus von seinem musikalischen Leitmedium abzugrenzen, stehen notwendig komplementär zueinander. Es entsteht eine klare Oppositionsbildung, bei der sich zwei verschiedene Lager bekämpfen. Eine einflussreiche Aufarbeitung dieser Konflikte konzentriert sich auf den Gegensatz der präferierten Sinneswahrnehmung und spricht von einer »haptischen« und einer »optischen« Schule der Kunstwissenschaft.34 Beide Ansätze sind aber darin verbunden, dass einmal im Resultat der optischen Simultantotale (also in der eigenen Rezeptionsphase), und einmal im Realvorgang der taktilen oder haptischen Sukzessionsbewegung (also in der eigenen Produktionsphase) nicht direkt eine rhythmische Qualität des Räumlichen gewährleistet sein wird: Das Vorhandensein rhythmischer Gliederungspunkte muss zurück in das Objekt verlagert werden, muss also eine vorliegende Qualität dessen sein, was »optisch« rezipiert oder
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Vgl. dazu Pascha 2004, Gefrorene Musik, S. 195: »Im Durchschreiten ›abgesteckter‹ Raumvolumina wird architektonische Kunst als rhythmische Kunst erlebbar. Dies setzt den permanenten Ortswechsel des Betrachters voraus. Nicht die Begriffe Symmetrie und Proportion sind nunmehr die bestimmenden Topoi in der Architektur, vielmehr erscheinen nun die quasi musikalisch besetzten Begriffe Reihung und Entwicklung als bestimmende Kriterien ›rhythmischer Baukunst‹«. Vgl. bezogen auf Schmarsows Theorie auch Beatrix Zug, Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 14: »Dieser Idee, den Schaffensprozess als Ausgangspunkt einer Analyse zu nehmen, schließt er sich an. Dies ist methodisch begründungsbedürftig, denn die Kunstgeschichte nimmt gemeinhin den Standpunkt des Rezipienten ein«. Vgl. Georg Vasold, »Optique ou haptique: le rythme dans les études sur l’art au début du 20e siècle«, in: Michael Cowan/Laurent Guido (Hg.), Intermédialites, Heft 16 (2010), S. 42f. Riegl (optisch) und Schmarsow (haptisch) werden den Schulen idealtypisch als Hauptvertreter zugeordnet. Vgl. ergänzend Michael Gubser, »Rhythm in the Thought of Alois Riegl and his Contemporaries«, in: Peter Noever/Artur Rosenauer/Georg Vasold (Hg.), Alois Riegl Revisited. Beiträge zu Werk und Rezeption, Wien 2010, S. 97 (zur rezeptionsästhetischen Ausrichtung in Riegls Rhythmuskonzept).
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
»haptisch« nachproduziert wird (das Gestaltdenken vertritt zum Beispiel sehr entschieden einen reinen Rezeptionsstandpunkt für optische Rhythmusbildungen).35 Der »haptische« Ansatz der real ausgeführten Körperbewegungen verbindet sich logisch mit dem »esoterischen« Modell einer »objektiven Rhythmisiertheit« der Welt; der »optische« Ansatz der ideell ausgeführten Blickbewegungen verbindet sich hingegen eher mit dem »empirischen« Modell der »subjektiven Rhythmisierung«. Diese Gegenüberstellung entspricht einigermaßen genau der Art und Weise, in der diese beiden Theorieschulen schon früh zusammengefasst worden sind: »Die einen wenden sich den objektiven Faktoren, dem Bestande im Kunstwerk selbst zu und greifen zu dem Begriff Rhythmus, ohne dabei die Aktivität des Subjekts, sein lebendiges Mittun im zeitlichen Flusse zu berücksichtigen, so daß die Grenzen des Begriffes anderen, wie z.B. der Symmetrie gegenüber, sich verwischen. Die anderen fassen wiederum ausschließlich das Subjekt mit allen seinen körperlichen Vorgängen während des künstlerischen Genießens ins Auge und finden die alleinige Erklärung des Rhythmuserlebnisses in den körperlichen Vorgängen, wobei nun die objektiven Faktoren, der Reichtum der Gestaltung zu kurz kommt.«36 Die »haptische« Theorieschule mit ihrer Ausrichtung an einer realen Sukzession (im Zitat als zweites genannt) wird ihre Richtungswechsel und Raumdurchschreitungen zumeist wieder an den konservativen Bedingungen einer »analog-binären« Rhythmuslehre ausrichten.37 Die »optische« Theorieschule (im Zitat als erstes genannt) dagegen kann potenziell die binäre Strukturlogik der Raumsymmetrie auch in eine pluralisierte Perspektive überführen. Die »esoterische« Rhythmustheorie wird in der Erforschung der Raumrhythmik dadurch früh und entscheidend ihrer eigenen konservativen Wende zugeführt. Dies begründet sich daraus, dass die »Eroberung des Raums« durch reale Einzelbewegungen einen Rhythmusbegriff verlangt, der – was keineswegs tautologisch ist – den Raumrhythmus auch tatsächlich auf die »Raum-Etymologie« des Rhythmischen zurückführt. Es werden die Eckwerte der Bewegungen isoliert und herausgestellt, weil die Starrheit der plastischen oder architektonischen Rhythmik nach einem Bewegungskonzept verlangt, das vom kinetischen Fließen befreit wird.38 Wichtig für diese Theorieschule ist vor allem Eugen Petersens Rückgriff auf das antike Ideal eines rhythmisch durchschrittenen Raums, was einerseits eine körperliche Realbewegung, aber andererseits die Fixierung dieser Bewegung in einem statischen Rhythmusbegriff voraussetzt.39 In diesem antikisierenden Modell einer zwar quantita35 36 37 38 39
Vgl. u.a. Meumann 1894, Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, S. 15 sowie Ehrenfels 1988, »Gestaltqualitäten«, S. 151. Drost 1919, Lehre vom Rhythmus, S. 17. Vgl. Hans Prinzhorn, »Rhythmus im Tanz«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1927), S. 277. Vgl. als indirekten Beleg die Gegenposition bei Bode 1923, Rhythmus und Körpererziehung, S. 23. Vgl. Petersen 1917, Rhythmus, S. 11 zur zentralen Formel einer »Raum-Etymologie« des Rhythmus, dem die »Bedeutung einer unbewegten Gestalt, die durch Bewegung entstand« zugeschrieben wird (also nicht einer »ideell« fließenden Bewegung, die aus »real« unbelebten Objekten wie Wasserwellen abgeleitet ist). Vgl. zur Fortschreibung dieser Position Werner Hager, »Über den Rhythmus in der Kunst«, in: Studium Generale 2 (1949), S. 153: »Rhythmus ist in der Architektur und in
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Die Theorie des Rhythmus
tiven, also »analog« gefüllten, aber zugleich statischen und schematischen, also »diskontinuierlichen« Rhythmik werden zwei Faktoren zusammengeführt, die sonst in konkurrierenden Auffassungen voneinander getrennt sind (das Modell besitzt eine einzelwissenschaftliche Fortsetzung in der einflussreichen Rhythmustheorie von Georgiades, deren späte Ausläufer sich auf die bildräumliche Rhythmik beschränken).40 Schon bei Alois Riegl findet sich der Gegensatz einer taktilen Nahsicht auf das Kunstobjekt und einer optischen Fernsicht, wobei dieses diachrone Prinzip – von den archaischen Anfängen zu den neuzeitlichen Weitungen der Raumperspektive bis ins Unendliche – gerade für Rhythmus und Symmetrie zu teilweise widersprüchlichen Aussagen führen kann: Die Symmetrie wird als rhythmische Reihungsform der antik-taktilen Kunst zugeordnet, insofern hier die Raumtiefe als Gliederungselement fehlt,41 aber es wird auch die Möglichkeit erkennbar, die Rhythmisierung aus der neuzeitlich-optischen Tiefendimension herzuleiten.42 Die früheste und fundamentale Ausformulierung erhält das »haptische« Gegenideal des räumlichen Rhythmus in den kunstwissenschaftlichen Schriften von August Schmarsow. Das Modell von Schmarsow beruht darauf, die Raumanthropologie aus der Dreidimensionalität der menschlichen Körperwahrnehmung abzuleiten: Die Vertikale als erste Dimension der Proportionen des aufrecht stehenden Menschen und die Horizontale als Dimension der Symmetrie des in sich ruhenden Körpers werden hierbei von der Tiefe als dritter Dimension abgetrennt, die von Schmarsow mit dem Rhythmus in Verbindung gestellt wird.43 Dieser Begriff der Tiefendimension bedingt eine günstige rhetorische Konstellation: Einmal wird der Raumrhythmus von einer realen Schreitbewegung abhängig gemacht (als wirksamste Form einer Verzeitlichung des Raumes), andererseits verweist der Begriff der Tiefe als Idee einer kinetischen Kraftwirkung »hinter« den realen Dingen auf ideelle Bewegungskräfte (und ist also die am wenigsten hervortretende Form einer Verräumlichung der Zeit).44 Es entsteht zudem eine Differenz zum »optischen« Gegenmodell, das den Rhythmus an einer zweidimensionalen Raumstruktur ausrichtet: »Es gibt einen Rhythmus
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den bildenden Künsten als Bewegung der Form, welche im Nachvollzug durch den Erlebenden zur Wirkung kommt«. Vgl. exemplarisch hierzu Rudolf Kuhn, Komposition und Rhythmus. Beiträge zur Neubegründung einer Historischen Kompositionslehre, Berlin 1980, S. 111f. Vgl. insbesondere Alois Riegl, Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn, Wien 1901, S. 18: »Dagegen muss die antike Kunst die Existenz der dritten Dimension – der Tiefe – die wir für die Raumdimension im engeren Sinne anzusehen pflegen, von Anbeginn grundsätzlich verleugnet haben«. Vgl. Ebda., S. 27: »Die Voraussetzung für die Zulassung des Fensters in die Monumentalkunst war somit eine fernsichtige Aufnahme, welche die schattenden Höhlungen in ihrem rhythmischen Wechsel (Symmetrie der Reihung) mit den hellen Wandpartien dazwischen in einer Ebene als zusammenhängende optische Einheit erscheinen ließ«. Vgl. dazu Zug 2006, Anthropologie des Raumes, S. 29: »Die Dimension der Tiefe ist von der Bewegung abhängig. Darauf laufen Schmarsows Überlegungen hinaus«. Vgl. zum Einbezug einer rezeptiven Imagination Schmarsow 1905, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 41: »Die wirkliche Ortsbewegung oder die Illusion einer solchen verwandelt die erste und die zweite Dimension in die dritte. Die Höhe wird uns zur Wachstumsachse, die Breite zur Längenerstreckung eines Weges«.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
aus Elementen nebeneinander und übereinander, aber nicht hintereinander; in letzterem Falle würden die Einzelformen und Teile einander decken und sich damit der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung des Beschauers entziehen.«45 Das »optische« Modell der Rhythmisierung ist davon abhängig, dass der zweidimensionale Raum durch Leserichtungen rhythmisiert wird, die nicht vorgegeben sind, sondern metaphorisch vom Buch- und Notentext auf ein Bild übertragen werden müssen.46 In der Blickbewegung der dritten Dimension ist der Betrachter jedoch nicht mehr »mittig« platziert, sondern am Endpunkt einer Fluchtlinie (da man nicht in derselben Weise gleichzeitig vor- und zurückblicken kann). Diese in sich weniger symmetrische Dimension impliziert demnach nicht mehr eine rezeptive Form der Rhythmisierung durch eine »ideelle« Bewegungstotale, sondern eine aktive Form der Rhythmisierung, die stets nur eine einzige »reale« Bewegungsrichtung aufweisen kann. Die Fixierung einer imaginären zeitlichen Sukzession erfolgt immer in genau einer räumlichen Richtungsachse, die jedoch einmal durch eine »reale« Bewegung und einmal durch eine rein »ideelle« Blickbewegung hergestellt wird. Dies verschärft die Differenzen zwischen den beiden Theorieschulen: In der »haptischen« Rhythmik wird die Logik der körperlichen Nähe auf große Räume übertragen, in der »optischen« Begründung des Raumrhythmus wird die Logik einer mentalen Gesamtbetrachtung in relativ begrenzte Bildräume eingeschrieben.47 Dem entspricht wohl eine Mediendifferenz: Ein Gemälde kann man nur in einer imaginären Bewegung durchschreiten, bildet in seinem Sujet jedoch oftmals reale Bewegungsvorgänge ab, durch ein Bauwerk hingegen kann man in einer realen Bewegung hindurchgehen, aber dieses enthält in sich keinerlei Bewegungsabbilder. Die Kunstwissenschaft spaltet sich in eine Rhythmustheorie der »Bildbewegungen« und eine Rhythmustheorie der »Baubegehungen«.48 In einem Dreieck aus zeitlichen, bildnerischen und architektonischen Rhythmen kann dabei die Bildkunst als das »mittlere Medium« eingesetzt werden, das in eine Interferenz-Bestimmung zu den beiden anderen Ausdrucksformen gestellt wird: »Neben den gleichsam nur strukturmäßig gegebenen, erst vom Beschauer in Vollzug zu setzenden Rhythmus der Architektur, und neben den als Einheit von Struktur und Funktion gegebenen Rhythmus der mimischen Künste tritt also der Rhythmus der bildenden Kunst als ein gewissermaßen zwiegestaltiger.«49
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Drost 1919, Lehre vom Rhythmus, S. 18. Vgl. gleichlautend schon Riegl 1901, Kunst-Industrie, S. 209. Vgl. grundlegend Heinrich Wölfflin, »Über das Rechts und Links im Bilde«, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 5 (1928), S. 213f. Vgl. zudem Hager 1949, »Rhythmus in der Kunst«, S. 154. Vgl. Schmarsow 1905, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 263: »Auch wenn der Meister zur Kontrolle seiner Formbildung zurücktritt, d.h. um mit den Augen die Wirkung des Geformten zu prüfen, bleibt der nahe Standpunkt doch der spezifisch plastische, weil er die Herstellung der realen Körperlichkeit allein ermöglicht und entscheidet«. Vgl. zu dieser Differenz Ingarden 1962, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, S. 311. Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 396. Vgl. Kuhn 1980, Komposition und Rhythmus, S. vii zur Funktion des Rhythmus, zwischen den Paradigmen der Stilgeschichte (gleiche Formen bei differenten Inhalten) und der Sujetgeschichte (gleiche Inhalte in differenten Formen) zu vermitteln.
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Erwin Panofsky hat in seiner ausführlichen Rezension – der das vorherige Zitat entnommen ist – des Buchs von Hans Kauffmann über Albrecht Dürers rhythmische Kunst eine grundlegende Theorie vorgelegt, wie eine Idealisierung der abgebildeten realen Bewegungen zu erfolgen hat: »So bleiben also nur solche Momente übrig, in denen die Auseinandersetzung zwischen Kraft und Widerstand in eine Krisis eingetreten ist, Momente also, in denen entweder eine neue Bewegung gerade anzusetzen oder eine alte gerade zum Stillstand zu kommen scheint.«50 Im Sinne einer »analog-binären« Bewegungslogik kann in der Bildrhythmik also immer nur der Übergangspunkt in eine Phase der notwendigen Rückbewegung abgebildet werden. Diese Eckwertbestimmung führt dazu, dass die bildnerische Darstellung von realen Bewegungen auf jene Momente begrenzt bleiben muss, in denen keine reale Bewegung vorliegt: »Verallgemeinern wir die Schlußfolgerungen, so ergibt sich hieraus für die bildende Kunst das Gesetz, daß jede Bewegung nur in ihrem End-, Ruhe- oder Umkehrpunkte festgehalten werden darf, wenn Rhythmus die Darstellung beherrschen soll.«51 Erneut ist hier die Abhandlung von Eugen Petersen einflussreich, der bereits darauf verwiesen hatte, dass die rezeptive Projektion von Bewegungsvorgängen sich stets an diesen notwendigen Umschlagpunkten orientiert, weshalb »[…] der Künstler jede Bewegung an ihrem Endpunkt im Bilde festhalten dürfe, weil selbst dann, wenn er eine dargestellte Bewegung als noch nicht ans Ende gelangt, sondern noch weitergehend verstanden wissen wollte, der Beschauer ihm nicht glauben, sondern die Bewegung als beendet ansehen würde.«52 Die Theorie der Eckwertbestimmung der Bewegung ist der Versuch, auch das »optische« Rezeptionsmodell von der metrisierten Zeitlogik der »subjektiven Rhythmisierung« abzutrennen und in die polarisierte Raumlogik einer »objektiven Rhythmisiertheit« der Welt zu überführen. Es liegt dem Bildrhythmus nicht mehr eine Sukzession »diskreter« Zähleinheiten zugrunde, sondern eine Simultaneität von Bewegungsphasen, die in einer einzelnen »dichten« Raumstelle konzentriert werden: Die Figurenbindung eines stetigen Handlungsakts setzt sich an die Stelle der Gruppenbildung eines repetierenden Zählakts. Die rhythmischen Eckwerte einer Bewegung spiegeln zudem in sich die Differenz zwischen der »optischen« Betrachtung eines Gemäldes und der »haptischen« Begehung eines Gebäudes:53 Im ersten Fall ist ein Eckwert vorhanden, durch den die »ideelle« Bewegung der Rezeption geleitet werden kann; im zweiten Fall ist eine »reale« Bewegung vorgegeben, aus der diese Eckwerte erst abgeleitet werden müssen (die Momente, an denen die Bewegung stockt oder die Richtung wechselt).54 50 51 52 53 54
Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 398f. Koch 1922, Rhythmus, S. 50. Petersen 1917, Rhythmus, S. 28. Vgl. auch Jan Pieper, »Architektonische Augenblicke«, in: Thomsen/Holländer 1984, Augenblick und Zeitpunkt, S. 165. Vgl. dazu erneut Zug 2006, Anthropologie des Raumes, S. 34.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
In der Symmetrie wird dagegen aus einem vorhandenen Richtungsgegensatz eine Mittelwertbestimmung hergeleitet. Auch eine zweiwertige Form der Symmetrie (aa), wie sie zum Beispiel bei der linken und rechten Körperhälfte vorliegt, kann so auf eine dreiwertige Form der Symmetrie (aba) mit einem implizit ergänzten, »negativ« gesetzten Mittelpunkt zurückbezogen werden.55 Der Umschlagspunkt aus einer Vorausbewegung in eine notwendige Rückbewegung ist hingegen der Mittelpunkt in einer dreigliedrigen symmetrischen Reihe der Form (aba), der von der realen Präsenz der zweigliedrigen Außenglieder der Form (aa) abgetrennt wird.56 Dieser Gegensatz wird bei Panofsky in einen nochmals geweiteten Zusammenhang gestellt: Die Eckwertbestimmung als »Verdichtung des Bewegungsablaufs zu einem dynamisch geladenen Spannungsmoment«57 entspricht wie schon bei Petersen einem Ideal der antiken Raumplastik. Das abgelehnte Gegenmodell einer »Zerlegung des Bewegungsablaufs in mehrere kinematographisch aufeinanderfolgende Einzelphasen«58 hingegen entspricht medienhistorisch eindeutig der rezenten Rhythmisierungsoption der Chronofotografie. Panofsky reagiert hiermit in seiner Rezension indirekt auf Kauffmanns eigenen Vorschlag für eine räumliche Rhythmusabbildung: »Er darf darum aus einem Bewegungsablauf nicht wie die Momentphotographie nur einen Augenblickszustand herausgreifen […], muß vielmehr mehrere, mindestens zwei verarbeiten und diese so miteinander verbinden, daß der eine als die Fortsetzung des andern wirkt.«59 Bei Kauffmann soll also in der Bildrhythmik die sukzessive Reihenbildung der Chronofotografie auch für die simultane Fixierung eines eingefrorenen Einzelmoments übernommen werden. Panofsky reagiert auf diesen wohl tatsächlich problematischen Vorschlag, in eine Einzelfigur mehrere chronofotografische Momente zu integrieren, mit dem genau umgekehrten Vorschlag, nicht »verschiedene Stadien der gleichen Bewegung«, sondern »das gleiche Stadium verschiedener Bewegungen«60 zur rhythmisch-räumlichen Abbildung heranzuziehen. Der Eckwert setzt das Ende der Hinbewegung und den Anfang der notwendigen Rückbewegung als gleiches Stadium verschiedener Bewegungen aber nur dann in eine Beziehung, wenn in den rhythmischen Vorrang des Anfangs eine symmetrische Gleichwertigkeit von Anfang und Ende hineingelesen wird. Die Chronofotografie muss mit so großer Entschiedenheit ausgeschlossen werden, weil diese die realen Bewegungsabläufe umgekehrt in das »optische« Gegenmodell einer konkreten symmetrischen Anordnung überführt (die sich ergibt, wenn eine Bewegung vollständig mit den Phasen vor
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Vgl. die »anthropologische« Körpertheorie der Symmetrie bei Schmarsow 1905, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 59. Vgl. Boehm 1987, »Bild und Zeit«, S. 15 mit dem auch schon bei Petersen verwendeten Beispiel des Uhrpendels: »Im winzigen Augenblick, da das Pendel im Maximum des Ausschlags ›steht‹, macht es, vermöge der aufgespeicherten Kraft, latent seine Bewegung deutlich. Es veranschaulicht Zeit mittels der Relation zu seinem Ruhepunkt (in der Vertikale), den wir imaginieren«. Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 400. Ebda. Hans Kauffmann, Albrecht Dürers rhythmische Kunst, Leipzig 1924, S. 5. Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 405.
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Die Theorie des Rhythmus
und nach dem Umschlagspunkt in vielen Einzelbildern dokumentiert wird). Dies entspricht einem tradierten bildnerischen Verfahren, die sukzessiven Handlungsstadien in Figurengruppen abzubilden bzw. auf mehrere einzelne Figuren aufzuteilen.61 In der Eckwertbestimmung bleibt der Zielwert der Handlung als solcher bestehen, während die stetige und symmetrische Reihe der zerteilten Ablaufmomente dieser Bewegung unnötig wird. Die realen Bewegungen verlieren in einem fixierten Einzelbild ihre rhythmische Qualität und sind einzig im dynamischen bzw. rhythmischen Moment eines Richtungswechsels erkennbar.62 Die Bestimmung dieses Moments als Mittelwert einer symmetrischen Struktur verweist jedoch in den Theorien des Raumrhythmus auf eine gegenläufige Position der rein ideellen Bewegungsfolgen.
7.3
Symmetrie
Es gibt ein einfaches Wort für das Zusammenfallen mehrerer Ereignisse an einem Zeitpunkt: Die Ereignisse verlaufen simultan. Es gibt aber kein entsprechendes Wort für das Zusammenfallen mehrerer Ereignisse an einem Raumpunkt: Man könnte für diesen Fall sagen, dass die Ereignisse »stimultan« verlaufen, sodass also nicht gleichzeitig verschiedene räumliche Ereignisse bestimmt werden, sondern »gleichräumlich« verschiedene zeitliche Ereignisse bestimmt werden sollen. Es besteht hier eine Asymmetrie in der Alltagssprache, die darauf verweist, dass zwar eine verräumlichte Form der Zeit als Messgröße für verschiedenste Erfahrungen intuitiv selbstverständlich ist, aber nicht in derselben Weise eine verzeitlichte Form des Raumes. Gemäß dem Argument der Relationsprüfung impliziert diese Asymmetrie die Frage, inwiefern zwischen dem Rhythmus als zeitlichem Relationsterm und der Symmetrie als räumlicher Relationsform in sich eine »symmetrische« oder eine »asymmetrische« Relation vorliegt (inwiefern also die beiden Konzepte direkt parallelisiert werden können oder auch konträr zueinanderstehen). Eine Parallelsetzung im Sinne einer in sich »symmetrischen« Beziehung ist durchaus verbreitet: »Es erübrigt noch, von dem sogenannten ruhenden Rhythmus zu sprechen. Als solcher erscheint uns die Symmetrie, diese Gliederung des Raumes, wie der bewegte Rhythmus Gliederung der Zeit ist.«63 Der zeitliche Begriff der Sukzession lässt sich problemlos in den Begriff einer auch räumlichen Sukzession übersetzen; der räumliche Begriff der Simultaneität hingegen
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Vgl. zum Verfahren, Handlungsakte zur Basis der bildrhythmischen Sukzession zu machen, Kauffmann 1924, Dürers rhythmische Kunst, S. 24, sowie auch noch Kuhn 1980, Komposition und Rhythmus, S. 48. Vgl. Hans Holländer, »Augenblicksbilder. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei«, in: Thomsen/Holländer 1984, Augenblick und Zeitpunkt, S. 181: »Alle Darstellungen rennender Pferde waren im Sinne der Momentphotographie falsch, entsprachen nicht der wirklichen Bewegungsfigur, weil sie immer mehrere Phasen zugleich darstellten, aber umgekehrt zeigte sich, daß jede einzelne Phase einer Serie von Momentaufnahmen starr wirkte und der notwendige Anschein von Dynamik verschwand«. Billroth 1896, Wer ist musikalisch?, S. 44. Vgl. auch sehr ähnlich Sonnenschein 1925, Rhythm, S. 14f. oder Simmel 1989, Philosophie des Geldes, S. 681.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
lässt sich nicht in den Begriff einer zeitlichen Simultaneität übersetzen, weil dieser Ausdruck in seiner Bedeutung weiterhin mit der Bedeutung einer Messung gleichzeitiger und nicht etwa »gleichräumlicher« Ereignisse zusammenfällt. Man kann also den starken Begriff der zeitlichen Sukzession in einen abgeschwächten Begriff der räumlichen Sukzession überführen, aber nicht den starken Begriff der räumlichen Simultaneität in einen abgeschwächten Begriff der zeitlichen Simultaneität, weil auch dieser Begriff weiterhin in sich räumlich bestimmt ist.64 Eine »asymmetrische« Relation zwischen Rhythmus und Symmetrie würde somit die Differenz in sich abbilden, dass eine Übersetzung zeitlicher Begriffe in einen räumlichen Kontext weitaus einfacher ist als eine Übersetzung räumlicher Begriffe in einen zeitlichen Kontext. Ein Rhythmus lässt sich durch die Annahme einer räumlichen Sukzession ohne stärkere Modifikationen auf die optischen Medien und die Bildkünste übertragen, während die Anwendung eines Begriffs der Symmetrie auf den zeitlichen Ablauf der Musik dessen umfassende Modifikation voraussetzt.65 Diese konzeptuelle Asymmetrie tritt nirgends deutlicher hervor als im Gegensatz zwischen der einfach wahrnehmbaren Umkehrung einer räumlichen Gliederung, die als Spiegelung um eine Mittelachse einen symmetrischen Eindruck erzeugt, und der äußerst schwierig wahrnehmbaren Umkehrung einer zeitlichen Gliederung, die an die »eine Richtung« der Zeitsukzession gebunden bleibt und zudem nur eine Raumdimension in sich abbilden kann.66 Messiaens Terminus der »rythmes non-rétrogradables« wird bei seiner üblichen Übersetzung ins Deutsche als »nicht-umkehrbare Rhythmen« zum Beispiel eindeutig falsch nicht mit der räumlichen Horizontale der Krebsform, sondern mit der räumlichen Vertikale der Umkehrungsformen verbunden.67 In einer »progressiven« Ästhetik der seriellen Zeitumkehrung durch Krebsformen wird daher die räumliche Symmetrie direkt mit der starken Bedingung einer zeitlichen
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Vgl. zu diesem Sachverhalt ergänzend Cassirer 2010, Symbolische Formen: Die Sprache, S. 168: »Die einfachen Ortsadverbia werden unterschiedslos auch im zeitlichen Sinne verwendet, so daß z.B. das Wort für ›hier‹ mit dem für ›jetzt‹, das für ›dort‹ mit dem für früher oder später zusammenfließt«. Vgl. als ein typisches Beispiel Robert P. Morgan, »Symmetrical Form and Common-Practice Tonality«, in: Music Theory Spectrum 20/1 (1998), S. 11: »A temporally symmetric system, then, is one in which an event occurs regularly, separated by a recurring time-interval, and thus remains invariant under displacement by that interval«. Vgl. Kurth 1931, Musikpsychologie, S. 121: »Die Vorstellung der Breitendimension hingegen beruht schon in einer vageren Analogie, indem sich ja in Wirklichkeit Tonlinien nicht seitlich, sondern zeitlich bewegen«. Vgl. dazu Messiaen 1966, Technik meiner musikalischen Sprache, S. 18, wo der Begriff der »nicht-umkehrbaren Rhythmen« im Untertitel als »Rhythmen im Krebs« erläutert wird; vgl. zudem Deleuze 1989, Bewegungs-Bild, S. 73, wo die musiktheoretisch unkundige deutsche Übersetzung hervortreten lässt, dass der Verführung nicht widerstanden werden konnte, den trivialen Vorgang räumlicher Symmetrie mit dem Beispiel der seriellen Musik zu erläutern: »Durch die Erfindung der dreifachen Leinwand erreicht Gance die Simultaneität von drei Ansichten derselben Szene oder von drei verschiedenen Szenen und konstruiert ›nicht-rückführbare‹ Rhythmen, deren zwei Extreme in der Rückführung des einen auf den anderen liegen, mit einem beiden gemeinsamen Wert im Zentrum«.
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Sukzession gleichgesetzt: »Symmetrie im Raum ist Invertierung, Symmetrie in der Zeit ist Wiederholung.«68 In einer »klassizistischen« Ästhetik wird hingegen zum Beispiel die Beantwortung eines Vordersatzes durch einen Nachsatz so verstanden, dass der Eintritt dieser Repetition auch an die starke Bedingung einer flächigen Raumsimultaneität metaphorisch gebunden wird: das »analog-binäre« Paar der beiden musikalischen Phrasen soll als Ganzes einen symmetrisch ausbalancierten Eindruck erzeugen.69 Gemäß dem skizzierten Modell lässt sich die Symmetrie als jene rein räumliche Form einer Rhythmisierung auffassen, bei der das notwendige Vorhandensein einer schwachen Bedingung räumlicher Sukzession weiterhin mit der starken Bedingung räumlicher Simultaneität verknüpft bleiben kann: Symmetrie setzt eine Mehrzahl räumlicher Glieder voraus, in der die Simultantotale gegenüber der Sukzession der Einzelelemente dennoch möglichst dominant verbleibt. Symmetrie kennt daher in der Kugelgestalt einer Achsensymmetrie aller drei Raumdimensionen auch einen eigenen rhythmuslosen »analogen Extremwert«.70 Der Rhythmus wäre hingegen jene zeitliche Ablaufform, bei der die starke Bedingung zeitlicher Sukzession potenziell die schwache Bedingung räumlicher Simultaneität in sich aufnehmen kann. Der Einbezug der Symmetrie bestätigt einige Prämissen einer »metrisierten« Rhythmusästhetik: Eine symmetrische Disposition verweist auf eine abstrahierende Präkonfiguration, wenn bei der Herstellung eines Kupferabdrucks eine horizontale Spiegelung miterzeugt wird, die nicht immer durch eine zweite Spiegelung korrigiert wurde, sodass ein Bild auch in dieser variierten Fassung überzeugen musste.71 Zudem kann auch die bildnerische Symmetrie aufgrund ihrer abgeteilten Einzelglieder als intellektuelles Erbteil des antiken Schriftatomismus aufgefasst werden.72 Dies führt dazu, dass erst die zweite Welle der Rhythmusforschung die Begriffe Rhythmus und Symmetrie stärker voneinander trennt, während in den Experimenten der Gestalttheorie zur »subjektiven Rhythmisierung« eine Nähe der beiden Begriffe vorausgesetzt wird. Die Vermengung räumlicher und zeitlicher Sukzessionen führt dabei auf einen Aspekt zurück, in dem die Asymmetrie zwischen den beiden Ablaufformen sich in ganz einfacher Weise darstellen lässt: Die zeitliche Sukzession erzeugt offene Zeitintervalle, in denen ein rhythmischer Vorrang des Anfangs hervortritt, eine räumliche Sukzession erzeugt hingegen geschlossene Zeitintervalle, in denen ein symmetrischer Vorrang der Mitte hervortreten kann. Als Beispiel kann man darauf verweisen, dass eine Symmetrie sofort weniger stark hervorsticht, wenn bei Palindromen wie »Otto« oder »Anna« die sprachliche Leserichtung auch eine zeitliche Sukzession suggeriert.
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Mahrenholz 2005, »Rhythmus als Oszillation«, S. 158. Vgl. zu diesem weiten Begriff der musikalischen Symmetrie Günther Massenkeil, Untersuchungen zum Problem der Symmetrie in der Instrumentalmusik W. A. Mozarts, Wiesbaden 1962, insbesondere S. 41: »Von hier aus ergibt sich, daß man die Symmetrie nicht als Norm oder Schema auffassen kann, sondern als eine Kraft, die auf den musikalischen Ablauf in verschiedener Stärke wirkt«. Vgl. dazu Dagobert Frey, »Zum Problem der Symmetrie in der bildenden Kunst« (1949), in: Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 257f. Vgl. Ullrich 2009, Raffinierte Kunst, S. 23. Vgl. auch Wölfflin 1928, »Links und Rechts«, S. 222f. Vgl. Kerckhove 1995, Schriftgeburten, S. 59f.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
Rhythmus basiert auf der Abtrennung eines Anfangspunkts von dessen korrespondierendem Endpunkt, sodass als »Symmetrie der Wiederholung« erneut ein Anfangspunkt generiert wird; Symmetrie basiert darauf, dass der Anfangs- und Endpunkt gleichwertige Bestandteile in einer räumlichen Sukzession sind, sodass als »Symmetrie der Invertierung« eine Mittelbestimmung generiert wird, die immer bereits zwei mögliche räumliche Leserichtungen vereinigt (es werden bei einer Wahrnehmung von der Mitte zu den beiden Außenstellen bzw. von den Außenstellen zur Mitte jeweils zwei gegenläufige Leserichtungen aktiviert). In Theorien der Raumrhythmik, die auf empirische Studien zur »subjektiven Rhythmisierung« zurückgreifen, entstehen durch diesen einfachen Gegensatz auf gleich mehreren Ebenen Unklarheiten. Die Raumsymmetrie erzeugt eine Situation, in der bereits eine »rhythmisierende« Reihe etwas stärker in sich rhythmisch erscheint, wohingegen eine »rhythmisierte« Reihe in ihrem Eindruck etwas unrhythmischer verbleibt. Für den zweiten Effekt dürfte der Hauptgrund sein, dass in der räumlichen Simultaneität nicht mehr die rhythmische Abwechslung betonter und unbetonter Gruppenglieder hervortritt, sondern die weiterhin einförmige Repetition der Gesamtgruppen.73 Für den ersten Effekt lässt sich noch eindeutiger eine einzelne auslösende Bedingung angeben. In der optischen Simultaneität wirken die Pausen zwischen den einzelnen Reizen der »rhythmisierenden« Reihe nicht mehr als leere Zeitintervalle, sondern bereits als erster Vorgang einer Abwechslung zwischen zwei verschiedenen Formen von geschlossenen Raumintervallen: »Einfache Schallfolgen und einfache räumliche Eindrucksfolgen sind psychologisch nicht gleichwertig. Bei diesen letzten erscheint das Intervall schon als andersartiges Element, nicht als reines Intervall, als Pause, wie bei jenen. Wenn man bei einfachen Schallfolgen noch nicht von einem Rhythmus reden kann, sondern erst bei der Betonung, Heraushebung einzelner regelmäßig wiederkehrender Schallelemente, so findet in der bildenden Kunst eine Betonung schon innerhalb der einfachen Reihung statt: die Intervalle (Absätze) werden als Elemente empfunden – denn sie sind nie leer herzustellen –, die Elemente ihnen gegenüber als besonders betonte Elemente.«74 Daher kann die Parallelisierung von Rhythmus und Symmetrie den rhetorischen Effekt auslösen, dass der musikalische Rhythmus nun ebenfalls nicht mehr aus dem Wechsel von betonten und unbetonten Klängen abgeleitet wird, sondern aus dem Wechsel von Klang und Stille (es sollen paradox die leeren ereignislosen Zeiten ohne klanglichen Stimulus die räumlich gefüllten Zeitintervalle auch in der Musik simulieren).75 Die leeren Zeitintervalle einer akustischen Reihe treten zudem in ihrer optischen Einförmigkeit
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Vgl. zu dieser Auffassung Werner 1924, Ursprünge der Lyrik, S. 143. Russack 1910, Begriff des Rhythmus, S. 63f. Vgl. schon Lussy 1884, Rythme musical, S. 3: »Le rythme est donc pour la musique ce qu’est la symétrie pour l’architecture; il est la division, la rupture régulière dans la continuité du temps au moyen de silences ou de notes de grande valeur, comme la symétrie est la division régulière de l’espace«.
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stärker negativ hervor, sodass eine raumbezogene Ästhetik deren Maßgeblichkeit für visuelle Rhythmen in Frage stellen wird.76 Diese Konflikte werden in der Theorie der »mehrwertigen Gestaltenverkettung« von Heinz Werner in besonders starker Weise sichtbar, da der übliche Übergang von der »rhythmisierenden« in die »rhythmisierte« Reihenform hier mit der optischen Eigenschaft der geschlossenen statt offenen Raumintervalle begründet wird: »Diese Mitgegebenheit des zweiten Elements durch die Einbettung in das erste ist dadurch bedingt, dass es zwischen die Anfangs- und Endgrenze des selbständigen Elements und seiner Wiederholung eingeschoben ist.«77 Der Begriff der Mehrwertigkeit ist jedoch in sich selbst mehrdeutig: In der akustisch-zeitlichen Reihenform tritt eine »vertikale« Mehrwertigkeit in einer »horizontalen« Sukzession hervor (der Vorrang des Anfangs erzeugt betonte Gruppenglieder). In der optisch-räumlichen Reihenform tritt eine »horizontale« Mehrwertigkeit mithilfe der »vertikalen« Mittelachse der Raumsymmetrie hervor (der Vorrang der Mitte beruht auch darauf, dass die vertikalen Grenzlinien zwischen den einzelnen Figurenelementen in der räumlichen Fläche jeweils beiden Elementen gleichwertig zugehörig sind; darum lassen sich Werners Ergebnisse nicht verallgemeinern). Ein rhythmischer Vorrang des Anfangs vor dem Ende tritt in die räumlichen Ornamente ein, wenn als »unendlicher Rapport«78 die Reiterationen nicht mehr nur um eine Mitte geordnet sind, sondern sich an den Rändern mit unvollständigen Figuren scheinbar weiter fortsetzen. Bei Hans Kauffmann erfolgt eine erneut andere Parallelsetzung von Symmetrie und Rhythmus: »Eurythmie ist gegeben, wo die Komponenten antithetisch auf eine Mitte bezogen sind (z.B. beim Zentralbau). Es findet ein Widerspiel abgewogener Kräfte statt, die Bewegung verläuft nicht nur in einer Richtung, sondern wird vom Gegenüber aufgefangen und zurückgeleitet.«79 Die Symmetrie wird durch diesen rhythmuspädagogischen Begriff der Eurythmie noch stärker mit einer »analog-binären« Hin- und Herbewegung direkt in Beziehung gestellt, während der Gegenbegriff einer rhythmischen Periode bei Kauffmann eine räumliche Sukzession bezeichnet, die sich an der Maßgabe zeitlicher Intervallreihen ausrichtet. Die auf diese Weise scheinbar klar voneinander getrennten Konzepte müssen aber wieder mit Elementen ihres Gegenbegriffs angereichert werden, um analytisch eingesetzt werden zu können: Die räumliche Symmetrie kann ein Verhältnis der Dominanz und der Subordination der einzelnen Teilelemente beinhalten, und die sukzessive rhythmische Periode etwa bei einer einfachen Säulenreihe bleibt in der räumlichen Simultaneität mit der gleichwertigen bzw. dominierende Funktion der Mittelglieder assoziiert: »In einer rhythmischen Periode von drei oder vier Gliedern fällt nun den Mittelfiguren eine Hauptrolle zu. Bestimmen Anfang und Ende der Reihe den Ausgang und
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Vgl. Sander 1926, »Räumliche Rhythmik«, S. 125: »Diese Schallreihen sind in ihrer farblosen Lebensferne gewiss ein dürftiges Material, dem Reichtum und der Tiefe rhythmischer Erlebnisse nahezukommen«. Werner 1920, »Mehrwertige Gestaltenverkettung«, S. 207. Riegl 1893, Stilfragen, S. 316. Kauffmann 1924, Dürers rhythmische Kunst, S. 8.
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den Höhepunkt der rhythmischen Steigerung, so schafft eine Mittelfigur (oder zwei) den Übergang.«80 Die konservative Ausrichtung an der Raumsymmetrie erzeugt so das ungewollte Abbild einer progressiven Musikpraxis: Erst eine »digital-plurale« Erweiterung der Akzentfolgen überträgt auf die »leeren« akustischen Zeitintervalle bestimmte Eigenschaften, die sich in »geschlossenen« Raumintervallen als ganz intuitive Analysemöglichkeiten ergeben. Dazu gehören vor allem die Verlagerung des subordinierenden Akzents auf eine flexible Position in der einzelnen Gruppe (räumlich muss offenkundig die größere Figur nicht immer »links« am Anfang stehen) und der Wechsel zwischen verschiedenen Gruppengrößen (räumlich muss nicht immer dieselbe Anzahl an Figuren zusammenstehen).81 Diese beiden Optionen bestehen in ähnlicher Weise für reale Körperbewegungen im Raum, sodass die Lehrmethode von Dalcroze durch den Zugriff auch auf non-isochrone Taktmuster in ihrer rein musikalischen Logik »erweitert metrisch« erscheint.82 Als sehr einfache Abweichung ergibt sich in der optischen Symmetrie zudem ein Vorrang der um eine Raummitte geordneten Dreierfiguren, während in der akustischen Sukzession ein Vorrang der Zweiergruppierungen üblich ist.83 Die Asymmetrie zwischen Rhythmus und Raumintervallen ist der empirischen Theorie natürlich früh bekannt gewesen, und zwar vor allem dort, wo die simultane Präsenz einer symmetrischen oder einer stetig abgestuften Akzentfolge wieder in eine akustische Sukzession überführt wird; dann erscheinen »[…] die gleichen Intensitäten durch ihre Stellung am Anfang und Ende einer Bewegung von völlig verschiedenem Charakter.«84 Eine direkte Konfrontation einer »progressiven« Rhythmusästhetik mit diesem »konservativen« Element der räumlichen Symmetrie kann man auch für die konkrete begriffliche Unterscheidung zwischen »dividuellen« und »individuellen« Rhythmen bei Paul Klee nachweisen. Der Gegensatz wird auf zwei differenten Wegen beschrieben, wobei im ersten Fall die »individuellen« Rhythmen den höheren Komplexitätsgrad gegenüber den »dividuellen« Rhythmen aufweisen: »Beim Höheren ist immer die Grenze des Übersehbaren erreicht. Die Wahrnehmbarkeit geht nicht über das Höhere hinaus, wohl aber unter das wahrnehmbare Ganze, in seine Teile, in seine dividuellen Rhythmen. Das Niedrige ist also immer das Dividuelle.«85 Das von Klee gegebene Beispiel des Fischkörpers zeigt, dass die Gesamtgestalt in Einzelelemente abgeteilt wird, die weiterhin rhythmisch »individuell« sein können, aber auch als »dividuelle« Rhythmen aufgefasst werden können, wenn eine Vielzahl in sich gleichartiger Elemente vorliegt: »Zum Beispiel der Fisch ist, individuell gesehen,
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Ebda., S. 33 (vgl. dort zum zuvor genannten Punkt S. 62). Vgl. Kuhn 1980, Komposition und Rhythmus, S. 127. Vgl. Émile Jaques-Dalcroze, »Was die rhythmische Gymnastik ihnen gibt und was sie von ihnen fordert«, in: Der Rhythmus, Bd. 1, Jena 1911, S. 38. Vgl. Sander 1926, »Räumliche Rhythmik«, S. 150: »In den dreigliedrigen Gruppen sind dann die einzelnen Glieder nicht gleichwertig, sondern in einer solchen Teilgestalt dominiert entweder das Mittelglied, um das sich als ›unbetonte‹ die beiden anderen symmetrisch lagern, oder zwei dominierende Glieder schließen ein mittleres ein«. Ettlinger 1900, »Ästhetik des Rhythmus«, S. 191. Klee 1964, Bildnerische Denken, S. 264.
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gegliedert in Kopf, Leib, Schwanz und andere Flossen. Dividuell gesehen Schuppen des Leibes, Platten des Kopfes, Struktur der Flossen.«86 Das Individuelle entspricht damit in der Rhythmik des Partiturbilds erneut einem melodisierten Vordergrund (der führenden Oberstimme) und das Dividuelle einem metrisierten Hintergrund: »Die ›individuelle‹ Komponente bezeichnet dagegen eine höhere rhythmisch unabhängige, nicht-wiederholbare, unregelmäßige Kompositionseinheit; sie bleibt wesentlich unteilbar und lässt sich mit einem strukturalen Rhythmus leicht kombinieren.«87 Aus dieser Position kann eine Gleichsetzung »individueller« Rhythmen mit »glatten« Räumen (und einem »Vorrang des Analogen«) und »dividueller« Rhythmen mit metrisch »gekerbten« Räumen abgeleitet werden. Das verbleibende Problem ist aber, dass Klee an anderer Stelle auch symmetrisch einfache Gestalten als unteilbare Rhythmusgebilde verstehen möchte, sodass in diesem zweiten Fall – angelehnt an das Prinzip der Übersummativität – sich die »individuellen« Rhythmen nun gerade durch ihre Einfachheit und Überschaubarkeit von den »dividuellen« Rhythmen abgrenzen lassen.88 Die Bedingung, dass ein Element addiert oder weggenommen werden kann, ohne dass der Gesamteindruck sich dadurch ändert, verleiht den »dividuellen« Rhythmen, die wuchernd und immer weiterlaufend sich einer Gestaltprägnanz verweigern, somit auch ästhetische Qualitäten von »glatten« Räumen. Das Kriterium, dass bei der Wegnahme eines einzelnen Elements die qualitative Höherwertigkeit zerstört wird,89 verbindet sich im Fall der Symmetrie hingegen mit einfachen Raumfiguren, sodass diese »individuellen« Rhythmen mit bestimmten Qualitäten von »gekerbten« Räumen verbunden bleiben. Die Symmetrie konfrontiert insbesondere die »esoterischen« Rhythmustheorien mit einer ungünstigen Situation, da in einer »analogen« Flächenbestimmung die »binäre« Einteilung der symmetrischen Ablaufphasen dennoch auf einer punkt- bzw. zahlhaften Basis beruhen kann.90 Der Versuch, diese binären Hälften in jeder symmetrischen Raumgestalt in »polarisierte« Rhythmuswirkungen umzudeuten, bleibt daher von der wenig überzeugenden Bedingung abhängig, alle Vorgänge einer rein zeitlichen bzw. zyklischen Wiederholung in den Begriff der Symmetrie mit einzurechnen.91 Das Phänomen der Symmetrie entspricht also eher dem »optischen« Modell des Raumrhythmus, weil die Präsenz zweier gegenläufiger Leserichtungen eine simultane und damit rein rezeptive Wahrnehmung nahelegt. Eine Zurückweisung des Zusammenhangs zwischen Symmetrie und Rhythmus findet sich in der »haptischen« Theorie 86 87 88 89
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Ebda. Hajo Düchting, »Rhythmische Strukturen im Werk von Paul Klee«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 316. Vgl. dazu auch Dessauer-Reiners 1996, Rhythmische bei Paul Klee, S. 117: »Dividuell oder individuell wird entschieden durch unübersichtliche Ausdehnung oder übersichtliche Knappheit.« Vgl. Klee 1964, Bildnerische Denken, S. 227: »Alle diese Zahlenreihen haben einen unterorganischen Charakter. Man kann Teile wegnehmen oder hinzufügen ohne ihren rhythmischen Charakter, der auf der Repetition beruht, zu verändern. Der strukturale Charakter ist somit dividuell, d.h. teilbar«. Vgl. Klages 1934, Wesen des Rhythmus, S. 42f., der zwar eine räumliche Rhythmik zulässt, aber die räumliche Symmetrie erneut in eine mechanisch-gleiche und eine organisch-ähnliche Form teilen muss. Vgl. Wolf von Engelhardt, »Symmetrie«, in: Studium Generale 2 (1949), S. 203-212.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
von Schmarsow, in der umgekehrt der Raumrhythmus an die zeitliche Bedingung einer einzelnen Sukzessionsrichtung angepasst wird: »Allein von allen unseren Sinnesorganen führt das Ohr uns nur zeitliche Eindrücke zu oder Systeme von zeitlichen Sinnesempfindungen, so daß die Symmetrie im eigentlichen Sinne sich ihm entzieht; es vermag nur die Sukzession aufzunehmen.«92 Die Symmetrie entspricht in Schmarsows Denken bereits einer zweiten Dimension, da sie als horizontale Raumanordnung der vertikalen Mittelachse des aufrecht stehenden Körpers entspringt (der auf das Gleichgewichtsorgan des Ohres bezogen bleibt); diese Proportionalität dagegen entspricht der ersten Dimension, der Rhythmus einer Bewegung schließlich erzeugt eine dritte Raumdimension.93 Die Gegensätzlichkeit der räumlichen Symmetrie und der zeitlichen Sukzession tritt besonders plastisch hervor, wenn als Vorform einer grafischen Notation das optische Partiturbild in einer möglichst symmetrischen Weise gestaltet wird. Es soll abschließend eine Partiturseite aus Rued Langgaards Sphärenmusik (1918) besprochen werden, wo durch die mehrfache Unterteilung der Streicherstimmen dieser räumliche Gesamteindruck evoziert wird (vgl. Notenbeispiel 7.1). Man erkennt in dem musikalischen Ablauf, dass die Symmetrie als Vorrang der Mitte gegenüber dem Anfang und dem Ende genauestens einem »polaren« Zeitmodell entspricht, bei dem ein Umschlagspunkt der Bewegung von Phasen der Steigerung und Beruhigung gerahmt wird, die als Äquivalente einer notwendigen Voraus- und Zurückbewegung aufgefasst werden können. Es ist interessant, an welchen Stellen diese perfekte Symmetrie zugunsten der akustischen Sukzession auch schon im optischen Notenbild modifiziert werden muss: In der Paukenstimme ist eine erste Verletzung der Symmetrie notwendig, da eine »kinetische« Auflösung hin zu einem Vorrang des Endes auskomponiert wird. Erst eine Dehnung der betonten zweiten Zeithälfte bildet den Akzent des Höhepunkts und des Umschlags der Bewegungsphasen in sich ab. Es wird auf diese Weise der »digital« konnotierte Perkussionsklang in den »analogen Extremwert« eines gedehnten Einzelereignisses überführt (James Tenneys experimentelle Komposition Having never written a note for percussion macht aus diesem Effekt ein eigenes Stück, bei dem die grafische Notation sich auf eine öffnende und eine schließende Dynamikgabel beschränkt).94 Die Partiturseite von Langgaard verweist aber auch auf eine Auflösung der Symmetrie hin zu einem Vorrang des Anfangs, da die Einsatzpunkte der einzelnen Stimmen mit Akzentzeichen versehen werden, die sich nicht mit derselben symmetrischen Logik auf die Endpunkte der Streicherstimmen übertragen lassen (da die offene Intervallstruktur der Zeit dabei nur neuerlich Anfangspunkte erzeugen würde). Es wird dadurch umgekehrt in das »analog« konnotierte Streichertremolo der »digitale Extremwert« einer einförmigen Punktreihe eingebracht.
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Schmarsow 1922, »Lehre vom Rhythmus«, S. 115. Die Annahme einer eindimensionalen Zeitdimension der Sukzession wird auch diskutiert bei Auerbach 1924, Tonkunst und bildende Kunst, S. 12. Vgl. Schmarsow 1905, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 41. Vgl. zu Tenneys Stück ausführlicher Sanio 1998, »Ein anderes Verständnis von Musik«, S. 102f.
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Notenbeispiel 7.1: Langgaard, Sphärenmusik (1918), 14 Takte nach Z.1
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Die Problematik der Rhythmustheorien im 20. Jahrhundert ist mit dieser einzelnen Partiturseite recht gut zusammengefasst: Es besteht ein Konflikt zwischen »digitalpluralen« Modellen der Punktsukzession und »analog-binären« Modellen der Phrasierungseinheiten, die sich dabei beide auf dasselbe grafische Zeichen berufen können, das sowohl die Bedeutung eines Akzentzeichens mit einer Betonung der Anfangsintensität eines Zeitpunkts und die Bedeutung einer Decrescendogabel mit einer Betonung der Längendifferenz einer Zeitspanne besitzt.
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Musikalisierung
Rhythmus ist zugleich der am stärksten zeitliche und der am stärksten räumliche musikalische Parameter: In einem eminenten Sinn zeitlich ist der Rhythmus, weil die Tondauerordnung anders als eine Melodie, eine Akkordfolge oder ein Klangfarbenwechsel mit ihrer Entfaltung in der Zeit definitorisch zusammenfällt: die Zeit ist hier nicht nur dasjenige, an dem etwas gemessen wird, sondern auch dasjenige, das gemessen wird; gemäß der von Norbert Elias entwickelten sozialen Logik der Zeit, die immer zwei Ordnungssysteme voraussetzt, von denen das zweite als zeitliche Messung des ersten aufgefasst wird, scheint der Rhythmus von einer minimalen Verräumlichung und Vorrasterung abhängig zu sein, wenn er in sich beide Ordnungssysteme abbilden soll.95 In einem erweiterten Sinn räumlich ist der Rhythmus hingegen, weil er anders als Melodie und Akkordfolge auch in den simultanen Künsten auftreten kann, sodass die Rede von einem Rhythmus der Bilder oder sogar der Bauwerke nicht sinnwidrig erscheint. Für eine innermusikalische Ästhetik ist daher die Melodisierung des Rhythmus entscheidend: Die einzelne punkthafte Zeitstelle muss in einen »figürlichen« Kontext überführt werden, damit die messende Funktion des Rhythmus überhaupt an der gemessenen Klangwelt teilhaben kann. In der räumlichen Rhythmik hingegen wird die Idee einer Rhythmisierung der Welt entscheidend, da die gemessenen Raumobjekte nicht den Rhythmus, sondern einen Weltbezug voraussetzen. Jegliche Rede von einem räumlichen Rhythmus wird folglich dessen messende Funktion als das zusätzlich hinzutretende Beschreibungselement wahrnehmen. Es müssen nicht mehr die vorhandenen Punktbestimmungen geleugnet werden, sondern es ist umgekehrt möglich, aus den einzelnen abgebildeten Personen und Figuren zusätzliche Punktbestimmungen abzuleiten. Ein individuelles Element kann in der räumlichen Gruppenanordnung als das Äquivalent eines notationalen Ereignispunktes verstanden werden, das auf diese Weise als Teil einer Zählfolge oder als Glied in einer rhythmischen Sukzessionsreihe bestimmt wird.96
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Vgl. dazu Elias 1984, Über die Zeit, S. 11f.: »Das Wort ›Zeit‹, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert«. Vgl. Kuhn 1980, Komposition und Rhythmus, S. viii: »Indem man Kompositionen Gruppe für Gruppe, Figur für Figur folgt und dabei verfolgt, was die je nächste den je vorangegangenen an Gestalt,
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
Man kann diese Differenz versuchsweise verallgemeinern, indem man der Punktreihe in der zeitlichen Umsetzung eine scheinbar paradoxe »vertikale« Richtungsabbildung zuordnet, der räumlichen Umsetzung hingegen eine letztlich pragmatische »vektorielle« Richtungsabbildung. In der Vorgabe einer Zeitrichtung ist es unmöglich, die messende Funktion der rhythmischen Sukzession durch einen Richtungswechsel abzubilden. Es verbleibt einzig die stärkere Betonung oder Nicht-Betonung dieser einen »horizontalen« Dimension durch die »vertikale« Intensivierung eines metrischen Punktakzents, in dem mehrere rhythmische Pulsationsraten zusammenfallen. Die räumliche Rhythmik bietet demgegenüber zwei strategische Vorteile: Insofern die vertikale Raumdimension einen rhythmischen Richtungsvektor von der einen zur nächsten Punktfigur ebenso selbstverständlich wie die horizontale Raumdimension in sich aufnehmen kann, ergibt sich selbst in stark reglementierten Bildkompositionen nicht der Eindruck einer Abzählmetrik. Und weil es individuelle Figuren sind, mit denen diese vektorielle Bestimmung der räumlich-rhythmischen Richtungsstrebungen angezeigt wird, bleibt jede Form einer bildrhythmischen Punktbestimmung mit »analoger« Ausdrucksfülle verbunden. Ein typisches Beispiel für die intuitive Relevanz dieser Differenzen findet sich bei Kandinsky: Dieser ordnet einer rein horizontalen, aber räumlichen Sukzessionsbewegung (der Abfolge einer wiederholten einzelnen Linie) interessanter Weise eine »vertikale« musikalische Eigenschaft zu, nämlich die Variierung des Klangs durch die stärkere oder schwächere Instrumentation.97 Auch Labans Tanznotation bietet ein aussagekräftiges Beispiel: Die horizontale Leserichtung ist durch die räumliche Symmetrie der linken und rechten Körperhälfte besetzt, und daher muss die zeitliche Sukzession der Körpergesten in der vertikalen Richtungsachse notiert werden; dies verweist also darauf, dass die einzelne zeitliche Richtungsdimension natürlich jeder beliebigen räumlichen Dimension eingeschrieben werden kann.98 Diese Auffassung des Raumrhythmus als vektorielles Beziehungsgeflecht individueller Figuren- und Gestaltreihen muss jedoch den Faktor der non-zyklischen Aktualisierung in seiner Bedeutung spürbar reduzieren. Die Messung minimaler Abweichungen wird in einem »analogen« Ausgangsmedium nicht mehr qualitativ bedeutsame, sondern lediglich quantitativ beliebige Differenzen ermitteln: Es gibt keine »digitale« Norm exakt gleicher Bestimmungen, an der auch mikroskopische Differenzen relevant hervortreten können, sondern es gibt a priori eine Vorgabe der maximalen Detailsättigung. Die »subjektive Rhythmisierung« beruht bei einem bildkünstlerischen Werk nicht mehr darauf, dass eine »rhythmisierte« Reihe in eine Abfolge gleichartiger Elemente hineingedacht wird, sondern darauf, dass eine »rhythmisierende« Reihe in eine Abfolge ungefähr gleicher Elemente hineingedacht wird. Daher muss eine Ästhetik der non-
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Figur und Sinn hinzugibt oder entgegenstellt, ergibt sich und baut sich schrittweise der Sinn eines Bildes auf«. Vgl. Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 92. Vgl. Rudolf von Laban, Kinetografie. Labannotation. Einführung in die Grundbegriffe der Bewegungs- und Tanzschrift, hg. und bearbeitet von Claude Perrottet, Wilhelmshaven 1995, S. 29.
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zyklischen Aktualisierung nun direkt auf der stärkeren Forderung nach einer erkennbaren Synkopierung und Durchbrechung dieser Repetitionsfolgen beharren.99 Der Hinweis auf die Relevanz kleinster Details hingegen droht tautologisch zu werden, da diese Vorgabe kein spezifisches Merkmal der räumlichen Rhythmik, sondern eine allgemeine Vorgabe der räumlichen Materialdichte darstellt. Dies gilt in verstärktem Maße für den Sonderfall der Symmetrie: Alle Abweichungen werden hier eher den Status des Misslungenen erhalten, da die non-zyklische Aktualisierung einerseits in der »optischen« Rezeptionsphase wiederum für beide Richtungsvektoren gelten muss (sodass wie bei einem gebastelten Weihnachtsstern dieselbe Abweichung am linken Rand eines Elements links von der Mitte und am rechten Rand eines Elements rechts von der Mitte auftritt), während andererseits die »haptische« Produktionsphase auch die symmetrischen Elemente in eine sukzessive Reihenfolge überführen muss (sodass der linke Rand eines Elements links von der Mitte und der linke Rand eines Elements rechts von der Mitte in der Leserichtung zusammenfallen).100 Die non-zyklische Aktualisierung ist räumlich also die geistig-imaginäre Struktur: Es geht nicht um die Umwandlung einer psychologischen Gleichheit in eine phänomenale Ähnlichkeit, sondern um die Projektion dieses Umwandlungsvorgangs in vorhandene Unterschiedlichkeiten. Die Punktbestimmung der einzelnen Person macht es zum Beispiel möglich, dass auch ganz unähnliche Figuren, wenn sie durch einen rhythmischen Richtungsvektor in ein entsprechendes Raumverhältnis zu einer Mittelfigur gestellt werden, dennoch den Eindruck der Symmetrie hervorrufen können.101 Zusammengefasst kann die non-zyklische Aktualisierung in einem »analogen« Bildmedium nicht bereits durch die empirische Bedingung einer nicht-vorhandenen Intentionalität, sondern einzig durch die Bedingung der ästhetischen Unterstellung einer vorhandenen Intentionalität hervorgerufen werden. Dieser Nachweis ist aber von einer starken Reduktion in der Darstellung abhängig, weshalb die minimalen rhythmischen Abweichungen letztlich erst dort relevant werden, wo keine Figuren, sondern einfache geometrische Formen oder monochrome Farbflächen als Bildobjekte umgesetzt werden.102 Das musikalische Äquivalent dieses Effekts ist zudem weniger das rhythmische Mikrotiming, sondern das melodisch-kontrapunktische Prinzip der Heterophonie, bei dem eine identische Tonfolge simultan in verschiedenen Stimmen mit kleineren Abweichungen ausgeführt wird. Insofern auf diese Weise in der Musik nicht mehr »metrisch-vertikale«, sondern »melodisch-vektorielle« Differenzierungen erzeugt werden, stellt sich dabei umgekehrt die Frage, ob diese noch einer »oszillatorischen« Mikroebene entspringen, oder nicht bereits eine »ordnende« Makroebene voraussetzen (also kontrollierte satztechnische Entscheidungen); gemessen am Prinzip der non-zyklischen Aktualisierung würde damit schon wieder eine zu starke Präsenz von rationalen Gestaltungsmitteln zu konstatieren sein.103 Vgl. zu diesem Aspekt zum Beispiel Klee 1964, Bildnerische Denken, S. 302. Vgl. Panofsky 1998, »Dürers rhythmische Kunst«, S. 394. Vgl. Frey 1976, »Problem der Symmetrie«, S. 252. Vgl. auch Maur 1985, Klang der Bilder, S. 13: »Denn das zeitliche Nacheinander wird auf der Fläche nahezu zwingend durch ein additives Nebeneinander übertragen und nachvollziehbar«. 103 Vgl. Campbell 2013, Music after Deleuze, S. 21f. zur Relevanz der Heterophonie bei der »Übersetzung« von Klees bildnerischer Rhythmik in die musikalische Ästhetik von Boulez.
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Auch in der Applikation der non-zyklischen Aktualisierung kommt also mit einer gewissen Notwendigkeit die Wesensdifferenz zwischen »dichten« und »diskreten« Medien zum Vorschein. Für die Rhythmisierung und Musikalisierung verschiedenartiger Kunstformen sind dabei zwei widerstreitende, aber in dieser Konstellation einflussreiche Ausgangshypothesen relevant: »Phylogenetisch« (makrozeitlich) führt die Medienentwicklung vom »Analogen« zum »Digitalen«. Die frühesten Kulturtechniken erscheinen noch der ganzen Fülle des Daseins verpflichtet, die spätesten ermöglichen eine vollständig digitale Speicherung dieses Daseins als Datenmaterial.104 »Ontogenetisch« (mikrozeitlich) beruht die Medienbenutzung hingegen auf einem zeitlogischen Ablauf, bei dem die »hinterste« Abtastschicht der jeweiligen Speichertechniken am stärksten digitalisiert sein wird, während die sichtbare Benutzeroberfläche ein möglichst genaues Abbild der akustischen oder visuellen Realität abliefern soll. Der Maßstab für die Fortschrittlichkeit digitaler Techniken liegt gerade darin, dass deren spezifische Merkmale wie Pixel oder Ruckeln nicht mehr hervortreten. Diese Differenz führt dazu, dass die Akustik und damit die Musik insbesondere bei Kittler die »phylogenetische« Anfangsbedingung einer »analogen« Datenunmittelbarkeit auch noch in die »digitale« Gegenwart überführen sollen, während die Optik und insbesondere das Kinobild für die »ontogenetische« Anfangsbedingung eines Eingriffs in diese Datenunmittelbarkeit einstehen: »Die Tatsache, daß Schnitte bei der optischen Datenverarbeitung am Anfang, bei der akustischen erst am Ende standen, kann dann einen der fundamentalen Unterschiede unserer Merkwelt abgeben. Sie hat die Trennung von Imaginärem und Realem inauguriert.«105 Wird für die Musik ein »Vorrang des Analogen« postuliert, muss also immer diese spezifische Kombination der beiden Bedingungen selektiert werden; es wird damit unterdrückt, dass in der europäischen Musikgeschichte durch die Verschriftlichung auch bestimmte Eigenschaften einer diskreten Zeichenlogik besonders früh installiert worden sind, ebenso wie kein Zweifel daran bestehen kann, dass eine eigene Ästhetik digitaler Schnitte und Sequenzen sich gerade akustisch in der gegenwärtigen Kulminationsphase dieser Tendenzen wirkungsvoll umsetzen lässt. Diese Differenzen nehmen zudem in ganz konkreter Weise Einfluss auf die intermediale Ästhetik der einzelnen Kunstformen: Für die Malerei besteht in der Gegenwart ein Innovationsdruck, in der »phylogenetisch« auch diese Kunstform aufgrund der Konkurrenz zu Videoinstallationen und anderen Medienkünsten nachweisen soll, dass sie digitalisiert werden kann. Hierfür muss »ontogenetisch« die allererste Ablaufschicht argumentativ herangezogen werden: Die Malerei erscheint digitalisierbar einzig im Produktionsakt der einzelnen Pinselstriche.106 Wenn die Malerei ästhetische Eigenschaften der Musik in sich aufnehmen soll, dann muss auch das »analoge« Bild an das »diskrete« Partiturbild angepasst werden. Dabei wird insbesondere das Mosaik als parallele Erscheinungsform zur musikalischen
104 Eben diese Bedingung gilt auch dort noch, wo eine Theorie den Gegensatz des Analogen und Digitalen explizit zurückweist. Vgl. Kristeva 1978, Revolution der poetischen Sprache, S. 75f. 105 Kittler 1986, Grammophon. Film. Typewriter, S. 180. 106 Vgl. Walter Seitter, »Malerei war schon immer digital«, in: Annelie Lütgens (Hg.), Painting Pictures. Malerei und Medien im digitalen Zeitalter, Bielefeld 2003, S. 31.
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Rhythmik aufgefasst. Auch dies ist nur auf einer frühen Produktionsebene eine relevante Medieneigenschaft, denn natürlich kann jedes Bild nachträglich wieder in Puzzleteile zerschnitten werden.107 Aus der Sicht einer empirischen Rhythmustheorie gilt somit für die Musik, dass die rhythmische Diskretheit exakt umgekehrt zur Malerei, wo eine Digitalisierung sich nur in der frühesten Schicht der Datenerzeugung umsetzen lässt, auch noch in der finalen Schicht der Datenverarbeitung relevant verbleibt.108 Die »kritische« Theorieauffassung in der zweiten Welle der Rhythmusforschung fordert daher in letzter Konsequenz für den musikalischen Rhythmus eine Anpassung an die Medienqualitäten der Malerei. Der Fokus muss weg vom kompositorischen Produktionsakt und vom Partiturbild auf die allerletzte Rezeptionsphase der sinnlichen Wahrnehmung verlagert werden, in der eine »analoge« Datenfülle für die räumlichen wie die zeitlichen Medien relevant verbleibt.109 Insbesondere die Rhythmustheorie von Hasty bekennt sich ausdrücklich zu diesem Idealbild: »Wenn die Malerei durch die Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Ereignisse charakterisiert werden kann, können Musik und Dichtung vielleicht nach Möglichkeiten suchen, ihre eigene Ereignishaftigkeit zu beschleunigen bzw., um Walter Paters Satz umzukehren, den Möglichkeiten der Malerei nachzustreben.«110 Die Zeitlichkeit der Raumkünste bleibt von den Zeitkünsten jedoch dadurch geschieden, dass ein Rezipient, der für einige Momente seine Aufmerksamkeit von dem Kunstobjekt weglenkt und dann zu dessen Betrachtung zurückkehrt, in einem bestimmten Sinn »nichts verpasst« hat, der für eine musikalische Aufführung nicht gilt. Der räumliche Rhythmus ist also stärker »öffentlich«, denn er verlangt ein gegenständliches Gegenüber, und er ist stärker »privat«, denn die konkrete Abfolge der Rhythmisierungen beim Betrachten eines Bildes bleibt freigestellt. Gerade die geteilten Grundbegriffe wie Punkt und Linie, Produktion und Rezeption oder auch Sukzession und Simultaneität können nicht einfach gleichgesetzt werden, da die Musikalisierung der Malerei eine ganz andere Ausrichtung der ästhetischen Positivund Negativwerte in diesen Begriffen verlangt als das Gegenprinzip einer Melodisierung des musikalischen Rhythmus. Historisch aber besteht kein Zweifel daran, dass der Vorgang der intermedialen wechselseitigen Befruchtung der Künste eben durch diese Gleichsetzungen befeuert worden ist: »Ebenso wie der Punkt wird die Linie außer der
107 Vgl. Auerbach 1924, Tonkunst und bildende Kunst, S. 20: »Die Parallele zur Tonkunst ist nicht die eigentliche Malerei, sondern das Mosaik (gleichviel ob aus Steinen oder Glasfeldern zusammengesetzt); Mosaik ist räumliche Musik, Musik ist zeitliches Mosaik«. 108 Vgl. Shove/Repp 1995, »Musical motion and performance«, S. 65: »One reason for this scepticism may be that visual (spatial) motion information is generally continuous in time, whereas auditory (rhythmic) motion information, especially that in music, is often carried by discrete events (i.e. time onsets) which only sample the time course of the underlying movement«. 109 Vgl. als Beispiel hierfür Christian Grüny, »Bildrhythmen«, in: Rheinsprung 11/5 (2013), S. 152: »Verantwortlich ist dafür eine Fixierung auf die Partitur, die eine im Prinzip zeitlose Überschaubarkeit suggeriert – also eben das, was hier in Bezug auf Bildlichkeit zurückgewiesen werden soll«. 110 Hasty 2014, »Rhythmusexperimente«, S. 203. Vgl. dort auch S. 201 zum Vorrang der letzten Phase der Rezeption vor der initialen Phase der Produktion für dieses intermediale Rhythmuskonzept.
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Malerei auch in anderen Künsten verwendet. Ihr Wesen findet eine mehr oder weniger genaue Übersetzung in die Mittel anderer Künste.«111 Ein erster grundlegender Unterschied liegt aber schon darin, dass der Rhythmus in den anderen Künsten das neu hinzutretende oder entscheidend in seiner Bedeutung verstärkte Element ist, das dadurch eine modernistische Ästhetik der Innovation grundieren kann, während es in der Musik ein bereits vorhandenes Element ist, dessen weitere Verstärkung eher die Herrschaft des motorisch stimulierenden Metrums verabsolutiert. Ein Postulat der Rhythmisierung kann also in der Sprache und den Bildmedien eine Ästhetik der Abstraktion und Avantgarde unterstützen, während Rhythmus aus Sicht einer modernistischen Musikgeschichtsschreibung oftmals sogar dasjenige Element ist, das sich einer innermedialen Innovation am stärksten widersetzt. Die Rhythmisierung als Teilbestand eines nach-romantischen Kunstideals in den Raumkünsten bewirkt zudem ein Fortleben romantisch konnotierter Gestaltungstendenzen. Die erwünschte Musikalisierung vollzieht sich als Bekämpfung der sprachlichen Repräsentationsfunktion oder der räumlichen Figurendisposition und somit durch eine Abstraktionsleistung, die für die Musik von vornherein gesetzt ist (bzw. die Emanzipation der Instrumentalmusik trägt bereits im 19. Jahrhundert einen Kampf aus, den Malerei und Literatur erst im 20. Jahrhundert austragen): »Another reason that music was not compelled to radicalize its representational means relative to the other arts was the privileged position that music itself held among the arts. Music was valued as a model for modernist ambitions toward self-containment, self-reflexivity, and unmediated communication. Its abstracted character was thought to have already achieved what the other arts were attempting.«112 Musik als die »romantischste aller Künste« wird also durch einen Vorgang der Rhythmisierung dahingehend in ihrem Kunstwert bedroht, dass nicht die »digitale« Sukzession in ein »analoges« Ausgangsmedium hinzutritt, sondern der eigene Mediencharakter verdoppelt würde. Dabei spielt sicherlich auch der Konflikt zwischen einer kommerziell erfolgreichen Rhythmisierung der räumlichen Künste und einer kommerziell eher abgelehnten Entrhythmisierung der Neuen Musik eine Rolle. Der Versuch einer Gleichsetzung von emanzipatorischen Tendenzen in Musik und Malerei ist weniger in der Idee problematisch, dass die Verzeitlichung der Raumkünste und die Verräumlichung der Zeitkünste sich parallelisieren lassen, sondern in der Annahme, dass diese Asymmetrien der sozialen Akzeptanz ausgeklammert werden können: »Den neuen künstlerischen Ausdrucksformen, die im 20. Jahrhundert entstanden, die die Zeit in Bildern fixierten und musikalische Formdispositionen hervorbrachten, die nicht mehr nach vorwärts drängten, sondern kreisend variierten oder addierten, diesen neuen Ausdrucksformen entsprach ein Lebensgefühl, das auf sehr raschen Veränderungen und nie zuvor gekannter Geschwindigkeit fußte.«113
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Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 107. Kahn 1999, Noise, Water, Meat, S. 105. Vgl. auch Neubauer 1986, Emancipation of Music, S. 2. Haber 1990, Musik und Bildende Kunst, S. 36.
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Dieses Zitat dokumentiert eher die Grenzen, an denen sich verschiedenartige Tendenzen eben nicht mehr gleichsetzen lassen: Im Blick auf die Verräumlichung der Musik wird wohl einseitig mit der harmonischen Disposition argumentiert, sodass die lineare, in diesem Sinne vorwärtsdrängende Bewegung der tonalen Kadenzen ähnlich aufgelöst wird wie in den anderen Künsten die Linearität der Handlungsstränge und Figurenreihen. Für den Rhythmus gilt hingegen, dass Addition und kreisförmiges Beharren auf der Anfangsprägung nicht allein »modernistische«, sondern auch »motorische« Ablaufformen implizieren. Darauf verweist der eklatante Widerspruch, dass das soziale Lebensgefühl einer Epoche, die in nie zuvor gekannter Weise vorwärtsdrängt, einzig durch musikalische Formdispositionen adäquat repräsentiert werden soll, die nicht mehr vorwärtsdrängen. Die Verräumlichung der Zeit, die für den Rhythmus eine traditionelle Ausgangsbedingung darstellt, kann nicht einfach als Parallele zur innovativen Verzeitlichung der Raumkünste angeführt werden. Dies führt dazu, dass die Neue Musik sozusagen eine bessere ästhetische Auswärts- als Heimbilanz aufweist. Die zeitlichen Techniken der seriellen Musik müssen räumlich wie ein Werk der Malerei betrachtet werden, um ästhetisch sinnvoll verabsolutiert werden zu können: »Die multipolare Welt einer seriellen Komposition – in der der Hörer, unabhängig von einem absoluten Zentrum, sein eigenes Beziehungssystem errichtet, das er aus einem klingenden Kontinuum herausholt, in dem es keine bevorzugten Punkte gibt, sondern in dem alle Perspektiven gleichermaßen gültig und möglichkeitsträchtig sind – ist sehr verwandt mit Einsteins raumzeitlichen Universum.«114 Dies verweist darauf, dass der räumliche Simultaneindruck sich wohl doch von der zeitlichen Dauer in anderer Weise dispensieren kann als die zeitliche Sukzession von einer quasi-räumlichen Gliederung: »Nur wenige Menschen verbringen eine halbe Stunde damit, sich aufmerksam ein abstraktes Kunstwerk anzuschauen, doch genau diese Konzentration wird ihnen bei abstrakter Musik abverlangt.«115 Dieser Simultaneindruck ist der Kern eines tradierten Arguments zugunsten eines Vorrangs der Malerei gegenüber der Zeitkunst der Musik, das bereits in der Renaissance vertreten worden ist: Der simultane Blick erlaubt die Einsichtnahme in sämtliche abgebildete Hierarchien und Handlungsmotivationen und verleiht dem Bild daher nicht nur eine höhere Verständigkeit, sondern auch eine höhere Vollständigkeit.116 Es sollen die Ablaufbedingungen des visuellen Kontrapunkts zur virtuellen Maßgabe für die Musikalisierung sämtlicher Kunstformen erhoben werden: »Der ›Simultankontrast‹ bildete einen Grundbegriff einer Ästhetik, die – auf Bergsons ›Elan vital‹ zurückgehend – Bewegung, Raum und Rhythmus zum Ausgangspunkt der Inszenierung des modernen Lebens nahm.«117 Das »Opfer« bei der Rhythmisierung der Welt wird damit jedoch der musikalische Rhythmus, dessen eigenständige Weitungen in der Theorie und Ästhetik des 20. Jahrhunderts ein merkwürdiges Schattendasein führen. Dies hängt natürlich erneut damit 114 115 116 117
Eco 1973, Das offene Kunstwerk, S. 53. Peter Garland, Six American Composers. Partch, Cage, Harrison, Nancarrow, Tenney, Bowles, Berlin 1997, S. 46. Vgl. dazu Vergo 2010, The Music of Painting, S. 159 sowie Kandinsky 2004, Geistige in der Kunst, S. 59. Baxmann 2000, Mythos: Gemeinschaft, S. 135.
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zusammen, dass die räumliche Rhythmisierung genau das als neuartiges Element einer musikalisierten Rhythmik in andere Kunstformen einbringt, was in der musikalischen Rhythmik kein neuartiges Element ist: »Manchmal scheinen sich die Künste reziprok zueinander zu verhalten: Nach 1900 versuchten viele so genannt ›atonale‹ Komponisten die periodischen Rhythmen aufzubrechen und eine freie Rhythmik ohne Wiederholungsstrukturen zu entwickeln. In der gleichen Zeit drängten viele Kunstschaffende die Gegenständlichkeit zurück und führten Periodisierungen und rhythmische Wiederholungen in ihre Bilder ein, die strukturell an die Rhythmisierung der tonalen Musik erinnern.«118 Unzweifelhaft gibt es jedoch auch Periodisierungen und Wiederholungen, die einen »atonalen« Geräuschkontext und eine polyrhythmische Komplexitätssteigerung voraussetzen. Gerade diese Entwürfe und Kompositionen bleiben in extremer Weise in der Peripherie der Musikgeschichte hängen: Es ist beinahe eine Ironie, wie viel hier auch verloren gegangen scheint, wie dünn im 20. Jahrhundert die Quellenlage sich darstellt, weil die neuen Instrumente und die Rhythmusideen einer ganzen Reihe einzelner isolierter Mavericks von Henry Cowell bis zu Conlon Nancarrow sich in einen Mainstream der ästhetischen Moderne ersichtlich nur schwer integrieren lassen.119 Die Sirenenklänge sind das Symbol für diesen Statusverlust einer Zeitästhetik, in der die beiden Bedeutungsnuancen des Seriellen als Parametertrennung und als Rhythmusrepetition nicht endgültig auseinandertreten, sondern enger miteinander verbunden werden: »Das Anschauungsbeispiel für die Identität von Rhythmus und Klang ist die Sirene. Cowell versucht mehr als nur eine theoretische Basis für neue rhythmische Strukturen zu geben, denn das mit Leon Theremin zusammen konstruierte Rhythmicon (1931) ist ein praktischer Versuch, ein neues Instrument für die gleichzeitige Realisierung von zeitlichen und klanglichen Ereignissen zu schaffen, Cowell schrieb dafür die Komposition Rhythmicana (1931).«120 Der Ersatz der Denotationen durch Detonationen in der Maschinenbegeisterung des Futurismus erzeugt das Rezeptionsproblem, dass dabei in der künstlerischen Praxis die Melodisierung des Rhythmus entschieden bekämpft wird, aber in der theoretischen Legitimation weiterhin die »kinetischen« Theorieideale und insbesondere die Zeittheorie von Bergson maßgeblich bleiben. Der Begriff der realen Dauer muss zudem als unbedingter »Vorrang des Analogen« logisch gegen das Kinobild gerichtet sein, aber psychologisch bleibt in einem »Vorrang der Analogiebildung« doch wieder das Kinobild
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Roman Brotbeck, »Vom Uhrschlag zum Urschlag – Musikalischer Rhythmus zwischen Belebung und Tod«, in: Madeleine Schuppli (Hg.), Rhythm in it. Vom Rhythmus in der Gegenwartskunst, Luzern 2013, S. 34. 119 Vgl. auch Kahn 1999, Noise, Water, Meat, S. 56f. 120 Haber 1990, Musik und Bildende Kunst, S. 179.
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die zentrale Metapher, die den Bewegungsablauf in Medientheorien versinnbildlichen soll.121 Der »futuristische« Rhythmus bleibt daher auf das reine Faktenwissen einer Aufzählung kurioser Namen für neuartige Gerätschaften reduziert, wofür sich natürlich einige recht einfache Gründe angeben lassen: Die zu starke Anbindung an eine besonders rasch alternde Mediengeschichte, die Vereinnahmung durch die faschistische Ästhetik des Marschtritts, aber sicherlich auch eine zunehmende Konkurrenz zu »populären« Rhythmuskulturen.122 Dieser letzte Faktor könnte erklären, warum die Vernachlässigung des Rhythmischen nicht nur die »modernistische Rhythmik«, sondern in ebenso eklatanter Weise auch das Repertoire einer »mittleren Musik« betrifft. Die Kompositionen bleiben nun in genau umgekehrter Weise nicht in den Enzyklopädien der Musikgeschichte und Medientheorien als Anekdotenwissen über eine vergessene Avantgarde gespeichert, sondern als leicht verfügbares Konvolut von Aufnahmen, das jedoch für die Musikgeschichtsschreibung keinerlei Rolle spielt. Ein möglicher Grund für diesen Missstand könnte ein Missverhältnis zwischen der Komplexität des partiturgebundenen Kompositionsakts und des performativen Aufführungsvorgangs sein: Die Komposition eines einfachen Taktmetrums und eines komplexen Rhythmus ist als Notation einer Relation zwischen verschiedenen Zahlenwerten in beiden Fällen ziemlich einfach; die Differenz fällt zudem mit der Vorprogrammierung der Rhythmen am Computer endgültig in sich zusammen. Die Komposition einer komplexen Akkordfolge oder eines anspruchsvollen kontrapunktischen Satzes ist hingegen tatsächlich auch in sich komplexer. Daher ist der musikalische Rhythmus kein Ausbildungsfach in der Musiktheorie, weil keine eindeutigen Fehler korrigiert werden können und eine Herausforderung, Septolen gegen Quintolen zu setzen, faktisch erst dann besteht, wenn die notierte Musik performativ umgesetzt werden soll. Auf dieser Ebene kehrt sich die Differenz der Parameter um, denn ein komplexer Rhythmus kann die Grenzen der menschlichen Ausführbarkeit überschreiten und eine maschinelle Reproduktion einfordern, während eine komplexe Harmoniestruktur nicht zwingend auch schwerer zu spielen sein muss.
7.5
Analyse
Der Rhythmus gehorcht auch in einem akademischen Kontext der Rhythmuserforschung seinem spezifischen Ablaufmodell: Eine interdisziplinäre Ausrichtung setzt zumindest einen minimalen Restbezug auf musikbezogene Kategorien weiter voraus, während eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung eine maximale Weitung der eigenen Fachperspektive voraussetzen sollte. Rhythmusforschung bewegt sich 121
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Vgl. Rabinbach 1990, Human Motor, S. 110ff. sowie maximal verknappt Hörisch 2001, Sinn und die Sinne, S. 287: »Der Film ist, auch wenn der kinofeindliche Philosoph Henri Bergson das nicht gerne zur Kenntnis nahm, die Inkarnation des élan vital«. Daher bleibt die »futuristische« Rhythmik ein elitäres und eurozentrisches Projekt. Vgl. Goodman 2010, Sonic Warfare, S. 59 mit dem schönen Wortspiel: »The futurist legacy has usually meant ›white noise‹.«
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
immer an den Grenzen des eigenen Fachs, ohne die Grenzen der anderen Fächer völlig erfassen zu können. Die Funktion der Musik als Leitmedium der Rhythmusästhetik impliziert, dass am musikalischen Rhythmus gemessen wird, in welcher Weise andere Rhythmusformen eher von diesem Modell getrennte oder mit diesem Modell geteilte Eigenschaften aufweisen. Es besteht dabei aber ein Auseinandertreten in der Praxis zwischen einer letztlich trivialen Form der Rhythmusanalyse, die in der Auflistung von Taktgruppen, Versfüßen, Hemiolen und Punktierungen zu wenig reduktionistisch erscheint (Analyse als das Aufdecken der verborgenen Zusammenhänge einer Komposition bleibt hier zu stark an den musikalischen Vordergrund gebunden), und der Suche nach einer Beschreibungssprache, die gleichermaßen die Rhythmen der lebensweltlichen oder nischenkünstlerischen Zusammenhänge beschreiben kann (und aus deren Sicht müssen die musiktheoretischen Ansätze methodisch bereits allzu reduktionistisch erscheinen). Die Metrumskepsis der »kritischen« Rhythmustheorie erklärt sich auch einfach daraus, dass die konkreten Analysekategorien der Musik sich einem interdisziplinären Transfer verweigern. Eine vom musikalischen Metrum getrennte Analyseperspektive, die stärker die Aspekte der Störung und Synkopierung in den Mittelpunkt stellen möchte, bleibt demnach mit einer Anfangsentscheidung verkoppelt: In die mittlere Zeitebene der metrisch-rhythmischen Orientierungen, auf die auch performative Gesten und Bewegungen bezogen bleiben, müssen Aspekte der oszillatorischen Mikrozeit oder der organisatorischen Makrozeit übertragen werden. Ein stärkerer Eigenanteil des Rhythmischen soll zum Beispiel bei der Modernisierung und Musikalisierung sprachlicher Sinnstrukturen genau in diesen beiden »zentrifugalen« Zeitebenen eingebracht werden: »Auch wenn in der Sprache die Denotationsfunktion vorherrschendes Zeichenprinzip ist, so dürfen wir nicht übersehen, dass in künstlerischen literarischen Arbeiten auch die sprachliche Repräsentationsfunktion zum Tragen kommt, z.B. dort, wo der Sprachklang und der Sprachrhythmus Träger von Bedeutung und von Botschaften ist, oder auch dort, wo die Gesamtanlage einer Erzählung oder eines Romans Konstruktionsprinzipien folgt, die etwa in ihrer besonderen zeitlichen Gestalt den literarischen Inhalt wesentlich konstituieren.«123 Der Rhythmus kann also einmal auf der sprachlichen Makroebene verortet werden (als Präsenz des musikalischen Formbegriffs in literarischen oder auch filmischen Kunstwerken), aber zudem auf der sprachlichen Mikroebene (als Präsenz einer musikalisierten Lautstruktur, die nicht mit dem musikalischen bzw. verspoetischen Metrumbegriff der mittleren Zeitebene zusammenfällt).124 Die Ausklammerung der metrisch zentripetalen Mittelebene stellt den performativen Rhythmus in den Analysen der Kultur- und Theaterwissenschaften primär mit der Verzögerung und Detailnuancierung von Einzelgesten in Verbindung. Es entsteht ein »Lupen-Rhythmus«, für den eine non-zyklische Aktualisierung durch Abnutzungseffekte oder die Zwänge einer mehrfachen empirischen Ausführung, die leichter oder schwe123 Brandstätter 2008, Grundfragen der Ästhetik, S. 90. 124 Vgl. dazu grundlegend auch Lubkoll 1999, »Rhythmus und Metrum«, S. 104f.
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rer erfolgen kann, erneut eine entscheidende Bedeutung erhalten wird. Performative Wiederholungen erzeugen zugleich eine Makrostruktur, die als formlogisch wirksamer »Sample-Rhythmus« beschrieben werden könnte, sobald beliebige Bewegungsabfolgen ein zyklisches Potenzial zugewiesen bekommen und verstetigt werden. Das Zusammenspiel dieser beiden Elemente bezeichnet auch Erika Fischer-Lichte als Rhythmus: »Welche Elemente wann, in welcher Form und für welche Dauer in Erscheinung treten, hängt, wie gesagt, wesentlich vom Rhythmus der jeweiligen Aufführung ab. Entsprechend wird viel mit Wiederholungen gearbeitet, bei denen das erscheinende Element jedes Mal von dem, das es wiederholt, abweicht – wenn auch teilweise nur minimal.«125 Eine Wiederholung kann die Bedeutung einer rhythmischen Störung in sich abbilden, weil selbst der Versuch einer exakten Wiedergabe durch die immer bestehenden empirischen Differenzen ein Moment der Widerständigkeit aufweist (als Sich-Durchsetzen des »Lupen-Rhythmus« gegen die performative Makrozeit), während die Einzeldetails in der abgewandelten Wiedergabe auch auf die Präsenz einer immerzu gleichartigen Vorlage verweisen (als Durchsetzung des »Sample-Rhythmus« mit der performativen Mikrozeit). Für diesen szenischen Vorgang einer in sich anti-metrischen performativen Variationsfolge können daher auch und gerade stark metrisierte, für sich triviale Musiknummern verwendet werden. Die Ästhetik des Performativen ist davon geprägt, dass eine Aufführung einerseits ein unwiederholbares Ereignis darstellen soll, welches sich von der Wiederholbarkeit des notierten Werkcharakters radikal abgrenzen lassen muss.126 Der konkrete Inhalt einer einzelnen Performance besteht jedoch andererseits häufig nahezu nur aus unablässigen Wiederholungen. Die Performance-Kunst von Marina Abramović ist wohl das wichtigste Beispiel einer stark mit Wiederholungen arbeitenden Zeitorganisation, wobei als rhythmisches Formungselement vor allem die Differenz eines »analogen Extremwerts« und eines »digitalen Extremwerts« hervortritt: Die einzelnen Aktionen beruhen oftmals entweder darauf, dass eine Einzelgeste für eine unnatürlich lange Zeitdauer möglichst ohne jede erkennbare Abwandlung eingenommen werden muss, oder sie beruhen darauf, dass eine Einzelgeste unablässig wiederholt werden soll. Man könnte dies in bestimmten Fällen als eine Übersetzung der metrisch »ideellen« Bewegung in das Medium der »realen« Körperbewegungen deuten (das bekannteste Beispiel hierfür ist das »Headbanging«). Das Performative inszeniert somit den Konflikt zwischen der »primitiven« Form einer realen Umsetzung jeder einzelnen Repetition, wie es einer vorschriftlichen Präsenzkultur entsprechen würde, und der »partiturgebundenen« Form einer ideellen Wiederholbarkeit, wie sie von einer schriftlichen Repräsentationskultur bereitgestellt wird. Die internen Repetitionen eines musikalischen Werks lassen sich als physische Aktionen externalisieren, aber diese externen Repetitionen müssen sich nicht mehr zu einer eigenen Werkgestalt internalisieren: 125 126
Erika Fischer-Lichte, »Rhythmus als Organisationsprinzip von Aufführungen«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 239. Vgl. zur Akzentuierung dieser Tendenz vor allem Mersch 2002, Ereignis und Aura, S. 240f.
7 Außenposten: Die Rhythmisierung der Welt
»Die Erfahrung, dass Rhythmen nicht nur Sinn verleihen, sondern auch entziehen können, Semantisierung und Desemantisierung verknüpfen, markiert den Übergang zu einem Theater, das seine Texte als Material behandelt, als rhythmisches Gefüge und Geräusch, das sich eher tanzen als sprechen lässt, jedenfalls eine eigene Zeitlichkeit und Widerständigkeit von Körpern vorführt.«127 Man kann daher Theorien der Performances, die den ersten Aspekt der präsenten Repetitionen beschreiben, von Theorien des Performativen differenzieren, die nur den zweiten Aspekt der absenten Wiederholbarkeit betonen. Es besteht dadurch aber die Möglichkeit, nicht mehr wie in den Bildkünsten eine einzelne Figur, sondern gleich einen ganzen Figurenbereich oder Bühnenraum als Punktbestimmung zu setzen, der rhetorisch zum Träger einer einzelnen rhythmischen Ablaufschicht gemacht werden kann. Will man solche Zurechtschneidungen in handliche Rhythmuspakete vermeiden, sodass letztlich alle Interaktionen getrennter Ablaufschichten als Rhythmus bezeichnet werden könnten, dann muss eine Analysesprache eingefordert werden, welche umgekehrt die Vogelperspektive der Makrostruktur vollständig verlässt und sich der Nahperspektive der Einzelgesten ausliefert: »Schreibweisen müssen folglich erarbeitet werden, die versuchen, die Bewegung der Aufführung aufzugreifen und nicht stillzustellen.«128 Für diese Ästhetisierung der Wissenschaftssprache, die aber auch nicht zum direkten Äquivalent einer szenischen Aktion gerinnen darf, wird erneut deren eigene rhythmische Strukturierung als Hilfsmittel der analytischen Beschreibung bedeutsam. Als noch akzeptabler Stärkegrad erweist sich die Methode, einen einzelnen Satz einzuschalten, der in einer parataktischen Sukzession von rhythmisierten Schlagworten die performativen Mittel der sprachlichen Entgrenzung nun auch selbst präsentiert: »Musik wird Sprache wird Musik wird Körper wird Bild wird Sprache wird Körper wird etc.«129 Diese Einzelsätze erzeugen dann meist die einfachste Form einer Wiederkehr des Verdrängten: Die »Ebene der Beschriftung« definiert Rhythmus durch jene StaccatoAkzente, die in der »Ebene der Beschreibung« dessen Essenz nicht ausmachen sollen. Aus nüchterner wissenschaftlicher Sicht tritt in den Repetitionen aber zuallererst das Faktum der Interferenz-Bestimmung zutage: »Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das Wort sagt es schon: zwischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied. Ihre Wahrheit ist die Fatalität, ihr Feld das Unbewusste.«130 Und gemäß dem Argument der Relationsprüfung erzeugt dies wiederum eine Schlagseite des »digitalen« Elements der rein syntaktischen Gliederung gegenüber dem »analogen« Element der semantischen Sättigung, gerade wenn der Satzbau mithilfe von rhetorischen Repetitionen eine Gleichwertigkeit beider Vorgänge abbil-
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Patrick Primavesi, »Markierungen. Zur Kritik des Rhythmus im postdramatischen Theater«, in: Brüstle/Ghattas/Risi/Schouten 2005, Aus dem Takt, S. 263. 128 Leifeld 2015, Performances zur Sprache bringen, S. 178. 129 Brandstätter 2008, Grundfragen der Ästhetik, S. 13. 130 Kittler 1985, Aufschreibesysteme, S. 276.
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den möchte: »Zum Rhythmus gehören Puls und Bruch, Wiederholung und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität.«131 Die vom Autor selbst vorgenommene Kursivierung verweist selbstreflexiv auf den Konflikt: Die syntaktische Stellung des »und« erzeugt als formaler Gleichmacher der stofflich ganz differenten Paare einen rhythmischen Vorrang der Wiederholung vor der Gegenwart, der Wortinhalt des »und« hingegen fordert den Vorrang einer »analogen« Verbindung zwischen den Komponenten. Medientechnisch ist diese Form einer rhythmischen Wiederholung demnach mit einer binären Schaltkreislogik verbunden: »Das 19. Jahrhundert, im Unterschied zum 18., serialisierte Leibniz’ Aphorismus bis ins Unendliche. Ein Ding ist, ist nicht, ist, ist nicht, ist, ist nicht usw.«132 Rhythmus bleibt für die aktuellen Kulturwissenschaften ein Zauberwort, das zwar seriöse Analysemöglichkeiten verspricht, aber manchmal doch genau wie ein Zauberwort funktioniert – durch das rituelle wiederholte Aussprechen soll auf Kräfte in der Welt verwiesen werden, die ihr Sein nicht aus der semantischen Denotation und einer semiotischen Datenlogik erhalten.133 Die Anlehnung dieses geweiteten Rhythmusbegriffs an musikimmanente Theorien setzt voraus, dass deren metrisierter Rhythmusbegriff mit gutem Grund nicht übernommen werden kann, es wird aber mit weit weniger guten Gründen zumeist auch vorausgesetzt, dass ein melodisierter Rhythmusbegriff den eigenen und den einzelwissenschaftlichen musikalischen Theoriehorizont miteinander verschweißen kann. Dies erzeugt einen Anfangsvorsprung von musiktheoretischen Positionen, die suggerieren, dass der Rhythmus eng angelehnt an die Zeitphänomenologie von Bergson und Husserl verortet bleibt, sodass eine »digitale« Punktbestimmung für musikalische Zeitabläufe zurückgewiesen werden kann. Neben der Theorie von Hasty erweist sich dabei vor allem der Begriff einer »metrischen Welle« (metric wave) von Victor Zuckerkandl als ungemein verführerisches Theorieangebot. Zuckerkandl lässt keinen Zweifel daran, dass er für seine metrisierte Theorie dennoch einen melodisierten »Vorrang des Analogen« in Anspruch nimmt: »We discover that it is not in the demarcating beats but where at first we did not look at all, where nothing happens, where time simply passes – it is in the apparent vacuum between the demarcating beats that musical meter is born.«134 Diese Negation räumlicher Leere zugunsten einer zeitlichen Erlebnisfülle verweist auf Bergson, wobei sich Zuckerkandl explizit auf das folgende Diktum bezieht, das aber noch direkt die Melodie und nicht den melodisierten Rhythmus als Äquivalent der realen Dauer diskutiert: »Einer Melodie mit geschlossenen Augen zuhören, ganz auf sie konzentriert, deckt sich beinahe mit der Zeit, die nichts anderes ist als das Fließende unseres inneren Lebens; doch ist da – in der Melodie – noch zu viel Bestimmtheit, man müßte zuerst die Unterschiede der Tonhöhen ausschalten, dann die charakteristischen Empfindungen von
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Risi 2004, »Rhythmen der Aufführung«, S. 171. Siegert 2003, Passage des Digitalen, S. 305. Vgl. Garelli 1991, Rythmes et mondes, S. 73f. zum »Cogito ergo sum« von Descartes, das von der Wiederholung abhängig ist, wenn dem Sprecher die Wahrheit des Satzes jedes Mal bewusst wird, sobald er ihn ausspricht. Victor Zuckerkandl, Sound and Symbol. Music and the External World, London 1956, S. 169.
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Ton überhaupt, und nichts zurückbehalten als das Fortdauern des Vorangegangen im Nachfolgenden […].«135 Das musikalische Modell der Melodie ermöglicht in der allgemeinen Zeittheorie die Verbindung zweier phänomenologischer Zustandsformen: erstens die Sukzession verschiedener Erfahrungen als Zeitbedingung in der Tonfolge einer Melodie, und zweitens die Erfahrung eines einzelnen konkreten Gegenstandes als Zeitbestimmung wie in einem zeitlich gedehnten Einzelton.136 Die Forderung, die reale Dauer nochmals »hinter« einer melodischen Tonfolge zu verorten, kann daher auf zwei verschiedenen Wegen in musikalische Kategorien übersetzt werden. Eine erste Option ist das Kontinuum des Sirenenglissandos, durch das die Kontinuität des Einzeltons in die Tonfolge projiziert wird. Diesen Weg weist Zuckerkandl in einer für konservative Musiktheorien typischen Weise zurück: »Das sirenenartige Gleiten von Ton zu Ton gibt nicht den vollkommensten Bewegungseindruck, sondern überhaupt keinen Bewegungseindruck mehr. Faktische Kontinuität in der unteren Schicht hebt die Möglichkeit von Bewegung auf; aus Ordnung wird Chaos, aus Musik bloßes Geheul.«137 Das Problem einer direkten Referenz auf Bergsons Theorie scheint darin zu liegen, dass diese die Heterogenität und Einzigartigkeit der Erfahrungen in den »globalen« Theorieprämissen so radikalisiert, dass auch stark metrisierte Beispiele wie das Metronom als Einschlafhilfe oder die Schmiedegeräusche der Ambosse sich in diese melodisierte Zeitlogik noch eingliedern lassen.138 Die »lokalen« Theorieprämissen der Rhythmusästhetiken müssen daher versuchen, nochmals andere musikalische Qualitäten zu benennen, die eine Strebetendenz des Einzelereignisses über sich selbst hinaus gewährleisten können. Dies ist dann die zweite Option, die kinetischen Kräfte »hinter« der Melodie abzubilden, indem nun die Strukturlogik einer Tonfolge bereits in einem Einzelton wirksam wird.139 Dies bedingt aber eine teilweise Melodisierung des Rhythmischen, da diese zeitliche Eigenschaft am einfachsten aus tonalen Systemen abzuleiten ist und durch ihre normative Grundausrichtung dann selbst wieder angreifbar wird. Was Zuckerkandl stattdessen vorschlägt, impliziert letztlich eine absolute Melodisierung des Metrischen: Die Strukturqualität der Melodie, nach der Bergson sucht, wird 135 136 137
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Zit. nach Victor Zuckerkandl, Die Wirklichkeit der Musik. Der musikalische Begriff der Außenwelt, Zürich 1963, S. 231 (der sich dabei auf Dauer und Simultaneität von Bergson bezieht). Vgl. konkret zu diesen Beispielen Husserl 2013, Phänomenologie des Zeitbewußtseins, S. 25. Zuckerkandl 1963, Wirklichkeit der Musik, S. 135. Vgl. dort auch S. 114 zum konservativen Rückbezug der Melodiekinetik: »Kontinuierlich ist die Reihe aller möglichen Töne – die Sirene durchläuft sie; diskontinuierlich ist die Reihe der Obertöne«. Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Nachdruck der 2. Auflage 1920, Frankfurt a.M. 1989, S. 81ff. bzw. S. 94ff. zu den entsprechenden Beispielen. Vgl. auch Lubkoll 2002, »Rhythmus«, S. 87ff. Vgl. als entsprechende Position auch Brelet 1949, Temps musical, S. 49: »La continuité immédiate, ce n’est pour le temps musical que confusion et incohérence; et il ne veut connaître que cette continuité médiate qui renait de l’ordre temporel.« Daraus wird dann S. 53 die Konsequenz gegen Bergson gezogen: »Ce n’est pas pourtant au temps musical de descendre en la durée psychologique, mais c’est à la durée psychologique de monter vers le temps musical.« Die idealistische Position der Tonbewegung als realster Form der Bewegung überhaupt findet sich auch bei Zuckerkandl 1956, Sound and Symbol, S. 338f.
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mit rhetorischer Schamlosigkeit und in einer absurden Verkehrung der Verhältnisse mit dem Begriff der »metrischen Welle« gleichgesetzt.140 Es wird damit der gordische Knoten durchschlagen, der zwischen den Forderungen nach einer Position dieser Qualität »hinter« der Melodie und ihrer Funktion als kinetisches Bindemittel »zwischen« den Einzeltönen besteht, indem nicht Funktionen des melodischen Vordergrunds, die zwar die zweite, aber nicht die erste Bedingung tatsächlich erfüllen, als Lösungsvorschlag präsentiert werden, sondern das Taktmetrum, das als musikalischer Bezugshintergrund die erste, aber kaum die zweite Bedingung erfüllt. Diese Verbindung eines »Vorrangs des Analogen« mit der taktmetrischen Pulsation setzt als Immunisierung der inneren Widersprüchlichkeit voraus, dass der melodisierte Rhythmus zum einzigen Träger des Metrums gemacht wird, sodass die kinetische Funktion und die strukturelle Hintergrundposition bei Zuckerkandl scheinbar in den Taktwellen synergetisch verschmelzen. Zuckerkandls Modell bleibt aber von zwei uneingestandenen Taschenspielertricks abhängig. Erstens lässt sich die kinetische Qualität des Metrums nur anhand von rein abtaktigen Bildungen dokumentieren, in denen die rhythmische Phrasierung nicht wie im musikalisch üblicheren Fall phasenverschoben zu den Taktstrichen platziert ist, sondern mit diesen zusammenfällt. In allen anderen Fällen würde sofort hervortreten, dass Zuckerkandls Wellenbewegung sich nun vom Metrum der Taktstriche in diese halbtaktig versetzte rhythmische Gruppenbildung verschiebt. Selbst in den abtaktigen Beispielen verbleibt das Problem, dass eine organische Wellenform üblicherweise nach dem Muster der rhythmisch-melodischen Phraseneinheiten gebildet wird: Sie besteht dann aus der Abfolge eines Wellenbergs als Höhepunkt in der Mitte, der von zwei Wellentälern gestützt wird, und nicht wie die metrische Taktwelle aus zwei Wellenbergen als Höhepunkten am Anfang und am Ende. Diese Struktur wirkt als Zeichnung nicht mehr wie das Abbild einer organischen Bewegung, sondern wie ein Gefäß, in dem eine Bewegung aufbewahrt werden kann (sie wirkt mit anderen Worten nicht mehr wie eine kinetische Bewegungsfunktion, sondern wie eine metrische Containerfunktion). Der zweite Taschenspielertrick ist es daher, die metrische Wellenbewegung als Pfeildiagramme immer unter die Notenbeispiele einzuzeichnen, sodass das einzelne Wellental wie der nach unten gekippte einzelne Wellenberg des organischen Modells wirken soll, obgleich er diese Funktion nicht mehr besitzt: Erst die Grafiken sichern die Position in der Tiefendimension »hinter« der Melodie, wobei nicht die Meereswellen direkt einer metrischen Welle entsprechen, sondern nur deren symmetrische Spiegelung an einer horizontalen Achse (vgl. Abbildung 7.1).141 Man darf daher mit aller Vorsicht wohl doch die Frage stellen: Welchen Wert hat eine Theorie, in der eine notationale Zeitpunkt-Bestimmung des Metrums abgelehnt wird, wenn sie von einer engen notationalen Raumbestimmung abhängig bleibt? Zuckerkandls Modell basiert auf dem Faktum, dass die metrische Rückbindung einer schwa140 Vgl. die auf das Bergson-Zitat bezogene Aussage bei Zuckerkandl 1956, Sound and Symbol, S. 244: »What Bergson here says must be done to find fundamental time we attempted to do when we undertook to search for the nature of time in the phenomena of meter and rhythm. It almost seems as if music furnishes experimental proof of the rightness of Bergson’s basic idea. Indeed, in this context, it does something even more essential: it disposes the weightiest objection to Bergson’s time concept«. 141 Zit. nach der Vorlage bei Zuckerkandl 1956, Sound and Symbol, S. 178.
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chen auf eine vorangegangene starke Zählzeit von der rhythmischen Loslösung der schwachen Zählzeit aus dieser Rückbindung nicht gefährdet wird. Damit aber ist klar, dass diese metrische Rückbindung nach einer Begründung verlangt, die Zuckerkandls Modell der Dynamisierung schlicht nicht liefern kann.
Abbildung 7.1: Analysediagramm von Mendelssohn, Scherzo (Sommernachtstraum) bei Zuckerkandl
Auch hier wird das Problem schlagend daran erkennbar, dass die metrische Reiteration dieser Anfangsakzente in einem abweichenden Vorgang der positiven Rückkopplung idealisiert wird: »Hebe ich ein Gewicht auf eine bestimmte Höhe, einmal, zweimal, zehnmal, so ist es als Leistung nicht immer das gleiche, sondern jedes Mal mehr. Schwingt die Welle sich wieder und wieder zur Höhe auf, so empfinde ich jedes Mal ein Mehr an Leistung.«142 Dies impliziert eine Melodisierung des Rhythmischen, denn die Aussage ist nur sinnvoll, wenn die Repetition der immer gleichen Welle in immer größere Einheiten der Phrasierung überführt wird. Ein Metrum der Vier- und Achttakter ist psychologisch schwerer wahrzunehmen, aber das liegt nicht daran, dass eine Repetition häufiger, sondern dass sie seltener durchgeführt wird.
142 Zuckerkandl 1963, Wirklichkeit der Musik, S. 166.
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Offenkundig gibt es aber auch Vorgänge, bei denen für jede Wiederholung weniger Leistung aufgebracht werden muss, um dasselbe Resultat zu erhalten, und es dürfte abgesehen von den Theorien von Zuckerkandl und Hasty schwer werden, irgendeinen Präzedenzfall dafür zu finden, dass der Rhythmus nicht mit diesem Modell des durch Wiederholung erleichterten Lernens, sondern mit dem Modell des durch Wiederholung erschwerten Stemmens verbunden wird. Die beständigen Referenzen der aktuellen Rhythmustheorien auf genau diese beiden Vorbilder muss man deswegen nicht zwingend für einen Kompetenznachweis halten. Eine »erweitert metrische« Theorie versucht die einzelnen Schlagworte durch eine ganze Reihe aufeinander bezogener Begriffspaare zu ersetzen, deren pragmatische Zweckbestimmung aber schlichtweg darin liegt, zwischen den Analysekategorien der »positivistischen« Musiktheorie und den Analysebedürfnissen der »performativen« Rhythmuspraxis zu vermitteln. Diese wechselseitige Anschlussfähigkeit erscheint als dringliches Desiderat, das abschließend an einer kurzen Analyse verdeutlicht werden soll, in der ein musikalisches Werk bewusst nicht mit den üblichen einzelwissenschaftlichen Rhythmusbegriffen, sondern mit den stärker verallgemeinerbaren kulturwissenschaftlichen Rhythmuskategorien analysiert wird. Dabei soll erneut auf ein Stück von Per Nørgård zurückgegriffen werden, da es die Möglichkeit bereitstellt, den musikalischen Rhythmus nicht mehr nur als Welle, sondern anhand von Wellen zu beschreiben. Das knapp zehnminütige Ensemblewerk Prelude to Breaking (1986) ist eine naturalistische und doch stilisierte Abbildung des Klangs der Meereswellen, die in einer Geschichte der Rhythmustheorien im 20. Jahrhundert wohl das zentrale Diskussionsbeispiel darstellen. Das erläuternde Vorwort des Komponisten verbindet folgerichtig ein »esoterisches« Bekenntnis zur naturtönigen Basis eines Fundamenttons und seiner Obertöne, die der Meeresbrandung abgelauscht werden, mit einem »empirischen« Verweis auf die Vielzahl der ineinander verwirbelten Wellenperioden. Die »mittlere Zeitebene« wird stets von oszillatorischen Zeitwechseln und ordnungsstiftender Zeitbeharrung eingerahmt (vgl. den Anfang des Stücks in Notenbeispiel 7.2). Die rhythmische Abbildung des Fundamenttons in den ersten Takten erfolgt in einer Weise, bei der Metrisierung und Synkopierung ganz im Sinne der »kritischen« Rhythmustheorien von Beginn an ineinander verwoben scheinen: Die Zweitonfigur schwankt zwischen einer Betonung des ersten Elements durch die Repetition und einer Betonung des zweiten Elements durch die auftaktige Wirkung zum beantwortenden Gegenschlag. Beide Tendenzen werden wiederum gegenläufig auskomponiert, indem der zweite notierte Zeitpunkt durch die Ausführung als »Fingerbeat« zum nachschnalzenden Geräuschklang reduziert wird, also dem ersten Ton stärker subordiniert bleibt, während bereits beim nächsten Erklingen der Zweitonfigur der rhythmische »Vorrang des Anfangs« durch die synkopische Überbindung unterdrückt wird. Der »digitale Extremwert« der einförmigen Repetition einer »rhythmisierenden Reihe« verbleibt subtil von der »subjektiven Rhythmisierung« getrennt, indem die beiden Einzeltöne der Figur zu schnell aufeinander folgen, um in sich eine stabile metrische Differenzierung anzuzeigen, und die Repetitionen der Zweitonfigur schon wieder zu langsam erfolgen, um diese Differenzierung noch eindeutig auszulösen. Dennoch ist diese rhythmische Ablaufschicht nichts anderes als das übliche Modell
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Notenbeispiel 7.2: Nørgård, Prelude to Breaking (1986), Anfang
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eines synkopisch versetzen Klangbands, das als Hintergrund einer sich darüber entfaltenden Melodiebildung genutzt wird. Der erste Formteil des Stücks, in dem sich diese Melodielinien allmählich immer weiter in ihrem Ambitus ausdehnen, führt konzise vor, wie eine Metrisierung und Melodisierung des Rhythmischen auch zusammenfallen können: Die Qualität der verstärkten Akzente in mehreren Instrumenten am Beginn der mehrtaktigen Melodiebögen ist als Verschränkung der Endwirkung des vorherigen Melodiesegments mit einem metrischen Anfangsimpuls ebenfalls eine zutiefst traditionelle Technik. Sie verweist hier aber darauf, dass die Melodien natürlich das nach oben gerichtete optische Bild der Meereswellen mit dem einzelnen Wellenberg in der Mitte programmatisch nachzeichnen. Hierzu bilden die metrischen Akzente nicht das Gegenmodell einer nach unten gerichteten Welle, sondern das Gegenprinzip einer linearen Reiteration von Anfangsimpulsen. Die minutiöse Variierung sowohl der Taktposition wie auch der instrumentalen Ausführung belegt dabei immer wieder von neuem die Möglichkeiten einer rein notationalen non-zyklischen Aktualisierung, wobei die im Verlauf ergänzten Rhythmusimpulse nahezu alle ein zyklisches Potenzial durch neuerliche Variantenbildungen entfalten können. Durch das »sirenenhafte« Einschreiben von mikrotonalen Abweichungen, die das naturtönige Klangbild analog zu den Geräuschanteilen in der rhythmischen Gestaltung weiter verstärken, ist zugleich die Zugehörigkeit des taktmetrisch und tonal gebundenen Stücks zur Neuen Musik eigentlich nie zweifelhaft. Diese tritt endgültig in einem Mittelteil hervor, in dem das Partiturbild urplötzlich zum »analogen Extremwert« der grafischen Notation von Sinuskurven wechselt, die man als Abbild des chaotischen Innenlebens der Meereswellen deuten kann. Die in einzelnen Instrumentalstimmen flackernd pulsierende Rhythmik wechselt also vom Modell (X+1) der »digitalen« Ergänzung einzelner Ablaufschichten im ersten Formteil, bei dem eine minimale Anreicherung der anfänglichen Punktreihe sich asymptotisch einer diffusen Klangsimultaneität annähert, in das »analoge« Modell (1-X) dieses zweiten Formteils, bei dem in den oszillatorischen Periodizitätsraten sowohl in der optischen wie in der akustischen Umsetzung genau umgekehrt eine minimale Restbestimmung diskreter Gliederungselemente vorhanden bleibt (vgl. auch Notenbeispiel 7.3). Der Reprisenteil der Komposition konfrontiert diesen improvisierten Teil dann mit der bislang eindeutigsten Direktabfolge einer rein »digitalen« Rhythmik, da das Zweitonmotiv nun erstmals auch zwei Akzentzeichen zugewiesen bekommt. Das Stück endet jedoch nicht in einfacher Wellensymmetrie, sondern inszeniert in einem Codateil einen graduellen Bewegungsverlust der fraktal in verschiedenen Zeitgrößen übereinander gelagerten Wellenformen: Die optional hinzutretende Vokalstimme erzeugt dabei erst ganz zuletzt eine »zeitliche« Mittelachse, durch die das Wegbrechen der Naturtonelemente gleichsam an einer von außen eintretenden Instanz des melodischen Kunstlieds gemessen werden kann. Man sollte dabei den Titel des Stücks möglichst wörtlich auffassen: Prelude to Breaking inszeniert den musikalischen Ablauf auch als Konflikt zwischen einem Vorrang der Gegenwart im stets weiter gedehnten Präludieren und einem Vorrang der Wiederholung in den stetig wieder erfolgenden Brechungen. Der explizite Untertitel Wave-Music mag als Hinweis verstanden werden, dass eine »dritte Welle« der Rhythmusforschung auch das Pathos eines dritten Weges aufweisen müsste, der
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zwischen einer »Verdrängung des Nicht-Wiederkehrenden« und einer »Wiederkehr des Verdrängten« zu vermitteln hätte.
Notenbeispiel 7.3: Nørgård, Prelude to Breaking, Übergang zum Mittelteil
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8 Epilog: Der Rhythmus des Schwarz-Weiß-Zeitalters
Das Filmbild verursacht eine Entfärbung des historischen Gedächtnisses: Ein SchwarzWeiß-Film erscheint als die stärker »authentische« Erinnerungsform für Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während sowohl die Zeit danach als auch die Zeit davor mit farbigen Medientechniken assoziiert werden. Dies führt einerseits dazu, dass sich diese einschränkende Bedingung auf die Rezeption der Rhythmusbilder dieser Zeit überträgt, die durchaus auch dem Wechsel von Farbabfolgen eine rhythmische Qualität zuschreiben oder für empirische Experimente auf Farbreize zurückgreifen. Die Untersuchung von Kurt Koffka beruht zum Beispiel auf bläulichen Lichtpunkten, die nach dessen eigener Protokollierung einige der Probanden an den damals populären Lichttanz von Loie Fuller erinnert haben.1 Die filmische Reduktion auf das Schwarz und Weiß erscheint folgerichtig aus Sicht der »farbigen« Künste der Musik und Malerei wie ein unrhythmisches Abbild einer entseelten und äußerlichen Zivilisationswelt.2 Doch andererseits dürften wenig Zweifel bestehen, dass sich in die Rhythmusästhetik wiederum diese einschränkende Medienbedingung übertragen hat. Der historische Zeitraum der bewegten Schwarz-Weiß-Bilder fällt mit dem Anfang und dem Ende der ersten Welle der Rhythmusforschung wohl nicht zufällig nahezu exakt zusammen. Dabei scheint es recht leicht möglich, die technische Diskontinuität der Apparaturen auch in den gezeigten Kinobildern zu entdecken: Die überschnellen, ruckhaften und unnatürlichen Slapstick-Bewegungen erzeugen in sich eine Logik der Rhythmisierung, sodass es nicht verwundert, wenn die Kinoerfahrung zum zeitgenössischen Erklärungsmuster für nervöse Ticks oder epileptische Tanzekstasen erhoben werden konnte.3 Der entscheidende Zusammenhang zwischen der Kinematografie und der stark zunehmenden Rhythmusbegeisterung dürfte jedoch darin liegen, dass erst die Kinobilder einen sinnlichen Zugriff auf jene Zeitebenen ermöglichen, die der psychologischen Präsenzzeit bislang verborgen bleiben mussten. Dies gilt nicht nur für die Mikrozeit einzelner Bewegungsmomente, sondern durch stark gerafft abgespielte bzw. zusammen
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Vgl. Koffka 1909, »Lehre vom Rhythmus«, S. 23. Vgl. zum Beispiel Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 57f. Vgl. erläuternd Rae Beth Gordon, Dances with Darwin, 1875-1910. Vernacular Modernity in France, Farnham 2009, S. 91.
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Die Theorie des Rhythmus
geschnittene Bildfolgen auch für die Makrozeit der organischen Naturzyklen.4 In diesem Sinn wird die »esoterische« Rhythmustheorie von der »empirischen« Technik ins Leben gerufen. Die Sukzession der diskreten Einzelbilder macht die kosmischen Ordnungsmodelle und konstanten Oszillationen für eine universalistisch argumentierende Rhythmusästhetik überhaupt erst sichtbar: »Der Film löst an sich alles in Motorik auf. Der Verzicht auf Farbe ist zunächst ebenso günstig wie der Verzicht auf Stimme. Die Möglichkeit des plastischen oder tönenden Films ist theoretisch erfunden und in gewissen Grenzen ebenso möglich wie die des farbigen Films. Grundsätzlich ist aber künstlerisch eigentlich damit gar kein Gewinn erzielt. Es kann eine wesentliche künstlerische Aufgabe des Kinos die sein, eben nur stumm und schwarzweiß zu wirken.«5 Auch die Sirenensituation der empirischen Versuchsanordnungen setzt voraus, dass dabei der einzelne Teilnehmer beinahe wie ein Kinobesucher behandelt wird: »Im Labor musste die Versuchsperson vor allem eins: still sitzen und – halb technischen, halb psychologischen Anweisungen folgend – möglichst schnell reagieren, nachdem sie gereizt worden war.«6 Die Abdunkelung des Raums ist zur Darbietung rhythmischer Reizabfolgen oftmals ebenso notwendig wie das Verbergen der technischen Gerätschaften im Nebenzimmer. Die Differenz ist natürlich, dass im Labor nicht Filmspulen vorgeführt werden, um so bei den Teilnehmern emotionale Reaktionen auszulösen, sondern umgekehrt aus den Reaktionen die gespeicherten Daten gewonnen werden. Diese Aufzeichnung der Ergebnisse aber ist mit einer gewissen Notwendigkeit wiederum auf die Schwarz-WeißAbbildung angewiesen: Nicht nur, weil die wissenschaftlichen Zeitschriften noch keine Möglichkeiten für Farbabbildungen enthalten, sondern auch, weil die mechanischen Medien zur Aufzeichnung von Zeit und Bewegung in sich oftmals diese Beschränkung aufweisen. Man könnte demnach auf die Idee kommen, dass der Rhythmus des Wechsels von betonten und unbetonten Gruppenpunkten seine Beliebtheit als akademisches Forschungsthema auch deshalb erhält, weil er als Phänomen in sich »schwarz-weiß« untergliedert ist: Dasjenige, was gemessen werden kann, und dasjenige, was gemessen werden soll, finden glücklich zueinander.7 Der symbolisch bedeutsamste Moment für diesen Zusammenfall der SchwarzWeiß-Bilder mit den Problemstellungen der Rhythmusästhetik ist die berühmt
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Vgl. dazu Janelle Blankenship, »›Film-Symphonie vom Leben und Sterben der Blumen‹: Plant Rhythm and Time-Lapse Vision in Das Blumenwunder«, in: Michael Cowan/Laurent Guido (Hg.), Intermédialités, Heft 16 (2010), S. 83. Giese 1925, Girlkultur, S. 51f. Vgl. zur Rezeption dieser Ästhetik des zugleich ruckartigen und kreishaft geschlossenen Kinobilds im Rhythmusdenken Cowan 2011, Technology’s Pulse, S. 146f. Henning Schmidgen, »Leerstellen des Denkens. Die Entdeckung der physiologischen Zeit«, in: Bernhard J. Dotzler/Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld 2008, S. 122. Vgl. die Theorie eines »polaren Typus« des Hörens bei Wellek 1970, Das absolute Gehör, S. 140, der durch seinen »ruckhaft unstetigen, umschlagenden, ähnlich wie zwischen Gegenfarben oder zwischen Schwarz und Weiß hin- und herspringenden Charakter« gekennzeichnet sei.
8 Epilog: Der Rhythmus des Schwarz-Weiß-Zeitalters
gewordene Frage, ob bei der Bewegung im Galopp alle vier Hufe eines Pferdes für einen Moment gleichzeitig von der Erde entfernt sind. Die positive Beantwortung dieser Frage beflügelt die Auffassung von einem »Vorrang des Analogen« in der rhythmischen Bewegung, doch kann sie von Marey und seiner Chronofotografie nur mithilfe einer Technik beantwortet werden, die umgekehrt auf einen neu erzeugten »Vorrang des Digitalen« verweisen wird. Man kann diesen historischen Moment der Momentfotografie symbolisch auch so deuten, dass ein »letztes Jahrhundert der Pferde« durch ein erstes Jahrhundert der maschinellen Fortbewegungsmittel abgelöst wird: »Jahrhunderte lang hatte sich die Menschheit das Schicksal des Besiegten immer im Bild dessen gedacht, der unter die Hufe des Siegers gerät und von diesem überritten wird. Jetzt, im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, war es das Pferd, das sich von der Geschichte überritten oder vielmehr überfahren fand.«8 Das träge Zugtier lässt aber den Rhythmus der Arbeit oder auch der Verkehrstechnik nicht in derselben Weise hervortreten wie seine elektrifizierten Nachfolger. Und Pferde erzeugen auch keine rhythmischen Zyklen der Geschichte, weil sie anders als technische Erfindungen immer da zu sein scheinen, bis sie plötzlich aufgrund dieser technischen Erfindungen selbst verschwinden. Das Verdrängen der Pferde aus dem städtischen Alltag verbindet sich daher in seiner kulturhistorischen Nacherzählung mit der These von der Arythmie der eigenen Zeit: »Wer um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf dem Land geboren wurde, wuchs in einer alten Welt auf. Sie unterschied sich wenig von derjenigen, die hundert Jahre früher da gewesen war. Agrarische Strukturen sind von Natur aus träge. Das Land dreht sich in langsameren Rhythmen.«9 Den Austausch von Pferden durch Rhythmen in den maschinellen Arbeitswelten könnte man anhand der folgenden prägnanten Formel diskutieren: »Die Frage des Rhythmus – das lässt sich an allen hier zitierten Studien ablesen – wird psychotechnisch immer da akut, wo die stupidesten Tätigkeiten anfallen.«10 Diese Bedingung erfüllt aber zuerst und für lange Zeit das Tier, dann auch der Mensch, und heute immer stärker die Technik selbst. Daher könnte man vermuten, dass nun ein Jahrhundert des Rhythmus gerade zu Ende geht: Der Anfangsmoment, in dem in die noch »analogen« Strukturen erstmals »digitale« Technik eindringt, wird abgelöst durch einen Endzustand, in dem eine rein »digitale« Struktur dennoch in ihrem gleichmäßig gleitenden Ablauf als perfektes Abbild der »analogen« Realität erscheinen kann.11
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Ulrich Raulff, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015, S. 11. Ebda., S. 7. Matala de Mazza 2011, »Rhythmus der Arbeit«, S. 96. Vgl. als »Zeit-Diagnose« Peter Gendolla, »Punktzeit. Zur Zeiterfahrung in der Informationsgesellschaft«, in: Rudolf Wendorff (Hg.), Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär, Stuttgart 1989, S. 128: »Das Verschwinden von Hebeln und Drehknöpfen, kompliziert zusammengefügten Bedienungslandschaften zugunsten glatter Oberflächen mit einfachen Reihen von Sensoren und Leuchtdioden geht einher mit der radikalen Veränderung unserer Lebenswelt, der Erfahrung von Zeit«.
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Die Auflösung organischer Gesamtbilder in mechanische Einzelbilder löst sich wiederum auf in die mechanisch hergestellten Duplikate der organischen Gesamtbilder: Der Rhythmus als die Interferenz- und Übergangsphase zwischen diesen Zustandsformen wird so wieder verborgen.12 Für diese Vollendung einer Digital-Analog-Wandlung bietet schon Büchers Arbeit und Rhythmus ein einfaches Gesetz an. Die Maschine wird dann ihr eigener Herr, wenn sie durch die zyklische Rundbewegung zur Sirene wird: »Mit der weiteren Entwicklung des Maschinenbaues strebt man darnach, den mit dem rhythmischen Gang des Mechanismus meist verbundenen toten Rückgang zu vermeiden und geht, wo nur immer möglich, von der wage- oder senkrechten zur gleichförmigen rotierenden Bewegung über, die jenen Kraftverlust vermeidet.«13 Die Eroberung des »analogen« Extremwerts durch eine gleichförmig surrende, widerstandslose, also unrhythmische, aber weiterhin dem »digitalen« Extremwert verpflichtete Technik erscheint als ähnlich apokalyptische Endvision auch auf den letzten Seiten von Spenglers Untergang des Abendlandes: »Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht, immer asketischer, mystischer, esoterischer. Sie umspinnen die Erde mit einem unendlichen Gewebe feiner Kräfte, Ströme und Spannungen. Ihr Körper wird immer geistiger, immer verschwiegener. Diese Räder, Walzen und Hebel reden nicht mehr.«14 Diese Denkkategorie bleibt bis in die Gegenwart medientechnisch relevant: Eine reale Bewegung erhält etwas Unheimliches, wenn sie lautlos und dennoch maschinell erfolgt.15 Auch hierfür ist der historische Moment der Chronofotografie bedeutsam: Der Einfluss von Mareys Technik auf die Rhythmisierung der Raumkünste ist völlig unstrittig, immer wenn eine Abbildung mehrerer sukzessiver Zeitmomente in einer simultanen Raumfläche erfolgt (das berühmteste Beispiel ist Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2).16 Mareys Fotografiermethode setzt zudem eine sirenenhafte Konstruktion rotierender Lochscheiben voraus und verlangt die möglichst starke Trennung von Schwarz und Weiß als Kontrast der aufgezeichneten Bewegung von dem mit aufgezeichneten Bildhintergrund (dies muss auch noch für Gieses empirische Aufzeichnung von Dirigierbewegungen methodisch vorausgesetzt bleiben).17 12
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Vgl. dazu auch Ghattas 2009, Rhythmus der Bilder, S. 130: »Wird das 21. Jahrhundert zum Zeitalter der computergenerierten ›Virtual Reality‹ und war das 20. Jahrhundert jenes der kinematographischen Bewegungsillusionen, so steht das 19. Jahrhundert für eine Vielzahl von Illusionsspielzeugen«. Bücher 1899, Arbeit und Rhythmus, S. 412. Spengler 1981, Untergang des Abendlandes, S. 1189. Vgl. auch Theunissen 1991, Negative Theologie der Zeit, S. 61: »Manche Bewegung rings um uns her und gerade die für unsere Gesellschaft kennzeichnende ist die scheinhafte der ständigen Wiederkehr des Gleichen, nicht nur das Fließen des berühmten Fließbands, das ja fast schon veraltet, auch der Wissenschaftsbetrieb, auch die leere Geschäftigkeit einer Politik, die in Wirklichkeit nichts bewegt«. Vgl. dazu Rabinbach 1990, Human Motor, S. 88. Vgl. zu diesen Aspekten ausführlicher Anja Meyer, »Étienne-Jules Marey und die Brüder Bragaglia: Fotografie, Bewegung und Rhythmus«, in: Salgaro/Vangi 2016, Mythos Rhythmus, S. 75ff.
8 Epilog: Der Rhythmus des Schwarz-Weiß-Zeitalters
Aus europäischer Sicht ist vor allem Amerika der Kontinent der schwarz-weißen Bilder, weil am wenigsten Dokumente aus der Zeit vor der technischen Aufzeichnung im kulturellen Gedächtnis verankert sind, sodass das Bild von Amerika in den neuen Bildmedien gezeichnet wird.18 Offenkundig entspricht die Reduktion auf das Schwarz und das Weiß zudem einem Modell von genau zwei rhythmischen Extremwerten. Die diskrete Reihe der Graustufen zwischen diesen beiden Extremen assoziiert Helmuth Plessner erneut mit der Auflösung des Kinobilds in Einzeleindrücke: »Daß Gelb zwischen Rot und Grün liegt, sieht man dem Gelb nicht an; es weist nicht auf diese Nachbarschaft hin. Stetiges Übergehen durch unscharfe Übergänge von einer zur anderen Farbenqualität, die sich gleichwohl nicht beliebig abgrenzen lassen, sondern ihre Sättigungsmaxima haben, ist für das Spektrum bezeichnend.«19 Eine Rhythmisierung als Digitalisierung erzeugt in Plessners Modell erst der Farbentzug: »In der Graureihe allerdings hat jeder Farbton seine Stelle nach dem Helligkeitswert. Er liegt in einer Reihe zwischen Weiß und Schwarz. Da aber alle simultan dargeboten werden können, ohne Intervalle ineinander übergehen, sich also nicht akkordisch zu Dissonanzen verbinden lassen, so fehlt ihnen der Zwang zum Nacheinander und weiterhin das Moment der Gleichheit in der Bewegung.«20 Die Binarität von Schwarz und Weiß bewirkt in der räumlichen Perzeption ein Äquivalent zur zeitlichen »subjektiven Rhythmisierung«, wenn die Ansicht vertreten wird, dass die flache Bildoberfläche sich auf diese Weise bereits in betonte und unbetonte Elemente unterteilen lässt: »Die optischen Gegensätze von Weiß und Schwarz sind so stark, daß die Tastempfindungen, die ihre Resonanz auslöst, sie nicht mehr in einer Ebene bleiben, sondern das Weiß hervortreten und das Schwarz zurückspringen lassen, sodaß eine gegensätzliche Bewegung von vorn nach hinten und von hinten nach vorn eintritt.«21 Der Konflikt zwischen Schwarz und Weiß übersetzt sich auf diese Weise zwanglos sowohl in die polarisierten Extremwerte der »esoterischen« Rhythmustheorie (nicht zufällig ist der Gegensatz des Hellen und Dunklen der methodische Ausgangspunkt in Goethes organischer Farbenlehre)22 wie in die periodisierten Einzelwerte der »empi18
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Vgl. Max Thalmann, Vom Rhythmus der neuen Welt. Amerika im Holzschnitt, Jena 1927, wo das Vorwort für die handgefertigte Bilderserie die folgende Aussage trifft: »In Schwarz-Weiß: konsequente Reduktion der Mittel bis zur geometrischen Aufteilung der Fläche«. Vgl. auch Kandinsky 2004, Geistige in der Kunst, S. 83 zur zeitweiligen Ausschaltung der Farbe bei der Abstraktion: »Und dies wird der Kontrapunkt der Kunst des Schwarz-Weißen, solange die Farbe ausgeschaltet ist«. Helmuth Plessner, »Zur Anthropologie der Musik« (1951), in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a.M. 1982, S. 192. Ebda. Drost 1919, Lehre vom Rhythmus, S. 66. Vgl. Frieling 1937, Harmonie und Rhythmus, S. 102, der in der Polaritätenlehre biologische Klassifikationen in ästhetische Kategorien übersetzt: »So geht auch hier der harmonische Eindruck ›grau‹ auf den Rhythmus von Schwarz und Weiß zurück«.
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rischen« Rhythmustheorie. Doch erscheinen Schwarz und Weiß dabei als »feindliche Brüder«23 , die eine Logik der »digitalen« Aufteilung in die satten Einzelfarben hineintragen; die einzelnen Farben gewinnen aus der Beimischung von Schwarz und Weiß nichts an Eigenwert, sondern werden zu Graustufen getrübt.24 Somit können die beiden Farben als Äquivalent zum Vorhandensein von genau zwei rhythmischen Extremwerten aus dem eigentlichen Farbspektrum auch wieder ausgeschlossen werden: »Hier und da ist der Klang auf das Minimum reduziert: Schweigen oder eher kaum hörbares Flüstern und Ruhe. Schwarz und Weiß liegen außerhalb des Farbenkreises, und Horizontale und Vertikale nehmen auch einen Sonderplatz unter den Linien ein, da sie in der zentralen Lage unwiederholbar und dadurch einsam sind.«25 Schwarz und Weiß assoziieren sich bei Kandinsky also mit geometrisch eckigen Linien statt mit gefüllten Flächen. Unterstellt man dabei auch eine verbleibende Asymmetrie der beiden Farbextreme, dann verweist dies auf eine Äquivalenz zur Logik eines Vorrangs des Anfangs vor dem Ende: »Größte Helligkeit und größte Dunkelheit sind die beiden Extreme einer stetigen Reihe von Intensitäten; mit dem Unterschiede, daß es nach oben eine grundsätzliche Grenze nicht gibt, während die untere Grenze durch die vollkommene Dunkelheit, also durch das Fehlen jeder Lichtempfindung festgelegt ist; gerade wie es keine obere Grenze für die Tonstärke gibt, wohl aber eine untere, nämlich die vollkommene Stille.«26 Der weiße Hintergrund ist jedoch gemäß der Logik einer ursprünglichen Différance zugleich die unbegrenzte Fläche, in der sich alle »digitalen« Zeichensukzessionen wieder auflösen lassen, und die leere Zeichenstelle, die diese Sukzessionen auch noch in der »analogen« Raumsimultaneität aufscheinen lässt: »Das leere Weiße ist demnach die Trope jenes Nichts, das zwischen den einzelnen Zeichenvorkommnissen gähnt und auch ein Wort wie ›Schnee‹ allererst konstituiert.«27 Die Rhythmisierung des Gegensatzes von Schwarz und Weiß ist folglich die Dynamisierung des festen Verhältnisses von Vordergrund und Hintergrund.28 Und es ist dieser Vorgang, an dem man die mögliche Verbindungsstelle zwischen einer konservativen Theorie und einer progressiven ästhetischen Praxis in den Rhythmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am ehesten erkennen könnte. Im einen Fall geht es darum, für den gewahrten Vordergrund der organischen Lebensprozesse im Rhythmus einen neuen Hintergrund zu entdecken; die Verlagerung des bisherigen Hintergrunds zum 23 24
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Schmarsow 1905, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 97. Die Polarität zwischen Einzelfarben muss daher von der Polarität zwischen Schwarz und Weiß qualitativ bzw. methodisch getrennt bleiben; vgl. dazu insbesondere Mach 1922, Analyse der Empfindungen, S. 56f. Kandinsky 1926, Punkt und Linie zu Fläche, S. 56f. Auerbach 1924, Tonkunst und bildende Kunst, S. 102. Sonderegger 2000, Ästhetik des Spiels, S. 99. Vgl. weiterführend Sybille Krämer, »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 163. Vgl. zur Assoziation von Schwarz und Weiß mit einer strukturellen Hintergrundfunktion erneut die Ausführungen bei Kandinsky 2004, Geistige in der Kunst, S. 102.
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neuen Vordergrund hingegen kann man als den vielleicht zentralsten »Verschiebebahnhof« der ästhetischen Moderne überhaupt bezeichnen.29 Die stilbildenden Beispiele für diesen Austausch verbinden sich insbesondere in der Malerei als »Schwarzes Quadrat« oder »White Painting« direkt mit dem Gegensatz der Farbextreme, der das »analoge« Medium der notationalen Diskretheit einer musikalischen Partitur annähert und den »Widerspruch eines digitalen Gemäldes«30 möglich macht, indem das Rezept zur Herstellung eines solchen Rahmens der eigentliche Bildinhalt wird (und also dem Kurator der Ausstellung auch nur zugefaxt werden kann). In der Musik ist der Farbgegensatz ebenfalls mit der Verräumlichung der Zeit durch motorisch »harte« Rhythmen auf dem Klavier assoziiert, das als Instrument der weißen und der schwarzen Tasten den Staccato-Klang der kurz angerissenen Töne und Tanzrhythmen repräsentiert. Man kann als kulturskeptische Erklärung allerdings auch auf einen kommerziellen Gegenprozess verweisen, bei dem die Kunstgegenstände immer stärker aus einem Vordergrund konzentrierter Aufmerksamkeit in einen Hintergrund der Klangtapeten und Dauerbeschallung wechseln.31 Das macht dann für die Moderne die Metrumkritik wiederum zwingend, denn das Metrum ist sozusagen die Muzak aller Musik, jener ursprüngliche Hintergrund der traditionellen Ästhetik, der nicht in den Vordergrund gezogen werden kann, sondern auch noch aus dem Hintergrund ausgeschaltet werden soll. Das Dreieck aus Rhizom, Rhythmus und Ritornell stellt sich so dar, dass der Rhythmus sich bei Deleuze, wenn er seine traditionelle strukturelle Hintergrundfunktion behalten möchte, wenigstens terminologisch am vergangenen Jahrhundert der Pferde ausrichten lassen muss: »Vielleicht kann man sagen, daß das melodische Ritornell lediglich eine musikalische Komponente ist, die sich einer anderen, einer rhythmischen Komponente entgegensetzt und sich mit ihr vermengt: dem Galopp. Pferd und Vogel wären dann zwei große Figuren, von denen die eine die andere mit sich führt und beschleunigt, die andere jedoch aus sich selbst entsteht […].«32 Der Wechsel vom Ende des Jahrhunderts der Pferde zum möglichen Ende auch des Jahrhunderts der Rhythmen wird dabei unweigerlich mit der Tatsache konfrontiert, dass die zweite Welle der Rhythmusforschung ihren Anfang historisch ungefähr dort nimmt, wo man ästhetisch den Wechsel von der Moderne zur Postmoderne verorten würde.
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Das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund tritt daher in allen Experimenten zur Wahrnehmung von Bewegung als notwendig diskrete Farbbedingung hervor. Vgl. hierzu insbesondere Goodman 1984, Weisen der Welterzeugung, S. 111f.: »Allgemeiner gesagt ist ein solches kontinuierliches Springen zwischen den verschiedenen Farben an den Kanten ein wesentlicher Bestandteil der Wahrnehmung von realer Bewegung, ungeachtet der Größe, Gestalt und Farbe des betrachteten Objekts«. Christian Spies, »›Nearly White Noise‹. Zum Digitalen in der monochromen Malerei«, in: Schröter/Böhnke 2004, Analog/Digital, S. 319. Vgl. dort auch S. 321 zu Robert Rauschenbergs White Paintings: »Hier tritt der Fall ein, dass zwei faktisch nicht identische Bilder trotzdem per definitionem als identische Realisationen eines zu Grunde gelegten Notationsschemas verstanden werden können«. Vgl. dazu die Definition von Muzak bei Lanza 1995, Elevator Music, S. 3: »For a more clinical definition: mood music shifts music from figure to ground, to encourage peripheral hearing«. Deleuze 1991, Zeit-Bild, S. 126.
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Tatsächlich lässt sich für die umstrittenen Epochenkategorien mithilfe des hier probeweise skizzierten Modells sogar relativ einfach ein rhythmusbezogenes Differenzkriterium formulieren: Die ästhetische Moderne beharrt zumeist noch auf einem »Vorrang des Analogen«, weil das Materialdenken sich auf diese Weise durch »analoge« Ästhetiken zu den »digitalen« Medienvorgaben in Opposition stellen kann. Die Postmoderne dagegen arbeitet mit dem endgültig perfektionierten Gegensatz zwischen »digitalen« Schnittstellen auf der Ebene der Produktion und »analogen« fotorealistischen oder serialisierten Endprodukten auf der Ebene der Perzeption. Der Rhythmus muss daher ästhetisch seine Funktion wechseln (was aber in der verspäteten Theorie noch nicht angekommen zu sein scheint): Die Funktion eines DigitalAnalog-Wandlers, die der Rhythmus in der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts unzweifelhaft einnehmen soll, wird endgültig hinfällig, wenn die digitale Medientechnik diesen Vorgang in sich selbst vollzieht. Also muss der Rhythmus der ästhetischen Störungen und Verstörungen umgekehrt nun die Funktion eines Analog-Digital-Wandlers einnehmen. Eine Kritik des metrisierten Rhythmus als Bekämpfung eines immer noch konventionellen Hintergrunds muss durch eine Kritik des melodisierten Rhythmus als Bekämpfung eines schon wieder konventionellen Vordergrunds abgelöst werden. Dafür müsste die Kontinuität zwischen der »esoterischen« und der »kritischen« Theorieperspektive auf den Rhythmus jedoch endgültig aufgelöst werden. Die Kritik der rhythmischen Vernunft ist abgeschlossen, eine Kritik der algorithmischen Vernunft hat sich ihr anzuschließen (denn bereits etymologisch sind die beiden Begriffe nur scheinbar verwandt, in Wahrheit weit voneinander entfernt). Der Gegensatz von Schwarz und Weiß wurde in den Rhythmusdebatten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch noch in einer weit weniger unschuldigen Weise ausgetragen: »Gegeben sind in den Menschenrassen vier große Gruppen: Weiße, Rote, Gelbe, Schwarze. Die Polarität der Weißen unter schwachem Sonnenlicht und der Schwarzen unter starkem Sonnenlicht ist in den Plus-Minus und Minus-Plus-Phänomenen der Roten und der Gelben durchkreuzt.«33 Die Abschlussthese dieses zusammenfassenden Kapitels lautet somit, dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen jener Form des Denkens in Schwarz-Weiß-Bildern, die durch neue Medientechniken einem Jahrhundert des Rhythmus vorgegeben werden, und jener Form des sprichwörtlichen Schwarz-Weiß-Denkens, das den Rhythmus in diesem Jahrhundert immer wieder auch zur ideologischen Chiffre gemacht hat. Rhythmustheorien des 20. Jahrhunderts beschreiben progressive ästhetische Erfahrungsräume, doch ihre Wurzeln verweisen oft auf relativ enge und reaktionäre philosophische Ausgangsbedingungen. Mit dieser Vermutung sollen an dieser Stelle die Überlegungen zur Funktion des Rhythmus als Denkfigur des 20. Jahrhunderts einigermaßen abrupt abgebrochen werden. Die Darstellung nimmt auf diese Weise auch ein letztes Mal die für den Rhythmus vertretenen Eigenschaften in sich selbst auf: Es gibt eine latente Einseitigkeit, bei der zugunsten immer neuer Thesen eine Synthese verpasst wurde, und eine unnötige 33
Barthel 1928, Spannung und Rhythmus, S. 90.
8 Epilog: Der Rhythmus des Schwarz-Weiß-Zeitalters
Abstraktion, bei der zu häufig mit Neologismen und Oppositionsbildungen gearbeitet wird, vielleicht auch einen gewissen Formalismus, bei dem die konkreten Beispiele gegenüber den verallgemeinerten Behauptungen doch zu kurz kommen. Die üblichen Apologien der akademischen Qualifikationsarbeiten bilden aber nur in sich die hier behauptete zeitlogische Struktur des Rhythmus ab, wonach man zwar einen Anfang gesetzt hat, aber noch nicht zu einem überzeugenden Gesamtbild gekommen ist, sodass weitere Arbeiten zu demselben Thema hochwillkommen bleiben. Alles hat ein Ende, nur der Rhythmus hat keins.
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Personenregister
A Abbate, Carolyn: 14 Abel, Günter: 152 Abramović, Marina: 344 Achtner, Wolfgang: 70 Adam, Barbara: 100, 312 Adorno, Theodor W.: 8, 13, 25, 57, 65, 68, 116, 132, 147, 277, 314 Adriaansen, Robbert-Jan: 31, 193 Afanador, Kathleya: 207 Agmon, Eytan: 10 Albert, Hans: 69 Alburger, Mark: 54 Altenmüller, Eckart: 117 Ammon, Frieder von: 56 Antheil, George: 46 Antliff, Mark: 92, 269, 315 Ash, Mitchell G: 85, 186, 264, 270 Attali, Jacques: 37, 173 Auber, Daniel-François-Esprit: 51 Auerbach, Erich: 20, 254, 331, 338, 360 Auhagen, Wolfgang: 196 Aulich, Werner: 88, 92, 254, 256 Auslander, Philip: 103, 124 Austin, Mary: 228 Awramoff, Dobri: 307 B Bach, Johann Sebastian: 118, 295, 297 Bachelard, Gaston: 69, 193f., 204f., 219
Baier, Gerold: 259 Balke, Friedrich: 27, 199 Bamberger, Jeanne: 41 Bartels, Klaus: 283 Barthel, Ernst: 61, 72, 102, 113, 153, 167, 198, 221, 280, 282, 360 Barthes, Roland: 116, 216, 224, 230 Bartók, Béla: 56, 104 Bates, Mason: 53f. Baudrillard, Jean: 87, 229 Baum, Marie: 278 Baxmann, Inge: 42, 86, 213, 222, 261, 271, 285, 293, 339 Bayreuther, Rainer: 125, 210 Becking, Gustav: 221, 266f., 278, 282, 291, 293-297 Beethoven, Ludwig van: 133, 176, 208, 282, 295, 297 Behringer, Wolfgang: 122 Benary, Peter: 246 Benesch, Hellmuth: 88, 100, 256, 259 Benjamin, Walter: 65f. Benjamin, William E.: 18 Benveniste, Émile: 32ff., 90, 126, 224-228, 235 Benz, Richard: 188 Berendt, Joachim Ernst: 208 Berg, Alban: 214 Bergson, Henri: 23, 80, 123, 138, 142, 222, 247ff., 253, 269, 312-316, 340f., 346ff.
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Die Theorie des Rhythmus Berio, Luciano: 51 Bernstein, Leonard: 175 Besseler, Heinrich: 14 Bethe, Albrecht: 99, 105 Bettini, Maurizio: 26 Bieri, Peter: 94, 219, 314 Billroth, Theodor: 25, 324 Bismarck, Otto von: 282 Blacher, Boris: 175 Blanchot, Maurice: 13, 39 Blankenship, Janelle: 356 Blendinger, Heinrich: 154, 197, 205, 255, 280, 284 Blumenberg, Hans: 7, 172, 283 Blumentrath, Hendrik: 63, 84 Bockelmann, Eske: 28, 170f., 173-176, 179, 182f. Bode, Rudolf: 76, 154f., 193, 242, 255, 260, 278ff., 282ff., 288, 290, 292f., 301ff., 319 Boehe, Ernst: 45, 102 Boehm, Gottfried: 239, 316, 323 Böhme, Hartmut: 252 Boehmer, Konrad: 130, 316 Bohrer, Karl Heinz: 218, 240 Bolton, Ivor: 130 Bolton, Thaddeus L: 9, 17, 99, 119, 187, 268 Bolz, Norbert: 268, 289 Borst, Arno: 309 Boulez, Pierre: 161f., 241, 252f., 336 Bourassa, Lucie: 226 Brandner, Hans: 294 Brandstätter, Ursula: 94, 257, 343, 345 Brandstetter, Gabriele: 85, 134f., 219, 226, 230, 279 Brech, Martha: 48 Brelet, Gisèle: 123, 125, 222ff., 302, 347 Breuer, Stefan: 73, 280 Brotbeck, Roman: 341 Brown, Dan: 171 Bruch, Max: 52 Brüstle, Christa: 93, 157, 220 Bücher, Karl: 24, 28, 66, 86, 134, 177, 187, 203, 207, 278, 298, 307, 358 Bull, Michael: 27
Bürger, Peter: 129 Butler, Mark J.: 233, 302 C Cadenbach, Rainer: 130 Caduff, Corinna: 94, 152 Cage, John: 128ff., 135 Cagniard, Charles: 21 Calvo-Merino, Beatriz: 207 Cameron, Daniel J.: 195 Campbell, Edward: 50, 241, 336 Camus, Albert: 190 Carlé, Martin: 26, 132 Carvalho, Mário Viera de: 40 Caskel, Julian: 36, 48, 52 Cassirer, Ernst: 71, 309, 325 Cehak, Gerd: 289 Chin, Unsuk: 51 Chomsky, Noam: 134 Chua, Daniel K. L.: 161 Clynes, Manfred: 293f. Code, David J.: 161 Coen, Ethan: 27 Coen, Joel: 27 Cohen, John: 100 Comay, Rebecca: 13, 38 Cone, Edward T.: 46 Copland, Aaron: 175 Corbineau-Hoffmann, Angelika: 226 Cornelius, Friedrich: 74, 189, 221, 280f., 286 Cowan, Michael: 112, 210, 259, 356 Cowell, Henry: 161-164, 341 Cramer, Florian: 200 Cramer, Friedrich: 204, 230 Creston, Paul: 174 Csikszentmihalyi, Mihalyi: 206 Cumming, Naomi: 56 Curtis, Robin: 29 D Dadelsen, Hans-Christian: 57 Dahlhaus, Carl: 63, 82, 159f., 172, 283 Dallapiccola, Luigi: 45
Personenregister Danto, Arthur C.: 135 Dartsch, Michael: 136 Debussy, Claude: 50ff., 296 DeFord, Ruth I.: 175 Deleuze, Gilles: 23, 33, 36, 78-81, 104, 142, 198, 201, 203, 214, 216, 220, 227, 229, 236, 238, 240f., 247ff., 251f., 254, 325, 361 Dennett, Daniel: 135 Derrida, Jacques: 95, 139-142, 216f., 223, 227 Desain, Peter: 122 Dessauer-Reiners, Christiane: 238, 317, 330 Dewey, John: 228 Didi-Huberman, Georges: 227 Dittmann, Lorenz: 38, 317 Doğantan-Dack, Mine: 108 Dohrn-van Rossum, Gerhard: 173, 312 Dorner, Leo: 282 Drost, Willy: 96, 239, 319, 321, 359 Duchamp, Marcel: 135, 146, 358 Düchting, Hajo: 92, 316f., 330 Dumesnil, René: 173 Durie, Robin: 211, 227 Dürr, Walther: 123 Dux, Günter: 66, 99, 170 E Ebeling, Martin: 204 Ebhardt, Kurt: 232 Eckermann, Johann Peter: 282 Eco, Umberto: 50, 133f., 142, 202, 340 Edler, Arnfried: 51 Eggers, Katrin: 83 Ehrenfels, Christian von: 269, 272, 275, 291, 319 Einstein, Albert: 312, 338 Eisler, Hanns: 39 Elias, Norbert: 312, 334 Elster, Jon: 30, 142 Engel, Gerhard: 165 Engelhardt, Wolf von: 330 Engell, Lorenz: 210 Epstein, David: 123
Ernst, Wolfgang: 166, 172 Ettlinger, Max: 19, 102, 277, 300, 329 F Fährmann, K. Emil: 304 Fauser, Annegret: 15 Feldbauer, Peter: 105 Ferber, Rafael: 242f., 248f. Feyerabend, Paul: 243, 305 Fink, Robert: 54 Fischer, Hanns: 61, 282 Fischer-Lichte, Erika: 76f., 202, 344 Fitch, W. Tecumseh: 77, 249 Fliess, Wilhelm: 106, 280, 287, 309 Flik, Gotthilf: 20, 73, 261, 289 Fogelsanger, Allen: 207 Forkel, Johann Nikolaus: 25 Fraisse, Paul: 33, 96f., 189f., 223f., 274 Frank, Manfred: 64, 77, 141 Franke, Elk: 212 Fraser, J. T.: 176 Frey, Dagobert: 326, 336 Frieling, Heinrich: 280, 359 Frisius, Rudolf: 253 Fuller, Loie: 355 Funk, Gerald: 257 G Galilei, Galileo: 144f. Garelli, Jacques: 78, 137, 223f., 346 Garland, Peter: 340 Gebser, Jean: 278 Gehlen, Arnold: 179, 277 Geiger, Friedrich: 166 Gendolla, Peter: 357 George, Stefan: 268 Georgiades, Thrasybulos G.: 32, 173f., 320 Gerischer, Christiane: 106f. Gerstenberg, Walter: 123 Ghattas, Kai Christian: 110, 225, 267, 358 Ghattas, Nadia: 93, 156f., 220 Giesbrecht, Sabine: 42
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Die Theorie des Rhythmus Giese, Fritz: 41, 112f., 155, 286f., 296ff., 356, 358 Gieseler, Walter: 163 Glière, Reinhold: 44f., 52 Glöde, Marc: 29 Gödde, Günter: 182 Goehr, Lydia: 14 Goethe, Johann Wolfgang von: 61, 280-285, 296, 302, 359 Golston, Michael: 96, 98, 188, 268, 286 Goodman, Nelson: 22, 93, 249, 361 Goodman, Steve: 104, 202, 205, 342 Goody, Jack: 170 Gordon, Michael: 54 Gordon, Rae Beth: 355 Gottschewski, Hermann: 137 Göschel, Sebastian: 86 Götte, Ulli: 48 Grahn, Jessica A.: 195, 249 Grant, M. J.: 138, 316 Grauerholz, Hermann: 288 Green, Lucy: 15 Gritten, Anthony: 85 Gronau, Barbara: 156f. Groot, Albert Willem de: 101, 232, 305 Grossbach, Michael: 117 Großmann, Rolf: 127 Grüny, Christian: 8, 59, 138, 174, 213, 217f., 224, 230f., 233ff., 299, 338 Gruß, Melanie: 86 Guattari, Félix: 23, 33, 36, 78-81, 104, 198, 216, 220, 236, 241, 247, 251f. Gubser, Michael: 318 Gumbrecht, Hans Ulrich: 71, 73, 86f., 90, 113f., 169, 208 Günther, Helmut: 288 Gürtler, Alfred: 302 Guzzoni, Ute: 15, 53 H Haarmann, Harald: 63 Haber, Helga de la Motte: 48, 125, 195, 207, 223, 295, 317, 339, 341
Habermas, Jürgen: 189 Haeberlin, Carl: 106, 255, 259, 277, 286 Hager, Werner: 319, 321 Hamacher, Werner: 189 Handel, Stephen: 133 Handschin, Jacques: 82, 134, 172, 184, 299 Hankel, Hermann: 241 Hannon, Erin A.: 175 Hanse, Olivier: 186, 197, 279, 288, 309 Hanslick, Eduard: 95 Harari, Yuval Noah: 183, 280 Harenberg, Michael: 22, 123 Hartmann, Annette: 199, 279 Hasty, Christopher: 136, 231-234, 240, 249, 251, 338, 346, 350 Hauer, Josef Matthias: 113 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 65-68; 71 Heidegger, Martin: 312 Heinitz, Wilhelm: 108, 149f., 271, 297, 300, 311 Heinze, Helmut: 85 Helbling, Hanno: 20, 101 Helmholtz, Hermann von: 16, 35, 53, 203 Henneberg, Gudrun: 92, 118 Henseler, Ute: 316 Herrmann, Fritz: 61 Herzfeld, Gregor: 129, 164, 240 Herzog, Werner: 27 Heusler, Andrea: 32, 115, 267, 283 Hildebrand, Rudolf: 31 Hill, Peter: 160 Hillborg, Anders: 45ff. Hindemith, Paul: 46, 49, 298 Hindrichs, Gunnar: 230, 233f., 249, 313 Hinrichsen, Hans-Joachim: 197 Hinterwaldner, Inge: 202 Hodek, Johannes: 31, 285 Hodges, Donald A.: 89 Hödl, Gerald: 105 Hoesslin, J. K. von: 271 Hofmannsthal, Hugo von: 139 Hofstetter, Eva: 21, 40 Holbein, Ulrich: 52 Holländer, Hans: 324
Personenregister Holmboe, Vagn: 175 Honing, Henkjan: 109 Hönigswald, Richard: 95, 275f. Hörisch, Jochen: 87, 183, 342 Horkheimer, Max:: 13, 25 Hueck, Walter: 61, 154, 197, 280, 286, 312 Huizinga, Johan: 179 Hume, David: 214 Huron, David: 115 Husserl, Edmund: 141f., 247, 269, 316, 346f. I Ingarden, Roman: 138, 321 Ives, Charles: 312 J Jackendoff, Ray: 19, 243f. Jacobs, Rüdiger: 64 Jaeger, Werner: 30, 284 Jakobidze-Gitman, Alexander: 252 Jankélévitch, Vladimir: 52f. Janz, Tobias: 166, 231 Jaques-Dalcroze, Émile: 62, 193, 223, 278, 293, 300, 329 Jewanski, Jörg: 92, 316f. Jezek, Magdalena Maria: 122 John, Eckhard: 288 Johnson, Mark: 94 Jordan, Stephanie: 193, 302 Jourdain, Robert: 41, 123, 172 Joyce, James: 50 Just, Wolfgang: 134 K Kafka, Franz: 29 Kahn, Douglas: 46, 339, 341 Kalveram, Karl Theodor: 264 Kandinsky, Wassily: 215, 237ff., 317, 335, 339f., 355, 359f. Kant, Immanuel: 82, 168, 312 Kastner, Georges: 51 Kauffmann, Hans: 322ff., 328f.
Keazor, Henry: 144 Keil, Werner: 21, 316 Keilberth, Thomas: 42 Kepler, Johannes: 21 Kerckhove, Derrick de: 172, 226, 326 Kern, Stephen: 290, 315 Keyserling, Hermann: 73, 154 King, Elaine: 85 Kinski, Klaus: 27 Kittler, Friedrich: 21, 25f., 52, 66, 68, 127, 151f., 173, 196, 213, 230, 264, 268, 281, 337, 345 Klages, Ludwig: 18, 23, 29, 31f., 35f., 59-62, 64, 72, 101, 107, 124, 129, 140, 143-147, 151, 155, 175, 192, 229, 242, 254-261, 268, 270, 278, 282-287, 330 Klar, Gustav: 308 Klee, Paul: 196, 237f., 317, 329f., 336 Klinger, Cornelia: 146, 280 Koch, Bernhard: 155, 177, 279, 307, 322 Koffka, Kurt: 124f., 355 Köller, Wilhelm: 219 Kracauer, Siegfried: 168, 230, 276, 285, 289 Kraft, Heinrich: 242 Kramer, Jonathan D.: 125 Kramer, Lawrence: 51, 82 Krämer, Sybille: 180, 309, 360 Kreidler, Johannes: 136 Kreiner, Artur: 150, 265 Krenek, Ernst: 46, 49 Kristeva, Julia: 126, 337 Krueger, Felix: 93 Kugler, Michael: 62 Kuhlmann, Jürgen: 188 Kuhn, Rudolf: 320f., 324, 329, 334 Kuhn, Thomas: 270 Kunz, Stefan: 70 Kunze, Max: 41 Kurth, Ernst: 270, 291f., 294, 299, 325 Kurz, Gerhard: 99
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Die Theorie des Rhythmus L Laban, Rudolf von: 335 Lacan, Jacques: 115 Lakoff, George: 94 Lamm, Theodor: 18, 107f., 149 Landes, David S: 210 Lang, Bernhard: 214 Langelüddeke, Albrecht: 77, 106f., 155, 264, 311 Langer, Susanne K.: 69 Langgaard, Rued: 331 Langner, Jörg: 126 Lanza, Joseph: 127, 361 Latour, Bruno: 148 Lauf, Vera: 86 Laum, Bernhard: 181 Leemans, E.A.: 34 Lefebvre, Henri: 20, 74, 181, 206, 222 Lehmann, Andreas C.: 131 Lehmann, Harry: 136 Lehners, Jean-Paul: 105 Leibold, Rudolf: 264, 276 Leichtentritt, Hugo: 303 Leifeld, Denis: 84, 345 Leonhardmair, Teresa: 291 Lepenies, Wolf: 224 Leppert, Richard: 27 Lerdahl, Fred: 19, 243f. Leroi-Gourhan, André: 180 Lethen, Helmut: 178, 284 Lévi-Strauss, Claude: 33, 180 Levitz, Tamara: 161 Lewin, David: 309 Lidov, Daviv: 118, 311 Ligeti, György: 46, 245f., 253 Ligeti, Paul: 112, 189, 195 Lindmayr-Brandl, Andrea: 131 Linke, Ulrich: 117 Lipps, Theodor: 203 Lissa, Zofia: 119 Lohmann, Johannes: 182 London, Justin: 30, 57, 92, 111, 119, 194, 233, 244 Lubkoll, Christine: 30, 74f., 91, 343, 347
Luccio, Riccardo: 124, 185 Lucier, Alvin: 49, 200f. Luckner, Andreas: 71f., 96, 247, 312 Luhmann, Niklas: 30, 70, 117, 135, 183 Lussy, Mathis: 178, 222, 327 Lütteken, Laurenz: 312 M Mach, Ernst: 110, 312, 360 Mahler, Gustav: 133 Mahnkopf, Claus-Steffen: 128, 136, 214 Mahrenholz, Simone: 82, 137, 203, 208f., 287, 326 Maldiney, Henri: 225, 235, 253 Marbe, Karl: 266 Marcus, Rachel J.: 126 Marek, Roman: 210 Marey, Étienne-Jules: 357f. Margulis, Elizabeth Hellmuth: 115, 117, 207 Martin, Felix: 169 Massenkeil, Günther: 326 Matala de Mazza, Ethel: 252, 357 Mathy, Dietrich: 81 Mattenklott, Gert: 257 Maur, Karin von: 50, 317, 336 McArthur, Victoria: 131 McDonald, Matthew: 163 McLuhan, Marshall: 133, 173, 178 McNeill, William H.: 28, 179, 223, 289 McTaggart, John: 313f. Mende, Wolfgang: 284 Mendel, Gregor: 287 Mendelssohn, Felix: 297, 349 Menke, Christoph : 290 Menninghaus, Winfried: 65 Mensger, Ariane: 147 Merchant, Hugo: 249 Mersch, Dieter: 219, 344 Mersmann, Hans: 20 Mertens, Wim: 214 Meschonnic, Heni: 79f., 180, 225f., 228 Messiaen, Olivier: 104, 118, 174, 245, 325 Meumann, Ernst: 9, 18, 125, 187, 264, 319
Personenregister Meyer, Anja: 358 Meyer, Leonard B.: 272 Meyerbeer, Giacomo: 297 Michels, Ulrich: 43 Michon, Pascal: 78, 179ff., 185, 204, 280, 290 Middleton, Richard: 116 Mirka, Danuta: 233 Mithen, Steven: 181 Möbius, Hanno: 139 Moelants, Dirk: 109 Monelle, Raymond: 139 Monod, Jacques: 143 Morel, Jean: 302 Morgan, Robert P.: 325 Mozart, Wolfgang Amadeus: 295, 298 Müller-Sievers, Helmut: 67, 71 N Nancarrow, Conlon: 341 Nanni, Matteo: 213, 224 Narmour, Eugene: 117, 273 Needham, Paul: 145 Neef, Sonja: 146 Nettheim, Nigel: 293 Neubauer, John: 223, 339 Neuhoff, Hans: 213 Neumann, Friedrich: 282 Neumann, Michael: 84 Niblock, Phill: 48 Niebisch, Arndt: 29 Nietzsche, Friedrich: 43, 169, 297 Norden, Eduard: 192 Nørgård, Per: 244f., 350-353 North, Michael: 170 Nyman, Michael: 302 O Obert, Simon: 116, 133 Oelkers, Jürgen: 288 Olds, William: 194 Ong, Walter J.: 132
P Palágyi, Melchior: 242 Panofsky, Erwin: 31, 102, 321ff., 336 Parncutt, Richard: 172, 194 Pascha, Khaled Sascha: 191, 318 Pastille, William: 198 Pater, Walter: 338 Pauen, Michael: 257 Paulssen, B.: 23, 265, 306 Perceau, Sylvie: 51 Petersen, Carl: 43 Petersen, Eugen: 30, 32f., 319, 322f. Petersen, Peter: 250, 296 Pfitzner, Hans: 42 Pfleiderer, Martin: 108 Pieper, Jan: 322 Platz, Friedrich: 300 Plessner, Helmuth: 61, 105, 182, 270, 359 Poe, Edgar Allan: 62 Polak, Rainer: 109 Pollack, Heinz: 279 Pound, Ezra: 268 Potter, Keith: 55 Powell, Larson: 115, 213, 215 Prieberg, Fred K.: 48 Primavesi, Patrick: 209, 287, 345 Prinzhorn, Hans: 319 Proust, Marcel: 240 Pucci, Pietro: 13 Pütz, Ulrich: 228 R Raab, Ludwig: 149 Rabinbach, Anson: 150, 190, 268, 342, 358 Rachewiltz, Siegfried de: 21, 38, 43 Raulff, Ulrich: 357 Rauschenberg, Robert: 361 Reich, Steve: 55ff. Rehding, Alexander: 14, 16, 21 Reinfeld, Tim: 213 Repp, Bruno H.: 126, 131, 266, 293, 338 Reutter, Hermann: 45 Richter, Hans: 92
403
404
Die Theorie des Rhythmus Richter, Thomas: 260 Ricoeur, Paul: 93 Rieger, Stefan: 20, 84, 110, 150, 188, 199, 263, 266, 268, 282, 294 Riegl, Alois: 181, 318, 320f., 328 Riemann, Hugo: 124, 126, 196, 198, 223, 291, 301, 304 Rietbrock, Bernhard: 201 Riethmüller, Albrecht: 25, 52, 134 Ring, Thomas: 61, 106, 186 Risi, Clemens: 17, 93, 157f., 220, 346 Roch, Eckhard: 26 Rohrmeier, Martin: 249 Rosa, Hartmut: 280 Rose, Kenneth Jon: 105, 259 Roselt, Jens: 240 Rosenberg, Alfred: 287 Röser, Claudia: 84, 229 Rosner, Burton S.: 272 Rothacker, Erich: 99 Rothärmel, Marion: 271, 316 Röthig, Peter: 73, 88, 98f., 110, 254, 261, 273 Rousseau, Jean-Jacques: 139f., 223 Rowell, Lewis: 32 Rück, Peter: 106 Ruckmich, Christian A.: 89, 93 Russack, Hans Hermann: 186, 327 Russell, Bertrand: 314 S Sachs, Curt: 251 Sachsenberg, Ewald: 115 Said, Edward W: 215 Sallwürk, Edmund von: 192, 278, 310 Salmen, Walter: 15, 43 Samuel, Claude: 118 Sander, Friedrich: 137, 265, 274, 328f. Sanio, Sabine: 54, 331 Santos, Pinheiro dos: 205 Sarasin, Philipp: 192, 199, 268 Saxer, Marion: 128 Schadler, Friedrich: 299 Scheltema, F. Adama van: 35
Schenker, Heinrich: 18, 190, 198 Scherchen, Hermann: 49 Scherer, Wilhelm: 31 Scherer, Wolfgang: 196 Schiller, Friedrich: 284f., 296 Schmarsow, August: 19, 38, 61, 98, 238, 318, 320f., 323, 331, 360 Schmidgen, Henning: 356 Schmidt, Erich M.: 19, 35, 107ff., 148f., 273 Schmidt, Steffen A.: 53, 123, 126f., 295, 297, 308 Schmidt, Ulf: 86 Schmidt-Biggemann, Wilhelm: 83, 236 Schmitt, Carl: 36, 171 Schmitt, Jean-Claude: 92, 215 Schnebel, Dieter: 52 Scholz, Dieter David: 130 Schönberg, Arnold: 160, 223, 307 Schopenhauer, Arthur: 70 Schouten, Sabine: 93, 156f., 220 Schrade, Leo: 117 Schroeder, Otto: 34 Schröter, Jens: 121 Schrumpf, Anita-Mathilde: 84, 226 Schulze, Gerhard: 24 Schuppli, Madeleine: 103, 136 Schürmann, Volker: 104 Schwartz, Hillel: 147 Schwarz, Anja: 27, 84 Seashore, Carl E.: 108, 259 Seckel, Dietrich: 150, 188, 296 Sedlmayr, Hans: 187, 230 Seidel, Wilhelm: 9, 32, 118, 122f., 163, 173, 198, 213, 292, 311 Seitter, Walter: 337 Sennett, Richard: 278, 289 Shove, Patrick: 266, 293, 338 Siegert, Bernhard: 27, 36, 121, 166, 172, 199, 241, 268, 346 Sievers, Eduard: 178, 266-269, 278, 282, 295 Simmel, Georg: 19, 166ff., 170f., 181, 324 Simonis, Annett: 85, 187, 266 Slatkin, Leonard: 302 Sloboda, John A.: 149
Personenregister Sloterdijk, Peter: 63f., 66, 117, 139, 208 Smith, Barry: 275 Smith, Margaret Keiver: 95, 124, 207, 264f. Snyder, Bob: 63 Sohn-Rethel, Alfred: 182 Sonderegger, Ruth: 91, 210, 360 Sonnenschein, Edward A.: 77, 324 Spengler, Oswald: 176, 178, 195, 256, 284, 312, 356 Spies, Christian: 361 Spina, Luigi: 26 Spintge, Ralph: 41 Spitzer, Manfred: 172 Spitzer, Michael: 25, 83, 95, 111, 196, 199 Spitznagel, Albert: 89, 185, 189 Stahl, Andreas: 97 Stefani, Gino: 75 Steglich, Rudolf : 61, 267, 283 Steinhauer, Fabian: 146 Stenzl, Jürg: 111 Sterne, Jonathan: 132 Stockhausen, Karlheinz: 116, 136, 162, 209 Stollberg, Arne: 294 Stooss, Toni: 317 Strawinsky, Igor: 84, 111, 159-163, 222f., 315 Strickland, Edward: 128 Stumpf, Carl: 25, 132, 203, 264, 298f., 311 Süß, Dietmar: 42 Swindle, P.F.: 155, 306 Szamosi, Géza: 173 T Temperley, David: 111, 158 Tenigl, Franz: 61 Tenney, James: 331 Thalmann, Max: 359 Thaut, Michael H.: 109, 203 Theremin, Leon: 341 Theunissen, Michael: 88, 358 Theweleit, Klaus: 290 Thomas, Downing A.: 139 Thorau, Christan: 93, 95 Tischer, Matthias: 122
Tönnies, Ferdinand: 182, 255, 278, 285 Toorn, Pieter C. van den: 160 Toynbee, Arnold J.: 113, 284 Trabant, Jürgen: 76, 140, 223, 225 Trainor, Laurel J.: 249 Tramsen, Eckhard: 292 Trawny, Peter: 280 Trehub, Sandra E.: 175 Trier, Jost: 30f., 89, 99, 101 Truffaut, François: 27 Truslit, Alexander: 266, 294 Türcke, Christoph: 34, 143, 146, 168, 170, 177, 183 Turino, Thomas: 14 U Ullrich, Wolfgang: 148, 326 Utz, Christian: 114 Utz, Peter: 40 V Vaihinger, Hans: 167, 250f., 308 Valéry, Paul: 92f. Varèse, Edgard: 48, 52, 312 Vasold, Georg: 186, 318 Velminski, Wladimir: 248 Vergo, Peter: 317, 340 Verwey, Albert: 62 Vogl, Joseph: 27, 199 Voß, G. Günter: 308 W Wagner, Julia: 255 Wagner, Richard: 45, 122, 297 Waldenfels, Bernhard: 11, 20, 69, 75, 87, 138, 157, 191, 215, 218 Wallaschek, Richard: 131, 177f. Walter, Hans: 37 Walter, Thomas: 70 Waltershausen, Hermann Wolfgang von: 200 Warhol, Andy: 214
405
406
Die Theorie des Rhythmus Warnke, Martin: 290 Weber, Carl Maria von: 42, 133 Webern, Anton: 133 Weicker, Georg: 37, 42 Weill, Kurt: 298 Weininger, Otto: 280 Weiß, Cornelia: 308 Weissmann, Adolf: 297 Weithase, Irmgard: 83, 99 Weizsäcker, Viktor von: 269, 274 Welch, Graham F.: 41 Wellek, Albert: 265, 356 Wellershof, Dieter: 27 Wellmer, Albrecht: 39 Welsch, Wolfgang: 74, 90f. Welsh, Caroline: 53 Wendorff, Rudolf : 53 Wenzel, Horst: 238 Werner, Heinz: 91, 97f., 124, 179, 275, 284, 305, 327f. Wertheimer, Max: 19, 274f. Westerkamp, Alix: 278 Wiedmann, August K.: 193 Wiehmayer, Theodor: 108 Wieser, Roda: 37, 147, 155 Wildgruber, Gerald: 34, 53 Williams, Alastair: 214 Williams, Raymond: 209 Wilson, Peter Niklas: 54 Windsor, Luke: 122 Winkler, Herbert: 115, 207 Wittgenstein, Ludwig: 219 Woitas, Monika: 199 Wolf. Ernst: 33, 35, 38 Wolf, Werner: 51 Wolff, Erich: 43 Wolff, Hellmuth Christian: 188, 198, 288f., 298 Wölfflin, Heinrich: 321, 326 Wunderlich, Werner: 39 Wundt, Wilhelm: 93, 179, 276
Y Yeston, Maury: 18 Young, La Monte: 55 Z Zaminer, Frieder: 174 Zeller, Hans Rudolf: 52 Zenck, Martin: 227 Zender, Hans: 52 Ziehen, Theodor: 18, 256 Zimmermann, Anja: 189 Zimmermann, Bernd Alois: 316 Zirfas, Jörg: 182 Zuckerkandl, Victor: 346-350 Zug, Beatrix: 318, 320, 322
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