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German Pages 356 Year 1990
GERHARD MÜLLER
Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland
Soziale Orientierung Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach
In Verbindung mit
Karl Forster · Hans Maier · Rudolf Morsey herausgegeben von
Anton Rauscher
Band 6
Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland Rechtliche und ethische Grundlagen
Von
Gerhard Müller
Duncker & Humblot · Berlin
Redaktion: Günter Baadte
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Müller, Gerhard: Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland: rechtliche und ethische Grundlagen I von Gerhard Müller. Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Soziale Orientierung; Bd. 6) ISBN 3-428-06887-4 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-6917 ISBN 3-428-06887-4
Vorwort Gegenstand der Ethik ist das sittlich richtige Verhalten des Menschen. Um hierzu eine Aussage machen zu können, ist es erforderlich, das Sein des Menschen zu erfassen, das, was ihn als Menschen konstituiert. Dieses Sein ist durch bestimmte Grundgegebenheiten gekennzeichnet. Nur wenn sie vorliegen, kann man von einem Menschen reden. Die Arbeit muß versuchen, diese Grundgegebenheiten zu skizzieren, mag in ihrem Rahmen eine vertiefte Darlegung auch nicht möglich sein. Zu den Seins-Bedingungen des Menschen gehört, daß er in der Geschichte lebt und von ihr beeinflußt wird. Insofern ist er ein geschichtliches Wesen. Darüber darf aber unter keinen Umständen das, was jederzeit und an allen Orten schlechthin zum Menschsein gehört, außer acht gelassen werden. Für die Ethik stellt sich die Frage, welche Antworten jeweils auf konkrete geschichtliche Strömungen zu geben sind. Es ist zu fragen, was notwendig anzuerkennen ist, was anerkannt oder doch hingenommen werden kann und was verworfen werden muß. Da der Mensch eine einheitliche Größe ist, treten gegenüber seiner geschichtlichen Seite seine bleibenden Konstituanten nicht rein in Erscheinung. Sie verlangen unbedingte Anerkennung, jedoch hat ihre Beachtung bei aller Respektierung ihres bleibenden Inhaltes im gegebenen Falle in je verschiedener Weise zu erfolgen. Das Problem wird im Gange der Arbeit an einer Stelle näher angesprochen. Der Mensch lebt zusammen mit anderen Menschen. Dies ist ein für die Ethik bedeutsamer Sachverhalt; es geht um das Verhalten des Menschen zu seinen Mitmenschen. Die ethisch zutreffenden Antworten zu geben, setzt die Beantwortung der Frage voraus, ob der Mensch in seinem menschlichen Sein ein Einzelwesen ist, das lediglich neben den anderen Angehörigen des Menschengeschlechtes lebt, oder ob er unerläßlich auf das Zusammenleben mit ihnen hingeordnet ist, ob also die soziale Seite zu seinen Grundgegebenheiten zählt. Nur wenn dies zu bejahen ist, läßt sich von einer Sozialethik sprechen. Da die Ethik nach den Konstituanten des Menschseins fragen muß, wenn sie eine Antwort zum Verhalten des Menschen geben soll, stellt sie die Frage nach dem Wesen des Menschen. Sie ist eine Frage nach der Wahrheit. Es ist ein Sinngehalt aufzuschließen. Das Richtige zu erkennen, bedeutet einen Wert erkennen. Ethische Erörterungen wären unvollständig, wenn nicht auch Gefährdungen des ethischen Verhaltens zur Sprache gebracht würden. Auf derartige
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Vorwort
Faktizitäten einzugehen, ist für die Erfassung der ethischen Situation unerläßlich. Es kann so auch ein Beitrag zur Verwirklichung der Ethik geleistet werden. Die Tarifautonomie ist eine Institution der Rechtsordnung. Sich mit ihrer Ethik zu befassen, heißt folglich, daß eine Komplexität von Recht und Ethik zu behandeln ist. Dabei wird das Recht einmal als das rein faktische Dasein von Rechtsprinzipien und Rechtssätzen verstanden. Zugleich und vor allem ist nach der ethischen Qualität der Tarifautonomie zu fragen. Deswegen ist es nicht angängig, die Tarifautonomie auf dem Hintergrund des Rechts als eines bloßen Faktums zu behandeln. Das Recht und die ethische Frage sind miteinander verwoben. Der Sollenscharakter der Rechtsordnung ist entschieden zu sehen. Verständlich kann eine Beziehung zwischen dem Recht und der Tarifautonomie vor allem am Beispiel eines konkreten tarifrechtliehen Systems vorgestellt werden. Für den Verfasser kommt dasjenige der Bundesrepublik Deutschland in Frage, wie dies auch im Thema der Untersuchung zum Ausdruck kommt. Die Ethik der Tarifautonomie in vergleichender Sicht zu erörtern, ist ihm nicht möglich; er kennt die ausländischen Rechtsordnungen nicht hinreichend genug. Zudem würde ein derartiges Vorgehen die Arbeit übermäßig anschwellen lassen. Wenn sich ergeben sollte, daß das deutsche Recht mehr oder weniger von der Ethik getragen ist, heißt das jedoch nicht, diese Regelungen seien die ethisch allein vertretbaren. Erscheinungen, die in der Geschichte auftreten, können ohne weiteres an dem einen Ort von anderen Umständen beeinflußt sein als an einem anderen Ort. Es könnte sogar sein, daß sie keineswegs durchgängig vorhanden sind, selbst wenn die näheren Voraussetzungen für ihr Dasein vorliegen; jedenfalls kann ihre Gestalt verschiedene Formen haben. Sätze der Ethik können einen detaillierten Inhalt haben. Sehr oft handelt es sich bei ihnen aber um Maximen, die im Recht in verschiedener Weise, und zwar sogar unabhängig von den geschichtlichen und räumlichen Umständen, rechtlich ausformuliert werden. Zu beachten ist nur, daß Rechtsnormen, die keine ethische Grundlage haben, der inneren Autorität entbehren und daß die letzten ethischen Maximen als Maximen unwandelbar bindend sind. Es ist ferner denkbar, daß ethische Gesichtspunkte im Recht nicht erscheinen, ohne daß die rechtliche Institution unethisch wäre oder einenunethischen Aspekt hätte. Die verschiedenen Möglichkeiten der Ethik können sich im gegebenen Fall sogar gegenseitig ausschließen. Insoweit findet sich in der Ethik - und im Recht - ein volitives Moment vor. Je nach dem Gewicht, das wegen des einen oder anderen Gesichtspunktes die Entscheidung bestimmt und ethisch legitim bestimmen kann, kommt es zu verschiedenen rechtlichen Ergebnissen. Der menschliche Verstand ist nicht in der Lage, in allem und jedem eine unabdingbare Rangstufe der Möglichkeiten zu ermitteln. Allerdings dürfen niemals jene Grenzen überschritten werden, hinter denen das sittlich Verwerfliche
Vorwort
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liegt. Ist die Entscheidung für eine der möglichen rechtlichen Regelungen einmal getroffen, ist es aber ein Gebot der Ethik, daß sie im Interesse der Rechtssicherheit anerkannt werden muß. Die Arbeit ist ein Versuch. Ob er gelungen ist, hat der Verfasser nicht zu beurteilen. Entscheidend ist, wenn überhaupt die Notwendigkeit der Beziehung zwischen Ethik und Recht aufgewiesen worden ist. Dies kann vielleicht an dem Beispiel einer einzigen Rechtsinstitution besonders gut dargetan werden, vorausgesetzt, daß eine Betrachtung der Institution in der Gesamtheit ihrer Bezüge erfolgt. Ausschließlich soziologische Darstellungen sind fehl am Platze. Hinter den soziologischen Größen befindet sich eine höhere Wirklichkeit. Die Soziologie ist eine Faktenwissenschaft. Ihre daher gleichsam naturwissenschaftliche Methode darf nicht vergessen lassen, daß weitere Problembereiche vorliegen können und vorliegen, an die mit einer ihnen angemessenen Denkweise heranzugehen ist. Einige Gedanken werden in der Arbeit mit anderen Nuancierungen wiederholt. Es erfolgen Zwischenzusammenfassungen und zum Schluß eine grundsätzliche Zusammenfassung. Diese Wiederholungen sollen einige Male Licht auf Umstände werfen, die im Zusammenhang mit dem Inhalt der Wiederholung stehen oder aber bereits vorher Gesagtes in seiner Tragweite mit entsprechenden Ausführungen zusätzlich klarstellen. Das gilt insbesondere für die Schlußzusammenfassung. Dieser letzte Teil der Arbeit bringt nach der Meinung des Verfassers ferner wichtige sozialethische Abrundungen. Der Apparat enthält verschiedentlich Ausführungen, die im Zusammenhang mit Überlegungen im Hauptteil der Arbeit stehen. Sie dort zu bringen, hätte jedoch den Fluß der Gedanken unterbrochen. Zitiert werden vor allem Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts. Sodann werden zwei führende Großkommentare zitiert. Auf weiteres Schrifttum ist ebenfalls Bezug genommen. Aussagen in einzelnen Aufsätzen sind wegen ihrer sachlichen Bedeutung oder in der Auseinandersetzung mit den dort vertretenen Gedanken angeführt. Das einschlägige Schrifttum in seiner Gesamtheit zu erfassen, war dem Autor nicht möglich. Es wurde im übrigen auch nur bis zu einem Veröffentlichungsdatum in den ersten Monaten 1988 herangezogen. Die Arbeit war Anfang Juli 1988 im ersten Durchgang abgeschlossen. Für den Verfasser war es geboten, eine am 6. September 1988 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte Schrift zur gesetzlichen Regelung kollektiver Arbeitskonflikte bei seiner Behandlung des Arbeitskampfrechtes verschiedentlich näher zu berücksichtigen. Bei der Darstellung des Betriebsverfassungsrechtes hat er die Mitte November 1988 unomittelbar vor der parlamentarischen Behandlung und Verabschiedung stehende gesetzliche Regelung der Sprecherausschüsse der Leitenden Angestellten angesprochen. Es ließen sich schließlich
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Vorwort
auch noch einige später erfolgte beachtliche Anregungen für die Arbeit verwerten. Der Verfasser hat Professor Dr. Anton Rauscher, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Augsburg, zu danken. Er hat die Anregung zu der Arbeit gegeben. Vor allem dankt er seinem engsten Mitarbeiter, seiner Frau Maria. Ihr Verständnis für die Probleme, ihre kritischen Überlegungen, ihre Gewissenhaftigkeit und ihr Fleiß haben in den Darlegungen ihren Niederschlag gefunden. Kassel, im November 1988
Gerhard Müller
Inhaltsverzeichnis Kapitel I Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie und ihre Entfaltung
19
1. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland als Ausgangs- und Be-
zugspunkt
......................... .......
19
2. Der Bestands- und Betätigungsschutz des Koalitionswesens
19
3. Die autonome Betätigung der Koalitionen . . . . . . . . . . .
20
4. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen als Bezugsgrößen des Koalitionsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
5. Die Interessenverfolgung der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen in ihrem Verhältnis zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
6. Die TV-Autonomie als Ergebnis
22
7. Die arbeitsteilige Wirtschaftsordnung als Voraussetzung der TV-Autonomie
23
8. DieSachnahen als Träger der TV-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
9. Geistige Grundlagen und ordnungspolitische Bedeutung der TV-Autonomie
23
24
10. Wichtige Rechtsregelungen . . . .. . . .. .. .. . Kapitel II Die Interessenverfolgung seitens der Koalitionen
25
1. Die Bedeutung der Interessenwahrung und der Interessenbildung allgemein a) Der der TV-Autonomie zugrunde liegende Ausgangsgedanke
25
. . .. . . .
25
b) Die ethische Berechtigung und Notwendigkeit der Interessenverfolgung durch den Einzelnen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
c) Der Begriff des Interesses. Das volitive Moment bei der Bestimmung der Interessen. Die Gefahr unethischen Verhaltens . . . .... . . . .
29
d) Die Sicht der Rechtsordnung
30
e) Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen
31
f) Folgerungen hinsichtlich der Rechtsordnung
33
g) Weder strenger Individualismus noch strenger Kollektivismus
34 35
h) Die Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . ......... .
10
Inhaltsverzeichnis
2. Der Interessenbereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ..... .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Arbeitsbedingungen
............
. . ...... ... . . . .. .
b) Die Wirtschaftsbedingungen . . . . . . . . . . c) Zusammenfallen von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ... . d) Keine nähere Bestimmung der verfolgbaren Interessen, aber kein absoluter Freiraum der Verbände . .......... .. .. . . . . . . . . . . . . .. . 3. Die Angehörigen des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Ihre Bedeutung, ihre Stellung, ihre allgemeine Bindung ... . .. . . . . .... . . . ... . a) "Jedermann" und "alle Berufe" im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG .... . . b) Die arbeitsteilige Wirtschaft als Grundlage und Voraussetzung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Stellung ...... .. . .......... .. . . . .
37 37
38 39
40 40 40 42
c) Das Unternehmen als Personalverbund, das Eigentum im Unternehmen, Aufgaben der Unternehmer einschließlich ihrer treuhändensehen Verpflichtung, treuhändensehe Seite der Arbeitnehmerstellung .. .. ... .
43
d) Personengerechte Stellung der Arbeitnehmer ... ......... . . ... .
48
4. Die Berufsfreiheit und die durch den Beruf erfolgende Bindung des Unternehmers/ Arbeitgebers und des Arbeitnehmers . .. .......... .. ... . b) Die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers .. .. . .. . .. . . .. ... .
48 48 49
c) Zwänge beim Beruf des Unternehmers/Arbeitgebers ....... . d) Vertiefung des treuhänderischen Aspektes des Unternehmens . .
50 52
e) Ergebnis für die Interessenverfolgung beider Seiten des Arbeits- und Wirtschaftslebens ......... . ........... . ........... .. ... .
53
f) Die Frage der Abgrenzung bei einer Kollision zwischen Gemeinbelangen und berechtigten Einzelinteressen .. . ..... . . ..... . ... .
53
a) Die Berufsfreiheit des Unternehmers/ Arbeitgebers ........ .. ... .
5. Keine Abschaffung des Arbeitsverhältnisses ... .
54
6. Die Interessensituation der Arbeitnehmer und Unternehmer/Arbeitgeber . .
55
a) Die Tatsache divergierender Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber/Unternehmer und der Grund hierfür . . . . . . . . . . . . . . . .
55
b) Die spezifischen Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer . . .
57
7. Die Interessenverfolgung in der Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
a) Die frei gebildete Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
b) Die freie Entschließung zum Beitritt, zum Verlassen und zur Bildung neuer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
c) Der Antagonismus der Interessenverfolgung im Arbeits- und Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Inhaltsverzeichnis
11
8. Interessenverfolgung außerhalb des Bereiches der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Illegitime und bedenkliche Ziele in Beispielen
.........
60 61
b) Der Bereich der Sozialversicherungen als legitimer Betätigungsbereich der Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Betätigung im Bereich des kulturellen Lebens u . dgl. . . . . . . . . . . . . .
62 63
d) Entfallen des Charakters als Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen; Gefahr des Totalitarismus . . . . .
64
9. Organisation der Interessenverfolgung bei den Vereinigungen, insbesondere bei den Vereinigungen der Arbeitnehmer . . . . .......
65
a) Die hauptamtlichen Funktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
b) Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute
...................
66
c) Ein Bezug zwischen Betriebsräten/Personalräten und Gewerkschaften . .
67
d) Die Vereinigung des Betriebsratsamtes und der Tätigkeit als gewerkschaftlicher Vertrauensmann in einer Person .............. ..
69
e) Ergebnis für die Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
10. Bei der Interessenverfolgung auftretende ethische Gefahren
..........
71
a) Die insbesondere mit dem institutionalisierten Verbandswesen verbundene Gefahr der Zielüberspannung und der Aufstellung verfehlter Ziele. Ihr ethisches Gewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . ........ ...
71
b) Ein allgemeiner Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die ethische Fragilität der Interessenvereinigungen . . . . . . . . . . . . . .
72 73
d) Die Korrektur überzogener und unethischer Forderungen aufgrund des Geschehens der Tarifauseinandersetzung unter ethischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
e) Die veröffentlichte und die öffentliche Meinung in ihrer Bedeutung für die Korrektur von Tarifforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
f) Die Bedeutung der Mächtigkeit der Verbände im vorliegenden Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......
79
g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
.......
11 . Eine andere Wirtschaftsverfassung?
79
a) Allgemeine Bemerkung . . ...
79
b) Die alternativen Betriebe . . ... . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . ... . aa) Funktionsunfähigkeit alternativer Betriebe und Verwaltungen einschließlich der Gefährdung der Rechtsprechung . . ... .. . . .. . . bb) Die Tatsächlichkeil der Basisdemokratie . . . . . . . . . . . . . .... .
80
cc) Der Gedanke der "herrschaftsfreien Gesellschaft" ...... .. ... . dd) Ergebnis für das Wirtschaftsleben und für die staatliche Ordnung c) Planwirtschaft? aa) Allgemeines
84 84
81 83
85 85
lnhal tsverzeichnis
12
87 88
bb) Ergebnis . . . . . . . cc) Notlagensituationen
89
d) Das Zunftwesen ..... . 12. Zurückdrängen der Zahl der Arbeitnehmer aufgrund der technologischen Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... . ... .
90
13. Zusammenfassung ...... . .. . ...... . . .
91
Kapitel Ill GeseUschaftsrechtliche Größen im Arbeitsverhältnis
93
1. Allgemeines . . . . . . . . .
93
2. Das Individualarbeitsrecht a) Die betriebsbedingte Kündigung
94 94
b) §613aBGB
95
3. Das Betriebsverfassungsrecht
..............................
95
a) Die Bedeutung des Mittragens des Unternehmens durch die Belegschaft und die existentielle Situation ihrer Angehörigen im Falle von Betriebsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
b) Der Sozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
c) Begriff der Betriebseinschränkung i. S. des§ 111 Abs. 1 BetrVG
97
d) Verpflichtung der Belegschaft und ihrer Angehörigen. Die Zentralnorm des Betriebsverfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht als gesellschaftsrechtliche Größe a) Die Gesetzeslage
99 99
b) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 c) Keine Verneinung der Interessenspannungen; Doppelpoligkeit des Betriebsverfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 d) Betriebsrat keine "Gegenmacht" und kein "verlängerter Arm" der Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 e) Ausübung der Mitwirkungskompetenzen des Betriebsrates und der Befugnisse des Arbeitgebers/Unternehmers im Blick auf eine Interessenverfolgung und unter gleichzeitiger Beachtung der Kooperationsmaxime . . . 103 f) Ergebnis . ........... .
103
g) Sprecherausschüsse . .... .
105
5. Arbeitsverhältnis und Gesellschaftsverhältnis in der Sozialphilosophie der katholischen Kirche .... . .. . ... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Inhaltsverzeichnis
13
6. Die Repräsentanz des Arbeitnehmers in Unternehmensorganen . . . . . . .
109
a) Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts und Sichten des Schrifttums . .
110
b) Die Sicht des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
7. Eine Miteignerstellung des Arbeitnehmers im Unternehmen und die Mitbestimmung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Die Beteiligung am Produktiveigentum . . . b) Die Gewinnbeteiligung
.............
c) Die Mitbestimmung am Arbeitsplatz
..... ....
120
.................
121
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
d) TV-Autonomie und Beteiligung am Produktivvermögen, Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Kapitel !V Entwicklung des Gedankens der TV-Autonomie Zusammenfassung
125
Kapitel V Die Tragweite der TV-Autonomie nach einfachem Recht Einzelfragen
129
1. Die Regelungsbereiche der TV-Autonomie nach dem TVG
129 a) Inhalt, Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . 129
b) Betriebliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . .
131
c) Betriebsverfassungsrechtliche Fragen 133 d) Gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Tragweite der Regelungsbereiche
139
3. Bindung der TV-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. ... . 140 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Bindung an die Verfassung und ihre Anerkennung 141 c) Bindung an eine mit Art. 9 Abs. 3 GG erfolgende Aussage 142 d) Bindung an die Grundrechte allgemein ..... . .. . . . . . . . . . . . . . . 146 .. .... ... . e) Bindung an Art. 12 Abs. 1 GG aa) Berufsfreiheit des Unternehmers . . . . . .. . . .. . bb) Berufsfreiheit des Arbeitnehmers ........ . ........ . ... . . cc) Der Zusammenhang der Berufsfreiheit des Unternehmers mit der Berufs- und der Arbeitsplatzwahlfreiheit des Arbeitnehmers . . . . . dd) Ausschluß der Iaboristischen Wirtschaftsordnung bei der Anerkennung der Berufsfreiheit, insbesondere der Berufsfreiheit des Unternehmers und des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 148 155 162 166
Inhaltsverzeichnis
14
f) Der Koalitionspluralismus und die negative KoalitionsfreiheiL Der Solidaritätsbeilrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 g) Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip, Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . 171 h) Das Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Das konkrete Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Die TV-Autonomie und das Gemeinwohl 178 i) Betriebs-Autonomie- TV-Autonomie 184 4. Die Allgemeinverbindlicherklärung
187
a) Allgemeines 187 b) Die umgreifende Wirkung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen. Ihre Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . 190 c) Die Allgemeinverbindlicherklärung und gemeinsame Einrichtungen
. . . 193
d) Geltungsbereich des für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages bei Vorhandensein mehrerer Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 e) Beendigung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 203 f) Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. Der Normencharakter der tarifrechtliehen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Allgemeines
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
b) Rückwirkung von Tarifnormen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
c) Schriftform und Publikation der Tarifverträge 6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen a) Allgemeines
. . . . . . . . . . . . . . . . . 211
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
b) Das Günstigkeilsprinzip .. .... ....... . .... ....... .. . . .. . 214 aa) Günstigkeilsprinzip und Tarifnormen als Höchstbedingungen 214 bb) Die Tragweite des Günstigkeilsprinzips und allgemeine sozialethische Erwägungen in diesem Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Schlußbemerkung ...... . .......... .. ........... . ..... 220 7. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Allgemeines
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
b) Beispiele für schuldrechtliche Beziehungen der TV-Parteien. Im Zusammenhang hiermit stehende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Die Einwirkungspflicht
. . . .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
d) Die Tariferfüllungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 e) Eintreten der Einwirkungs- und Erfüllungspflicht
. . . . . . . . . . . . . . . 229
f) Schriftform der schuldrechtlichen Vereinbarungen? . . . . . . . . . . . . . . 230
15
Inhaltsverzeichnis Kapitel VI Von der TV-Autonomie verlangte Strukturforderungen Notwendige Kennzeichen tariffähiger Koalitionen
1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
a) Das allgemeine Prinzip
232
. . . . . . . . . . . . . . . . 232
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
b) Umfassende Betrachtung der Rechtslage ..... . . . . . . . . . . . . . ... aa) Die Leitenden Angestellten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Chef-Manager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...... . . cc) Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . .
233 233 236 236
c) Die sozialethische Grundlage der Prinzipien der Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 d) Grundsätzliche Einzelfragen zur Gegnerfreiheit
. . . . . . . . . . . . . . . . 239
e) Besondere Fragen zur Gegnerunabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Das Mächtigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 a) Die Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 b) Die sozialethische Grundlage des Mächtigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . 245 c) Das Mächtigkeitserfordernis und der Gedanke der Konfliktgesellschaft . . 248 d) Rechtliches Gewicht des Mächtigkeitspostulates . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Mächtigkeitsgedanke kein bloßes Axiom der TV-Autonomie. Die Notwendigkeit des tatsächlichen Vorliegens der Mächtigkeit und ihre Feststeilbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine Rückwirkung auf die Wirksamkeit der Normenregelungen bei späterem Angriff auf die Tariffähigkeit eines Verbandes wegen fehlender Mächtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wirkung der rechtskräftigen Entscheidung zur Frage der Mächtigkeit für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das Erfordernis der Mächtigkeit bei einem bilateralen Monopol der TV-Parteien . . ..... . ... . . . .. . .. ........... . . . ... e) Die Mächtigkeit und die Unabhängigkeit der TV-Parteien
249
249 253 254 255
. .. . . . . .. 255
f) Aushöhlung der positiven Koalitionsfreiheit durch das Mächtigkeitspostulat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 g) Die Mächtigkeit und die Unabhängigkeit der Koalitionen . . . . . . . . . . 259 h) Die Autorität der Koalitionen gegenüber ihren Angehörigen . . . . . . . . 260 3. Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4. Die Staatsneutralität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
a) Die Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Die Begrenzungder Staatsneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 c) Keine "fördernde Neutralität" des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 d) Die zwei Zielrichtungen der staatlichen Neutralität
. . . . . . . . . . . . . . 267
16
Inhaltsverzeichnis e) Äußerungen von Repräsentanten des Staates und des politischen Lebens 267 während der Tarifverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die öffentliche Meinung
. .. .. .. .. ... .
g) Sozialethische Wertung der Staatsneutralität
268 269
h) Das Neutralitätsprinzip und die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers 271 Kapitel VII Der Arbeitskampf
272
1. Die rechtliche Notwendigkeit und die sozialethische Akzeptanz des Arbeits-
kampfes als Instrument zur Lösung des Tarifkonfliktes bei einer Nicht-Einigung der TV-Parteien ... 1 • • • • . • • • • • • • • • • • . . . . . . . • . . . . • • . . . . • . 272 a) Die Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts. Die gegenüber den einzelnen Möglichkeiten jeweils bestehenden Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Der Arbeitskampf als ein rechtlich wesentlicher und verfassungsrechtlich 274 gewährleisteter Annex der TV-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 276 c) Die sozialethische Bewertung des Arbeitskampfes . . . . . . . . . . . . aa) Die Bedeutung einer Einigung durch die Sachnahen 277 bb) Die Bedeutung der zu regelnden Fragen . . . . . . . . . 277 . . . . . . . . . . . . . . . ... 278 cc) Das Gewicht der Übel . . . dd) Weitere Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 278 279 ee) Die Kampfparität . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Arbeitskampf aa) Tragweite des Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Wesensmerkmal des Rechtsstaats im Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Offensichtlichkeit der Gemeinwohlverletzung als Kriterium eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . dd) Näheres Ergebnis der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf den Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. .. ee) Abschließende zusammenfassende Bemerkungen ff) Keine Tarifzensur .... . . . . . . . . . . . . .
280 280 281 282 282 285 286
2. Der Unternehmensverbund und der Arbeitskampf
287
3. Arbeitskampffreiheit oder Arbeitskampfbefugnis?
288
4. Die Staatsneutralität im Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 a) Unmittelbar am Arbeitskampf Beteiligte und Betroffene. Die Arbeitslosenversicherung mit ihrer besonderen Frage . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Der Teilstreik. Der Arbeitskampf mit Modell- oder Signalcharakter . . . 293 c) Die öffentlich-rechtlichen Leistungen außerhalb des Bereiches der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Inhaltsverzeichnis
17
d) Die Auswirkungen des Arbeitskampfes auf Bereiche, die keine Beziehung zu dem angestrebten Tarifvertrag haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 e) Die Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 5. Die Arbeitskampfmittel a) Allgemeines
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
b) Der Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffsbestimmung und Arten des Streiks . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wahlfreiheit im Einsafz ~erschiedener Streikarten . . . . . . . . .. .. cc) Die Massenänderungskündigung kein Kampfmittel der Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Betriebsbesetzungen und Betriebsblockaden? . . . . . . . . . . . . . . .
297 297 299
c) Die Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Frage der Rechtmäßigkeit der Aussperrung . . . . . . . . . . . . . bb) Alternativen zur Aussperrung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die arbeitgeberseitige Kündigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Allgemeine Bemerkung zu Kündigungen als Arbeitskampfmittel (3) Kein Ersatz der Aussperrung durch "passive" Mittel (4) Rationalisierung anstelle von Aussperrung als arbeitgeberseitige Kampfmaßnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Produktionsverlagerung? (6) Gemeinsame Bemerkung zur Rationalisierung und Verlagerung (7) Keine sonstigen alternativen Kampfmittel der Arbeitgeber cc) Ergebnis: Die Angriffsaussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Abwehraussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Sozialethische Wertung der Aussperrung ... . . . . . . . . . . . . . . .
301 301 301 301 302 303
299 299
304 306 306 306 307 309 310
d) Der Boykott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 aa) Der Boykott als immanenter Bestandteil von Streik und Aussperrung .... . ..... ... . . . . . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . 312 bb) Unzulässigkeit des Boykotts als selbständiges Kampfmittel .. .. . . 313 6. Zum Ausmaß und zur Betroffenheit bei Arbeitskämpfen . . . . . . . . . . . . . 315 a) Der Sympathiearbeitskampf ...... . ... ..... . . . . . . . . . . . . . . 315 b) Die legitim und legal im Arbeitskampf stehenden Angehörigen des Arbeitsund Wirtschaftslebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Nicht-Organisierten ....... . .... . . . . . . . . . . . . ..... bb) Koalitionsangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anders-Organisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316 317 318 319
c) Der öffentliche Dienst und der Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 aa) Die TV-Autonomie und der öffentliche Dienst . . . . . . . . . . .. .. 319 bb) Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
2 G. Müller
Inhaltsverzeichnis
18
7. Rechtspolitische Fragen zum Arbeitskampfrecht
323
8. Das Schlichtungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Die Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Die Frage einer Praktikabilität der Schlichtung aa) Zur tatsächlichen Situation . . . . . . . . . . bb) Praktikable Schlichtungsmöglichkeiten . . cc) Die vereinbarte verbindliche Schlichtung . c) Die Zwangsschlichtung
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327 328 328 329
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
d) Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Kapitel VIII Zusammenfassung und Ergänzung
332
1. Die TV-Autonomie als Schutzeinrichtung und als Ordnungsinstitution. Zu ihrer Bedeutung als ordnungspolitische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 2. Der Gemeinwohlbezug der TV-Autonomie
334
3. Eine europäische TV-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4. Grenzen der TV-Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 5. TV-Autonomie- Betriebsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 6. Das Verhältnis zwischen TV-Autonomie und staatlicher Gesetzgebung
341
7. Neue Technologien und die TV-Autonomie .... ... ......... . .... 343 8. Wirtschaftliche Entwicklung und der Arbeitnehmerbegriff . . . . . . . . . . . . 344 9. Normalarbeitsverhältnis und Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 10. Die demokratische Struktur der Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 11. Das Vorgehen der TV-Parteien . . . . . . . . . . . . . .. .......... . ... 349 12. Der Subsidiaritätsgedanke
350
13. Die Koalitionen: Gesellschaftliche Größen mit öffentlichen Aufgaben und einem öffentlichen Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 14. Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Akzeptanz der TV-Autonomie. Ihre Fragilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Kapitel I
Die rechtliche Grundlage der Tarnautonomie und ihre Entfaltung 1. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland als Ausgangs- und Bezugspunkt
Ausgangs- und rechtlicher Bezugspunkt der Darlegungen in dieser Abhandlung ist die Tarifautonomie (TV-Autonomie), wie &je die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland kennt. Möglicherweise finden sich allerdings in allen Industriestaaten nicht autoritärer und nicht totalitärer Prägung verschiedentlich irgendwie vergleichbare Strukturen oder Strukturelemente vor. 2. Der Bestands- und Betätigungsschutz des Koalitionswesens
Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet die positive -und negative- individuelle KoalitionsfreiheiL Wenn die positive Koalitionsfreiheit sinnvoll sein' soll, ist mit ihr verfassungsrechtlich zugleich die Bestandsgarantie des Koalitionswesens abgesichert. Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist bei seinem Zweck unvollständig und geht sogar ins Leere, wenn nicht auf der gleichen Rechtshöhe das geschützt wird, um dessentwillen diese Freiheit anerkannt ist, nämlich der koalitionäre Zusammenschluß. Die positive Koalitionsfreiheit ist gewährleistet um ihres spezifischen Zieles willen. Begrifflich sind die individuelle positive KoalitionsfreiheJ.t und der Koalitionsschutz zu unterscheiden, sachlich ist, kommt es zur Bildung von Vereinigungen, deren Gewährleistung mit der Gewährleistung einer Koalitionsbildung für den Einzelnen mitgegeben. Das heißt nicht, daß jede konkret bestehende Koalition in ihrem Bestand verfassungsrechtlich absolut abgesichert sei. Dem steht schon die allen Mitgliedern der Koalition zustehende Austrittsfreiheit entgegen sowie die der individuellen Freiheit zur Koalitionsbildung korrespondierende, ebenfalls verfassungsrechtlich anerkannte Freiheit, die Koalition zu beenden. Wenn diejenigen, die das Individualrecht zur Koalitionsgründung besitzen, nicht ebenso das Individualrecht zur Auflösung der Koalition hätten, wären sie mit dem Zusammenschluß zur Koalition von Rechts wegen unwiderruflich auf die so entstandene Vereinigung festgelegt. Die individuelle positive Koalitionsfreiheit ist ein auf Interessenverfolgung durch Zusammenschluß gerichtetes 2*
20
Kap. 1: Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie
Recht; ein "Interessen"-Recht beinhaltet, einschlußweise, aber notwendig, daß man das Interesse ebenso wie das rechtlich geschützte Mittel zu seiner Verfolgung schlechthin wie in seiner konkreten Erscheinungsform (etwa Austritt aus der bisherigen Koalition, um sich einer anderen anzuschließen) aufgeben kann. Der verfassungsrechtliche Schutz des Koalitionswesens als solcher verlangt allerdings in seiner Konsequenz insofern auch die verfassungsrechtliche Bestandsgarantie für die konkrete Koalition, da immer nur über eine konkrete Vereinigung die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erfolgen kann. Solange und soweit sie als Koalition legitim und legal besteht, ist sie diejenige Vereinigung, die den Koalitionssinn und die Koalitionszwecke realisiert. Mit der Bestandsgarantie des Koalitionswesens als solchem und mit der Bestandsgarantie für die einzelne Koalition ist unlösbar die verfassungsrechtliche Garantie der spezifischen Koalitionsbetätigung verbunden. Diese Gewährleistung wird ebenso wie die Gewährleistung des Koalitionswesens einschließlich des Schutzes der einzelnen Koalitionen auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anerkannt. Sämtliche Gründe, die für den Schutz des Koalitionswesens und insofern ebenfalls der einzelnen Koalitionen maßgeblich sind, verlangen zugleich den Schutz der eigentümlichen Koalitionsbetätigung. Der Bestandsschutz ohne Betätigungsschutz wäre sinnlos. Der Zusammenschluß zur Vereinigung erfolgt nun einmal zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Der Schutz der individuellen positiven Koalitionsfreiheit wäre wiederum gegenstandslos, wenn nicht die Koalitionsbetätigung von der Bestandsgewährleistung oder doch zusammen mit ihr erfaßt ist. Vereinigungen werden gegründet (individuelle positive Koalitionsfreiheit) und bestehen (Garantie des Koalitionsbestandsschutzes als solchen und, wenn auch nicht absolut, der einzelnen Koalition), damit- und das ist der Endzweck - die Koalitionen selbst als solche tätig werden (Betätigungsgarantie). Man spricht im Falle des Art. 9 Abs. 3 GG zu Recht also von einem Doppel-Grundrecht. 3. Die autonome Betätigung der Koalitionen
Die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als das eigentümliche, von der Verfassung vorgesehene Ziel der Koalitionen verlangt deren SelbsttätigkeiL Der Zusammenschluß erfolgt zu diesem Zweck. Es geht um eine Interessenverfolgung. Wegen der eigenen Belange erfolgt der Zusammenschluß zur Vereinigung. Es liegt keine staatliche oder staatlicherseits übertragene Zuständigkeit vor, die Zusammenschlüsse werden, in Verwirklichung eines freiheitlichen Tatbestandes, autonom von sich aus und durch sie tätig. Das verlangt das Individualgrundrecht der positiven Koali-
5. Die Interessenverfolgung
21
tionsfreiheit. Das Doppel-Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG in seinem Aspekt der Bestands- und Funktionsgarantie der Koalitionen führt zu demselben Ergebnis. Die Vereinigungen als Interessen-Verbände müssen im Kern in freier Selbsttätigkeit und in diesem Sinne autonom in Erscheinung treten. 4. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen als Bezugsgrößen des Koalitionsschutzes
Es besteht Einigkeit darüber, daß Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich eine Aussage zu den Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber trifft. "Vereinigungen dieser Art [sei!.: i. S. der Verfassungsnorm] sind die Berufsverbände der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, d. h. die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände; nur sie werden zwecks begrifflicher Abgrenzung zu den [sei!.: allgemeinen] Vereinigungen im Sinne des Abs. 1 als Koalition bezeichnet." Auch das BVerfG vertritt diese Auffassung. Das kommt eindeutig schon in seiner ersten einschlägigen Entscheidung zum Ausdruck. "Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit betrifft nämlich nicht nur den Zusammenschluß als solchen, sondern den Zusammenschluß zu einem bestimmten Gesamtzweck, nämlich zu einer aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber(Arbeitnehmer-)Interessen." Das Gericht sieht ferner in ständiger Rechtsprechung eine innere Verbindung zwischen der TV-Autonomie und Art. 9 Abs. 3 GG als deren Grundlage. Das ist nur sinnvoll, wenn es sich bei den Vereinigungen des Art. 9 Abs. 3 GG um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände handelt. Schließlich spricht es ständig von Koalitionen. Damit können nach dem Kontext der Entscheidungen stets nur die hier in Rede stehenden Zusammenschlüsse gemeint sein. 5. Die Interessenverfolgung der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen in ihrem Verhältnis zueinander
Mit der positiven Koalitionsfreiheit und dem auf ihr beruhenden Grundrecht der Koalitionen auf Bestandsgarantie und Gewährleistung koalitionsgemäßer Betätigung geht es bei der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen um Bedingungen für beide Seiten des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber treten von ihrer Stellung im Wirtschaftsleben her gleicherweise in Erscheinung. Da sie in vieler Hinsicht mehr oder weniger gegenteilige oder doch auseinandergehende Interessensichten haben, steht zwar nicht ausschließlich, aber doch sehr maßgeblich eine sozusagen wettbewerblieh-antagonistische Interessenverfolgung und Interessenauseinandersetzung in Rede. Das muß gesehen werden. Es geht um die Interessenwahrnehmung im Bereich des Arbeitslebens, dieses
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Kap. 1: Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie
eingebettet in den Bereich des Wirtschaftslebens. Das Arbeitsleben kennt aber zwei Gruppierungen. Somit ist die Selbsttätigkeit der Koalitionen der jeweiligen Seiten des Arbeitslebens vor allem und zuerst zueinander, aufeinander und gegeneinander bezogen. Die autonome Betätigung der Koalitionen in ihrem Verhältnis zu-(und gegen-)einander bezieht sich nicht zuletzt auf allgemeine oder auch detaillierte Rahmenbedingungen des Arbeits- und insoweit des Wirtschaftslebens. Sie sind für die Angehörigen jeder Seite der Arbeitsgesellschaft von gleicher, wenn auch, jedenfalls in nicht wenigen Fällen, von andersartigem und sehr oft von einem gegenteiligen Interessengewicht. Die Arbeitgeber bringen die Unternehmensleitung zur Geltung, die Arbeitnehmer sind die Mitarbeiter. Die Mitglieder der Vereinigungen, die sich in ihnen als Arbeitnehmer und als Arbeitgeber zusammengeschlossen haben, ·repräsentieren letztlich typmäßig die diesbezügliche Einstellung aller Angehörigen der jeweiligen Seite. Deswegen machen sie (idealtypisch) die Interessensicht der gesa~ten, im einzelnen in Frage kommenden Schichten - sei es der Gesamtschicht, sei es von unter irgendwelchen vertretbaren Gesichtspunkten zusammengeschlossenen Teilschichten- geltend. Daß die Leitungen der Koalitionen, bei denen sich durchdachte Erfahrungen bündeln, sehr oft mittelfristig die bessere Interessensicht haben, ist anzuerkennen. Allerdings können dort auch immer wieder Übertreibungen und sonstige Fehlleistungen auftreten. Sie sind schon aufgetreten und werden auch in Zukunft auftreten. 6. Die TV -Autonomie als Ergebnis
Die vorstehenden Überlegungen führten zur TV-Autonomie. Das autonome Handeln der Koalitionen mit ihrer Betätigung für ihre Mitglieder und für die jeweiligen Seiten der Wirtschaftsgesellschaft in ihrem Verhältnis zueinander kann nicht sein Bewenden mit dem bloßen Geltendmachen der Interessen haben . Dieses Geltendmachen hat nur Sinn, wenn es ein Ergebnis zeitigt. Bei einem antagonistischen Geltendmachen ist als Ergebnis (durchweg) notwendig die Vereinbarung, welche Interessen und in welchem Ausmaß beide Seiten wechselseitig gegen- und miteinander realisieren. Das Gegeneinander führt (ebenfalls idealtypisch) zu einem sachlichen Kompromiß. Keine Seite kann sich aufgeben, jede Seite muß Belange der anderen Seite als solche unmittelbar oder modifiziert anerkennen, und so erfolgt ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Das Ergebnis ist, um es sicherzustellen und dieserhalb für eine überschaubare Zukunft Klarheit zu schaffen, in der Tarifvereinbarung festzuhalten.
9. Geistige Grundlagen und ordnungspolitische Bedeutung
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7. Die arbeitsteilige Wirtschaftsordnung als Voraussetzung der TV-Autonomie
Solange die arbeitsteilige Wirtschaftsordnung und insbesondere die Unterscheidung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern besteht, sind das Koalitionswesen und mit ihm die TV-Autonomie im Ansatz oder doch latent stets vorgegebene Größen, die unabhängig von einer Marktwirtschaft sind. Die positive Ordnung des Staates kann das zwar negieren, negiert damit aber einen in der Sache nicht aufzuhebenden Sachverhalt. Eine freiheitliche Verfassung des Gemeinwesens ist nicht der letzte Grund des Koalitionswesens und der TV-Autonomie. Eine streng genossenschaftliche, für sämtliche Unternehmensangehörige geltende Verfassung, mit gleichen Rechten und Pflichten für alle, ist im übrigen nur für Kleiostunternehmen denkbar, und selbst dort wird man ohne eine irgendwie institutionalisierte Unternehmensleitung (mit einer typisch unternehmerischen Sicht derselben als Folgegröße) jedenfalls in der Regel nicht auskommen. 8. DieSachnahen als Träger der TV-Autonomie
Aufgrund der TV-Autonomie führt die Selbsttätigkeit der Koalitionen zur Regelung des Arbeits- (und Wirtschafts-)Lebens durch die unmittelbar Betroffenen und Beteiligten. Die Träger des Arbeitslebens treten über das Medium ihrer Verbände selbst in Erscheinung. Die Verbände als Organisationen der "Sachnahen" kennen die jeweiligen Interessen, vor allem aber auch die zu regelnden Sachverhalte. Die Sachnahen werden, wenn auch in der Praxis durch die Verbandsfunktionäre, in eigener Sache tätig und schaffen in einer Interessenauseinandersetzung eine Ordnung ihrer Sachbereiche. Diese Ordnung selbst ist für die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft von einer alles in allem sehr erheblichen Bedeutung. 9. Geistige Grundlagen und ordnungspolitische Bedeutung der TV-Autonomie
Bei einer primären Realisierung eines (früh-)liberalen Gedankens, nämlich der Gewinnung einer Ordnung durch Konfrontierung von Interessen, kommt gleichzeitig entschieden der Gedanke einer sachgerechten Ordnung zum Ausdruck. Die Sachnahen regeln sie betreffende Angelegenheiten, womit eine Staatsentlastung erreicht wird. Andernfalls wäre der Staat bei der gesellschaftlichen Bedeutung des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit gehalten, bis hin zu den Fragen der Entgeltregelung und in noch weit größerem Ausmaß tätig zu werden als er dies bereits tut. Die Tätigkeit des Treuhänders der Arbeit in der nationalsozialistischen Zeit hat hinlänglich gezeigt, daß er damit
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KaR. 1: Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie
überfordert ist, und das Beispiel jedenfalls der zentralistischen Verwaltungswirtschaft zeigt es immer noch. Im Ergebnis ist der Gedanke der TV-Autonomie ein wichtiger Beitrag zu einer sachgemäßen "Verfassung" der Gesellschaft und des Gemeinwesens. Die TV-Autonomie ist, so gesehen, ein Ordnungsprinzip der Gesellschaft und ein wichtiges Element ihrer Strukturierungi. 10. Wichtige Rechtsregelungen
Des weiteren ist zu sagen: Nach dem geltenden deutschen Tarifvertragsrecht enthält der der Schriftform bedürftige Tarifvertrag (TV) Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. Die Inhalts-, Abschluß- und die Beendigungsbestimmungen des TV gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des TV fallen. Dies gilt entsprechend in Beachtung der gebotenen einheitlichen Ordnung für Rechtsnormen des TV zu betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen. Die Tarifvertragsparteien (TV-Parteien) können im TV ferner gemeinsame Einrichtungen vorsehen, deren Regelungen u. a. unmittelbar und zwingend für das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Platz greifen. Vor allem der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann einen TV im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß unter im Tarifvertragsgesetz (TVG) näher angegebenen Voraussetzungen für allgemein verbindlich erklären. Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) kann ohne diese Voraussetzungen erfolgen, wenn sie zur Behebung eines sozialen Notstandes erforderlich erscheint.
1 Die obigen Darlegungen sind, abgesehen von den Giiederungsangaben, weitgehend wörtlich übernommen aus dem Beitrag des Verfassers "Zukunftsaspekte des Arbeitskampfrechts - Vertiefte Sicht bisheriger Grundsätze" in "Krise der Gewerkschaften- Krise der Tarifautonomie?" (91 ff.). Dort findet sich auch der Zitatennachweis.
Kapitel /I
Die Interessenverfolgung seitens der Koalitionen 1. Die Bedeutung der Interessenwahrung und der Interessenbildung allgemein a) Der der TV-Autonomie zugrunde liegende Ausgangsgedanke
Ausgangspunkt für die TV-Autonomie und insoweit ihre Grundlage ist nach dem vorstehend Gesagten die Interessenverfolgung im Raume der Wirtschaftsgesellschaft, des näheren im Bereich des Arbeitsleberis. Entscheidend ist dabei, daß die Interessenverfolgung des Einzelnen durch einen Zusammenschluß mit anderen erfolgt. Die deutsche Rechtsordnung erweist dies eindeutig mit ihrer positiv-rechtlichen Regelung der Verfassung. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG lautet: "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist jedermann und für alle Berufe gewährleistet." Es geht um die Wahrung und Förderung von Anliegen im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens, und zwar "für jedermann". "Jedermann" ist berechtigt, dieserhalb Vereinigungen zu bilden. Die weitere Formulierung "für alle Berufe" besagt, daß die Angehörigen aller im Arbeitsund Wirtschaftsleben vorhandenen Berufe sich in Koalitionen vereinigen können2. Der Gedanke der Interessenwahrung und Interessenförderung der Einzelnen tritt sodann in der Rechtsordnung dadurch in Erscheinung, daß nach dem TVG die Bestimmungen des TV rechtlich nur die Mitglieder der TV-Parteien binden und erst die AVE ihre derartige Geltung über diesen Kreis hinaus erstreckt3. Jedenfalls eine entscheidende Grundlage des Koalitionswesens und des weiteren der TV-Autonomie ist der Gedanke der freien, in ihrer Gründung und in ihrem Bestehen nicht von der hoheitlichen Gewalt des Staates z Nachdem historisch zuerst die Arbeitnehmerverbände in Erscheinung getreten sind, ist mit dem verfassungsrechtlichen Begriffspaar "für jedermann und für alle Berufe" nicht zuletzt auch das Koalitionsrecht der Arbeitgeber/Unternehmer angesprochen. Dazu, daß nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber/Unternehmer von Art. 9 Abs. 3 GG angesprochen sind, siehe unten. 3 Die Geltung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist (§ 3 Abs. 2 TVG), ist, wie schon angedeutet, bei der Einheit des Betriebes ein Sacherfordernis. In diesen Fällen ist aber Voraussetzung, daß der Arbeitgeber tarifgebunden ist.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
abhängigen Vereinigung, über die der Einzelne seine Belange im und durch den Zusammenschluß mit entsprechend interessierten anderen geltend machen will. Der Verbund soll den Einzelnen für ihre Ziele eine verstärkte Durchsetzungskraft sichern oder ggf. die Durchsetzung überhaupt erst ermöglichen. Historisch ist dieser Gedanke in der ersten Hälfte des vergangeneo Jahrhunderts als ein ausgesprochen liberaler Gedanke aufgetreten; es ging darum, den Einzelnen zwar zusammen mit Dritten, aber doch um seiner individuellen Position und seiner individuellen Interessenwillen frei wirken zu lassen. Die freie, individuelle Interessenverfolgung im Bereich der Wirtschaftsgesellschaft durch die, wie man damals sagte und auch heute noch sagen kann, Assoziation dürfte dies betont, über den allgemeinen Gedanken der liberal gesehenen Vereinsfreiheit hinaus, unterstrichen haben. Der Liberalismus erhoffte sich den wirtschaftlichen Erfolg - und den wirtschaftlichen Ausgleich -durch den autonom handelnden einzelnen Menschen. Was es mit den Interessen auf sich hat, ist zunächst allgemein ethisch und in Verschränkung hiermit rechtlich zu klären. b) Die ethische Berechtigung und Notwendigkeit der Interessenverfolgung durch den Einzelnen
Die Interessenverfolgung durch den Einzelnen ist vor noch nicht allzu langer Zeit nicht wenigen ethisch suspekt erschienen, und diese Einstellung dürfte sich auch heute noch vereinzelt finden. Bewußt und mehr wohl noch unbewußt setzt man die Wahrung der eigenen Belange mit Ungebundenheit und Hemmungslosigkeit gleich. Es ist in der Tat nicht zu bestreiten, daß in der Wirklichkeit des Lebens Interessenverfolgung und ungebundene Interessenverfolgung ineinander übergehen können, nur zu oft tatsächlich auch ineinander übergegangen sind und sicher auch in Zukunft ineinander übergehen werden. Im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens, also für ein äußerst wichtiges Feld unserer heutigen Gesellschaft, wird dann in der Sache Rücksichtslosigkeit als Prinzip gesehen, und der Wahrnehmung von Interessen begegnet man folglich mit Mißtrauen. Das Wort von der Ellenbogengesellschaft, früher ausschließlich angewandt auf die Unternehmerseite, heute zwar nicht verbal, aber in der Sache vielfach bezogen ebenfalls auf die Gewerkschaften, mag in gewisser Weise kennzeichnend sein. Die historisch liberale Wurzel des Koalitionswesens könnte ferner deswegen verdächtig sein, weil sie auf das engste mit dem geschichtlichen Liberalismus insgesamt zusammenhängt. Im Wirtschaftsleben wird der Liberalismus in undifferenzierter Sicht jedoch heute weithin als inhuman verdächtigt. Im katholischen Bereich wirkt die aggressive Konfrontationsstellung des allgemeinen Liberalismus des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt gegenüber der katholischen Kirche immer noch nach. Die von der katholischen Kirche vertretene Soziallehre4 ist nicht zuletzt u. a. in der
1. Interessenwahrung und Interessenbildung
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4 Der Verfasser hält die Bezeichnung "katholische Soziallehre", weil zu wenig differenziert, jedenfalls für bedenklich. Der philosophische Gehalt der von der katholischen Kirche vertretenen Soziallehre ist weder spezifisch christlich und erst recht nicht-spezifisch katholisch. Ihre erste Ausformung erhielt diese Gesellschaftsphilosophie durch Aristoteles, in der abschließenden Fassung wohl durch seinen Sohn Nikomachos (Nikomachische Ethik). Die Stoa trägt und entwickelt sie weiter, was schon bei Cicero unbeschadet seines Eklektizismus deutlich in Erscheinung tritt. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert hat die Stoa die Sklavengesetzgebung der Antonine in sehr humaner Weise mindestens beeinflußt. Im Mittelalter griff Thomas von Aquin u. a. in seiner Gesellschaftsethik auf Aristoteles zurück, in der sog. spanischen Spätscholastik erfuhren dessen Gedanken in der thomistischen Ausformung nochmals eine tiefe und zugleich glanzvolle Fundierung. In der Moderne hat sie Papst Leo XIII. in seinen verschiedenen Enzykliken nachdrücklich aufgenommen und durchaus selbständig weiter entwickelt. Nicht zuletzt ist die aristotelisch-thomistische Sozialphilosophie, wie man sie wegen des Aquinaten zu Recht bezeichnet, eine wesentliche Grundlage aller Sozialenzykliken seit der Enzyklika "Rerum novarum" Leo XIII. vom Jahre 1891 bis zu dem Rundschreiben Johannes Paul II. "Laborem exercens" vom Jahre 1981. Wenn man dieser Sozialphilosophie ein Kennzeichen geben will, dann dies, daß sie auf die vorgegebene menschliche Natur in ihren Grundkonstanten abstellt, unbeschadet mancher Divergenzen in Aussagen zu Einzelfragen, und daß diese Seinsgegebenheiten die Wahrheit ihrer fundamentalen Sichten verbürgt. Die päpstlichen Verlautbarungen haben gezeigt, daß die fragliche Philosophie im Blick auf die bleibende Menschennatur (geistig-leibliches Wesen mit Seihstand und zugleich mit Sozialnatur) auch die grundlegenden Fragen der arbeitsteiligen Wirtschaft und des Industriezeitalters bewältigt. Von der aristotelisch-thomistischen Sozialphilosophie ist die Sozialtheologie der katholischen Kirche zu unterscheiden. Ihre Quellen sind die Heilige Schrift und die Tradition, wie sie die katholische Kirche in ihrem religiös-theologischen Sprachgebrauch versteht, also insgesamt die tradierte Offenbarung Gottes. (Die Evangelien und Stellen der PanJusbriefe sind selbst Zeugnisse und somit Tradition der von Anfang an weitergegebenen, nicht zuletzt auch der geschichtlich-transzendenten Ereignisse wie die Auferstehung Christi.) Die Sozialtheologie der katholischen Kirche beruht ebenso wie jede echte Philosophie auf Seinsgegebenheiten, allerdings weitgehend auf solchen, die dem natürlichen menschlichen Verstand verschlossen sind. Andererseits fundiert sie ihrerseits noch einmal die von der katholischen Kirche vertretene Sozialphilosophie und krönt sie zugleich. Insofern läßt sich von einer "katholischen Soziallehre" sprechen, weil vom katholischen Verständnis her die Einheit von Sozialphilosophie und Sozialtheologie gefordert wird. Darüber hinaus kann man von einer christlichen und katholischen Philosophie und Sozialphilosophie sprechen, weil der christliche und katholische Glaube wie auch sonst "Weltanschauungen" zu philosophischen Fragestellungen anregen und auch richtungweisend für die Lösungsversuche und Lösungen sind. Der Sinn der Philosophie, Erkenntnisaufgrund menschlicher Vernunfteinsicht zu sein, wird dadurch nicht aufgehoben. Siehe zu alldem: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von Brugger, 14. Aufl., Stichwort: Christliche Philosophie. Die katholische Kirche wandte sich seinerzeit und wendet sich heute noch und muß sich stets gegen einen Liberalismus wenden, sofern er den Menschen zu einer absoluten und damit bedingungslosen Emanzipation, der Sache nach im Aufstand gegen Gott, befugt sieht. (Man spricht hier vielleicht der Deutlichkeit halber von einem Libertinismus, einer Erscheinungsform des historischen Liberalismus.) Das könnte dazu führen, daß Berührungen und ein teilweises Sichdecken liberalen und des von der katholischen Kirche vertretenen sozialphilosophischen Gedankengutes von beiden Seiten nicht wahrgenommen worden sind. Es scheint an der Zeit, diesen Fragenbereich, wenigstens rückblickend, einmal ideengeschichtlich zu untersuchen. Es ist, was schon an dieser Stelle gesagt sei, sicher, daß das Gewerkschaftswesen historisch und sachlich kein sozialistisches, sondern ein liberales (freiheitliches) Formprinzip als Fundament hat; hierzu Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG , Art. 9 RZ 157.
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Kap. li: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
Auseinandersetzung mit einem ungezügelten Wirtschaftsliberalismus näher entwickelt worden. Die Verfolgung seiner Interessen durch den Einzelnen ist jedoch zutiefst sachlich legitim und nicht zuletzt sachlich erforderlich. Der Selbstand des einzelnen Menschen ist im letzten begründet in der Fähigkeit zur geistigen Erkenntnis des Seienden, einschließlich des Möglichen, und der Fähigkeit, seinen Willen entsprechend dieser Erkenntnis, allerdings auch im Gegensatz zu dem Erkannten, bestimmen zu können. Hiermit ist das gegeben, was die Persönlichkeit in spezifischer Weise kennzeichnet, das, was allen Menschen gemeinsam ist und ihr Humanum ausmacht5. Gleichzeitig konstituieren diese Fähigkeiten wesentlich die Je-Einmaligkeit eines jeden konkreten Menschen. Dabei ist es gleich, ob sie nur als Anlage gegeben sind, aber aus irgendwelchen Gründen nicht entfaltet werden können, oder ob sie mehr oder weniger zum Ausdruck gelangen. Die Fähigkeit des Menschen zum geistigen Erfassen und die Fähigkeit, sich in einem geistigen Strebevermögen aus eigener Entscheidung, dem freien Willen, entsprechend dem Erkannten oder wegen eines Scheinwertes entgegen dem Rechten zu bestimmen (Wahlfreiheit), sind der Grund für die dem Menschen eigentümliche Subjektstellung. Sie wird heute weithin entsprechend der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG als die Würde des Menschen bezeichnet. Der Subjektstellung, der Würde des Menschen entspricht es, daß der Mensch für sich selbst sorgt, sich bemüht, seine Belange selbst zu realisieren. Der Einzelne verletzt seine Würde, wenn er sich nicht entsprechend im Rahmen und auf Grund seiner Möglichkeiten verhält, mag auf das Fehlverhalten eine formelle Sanktion der Rechtsordnung stehen oder nicht. Die Subjektstellung des eine geist-leibliche Einheit bildenden Menschen, die ihrerseits spezifisch durch einen geistigen Faktor, einschließlich seiner Wahlfreiheit, bestimmt ist, gebietet ihm die eigene Verfolgung seiner materiellen und geistigen Ziele. Anderenfalls handelt der Mensch seinem eigenen Wesen entgegen, er setzt sich in einen Widerspruch zu seiner Würde, ohne allerdings die in seinem Sein gründende Würde als eine objektive Gegebenheit zu verlieren.
5 Von dem Gemüthaften des Humanum, am besten nach wie vor mit dem Wort "Herz" bezeichnet, sei einmal abgesehen . Die Verstandes- und Willenskomponente des Menschen allein konstituieren ihn allerdings nicht im Vollsinne. Ein Mensch ohne "Herz", ein Wort, das allerdings nicht mit Gemüthaftigkeit in einem sentimentalen Sinne verwechselt werden darf, bei dem es vielmehr um "die Mitte der Persönlichkeit" geht, ist zutiefst keine Persönlichkeit, er ist vielmehr mit einem schweren Mangel behaftet.
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c) Der Begriff des Interesses Das volitive Moment bei der Bestimmung der Interessen Die Gefahr unethischen Verhaltens
Mit dem Begriff des Interesses ist ein umfassender Sachverhalt angesprochen. Er würde erheblich verkürzt, wenn, wie es des öfteren geschieht, mit dem Wort nur höchst subjektives und dabei in nicht wenigen Fällen ungebundenes, zügelloses Begehren gemeint wäre. Das Interesse, hier des Einzelnen, umgreift alle seine Belange6. Es steht das existentiell unerläßlich Notwendige zur Erhaltung und Entfaltung des geistigen und körperlichen menschlichen Lebens bis hin zu dem Wünschenswerten in Rede. Es geht darum , was dem Menschen im Blick auf seine menschliche Natur und insofern jedem Menschen dient, und es geht ebenso darum, was dem konkreten Menschen mit seinem konkreten Sosein einschließlich seiner konkreten Anlagen und Fähigkeiten zugute kommt. Dieserhalb geht es um objektive, wenn auch häufig nur schwer zu bestimmende Werte. Die Belange des Menschen sind, soweit es um die letzten und tiefsten Belange geht, in ihrem allgemein gefaßten Gehalt stets gleich; der Mensch ist zu allen Zeiten und in jeder Umwelt stets Mensch. Gleichwohl sind bei den objektiven Werten, jedenfalls weitgehend, immer auch die Umstände von Zeit und Raum zu sehen. Der Mensch hat nicht nur eine bleibende menschliche Natur, er ist, wegen seiner Kontingenz, auch ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in die "Umwelt"-Gegebenheiten und in die "Umwelt"-Bedingungen. Was dann objektiv wertvolle Belange sind, läßt sich näher bestimmen, wenn, in Anlehnung an die Juristensprache, als Maßstab die Figur des objektiv und sachlich Denkenden angelegt wird. Wegen der Subjektstellung des Menschen und der mit ihr gegebenen Selbstbestimmung liegt bei der Erfassung der eigenen Belange durchweg aber auch ein volitives Moment von u. U . erheblichem Gewicht vor. Es wird eine tatsächliche oder auch nur gedanklich gebildete, ggf. sogar eine in erheblichem Ausmaß und sogar ausschließlich triebhaft wirkende Größe wahrgenommen, die man dann mehr oder weniger subjektiv, ggf. sogar höchst subjektiv als Wert und Gut auffaßt, empfindet und schließlich anstrebt. Das kann gegenüber dem sachlich anzuerkennenden oder doch jedenfalls nicht zu verwerfenden Interesse, das selbst im Bereich des lediglich Wünschenswerten seinen Platz hat , ohne weiteres zur völligen Verzerrung im Begehren führen . Der Grund für ein derartiges Fehlverhalten liegt einmal in der Erkenntnis- und Willensschwäche, die, mehr oder weniger, jeder Mensch als Signum an sich trägt7 . Mit dem eben Gesagten hängt ein Weiteres zusammen. Nicht zuletzt gründet das sachliche Fehlverhal6 Entsprechendes gilt für die Verwendung des Terminus im Blick auf Belange von Gruppierungen, Zusammenschlüssen und Gemeinschaften. 7 Die Theologie spricht von der Erbsünde . Das mit diesem Begriff erfaßte Phänomen ist, bei genügender Ehrlichkeit nicht zuletzt auch in der Selbsterkenntnis, ohne weiteres evident.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
ten bei einer Verkennung derkontingentenund "gebrochenen" Konstitution des Menschen in der Beanspruchung einer absoluten, selbstherrlichen und bindungslosen Autonomie. Die griechische Antike nannte das Hybris, und in dem Buch Genesis ist diese Haltung mit dem Wort des Versuchers "Eritis sicut Deus" ausgesagt. Stets liegt eine Unverhältnismäßigkeit des Begehrens, u. U. zutage tretend in einer totalen Perversion, gegenüber dem vor, was Menschen wirklich dient, ein objektiv bestehendes Fehlverhalten. Aufgrund objektiv gegebener Maß-Losigkeit ist die Frage nach der Schuld nicht zu erörtern. Wie gesagt, ist bei der Bestimmung der Interessen, in nicht wenigen Fällen in einem wohl beachtlichen Ausmaß, ein volitives Moment mit im Spiel. Der Mensch bestimmt als Subjekt seine konkret ihn betreffenden Belange. Diese Subjektstellung läßt ein Oktroi "von außen", streng gefaßt im Sinne einer ausschließlich und allein externen Größe, als ein mit-konstitutives Moment des Menschen nicht zu, unbeschadet dessen, d.aß bei seiner Kontingenz die menschliche Subjektstellung niemals unbeschränkt sein kann. Etwas anderes ist die Anerkennung und ggf. die "von außen" erzwungene Durchsetzung der mit dem Menschsein gegebenen Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber den anderen . Das menschliche Sein selbst verlangt die Anerkennung und Bejahung dieser Pflichten; sie sind mit dem Menschen gegebene, ihm immanente und ihn sogar zutiefst entsprechend dem Wesen seines Menschseins mitbestimmende Gegebenheiten. Der Mensch ist eben kein schlechthin unbeschränktes und unbeschränkbares Subjekt, er ist ein "gebundenes" Subjekt, er ist wegen seiner Kontingenz nicht GottB. Die Subjektstellung des Menschen trägt auch in ihrer Kontingenz sein Personsein9 , oder vielleicht besser gesagt, sein Personsein und seine Subjektstellung sind Synonyma. Im Gesamtergebnis gilt: Die Bestimmung seiner Belange durch den Menschen einschließlich des dabei bedeutsamen volitiven Momentes ist als solche ethisch voll zu bejahen. Gleichzeitig ist stets die Gefahr und weitgehend sogar die Realität eines unethischen Verhaltens gegeben. d) Die Sicht der Rechtsordnung
Die Rechtsordnung der Bundesrepublik sieht rechtlich die Dinge im Kern ebenso; sie ist im letzten ethisch begründet. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt mit dem Grundrecht "auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" ausdrücklich die Personalität und damit die Subjektstellung des einzelnen Menschen. Gleichzeitig wird die Bindung des Menschen bejaht. Die freie Entfaltung der s In Gott, dem Unendlichen, fallen u. a. die schlechthin absolute Freiheit des Willens mit dem schlechthin absolut Guten zusammen. 9 Die Worte Person und Persönlichkeit werden hier in ihrem allgemein üblichen Sinne und weniger zur Kennzeichnung des Menschen als eines sozial gebundenen Subjektes gebraucht.
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Persönlichkeit darf nicht zur Verletzung der Rechte anderer führen. Das heißt nichts anderes, als daß das Menschsein eines jeden menschlichen Wesens zu beachten ist und keines Menschen Menschsein verletzt werden darf. Sofern aufgrund einer sachgemäßen Güterahwägung die Persönlichkeit eines Menschen tangiert wird, kann nicht von einer Verletzung des Menschseins die Rede sein; es tritt die mit dem Menschen gegebene immanente Bindung in ErscheinunglO. Die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung, also des formell verfassungsmäßig zustandegekommenen und materiell nicht gegen die Verfassung verstoßenden Rechtes, unterbindet die selbstherrliche Willkür im Verhältnis der Menschen untereinander und führt damit zu einem präventiven Schutz für jeden. Nicht zuletzt ist eine Rahmenordnung für die Beziehungen und das gegenseitige Verhalten der Menschen anerkannt. Das Postulat der Rechtssicherheit im Zusammenleben der Menschen und ihrer Gruppierungen, einschließlich der Gesamtgemeinschaft des Staates, wird bejaht. Der Mensch benötigt als ein Subjekt, das nicht in sich selbst unangreifbar ruht, um seiner Personalität willen diese Sicherheit. Anderenfalls ist sein Menschsein wiederum dem Zugriff durch andere Menschen und menschliche Gruppen ausgesetzt. Das deckt sich teilweise mit dem Gedanken eines präventiven Schutzes vor Willkür, statuiert aber noch ein Mehr an Sicherheit. Von Willkür betroffen werden, jedenfalls in der herkömmlichen Bedeutung des Wortes, ist nur ein besonders extremer Fall eines Ausgeliefertseins. Die Bindung an das Sittengesetz schließlich besagt die Anerkennung einer fundamentalen Seinskomponente des Menschen, der condition humaine, so daß der Verstoß gegen das Sittengesetz nicht als ethisch und rechtmäßig anerkannt werden kann. Die mit dem Menschsein mitgegebene tiefste Bindung wird von der positiven Rechtsordnung ausdrücklich anerkanntn. Hier wie auch im Falle der verfassungsmäßigen Ordnung kann ebenso wie im Falle der Rechte anderer u. U. erst eine Güterahwägung Freiheit und Bindung in ihrer jeweiligen Abgrenzung erkennen lassen. e) Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen
Die Überlegungen sind in ethischer und in rechtlicher Hinsicht noch zu vertiefen. Der Mensch ist als Mensch gerade ein auf die Gemeinschaft bezogenes Wesen. Mit den Rechten anderer i. S. des Art. 2 Abs. 1 GG sind nicht nur die Rechte anderer Personen, sondern ebenso die Kompetenzen der Gesamtgemeinschaft des Staates und, im Rahmen ihrer legitimen Zuständigkeit, die 10 Wenn man diese Begriffe nur recht versteht, sind Autonomie des Menschen und eine "heteronome" Unterworfenheit keine Gegensätze. 11 Das Sittengesetz selbst ist in seinen entscheidenden Normen eine Größe unabhängig von Zeit und Raum, es gilt insoweit stets und überall.
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Kompetenzen sonstiger Gemeinschaften und Vereinigungen angesprochen. Das Sittengesetz kennt nicht nur die Individualethik, vielmehr ebenfalls die Sozialethik. Der Mensch ist durch sich selbst, nach seinem Wesen, auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen angelegt; er bedarf dieser Gemeinschaft, um Mensch zu sein. Dies gilt bereits für seine biologische Existenz. Der Säugling, das Kind, der junge Mensch und der alte Mensch sind auf andere angewiesen, und jeder Mensch ist es bei den meisten Krankheiten und bei jeder Pflegebedürftigkeit. Überhaupt ~ann kein Mensch, gleich in welchem Lebensalter und in welchem Zustand er sich befinden mag, ohne dritte Menschen existieren; er bedarf ihrer schon, um physisch bestehen zu können. Robinson ist eine erdachte Figur, angesiedelt im Lande Nirgendwo. Die geistige Befähigung kommt maßgeblich in der geistigen Kommunikation mit anderen Menschen zur Geltung, zu ihrer Entfaltung bedarf sie ihrer notwendig. Zwar kann der Einzelne auch für sich nachdenken und zu zutreffenden Ergebnissen kommen, aber seine Möglichkeiten müssen im Elternhaus, in der Schule und überhaupt durch die Erziehung, und sei es auch nur in einer rudimentären Weise, erst einmal geweckt werden. Darüber hinaus würde ohne die geistige Kommunikation mit anderen der Einzelne geistig und seelisch verkümmern, das Ergebnis wäre ein einschneidender Eingriff in seine Menschennatur. Das Aufeinander-Angewiesensein der Menschen ist mit dem Menschen selbst gegeben. Er bedarf in einem allgemeinen und alle seine Seinsschichten umfassenden Sinne schlechthin der Hilfe, der Ergänzung und des Mitwirkens durch die anderen. In einem wechselseitig Von-Einander-Abhängigsein und der Verwirklichung einer so geforderten Interdependenz kommen nicht zuletzt die Gaben und Fähigkeiten der Menschen überhaupt erst zu ihrer Realisierung. Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen läßt das, isoliert gesehen, mangelhafte Individuum erst zum Menschen im vollen Sinne des Wortes werden. Weil jeder Mensch Mensch ist, wäre zudem die Seihstabschließung und Selbstisolierung des Einzelnen gegenüber den anderen zutiefst eine Mißachtung ihres Menschseins. Der Einzelne, an Wert gleich jedem anderen Einzelnen und insofern nicht höherstehend, tangiert sonst oder negiert ggf. sogar dessen Menschentum in verfehlter Weise. Er sieht sich sozusagen als den einzig Erhabenen. Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen wird deutlich in seiner geschlechtlichen Verschiedenheit, die auf die Ein-Ehe als eine feste Institution hinweist. Sonst gebraucht der Mensch in seinem Geschlechtsleben den anderen Menschen nur zu leicht als wechselndes Objekt und degradiert sich selbst zu einer Vollzugsgröße seines Geschlechtstriebs, was alles mit seiner geistigen und ihn entscheidend mitbestimmenden Komponente nicht zu vereinbaren ist. Das Sprachvermögen kennzeichnet ihn als ein auf sinnenhaft-geistige Kommunikation mit anderen Menschen angelegtes Wesen. Nicht zuletzt wäre der
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Mensch in einer den Einzelnen völlig erfassenden Isolation auf sich selbst zurückgeworfen und damit in des Wortes negativer Bedeutung vereinsamt. In der Verbindung mit anderen erfährt er sich wie in keiner Weise sonst als Mensch, und die Beziehung zu Seinesgleichen trägt ihn. Auch das allgemeine gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein in seinen leiblichen Bedürfnissen ist mit seiner Natur gegeben. Sie ist ihm wie seine ganze Gemeinschaftsbezogenheit als Geschöpf von Haus aus eigen. Der Mensch erfährt in der Gemeinschaft die Möglichkeit zu seiner Entfaltung, sie verhilft ihm zum vollen Menschentum im Sinne seiner irdischen Bestimmung, und zugleich wird sein Leben durch den Dienst an der Gemeinschaft reicher12. f) Folgerungen hinsichtlich der Rechtsordnung
Die Rechtsordnung ist somit als eine wesentliche Grundvorschriften normierende Ordnung des Zusammen- und Miteinander-Lebens der Menschen zu verstehen. Wäre der Mensch ein in sich abgeschlossenes Individuum, hätte diese Ordnung im letzten keine verpflichtende Kraft. Sie ist aber um der Menschen willen notwendig. Man kann das Recht nicht als ein System von mehr oder weniger frei vereinbarten ~pjelregeln auffassen. Spielregeln sind nicht verpflichtend, und jeder Teilnehmer am Spiel kann sich jederzeit von und aus ihm zurückziehen. Die Setzung der Rechtsordnung mit ihrem zwingenden Charakteri3 erfordert eine hierzu legitimierte Autorität, die in einer Gemeinschaft ihre Grundlage hat. Diese Gemeinschaft vereint die Menschen aufgrund ihrer Gemeinschaftsbezogenheit und realisiert und aktualisiert des näheren diese Gemeinschaftsbezogenheit und die mit ihr gegebenen Bindungen. Die Gemeinschaft hebt den Menschen in seiner Subjektstellung nicht auf, sie hat ihn zu tragen. Die im Grundgesetz angesprochene verfassungsmäßige Ordnung ist daher, wie jetzt besonders deutlich wird, nicht nur ein System zur Verbürgung der RechtssicherheiL Bei der Frage, ob im einzelnen Falle die Rechtssicherheit oder aber die materiale Gerechtigkeit den Vorrang zu beanspruchen hat, darf allerdings letztere in keinem Falle völlig außer acht gelassen werden. Materiale Ungerechtigkeit, mag sie noch so lange bestehen, erzeugt letztlich die Ablehnung einer solchen "Ordnung", und bereits die Resignation ihr gegenüber läßt sie brüchig sein. Die Gemeinschaft ist ferner in der Lage, zu Gunsten der Einzelnen oder einzelner Gruppen unterhalb der Gesamtgemeinschaft zu intervenieren. Sie hat tätig zu sein, wenn die menschliche und menschenwürdige Existenz des Einzelnen nur noch auf diese Weise zu halten ist und im 12 Das weltanschauliche und religiöse Leben des Menschen ist ebenfalls gemeinschaftsbezogen. 13 Bereits diese Formulierung und erst recht das Wort vom Rechtszwang dürften in einer Zeit hemmungsloser Emanzipation Anstoß erregen. Sie zeigen aber einen unabdingbaren Aspekt der Gemeinschaftsbezogenheil des Menschen auf.
3 G. Müller
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
Falle der Gruppen deren Legitimität und gleichzeitig ihre irgendwie erforderte Notwendigkeit dies gebietet. Andernfalls wird die Natur und darüber hinaus auch das "Gebrochensein" des Menschen von der menschlichen Gemeinschaft (deren Glieder aber auch stets "gebrochene" Menschen sind, so daß "die Gebrochenheit" in die Gemeinschaft hineinwirkt) nicht in den Blick genommen. Die Gesamtgemeinschaft umschließt jeden, und in irgendeiner Weise ist sie über ihre Repräsentanten wegen des notwendigen Miteinanders der Menschen mit verantwortlich für alle, einschließlich für die in der Stufenordnung unter ihr stehenden Gruppierungen. Zutiefst gilt das alles aber auch, weil der Mensch, was mit seiner Kontingenz nichts zu tun hat 14, schon von Haus aus kein in sich abgekapseltes Wesen ist. Theologisch gesprochen würde eine "nichtgebrochene", erbsündenlose Menschheit schon deswegen die in Rede stehende Ordnung verlangen, die allerdings dann von allen in der Erkenntnis, daß sie notwendig zum Menschen gehört, frei bejaht und befolgt würde. Der Mensch ist wegen der Menschen der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet, und er muß für das Bestehen und die legitime Tätigkeit der Gemeinschaft im Interesse des Menschseins eintreten. g) Weder strenger Individualismus noch strenger KoUektivismus
Die mit seinem Personsein gegebene Subjektstellung des Menschen sowie seine Gemeinschaftsbezogenheit sind stets zusammen zu sehen. Sowohl ein strenger Individualismus wie ein strenger Kollektivismus sind in sich verfehlt. Die menschliche Persönlichkeit darf niemals im Kern aufgehoben oder auch nur wesentlich tangiert werden. Auf der anderen Seite ist der Mensch in Verkennung seiner Gemeinschaftsbezogenheil keineswegs eine selbstherrliche Größe; im unmittelbaren Ergebnis wäre seine Persönlichkeit ebenfalls im Kern verletzt. Das Sittengesetz und hier nicht zuletzt die Sozialethik, aber auch die auf die Person des einzelnen Menschen bezogene Ethik besagen dasselbe. Das gilt gleichfalls für das, was hinsichtlich der rechtlichen Rahmenund Grundordnung gesagt wurde. Das Recht selbst muß, wenn es verbindlich sein soll, in der Ethik gründen. Allerdings ist stets zu bedenken, daß die positive Rechtsordnung weitgehend nur einen Grund- , wenn nicht sogar nur einen Minimalbestand an ethischen Postulaten zur Geltung bringt und mehr als einen Grundbestand dieser Normen durchweg auch nicht zur Geltung bringen kann. Die Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG, daß das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht gegen das Sittengesetz "verstoßen" darf, sieht dessen Gebote und Verbote terminologisch als Begrenzungls.
14 Kontingenz besagt, daß ein Seiendes nicht aus sich heraus und in sich schlechthin und unbedingt notwendig existieren muß. Das ändert jedoch nichts daran , daß der Mensch und die menschliche Gemeinschaft in sich vollgültige Werte sind.
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h) Die Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG
Art. 2 Abs. 1 GG ist, rechtshistorisch gesehen, formuliert worden aufgrund der Erfahrung des totalitär-kollektivistischen NS-Regimes. Heute ist eine nicht unbeträchtliche Überspitzung der Selbstentfaltung infolge einer bindungslosen emanzipatorischen Sicht und Haltung zu beobachten. Nach einem kollektivistischen System hat man den Weg von Maß und Mitte zunächst eingehalten, dann aber hat in einer bei den verschiedensten geistesgeschichtlichen Gedanken, Formen und Gestalten auch sonst oft zu beobachtenden Depravation für unsere Zeit ein Libertinismus Platz gegriffen 16 • Die "Schranken"-Bestimmung des Grundrechts steht dieser Erscheinung von der Rechtsordnung her allerdings ebenfalls so entgegen wie die Betonung der freien Entfaltung der Persönlichkeit kollekt-ivistischer Tendenzen. Insgesamt ist festzustellen, daß eine unbeschränkte und unbeschränkbare Bestimmung seiner Belange .durch den Menschen ethisch nicht nur keine Grundlage findet, sondern einfach nicht gerechtfertigt ist. Der Mensch ist personales Subjekt, aber als solches auch eingefügt in die Gemeinschaft (und ferner kontingent und darüber hinaus "gebrochen"). Er besitzt eine "gebundene" Autonomie. Von hier aus, einem vordergründig formalen, bei der näheren Erfassung des Menschen aber sofort inhaltlich gefüllten Begrifft?, sind die ethischen Grenzen für die Bestimmung und die Verfolgung der Belange zu erfassen. Zwingendes staatliches und dabei ethisch haltbares Recht ist auch ethisch zu beachten. Unbeschadet der letzten Prinzipien der Ethik, hat eine nicht geringe Anzahl ethischer Forderungen dabei ihr Gewicht entsprechend den Umständen von Zeit und Ort. Diese Umstände können in nicht wenigen Fällen zusätzliche Bindungen, aber auch, ohne daß die letzten Verbote berührt würden, besondere Freiräume verlangents. Die Grundrechts-
15 Diese "Schranke" ist gleichzeitig als -eine Übernahme des Sittengesetzes in die formelle Rechtsordnung zu verstehen: Wer sich nicht an das Sittengesetz hält, verstößt auch rechtlich gegen es. Gleich wie man die Anführung des Sittengesetzes im GG verstehen mag, seine vollinhaltliche Übernahme in die Rechtsordnung dürfte nicht erfolgt sein. Da das Recht eine Ordnung zum Zusammenleben der Menschen vorsieht, scheidet die eigentliche Individualethik im engeren Sinne des Wortes auf jeden Fall aus. Soweit die Sozialethik verbindlich ist, aber nur die innere Haltung ansprechende Vorschriften in Rede stehen, gilt dasselbe. Schließlich scheiden sämtliche ethischen Sätze aus, die ausschließlich den ethischen Höchststand im Auge haben. Vgl. auch Dürig, in: Maunz!Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 1 Abs. 2 RZ 16. 16 Ein recht verstandener liberaler Gedanke ist hiermit nicht identisch. 17 Des näheren werden die Subjt;ktstellung des Menschen und gleichzeitig seine Kontingenz und "Gebrochenheit", vor allem aber auch seine unabhängig von den letzteren Gegebenheiten bestehende Beziehung zu den anderen Menschen und überhaupt seine Gemeinschaftsbezogenheit erkannt, und diese Gesamterkenntnis führt zu dem Begriff der "gebundenen" Autonomie.
3*
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norm berücksichtigt dies. Zeit und Ort als bedeutsam für die Rechtsordnung sind in dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung und, soweit es sich um für das Sittengesetz bedeutsame Gegebenheiten handelt, ebenfalls mit angesprochen. Des öfteren wird die Ansicht geäußert, Art. 2 Abs. 1 GG mit seiner Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts werde schlechthin und mit seinen sämtlichen Aussagen verdrängt, soweit die näher formulierten Grundrechte Platz greifen. Insbesondere die ohne den sog. Gesetzesvorbehalt formulierten Grundrechte stünden einer schrankenlosen Ausübung offen. Wichtig ist, daß das allgemeine Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht gegenüber'.einein inhaltlich näher umschriebenen Grundrecht zum Zuge kommt. Letzteres sichert bereits unter einem bestimmten Aspekt die Entfaltung. Es darf jedoch nicht der Standort des Art. 2 in der Verfassung übersehen werden. Sein Platz im Eingang der Verfassung und unmittelbar hinter dem Ur-Grundrecht der Würde des Menschen läßt schon mit dieser Anordnung das Gewicht seiner Aussage erkennen. Die allgemeine Gewährleistung des Persönlichkeitsverhaltens wird durch die weiteren Grundrechte und 18 Insofern läßt sich von einer Bedingtheit des Sittengesetzes sprechen; siehe auch Schambeck, Ethik und Staat, der recht oft auf besondere sittliche Anforderungen je nach Zeit, Ort und Umständen hinweist. Mit der obigen Bemerkung dürfte ein Beitrag zur Erfassung des zutreffenden Inhaltes des heute vielfach verwandten Wortes von der geschichtlichen Wahrheit geleistet sein. Das sozialethisch Zutreffende ist auch abhängig und damit bedingt von den konkreten näheren Sachgegebenheiten, von der, wenn man es so ausdrücken will, geschichtlichen Situation. Der Mensch als ein kontingentes und damit in bestimmter Hinsicht veränderliches und sich veränderndes Wesen hat eine entsprechende Dimension. Das führt zu wechselnden und auch neuen Sachverhalten, die die ethische Frage in bestimmter Hinsicht und in verschiedenen Aspekten immer wieder in anderer Weise auftreten läßt. Das jüngste Beispiel in unserem Wirtschafts- und Kulturraum ist wohl die Industrialisierung, die dazu führte, sich umfassend mit der Stellung des Arbeitnehmers als Mensch befassen zu müssen. Der Begriff der geschichtlichen Wahrheit darf andererseits nicht dazu führen, jede Wahrheit, in unserem Zusammenhang ethische Wahrheiten, als ausschließlich geschichtliche und damit als bloß relative Größe zu sehen. Der menschliche Verstand, der menschliche Wille, das menschliche Gemüt sowie die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen, aber auch seine Kontingenz und seine "Gebrochenheit", sind Größen, die zutiefst das Menschentum bestimmen und zu allen Zeiten und an allen Orten mit dem Menschen vorliegen. Die letzten und vor allem entscheidenden sozial-ethischen Wahrheiten sind unveränderlich und gründen in der bleibenden menschlichen Natur. Die Relativierung jeder Wahrheit hebt im übrigen den Gedanken der Wahrheit auf und läßt es zu, zeitigt sogar bei folgerichtigem Denken zwingend das Ergebnis, ohne weiteres die hic et nunc bestehende "geschichtliche Wahrheit" als verbindliche Größe verneinen zu dürfen. Solange die einschlägigen Gesamtumstände jedoch existieren, begründet der Sachverhalt aber notwendig das ethische Gebot. Die ethische Wahrheit liegt im Sachverhalt und ist mit ihm gegeben. Liegt ein Sachverhalt stets vor, besteht unverändert die diesbezügliche ethische Wahrheit, und sie gilt ständig. Das Seiende, im Fall der Ethik die mit dem Seienden immanent gegebenen positiven und negativen ethischen Aussagen, ist, sofern es ist, durchdauernd wahr. Auch das möglich Seiende ist als Möglichkeit seiend.
2. Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
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grundrechtsähnlichen Institutionen nur jeweils näher präzisiert. Damit ist jedoch nicht der Inhalt des Soweit-Satzes mit den für die Persönlichkeit wichtigen Bindungen gegenstandslos geworden. Diese Bindungen sind mit den Menschen selbst angegeben, und das gilt nicht zuletzt im Blick auf seine Gemeinschaftsbezogenheit. Der Mensch ist nun einmal ein von vornherein "gebundenes" selbständiges Wesen, die fraglichen Schranken sind ihm immanent, und sie sind überhaupt keine Schranken im strengen Sinne des Wortes. Etwas anderes ist es, in welchem Verh~ltnis jeweils menschliche Freiheit und menschliche Bindung bei der menschengemäßen Bestimmung des Gehaltes der einzelnen Grundrechte zueinander stehen. Eine absolute Freiheit - und ebenso eine absolute Bindung- liegen allerdings niemals vorl9. 2. Der Interessenbereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet als positive Koalitionsfreiheit die Freiheit, Vereinigungen "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" zu bilden. Die rechtlichen Begriffe der derart zu sichernden und zu verbessernden Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen, also die Interessenverfolgung in diesem Bereich, sind als der nähere Ausgangspunkt der Untersuchung zu klären. a) Die Arbeitsbedingungen
Der Begriff der Arbeitsbedingungen i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG bezieht sich auf das Arbeitsleben. Beim Koalitionswesen ist der Lebenstatbestand der abhängigen Arbeit angesprochen. Das entspricht im Blick auf die in der Verfassungsvorschritt genannten Vereinigungen dem herkömmlichen Sprachgebrauch, der historisch gewachsen und verfestigt ist. Das muß bei der Gesetzeseinschließlich der Verfassungsinterpretation aus Gründen der Rechtssicherheit beachtet werden. Letzte rechtliche Gewißheit hat der mit der sog. Notstandsgesetzgebung in die Norm aufgenommene Satz 3 gebracht. Wenn dort von Arbeitskämpfen die Rede ist, die von "Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden" , kann es sich bei den Koalitionen jeweils nur um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände handeln. Nur zwischen diesen beiden Seiten des Gesellschaftslebens sind Arbeitskämpfe denkbar. Die Arbeitsniederlegung und die Aussperrung, die gegen das Parlament, die Regierung, einen 19 Zu der obigen Überlegung siehe des näheren Dürig, in: Maunz!Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Abs. 1 Art. 2 RZ 69 ff. , insbesondere RZ 71 ff., 75. Soweit die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 4 GG auch für die inländischen juristischen Personen gelten, greifen die Gedanken oben ebenfalls. Diese Gebilde sind von Menschen getragen und in die Gemeinschaft eingefügt, wie sie andererseits eigenständige Größen sind.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
Usurpator politischer Macht gerichtet sind, die sich überhaupt im politischen Bereich im engeren Sinne dieses Wortes abspielen, sind trotz ihrer Erscheinungsform gerade keine Arbeitskämpfe, vielmehr spezifisch politische Akte. Das prägnanteste Beispiel für ein (legitimes) Geschehen dieser Art ist mit dem Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG gegeben. Das Schriftturn ist sich, soweit zu sehen, darüber einig, daß Art. 9 Abs. 3 GG allein eine Aussage zu den Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber trifft. "Vereil;ligungen dieser Art [sei!.: i. S. der Verfassungsnorrn] sind die Berufsverbände der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, d. h. die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände; nur sie werden zwecks begrifflicher Abgrenzung zu den (allgemeinen) Vereinigungen im Sinne des Abs. 1 als Koalitionen bezeichnet." Vor allem aber vertritt das BVerfG diese Auffassung. Das kommt eindeutig schon in seiner ersten einschlägigen Entscheidung zum Ausdruck. "Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit betrifft nicht nur den Zusammenschluß als solchen, sondern den Zusammenschluß zu einem bestimmten Gesamtzweck, nämlich zu einer aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber- (Arbeitnehmer-) Interessen." Dieses Gericht sieht ferner in ständiger Rechtsprechung eine innere Verbindung der TV-Autonomie mit dem Freiheitsrecht der Verfassungsvorschrift. Das ist nur sinnvoll, wenn es sich bei den Vereinigungen des Art. 9 Abs. 3 GG um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände handelt. Schließlich spricht es ständig von Koalitionen. Das ist ebenfalls nur verständlich, wenn damit die hier genannten Zusammenschlüsse gerneint sind. Die Rechtssprache ist insofern eindeutig. b) Die Wirtschaftsbedingungen
Unter den Begriff der Wirtschaftsbedingungen fällt in isolierter Betrachtung jede Größe des Wirtschaftslebens. Art. 9 Abs. 3 GG verbindet ihn jedoch mit den Arbeitsbedingungen. Anderenfalls müßte in Satz 1 dort die Beziehung zwischen Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen statt durch das Wort "und" durch das Wort "oder", jedenfalls aber durch eine entsprechende sinngemäße Fassung hergestellt sein. "Die Formel von den ,Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen' ist nicht alternativ, sondern kumulativ zu verstehen." Da die Vereinigungen des Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sein müssen, sind - und das ist entscheidend - die verfassungsrechtlich bedeutsamen Koalitionszwecke "im arbeitsrechtlichen Sinne vorbestimmt". Die besondere Erwähnung der Wirtschaftsbedingungen verbietet allerdings eine Reduzierung auf Arbeitsbedingungen im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Koalitionen haben durchaus auch Kompetenzen , die in den Bereich der Wirtschaftsordnung hineinreichen. Entscheidend ist, daß die Gestaltungen der Wirtschaftsbedingungen in einem innerlichen Zusammenhang mit den Gestaltungen im Bereich der abhängigen Arbeit stehen. Man
2. Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
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kann ohne weiteres sagen, daß die Verfassungsnorm ein Konzept beinhaltet, das als ein wechselseitig ebenso ergänzender wie begrenzender Zusammenhang verstanden werden muß. Es spielt wiederum Art. 9 Abs. 3 GG eine Rolle. Wenn sich bestimmte in der Notstandsgesetzgebung vorgesehene Maßnahmen nicht gegen Arbeitskämpfe richten dürfen, die von Vereinigungen des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt werden, ist das ein mindestens beachtlicher Hinweis darauf, daß die Wirtschaftsbedingungen mit dem Arbeitsleben in einer jedenfalls mehr oder weniger unmittelbaren Verbindung stehen müssen. Es spricht sogar Bedeutsames dafür, daß sie ihren primären Sitz im Lebenstatbestand der abhängigen Arbeit haben. In rechtlich geschützten Arbeitskämpfen stehen sich die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite als solche in einer betonten Weise gegenüber. Es muß folglich um Dinge gehen, die maßgeblich das Arbeitsleben betreffen. Bei dem Zusammenhang der Gesamtregelung des Art. 9 Abs. 3 GG muß der legitime Arbeitskampf um Wirtschaftsbedingungen unbeschadet der weiteren Frage, ob und wegen welches näheren Zieles er eingesetzt werden darf, auf jeden Fall Gegebenheiten betreffen, die spezifisch vom Lebenstatbestand der abhängigen Arbeit her mitgeprägt sind. Schließlich dürfte das historisch gewachsene Verständnis ein Anzeichen dafür sein, daß die (Verfassungs-)Rechtsordnung unter Wirtschaftsbedingungen als Gegenstand der Koalitionsbetätigung immer nur mit dem Arbeitsleben deutlich verflochtene Gegebenheiten ansieht. Ein markantes Beispiel für eine Wirtschaftsbedingung im hier in Rede stehenden Sinne ist die Frage der Mitbestimmung auf Unternehmensebene. Dabei ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung, daß sie nicht durch einen Arbeitskampf durchgesetzt und näher ausgestaltet werden kann. c) Zusammenfallen von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen können sich überschneiden und sogar decken. Es sei auf die Mitwirkungs- und Mitbestimmungskompetenzen des Betriebsrates hingewiesen. Einschlägige Regelungen können dieserhalb tarifvertraglich an sich immer noch vereinbart werden2o. Ein markantes Beispiel einer jedenfalls teilweisen Deckung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aus neuerer Zeit sind die Arbeitszeitregelungen nach den Manteltarifverträgen im Bereich der Metallwirtschaft und des Druckgewerbes vom Sommer 1984 und vom Frühjahr 1987 sowie überhaupt die neueren tarifvertragliehen zo Die Frage einer Ausweitung der betriebsrätlichen Mitbestimmung, die über die nach dem BetrVG vorgesehenen Möglichkeiten hinausginge, steht in diesem Zusammenhang nicht in Rede.
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Kap. li: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
Arbeitszeitregelungen. Hier werden Arbeitsbedingungen geregelt, unbeschadet dessen, wie sie näher zu kennzeichnen sind. Gleichzeitig werden Wirtschaftsbedingungen gesetzt. Die Ordnung der Arbeitszeitstruktur für ganze Branchen, sogar schon eine durch einen Firmen-TV verei.nbarte Ordnung für ein einziges, für die Volkswirtschaft jedoch wichtiges Unternehmen, ist ein Faktor, der den wirtschaftlichen Geschehensablauf dort und in einer beachtlichen Hinsicht des weiteren für die Gesamtvolkswirtschaft mitbestimmt. Selbst bei der Arbeitszeitregelung für ein einziges für die Gesamtwirtschaft nicht besonders wichtiges Unternehmen, wird jedenfalls für dieses Unternehmen zusammen mit einer Arbeitsbedingung eine Wirtschaftsbedingung geregeit2t. d) Keine nähere Bestimmung der verfolgbaren Interessen, aber kein absoluter Freiraum der Verbände
Mit der Umschreibung des Bereiches der in Rede stehenden Interessen erfolgt keine nähere Bestimmung der insoweit verfolgbaren Belange, es ist nur der Raum des diesbezüglichen Verhaltens umschrieben. Der verfassungsrechtliche Schutz der Koalitionsbetätigung bezieht sich allein auf die in der Verfassung genannten Zwecke. Das Koalitionswesen und die Koalitionsbetätigung haben nach dem GG keinen in jeder Hinsicht absoluten Freiraum. Für eine ethische - und rechtliche - Begrenzung der in Frage kommenden Interessen gilt zuvörderst und zunächst das, was im vorstehenden Abschnitt allgemein zur Interessenverfolgung gesagt ist. 3. Die Angehörigen des Arbeits- und Wirtschaftslebens Ihre Bedeutung, ihre SteUung, ihre allgemeine Bindung a) "Jedermann" und "ane Berufe" im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG
Die Interessenverfolgung hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen über Vereinigungen ist grundgesetzlich für "jedermann und für alle Berufe" gewährleistet. Arbeitnehmer und Arbeitgeber/Unternehmer sind die fundamentalen und eigentlichen Träger des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Die Begriffe "jedermann" und "alle Berufe" bezeichnen somit "jedermann im Arbeits- und Wirtschaftsleben" und "alle Berufe im Arbeits-/Wirtschaftsleben". Die Formulierung der Verfassung stellt im Gesamtzusammenhang mit der Vorschrift auf die umfassende (Rechts-)Möglichkeit der Interessenverfolgung auf dem Wege eines Zusammenschlusses für alle im Arbeits- und Wirtschaftsleben Stehenden ab22. 21 Die obigen Ausführungen sind weitgehend wörtlich übernommen aus dem Gutachten des Verfassers "Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, insbesondere die Neutralität des Staates und verfahrensrechtliche Fragen" , Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Nr. 125, 13 - 16. Dort finden sich auch die erforderlichen Nachweise.
3. Die Angehörigen des Arbeits- und Wirtschaftslebens
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Bei einer näheren Betrachtung des Art. 9 Abs. 3 GG erfolgt allerdings nicht nur hinsichtlich des Sachbereiches der lnteressenverfolgung, sondern ebenso hinsichtlich seiner Zielsetzung eine Einschränkung durch die Grundrechtsvorschrift selbst. Einmal können die Arbeitnehmer als Arbeitnehmer nicht die Aufhebung der Arbeitgeber/Unternehmerseite betreiben. Das GG setzt mit seiner Formulierung des Grundrechts der positiven Koalitionsfreiheit das Bestehen der Angehörigen des letzteren Kreises notwendig voraus23. Da Art. 9 Abs. 3 GG die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber/Unternehmer in gleicher Weise anspricht und so der Lebenstatbestand der abhängigen Arbeit in Rede steht, sind die Koalitionsfreiheit der Angehörigen der jeweils in Frage kommenden Gruppen und das Koalitionswesen der jeweiligen Vereinigungen garantiert. Folgerichtig muß auf der Arbeitgeber/Unternehmerseite die eigentümliche Rolle und Funktion des Arbeitgebers und Unternehmers vorliegen. Man darf von einem "materiellen Arbeitgeberbegriff" sprechen24. Dann können die Angehörigen der Arbeitnehmerseite in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer und ebenso ihre Koalitionen nicht gleichzeitig arbeitgeberisch handeln. Formal mag zwar den Arbeitnehmern etwa in der Gestalt einer juristischen Person immer noch ein rechtsbegrifflich eigenständiger Arbeitgeber und Unternehmer begegnen. Gleichwohl nähme auch die Arbeitnehmerseite rechtlich Arbeitgeber- und Unternehmerkompetenzen mit wahr. Das BVerfG vertritt im Ergebnis diese Sicht ebenfalls. In seinem Mitbestimmungsurteil heißt es: "Wenn die Gesellschaften [sei!.: die juristischen Personen als Unternehmer] indessen durch externe Kräfte (gemeint ist die Arbeitnehmerseite mit ihren Gewerkschaften) mitbestimmt werden, dann kann der Einfluß, der sich daraus auf die Organisation und die Willensbildung der Arbeitgeberkoalitionen ergeben kann, nicht als unbeachtlich angesehen werden25." Ebenso muß im Gefüge der Gesellschaft die Gruppe der Arbeitnehmer bestehen. Auch ihr Vorhandensein wird als soziologischer Sachverhalt notwendig vorausgesetzt. Daß sowohl die Angehörigen der Arbeitgeber/Unternehmerseite wie die der Arbeitnehmerschaft jeweils die Gruppen wechseln können, hat mit alledem nichts zu tun. Bei der Weite der Formulierung "für jedermann und für alle Berufe" sind auch Unternehmensgebilde in der Form einer juristischen Person auf der Arbeitgeberseite mit erfaßt. Die juristische Person tritt als eigenes soziologi22 Die Tätigkeit von Strafgefangenen fällt von ihrem Zweck her nicht unter den Begriff des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Deswegen ist auch der Gedanke einer Strafgefangenen-Gewerkschaft verfehlt. Daß Strafgefangene menschlich zu behandeln sind, ist eine andere Frage. 23 Siehe auch Rüthers, in: Krise der Gewerkschaften - Krise der Tarifautonomie?, 154. 24 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 184. 25 BVerfG 50, 290 (374); vgl. auch Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 185.
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sches und rechtliches Gebilde in Erscheinung, das die es angehenden Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen entsprechend seinen Belangen zu verfolgen vermag. Gemäß Art. 9 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Die Worte "für jedermann" in der Normierung des Art. 9 Abs. 3 GG zeigen darüber hinaus an, daß juristische Personen mit dem Sitz im Ausland, sofern sie z. B. mit inländischen Filialbetrieben oder sonstwie im deutschen Arbeitsund Wirtschaftsleben in Erscheinung treten, ebenfalls an,der Grundrechtsgewährleistung der Verfassung teilnehmen. Der rechtlichen Sicherung der lnteressenwahrnehmung durch Zusammenschluß für den einzelnen Menschen entspricht es, diese Sicherung auf juristische Personen zu erstrecken. Nur auf juristische Personen mit dem Sitz im Inland abstellen zu wollen, erschiene willkürlich. Rein begrifflich sind juristische Personen auf der Arbeitnehmerseite denkbar, im realen Geschehen treten sie allerdings nicht auf. Unabhängig hiervon müssen derartigen Arbeitnehmergebilden gegenüber aber auch durchgreifende rechtliche Bedenken angemeldet werden, sofern nicht eine Sicherung zugunsten der Arbeitnehmer vorgesehen ist. Die Menschenwürde des konkreten einzelnen Arbeitnehmers verlangt, daß er sich aufgrund eines persönlichen Entschlusses in ein in der näheren Realisierung seine ganze Persönlichkeit erfassendes Arbeitsverhältnis begibt, insbesondere sich der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers unterstellt. Daß etwa wirtschaftliche Umstände das Eingehen des Verhältnisses faktisch gleichsam erzwingen können, ändert nichts an dem eigenen Entschluß. b) Die arbeitsteilige Wirtschaft als Grundlage und Voraussetzung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber·SteUung
Wenn die deutsche Verfassung im Blick auf die Interessenverfolgung hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die Schichten der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber/Unternehmer voraussetzt, stellt sie auf eine arbeitsteilige Wirtschaftsgesellschaft in dem Sinne ab, daß die Unternehmen gegliedert sind in die Unternehmensleitung einerseits und die Mitarbeiter andererseits. Die Aufgabe der Unternehmensleitung fällt dem Unternehmer einschließlich der Personen zu, die ein Unternehmen in der Gestalt einer juristischen Person kraft ihrer Stellung unmittelbar repräsentieren. Die nähere Arbeitgeberaufgabe selbst ist ein wesentlicher Aspekt der Unternehmerstellung. Da die Führung eines Unternehmens stets mit und in allen seinen Beziehungsfeldern gesehen werden muß, diese zudem in einem Interdependenzverhältnis zueinander stehen, ist eine tatsächliche und rechtliche Trennung zwischen der Arbeitgeber- und der sonstigen Unternehmertätigkeit nicht möglich. Das gilt auch, wenn bei kollegialer Unternehmensführung im Innenverhältnis eine Ressortgliederung vorhanden und sogar betriebswirtschaftlich
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geboten ist. Das einzelne Mitglied des Leitungsgremiums handelt für das Unternehmen schlechthin, und in nicht wenigen Fällen muß es über die näheren Gegebenheiten seines Bereiches hinausgreifen. Die arbeitsteilige Wirt· schaft als solche bedeutet keine Herabsetzung des Arbeitnehmers in seiner Subjektstellung, also als Person. Diese tiefste menschliche Qualität ist gegenüber dem in einer Arbeitnehmerstellung stehenden Menschen zu achten, und sie muß vom Arbeitgeber anerkannt werden. Der Arbeitnehmer ist in seiner wirtschaftsfunktionalen und ebenso in seiner damit gegebenen gesellschaftlichen Stellung schlechthin als Mensch zu sehen, und ihm ist entsprechend zu begegnen. Die erste und gleichzeitig die entscheidende Voraussetzung hierfür ist, ihn zusammen mit dem Unternehmer als Mitarbeiter bei der gemeinsamen Verwirklichung des Unternehmenszieles zu bejahen. Dasselbe gilt im öffentlichen Dienst für das Verhältnis von Dienststellenleiter und sonstigen Behördenangehörigen. c) Das Unternehmen als Personalverbund, das Eigentum im Unternehmen, Aufgaben der Unternehmer einschließlich ihrer treuhändensehen Verpffichtung, treuhändensehe Seite der ArbeitnehmersteUung
Das Unternehmen- und ebenso die Dienststelle- sind im letzten ein Personalverbund. Der Unternehmenserfolg und die Wirksamkeit der Dienststelle hängen von der Tätigkeit ihrer Leitung und damit von Menschen26, aber ebenso von dem Handeln und Verhalten der Mitarbeiter ab, also gleichfalls wieder von Menschen27. Wenn man von dem atypischen Fall des ohne weitere Mitarbeiter tätigen Unternehmers absieht, sind die tragenden Komponenten des Unternehmens die Unternehmensleitung, die Mitarbeiter (mit ihren verschiedensten Aufgaben bis hin zu den Leitenden Angestellten) und die Eigentümer (sofern sie nicht mit der Unternehmensleitung zusammenfallen). Der funktionale Zusammenhang von Unternehmensleitung und Mitarbeitern zur Verwirklichung des von der Unternehmensleitung (hier den Eigentümern) gesetzten Unternehmenszieles konstituiert das Unternehmen. Das aber heißt, daß das Unternehmen in seinem Kern und in erster Linie als ein Verbund von Personen zur Verwirklichung des Unternehmenszieles anzusehen ist28. Es steht 26
ter.
Im Bereich der Rechtspflege gilt dies vor allen Dingen für die Tätigkeit der Rich-
27 Hierzu zählen bei den Dienststellen auch die Beamten. Im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG sind sie Arbeitnehmer; Scholz, in: Maunz/Dürig!Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 178, 378. Zu Arbeitskampf und Beamte siehe unten. 28 Roos, "Laborem exercens", 9, 10, Schriftenreihe "Kirche und Gesellschaft", Nr. 86, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, Mönchengladbach; G. Müller, RdA 1983, 72.
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zwar nicht ein natürlicher Lebensverbund wie etwa die Familie in Rede, vielmehr ist es die gleichsam technische Größe des Unternehmenszweckes, die ihn begründet und zusammenhält. Gleichwohl stehen alle im Unternehmen Tätigen, insbesondere auch seine Arbeitnehmer, mit ihrer ganzen Person in der Arbeit. Das Unternehmen hat also eine ausgesprochen humane Dimension29. Sächliche Mittel sind äußerst wichtig, ohne die Personen der Unternehmensleitung und ohne die Mitarbeiter bleiben sie jedoch tot. Erst die gemeinsame Tätigkeit aller trägt und realisiert das Unternehmen und die Dienststelle. Nicht die instrumentalen Größen des Unternehmens, insbesondere das Eigentum und im weitesten Sinne des Wortes allgemein das Kapital (Produktionsmittel, Finanzvermögen, Bonität, good will usw.) machen es letztlich aus. Entscheidende Grundlage ist die gemeinsam erfolgende Arbeit der Menschen, die erst alle instrumentalen Größen wirksam werden läßt3o. Nur in diesem Zusammenhang hat auch der treuhänderische Aspekt des Eigentums an dem Sachsubstrat des Unternehmens31 seinen Platz. Die Folgerungen, die mit dem Unternehmen als Zelle der Volkswirtschaft unmittelbar gegeben sind, verlangen ethisch, das "Unternehmens-Eigentum" unter diesem treuhänderischen Aspekt zu sehen. In der deutschen Rechtsordnung ist dies mit Art. 14 Abs. 2 GG positiv-rechtlich normiert. Daß Eigentum verpflichtet und daß sein Gebrauch zugleich, außer dem Wohle des Eigentümers, dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll, ist geboten, wenn das Eigentum in seiner Bedeutung und in seinem Gewicht in einem Zusammenhang erlaßt werden muß, wie er im Falle eines Unternehmens vorliegt. Dentreuhänderischen Aspekt des "Unternehmens-Eigentums" zu beachten, ist in erster Linie die Aufgabe der Unternehmensleitung. Bei erkennbarer Vernachlässigung derselben oder bei einem erkennbaren groben Verstoß gegen sie ist ein entsprechender nachdrücklicher Hinweis durch die Repräsentanten der Belegschaft jedenfalls zulässig32. Eine Substituierung der fraglichen Unternehmerischen Tätigkeit durch die Arbeitnehmerschaft ist dagegen nicht möglich. Die Mitarbeiter können, nicht zuletzt auch wegen ihrer eigenen höchst legitimen Belange, die Funktion der Leitung in ihrer Kernsubstanz nicht übernehmen. G. Müller, DB 79, Beilage Nr. 5, 10 f. G. Müller, RdA 83, 72. 31 Der Eigentumsbegriff ist hier in dem weiten Sinne des Art. 14 GG nicht in dem nur das Eigentum an Sachen erfassenden Begriff des BGB gemeint. Die zivilrechtliche "Reduktion" ist für den streng bürgerlich-rechtlichen Bereich allerdings höchst sinnvoll, ja sogar wohl angebracht. 32 In erster Linie müßte allerdings das Gemeinwesen über seine Repräsentationsorgane tätig werden. Es geht um die Verpflichtung des Eigentumsgebrauches gegenüber der Allgemeinheit. Das setzt aus Gründen der Rechtssicherheit eine näher umschriebene rechtliche Regelung einschließlich der Statuierung etwaiger Sanktionen voraus. Die sich hier stellende Problematik ist noch längst nicht genügend durchdacht. Vor ihrer Vernachlässigung ist ebenso zu warnen wie vor Übertreibungen. 29
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Bei der Weite des Ermessensspielraumes, der der Unternehmensleitung zur Verfügung stehen muß, wenn sie ihre Gesamtaufgabe erfüllen soll, und bei der Ungewißheit hinsichtlich vieler hierbei bedeutsamer Umstände wird allerdings eine erkennbare Vernachlässigung und ein erkennbarer grober Verstoß gegen die treuhänderische Pflicht nur selten zu bejahen sein. Bei extremer Mißachtung ihrer Aufgabe mit der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Folgen für die Mitarbeiter wird man aber doch eine Arbeitseinstellung in Erwägung ziehen müssen, wenn anders Abhilfe nicht zu schaffen ist. Die Arbeitnehmer würden im Ergebnis sonst zu einem grob unethischen und zu einem grob rechtswidrigen Verhalten mit herangezogen und dazu beitragen33. Die Bejahung der Arbeitseinstellung erscheint andererseits nur restriktiv möglich. Etwaige erhebliche Störungen des Wirtschaftslebens zum großen Nachteil der Gesamtgesellschaft und der Gemeinschaft und der Eintritt eines allgemeinen Chaos sind je nach den Umständen des einzelnen Falles keine lediglich entfernt drohenden Gefahren. Der Unternehmer legt zwar das Ziel des Unternehmens fest, um dessentwillen es besteht, wie im öffentlichen Dienst durch die legitimen Repräsentanten der hoheitlichen Gewalt das Ziel der Dienststelle vorgegeben wird.- Im Falle der Publikumsaktiengesellschaften wird das Unternehmensziel von den insoweit als Unternehmer auftretenden Anteilseignern bestimmt, die aber bei dem Unternehmensverbund im eigentlichen Sinne, dem "wirkenden" Unternehmen, nicht weiter in Erscheinung treten, sondern nur über die Hauptversammlung sozusagen am Rande und in Einzelfällen unternehmerisch tätig werden34. Die Zielverwirklichung wird jedoch als eine von ihnen ebenfalls zu erfüllende Aufgabe von den Mitarbeitern entscheidend mitgetragen. Diese Sicht ist gerade auch im Blick auf die Arbeitnehmer allein personengerecht. Sie sindtrotzihrer Weisungsgebundenheit im Kerne eben Mit-Arbeiter. Den 33 Eine solche Arbeitsniederlegung ist kein Streik, bei dem es um die Erzielung eines TV geht. Es handelt sich vielmehr um eine analoge Anwendung des Zurückbehaltungsrechtes an der Arbeitsleistung i. S. des§ 273 Abs. 1 BGB. In dem hier in Rede stehenden Fall ging es um die Sicherung wichtiger legitimer Positionen der Arbeitnehmer, und zwar eines jeden Einzelnen von ihnen. 34 Der von der Hauptversammlung bestellte Aufsichtsrat (bei den der vollen paritätischen Mitbestimmung auf Unternehmensebene und dem Mitbestimmungsgesetz unterliegenden Unternehmen erfolgt die Bestimmung der Hälfte der Aufsichtsratsangehörigen zum Teil auf andere Weise) ist dagegen ein echtes unternehmerisches, zur Unternehmensleitungzählendes Organ. Er handelt als solches eigenständig; seine Mitglieder werden demgemäß ebenfalls unternehmerisch tätig; siehe unten. Bei der GmbH liegen die Dinge verschieden. Es finden sich hier Unternehmen, bei denen die Dinge wie bei den Publikumsaktiengesellschaften oder doch ähnlich liegen. Andererseits haben GmbH-Gesellschafter in vielen Fällen jedenfalls praktisch und z. T. auch formell mit einem oder mehreren von ihnen die Unternehmensleitung inne, wobei das Zusammenfallen der Unternehmerischen Aufgaben und des MehrheitsEigentums ihnen gegenüber den anderen Gesellschaftern eine zweifellos besondere Macht verleiht. Derartige Fälle können auch bei den Aktiengesellschaften auftreten. Faktische Gegebenheiten jedenfalls von Dauer hat die Rechtsordnung zu beachten.
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Charakter des Unternehmens als Personenverbund zur Realisierung des Unternehmenszieles zu sehen, zu bejahen und ihre eigene Tätigkeit entsprechend auszurichten, ist u. a. nicht nur wegen der Mitarbeiter, sondern auch wegen der sonst für die Allgemeinheit eintretenden Gefahren eine zentrale Aufgabe der Unternehmensleitung und damit ein Postulat des treuhänderischen Aspektes35. Die von der Sache her verlangte und damit die sozialethische Sicht des Unternehmens als Personalverbund ist im übrigen gleichzeitig die vom Recht gebotene Sicht. Die Rechtsordnung untersagt Willkür. Willkür ist aber jede Erfassung und Bewertung einer Größe, die sachlich schlechterdings nicht mehr vertretbar ist. Sie liegt auch vor, wenn das Eigentliche eines Sachverhaltes nicht in den Blick kommt. Eine Beurteilung, die nicht gewollt und vielleicht sogar in entschuldbarer Weise entscheidende Determinanten außer acht läßt, geht an der zu erfassenden Gegebenheit vorbei. Daher hat die Rechtsordnung das Unternehmen unter den hier aufgezeigten Gesichtspunkten zu bestimmen36. Die bekannte Formel des Reichsgerichts von dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist eine Hilfskonstruktion. Die Rechtsprechung, die allerdings zu Gewohnheitsrecht verfestigt ist, sah das unabweisbare Bedürfnis, das Unternehmen als Gesamtgröße unter die absoluten Rechte des § 823 Abs. 1 BGB einordnen zu müssen, um dem Unternehmensinhaber den erforderlichen, nach der Ordnung unseres bürgerlichen Rechts sonst nur schwach vorhandenen deliktsrechtlichen Schutz zu gewährleisten. Das ist jedoch nur ein einziger Aspekt zur rechtlichen Kennzeichnung des Unternehmens und keineswegs der fundamentale. Das Unternehmen ist die Zelle der Volkswirtschaft und damit für die Gesamtgesellschaft von zentraler Bedeutung. Die treuhänderische Aufgabe des Unternehmens ist, unbeschadet der vorgegebenen Bindung der Mitarbei'ter an das vom Unternehmer gesetzte Unternehmensziel, als je eigene Obliegenheit des Unternehmers und der Mitarbeiter und insofern in je verschiedener Weise zu erfüllen. Einmal ist die Aufgabeaufgrund der Unternehmerstellung, das andere mal aufgrund des Arbeitsverhältnisses gestellt. Zutiefst liegt jedoch eine einheitliche treuhänderische Verpflichtung vor, da ein entscheidend wichtiger Aspekt des Sozialverbundes Unternehmen in Rede steht. Eine allgemeine Zielrichtung eines jeden Unternehmens liegt vor. Die arbeitsteilige Wirtschaft mit ihrer Unterscheidung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern erfüllt ihrerseits eine sehr gewichtige Voraussetzung für eine wirksame Unternehmenstätigkeit. Die Konzentration der 35 Es geht um das, was man im Arbeitsrecht weithin immer noch mit dem m. E. wenig glücklichen Ausdruck von der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bezeichnet. Grundlage, Bedeutung und Tragweite dieser Pflicht ist aber voll erst mit der Kennzeichnung des Unternehmens als eines Personalverbundes gewonnen. 36 In der Rechtsprechung des BVerfG findet sich jedenfalls ein Anhaltspunkt hierfür; siehe BVerfG 50, 290 (365) .
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gesamten für eine Unternehmensleitung unerläßlichen und wesentlichen Aufgaben bei einer einzigen Funktionsstelle des Unternehmens gewährleistet institutione!l37 die größtmögliche Zusammenschau sämtlicher für das Unternehmen wichtigen Gegebenheiten, das Erfassen ihrer gegenseitigen Beeinflussung und, hierauf aufbauend, die Setzung sachgemäßer Prioritäten. Nur wenn dies alles ermöglicht ist, wird das Unternehmen bestehen bleiben, das Unternehmensziel beständig realisieren und so seinen Beitrag zum Wohle der Gesamtgesellschaft leisten. Zu beachten ist aber, daß die sozial-humane Seite des Unternehmens, das Wohl und Wehe seiner Mitarbeiter und nicht nur wirtschaftliche Fragen von der Unternehmensleitung entschieden gesehen werden müssen. Im übrigen führt eine Vernachlässigung dieses äußerst wichtigen Aspektes auf die Dauer zur Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Effizienz des Unternehmens selbst, die Spannungen und Konfrontationen in ihm schlagen auf sein ordnungsgemäßes Arbeiten durch38. Die in Rede stehende Arbeitsteilung, die Grundform der Arbeitsteilung überhaupt, ist heute allen einigermaßen entwickelten Wirtschaftssystemen eigen, gleich welchen Charakter sie sonst noch haben mögen. Die ~achgemäß heit einer mit ihren spezifischen Aufgaben gegenüber den Mitarbeitern abgehobenen Unternehmensleitung ist es auch, die gegenüber den sog. alternativen Betrieben/Unternehmen mindestens erhebliche Bedenken hervorrufen muß. Wird alle und jede Unternehmerische Maßnahme zum Gegenstand der Entscheidung sämtlicher Unternehmensangehörigen gemacht, ist notwendig die Verwirklichung des Unternehmenszieles in Frage gestellt, jedenfalls aber im höchsten Maße gefährdet. Das gilt sogar dann unverändert, wenn allein nur die grundlegenden Unternehmerischen Entscheidungen auf diese Weise getroffen werden. Bei den gerade in diesen Fällen auftretenden Möglichkeiten erheblich divergierender Sichten muß, gleich wie die Beschlußfassung ausfällt, immer damit gerechnet werden, daß ein die Tätigkeit des Unternehmens auf längere Zeit empfindlich tangierender Riß die Gesamtheit der Unternehmensangehörigen spaltet. Nicht zuletzt bliebe das Alltagsleben in den Betrieben und Unternehmen nach wie vor in der Sache durch das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gekennzeichnet. Allgemein gilt: Ohne die Erteilung von Weisungen einerseits und ihre Ausführung andererseits, selbst wenn in der Durchführung der Weisung im gegebenen Falle dem Ausführenden ein weiter Spielraum zur Konkretisierung derselben überlassen bleibt, endet ein Unternehmen sehr schnell im Wirrwarr39. Der Gedanke der alternativen Betriebe ist ein Irrweg4o. 37 Das Wort "institutionell" ist in diesem Zusammenhang primär soziologisch zu verstehen. 38 All das eben Gesagte gilt entsprechend auch für die Leitung der Dienststellen. 39 Der Gedanke der alternativen Unternehmen dürfte nicht zuletzt von der Auffassung getragen sein, in ihnen werde ein "herrschaftsfreier" Raum verwirklicht und es
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Kap. li: Die Interessenverfolgung der Koalitionen d) Personengerechte Stellung der Arbeitnehmer
Wird bei der Gliederung der Unternehmen nach Unternehmensleitung und Mitarbeitern der Arbeitnehmer in dieser seiner Stellung stets und zuerst als Mensch gesehen, anerkannt und das Unternehmensgeschehen entsprechend gestaltet, ist die fragliche Struktur für jeden im Unternehmen als Unternehmer/Arbeitgeber oder als Arbeitnehmer Tätigen personengerecht. Das arbeitsteilige Unternehmenssystem ist bei Beachtung dieses Erfordernisses und wegen seiner Sinnhaftigkeit für die Geamtgesellschaft und letztlich auch für den Einzelnen kein geringes, ja sogar ein sehr hohes ethisches Gut. Die dinglichen Werte im Unternehmen und sein Sachsubstrat können dem Menschen nicht über- und noch nicht einmal gleichgeordnet sein. 4. Die Berufsfreiheit und die durch den Beruf erfolgende Bindung des Unternehmers/Arbeitgebers und des Arbeitnehmers a) Die Berufsfreiheit des Unternehmers/Arbeitgebers
Bei der Subjektstellung des Menschen ist es ethisch voll gerechtfertigt, den Beruf des Unternehmers/Arbeitgebers zu ergreifen. Die Verteufelung des Unternehmers, wie man sie oft antreffen kann, bleibt eine ideologische Verzerrung. Menschenverachtend und menschenbedrückend kann man jeden Beruf, auch den des Arbeitnehmers (etwa im Verhältnis zu seinen Mit-Arbeitnehmern) ausüben. Bei der soziologischen und damit bei der Sach-Grundlage des Unternehmens, dem Personalverbund, hat der Unternehmer in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber auch bei der Setzung streng wirtschaftlicher Größen immer die Auswirkung auf die Belegschaft und ihre Angehörigen mitzubeachten, ebenso, weil das Unternehmen eine Erscheinung im Gefüge der Volkswirtschaft und der Gesamtgesellschaft ist, die Auswirkungen hier. Um einen Unternehmerischen Beruf handelt es sich im übrigen ebenso im Falle des Top-Managers, des "angestellten Unternehmers" . Der "personale Grundzug" bei der Berufswahl bleibt wirksam, wenn ein Beruf "im Unternehmen", etwa "auf der Ebene des Großunternehmens", von dem Einzelnen als unternehmerischer Beruf ergriffen wird. Die Repräsentation des Unternehmens erfolgt durch eine Person. komme zu einer Gestaltwerdung "des demokratischen Gedankens". Die bei der Beschlußfassung in der Minderheit bleibenden Unternehmensmitglieder sind jedoch dem Willen der Mehrheit in der Ausführung des Beschlusses unterworfen. Eine Diskussion so lange, bis Einstimmigkeit erreicht sein sollte, lähmt die eigentliche Tätigkeit des Unternehmens, abgesehen davon, daß die Erzielung der Einstimmigkeit von Hause aus stets fraglich bleibt. Scheiden bisherige Unternehmensangehörige aus dem Unternehmen aus, weil die Durchsetzung ihrer Auffassungen keine Aussicht auf Erfolg hat , wäre dies bei dem extrem gefaßten Begriff des demokratischen Gedankens ebenfalls "undemokratisch" . 40 BVerfG 50, 290 (362, m. w. Nachweisen).
4. Die Berufsfreiheit
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b) Die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers
Ethisch voll gerechtfertigt ist es auch, einen Beruf als Arbeitnehmer zu ergreifen. Der Gedanke und das Prinzip der Berufsfreiheit haben in stets gleicher Weise "Bedeutung für alle sozialen Schichten"41 . Vor allem: "Die Arbeit als Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde. "42 Das sagt das BVerfG für jede Art von Arbeit, auch für die Arbeit des Arbeitnehmers. In jeder in sich nicht unethischen Tätigkeit vermag der Mensch sein personales Menschturn nicht nur zu bewahren, sondern auch zur Geltung zu bringen und damit zu entfalten. Die "niederen Arbeiten" bilden keine Ausnahme. Wenn sie als solche notwendig sind, ist ihre Bewältigung, wie jede andere Tätigkeit, sinnvoll. Nicht zuletzt bleiben sie mit ihrem Entgelt für den Einzelnen in einer letzten Hinsicht individuell sinnvoll als eine materielle Grundlage seines Daseins43. In der Wirklichkeit des Lebens sind viele Menschen praktisch gezwungen, als Arbeitnehmer tätig zu sein. Dies ist zweifellos eine Folge nicht zuletzt der Industrialisierung und Technologisierung sowie der Ausdehnung der Tätigkeit des Staates und der ihm zugeordneten öffentlich-rechtlichen und sonstigen Einrichtungen. Die dem Staat zugefallene Daseinsvorsorge verlangt weit mehr an Arbeitnehmertätigkeit (im weiten Sinne des Wortes), als das für ein Staatswesen gilt, das sich mehr oder weniger auf die Sicherung von Rahmenbedingungen für die Gesellschaft wie z. B. Rechtssicherheit und allgemeine innere und äußere Sicherheit beschränkt. In sich ist die Arbeitnehmertätigkeit, wie in diesem Zusammenhang nochmals zu betonen ist, keinesfalls unethisch; sie tangiert die menschliche Persönlichkeit als solche nicht. Allerdings bestehen beachtliche reale Einschränkungen für die BerufsfreiheiL Der Persönlichkeitskern des Menschen muß jedoch nicht berührt sein. Es ist sogar die Möglichkeit der personalen Entfaltung in ihrer tiefsten, nämlich in ihrer ethischen Hinsicht, gegeben. Wenn damit auch nicht gesagt sein soll und sogar nicht gesagt werden darf, ein entsprechender irgendwie gearteter Zwang, ungeliebte und schwer fallende Arbeiten auszuüben, sei zu begrüßen, so vermag der Mensch sich, wie zudem vielfältige Erfahrung zeigt, nicht zuletzt in wichtigen und selbst schwer drückenden Umständen zu bewähren. Das gilt alles selbst dann, wenn der einzelne Mitarbeiter eine ungeliebte Arbeit zu erfüllen hat und zugleich seine Arbeit, z. B. am Fließband und jedenfalls des öfteren am Bildschirm, nervlich-körperlich anstrengend ist. Der Arbeitnehmer weiß zudem von vornherein mehr oder weniger, was auf ihn zukommt und was Siehe vorstehende Anmerkung. Ebd. 43 Es soll hier nicht weiter untersucht werden, ob die berufliche Arbeit nicht nur in Bezug auf andere einschließlich der Gesellschaft und der Gesamtgemeinschaft, sondern gleichfalls für den Einzelnen als Einzelnen sinnvoll zu sein hat. Immerhin muß sie auch dieserhalb in irgendeiner Hinsicht überhaupt dienlich sein. 41
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4 G. Müller
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seine Situation ist. Im strengsten Sinne des Wortes wird er auch zu seiner Tätigkeit nicht gezwungen; er hat sie in einem letzten Aspekt immer noch frei gewählt. Zudem hat der Arbeitgeber bereits von sich aus angemessene Pausen und wirkliche Zeiten der Ausspannung vorzusehen. Nicht zuletzt gilt: die Industriegesellschaft und das Behördenwesen in ihrem breiten Ausmaß sind, soweit die Zukunft prognostiziert werden kann, einfach nicht abzuschaffen, und ein Versuch hierzu wäre ethisch verfehlt. Die Beseitigung dieser Größen in ihrem Ausmaß hätte schwere und schwerste gesellschaftliche Schäden zur Folge. Der Gemeinwohlgesichtspunkt spielt also eine Rolle. Unbeschadet dessen, daß nach Möglichkeit jedem der Zugang zu einem Beruf nach seinen Fähigkeiten und den ihnen entsprechenden Neigungen offen sein sollte44, ist, wie auch sonst die menschliche Freiheit, die Freiheit der Berufswahl nicht mit Willkür gleichzusetzen. Zum Menschen und seiner Wahrheit gehört unaufhebbar die Bejahung seiner Kontingenz und somit ebenfalls die Hinnahme praktisch nicht zu beseitigender, in sich nicht unethischer Vorgegebenheiten45. Sie sind ebenso für den Unternehmer gegeben. Die in Rede stehenden Vorgegebenheiten schlechthin abzulehnen, läuft auf die Bejahung einer dem Menschen in seiner Geschöpflichkeit widersprechenden absoluten Emanzipation hinaus. c) Zwänge beim Beruf des Unternehmers/Arbeitgebers
Eine in der Realität unumschränkte berufliche Freiheit, insbesondere eine absolute Freiheit der Berufsausübung, besteht auch für den Unternehmer nicht. Er kann die binnen- und weltwirtschaftliche Bedeutung des Marktes nicht ignorieren, die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung legt ihm Bindungen auf, und die Inhaber von im Unternehmen arbeitendem Fremdkapital haben mehr oder weniger große Einflußmöglichkeiten auf die Unternehmensleitung. Die technische und technologische Entwicklung kann dazu führen, daß bisherige Produkte nicht mehr gefragt sind oder daß sich die Produktionsweise vollständig ändern muß und so das Unternehmensziel und die Produktionsmethode völlig umzustellen sind. Der Unternehmer ist, entgegen der Meinung wohl nicht weniger, keineswegs ein freischaltender Herr. Anders zwar und in anderer Hinsicht als der Arbeitnehmer kann er ebenfalls und ohne weiteres in Zwangssituationen stehen. Bei dem Arbeitnehmer treten sie je nach der Arbeitsaufgabe unmittelbar greifbar, immer aber mehr oder weniger 44 Das heißt z. B. aber nicht, der Staat habe unerläßlich etwa durch die Bereitstellung entsprechender Mittel einen weiten Zugang zum Universitätsstudium zu eröffnen. Nicht wenige konnten in früheren Zeiten aufgrund der Großherzigkeit von Privaten höhere Schulen und Hochschulen besuchen. Vielleicht ist diese ausgesprochen menschliche Haltung heute u. a. deswegen nur noch selten anzutreffen, weil der Staat auch in diesem Bereich (übrigens bei seiner Bürokratie unpersönlich) tätig wird. 45 Etwas anderes ist die Behebung von Gegebenheiten, die zwar nicht unethisch sind, die jedoch gebessert werden könnten.
4. Die Berufsfreiheit
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stark als Fremd-Bindungen in Erscheinung. Bei dem Unternehmer sind sie mit seiner Aufgabe von vornherein sozusagen in seiner Person gleichsam mitgegeben. In der Sache handelt es sich aber auch bei ihm letztlich um Fremd-Bindungen. Diese Bindungen sind an sich ebenfalls nicht unethisch. Es ist legitim, daß der Inhaber von Fremdkapital in einem Unternehmen es nicht verlieren will, und daß er es sich als ein einem Dritten zur Verfügung gestellten Instrument vergüten läßt, wobei auch ein Zuschlag für das niemals voll aufhebbare Risiko des Verlustes ohne weiteres hinzutreten kann46. Der Markt ist der Ort der Bedürfnisregulierung aufgrund der Entscheidungen der Bedürfnisträger, die sich dieserhalb bei aller Werbung zuletzt doch mehr oder weniger frei entscheiden oder durch "Notwendigkeiten" zu ihrer Entschließung bestimmt werden. Nicht zuletzt ist der Markt der Ort, an dem sich die Unternehmen der Konkurrenz stellen müssen. Die Konkurrenz soll, und das ist ihr eigentlicher Sinn, dazu führen, daß gute und beste, zugleich auch möglichst preiswerte Produkte und Leistungen zur Verfügung gestellt werden, um derart dem Menschen und der Gesellschaft zu dienen. Neue Techniken und neue Technologien kommen gleichfalls den Menschen und der menschlichen Gesellschaft zugute, in sich schlechte Größen gibt es insoweit möglicherweise kaum. Eine andere Sache ist es, daß das, was in die Hand des Menschen gelegt ist, von ihm ethisch mißbraucht werden kann. Sämtliche an sich anzuerkennenden Anlagen des Menschen und seine sämtlichen an sich anzuerkennenden Möglichkeiten sind gleichzeitig ambivalent; sie lassen sich bis zur Perversion verfehlt einsetzen. Dem Unternehmer obliegt eine besondere ethische Verantwortung. Wenn man so will, hat er die besondere Belastung, alle von ihm zu beachtenden Gegebenheiten nach seinen konkreten Möglichkeiten, aber stets mit gehöriger Anstrengung, letztlich im Interesse der Gesamtgesellschaft möglichst zu einem optimalen Ausgleich zu bringen. Er hat etwa die Belange des Fremdkapitals, die sich am Markt stellenden Fragen und die Erfordernisse der technischen Entwicklung im Verhältnis untereinander angemessen zu beachten und sein unternehmerisches Verhalten entsprechend einzurichten. Die Erstellung der erforderlichen Wahrscheinlichkeitsprognose fällt gleichfalls in die ethische Verantwortung des Unternehmers. Hierunter fallen des weiteren heute die Probleme des Umweltschutzes, die wiederum notwendig das Abund Auswägen mit all den anderen Fragen und die Koordination im Rahmen der Gesamtentscheidung verlangen. Unternehmen haben nicht zuletzt die betriebswirtschaftliche Aufgabe, wirtschaftlich effektiv tätig zu sein, d. h. mit anderen Worten, sie müssen mindestens langfristig rentabel arbeiten. Auf der anderen Seite hat das Unternehmen als Personalverbund eine wesentliche soziale Dimension, sie steht nun einmal mit dem Unternehmen selbst in Rede. Die sachgerechte Erfüllung der 4li Auch letzteres läßt eine noch hinzukommende zusätzliche Einwirkung auf die Unternehmensleitung nicht unethisch sein.
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Kap. Il: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
hier sich stellenden Aufgaben steht und fällt wiederum, zumindest langfristig, mit der Rentabilität des Unternehmens47. Sie ist auch Voraussetzung dafür, daß die Belange Dritter wie der Gäubiger sowie die gesamtvolkswirtschaftlichen Belange und sonstige wichtige Belange der Allgemeinheit realisiert zu werden vermögen. d) Vertiefung des treuhänderischen Aspektes des Unternehmens
Wegen der Bedeutung des Unternehmens für die Volkswirtschaft und die Gesamtgesellschaft ist der Aufgabe des Unternehmers/Arbeitgebers ein starkes treuhänderisches Moment eigen4s. Die Leitung des Unternehmens hat, um es nochmals zu betonen, bei dessen Charakter als Personalverbund selbst bei der Setzung der streng wirtschaftlichen Daten stets auch die Auswirkungen auf die Belegschaft und ihre Angehörigen mitzubeachten. Jedenfalls, eine ständige Mißachtung ihrer Belange wirkt sich negativ auf die Gesellschaft aus. Gleichzeitig hat die Leitung die sonstigen Folgen ihrer Entscheidung im Gefüge der Volkswirtschaft und der Gesamtgesellschaft zu sehen. Die hier wie auch sonst erforderliche Prognose verlangt, wie schon gesagt, nach Lage der Dinge einen weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum. Zudem haben die verschiedenen zu berücksichtigenden Umstände in bezug auf das Unternehmen sehr oft einen gegenläufigen Charakter, und die Prioritäten können daher in vielen Fällen ebenfalls nur im Rahmen eines sehr bedeutenden Spielraums gesetzt werden. Die Weite des Spielraums selbst ist allerdings nicht mit Ungebundenheit gleichzusetzen, insbesondere können ökonomische Erwägungen nicht stets den unbedingten Vorrang beanspruchen. Geboten ist im Interesse der wirtschaftlichen Effizienz des Unternehmens, der personalen Belange der Belegschaft und ihrer Angehörigen und im Allgemeininteresse eine Berücksichtigung aller dieser Faktoren und ihre möglichst sachgerechte Abwägung untereinander. Abgesehen von den Fällen, in denen Willkür vorliegt, kann eine sachwidrige Entscheidung allerdings nicht mit Rechtssanktionen belegt werden. Der Bereich des notwendigen Beurteilungs- und Entscheidungsspielraumes ist dafür zu groß. Die Arbeitnehmeraufgabe hat im Blick auf die Gesamtgesellschaft gleichfalls einen treuhänderischen Aspekt. Die Obliegenheiten des Arbeitnehmers und ihr Erfüllung gegenüber dem Unternehmen sind im Blick auf dessen Bedeutung für die Volkswirtschaft und die Gesamtgesellschaft mitzusehen.
47 Ein verwaltungswirtschaftlich strukturiertes Wirtschaftssystern, gleich ob es eine zentralistische oder dezentralistische Gestalt hat, ist ebenfalls auf Rendite angewiesen. Wird sie nicht erwirtschaftet, muß es auf die Dauer scheitern. 48 Vgl. auch BVerfG 50, 290 {352, 351).
4. Die Berufsfreiheit
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e) Ergebnis für die Interessenverfolgung beider Seiten des Arbeits- und Wirtschaftslebens
Es liegt also eine weitere Bindung für die Interessenverfolgung beider Seiten des Arbeits- und Wirtschaftslebens vor, und zwar eine solche materialer Art. Der treuhänderische Aspekt, der bei seinem Wurzelgrund in der Aufgabe des Unternehmens für die Allgemeinheit hinsichtlich aller im Unternehmen Tätigen letztlich eine Einheit ist49, muß beachtet werden; anderenfalls wird die mit der Unternehmer- und Arbeitnehmerstellung mitgegebene Beziehung zur Gesamtgesellschaft hintangesetzt. Allerdings ist dabei die Breite des Beurteilungs- und Ermessensspielraums für die Unternehmerischen Entscheidungen in Rechnung zu stellen. Letzteres gilt für die Leitenden Angestellten mit ihren Unternehmerischen Aufgaben übrigens entsprechend. Allerdings ist nur bei ersichtlich schwerwiegender Tangierung der Gesamtbelange unter diesem Gesichtspunkt eine formelle Sanktion der Rechtsordnung angebracht und erforderlich. Die Gemeinschaft ist betont getroffen. Die weitere Voraussetzung für eine Sanktion, daß nämlich mit der Schädigung zu rechnen war oder daß sie sogar bewußt, sei es auch bloß mit billigender Inkaufnahme, erfolgte, sie also schuldhaftgesetzt wurde, liegt jedenfalls bei einer als solcher erkannten Willkürmaßnahme vor. Kann das Unternehmensgeschehen in seinem legitimen und legalen Ablauf ohne weiteres immer wieder erhebliche Gefährdungen zeitigen, ist u. U . an eine bürgerlich- und öffentlichrechtliche Haftung nach dem sog. Verursacherprinzip zu denken, oder sie ist vielleicht sogar geboten. f) Die Frage der Abgrenzung bei einer Kollision zwischen
Gemeinbelangen und berechtigten Einzelinteressen
Eine schwierige und in vielen Fällen praktisch wohl kaum mögliche Abgrenzung wirft im Falle ihrer Kollision das Verhältnis zwischen berechtigten Gemeinbelangen und berechtigten Einzelinteressen auf. Das Gemeinwohlpostulat beansprucht zwar stets den Vorrang, bei der Interdependenz von Gemeinwohlerfordernissen und Einzelpositionen ist die Bestimmung der Vorund Nachrangigkeit für den konkreten Fall jedoch oft genug recht schwierig. Als Beispiele seien angeführt, daß die Unternehmer überhöhten Entgeltforderungen der Arbeitnehmerseite, die sich über kurz oder lang inflationär auswirken, entsprechen, um zunächst einmal eine ungestörte Unternehmenstätigkeit sicherzustellen, oder berechtigtes oder sogar angebrachtes Verlangen nach 49 Der treuhänderische Gedanke und seine Einheit hat das BVerfG ersichtlich in seiner Entscheidung zum MitbestG im Blick auf die unter dieses Gesetz fallenden Unternehmen betont; BVerfG 50, 290 (359). Er gilt, ohne daß etwas anderes aus den Formulierungen des obersten deutschen Gerichtes herauszulesen wäre, darüber hinaus schlechthin.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
höherem Entgelt bei bereits gegebener Sicherung des Existenzminimums zurückweisen, um der gesamten Branche einen kostengünstigen Export zu ermöglichen. Das Kriterium dafür, daß, wegen Willkür, eine formelle Sanktion am Platz ist, dürfte ein ersichtlich grobes Fehlverhalten sein. Zwischen dem verfolgten privaten Ziel einerseits und der schädlichen Auswirkung seiner Realisierung auf die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft muß eine erkennbar unangemessen große Divergenz vorliegen. Daß eine völlige Negativität des Zieles seine Verfolgung von vornherein verbietet, sei lediglich der Vollständigkeit halber bemerkt. 5. Keine Abschaffung des Arbeitsverhältnisses
Verfehlt ist der Gedanke, das Arbeitsverhältnis deswegen abzuschaffen, weil die Weisungsunterworfenheit des Arbeitnehmers dessen Persönlichkeit angreife. Der Arbeitnehmer ist ethisch und rechtlich als Mitarbeiter zu sehen; daß er seine Aufgabe erfüllt, ist für das Unternehmen ebenso wichtig wie die Erfüllung ihrer Aufgabe seitens der Unternehmensleitung. Von ihrer Funktion her hat die Tätigkeit der Unternehmensführung einen besonderen Rang, aber ohne die Leistungen der Arbeitnehmer läuft das Unternehmen ebenfalls nicht. Die Aufteilung der Arbeiten zwischen dem Unternehmer/Behördenleiter hier und den Mitarbeitern dort ist wegen des Erfolgs des Unternehmens und der Dienststelle angebracht und sogar geboten. Diese Arbeitsteilung sichert die Konzentration auf die sachlich notwendige Leitung einschließlich der nur auf diese Weise möglichst sinnvoll zu treffenden fundamentalen Entscheidungen einerseits wie die nähere Erfüllung der Unternehmens-/Behördenaufgabe andererseits. Den Gewinn hat mit der Förderung des allgemeinen Wohles die Gesamtgemeinschaft. Der Unternehmer wie der Arbeitnehmer stehen im Dienste derselben Veranstaltung, und zwar gerade auch im Interesse aller. Die weisungsgebundene Erfüllung seiner Aufgaben tangiert das Menschentum des Arbeitnehmers dann nicht, wenn seine als menschliches Subjekt erbrachte Leistung, und zwar gleichzeitig für die Gesamtgemeinschaft, angebracht, notwendig und unerläßlich zu bejahen ist. Ferner kann die Weisungsgebundenheit nicht als menschlich-personenhaftes Unterworfensein gesehen werden, vielmehr ist sie eine funktionsbezogene Anweisung und muß in diesem Sinne verständlich gemacht werden. Das heißt nichts anderes, als daß der Arbeitnehmer bei aller Weisungsunterworfenheit in seinem Menschentum gesichert sein muß, daß er nicht Ding ist. Die Weisung des Arbeitgebers, mag sie unmittelbar oder mittelbar, insbesondere über andere Arbeitnehmer, erfolgen, hat das ethische Selbstbewußtsein des Arbeitnehmers, seine Selbstachtung, unbedingt anzuerkennen und hat dies als wesentliche Grundlage für die legitime Erteilung der Weisung unerläßlich zu beachten. Sklaventurn ver-
6. Die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
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trägt sich nicht mit dem Menschsein, und der Arbeitnehmer ist kein Sklave. Die Behandlung des Arbeitnehmers als Mensch ist seitens desjenigen, der die Weisung erteilt, im übrigen ohne weiteres möglich. Unsere Rechtsordnung bejaht dies jedenfalls im Grundsatz. Das Arbeitsrecht kennt als eines seiner Grundelemente die in einer Anmerkung bereits erwähnte sog. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und sichert humane Positionen des Arbeitnehmers. Das wird vom Menschsein des Arbeitnehmers und seiner unmittelbar mit ihm gegebenen Menschenwürde gefordert. Der Mitarbeitergedanke ist allerdings eindeutig abzusichern, zunächst einmal durch seine ausdrückliche Aufnahme in das Arbeitsrecht. Dies und seine weitere Entfaltung in Abhebung auf den Begriff ist zweifellos ein höchst legitimes lnteressenziel, es ist sogar eine wesentliche rechtspolitische Grundforderung überhaupt. Bei monotonen und körperlich-nervlich sehr anstrengenden Arbeiten müssen regelmäßig Unterbrechungen in einem Ausmaß stattfinden, die über die Erhaltung der Gesundheit und der Arbeitskraft hinaus den Menschen wieder "zu sich kommen lassen können". Dies darf sich nicht allein auf eine Regeneration beschränken. Es geht vor allem darum, daß der Arbeitnehmer das Bewußtsein behält und die Anerkennung erfährt, Mensch zu sein. Das Wort von der "Humanisierung der Arbeitswelt" ist, so verstanden, kein Schlagwort. Am Rande sei bemerkt, daß etwa Bildschirmarbeiten und von ihrer Belastung her vergleichbare Tätigkeiten auch außerhalb eines Arbeitsverhältnisses, insofern einschließlich der Heimarbeit und eines arbeitnehmerähnlichen Verhältnisses, denkbar sind, etwa in freiberuflicher und sogar in unternehmerischer Stellung. Der Betreffende muß dann auf sich allein gestellt prüfen, ob er wegen eines Übermaßes gegen sein Menschentum verstößt oder ob er die Arbeit ethisch verantwortbar erbringen kann.
6. Die Interessensituation der Arbeitnehmer und Unternehmer/Arbeitgeber a) Die Tatsache divergierender Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber/Unternehmer und der Grund hierfür
Die Arbeitnehmer und die Unternehmer/Arbeitgeber können hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ohne weiteres divergierende Interessen haben, und sie haben sie; andererseits können sich die Interessen auch decken. Die Erhaltung des Unternehmens wird grundsätzlich im Interesse des Unternehmers liegen und, da es die Stätte der Arbeitsplätze ist, ebenso im Interesse der Arbeitnehmer. Solange und soweit das arbeitsteilige Wirschaftssystem besteht, es also Arbeitgeber hier und Arbeitnehmer dort gibt, sind die Interessen der Arbeitnehmer im Unternehmen, in der Branche, in der Region, in der Volkswirtschaft und überhaupt im Wirtschaftsleben jedoch
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
vielfach andere als die der unternehmerisch Tätigen, mag ihnen allen das Interesse am Arbeitsplatz (im umfassenden Sinne des Wortes) auch durchweg gemeinsam sein50 . Die objektiv-subjektive Situation des Einzelnen führt trotz des Arbeitsverbundes Unternehmen und darüber hinaus im Wirtschaftszweig und in der Volkswirtschaft mit sozusagen psychologischer Notwendigkeit wegen der jeweiligen funktionalen Stellung, ihrem Umfeld und ihrer Ausstrahlung zu verschiedenen Belangen51. Sie treten bei dem Einzelnen und in ihrem Fundament mit der Schicht, zu der er gehört, gewissermaßen ganz natürlich auf. Die je existentielle Situation, das Wort in einem weiten Sinne verstanden, und die mit der jeweilige:n Aufgabe gegebene Lage werden unmittelbar und in ihrem Gewicht sozusagen betont erfaßt. Allerdings besteht ebenso die Möglichkeit und die Gefahr, daß die eigene Sicht absolut gesetzt und alleiniger Maßstab wird. Es ist dies aber bei derkontingentenund gebrochenen Natur des Menschen nicht aufzuheben. Bei dem Zwiespalt zwischen dem ethischen Gut der Interessenverfolgung auf der einen und der mit ihr gegebenen Gefahr auf der anderen Seite ist das Gut selbst nicht allein wegen des Rechtes und der Pflicht zur Selbstsorge, sondern gleichfalls wegen der wirklichen Chance einer größtmöglichen Verwirklichung der Gerechtigkeit anzuerkennen. Da die Angehörigen aller Berufe spezifische Interessen haben und dies ihrer jeweiligen Stellung im Arbeits- und Wirtschaftsleben entspricht, ist dieses Interessen-Haben und das Sie-zu-Verfolgen in sich legitim und nicht nur zu tolerierensz. Die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Angehörigen der beiden Schichten unseres Wirtschaftslebens ist eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, zu allseits, und zwar auch im ethischen Sinne, optimalen Ergebnissen zu kommen. Ohne eine solche Interessenverfolgung dürften jedenfalls des öfteren anerkennenswerte Bedingungen nicht in einem ausreichenden Maße gegeben sein und in sogar nicht wenigen Fällen überhaupt nicht bestehen. Den mit der Interessenverfolgung gegebenen Gefahren ist, ohne die Interessenverfolgung in ihrem Kern zu unterbinden, in angemessener Weise, nicht zuletzt durch eine Überbordungen vorbeugende Rahmenordnung, zu begegnen, und ggf. hat eine Korrektur zu erfolgen. Im Sprachgebrauch der scholastischen Philosophie handelt es sich bei der Interessenwahrnehmung mit ihren unaufhebbar vorliegenden ethischen Gefahren um ein bonum mixtum. Auch die historische Erfahrung legitimiert die in Rede stehende Interessenwahrnehmung. Sie hat wesentlich zur Anerkennung und Durchsetzung unabdingbarer Grundsicherungen der Arbeitnehmer geführt, und die Tarifbewegungen haben bisher durchweg einen anerkennenswerten oder doch vertretbaren Sachkompromiß, einen mehr oder weniger fundierten sachlichen Aus50 51 52
Siehe auch G. Müller, RdA 1983, 75. G. Müller, RdA 1983, 75. Vgl. G. Müller, RdA 1983, 76.
6. Die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
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gleich gebracht. Der Blick auf die Geschichte hat eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Es zeigen sich bei ihrer Bewährung im Verlaufe des geschichtlichen Geschehens in gewisser Weise unmittelbar der ethische Wert einer Größe und ebenso die mit ihr gegebenen Gefahren. Nur muß beachtet werden, welche Faktoren die Größe in Erscheinung treten ließen und welche sich als Bedingungen erwiesen haben. Der Blick in die Geschichte darf- wenn er überhaupt zu gediegenen Wertungen führen soll- nicht oberflächlich sein. b) Die spezifischen Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer
Als Ergebnis ist festzuhalten: Die je spezifischen Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer/Arbeitgeber sind aufgrund der Aufgabe und der damit gegebenen Stellung der Angehörigen beider Seiten des Wirtschafts- und Arbeitslebens anzuerkennen und somit nicht zuletzt auch die Interessenvertretungen der jeweiligen Schicht. Die Interessen der Arbeitnehmer sind in der Sache solche von sozial-humaner Art. Um ihretwillen bestehen die Arbeitnehmervereinigungen, und es schließen sich die Arbeitnehmer in ihnen zusammen. Nicht zuletzt muß es ihnen um eine echte Mitarbeiterstellung im Unternehmen und damit um die diesbezügliche Bejahung als (mit-)tragende Subjekte der Volkswirtschaft und um ihre entsprechende Anerkennung in der Gesellschaft gehen. Sie sind, bei aller mehr oder weniger großen und ggf. geringeren Weisungsgebundenheit in der Ausführung ihrer Arbeit, Wirtschaftssubjekte. Sie sind Personen und tragen als solche mit der Realisierung ihrer notwendigen Funktion den Erfolg des wirtschaftlichen Geschehens entscheidend mit. Die Unternehmen haben die betriebs- und die volkswirtschaftliche Aufgabe, effektiv tätig zu sein. Diese Effektivität erfordert in erster Linie ein gesamtgesellschaftlich sinnvolles Unternehmensziel und ein entsprechendes Unternehmensergebnis, also eine gesamtgesellschaftlich sinnvolle Produktion und Dienstleistung. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist und bleibt, daß die Unternehmen, jedenfalls längerfristig, rentabel arbeiten. Nur dann können sie ihre gesellschaftliche Aufgabe und, da die Erfüllung dieser Aufgabe im Ziel der Gesamtvolkswirtschaft mit enthalten ist, ihre volkswirtschaftliche Funktion erfüllen. Sie werden so gleichzeitig den legitimen Interessen Dritter wie denen der Gläubiger gerecht. Das Unternehmen selbst hat als Personalverbund eine wesentlich soziale Dimension, sie steht unmittelbar mit ihm selbst in Rede. Die sachgerechte Erfüllung der sich hiermit stellenden Aufgaben ist u. a. ebenfalls von der Rentabilität des Unternehmens abhängig. Nicht zuletzt hängt hiervon der Bestand des Unternehmens als Zelle der Volkswirtschaft und zugleich als Stätte der Arbeitsplätze ab. Das Unternehmen insgesamt und damit unerläßlich die Erwirtschaftung der Rendite steht im Mittelpunkt der Unternehmerinteressen.
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Kap. li: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
7. Die Interessenverfolgung in der Assoziation a) Die frei gebildete Vereinigung
Daß Interessen zu haben und Interessen zu verfolgen zur Subjektstellung des Menschen gehört, wurde bereits gesagt. Seine Subjektstellung verlangt gerade auch die Eigentätigkeit in der Interessenverfolgung. Anderenfalls wird der Mensch "entmündigt", entgegen seiner Personnatur wird er zum Objekt degradiert53. Selbst für die Herbeiführung und die Sicherung des unmittelbar existentiell Notwendigen ist im Rahmen des dem Einzelnen Möglichen und Zurnutbaren primär die Eigentätigkeit erforderlich. Die "Hilfe durch eine im Zusammenschluß erfolgende Selbsthilfe" liegt insoweit im Bereich der Eigentätigkeit, überschreitet sie aber gleichzeitig. Die Interessenverfolgung durch den Einzelnen ist allgemein und, wie die Erfahrung zeigt, vor allem im Arbeits- und Wirtschaftsleben selbst im Falle existentieller Belange vielfach nicht immer hinreichend wirksam; der Einzelne bleibt ein Einzelner. Bei gleichgelagerten Interessen nicht nur dieser, sondern ebenso solcher von weniger oder überhaupt nicht vorhandenem existentiellem Gewicht ist ein gewolltes gleichgelagertes Zusammengehen und, zur Stärkung der Interessenverfolgung, ein Zusammenschluß auf Dauer gleichfalls eine ethisch legitime Angelegenheit. Der Einzelne hilft sich so selbst. Der ständige Zusammenschluß ist Voraussetzung dafür, daß er mit seinen spezifischen Möglichkeiten sofort wirken kann , nicht zuletzt, wenn sich Belange mehr oder weniger unvorhergesehen geltend machen oder ihre Verfolgung legitim lediglich wünschenswert erscheint. In jedem einzelnen Falle neu einen Verbund ins Dasein rufen zu müssen, erschwert die Interessenrealisierung erheblich, bringt sie wohl des öfteren sogar um den Erfolg. Der Einzelne entbehrt zwar längst nicht immer, aber doch in nicht wenigen Fällen der hinreichenden Durchsetzungskraft. Das Angewiesensein auf andere ist hier wie sonst vorgegeben, die Gemeinschaftsbezogenheil ist eine Grund-Konstituante des Menschen. Somit ist es auch eine ethische Notwendigkeit, im Interesse der Person und ihrer vielfältigen Belange die Möglichkeit zur freien Assoziation durch die Gesamtgemeinschaft, den Staat, zu gewährleisten und die frei gebildeten Assoziationen anzuerkennen. Das gilt bei der vielfach fundamentalen Bedeutung der Belange dort insbesondere für den Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens.
53 Damit ist die Bestellung eines Vormundes und Pflegers für den, der seine Geschäfte nicht selbst besorgen kann, nicht verworfen. Sie ist wegen des Menschseins des Betreffenden notwendig.
7. Die Interessenverfolgung in der Assoziation
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b) Die freie Entschließung zum Beitritt, zum Verlassen und zur Bildung neuer Koalitionen
Da die Koalitionen Interessen-Vereinigungen sind, die im Wege des Zusammenschlusses Hilfe durch Selbsthilfe geben sollen, muß die Entscheidung über den Beitritt zu ihnen in der freien Entschließung des Einzelnen liegen. Dies ist eine ethische Notwendigkeit. Ob jemand seine Interessen wahren will oder nicht, ob er einer Selbsthilfeorganisation zur Verfolgung seiner Interessen beitreten will oder nicht, kann weder ethisch noch rechtlich erzwungen werden. Zwar wird es bei existentiellen Gefährdungen wenigstens häufig ethisch geboten sein, um des eigenen Menschentumswillen dieser Gefährdung zu begegnen. Aber einmal werden dieserhalb regelmäßig verschiedene Wege offenstehen. Welcher Weg beschritten wird, hängt von einer kritisch prüfenden Beurteilung ab, die dabei die höchst persönliche Situation mit ihren legitimen Anliegen und Bedürfnissen berücksichtigen muß. Vor allem aber kann niemand zu seinem eigenen Glück gezwungen werden. Ethisch die einzige Ausnahme ist, daß zur Wahrung letzter existentieller Belange bei nüchterner Betrachtung nur eine einzige Möglichkeit offen steht und es des weiteren gleichzeitig in sich verwerflich ist, von ihr keinen Gebrauch zu machen. Ein derartiger Sachverhalt dürfte jedoch bei der Frage nach einem Koalitionsbeitritt praktisch wohl niemals vorliegen. Ebenfalls steht es ethisch frei , eine Arbeitnehmer- oder eine Arbeitgebervereinigung zu verlassen sowie die Bildung einer neuen Koalition in Angriff zu nehmen. Die deutsche Rechtsordnung gewährleistet ihrerseits mit Art. 9 Abs. 3 GG sowohl die positive wie die negative Koalitionsfreiheit einschließlich der Freiheit, bisher nicht bestehende Vereinigungen zu gründen oder nicht mehr bestehende wieder ins Leben zu rufen. Die negative Koalitionsfreiheit ist bei dem Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG (Gewährleistung, Vereinigungen zu bilden) das notwendige Korrelat zur positiven Koalitionsfreiheit54 . Es geht im insoweit entscheidenden Ausgangspunkt um die Verfolgung und deswegen, bei dem Charakter dieser Interessen, ebenso um die Nicht-Verfolgung von nun einmal persönlichen Interessen. c) Der Antagonismus der Interessenverfolgung im Arbeits- und Wirtschaftsleben
Die Interessenverfolgung im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens im Verhältnis der beiden Schichten dort und ihrer jeweiligen Angehörigen zueinander ist zwar längst nicht immer, aber, bei dem Spannungsverhältnis der Interessen, doch weitgehend eine solche antagonistischer Art. Das BVerfG 54 Scholz, in: Maunz!Dürig!Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 221, 169; an letzterer Stelle auch Nachweise zur gegenteiligen Auffassung.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
hat betont, daß eine Interessenwahrung und Interessenforderung im Wege der Zusammenarbeit möglich ist 55 • Nach dem Zusammenhang, in dem diese Feststellung steht, hat das höchste deutsche Gericht hierbei insbesondere an eine Realisierung des Mitbestimmungsgedankens in Unternehmensorganen gedacht. Insoweit ist bereits die mit einem Unternehmensorgan und seiner Funktion gegebene einheitliche Ausrichtung auf das Unternehmen zu sehen. Überhaupt ist das Postulat der Zusammenarbeit als Richtungsmaßstab für eine Verwirklichung und Durchführung der Mitbestimmung auf der Ebene des Unternehmensrechtes streng zu beachten. Sonst kann das Unternehmen seine Aufgaben, nicht zuletzt im Bereich der Volkswirtschaft und gegenüber der Gesamtgesellschaft, nicht oder mindestens nicht hinreichend sachgerecht erfüllen. Bei der Interessenverfolgung im eigentlichen Sinne des Wortes kann jedoch der Antagonismus schlechterdings nicht ausgeschlossen und noch nicht einmal weitgehend beschränkt werden. Er ist eine vorgegebene soziologische Größe. Gegenüber der Unternehmer-/Arbeitgeberseite ist die Anerkennung ihrer spezifischen Funktionsstellung ethisch unbedingt geboten, ebenso wie die Anerkennung des Arbeitnehmers als Mensch zwingend erfordert wird. Hinsichtlich der Folgerungen, die bei der Zustimmung zu diesen beiden Gegebenheiten, unbeschadet aller Beachtung der sie betreffenden wechselnden Umstände von Raum und Zeit, des weiteren zu ziehen sind, ist ethisch stets ein grundlegender Verständigungswille verlangt. Anderenfalls ist der Arbeitnehmer in seiner Personhaftigkeit und das Unternehmen als Zelle der Volkswirtschaft im Kern irgendwie getroffen. Dabei erscheinen divergierende Sichten selbst bei existentiellen Fragen verschiedentlich akzeptabel oder wenigstens tolerierbar. Nicht zuletzt deswegen ist aber auch der Verständigungswille und, als seine Voraussetzung, die sorgsame Abwägung der sachlichen Erfordernisse je der einen und der anderen Seite geboten. Im übrigen bleibt es nach Lage der Dinge von Hause aus weitgehend beim Antagonismus, er ist, gleichsam als Hintergrund, sogar dann vorhanden, wenn im gegebenen Falle die Interessen übereinstimmen. 8. Interessenverfolgung außerhalb des Bereiches der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen sind Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen. Bei verschiedenen Gewerkschaften ist zu beobachten, daß sie Zuständigkeiten für Bereiche in Anspruch nehmen, die außerhalb des Arbeitslebens liegen.
55
BVerfG 50, 290 (371) .
8. Interessenverfolgung außerhalb des Arbeitslebens
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a) Illegitime und bedenkliche Ziele in Beispielen
So ist vor allem auffallend, daß sich verschiedene Arbeitnehmervereinigungen formell als Gewerkschaften zur Frage der Strafbarkeit der Abtreibung geäußert haben. Derartige gewerkschaftsoffizielle Bekundungen kennt die Gewerkschaftsgeschichte auch aus früheren Zeiten. Die früheren freien Gewerkschaften, die der Sozialdemokratischen Partei nahestanden, hatten sich, wie sich der Verfasser zu erinnern meint, in der Weimarer Zeit schon zu diesem Thema geäußert, und zwar, wie es heute wiederum der Fall ist, dahin, die Abtreibung solle nicht unter Strafe gestellt werden, und des weiteren vielleicht auch, diese Tötungshandlung solle als rechtens angesehen werden. In der Sache macht sich der Gedanke der Gewerkschafts-"Bewegung" geltend. Eine Gewerkschaft tendiert dann dahin, sich als umfassende Größe mit Aufgaben für alle Bereiche jedenfalls des Arbeitnehmer-Lebens zu sehen. Im Falle der Abtreibung steht keine Frage der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Rede. Wollte man sagen, es ginge um eine Erleichterung des Lebensschicksals und um die Arbeitnehmersituation von Arbeitnehmerinnen und begüterte Frauen hätten von vornherein die Möglichkeiten zu einem Schwangerschaftsabbruch, wäre dies eine maßlos überspitzte Sicht des Begriffspaares der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Diese müssen als solche das Arbeits- und Wirtschaftsgeschehen betreffen. Nicht zuletzt ist das Begehren nach jeder Freigabe der Abtreibung in sich schlechthin unethisch und zugleich mit der Rechtsordnung nicht vereinbars6. Es liegt also unter keinen Umständen eine Gewerkschaften angehende Angelegenheit vor. Es können somit von Verbänden i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG durch Tarifverträge keine Leistungen des Arbeitgebers im Blick auf einen Schwangerschaftsabbruch vorgesehen werden. Durchschlagende Sachgründe stehen entgegen, und es fehlt bereits an der Regelungskompetenz57. Ein Tätigwerden der Gewerkschaften in Angelegenheiten des Mieterschutzes, darüber hinaus bei Wohnungsfragen der Arbeitnehmer, eine allgemeine Rechtsberatung derselben u. dgl. läßt sich ebenfalls nicht der Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zurechnen. Es steht hier, anders als im Falle der Vernichtung ungeborenen menschlichen Lebens, zwar das allgemeine Umfeld einer häufig immer noch typischen Arbeitnehmerexistenz in Rede. Zum mindesten ist es in der Sache doch verfehlt, irgendwie einschlägige Tarifverträge abzuschließen. Nach einfach-gesetzlichem Tarifvertragsrecht ist es übrigens ausgeschlossenss. Eine Erweiterung der tarifrechtlichen Möglichkeiten scheitert an der Verfassungsvorschrift. Die BestimSiehe G. Müller, DB 1986, 2672 ff., insbesondere 2675. Die Frage der vitalen medizinischen Indikation bleibt offen; vgl. Anm. 59. 58 Siehe die Regelungsmöglichkeiten eines TV nach § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 2, § 12 a TVG, siehe auch unten. 56 57
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
mung des Feldes der Koalitionsbetätigung, der Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, bestimmt in einer zugleich erschöpfenden wie zutreffenden Weise den Raum, in dem die spezifisch eigentümlichen Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer/Arbeitgeber angesiedelt sind. b) Der Bereich der Sozialversicherungen als legitimer Betätigungsbereich der Koalitionen
Ein legitimes Betätigungsfeld haben die Gewerkschaften von ihrer Aufgabe her im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherungen. Hier liegt im Sinne eines Sachzusammenhangs eine enge Beziehung zum Arbeitsleben vor. Die Altersversorgung will die materielle Existenz des Arbeitnehmers nach seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben möglichst sicherstellen. Entsprechendes gilt, ggf. in Kombination mit den ersteren Bezügen und bei einer etwaigen Minderung derselben, im Falle der Unfallversicherung. Die Erkrankung, gleich, ob es sich um eine Berufskrankheit handelt oder nicht, beeinträchtigt den Arbeitnehmer als Arbeitnehmer. Zum mindesten ist die Beziehung zum Arbeitnehmerdasein in der Sache notwendig enger als dies für die Sachgebiete des Wohnungswesens und eines Mieterschutzes der Fall ist59. Man kann von 59 Bei der Abtreibung liegt, abgesehen von ihrer ethischen Verwerflichkeit und Rechtswidrigkeit, überhaupt keine Beziehung zum Arbeitsleben vor. Zeitigt sie mit dem Auftreten gesundheitsschädigender Folgen eine Erkrankung oder führt sie zu einer völligen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit, wird allerdings, unbeschadet dessen, daß diese Folgen in den Handlungs- und Verantwortungsbereich der Abtreibenden fallen, ein Sachverhalt der gesetzlichen Krankenversicherung gegeben sein. Es steht jetzt nicht mehr unmittelbar der Lebensschutz des Ungeborenen in Rede, sondern Auswirkungen der Tötungshandlung. Es erscheint deshalb wenigstens haltbar, die Sozialversicherungen Platz greifen zu lassen . Die Dinge liegen ähnlich wie beim erfolglosen, in freier Selbstbestimmung getätigten Selbstmordversuch, der zu Gesundheitsschäden führt. Der Gesetzgeber kann allerdings Folgetatbestände eines rechtswidrigen Handelns, die sozialversicherungsrechtliche Ansprüche herbeiführen, jedoch ausschließlich in den Handlungs- und Verantwortungsbereich des Betreffenden fallen, ohne einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz als nicht anspruchsbegründend werten. Es müßte dann aber im Interesse des Menschen ggf. die Sozialhilfe Platz greifen. Das kann ethisch niemals verworfen werden. Wenn der Gesetzgeber, abgesehen vom Falle der vitalen medizinischen Indikation, die anderen Indikationstatbestände des § 218 a StGB hinsichtlich der im unmittelbaren Zusammenhang mit ihnen anfallenden Aufwendungen als nach dem Sozialversicherungsrecht erstattungspflichtig bewertet haben sollte, ist dies nicht haltbar. Eine abschließende höchstrichterliche Entscheidung liegt zwar bei der Abfassung des Manuskripts der Arbeit nicht vor, es muß aber, gleich wie sie lauten würde, bei der Bedeutung des menschlichen Lebens auf jeden Fall gelten: Der Ungeborene ist ab der Empfängnis ein wirklicher Mensch. Bei der geist-leiblichen Natur des Menschen, die durch seine ab der Empfängnis bestehenden Erbanlagen entscheidend mitbestimmt ist, muß man annehmen, daß die Geistseele ab diesem Augenblick ebenfalls vorhanden ist. Die eineiigen Zwillinge sind entweder ab der Empfängnis als solche angelegt, oder ab der Verdoppelung des befruchteten Eies tritt für das zweite Ei eine weitere Geistseele hinzu. Brugger, Kleine Schriften zur Philosophie und Theologie, 594, setzt sich mit dieser Frage nicht auseinander.
8. Interessenverfolgung außerhalb des Arbeitslebens
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einer unmittelbaren Auswirkung des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit sprechen. c) Betätigung im Bereich des kulturellen Lebens u. dgl.
Etwaige Betätigungen der Verbände im Bereich des kulturellen Lebens6o, des Sportgeschehens, der Freizeitgestaltung udgl. sind ohne Bedeutung für ihre Charakterisierung als Arbeitnehmervereinigungen i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG. Voraussetzung ist, daß es sich, und zwar auch bei zusammenfassender Schau aller solcher Aktivitäten einer einzelnen Vereinigung, um Randerscheinungen ihres Auftretens handelt. Schwieriger ist die Beurteilung, wenn eine derartige Betätigung für die Koalition nach ihren Vorstellungen oder auch sonst ersichtlich bedeutungsvoller oder sogar mitzentral sein soll. Liegt das vor allem maßgebende Schwergewicht des gewerkschaftlichen Handeins immer noch im Bereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, ist m. E . der Charakter einer spezifischen Arbeitnehmervereinigung unverändert zu bejahen. Das Motiv für ein gewerkschaftliches Wirken in jenen Bereichen ist, jedenfalls grundsätzlich, dann ohne Bedeutung. Man mag Gelegenheiten zu einer sinnvollen Freizeitbetätigung geben oder die Aktivitäten als Mittel ansehen, den Verband als Koalition anziehend sein zu lassen, maßgebend bleibt stets, ob die Eigenart als eine eigentümliche Arbeitnehmervereinigung das Bild prägt. Eine wissenschaftliche Betätigung der Gewerkschaften und ebenso der Arbeitgeberverbände einschließlich Kooperationsabkommen mit wissenschaftlichen Instituten und Universitäten ist für Gewerkschaften und ebenso für Arbeitgeberverbände voll legitim. Es muß nur der Zur vitalen medizinischen Indikation siehe G. Müller, DB 1986, 2674. In sich gerechtfertigt ist der Abort hier ebenfalls nicht, man kann wegen der äußerst extremen Situation der Frau vielleicht von der Fiktion einer Rechtfertigung sprechen. Die Tötung ist auch in diesem Falle notwendig gewollt und zwar, kann nur so die Mutter gerettet werden, als das Mittel zu diesem Zweck. Eine Wahl zwischen einem geringeren und einem größeren Übel ist objektiv nicht möglich. Beider Leben, das der Mutter und das des Ungeborenen, ist in der Substanz gleichwertig. Das Herr-Sein über Leben und Tod anderer Menschen (Bestimmung zum Tod des einen und zum Leben des anderen, wenn sonst beide sterben müssen) steht dem kontingenten Menschen bei der Gleichordnung des Bestimmenden mit jedem anderen Menschen und damit bei dem Fehlen einer Anordnungsbefugnis zur Existenz einerseits und zur Nicht-Existenz andererseits nicht zu. Der Mensch ist nicht Herr der Menschen. Der Christ wird sagen, es ist alles in Gottes Hand zu legen. Brugger, a.a.O ., 295, verkennt die fraglichen Gegebenheiten. Daß die Situation, bei aller notwendigen Betonung der Ethik auch in extremen Lebenslagen, rein menschlich zutiefst tragisch ist, soll aber ebenfalls gesagt werden . Der Fall der Notwehr liegt wegen des ungerechten Angriffs anders, und beim Notstand kommt jedenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Tragen. Ferner kann und muß die in der Sozialnatur des Menschen begründete Autorität der Gemeinschaft im gegebenen Fall um der Gerechtigkeitwillen mit entsprechenden Maßnahmen auftreten. 60 Im Bereich des kulturellen Lebens etwa treten auch die Arbeitgebervereinigungen auf.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit einschließlich seiner geschichtlichen Entwicklungen und soziologischen Erscheinungen sowie seiner sozial- und individualpsychologischen Gegebenheiten und nicht zuletzt seiner ethischen Fragen in Rede stehen. Allerdings hat, und erst recht, wenn allgemeine Wissenschaftsbereiche angegangen werden, die eigentümliche Koalitionsbetätigung nach wie vor den entscheidenden Schwerpunkt im Aufgabenbereich der Verbände zu bilden. Tarifverträge zur unmittelbaren Gestaltung der hier in Rede stehenden Felder scheiden aus einfach-gesetzlichen Gründen, vor allem aber nach der Regelung der Verfassung mit ihrem auf das eigentümliche Arbeits- und Wirtschaftsleben abstellenden Gehalt aus. d) Entfallen des Charakters als Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen; Gefahr des Totalitarismus
Eine Arbeitnehmervereinigung, die für alle Bereiche des Arbeitnehmerdaseins umfassend tätig sein will, die beansprucht, den Arbeitnehmer als Mensch in allen Bezügen, die ein Mensch haben kann, zu erfassen, ist keine Vereinigung, wie sie Art. 9 Abs. 3 GG anspricht. Die spezifische Interessenverfolgung im Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit ist für sie nicht mehr das primäre Betätigungsfeld, sondern es ist dies der Einsatz für das Schicksal des Arbeitnehmers als Mensch überhaupt. Es kennzeichnet das Wesen der fraglichen Vereinigung und nicht mehr die nach der Verfassung in Rede stehende Interessenverfolgung. Das gilt selbst dann, wenn auf letzterem Gebiet immer noch ein außerordentlich umfangreiches Wirken erfolgt und die sonstigen Vorhaben weniger intensiv betrieben werden; entscheidend ist das Gesamtziel nach dem erkennbaren Willen des Verbandes. Ein Arbeitnehmerverband der hier in Rede stehenden Art will eine universale Lebensgrundlage und universale Lebensziele für die Angehörigen der Arbeitnehmerschaft zur Verfügung stellen, vorsehen und gestalten. Somit läßt sich nicht mehr von einer Gewerkschaft sprechen, vielmehr besteht eine Organisation, die sogar den Aufgabenbereich politischer Parteien überschreitet. Es handelt sich nunmehr wirklich um eine "Bewegung" . Ansätze für eine derartige Entwicklung sind bei einigen Gewerkschaften des DGB, wenn auch nicht bei allen, und vielleicht bei dieser Spitzenorganisation selbst festzustellen. Stärke und Entwicklung der Tendenz sind jedoch, wenigstens bisher, nicht recht zu bestimmen. Ein Selbstverständnis insbesondere im Sinne einer eigenen souveränen politischen Größe jenseits und außerhalb der staatsrechtlichen Struktur der Gesamtgemeinschaft klingt in Äußerungen maßgeblicher gewerkschaftlicher Repräsentanten zuweilen an, ist aber jedenfalls bislang in seiner Bedeutung für die Vereinigung mit hinreichender
9. Interessenorganisation bei den Vereinigungen
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Gewißheit oder auch nur mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nicht auszumachen. Eine Vereinigung, die sämtliche Lebensbereiche bis in die Freizeit hinein mit einem Ausschließlichkeitsanspruch erfassen und gestalten will, tendiert zum mindesten sehr deutlich auf einen Totalitarismus hin, der in sich ethikfeindlich ist. Dies gilt auch, selbst wenn nur für einen einzigen der in Frage kommenden Bereiche derartiges angestrebt wird. Eine abstrakte Bejahung grundlegender sittlicher Normen als vorgegebenen verbindlichen Maximen genügt demgegenüber nicht, sie müssen praktiziert werden. Zu den grundlegenden (sozial-)ethischen Postulaten zählt u. a. die Bejahung, daß andere in bestimmten Bereichen ebenfalls aufzutreten befugt sind und daß ihnen ggf. die Priorität, als Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Zusammenschlüssen in den einschlägigen Fragen sogar der absolute Vorrang gebührt. Es ist nicht nur verständlich, sondern sogar legitim, wenn jemand einer Koalition, die über das Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hinausgehende Ziele in Fragen der allgemeinen Lebensgestaltung verwirklichen will, nicht beitritt oder sie verläßt. Erst recht gilt das, wenn die Vereinigung unabdingbar geltende sittliche Normen unmittelbar oder doch im praktischen Ergebnis zur Seite schiebt oder sogar schlicht verneint. Dann sind der NichtBeitritt und der Austritt sogar ethisch geboten, und in den ersteren Fällen kann dies je nach der Sachlage gleichfalls verlangt sein, etwa wenn die Tendenz zum Totalitarismus eindeutig ist. 9. Organisation der Interessenverfolgung bei den Vereinigungen, insbesondere bei den Vereinigungen der Arbeitnehmer a) Die hauptamtlichen Funktionäre
Bei einem institutionalisierten (verfestigten) Verbandswesen erfolgt die nähere Zielbestimmung der Interessenverfolgung im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weitgehend, in der Tatsächlichkeit der Dinge vielleicht sogar durchweg, durch die hauptamtlichen Funktionäre der Koalitionen und nicht unmittelbar durch die Mitglieder selbst. Das gilt auf jeden Fall für die Arbeitnehmervereinigungen. Zur wirksamen Wahrung und Förderung der Interessen auf dem Wege über eine Assoziation ist ein personeller und organisatorischer Apparat erforderlich. Er ist einsachgebotenes Instrument zur Verwirklichung der Interessenvertretung gerade durch Zusammenschluß; anderenfalls ist die Organisation für ihre Aufgaben nicht genügend geeignet. Umfang und Ausgestaltung des Apparats hängen von der Größe des Verbandes und den näheren Aufgaben ab , die er sich gestellt hat. Der Apparat verbürgt die Koordination der Verbandsangehörigen und damit ihr dem Zweck des Zusammenschlusses dienendes geschlossenes Auftreten und Handeln, ferner die sachgemäße Vorbereitung und die Effektivität der konkreten Maßnah5 G. Müller
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men der Vereinigung. Nicht zuletzt leistet der Apparat- vor allem, wenn er bei einem ausgebauten Verband Funktionäre kennt, die ihre Verbandstätigkeit als Beruf ausüben- Entscheidendes zur Aufdeckung von lnteressenlagen, die der Verband angehen müßte, angehen sollte oder die von ihm legitim verfolgt werden können. Ein Tätigwerden im Bereich der Aufdeckung von Interessen, ihrer Formulierung und ihrer näheren Durchsetzung liegt bei Berufsfunktionären psychologisch nahe, schöpferisch begabte Personen werden bei der allgemeinen Zielsetzung der Vereinigung sozusagen hierauf gestoßen. Die hauptamtlich tätigen Koalitionsangestellten sind als solche in der Lage, Interessen im Zusammenhang des Arbeits- und Wirtschaftsgeschehens gemäß dem ihnen zukommenden Gewicht einzuordnen und sachgemäß mit der Verfolgung anderer Belange zu koordinieren, voranzustellen oder hintanzusetzen. Diese Tätigkeit selbst ist sachlich gerechtfertigt, es geht um eine nähere Verwirklichung der allgemeinen Zielrichtung der Vereinigung. Die Verbandsangehörigen werden ein solches Wirken der Verbandsangestellten im allgemeinen nicht nur hinnehmen, sondern auch innerlich bejahen und als geboten ansehen. Die Leitungen der Koalitionen und überhaupt ihre hauptberuflichen Funktionäre, bei denen sich wegen dem, was die Vereinigung und sie selbst erleben, durchdachte Erfahrungen bündeln, werden sehr oft mittelfristig die bessere Interessensicht haben. Es besteht des weiteren eine Chance, daß die Interessen selbst sachgerecht bestimmt werden. Dies dient unmittelbar der Ethik der Interessenwahrnehmung. Andererseits können ohne weiteres Fehlhaltungen und Fehlleistungen auftreten, etwa aufgrund einer Interessenüberspannung. b) Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute
Die Gewerkschaften können über ihre Vertrauensleute - legitime und wegen Art. 9 Abs. 3 GG legale Funktionsträger dieser Vereinigungen in den Betrieben als den Stätten der Arbeit, die ihrerseits selbstverständlich nicht die legitimen und legalen Belange des Unternehmers, der Unternehmen und der Dienststelle tangieren dürfen- zutreffend die konkreten individuellen Sichten der Arbeitnehmer feststellen . Die Interessenbelange und die Interessenwünsche werden unmittelbar vor Ort ermittelt. Etwaige allgemeine Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft sowie das Begehren von Gruppen und Einzelnen lassen sich auf diese Weise in ihrem Gewicht und in ihrer sachlichen Berechtigung gut erfassen; die konkrete Situation kommt in das Blickfeld. Bei einem sachgerechten Tätigwerden der Vertrauensleute, zu dem sie verpflichtet sind (einschließlich der Verweigerung einer Mitwirkung bei unethischen Maßnahmen und Protestaktionen dieses Charakters) erhalten die Gewerkschaften ein objektives Tatsachen bild. Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, daß, bewußt oder unbewußt, die tatsächlichen Dinge doch durch eine
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"gewerkschaftliche Brille" gesehen sowie wichtige Sachverhalte nicht erlaßt oder nicht weitergegeben werden. Ist in einem Unternehmen oder in einer Dienststelle eine größere Anzahl von Vertrauensleuten tätig, dürften im Ergebnis die Aussichten auf zutreffende Mitteilungen aber wenigstens nicht ganz unbeachtlich sein. Die betreffenden Personen werden untereinander wohl stets über ihre Beobachtungen und die hieraus zu ziehenden Schlüsse sprechen. Es darf nur kein Druck dahin ausgeübt werden, ein "gewerkschaftsgenehmes" Bild zu geben, und erst recht darf nicht eine Einstellung vorliegen, unliebsame Dinge nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Auf die Dauer wird, und dies vor allem könnte durchschlagen, den Vertrauensleuten selbst- und das gilt, wenn auch nur ein Einziger in einem Betrieb vorhanden ist - aber Entscheidendes an wirklichkeitsgetreuer Erfassung der Tatsachen und an objektiver Berichterstattung liegen; die Ergebnisse einer verfehlten Wahrnehmung ihrer Funktion fallen auf sie zurück. Nicht zuletzt müßte ebenfalls aus eigenem Interesse den Gewerkschaften die objektive Unterrichtung geboten erscheinen. Sofern sie die in ihrem Apparat und bei ihrer Leitung gebildete Sicht sowie die von ihnen dieserhalb beabsichtigten Aktivitäten bei den Arbeitnehmern zur Geltung bringen wo\Jen, müssen sie daran interessiert sein, über Widerstände, jedenfalls solche·von größerem und stärkerem Ausmaß und die Gründe hierfür, Kenntnis zu erhalten. c) Ein Bezug zwischen Betriebsräten/Personalräten und Gewerkschaften
Den Gewerkschaften wird ferner über die Betriebsräte und die Personalräte ein Bild von den Meinungen, Haltungen, Absichten, Bestrebungen und Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft zukommen. Der DGB und seine Gewerkschaften sehen mehr oder weniger die Betriebsräte gerne (aber verfehlt61) als ihren in die Betriebe "verlängerten Arm" an. Die Betriebsratsmitglieder müssen jedoch, gleich wie das rechtliche und ethische Verhältnis zwischen Gewerkschafts- und Betriebsratswesen auch immer sein mag, bereits ein erhebliches Eigeninteresse haben, sich ersteren gegenüber o!ljektiv zu äußern. Sonst haben sie für ihre Tätigkeit mit Schwierigkeiten zu rechnen, die sie sich durch ihr eigenes Verhalten geschaffen haben. Wenn Betriebsräte und Betriebsratsmitglieder zur Durchsetzung spezifisch gewerkschaftlicher Sichten eingesetzt werden oder doch entsprechende Versuche erfolgen, so dürfte dies nichts daran ändern, daß mit gewisser Wahrscheinlichkeit zutreffende Angaben erfolgen. Wegen ihrer Betriebsratstätigkeit und ihrer Stellung in den Belegschaften dürften die Betriebsratsmitglieder ferner Hinweise geben, ggf. in nachdrücklicher Weise, Vorhaben der Gewerkschaft seien verfehlt oder kämen nicht an. Im übrigen sollte der Gewerkschaft, was ihre Beziehung zu 61
s•
Siehe unten.
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den Betriebsräten und Personalräten angeht, um ihrer selbst willen daran gelegen sein, objektiv unterrichtet zu werden. Nach unserer Rechtsordnung ist der Betriebsrat nicht nur gegenüber dem Arbeitgeber/Unternehmer, sondern ebenso gegenüber den Gewerkschaften eine autonome Größe; er ist eine innerbetriebliche und innerunternehmensmäßige, in den Betrieb und in das Unternehmen integrierte Institution. Er ist, wie dies entsprechend für den Arbeitgeber/Unternehmer gilt, auch als Interessenvertretung an die Maxime der vertrauensvollen Zusammenarbeit des § 2 Abs. 1 BetrVG gebunden. Zwar bestehen, gründend in Art. 9 Abs. 3 GG mit dem dort weit umschriebenen Betätigungsfeld der Verbände, rechtlich fundierte Beziehungen zwischen Betriebsrat und im Betrieb vertretenen Gewerkschaften. Das gilt bereits für die Grundnorm der vertrauensvollen Zusammenarbeit, in die die im Betrieb vertretenen Arbeitgeberverbände ebenfalls einbezogen sind62. Darüber hinaus haben die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen an Sitzungen der Betriebsratsgremien (Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat, Konzernbetriebsrat, Betriebsräteversammlungen) beratend teilzunehmen. Ihre Beauftragten können des weiteren in den Betriebs- oder Abteilungsversammlungen ebenfalls beratend anwesend sein, und sie können die Einberufung einer Betriebsversammlung erzwingen, wenn im vorhergegangenen Kalenderhalbjahr eine derartige Versammlung oder eine Abteilungsversammlung nicht stattgefunden hat. Wie bei den Betriebsratsgremien können ihre Beauftragten unter denselben Voraussetzungen an den Sitzungen der Jugendvertretung und der Gesamtjugendvertretung beratend mitwirkefi63. Des weiteren haben die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften Antrags- und Mitwirkungsbefugnisse bei der Bestellung und Wahl des Wahlvorstandes für die Betriebsratswahl und des Wahlvorstandes für die Wahl der Jugendvertretung sowie Antragsrechte hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung der Betriebsratswahl selbst64. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften haben schließlich eine eigenständige Befugnis, die Betriebsratswahl anfechten zu können65. Eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft kann sogar bei groben Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem BetrVG gerichtliche Schritte ihm gegenüber einleiten66. Alle diese Rechtsmöglichkeiten stehen den Gewerkschaften jedoch nur 62 Siehe Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 2 Anm. 112. Diese Autoren weisen a.a.O. zu Recht auch darauf hin, daß sich ihrer Natur nach die Kontakte der Arbeitgeberverbände meist auf solche mit dem Arbeitgeber unmittelbar beschränken. 63 Zu allem siehe§§ 31, 43 Abs. 4, 46, 51 Abs. 1, 53 Abs. 3, 59 Abs. 1, 65 Abs. 1, 73 Abs. 2 BetrVG. 64 Siehe §§ 16 Abs. 2, 17, 18, 63 Abs. 2 BetrVG. Bestellt das Arbeitsgericht den Wahlvorstand für die Betriebsratswahl, kann es bei Betrieben mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern auch Mitglieder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft, die nicht Arbeitnehmer des Betriebes sind, zu Mitgliedern des Wahlvorstandes berufen,§ 18 Abs. 2 Satz 3 BetrVG. 65 § 19 Abs. 2 BetrVG.
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im Blick auf das Betriebsratswesen als solchem zu. Sie haben allein eine die Betriebsverfassung unterstützende Aufgabe. d) Die Vereinigung des Betriebsratsamtes und der Tätigkeit als gewerkschaftlicher Vertrauensmann in einer Person
Das BetrVG sieht mit seinem§ 74 Abs. 3 ausdrücklich vor, daß Arbeitnehmer, die im Rahmen des BetrVG Aufgaben übernehmen, nicht zuletzt also Betriebsratsmitglieder, hierdurch in der Betätigung für ihre Gewerkschaft im Betrieb nicht beschränkt werden. Es handelt sich, im Blick auf Funktionsträger des Betriebsverfassungsrechts, um die einfach-gesetzliche Wiederholung einmal der nach Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützten Betätigung für eine Koalition. Da die Verfassung den Koalitionen eine Bestandsgarantie sowie die Garantie spezifisch koalitionsmäßiger Betätigung gibt, steht gleichzeitig das Recht des einzelnen Koalitionsmitgliedes in Rede, als solches an der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionstätigkeit teilzunehmen67 . Die Betätigung als gewerkschaftlicher Vertrauensmann68 ist bei ihrer Bezogenheit auf die Koalition solange und soweit als spezifisch koalitionsmäßige Betätigung der Vereinigung und ihres Mitgliedes zu werten, als sie der Unterstützung der legitimen und legalen Gewerkschaftsziele allgemein und/oder in ihren näheren Erscheinungsformen dient und des weiteren die legitimen und legalen Belange von Unternehmen und Unternehmern nicht tangiert. Der Betriebsrat, der die Belegschaft und alle ihre Angehörigen repräsentiert, muß andererseits alles vermeiden, was geeignet ist, seine Bestellung als Sachwalter der Belegschaft und als Vertreter der Interessen sämtlicher Angehörigen derselben auch nur zweifelhaft erscheinen zu lassen. Das Betriebsratswesen als solches und dabei die Stellung des Betriebsrats als Repräsentationsorgan der gesamten Belegschaft und aller ihrer Angehörigen ist ebenfalls durch die Verfassung, des näheren durch die historische Komponente des Sozialstaatsprinzips und sogar unmittelbar durch dasselbe legitimiert69. Für das Betriebsratsmitglied, das zugleich gewerkschaftlicher Vertrauensmann ist, bedeutet dies alles, daß es in dieser seiner Funktion seine betriebsrätliche Stellung nicht in betonter und noch nicht einmal in besonderer Weise einsetzen darf7D. 66
§ 23 Abs. 3 BetrVG.
6'i BVerfG 19, 303 (312); 28, 295 (305 ff.) . Diese Möglichkeiten sind allerdings nur in
einem Kernbereich garantiert, so daß sie zum Schutze anderer Rechtsgüter eingeschränkt und in bestimmten Aspekten sogar entfallen können (BVerfG 38, 295 [a.a.O.]). Siehe ferner auch Galperin/Löwisch, BetrVG, Bd. II, § 74 Anm. 24 ff. ; Dietz/Richardi, BetrVG, 5. Auf!. , § 74 Anm. 76 ff. 68 Sie liegt in der Sache auch vor, wenn der Arbeitnehmer insofern nur punktuell oder sogar nur ad hoctätig wird. 69 Siehe unten. 70 A. A. Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Auf!., § 74 RZ 14; dem ersichtlich widersprechend aber sofort die folgende RZ 15 des Kommentars. Die Frage, ob das gewerkschaftlich organisierte Betriebsratsmitglied für seine Gewerkschaft in seinem Betrieb und Unternehmen werben kann, soll hier nicht ange-
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Sämtliche hier skizzierten Gedanken einschließlich derjenigen zur betriebsverfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften haben in gleicher Weise Geltung im Bereich des Personalvertretungsrechts. Die entsprechenden Regelungen finden sich in dem einschlägigen Bundesgesetz ebenfalls. § 67 Abs. 2 BPersVG besagt das gleiche wie§ 74 Abs. 3 BetrVG. Die Verpflichtung des Personalratsmitgliedes, bei seiner etwaigen Eigenschaft als gewerkschaftlicher Vertrauensmann diese Funktion völlig sachlich auszuüben, wird durch § 67 Abs. 3 BPersVG im Ergebnis deutlich unterstrichen. Wenn sich die Personalvertretung für die Wahrnehmung der Vereinigungsfreiheit der Beschäftigten einzusetzen hat, heißt dies auch, daß sie sich für die Freiheit des Beschäftigten einzusetzen hat, sich einer ihm zusagenden Arbeitnehmervereinigung anzuschließen sowie aus ihr auszutreten und überhaupt jeder Arbeitnehmervereinigung fernzubleiben. Das Personalvertretungsrecht als solches und die den Betriebsräten entsprechende Repräsentationsstellung der Personalvertretungen ist im übrigen wiederum durch das SP abgedeckt71. Alles in allem ist zu sagen: Die Tätigkeit von Mitgliedern der Betriebsrätegremien und der Personalvertretungen als gewerkschaftliche Vertrauensleute ist bei dem rechtlich gebotenen Maßhalten als Vertrauensmann ethisch nicht nur nicht zu beanstanden. Sie kann sogar, sofern eine tatsächlich ordnungsgemäße Unterrichtung zu den Belangen/Interessen und Wünschen der Arbeitnehmer erfolgt, einer geordneten Interessenverfolgung durch die Gewerkschaften dienen. Die Mitglieder von Betriebsräten und Personalvertretungen sind durchweg besonders kenntnisreich. Sie sind darüber hinaus in der Lage, sachlich vertretbare, angemessene und notwendige Vorhaben der Gewerkschaften den Arbeitnehmern nahezubringen. Gleichzeitig gibt ihnen ihr betriebsverfassungsrechtliches und personalvertretungsrechtliches Amt faktisch einen gewissen Rückhalt, sich gegenüber den Vereinigungen kritisch äußern zu können.
sprochen werden. Sie sind nicht als unmittelbare Interessenverfolgung und unmittelbare Unterstützung dieser Interessenverfolgung, sondern als Unterstützung im Blick auf den Bestand der Gewerkschaften anzusehen. Das BVerfG 28, 295 (307 ff.) hält bei den Besonderheiten eines Amtes der Personalvertretung das Verbot der Mitgliederwerbung durch Personalratsmitglieder in der Dienststelle und während der Dienstzeit für gerechtfertigt. Entsprechendes muß für Betriebsratsmitglieder gelten. Die Stellung, Aufgaben und Befugnisse des Personal- und Betriebsrates als Repräsentanten aller Angehörigen der Dienststelle und des Betriebes sind in der Substanz gleich. Sie verpflichten die Gremien und ihre Angehörigen zur Objektivität und Neutralität gegenüber sämtlichen Bediensteten und sämtlichen Belegschaftsangehörigen (BVerfG 28, 295 [308]). Zum Betriebsratsmitglied als gewerkschaftlichem Vertrauensmann siehe auch G. Müller, RdA 76, 46 ff. 71 Das Personalvertretungswesen ist in seinem rechtsgeschichtlichen Ursprung eine spezielle Ordnung des zunächst einheitlichen Betriebsräterechtes im Blick auf den öffentlichen Dienst.
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e) Ergebnis für die Gewerkschaften
Die Gewerkschaften bleiben über ihre Vertrauensleute, ob diese allein als solche auftreten oder in Personalunion gleichzeitig in den Organen der Betriebsverfassung und des Personalvertretungswesens tätig sind, in einer engen Beziehung zur Arbeitnehmerschaft. Die Vertrauensleute dienen dem rechtlichen und ethischen Ausgangs- und Grundlagenprinzip des Verbandswesens, hier auf der Ebene der Arbeitnehmer, nämlich die Interessen der Angehörigen der einen Seite des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit zur Geltung zu bringen. Im Falle der institutionalisierten, insbesondere der gleichzeitig mitgliederstarken Gewerkschaft sind sie eine Größe, die im Sinne des Gedankens der Hilfe durch Selbsthilfe eine Interdependenz zwischen der Arbeitnehmerschaft einerseits und der Gewerkschaft andererseits sicherzustellen vermag. 10. Bei der Interessenverfolgung auftretende ethische Gefahren a) Die insbesondere mit dem institutionalisierten Verbandswesen verbundene Gefahr der Zielüberspannung und der Aufstellung verfehlter Ziele. Ihr ethisches Gewicht
Nicht zuletzt das institutionalisierte Verbandswesen birgt von Hause aus die Gefahr in sich, daß es bei der Verfolgung der Ziele der Vereinigung zu einer Überziehung kommt. Im gegebenen Falle werden sogar schlechthin verfehlte Ziele angestrebt. Das gilt für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in gleicher Weise. Die berufliche Aufgabe der Funktionäre, Interessen zu sehen und wahrzunehmen, kann ohne weiteres zu einer einseitigen, zu einer NurInteressensieht führen . Zu Überspannungen und verfehlten Interessenpositionen kann es ferner kommen, wenn die Interessenverfolgung als Mittel dazu dienen soll, in einer kämpferischen Begegnung mit der anderen Seite die Verbandsangehörigen an den Verband näher heranzuführen und weitere Mitglieder zu gewinnen. Die Möglichkeit, daß es zu einem Fehlverhalten kommt, ist mit der Interessenwahrung durch Zusammenschluß psychologisch vorgegeben. Daß bereits schon der Zusammenschluß in Interessenverbänden die Gefahr von Auseinandersetzungen zwischen den beiden Seiten des Arbeitsund Wirtschaftslebens herbeizuführen vermag, die ihrerseits unmittelbar dann aber auch die je eigenen Belange erheblich tangieren, ist nicht zu bestreiten, und es dürfte schon wiederholt zu derartigen Erscheinungen gekommen sein. Interessenvereinigungen haben ihr Eigengewicht und kommen immer wieder in die Versuchung, sich als Selbstzweck zu sehen. Darüber vergessen sie, daß sie ihren Mitgliedern und, im Falle der Koalitionen, den Angehörigen der von diesen repräsentierten Schichten zu dienen haben. Das führt zu einer Interessenvertretung mehr oder weniger um ihrer selbst und weniger um der Men-
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sehen und ihrer legitimen Belange willen. Der Zusammenschluß zum Interessenverband ist deswegen aber ethisch nicht verfehlt. Anderenfalls wäre in letzter, aber zwingender Konsequenz bereits die Möglichkeit, vor allem auch die rechtlich bestehende Möglichkeit, eine Vereinigung zur Realisierung ethisch legitimer oder doch vertretbarer Interessen ins Dasein zu rufen und einzusetzen, im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens und überhaupt allgemein nicht vertretbar. Die Zusammenschlüsse sichern im übrigen sehr häufig, wenn nicht sogar weitgehend die Beachtung legitimer oder doch zu bejahender Belange. Die Möglichkeit zur Koalitionsbildung nur der einen Seite zuerkennen zu wollen, trifft ungebührlich nachteilig und ggf. sogar existentiell die Situation der Angehörigen der anderen Seite. Die skizzierte Gefahr beweist also nur, daß ein von Hause aus ethisch einwandfreies Verhalten und eine von Hause aus ethisch einwandfreie Größe mißbraucht werden kann. Derartiges Verhalten ist aber bei dem Menschen allgemein in Rechnung zu stellen. Lediglich ihretwegen eine ethische Verwerflichkeit annehmen zu wollen, müßte zur Unethik führen. Der Mensch dürfte nämlich von seinen Fähigkeiten, Gaben und den ihm legitimerweise zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Ergebnis überhaupt keinen Gebrauch machen. Das liefe aber seinem Wesen als Mensch einschließlich seiner auf die anderen Menschen bezogenen sozialen Natur zuwider. Vielleicht darf in diesem Zusammenhang das biblische Gleichnis von den Talenten herangezogen werden. In der Sache ist zu unterscheiden zwischen der an sich ethisch zu bejahenden Größe auf der einen und dem Mißbrauch auf der anderen Seite, der erst mit einem ethisch verfehlten Verhalten eintritt. Diese Erwägungen gelten, auch wenn empirische Untersuchungen hinsichtlich der positiven und negativen Auswirkungen eines institutionalisierten Verbandswesensnicht vorliegen. Es ist übrigens nicht anzunehmen, daß die Verbände Dritten einen gründlichen Einblick in ihr inneres Leben geben. Sie dürften um die Schlagkraft ihrer Interessenvertretung fürchten, und zwar Arbeitgeberverbände ebenso wie Gewerkschaften. b) Ein allgemeiner Gedanke
An dieser Stelle sei ein allgemeiner, also nicht nur für das Koalitionswesen, sondern u. a. nicht zuletzt für die Wirtschaftsordnung geltender Gedanke festgehalten und näher skizziert. In der Hand des Menschen sind Größen und Institutionen, die an sich ethisch nicht zu beanstanden sind, immer auch Möglichkeiten, die mißbraucht werden können. Das gilt ohne weiteres sogar für ethisch volllegitimierte und für ethisch erforderte Gegebenheiten, Einrichtungen und Strukturen. Es ist bei dem kontingenten und "gebrochenen" Wesen des Menschen zu unter-
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scheiden zwischen der Ordnung (in einem weiten und umfassenden Sinn des Wortes) und dem, wie der Mensch diese Ordnung handhabt und ggf. mißbraucht, sie u. U. selbst entgegen ihrem Sinn einsetzt. Die Legitimität und das Gebotensein einer ethischen Ordnung als solcher wird durch verfehltes, im unmittelbaren Ergebnis dieser Ordnung entgegenstehendes menschliches Handeln nicht berührt. Wenn man wegen ihres Mißbrauchs eine ethisch vertretbare und eine ethisch gebotene Ordnung abschaffen will, oder eliminiert man in Überspannung eines eine Ordnung tragenden ethischen Prinzips andere, ebenfalls ethisch anzuerkennende Strukturen und Gegebenheiten, dann sind im letzten die Dinge nicht nur nicht besser, sondern sogar schlimmer. Der in sich oder wegen der Überspannung ethisch verfehlte Ausgangspunkt schlägt durch; das Nicht-Annehmbare entfaltet sich. Daß jeder Mensch jedem anderen Menschen in dem mit seinem Menschentum gegebenen Höchstwert und damit in seiner menschlichen Würde gleich ist, wird durch die funktionellen Aufgaben der einzelnen Menschen nicht aufgehoben, der Höchstwert und die Würde sind vielmehr gerade von jedem Funktionsträger streng zu beachten. Die Respektierung eines Menschen darf die Bedeutung einer Funktion nicht herabsetzen. Es ist im übrigen stets zu sehen, daß die Erfüllung gesellschaftlich niederer Funktionen im Interesse der Gesellschaft und der Gemeinschaft durchweg notwendig ist. Denen, die sie erfüllen, gebührt hohe Anerkennung. Der Verbandsfunktionär, vor allem wenn er diese Stellung als Beruf ausübt, ist seinerseits zu ständig erfolgender Selbstprüfung verpflichtet, wie sie in jedem anderen, gleichfalls eine besondere Verantwortung erfordernden Beruf geboten ist. Er hat im gegebenen Fall gegenüber seinen Mit-Funktionären, mögen sie ihm über-, unter- oder gleichgeordnet sein, die Tugend des Mutes aufzubringen. Derjenige, der entsprechend tätig sein will, hat von vornherein und im übrigen immer wieder gewissenhaft zu prüfen, ob er, nicht zuletzt nach seiner persönlichen Veranlagung, die auf ihn zukommende und ihm obliegende Tätigkeit ethisch einwandfrei zu erfüllen vermag. c) Die ethische Fragilität der Interessenvereinigungen
Mit dem Gesagten wird, unbeschadet ihrer Notwendigkeit, eine Fragilität der Interessenvereinigungen im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens deutlich72. Gerade hier, in einem Raume, in dem in vielerlei Hinsicht die existentielle und berufliche Situation der Menschen in Rede steht, kann es leicht zu Überspannungen kommen. Die Verbände beider Seiten müssen darauf sehen, sie streng zu vermeiden. Schon verbale Radikalität ist im allgemeinen 72 Zwischen ethischer Fragilität und ethischer Verwerflichkeit ist streng zu unterscheiden. Ethische Fragilität besagt nicht mehr und nichts anderes, als daß die Möglichkeit eines Mißbrauchs besonders groß ist.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
fehl am Platze. Die Folgewirkungen bereits eines solchen Verhaltens können für das allgemeine Verhältnis der Verbände untereinander und damit für eine sachgemäße Interessenverfolgung beider Seiten, darüber hinaus für die Allgemeinheit, ohne weiteres abträglich sein. d) Die Korrektur überzogener und unethischer Forderungen aufgrund des Geschehens der Tarifauseinandersetzung unter ethischen Gesichtspunkten
Es ist bei dem Thema der Darlegungen bereits jetzt zu fragen, ob die Korrektur überzogener Interessenforderungen aufgrund des Geschehens der Tarifauseinandersetzung als ein nachträglich die Unethik aufhebendes Moment gewertet werden darf. Von der Rechtsordnung her sind Übertreibungen weitgehend in Kauf zu nehmen. Nach aller Erfahrung dürfte mit dem Ergebnis der Tarifprozedur regelmäßig mehr oder weniger eine Bereinigung erfolgen, in allerdings seltenen Fällen kommt die Forderung noch einmal abgeschwächt zum Zuge. Das Recht kann, im Blick auf die Beendigung des konkreten antagonistischen Geschehens, die Ausgangslage immerhin tolerieren. Ethisch liegen die Dinge jedoch anders. Es besteht bereits keine Sicherheit, vielmehr nur eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit, daß die Korrektur erfolgt. Sie wird zudem des öfteren von je verschiedenen, in ihren vollen Auswirkungen nicht immer hinreichend prognostizierbaren Umständen abhängen. Vor allem entscheidend ist, daß ein ethisch anzuerkennendes oder doch vertretbares Ergebnis des Tarifverfahrens ethisch nicht zulässige Tarifforderungen keineswegs rückwirkend ethisch werden oder sogar von vornherein ethisch sein läßt. Die Überlegungen gelten in gleicher Weise erst recht, sofern unethische forderungen erhoben und durchzusetzen versucht werden. Als Beispiel seien abermals genannt Tarifforderungen, die Leistungen des Arbeitgebers im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch vorsehen. Auch in diesen Fällen mag damit zu rechnen sein, daß am Ende der Tarifprozedur möglicherweise ein ethisch vertretbares oder doch tolerierbares Ergebnis steht. Es bleibt aber dabei, daß die Forderung selbst unethisch ist und unethisch bleibt, im übrigen mit der Rechtsordnung nicht vereinbart werden kann und von der Kompetenz der Verbände nicht gedeckt ist. In sich unethischeund gegen das Recht verstoßende - Forderungen können schlechterdings überhaupt nicht geltend gemacht werden73. 73 Es wird allenfalls die vitale medizinische Indikation als tarifvertraglich erfaßbar in Rede stehen können; siehe Anm. 59 mit dem sich dort findenden Nachweis. Aber auch diese Indikation kann als solche nicht Gegenstand des Tarifgeschehens sein. Sie steht in keinem Zusammenhang mit dem Arbeitsleben. Die Frage ist nur, ob wegen der extremen Situation der Frau der Arbeitgeber nicht auch durch TV zur Entgeltfortzahlung verpflichtet werden kann; siehe G. Müller, DB 1986, 2074. Daß die Notwendigkeit der
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Wieder eine andere Frage ist, ob das Geltendmachen überzogener Forderungen unethisch ist, wenn auf diese Weise ein ethisch zu akzeptierendes Ergebnis durchgesetzt werden soll. Es ist üblich, daß sehr hohe, nicht zuletzt auch überzogene Forderungen vor, zu Beginn und für einige Zeit in den Tarifverhandlungen vertreten werden. Die zur Abwehr derartiger Forderungen bezogenen Positionen sind im allgemeinen ebenfalls überspitzt. Das Ganze könnte durchweg sogar ein Ritual sein. Nähere soziologische Untersuchungen fehlen allerdings, und sie sind auch nur schwer, wenn überhaupt, durchzuführen. Es kann aber für viele Fälle angenommen werden, daß man bewußt überspannte Forderungen erhebt, und eine überspannte Abwehr, z. B. die Weigerung, zum Sachgegenstand als solchem überhaupt zu verhandeln, erfolgt. Das alles geschieht allein deswegen, um anzuerkennende oder immerhin vertretbare Ziele niedrigeren Niveaus durchzusetzen. Schon von vornherein diese Ziele geltend zu machen, hat bei dem Interessenantagonismus der TV-Parteien leicht das Ergebnis, daß sie doch nicht realisiert werden. Die angebrachte und u. U . sogar notwendige Interessenverfolgung im Arbeits- und Wirtschaftsleben durch die Assoziation der Interessierten würde damit des öfteren, möglicherweise sogar sehr oft, in Frage gestellt. Ein bewußtes und gewolltes Vorgehen der hier in Rede stehenden Art läßt sich m. E. ethisch tolerieren; mit dem Durchsetzen des verbal geltend gemachten Zieles wird nicht gerechnet, seine Redressierung ist von Anfang an vorgesehen. Die überspitzte Einstellung der Gegenseite beruht auf entsprechenden Überlegungen. Ob und inwieweit die TV-Parteien ein Wirksamwerden der veröffentlichten Meinung als Unterstützung oder Ablehnung ihrer Ausgangspositionen in Rechnung stellen und inwieweit sie dieserhalb auf ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit vertrauen, läßt sich nicht mit hinreichender Sicherheit sagen. Somit läßt sich auch nicht sagen, welche Bedeutung dies alles dafür hat, die zunächst erhobenen Forderungen ggf. doch tatsächlich durchzusetzen oder aber zu einer sachgemäßen Minimierung zu kommen. Die bisherigen Erfahrungen sprechen wohl dafür, daß die Tarifkontrahenten weitgehend aus eigener Einsicht immer wieder zu haltbaren Resultaten kommen. Vom Standpunkt der Interessenverfolgung in der Praxis ist das Ausgangsverhalten der TV-Parteien zwar keineswegs ethisch zu empfehlen, aber es ist, im Sinne eines Utilitarismus, nützlich; es gibt Spielraum für die reale Interessenverwirklichung auf "niederer" Ebene. Ein Feilschen als solches ist ethisch vitalen medizinischen Indikation eindeutig nachzuweisen ist, muß nicht weiter betont werden. Steht ein medizinischer Tatbestand in Rede, bei dem entweder nur die Mutter oder das Kind sterben muß, ist der Abort ebenso wie im Falle der vitalen medizinischen Indikation ethisch nicht verantwortbar. Er kann aber auch rechtlich nicht gerechtfertigt werden; das Leben der Mutter und das Leben des Kindes sind gleichwertig, und ein Leben bleibt auf jeden Fall erhalten. Es kommt nur die Schuldfreistellung in Frage. Ein anderes Ergebnis scheint zwar nahezuliegen, es ist aber zu beachten, daß ein unschuldiger Mensch geopfert wird.
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nicht verwerflich, wenn den Parteien nur bewußt ist, daß am Ende ein vertretbares Ergebnis steht und nur es angestrebt wird. Eine ethische Betrachtung erfolgt in der Regel wohl seitens keiner TV-Partei. Für die ethische Bewertung ist dies m. E. aber ohne Bedeutung. Es ist ethisch hochstehend, wenn selbst bei immer wiederkehrender und üblicher, in ihrer Struktur stets mehr oder weniger gleichen und dabei vor allem als solcher nicht zu beanstandender Tätigkeit, wie hier in der Situation der antagonistischen Tarifprozedur, bewußt nach ethischen Blickpunkten gehandelt wird. Nur wenige Menschen dürften sich jedoch derart verhalten. Die im allgemeinen nicht als Schuld vorwertbare Haltung des Durchschnittsmenschen ist das aber nicht. Einen ethischen Hoch- und Höchststand als unerläßlich zu beachtende ethische Richtlinie anzulegen, kann möglicherweise zu einem als unbedingt und allein gültig postulierten rigoristischen Maßstab führen. Es muß genügen, daß ein für die Gemeinschaft bedeutsames Geschehen einschließlich der Handlungsweisen der beteiligten Personen - und übrigens alles andere Verhalten gleichfalls- objektiv nicht zu beanstanden ist. Eine andere Frage ist die innere moralische Haltung des Einzelnen. Das schlichte Sich-Nichtäußern der "Anspruchsgegner" auf die von der anderen Seite erhobenen Forderungen ist vor und zu Beginn der Tarifverhandlungen ein Verhalten, das nach dem bisherigen Geschehen auf der Arbeitgeberseite zu beobachten ist. Dieses Verhalten läßt sich nicht als ein Akzeptieren der gewerkschaftlichen Wünsche ansehen, es drückt vielmehr Ablehnung aus. Der nach unserer Rechtsordnung grundsätzlich nicht anwendbare Satz "Qui tacet, consentire videtur" kann erst recht nicht gegenüber Tarifforderungen gelten. Seine Anwendung erscheint jedenfalls bei antagonistischer Interessenverfolgung mit immer wieder auftretenden harten Konfrontationen nicht angebracht. Was insbesondere im Zusammenhang mit der Ablehnung überspitzter Forderungen gesagt wurde, gilt damit ebenfalls. Ob das Schweigen auf Forderungen immerhin als ein Signal für eine Bereitschaft zur Verhandlung in der Sache gedeutet werden kann, bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalles. Die nach Lage der Dinge ethisch verfehlte Forderung bleibt ethisch auch dann verfehlt, wenn sie geltend gemacht wird, obwohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen wird und angenommen werden kann, sie werde nicht realisiert werden. Ihre Erhebung und ihre Einführung in die Tarifprozedur bleiben bei ihrem Charakter unzulässig. Eine solche Forderung wäre etwa bei den auf absehbare Zeit gegebenen technischen und technologischen Verhältnissen das Verlangen, die Arbeitszeit auf sechs Stunden je Woche zu minimieren. Der Gesamtgesellschaft und der größten Zahl ihrer Angehörigen würde so vom Arbeitsleben her eine wesentliche Grundlage der Existenz entzogen, abgesehen davon, daß eine solche allgemeine Arbeitszeitverkürzung nicht menschengemäß wäre. Außerordentlich viele Menschen
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wüßten mit ihrer Freizeit nichts anzufangen; anzunehmen, daß sie sich in hohem Maße z. B. humanitären Fragen und den Angelegenheiten des Gemeinwesens widmeten, ist reichlich irreal. Dieser Beispielsfall überzeugt, er bleibt aber, jedenfalls vorderhand, wegen seiner Kraßheit Theorie74. In anderen Fällen, die ohne weiteres praktisch werden können, wird die Entscheidung wesentlich schwerer zu treffen sein. Es sei etwa an ernst gemeinte Forderungen auf eine sehr erhebliche Anhebung des Entgeltes für un- und angelernte Arbeitnehmer hingewiesen, die sachlich unangemessen erscheinen wollen. Hier sind für die ethische und letztlich auch für die rechtliche Bewertung alle einschlägigen Umstände zu berücksichtigen. Also das Verhältnis von Leistung und Entgelt, das Verhältnis zu dem Entgelt für höher zu qualifizierende Tätigkeit, die wirtschaftliche Belastung der Unternehmen, die bei einer Durchsetzung der Forderungen unmittelbar entstehen, einschließlich der mit ihnen erwachsenden Lohnnebenkosten, und des weiteren infolge der Kumulation im Zusammenhang mit den Kosten für das sonstige Entgelt; aber ebenso zu berücksichtigen ist das Erfordernis, die Arbeitnehmer unter Beachtung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse sowie im Blick auf von ihnen zu unterhaltende Angehörige und sonstige unterhaltsberechtigte Personen angemessen und nicht nur in einem das Existenzminimum gewährleistenden oder gerade noch übersteigenden Ausmaß zu vergüten. Für die ethische Bewertung könnte sich die Formel anbieten, daß die oben genannten Forderungen eindeutig überzogen sind. Es ist des weiteren zu fragen, wie es sich verhält, wenn überhöhte Forderungen geltend gemacht und überspannte Gegenpositionen bezogen werden, jeweils in der Erwartung, es werde zu keiner Realisierung derselben kommen, die Forderung oder die Gegenposition aber unerwartet doch in vollem Ausmaß Erfolg hat. Das Ergebnis ist sicher ethisch nicht haltbar. Der derart erfolgreiche Verband ist gehalten, angemessen zu redressieren bzw. angemessen zu gewähren. Zutreffender gesagt, man darf es überhaupt nicht zu dem fraglichen Ergebnis kommen lassen. Die nach der Rechtsprechung des BAG und des BVerfG verlangte Autorität des Verbandes nach innen, seinen Mitgliedern gegenüber75, muß von ihm eingesetzt werden. Es wird deutlich, daß der Zusammenschluß als Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur ohne weiteres zur institutionellen Verfestigung der Vereinigung führen kann, sondern daß er sie, nicht zuletzt aufgrund der Verfestigung, eine eigenständige Größe sein läßt. Wie in etwas anderem Kontext bereits gesagt, richten sich an die Funktionäre -und vor allem an die Leitung - spezifische ethische Forderungen. Das gilt ebenso für die Vereinigung als Vereinigung, wie sie über die nach ihrer Korn74 Um Mißverständnissen zu begegnen, sei betont, daß in dem Beispiel eine allgemeine Verkürzung angenommen ist. Die Dauer von Teilzeitarbeiten steht nicht in Rede. 75 BAG 21,98 (101 ff.); 23, 320 (323 f.); 29,72 (79 ff.); BAG AP Nr. 30 zu§ 2 TVG (BI. 702 f.); BVerfG 58, 233 (249).
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Kap. li: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
petenzstellung maßgeblichen Personen wirksam in Erscheinung tritt. Sie ist soziologisch, damit aber auch ethisch eine eigene und eigenst zu messende Größe. Die Dinge im Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit liegen nicht anders als bei allen Gemeinschaftsbildungen der Menschen bis hin zum Staat und einschließlich der sonstigen frei bestehenden Assoziationen. Die natürliche Gemeinschaft der Familie ist selbst als Kleinfamilie immer noch eine besondere für sich bestehende Einheit, wie deutlich auch die Einzelnen als Einzelne in ihrem Gefüge hervortreten. Die Großfamilie früherer Zeiten zeigte sich von vornherein ausgeprägt als eigenständige Größe. Die angesprochenen Fragen lassen erkennen, daß mit der Tätigkeit der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen besondere ethische Probleme gegeben sind. Letztlich sind sie in vieler Hinsicht allerdings die gleichen, wie sie im allgemeinen Wirtschafts- und überhaupt im Leben der Gesellschaft auftreten, insbesondere sofern antagonistische Positionen einander gegenüberstehen und das antagonistische Verhältnis als solches legitim ist. e) Die veröffentlichte und die öffentliche Meinung in ihrer Bedeutung für die Korrektur von Tarifforderungen
Zu einem sachgemäßen Verhalten der Verbände bei der Erhebung und der Geltendmachung ihrer Tarifforderungen und dem Bezug von Gegenpositionen können die veröffentlichte und die öffentliche Meinung beitragen76. Letztere muß sich allerdings deutlich artikulieren. Umgekehrt gilt, daß regelmäßig erfolgende überscharfe oder sogar verfehlte Reaktionen auf die Dauer abstoßen oder wenigstens gleichgültig lassen können. Die veröffentlichte Meinung scheint allerdings in nicht unbeträchtlichem Umfang, gleich was sie äußert und in welch näherer Art und Weise sie sich vernehmen läßt, Gewicht zu haben; also ggf. auch negativ zu wirken. Es dürfte aber doch wieder so sein, daß bei offenkundig extremen Verstößen gegen das Allgemeinwohl immerhin ein Großteil der Medien hi~rgegen Front macht, vorausgesetzt, es ist noch nicht zu einer breiten Abstumpfung gekommen. Die veröffentlichte und öffentliche Meinung können ferner Anstöße geben, legitime Forderungen überhaupt aufzunehmen, und sie können ein legitimes Abwehrverhalten gegenüber unsachgemäßen Forderungen hervorrufen. Es zeigt sich schon jetzt die Bedeutung einer freien Gesellschaft für die Tarifautonomie. Sie vermag aus sich heraus positiv zu wirken, aber ebenso kann es bei ihr und aus ihr heraus zu schädlichen Einflüssen kommen. Die ethische Ambivalenz des Menschen bleibt immer und überall eine vorgegebene Tatsache. 76 Das grundsätzliche Verhältnis zwischen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung und der TV-Autonomie wird weiter unten noch als Annel_!; zu der Neutralität des Staates gegenüber der Tariftätigkeit der Verbände und den Außerungen staatlicher Repräsentanten zum Tarifgeschehen behandelt.
11. Eine andere Wirtschaftsverfassung?
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f) Die Bedeutung der Mächtigkeit der Verbände im vorliegenden Zusammenhang
Es sei schon jetzt betont auf die Bedeutung einer Mächtigkeit der antagonistisch einander gegenüberstehenden Verbände hingewiesen77. Die Zusammenschlüsse beider Seiten des Arbeitslebens müssen diesem Erfordernis entsprechen, um überhaupt hinreichend sicher zu Tarifergebnissen zu kommen. Zweifellos können so nicht haltbare tarifliche Ergebnisse zustande kommen, die Mächtigkeit ist aber auch unerläßlich, damit ethisch zu akzeptierende Abschlüsse erzielt werden. Zudem kann die beiderseitige Mächtigkeit zügelnd für das Aufstellen von Forderungen und das Beziehen von Gegenpositionen einwirken. Sie bietet gleichsam eine gewisse formalstrukturelle Sicherung gegenüber der Gefahr von Überspannungen und ebenfalls vor in sich verfehlten Ansprüchen und Gegenpositionen. g) Ergebnis
Insgesamt gilt: Alle hier angesprochenen Gegebenheiten einschließlich der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung sind in ihren Wirkungsmöglichkeiten ambivalent. Sie sind aber auch in gleicher Weise dahingehend bedeutsam, daß die TV-Autonomie objektiv ethische Ergebnisse zeitigt. 11. Eine andere Wirtschaftsverfassung? a) Allgemeine Bemerkung
Die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist, um es noch einmal zu sagen, unlöslich verbunden mit der Garantie der individuellen positiven Koalitionsfreiheit; sie ist gewährleistet "für jedermann und für alle Berufe". Weil sich die Tätigkeit der Vereinigungen auf die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen bezieht, machen die Formulierungen "für jedermann" sowie nicht zuletzt "für alle Berufe" und erst recht die Kumulation beider Begriffe deutlich, daß die arbeitsteilige Wirtschaftsordnung mit ihrer Grundunterscheidung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern vorausgesetzt ist. Diese Wirtschaftsordnung ist als solche ein ethisch mindestens nicht geringes Gut. Die Frage ist, ob an die Stelle dieser Wirtschaftsordnung eine andere Wirtschaftsordnung gerade über die TV-Autonomie eingeführt werden kann, vorausgesetzt, diese andere Wirtschaftsordnung ist ethisch verantwortbar. Wenn das BVerfG sagt, die verfassungsrechtliche Gewährleistung der TV-Autono77 Die Mächtigkeitsfrage wird weiter unten im Zusammenhang mit den Voraussetzungen einer tariffähigen Koalition näher erörtert.
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mie ist abgesichert "ganz allgemein und umfaßt nicht die besondere Ausprägung, die das Tarifvertragssystem in dem zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes geltenden Tarifvertragsgesetz erhalten hat" 78, könnte in dieser Formulierung ein Anhaltspunkt für eine mögliche tarifvertragliche Veränderung des Systems gesehen werden. Zunächst sei gleichfalls noch einmal bemerkt, daß der Beruf des Unternehmers als solcher ethisch anzuerkennen ist und somit die Unternehmer-/Arbeitgeberstellung ethisch legitimiert bleibt. Dasselbe gilt durchweg für die Tätigkeiten der Arbeitnehmer79. Die ständig auszuübende Fließbandarbeit kann man vielleicht als einen Grenzfall bezeichnen. Diese und vergleichbare Arbeiten sind jedoch ethisch haltbar und sogar anzuerkennen, sofern durch entsprechende Freizeit, Urlaub udgl. die Grundlage für die Bewahrung und Entfaltung des Menschentums bestehen bleibt und die Tätigkeiten selbst, nach der Zeitdauer und den räumlichen Umständen sachlich haltbar, im Interesse der Gesamtgemeinschaft zu erbringen sind. Die Grundform der Arbeitsteilung ist im Personalverbund des Unternehmens stets gegeben und erforderlich; nur unter dieser Voraussetzung kann es zu einem sachgemäßen Ergebnis für Dritte und die Allgemeinheit kommen. Selbst im bäuerlichen Familienbetrieb findet sich die Arbeitsteilung zwischen Weisung und Ausführung; mindestens werden den anderen· in dieser Wirtschaftseinheit stehenden Personen allgemein gehaltene Direktiven erteilt, und ihre Ausführung wird kontrolliert. Der wirtschaftende Personalverbund, mit seinen auf die in ihm bestehende grundlegende Arbeitsteilung zurückgehenden, durchweg mannigfachen Weisen, im einzelnen sein Ziel in die Tat umzusetzen, ist eine äußerst wichtige Möglichkeit, legitimen Bedürfnissen der Menschen sinnvoll zu dienen. b) Die alternativen Betriebe
Zunächst ist, nunmehr unter dem Gesichtspunkt einer anderen Wirtschaftsverfassung, auf die alternativen Betriebe8° einzugehen.
BVerfG 20, 312 (317); 58, 233 (249). Die berufsmäßige Ausübung des Diebstahls etwa in einer unter der Herrschaft eines Anführers stehenden Diebesbande ist selbstverständlich keine zu bejahende "Arbeitnehmertätigkeit", und die Tätigkeit des Anführers ist kein ethischer Unternehmerberuf. Allgemein läßt sich ein ethisch zu mißbilligendes Verhalten in einem Beruf, der diesen Namen verdient, nicht verwirklichen. 80 Besser würde man von alternativen Unternehmen sprechen. 78
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aa) Funktionsunfähigkeit alternativer Betriebe und Verwaltungen einschließlich der Gefährdung der Rechtsprechung
Die Aufgliederung nach Leitung hier und Ausführung der Weisung dort ist selbst bei ihnen nicht aufzuheben. Eine ständig praktizierte "Basisdemokratie" hat die Funktionsunfähigkeit eines in dieser Art realisierten Wirtschattens zur Folge und führt so zur Sinnlosigkeit. Zumiodesten ist die Leistungsfähigkeit der Unternehmen im Kerne auf das höchste gefährdet. Die Sinnlosigkeit der Tätigkeit und bereits die eine bloße Fragilität des Wirtschattens weit übersteigende Bedrohung desselben läßt jene Gebilde auch unter individual-ethischen Gesichtspunkten als verfehlt erscheinen. Sie zeitigen nicht nur kein nennenswertes Ergebnis für die Gesellschaft, sie erscheinen in sich absurd. "Basisdemokratische" Entscheidungen auf der Ebene von Branchen und auf der Ebene der Gesamtvolkswirtschaft könnten praktisch immer nur Globalentscheidungen sein, die in den einzelnen Unternehmen näher umgesetzt werden müßten. Dies ebenfalls "basisdemokratisch" zu vollziehen, birgt nicht nur die erhebliche Gefahr in sich, von der vorgegebenen Richtlinie abzuweichen. Die Notwendigkeit, laufend Entscheidungen in dieser Weise treffen zu müssen, zeigt zur Evidenz die Aberwitzigkeit der Prozedur. Eine "Basisdemokratie" für Branchen oder für den gesamten Bereich des Wirtschaftslebens einzuführen, bedeutet im unmittelbaren Ergebnis die Institutionalisierung einer Verwaltungswirtschaft, wobei dieser Terminus allerdings einen von seinem üblichen Begriffsinhalt abweichenden Sinn erhielte. Die grundlegenden Entscheidungen fielen oberhalb der Unternehmen, die sie nur des näheren zu konkretisieren und sich jedenfalls an den mit ihnen vorgegebenen Rahmen zu halten hätten. Eine solche Art von Verwaltungswirtschaft wäre völlig ineffizient. Bei dem sonstigen Charakter dieser Wirtschaftsorganisation vermittelt immerhin die Bürokratie, wenn sie nur entsprechend differenziert, eine gewisse Nähe zu den einzelnen Unternehmen, die aber jetzt völlig entfiele . Bei Entscheidungen durch die Gesamtheit der im Wirtschaftsleben stehenden Personen kommt eine Sachnähe nicht mehr zum Zuge. Schließlich ist, was für auf sich stehende "alternativ" strukturierte Betriebe ebenfalls gilt, in besonders hohem Maße immer wieder mit völlig verfehlten Entscheidungen zu rechnen. Statt Sacherfordernisse in sorgfältigem Abwägen zu berücksichtigen, können leicht Schlagworte bestimmend werden, es erscheint dies sogar sicher. Daß, wie jede Art einer Verwaltungswirtschaft, auch hier die verwaltungsrechtliche Gewährleistung des Eigentums und Art. 12 Abs. 1 GG entgegenstehen, sei abschließend bemerkt. Die Verwaltungen sind sachnotwendig ebenfalls nach dem Prinzip von Leitung einerseits und Ausführung der Weisung andererseits strukturiert. Aus demselben Grunde wie im Falle der Unternehmen läßt eine basisdemokratische Struktur die Verwaltungen funktionsunfähig werden. Statt Leistungen 6 G. Müller
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für die Allgemeinheit zu erbringen, erfolgen mehr oder weniger ständig Abstimmungen. Werden sie nach Verwaltungszweigen, Regionen oder sogar nur allein auf der Ebene des Gesamtgemeinwesens vorgenommen, verfehlen sie sozusagen erst recht den Sinn des fraglichen Tätigkeitsbereiches. Es muß immer mit mehr oder weniger großen zeitlichen Differenzen zwischen der Vornahme der Abstimmung und der Durchsetzung ihres Ergebnisses in der einzelnen Verwaltungsstelle gerechnet werden, was im gegebenen Falle den ersten Akt sinnlos sein läßt; der Sachverhalt ist inzwischen entfallen oder er hat sich wesentlich geändert. Nicht zuletzt können abermals immer nur allgemeine Linien umrissen werden, die durch die konkrete Verwaltung näher konkretisiert werden müßten. Sollte diese Konkretisierung ebenfalls "basisgetragen" werden, würde das Geschehen zusätzlich gehemmt sowie die Gefahr nochmals gesteigert, daß notwendige Verwaltungsmaßnahmen nicht zeitlich angemessen erfolgen. Abgesehen davon muß damit gerechnet werden, daß die schmälere Basis von der durch die umfassendere Basis vorgegebenen Linie schlechthin oder doch mehr oder weniger abweicht. Man muß nur die Dinge einmal bis ins letzte durchdenken, um die Verfehltheit eines basisdemokratischen Gedankens für den Raum der Verwaltung festzustellen. Ihre Ineffizienz, aber auch allein schon die stets gegebene große Gefahr, daß sie mehr oder weniger gelähmt wird oder ins Leere läuft, läßt die "Basisdemokratie" sozialethisch in sich schlechthin verfehlt oder sogar verwerflich erscheinen. Eine basisdemokratische Strukturierung der Verwaltung würde im übrigenund dies ist sogar in erster Linie zu beachten- sehr leicht dazu führen, daß sie nicht mehr auf die Belange der Allgemeinheit einschließlich der berechtigten Belange der Einzelnen und der legitimen einzelnen Gemeinschaften und Gruppierungen ausgerichtet wäre; sie hinge von den schwankenden Sichten der Verwaltungsangehörigen ab. Jedenfalls droht aktuell immer diese Gefahr. Daß bei der Prozedur der "demokratischen Abstimmungen" um die zu erzielenden Ergebnisse in einer Weise wie bei politischen Volksabstimmungen ein Meinungsstreit entbrennt, der ebenso wie bei basisdemokratischen Unternehmen und einer basisdemokratischen Wirtschaft allgemein mit vereinfachten Parolen, mit Schlagworten geführt wird, sei nur noch am Ende erwähnt. Wenn im Bereich der Rechtsprechung sämtliche dort tätigen Personen an ihr "basisdemokratisch" beteiligt würden, wäre es um die Unabhängigkeit der Justiz geschehen. Zumiodesten tritt die extrem große Gefahr ein, daß es zu nach der Sachlage verfehlten, also zu Willkür-Entscheidungen kommt. Nicht zuletzt wäre die Rechtsprechung mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr schnell verpolitisiert und ideologisiert, ein Umstand, der auch gegenüber einer "basisdemokratisch" gestalteten Verwaltung entschieden ins Gewicht fiele. Verwaltung und Rechtsprechung sind notwendige Erscheinungsformen und Äußerungen der Gesamtgemeinschaft. Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie Gebietskörperschaften jeder Art zeigen sich auf ihre Weise
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ebenfalls als Ausdrucksformen der Gesalhtgemeinschaft. Ihre Angehörigen sind nicht die Herren dieser Größen und erst recht nicht die Herren des Staates, sie sind Diener der Gesamtgemeinschaft81. "Basisdemokratie" in der hier in Rede stehenden Art ist schließlich mit der parlamentarischen Demokratie als einem Kernstück unserer Verfassung nicht vereinbar. bb) Die Tatsächlichkeif der Basisdemokratie
In der Wirklichkeit der Dinge führen basisdemokratische Strukturen über kurz oder lang zur Herausbildung soziologischer Eliten, die den Meinungsbildungsprozeß steuern. Sogar ein Einzelner kann sich ohne weiteres als "Führer" etablieren. Diese Ergebnisse durch institutionelle Vorkehrungen wie etwa durch ein Redeverbot für konkrete Personen unterbinden zu wollen, wird sich als nicht durchführbar erweisen, ganz abgesehen davon , daß der "demokratische Prozeß" dann an einem inneren Widerspruch krankte. Sind die Eliten und der Einzelne ethisch gebunden, ist die Basisdemokratie weitgehend nur Fassade. Die Geschichte kennt aus der jakobinischen Epoche der Französischen Revolution den Wohlfahrtsausschuß mit Robespierre als seiner dominierenden Persönlichkeit und die schein-plebiszitären Herrschaftssysteme Napoleon I. und Napoleon III. als "Kaiser der Franzosen"82. Der bei vordergründiger Betrachtung ansprechende, bei der Tatsächlichkeit der Dinge aber utopische Gedanke der Basisdemokratie, eine allseitige Transparenz der Entscheidungen zu erreichen, sowie die vorausgehenden Diskussionen als das gedankliche Fundament derselben und die angezielte allgemeine Bejahung der Entscheidungen selbst zu gewährleisten, können bei schnell zu treffenden Maßnahmen nicht zur Geltung kommen. Vor allem aber sind sie bei dem Aufkommen von Eliten und mit dem Auftreten des bestimmenden Einzelnen praktisch gar nicht oder allenfalls nur verkümmert verwirklicht. Das spricht allgemein gegen das basisdemokratische System, sofern es ein grundlegendes und mehr oder weniger umfassendes Prinzip für die Ordnung von Gemeinschaften sein soll. Fehlt es an der ethischen Bindung, ist die Gefahr, daß es zu ethisch nicht annehmbaren und zu in sich ethisch verwerflichen Entscheidungen kommt, stets in einem sehr hohen Ausmaße unmittelbar gegeben. Sie ist sogar bei ethischer Bindung nicht in dem größtmöglichen Maße ausgeschlossen. Es fehlt an der formellen rechtlichen Verantwortlichkeit.
81 Für unsere Zeit ist es bezeichnend, daß man das Wort dienen kaum mehr hört. 82 Die Bezeichnung "Kaiser von Frankreich" hätte ersichtlich auf die real bestehende
Herrscherstellung hingedeutet. Die gewählte Formulierung sollte die tatsächliche Position des Staatsoberhauptes kaschieren. 6*
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cc) Der Gedanke der "herrschaftsfreien Gesellschaft"
Die alternativen Betriebe und die Basisdemokratie überhaupt sind von dem Gedanken der "herrschaftsfreien Gesellschaft" getragen. Das aber ist ein utopischer Gleichheitsgedanke und damit Ideologie. Jeder Einzelne wird in einer extrem individualistischen Sicht als eine Größe nur für sich und in sich gesehen. Trotz der Hinordnung dieses Gleichheitsgedankens auf die Gesellschaft kommt die gemeinschaftsbezogene Natur des Menschen aus dem Blick. Um die fragliche Gleichheit zu erzielen, kommt andererseits nur zu leicht ein gleichmacherischer und damit letztlich ein totalitärer Zwang zur Anwendung. Das Gleichheitspostulat ist nun einmal in seiner extremen individualistischen Ausformung wie in seiner kollektivistischen Erscheinung in sich verfehlt, und sein eigentlich ethischer Gehalt, die Aussage von dem gleichen Wert und der gleichen Würde eines jeden Menschen, ist verlorengegangen. dd) Ergebnis für das Wirtschaftsleben und für die staatliche Ordnung
Nach allem erweist sich die institutionelle Unterscheidung zwischen Leitung und Mitarbeitern wiederum als sachgerecht, und wegen der für die Gesellschaft und die Gemeinschaft notwendigen, jedoch basisdemokratisch nicht zu erzielenden Effizienz der Unternehmen sozialethisch als unerläßlich geboten. Das rechtliche und das ethische Gleichheitspostulat findet seine letzte Begründung in dem Menschentum eines jeden Menschen; es sagt aber nichts dazu, daß jeder im Interesse der Gleichheit in seiner Tätigkeit die gleiche Funktionsstellung haben müsse. Die gleiche Funktionsstellung aller in einem Unternehmen ist allenfalls bei Kleiostunternehmen denkbar. Von der Personalstärke her könnten Basisentscheidungen erfolgen. Letztlich bleibt aber doch eine besondere Leitung erforderlich. Nicht nur können die Umstände eine sofort vorzunehmende Maßnahme gebieten, eine stets mögliche unterschiedliche Sicht und Bewertung der "Basis" und innerhalb derselben würden aber ohne weiteres nur zu leicht die Entscheidung verhindern oder doch unsachgemäß verzögern. Bei einer staatlichen Gemeinschaft, die nur eine geringe Bevölkerungszahl kennt und deren Staatsgebiet durch eine absolute oder relative Kleinheit gekennzeichnet ist, wie z. B. im Falle des schweizerischen Halbkantons Appenzell-Innerrhoden und noch bei Island, ist in fundamentalen Fragen eine Gesetzgebung durch Volksabstimmung möglich. Derartige Tatbestände fallen in aller Regel nicht ständig an. Für die laufende Verwaltung scheidet der Gedanke der Basisdemokratie als Strukturprinzip bereits aus. Ein Hinweis auf die attische Demokratie in ihrer Hochblüte, als die einzelnen Bürger ständig politisch tätig waren, ist fehl am Platze. Die Athener konnten sich den politischen Geschäften unbeschränkt und ohne sonstige Verpflichtungen widmen, weil zur Zeit des ersten attischen Seebundes die sonstigen Mitglieder dieser Föderation fast ausschließlich Athen und seine Bevölkerung finanziell allein
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trugen, also auf diese Weise das konkrete politische Leben Athens ermöglichten. Sehr scharf, aber deutlich ausgedrückt: Athen und die Athener schmarotzten in ihrem politischen Leben auf Kosten ihrer Bundesgenossen, die in der Wirklichkeit der Dinge wirtschaftlich Untertanen jener Stadt waren. Nicht zuletzt deswegen ist der erste Bund dieses Namens im Verlauf des Peloponnesischen Krieges zerbrochen, und Athen mußte als Vormacht von Hellas abtreten. Ist das Arbeitsergebnis in einem und durch einen Personalverbund zu erbringen, ist die strukturelle Unterscheidung nach Leitung und Mitarbeitern nach allen bisherigen Ausführungen vorgegeben. Wegen der Aufteilung nach Tätigkeitsbereichen, die sich innerhalb der Mitarbeiterschaft fortsetzt, und der Zuordnung sämtlicher Einzelarbeiten auf das Gesamtziel des Personalverbundes ist und bleibt diese Struktur für die Gesellschaft und die Gemeinschaft besonders sinnvoll. Daß grobe Fehler in der Organisation des Verbundes sich ohne weiteres höchst nachteilig auswirken können, ändert an dem Prinzip nichts. Menschliches Versagen ist in allen Bereichen und Ordnungen, in denen der Mensch in Erscheinung tritt, stets in Rechnung zu stellen. Begabungen und Fähigkeiten der Menschen sind verschieden. Zwar muß jeder, soweit das nur möglich ist, die Chance erhalten, seine ihn kennzeichnenden Veranlagungen voll ausbilden und einsetzen zu können. Das ändert aber nichts daran, daß die konkret übernommene und zugewiesene Tätigkeit sachgemäß zu erfüllen ist. Wird nur das Menschentum eines jeden anerkannt und geachtet und bestehen insofern die erforderlichen institutionellen Sicherungen, bleibt die durch die Grund-Arbeitsteilung gekennzeichnete Wirtschaftsordnung ethisch eine optimale Größe. c) Planwirtschaft
aa) Allgemeines Eine Planwirtschaft muß die Arbeitsteilung zwischen Leitung und Ausführung ebenfalls praktizieren. Darüber hinaus kann es bei ihr, nur um den Plan zu erfüllen, sehr leicht zu einer extremen Arbeitsstückelung kommen. Vor allem muß die Arbeitsverpflichtung als institutionelle Möglichkeit zur Verfügung stehen. Entsprechend seiner Tragweite hat der Plan wegen der je erforderlichen Ausschöpfung der Arbeitskraft auf die Mobilisierung aller in Frage kommenden Arbeitsfähigen abzustellen, und er muß es umfassend , wenn eine Gewährleistung für die Planerfüllung, soweit nur irgend möglich, bestehen soll. Der Plan verlangt nicht zuletzt die Lenkung der Arbeitnehmer auf Arbeitsplätze, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Vorstellungen vom Arbeitsplatz und ggf. ohne Rücksicht auf ihre Vorstellungen vom Beruf. Nur so ist er als Grundlage des Wirtschaftsgeschehens zu aktualisieren. Das alles ist zwar lediglich als "letztes Mittel" denkbar, nach den Erfahrungen der Praxis sind
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diese Steuerungsmaßnahmen zum Einsatz der Arbeitnehmer jedoch praktisch weitgehend zur Planerfüllung unerläßlich. Daß die tatsächliche Sicherstellung eines Arbeitsplatzes für jeden erfolge, was immer wieder vorgetragen wird, ist andererseits keineswegs sicher. Es kommt im Gegenteil jedenfalls häufig zu einer verkappten Arbeitslosigkeit. Völlig unnötige Arbeiten verdecken sie bloß. Ferner kann eine unvermutet notwendige Umstellung der technologischen Struktur zu deutlich in Erscheinung tretender Arbeitslosigkeit ggf. sogar großen Ausmaßes führen. Das alles gilt, wie ohne weiteres einsichtig, für eine zentralistische Verwaltungswirtschaft. Es gilt letztlich aber ebenso für eine dezentralisierte Verwaltungswirtschaft; ohne einen Gesamtrahmenplan kommt sie nicht aus. Arbeitsverpflichtung und verwaltungsmäßige Steuerung des Arbeitseinsatzes sind hier als nicht aufgehbare Vorkehrungen immerhin ständig in der Hinterhand zu halten. Daß darüber hinaus jedenfalls eine streng zentralistische Planwirtschaft bereits von sich aus ein beachtlicher Schritt zu einem Totalitarismus sein kann, sei ausdrücklich erwähnt. Ebenso charakterisiert der Österreichische Arbeitsrechtier Mayer-Maly die Planwirtschaft und sagt zutreffend von ihr ganz allgemein: "Die Arbeit für andere wird in eine Arbeit für sich selbst und für die Gesellschaft umgedeutet. Ein Recht auf Arbeit wird programmiert, eine Arbeitspflicht wird exekutiert. Die Möglichkeit von Arbeitslosigkeit wird nicht zugestanden und um den Preis von Scheinbeschäftigungen verdeckt, eine freie Wahl des Arbeitsplatzes wird nicht eröffnet. Die persönliche Freiheit, insbesondere die Bewegungsfreiheit, erfährt deutliche' Beschränkungen. Folgerichtig werden freiwillige Arbeitnehmerzusammenschlüsse nicht zugelassen. Das Entwicklungstempo der sozialistischen Produktion wird vom Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16. 6. 1977 als eine der Aufgaben des Arbeitsrechts bezeichnet (§ 1 dieses Gesetzbuches). Das Arbeitsrecht selbst wird nicht mehr als ein Regulativ für Interessengegensätze verstanden, sondern als ein Erziehungselement. Es fördert nach dem Arbeitsgesetzbuch der DDR die allseitige Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit und das der sozialistischen Lebensweise entsprechende Verhalten und Handeln der Werktätigen (§ 2 Abs. 4). Solches Arbeitsrecht ist Verwaltungsrecht. "83 Der gedankliche Hintergrund zu alledem ist die Sicht des Kommunismus , kein Mensch dürfe anderen Menschen untergeordnet sein, also ebenfalls der Gedanke der "herrschaftsfreien Gesellschaft". Deswegen muß man in einem strengen Sinne für die Wirtschaftsgesellschaft postulieren, jeder leiste die von ihm erbrachte Arbeit für sich selbst. Soll aber in einer Industriegesellschaft ein wirtschaftliches Chaos vermieden werden, kann die Bestimmung der von dem Einzelnen zu leistenden Arbeit ihm nicht überlassen bleiben. Es wird entsprechend einem weiteren kommunistischen Gedanken der Mensch nicht als ein 83 Mayer-Maly, in: Das Unternehmen als Größe der Arbeitswelt. Der Arbeiter als Gesellschafter?, 41/42.
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für sich stehendes unverwechselbares und unverlierbares, dabei gleichwohl als ein gemeinschaftsbezogenes und gemeinschaftsgebundenes Wesen, sondern als eine Größe gesehen, die ausschließlich von der Gesellschaft her erfaßt und ausschließlich auf sie hingerichtet ist. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes ist deswegen rechtlich nicht möglich, und freiwillige Arbeitnehmerzusammenschlüsse, Arbeitnehmerkoalitionen und Gewerkschaften in unserem Sinne sind nicht zulässig. Der Mensch ist nicht Person. Sein Menschsein ist vielmehr allein dadurch bestimmt, daß er der Gemeinschaft oder der Gesellschaft angehört und bloß ein Teil von ihr ist. Die sozialistische Arbeitsverfassung mag derart sehr scharf gezeichnet sein, die Skizzierung entspricht aber jedenfalls im Kern und mehr oder weniger weitgehend der Wirklichkeit der sog. sozialistischen Staaten. Es erfolgt der Versuch, das emanzipierte, für sich stehende Individuum mit einer strengen Ein- und Unterordnung in ein Kollektiv in eins zu setzen. In der Sache ist dies das Unterfangen, konträre Widersprüche in einer einzigen Größe aufzuheben. Da derartiges nicht möglich ist, muß im Ergebnis einer der beiden Ausgangspunkte negiert werden. Um die mit einem emanzipatorischen Individualismus notwendig eintretende Anarchie zu vermeiden, soll unbedingter Kollektivismus herrschen, und um ihn zu rechtfertigen, dabei aber auch noch den streng individualistischen Ausgangspunkt wenigstens theoretisch festzuhalten, wird das Menschsein als ein Tätigsein für die Gesellschaft bestimmt. bb) Ergebnis Der emanzipatorische Individualismus ist nicht haltbar, er führt zu totalem Durcheinander der Gesellschaft, nicht zuletzt der Wirtschaftsgesellschaft, und er greift so die Existenz des Einzelnen selbst an. Der Kollektivismus ist ebenfalls nicht haltbar, er hebt den Menschen als Höchstwert auf. Um überhaupt zu brauchbaren Ergebnissen des Wirtschaftslebens zu kommen, muß ein kollektivistisches System mit dem Einsatz von Zwangsmitteln operieren. Bei der Voraussetzung, der Mensch sei ein Nur-Kollektivwesen, ist eine Interessenverfolgung durch den Einzelnen und im Verbund von Einzelnen nicht denkbar. Eine Arbeits- und Wirtschaftsverfassung der fraglichen Art ist ferner wegen ihres in sich widersprüchlichen Fundamentes ethisch nicht annehmbar. Die Extreme einer bindungslosen Autonomie des Menschen und seine Deutung als eines ausschließlich und allein von der Gesellschaft her und durch sie bestimmten Wesens werden zusammengebunden. Sie können bei ihrer Unverträglichkeit stets in das eine oder in das andere, die menschliche Natur jeweils verzerrt sehende Extrem auseinanderfallen. Wie der bindungslose Individualismus nach dem Kollektivismus als dem angeblichen Heilmittel verlangt, so kann der Kollektivismus im Kampf aller gegen alle oder in einer scharfen Auseinandersetzung verschiedener Gruppierungen zerbrechen. Die Erfassung des
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Menschen als eines eigenständigen sowie gleichzeitig gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen und bei alledem niemals austauschbaren Wesens ist keine konstruierte Größe, die sowohl die Gefahren des Individualismus wie die des Kollektivismus vermeiden soll. Es geht um die umfassende Sicht des Menschen, um seine ihn von Haus aus kennzeichnende Eigenart. Der (strenge) Individualismus und der (strenge) Kollektivismus verabsolutieren jeweils eine Seite des Menschen, und sie negieren damit seine Ganzheit. Das kollektivistische System unterdrückt die eigenständige Bestimmung der anzuerkennenden oder doch vertretbaren Interessen des Menschen nicht zuletzt im Bereich des Arbeitslebens. Das ist menschenwidrig. Zugleich erfordert das System in einer ihm eigenen Weise die Arbeitsteilung. Seine Wirtschaftsweise verlangt nicht nur wie bei jeder im Verbund erfolgenden Arbeit die Sachunterscheidung von Leitung und Mitarbeit. Es verlangt ferner eine Strukturierung der Arbeitserbringung gemäß dem für die Wirtschaft aufgestellten Gesamtplan und eine diesem Gesamtplan entsprechende strenge Zuteilung der Arbeitsaufgaben an die Gruppen und Einzelnen. Die Ausrichtung nach dem Plan ist auch kennzeichnend für eine dezentralisierte Verwaltungswirtschaft. Daran ändert wenig, wenn der Plan und die Pläne Rahmenpläne sind. Jedenfalls in ihren Grundstrukturen eignet ihnen Zwangscharakter84. cc) Notlagensituationen
Ein dem Kollektivismus in der Struktur, wenn auch nicht in der Ausgangsund Grundlagenkonzeption und des weiteren nicht in der Tendenz vergleichbares Zwangs-System ist bei extremen Notlagen vertretbar. Das ab der zweiten Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts von außen und im Ionern schwer bedrängte römische Imperium setzte mit seinen Zwangsmaßnahmen die wirtschaftlichen Möglichkeiten und technischen Fähigkeiten seiner Angehörigen im Interesse des Überlebens aller und des Weiterbesteheus der Gesamtgemeinschaft als der Rahmenbedingungen für seine Bevölkerung mehr oder weniger gezielt ein. U. a. deswegen konnten, abschließend mit den Kaisern Diokletian und Konstantin, die gesamtpolitischen Verhältnisse stabilisiert werden. Ein derartiges Zwangssystem kann u. U. sogar vom Gemeinwohl erfordert werden, wenn nur auf diese Weise die Gemeinschaft als die nach Zeit und Ort allgemeine Grundlagen sicherstellende und gewährleistende Größe Bestand haben kann. Eine solche Ordnung darf aber immer nur eine Ausnahmeerscheinung sein. Spätestens das vierte nachchristliche Jahrhundert hat in seinem Verlauf die Unterbindung der wirtschaftlichen Selbsttätigkeit unter eine erstickende Bürokratie mit ihren nachteiligen Folgen 84 Nach allem, was bisher bekannt geworden ist, bleibt auch bei einer Umgestaltung der sowjetischen Wirtschaft nach den Plänen des Generalsekretärs Gorbatschow diese Wirtschaft immer noch eine Verwaltungswirtschaft.
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gebracht. Zwangssysteme im wirtschaftlichen Raum und erst recht die alle Bereiche der menschlichen Existenz ergreifenden totalitären Systeme führen, wenn sie nicht in angemessener Weise beseitigt werden, entweder zur Unterdrückung und Verkümmerung des Menschen oder sie bergen die Gefahr großer gesellschaftlicher Explosionen und die Tatsächlichkeit ihres Ausbruchs selbst in sich. d) Das Zunftwesen
Das Zunftwesen kannte die Arbeitsteilung zwischen Leitung und Mitarbeitern ebenfalls, und mit der zentralen Stellung des Meisters war es sogar maßgeblich charakterisiert. Zwischen den Meistern einerseits und den Gesellen andererseits traten Spannungen auf, die, jedenfalls in späterer Zeit, zu scharf einander gegenüberstehenden Positionen führten . Dabei ist weniger an "die Freizeitfrage" gedacht, dem Verlangen der Gesellen nach der Anerkennung des "blauen Montag". Hierbei ging es wohl mehr darum, sich von dem "Feiern" am Sonntag erholen zu können. Aber wegen des Prinzips des "gesicherten Auskommens"85 war der Aufstieg des Gesellen zum Meister nicht hinreichend gewährleistet. Im Laufe der Zeit wurde er sogar in erheblichem Ausmaß unterbunden. Der Gedanke des "gesicherten Auskommens" und die Stellung des Meisters waren aufeinander bezogen. Die Zunftordnung stellte den Meister und seine Tätigkeit, damit auch sein und seiner Familie Auskommen in den Mittelpunkt insbesondere der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Existenz. Bezeichnend mag sein, daß nach dem Tode des Meisters seine Witwe den Handwerksbetrieb geschäftlich weiterführen konnte. Der zur tatsächlichen Ausübung des Handwerks erforderliche Altgeselle gewährleistete dies tatsächlich, blieb aber selbst Geselle. Die mit der Stellung des Meisters zusammenhängenden je verschiedenen Interessenlagen zwischen ihm und den Gesellen traten mit den Meistersöhnen sozusagen überdeutlich in Erscheinung; als Familienangehörige wurden sie, mindestens nach der Hochblüte des Zunftwesens, betont bevorzugt. Auf jeden Fall war die bei einem aus mehreren Personen bestehenden Produktionsverbund sachnotwendige Unterscheidung zwischen Leitung und Mitarbeitern für die Zunftverfassung ebenfalls der Ausgangspunkt. Der Geselle mag zwar häufig allein und ausschließlich die Fertigung des einzelnen Werkstückes, des handwerklichen Erzeugnisses, vorgenommen haben. Die Gesamtdisposition lag jedoch bei dem Meister. Nur so war der Zusammenhalt des Gesamtbetriebes (Gesamtunternehmens) gewährss Das Prinzip des gesicherten Auskommens darf m . E. nicht mit einer Subsistenzwirtschaft verwechselt werden. Die Zunftwirtschaft diente, anders als ein Großteil der bäuerlichen Einheiten vorhergehender Zeiten, nicht primär der Selbstversorgung, sondern dem Absatz. Aus ursprünglichen Zunftbetrieben gingen, der Fall der Fugger zeigt es, Großkaufleute mit Wirtschaftsimperien bis in den Bergbau hinein hervor. Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft könnte die Beziehung zwischen der Fernkaufmannschaft und den Handwerksbetrieben deutlich werden lassen.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
leistet. Die Meisterstellung wurde im übrigen aufgrund ihrer zusätzlichen patriarchalischen Fundierung noch verstärkt. Die patriarchalische Struktur des Zunftwesens ist heute und, soweit zu sehen, jedenfalls für absehbare Zeit nicht mehr zu realisieren. Die Betonung der Selbständigkeit des Einzelnen und das geistige Gewicht dieses Gedankens stehen dem entgegen, sie steht des weiteren dem Gedanken des gesicherten Auskommens für den Meister und seine Angehörigen entgegen. Die heutige Sicht ist anzuerkennen; der Einzelne verkörpert den (für alle gleichen) Höchstwert; zu verwerfen ist nur die ungebundene Autonomie. Die Gegenüberstellung des patriarchalischen Gedankens in der Zunftverfassung und die heutige Bewertung des einzelnen Menschen zeigt, daß auch ethische Größen je nach Zeit und Raum in je verschiedener Betonung in Erscheinung treten. Die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit ist ethisch zu bejahen, wenn sie nur "gebunden" ist. Eine patriarchalische Gesellschaftsstruktur ist anzunehmen, wenn sie die Persönlichkeit der anderen, einschließlich der Frau und der weiteren Familien- und Haushaltsangehörigen anerkennt und im tatsächlichen Geschehensablauf bejaht. Die nähere Ordnung selbst hängt von vielen einzelnen Umständen ab. 12. Zurückdrängen der Zahl der Arbeitnehmer aufgrund der technologischen Entwicklung?
Als eine gedankliche Überlegung stellt sich die Frage, ob nicht durch die technologische Entwicklung, sozusagen infolge eines ihr immanenten Grundes die arbeitsteilige Wirtschaftsgesellschaft eine Randerscheinung werden könnte. Das wäre etwa dann der Fall, wenn in weitem Ausmaß die Voraussetzungen für wirtschaftlich arbeitende Ein-Mann-Unternehmen oder doch für Kleinst-Unternehmen vorliegen würden, es wohl auch in wechselseitiger Interdependenz zu mehr oder weniger dauerhaften Beziehungen der einzelnen Unternehmen dieser Art untereinander für die Lieferung von Produkten und für die Zurverfügungstellung von Dienstleistungen käme. Der Arbeitnehmer als Mitarbeiter würde aber in seiner Bedeutung doch nicht verdrängt; er mag quantitativ-zahlenmäßig nicht mehr derart in Erscheinung treten wie bisher; daß er in einem übergroßen Umfange verschwände, erscheint jedoch nicht denkbar. Die funktionale Bedeutung der in Schlüsselstellungen des Wirtschaftslebens tätigen Arbeitnehmer, womit längst nicht nur die Leitenden Angestellten gemeint sind, bliebe zudem auf jeden Fall erhalten und die Zahl dieser Personen dürfte sogar zunehmen. Damit aber bleibt die Grundlage für eine nach wie vor erhebliche Bedeutung der TV-Autonomie als einer wichtigen wirtschaftlich-gesamtgesellschaftlichen Erscheinung bestehen. Die antagonistischen Interessenpositionen existieren nach wie vor. Das gilt alles auch, sollte sich aufgrund der technologischen Entwicklung die Arbeitsproduktivität
13. Zusammenfassung
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wirklich in einer Art steigern lassen, daß die Erwerbstätigkeit des Arbeitnehmers nicht mehr das "Tagewerk" ausfüllte86. Das Arbeitsverhältnis bliebe immer noch eine mindestens maßgebliche Existenzgrundlage für die Arbeitnehmer. 13. Zusammenfassung Ein Zurücktreten der arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung ist nur in personell kleinsten Unternehmenseinheiten praktisch durchführbar. Selbst hier ist aber eine Aufgabenverteilung nach Leitung und Mitarbeit sogar für die laufenden Tätigkeiten und Vorgänge unerläßlich. Nur auf diese Weise wird nun einmal ein wirtschaftlich sinnvolles und damit nicht zuletzt den Belangen der Allgemeinheit dienendes Wirksamwerden selbst der kleineren Unternehmen möglich. Die sachliche Aufteilung nach Leitung und Mitarbeit ist ihrerseits, was abermals betont sei, keineswegs unethisch. Daß Konflikte stets möglich sind und tatsächlich immer wieder auftreten, bleibt so oder so eine konstante Erscheinung. Bei dem einen Arbeitnehmer erfolgt eine weniger starke Identifikation mit dem Unternehmen als bei dem anderen. Ein Wechsel von Personen kann sogar zu tiefgehenden Friktionen führen. Entscheidungen über Veränderungen in der Struktur der Arbeitsorganisation und der Zielsetzung der Unternehmen können erhebliche und lang nachwirkende Spannungen zeitigen. Das Gewicht der dem Einzelnen obliegenden Aufgaben für das Unternehmen wird im konkreten Fall verschieden gewertet, was ebenfalls schwere und lang dauernde Auseinandersetzungen heraufzuführen vermag. Schließlich könnten von außen Spannungen in das Unternehmen hineingetragen werden. Wo Menschen mit Menschen zu tun haben, kommt es wegen der je persönlichen Situation der Einzelnen und deren Auswirkung auf das Verhalten gegenüber den anderen immer wieder zu Divergenzen und Konflikten. Werden alle in einem Unternehmen Tätigen zu einer Personalgesellschaft mit den Mitarbeitern als Gesellschaftern zusammengeiaßt (was in der formalen Struktur etwas anderes als ein "alternatives Unternehmen" wäre), könnte man rechtlich zwar nicht mehr von einer weisungsgebundenen und abhängigen Arbeit sprechen. Es bliebe aber unverändert die Notwendigkeit bestehen, etwa Mehrheitsbeschlüsse durchzusetzen und die Koordination der einzelnen Arbeiten und ihre Ergebnisse sicherzustellen. Nicht zuletzt wäre bei den ohne weiteres möglichen Spannungen die Bindung jedes Einzelnen an das Unternehmensziel als vorgegebenem Maßstab sicherzustellen. Das Unternehmen muß wirtschaftlich effektiv und dabei zum allermindesten kostendeckend arbeiten. Ein alle unternehmensrelevanten einschließlich der nach sinnvoller Beurteilung in der Praxis etwa relevant werdenden Faktoren erfassendes Gesamtbild ist erforderlich, das seinerseits ständigen Verschiebungen unter86
Vgl. v. Nell-Breuning, in: Festschrift für Hersehe! zum 85 . Geburtstag, 318/319.
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Kap. II: Die Interessenverfolgung der Koalitionen
liegt. Es läßt sich nur von ständig mit dieser Aufgabe befaßten Personen erarbeiten und seiner Bedeutung gemäß handhaben. Schon ist faktisch eine Leitung einerseits und die Bindung der weiteren in dem Unternehmen Tätigen an die Weisungen der Leitung andererseits unumgänglich. Daß der Gesamtüberblick die sozialhumane Lage insbesondere derjenigen Personen, die nicht in Elite-Funktionen mit entsprechender Vergütung stehen, miterfassen und sachgemäß in Berücksichtigung der anderen Gegebenheiten einordnen muß, darf nicht vergessen werden. Dabei ist zu beachten, daß es gerade in diesem Zusammenhang leicht zu Spannungen kommt. Alles in allem ist eine "bessere Welt" nicht in Sicht, gerade auch nicht im Bereich des wirtschaftlichen Lebens. Mißverständnisse, menschliche Schwächen und menschliche Unzuträglichkeiten lassen sich in diesem Leben nicht zum Verschwinden bringen, jeder Tag bringt seine Plage87. Da ein rein gesellschaftsrechtlich strukturierter Personalverbund des Unternehmens über kleine Unternehmenseinheiten hinaus fehlschlägt, jedenfalls aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit scheitert, ist bereits das Experiment zu unterlassen.
87 Das ändert nichts daran, es ist sogar ein zwingendes ethisches Gebot, sich ständig -und in Nüchternheit- nachhaltig um die rechte Ordnung zu mühen. Ein solches Verhalten in Kenntnis der niemals zu behebenden Unzulänglichkeiten verlangt vielleicht einen besonderen Idealismus.
Kapitel III
Gesellschaftsrechtliche Größen im Arbeitsverhältnis 1. Allgemeines
Mit den obigen Erwägungen ist die Einführung gesellschaftsrechtlicher Elemente in das Arbeitsverhältnis nicht abgelehnt. Im Gegenteil, ihre Institutionalisierung wird von der Ethik sogar gefordert. Das Unternehmen ist in seinem entscheidenden Kern ein sozialer Verbund, in dem Arbeitgeber/ Unternehmer und Arbeitnehmer auf dasselbe Ziel hinarbeiten und ihm mit ihrer Tätigkeit verpflichtet sind. Es liegt eine Gemeinschaft von Personen vor, in der jeder seine Aufgabe im Blick auf das allen gemeinsame Ziel zu erfüllen hat. Man könnte deswegen, allerdings in einem sehr weit gefaßten Sinne, vom Unternehmen als einem gesellschaftsrechtlichen Gebilde sprechen. Es darf allerdings nicht verkannt werden, daß das Unternehmensziel von dem Unternehmer oder den Unternehmern gesetzt und von denjenigen , die diese Stellung etwa später bekleiden, als ihr Ziel übernommen wird. Die Arbeitnehmer bestimmen das Ziel nicht. In der zentralen und in einem gewissen Ausmaß ebenfalls in der dezentralisierten Verwaltungswirtschaft wird das Unternehmensziel letztlich durch die Staatsleitung vorgegeben. - Bei einer Trennung zwischen den Eigentümern am Unternehmenssubstrat und der näheren Unternehmensleitung ist im übrigen letztere grundsätzlich an den Unternehmenszweck gebunden.- Die Unternehmer können das Ziel ändern, und vor allem können sie das Unternehmen schließen. Ferner steht der Unternehmensleitungdie Organisations- und Direktionskompetenz zu. Das alles ist das unmittelbare Ergebnis der sinnvollen und sachgerechten Arbeitsteilung zwischen den Aufgaben des Unternehmers/Arbeitgebers hier und denen der Mitarbeiter dort. Diese Arbeitsteilung verlangt aber auch von dem Unternehmer die Beachtung der Belange und der Situation der Mitarbeiter, wie die Mitarbeiter die Unternehmensbelange (im engeren Sinne des Wortes) zu beachten und als für sie geltenden Maßstab anzuerkennen haben. In einer Ordnung, die den Arbeitnehmer als Menschen anerkennt, und wegen der einheitlichen Ausrichtung sowohl ihrer Tätigkeiten wie der Funktion des Unternehmers/Arbeitgebers auf das Unternehmen, scheint, unbeschadet aller Interessenspannungen und Interessenkonfrontationen, eine Erkenntnis nahe zu liegen: Dem Arbeitsverhältnis wohnt von Haus aus ein gewisses gesellschaftsrechtliches Moment inne. Man kann vielleicht sagen, daß das Arbeitsverhält-
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
nis nicht bloß ein wirtschaftliches Austauschverhältnis mit einem personalen Faktor ist. Es weist, ohne mit ihm identisch zu sein, in bestimmter Hinsicht eine Analogie zu einem Gesellschaftsverhältnis auf, und es ist durch diese Analogie mitbestimmt und mitgetragen.
2. Das Individualarbeitsrecht a) Die betriebsbedingte Kündigung
Die Sicherung des Menschentums des Arbeitnehmers im Unternehmen ist eine wesentliche Aufgabe des Individualarbeitsrechts und des Betriebsverfassungsrechts. Zu recht werden gerade diese Bereiche mit dem Stichwort "Arbeitnehmerschutzrecht" gekennzeichnet. Das ausgebaute arbeitsrechtliche Kündigungsschutzrecht der Bundesrepublik zeigt das signifikant für das Individualarbeitsrecht an. Eine dem Arbeitnehmer ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung ist nur dann nicht sozial ungerechtfertigt, wenn sie, wie das Gesetz ausdrücklich sagt, durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen, bedingt ist. Um den Tatbestand eines solchen Bedingtseins der Kündigung (dringende betriebliche, der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehende Erfordernisse) feststellen zu können, ist darüber hinaus mit der Rechtsprechung des BAG eine Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes einerseits mit den Belangen des Betriebes/Unternehmens andererseits geboten. Diese Belange sind im Blick auf die Verwirklichung des Unternehmenszieles, bei einem aus mehreren Betrieben bestehenden Unternehmen hinsichtlich des Beschäftigungsbetriebes mit seiner Bedeutung für das Unternehmensganze, entsprechend der konkreten Situation zu erfassen. Das Unternehmensziel, das den Unternehmer/Arbeitgeber und den Mitarbeiter miteinander verbindet und den Personalverbund Unternehmen zusammenhält, tritt neben dem Gewicht des Arbeitsplatzes für die Existenz des Arbeitnehmers bei der Beurteilung über sein Verbleiben oder Nicht-Verbleiben in dem Sozialverbund in Erscheinung. Besonders deutlich wird dies bei Tendenzverstößen eines in Tendenzbetrieben und in Tendenzunternehmen beschäftigten Arbeitnehmers. Tendenzverstöße rechtlich nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, wäre nichts anderes als Willkür, durchweg wohl sogar grobe Willkür. Da das Unternehmen von Menschen mit dem dem Menschen zukommenden Höchstwert getragen wird, stiftet das (ethisch nicht zu verwerfende) Unternehmensziel auf jeden Fall eine Gemeinschaft von Menschen und bestimmt sie. Das Kündigungsschutzrecht zeigt deutlich seine Bedeutung für das Vorliegen der Unternehmensgemeinschaft.
3. Das Betriebsverfassungsrecht
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b) § 613 a BGB
Nach § 613 a BGB tritt bei der rechtsgeschäftliehen Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteiles der neue Inhaber in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Diese Regelung könnte ebenfalls für die Anerkennung eines gesellschaftsrechtlichen Momentes im Arbeitsverhältnis durch die geltende Rechtsordnung sprechen. Die Arbeitnehmer, zu einer Einheit verbunden durch das wirtschaftlich-technische Betriebsziel, tragen den Betrieb als notwendige Größe des Unternehmens mit. Das gilt entsprechend für den Betriebsteil, der betriebssoziologisch eine eigene Größe innerhalb des Betriebes ist. In den Betrieb tritt der neue Inhaber als neuer Mitträger desselben ein; ihm obliegen die Pflichten und es stehen ihm die Rechte aus den bestehenbleibenden Arbeitsverhältnissen der Arbeitnehmer zu. Der Sozialverbund des Unternehmens wird bei dem Eintritt eines anderen "Inhabers" nicht beendet, vielmehr durch das mit sich identisch bleibende Unternehmen mit dem neuen Unternehmer fortgesetzt. Daß das Betriebsziel auf das Unternehmensziel hingeordnet ist und daß es sich im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang funktional verändern kann, ändert an den Überlegungen nichts. Bei allem bleibt es jedoch im Kern bei dem Arbeitsverhältnis herkömmlicher Art. Rechtlich ist der Arbeitnehmer Arbeitnehmer, seine einzig- und eigenartige Bedeutung für den Unternehmensverbund leuchtet aber auf.
3. Das Betriebsverfassungsrecht a) Die Bedeutung des Mittragens des Unternehmens durch die Belegschaft und die existentielle Situation ihrer Angehörigen im FaUe von Betriebsänderungen
Die Bedeutung des Unternehmenszieles als des konkreten Bestimmungspunktes für den Personalverbund Unternehmen legt es ethisch zumindest nahe, vor wesentlichen Änderungen des Zieles und, selbst wenn das Unternehmensziel mehr oder weniger aufrechterhalten bleibt, vor wesentlichen technologischen Umstrukturierungen innerhalb des Unternehmens diese Vorhaben mit der Belegschaft zu erörtern. Die existentielle Situation ihrer Angehörigen verändert sich irgendwie mit der Umgestaltung. Bei tiefgreifenden technologischen Umstrukturierungen ist das offensichtlich; selbst bei gleichbleibendem Unternehmensziel ändert sich entscheidend die Art und Weise, wie es durch die Mitarbeiter realisiert werden soll. Entsprechendes gilt für den Fall einer Veräußerung des Unternehmens. Die damit gegebene, jedenfalls aber ohne weiteres mögliche andere Art und Weise der Handhabung der Unternehmensleitung kann den Unternehmensverbund erheblich berühren.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
Soll schließlich das Unternehmen oder ein Teil desselben geschlossen werden, ist die existentielle Situation der betreffenden, das Unternehmen bisher mittragenden Mitarbeiter auf das unmittelbarste betroffen. Das deutsche Betriebsverfassungsrecht kennt mit dem § 111 Abs. 1 BetrVG für Betriebe mit in der Regel mehr als 20 zum Betriebsrat aktiv wahlberechtigten Arbeitnehmern die Beratungspflicht des Unternehmers gegenüber dem Betriebsrat. Dasselbe gilt bei der Verlegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen, bei dem Zusammenschluß mit anderen Betrieben sowie bei grundlegenden Änderungen der Beriebsorganisation und der Betriebsanlagenss. Bei diesen Sachverhalten steht neben und mit der existentiellen Situation der Belegschaftsangehörigen gleichzeitig das konkrete Mittragen des Unternehmens durch die Belegschaft des Betriebes als solche in Rede89. Ohne das über den Betrieb erfolgende Mittragen des Unternehmens durch die Belegschaft wären die Beratung nach § 111 Abs. 1 BetrVG und überhaupt sämtliche Regelungen des Unterabschnittes Betriebsänderungen des BetrVG nicht recht sinnvoll. Die Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis und die Gegenleistungen des Arbeitgebers stehen in einem Synallagma, sie werden an sich gegenseitig abgegolten. Erst die in Rede stehende Stellung der Arbeitnehmer im Personalverbund des Unternehmens begründet letztlich die in Rede stehenden Befugnisse des Betriebsrates. Die existentielle Situation und das Mittragen sind zwei Aspekte eines Gesamtsachverhaltes. Daß bei den Fragen der Betriebsänderung als Partner des Unternehmens nicht sämtliche nach Lage der Dinge konkret in Frage stehenden Angehörigen der Belegschaft auftreten, sondern nur der Betriebsrat, berührt das Gemeinschaftsverhältnis nicht, in dem alle im Unternehmen Tätigen unter- und miteinander stehen. Der Betriebsrat ist der Repräsentant der Belegschaft und aller ihrer Angehörigen. Zudem ist mit ihm institutionell in einer größtmöglichen Weise die Sachdienlichkeit der Erörterungen gewährleistet. Die Rechtsprechung des BAG hat den Gedanken, daß die Belegschaft das Unternehmen mitträgt und daß dies für die Regelungen der§§ 111 ff. BetrVG ein Gesichtspunkt ist, der notwendig zu dem Gedanken einer Abstützung der existentiellen Situation der Arbeitnehmer hinzukommen muß, im Ansatz betönt9°.
88 Die Beratungspflicht vor der Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und grundlegend neuer Fertigungsverfahren steht sachlich in einem engen Zusammenhang mit der Beratungspflicht vor einer Änderung der Betriebsorganisation. 89 Siehe BAG 32, 14 (26); vgl. auch a.a.O., 28. 90 Siehe BAG 32, 14 (26, 27). Siehe auch BAG AP Nr. 5 zu § 111 BetrVG 1972 (BI. 176).
3. Das Betriebsverfassungsrecht
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b) Der Sozialplan
Die betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften kennen ferner den erzwingbaren Sozialplan zum Ausgleich oder zur Minderung der den Arbeitnehmern infolge der geplanten Betriebsänderung entstehenden wirtschaftlichen Nachteile(§ 112, Abs. 1 Satz 2 BetrVG). "Die Sozialplanregelung ist ... im Blick auf die soziale Seite des Unternehmens (Mitwirkung der Arbeitnehmer) auch eine Sicherung der sozialen Belange bei unternehmerisch-wirtschaftlichen Entscheidungen. "91 Mit der Mitwirkung der Arbeitnehmer als der humanen Komponente des Unternehmens ist die für das Unternehmen konstitutive Bedeutung der Belegschaft gemeint. Andererseits verkennen das Gesetz und das BAG nicht, daß die Entscheidung über die Betriebsänderung allein bei dem die Gesamtverantwortung tragenden Unternehmer liegt. Er ist verpflichtet, den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend zu unterrichten, die geplante Betriebsänderung, dem eben Gesagten entsprechend, mit ihm zu beraten und sich ernsthaft um einen Interessenausgleich zu bemühen. Er hat aber insoweit keine Einigungsverpflichtung; vielmehr behält er beim Scheitern eines einvernehmlichen Interessenausgleichs die Alleinentscheidung. Weil der Unternehmer letztlich allein über eine Betriebsänderung befindet, soll zur angemessenen und notwendigen Wahrung der sozialen Belange der Belegschaft der erzwingbare Sozialplan Platz greifen92. Die existentielle Situation der Belegschaftsangehörigen muß hinsichtlich der für sie negativen Auswirkungen der Realisierung der Unternehmerischen Entscheidung beachtet werden. Gleichzeitig geht es auch um das bisherige Mittragen des Unternehmens. Daß die in Rede stehenden Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts nur bei Betrieben mit in der Regel mehr als zwanzig zum Betriebsrat aktiv wahlberechtigten Arbeitnehmern Platz greifen, dürfte einen an sich erklärlichen Grund haben: Kleinere Unternehmen und der "kleine Unternehmer" sollen nicht besonders belastet werden. Rechtspolitisch erscheint es aber angebracht, bei mehrbetrieblichen Unternehmen auf dessen Größe und nicht auf die Größe der einzelnen Betriebe abzustellen. c) Begriff der Betriebseinschränkung i. S. des § 111 Abs. 1 BetrVG
Die Tatbestände des§ 111 Abs. 1 BetrVG liegen nur vor, wenn es sich um außergewöhnliche, vom regelmäßigen Erscheinungsbild des Betriebes (Unternehmens) abweichende Maßnahmen handelt. Gewöhnliche Schwankungen der Betriebs-(Unternehmens-)Tätigkeit, die mit ihrer jeweiligen Eigenart zusammenhängen, sind keine Betriebsänderungen der in Rede stehenden Art, 91
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BAG 32, 14 (29). Siehe BAG 32, 14 (28/29).
7 G. Müller
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
selbst wenn eine größere Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird. Diese Schwankungen sind bei dem Betrieb (Unternehmen) vorgegeben. Das Mittragen des Unternehmens durch die Mitarbeiter und deren existentielle Situation wird nicht, allenfalls nur in sehr abgeschwächter Weise berührt, wenn die Veränderungen dem Betrieb (Unternehmen) sozusagen immanent sind. Eine Betriebseinschränkung i. S. des Betriebsverfassungsrechtes ist zu definieren als eine erhebliche, ungewöhnliche und nicht nur vorübergehende Herabsetzung der Leistungsfähigkeit des Betriebes, gleichgülig, ob sie durch Außerbetriebsetzung von Betriebsanlagen oder durch Personalreduzierung erfolgt93. Die Mitarbeiter der hier angesprochenen Unternehmen, etwa der sog. Kampagne-Unternehmen, tragen sie nur in deren Eigenart mit, und sie wissen das. d) Verpffichtung der Belegschaft und ihrer Angehörigen Die Zentralnorm des Betriebsverfassungsrechts
Ebenso wie von der Unternehmensleitung die Situation der Belegschaft und ihrer Angehörigen zu sehen und zu beachen ist, hat die Arbeitnehmerseite die Belange des Unternehmens und seine Situation, einschließlich des Wahrscheinlichkeitsgrades zukünftiger Bedingungen und Entwicklungen, zu sehen und zu beachten94. Daran ändert nichts, daß- auf der einen wie auf der anderen Seite- die jeweilige Interessensicht zum Zuge kommt und daß dies ethisch nicht verwerflich ist. Auch im Verhältnis von Unternehmer/Arbeitgeber und Betriebsrat gilt entschieden das ethische Gebot, einen sachgetragenen Kompromiß zu erzielen. Das Betriebsverfassungsrecht kennt mit seinem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber/ Unternehmer zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebs/Unternehmens eine dementsprechende positive Rechtsnorm. Im gegebenen Falle kann sie allerdings die volle Anerkennung der Sicht und der Bewertung der einen oder der anderen Seite verlangen.
BAG 32, 14 (26/27). Die Entscheidung des BAG vom 16. Juni 1987- 1 AZR 528/85- (bisher veröffentlicht in DB 87, 2234 ff.) steht damit nicht in Widerspruch. Das Betriebsgebäude des Unternehmens war abgebrannt, der Unternehmer hatte den Arbeitnehmern fristlos gekündigt, allerdings mit der Erklärung, sie hätten einen Anspruch auf Wiedereinstellung nach dem Wiederaufbau. Der Entschluß des Unternehmers, die Betriebsgebäude entgegen dem ursprünglichen Vorhaben doch nicht mehr aufzubauen, erfolgte erst Monate nach der Zerstörung. Sie war also nicht die eigentliche Grundlage für die Betriebsschließung; sie beruhte allein auf einer für sich stehenden Entscheidung. Daß unter diesen Umständen die Verpflichtung vorlag, einen Interessenausgleich zu versuchen und einen Sozialplan abzuschließen, war nach der Rechtslage(§§ 111 Satz 2 Nr. 1, 112 BetrVG) sozusagen selbstverständlich. 94 Die Belange des Unternehmens können dazu führen , daß im gegebenen Falle der Sozialplan mit Null aufgeht. 93
4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht
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4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht als geseUschaftsrechtliche Größe
Das Betriebsverfassungsrecht erfordert bei der Behandlung der Frage, ob es gesellschafts(-recht-)lieh zu erfassen oder doch unter diesem Gesichtspunkt mitzuerfassen ist, eine weitere Erörterung. Entsprechendes gilt, wegen des hoheitlichen Charakters der Dienststelle in abgeschwächter Form95, für das Personalvertretungsrecht. Es fragt sich ferner, ob durch diese Rechtsinstitutionen das im Betriebsverbund und in der Dienststelle realisierte Einzelarbeitsverhältnis zuzüglich strukturiert oder doch modifiziert ist. a) Die Gesetzeslage
Das BetrVG sieht mit seinem§ 87 Abs. 1 die Mitbestimmung des Betriebsrats in den dort normierten sozialen Angelegenheiten vor. Wie eben gesagt, kennt es nach seinem§ 112 Abs. 3, 4 die Mitbestimmung bei dem Sozialplan, sodann nach den §§ 94, 95 die Mitbestimmung bei wichtigen Fragen des Personalwesens von allgemeiner Bedeutung (Personalfragebögen, Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen). Bei personellen Einzelmaßnahmen, die in die Situation des betreffenden Arbeitnehmers mehr oder weniger tief eingreifen und gleichzeitig von Gewicht für das betriebliche Umfeld sind, steht dem Betriebsrat, liegen die in§ 99 BetrVG genannten Tatbestände vor, ein Vetorecht zu. Nach § 91 des Gesetzes kann er in extremen Fällen einer Arbeitsbelastung infolge von Änderungen der Arbeitsbedingungen angemessene Maßnahmen zu ihrer Behebung verlangen und ihre Durchsetzung im Wege der Mitbestimmung betreiben. Bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung stehen ihm nach § 90 BetrVG Unterrichtungs- und Beratungsrechte zu. Das gleiche gilt nach dem§ 92 der Vorschriften für die allgemeine Personalplanung; nach § 93 kann er die Ausschreibung von Arbeitsplätzen und die Ausschreibung allgemein oder für die Erledigung bestimmter Arten von Tätigkeiten jeweils innerhalb des Betriebs verlangen. Er ist nach den §§ 96, 97 BetrVG in die Berufsbildung eingeschaltet; nach § 98 hat er Mitbestimmungsrechte bei der Durchführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung und im Zusammenhang mit ihnen. Vor Kündigungen, die der Arbeitgeber Arbeitnehmern aussprechen will, muß er nach § 102 des Gesetzes gehört werden, mit negativer Konsequenz für die Wirksamkeit der Kündigung, sofern die Anhörung unterbleibt. Nicht zuletzt ist der mit den §§ 106 ff. BetrVG vorgesehene Wirtschaftsausschuß zu nennen, dessen Mitglieder vom Betriebsrat oder vom Gesamtbetriebsrat bestimmt werden, und dessen Aufga95 Regelungen entsprechend den §§ 111 ff. BetrVG kennt das Personalvertretungsrecht aus diesem Grunde nicht.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
ben dem Betriebsratsgremium, übrigens auch einem Betriebsratsausschuß, übertragen werden können. Mit dem Wirtschaftsausschuß oder mit dem an seiner Stelle tätigen Betriebsratsausschuß hat der Unternehmer unter rechtzeitiger und umfassender Unterrichtung die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens zu beraten. Vor allem ist in diesem Zusammenhang wieder auf die Fundamentalnorm des Betriebsverfassungsrechtes hinzuweisen, der die gesamte Tätigkeit von Arbeitgeber/Unternehmer und Betriebsrat im Bereich des betriebsverfassungsrechtlichen Lebens untersteht. Wenn nach § 2 Abs. 1 BetrVG Arbeitgeber/Unternehmer und Betriebsrat vertrauensvoll zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammenzuarbeiten haben, hat das nicht allein Bedeutung für das Ergebnis der Zusammenarbeit, so wichtig diese Folgerung auch ist. Das gesamte Betriebsverfassungsrecht erfährt hiermit seine Charakterisierung; mit der Vorschrift ist seine Grundlage und Zentralnorm postuliert. b) Ergebnis
Die Mitbestimmungskompetenzen und die sonstigen Mitbestimmungsbefugnisse des Betriebsrats als des Repräsentanten der Belegschaft beweisen insgesamt und für jeden einzelnen Fall, daß die Rechtsordnung sie vom Betrieb her und unmittelbar einsichtig bei dessen Zusammenfallen mit dem Unternehmen als die Mitstütze und Mitträgerin des letzteren anerkennt. Bei dem Gesamtbetriebsrat ist das Unternehmen sogar unmittelbar angesprochen96. Damit wird eine gesellschaftsrechtliche Struktur des Sozialverbundes Unternehmen betont. Es dürfte sogar mehr oder weniger deutlich als eine gesellschaftsrechtliche Größe gewertet werden. Die Maxime der vertrauensvollen Zusammenarbeit begründet und erhärtet zugleich dieses Ergebnis. Die unter ihrem Vorzeichen stehende, Betriebsrat und Arbeitgeber/Unternehmer bindende Realisierung der Mitbestimmung und der sonstigen Mitwirkungsbefugnisse des Beriebsrats weisen das Unternehmen als eine Gemeinschaft aus97.
96 Der Konzernbetriebsrat bezieht sich auf eine noch umfassendere unternehmensmäßige Einheit. 97 Der Begriff der Gerneinschaft darf hier wie sehr oft ebenfalls sonst nicht als eine auch das Gemüt besonders ansprechende Größe aufgefaßt werden. Es kommt zum Ausdruck, daß eine Einheit von Menschen vorliegt, gestiftet durch das Ziel des Verbundes, das vorliegend vorn Arbeitnehmer mit dem Eingehen des Arbeitsverhältnisses zudem rechtlich frei bejaht wird. Die Anreicherung des Gemeinschaftsbegriffes mit betont gemüthaften Elementen ist zwar verschiedentlich angebracht und teilweise sogar geboten, in nicht wenigen Fällen ist sie aber mindestens sehr bedenklich.
4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht
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c) Keine Vemeinung der Interessenspannungen; Doppelpoligkeit des Betriebsverfassungsrechts
Allerdings verneint das Betriebsverfassungsrecht nicht die Interessenspannung und die etwaige Interessenkonfrontation zwischen der Unternehmensleitung einerseits und der Mitarbeiterschaft mit ihren Angehörigen andererseits, übergeht sie nicht und vernachlässigt sie nicht. Es gründet auf der Stellung des Unternehmers/Arbeitgebers hier und der Betriebsratsgremien dort, ist also doppelpolig verfaßt. Die Kooperationsmaxime hebt das auf ihre Weise hervor. Wenn sie von dem Wohle der Arbeitnehmer und dem des Betriebes spricht, unterscheidet sie beide Größen, bindet sie jedoch mit der Kumulation gleichzeitig zusammen. Die abgestufte Kompetenzordnung des Betriebsrats läßt schließlich die besondere Stellung des Unternehmers/Arbeitgebers deutlich werden, wie andererseits dem Betriebsrat mit seiner Überwachungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 Ziff. 1 BetrVG abgeschwächte Kontrollaufgaben gegenüber dem Arbeitgeber zustehen. Der Antagonismus innerhalb des Sozialverbundes Unternehmen wird nicht geleugnet, vielmehr als Vorgegebenheit anerkannt. Unbeschadet seiner Mitträgeraufgabe hat der Betriebsrat ebenfalls die Aufgabe der Interessenvertretung zugunsten der Belegschaft und ihrer Angehörigen wahrzunehmen. d) Betriebsrat keine "Gegenmacht" und kein "verlängerter Arm" der Gewerkschaften
Verfehlt ist es allerdings, wenn Gewerkschaftsvertreter immer wieder sagen, der Betriebsrat sei eine "Gegenmacht" gegenüber dem Arbeitgeber/ Unternehmer. Die Rechtsordnung, die mit der Kooperationsmaxime den Sozialverbund Unternehmen und damit seine Einheit anerkennt und seine Bejahung gebietet, wird, bewußt oder unbewußt, mißachtet. Unbeschadet aller Interessenspannung und selbst bei einer Interessenkonfrontation innerhalb des Verbundes werden so Betrieb und Unternehmen im Ergebnis mehr oder weniger als ein Nur-Kampfplatz angesehen; das Betriebsverfassungsrecht würde auf diese Weise pervertiert. Ebenso verfehlt ist eine Einstellung auf Arbeitgeber-!Unternehmerseite, die das Betriebsratswesen als eine unbequeme, lästige und nicht schätzenswerte Einrichtung ansieht. - Bei den Leitungen der Großunternehmen dürfte diese Haltung wohl heute nicht mehr anzutreffen sein, sie findet sich aber bei Unternehmern, die mittlere und kleine Betriebe führen. - Der Betriebsrat wird als eine Störgröße und damit letztlich gleichfalls als "Gegenmacht" angesehen. Des weiteren ist jetzt betont zu bemerken, daß es verfehlt ist, den Betriebsrat als den "verlängerten Arm" der Gewerkschaften zu sehen und ihn seitens der Arbeitnehmervereinigungen demgemäß handhaben zu wollen. Das Betriebsverfassungsrecht kennt zwar eine starke Einschaltung der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften in das
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
Betriebsratssystem. Der Betriebsrat bleibt jedoch die eigenständige und autonome Repräsentation der Belegschaft als Belegschaft und das in der Ausrichtung auf den Betrieb und auf das Unternehmen. Die den Gewerkschaften hinsichtlich der Betriebsräte zustehende unterstützende Funktion ist, wie schon bemerkt, durch Art. 9 Abs. 3 GG legitimiert. Das gilt ebenso für die entsprechende betriebsverfassungsrechtliche Funktion der Arbeitgebervereinigung, die außer in § 2 Abs. 1 BetrVG u. a. in § 46 Abs. 1 BetrVG angesprochen wird. Im Bereich des Betriebsverfassungsrechts geht es wie überall im Arbeitsleben um Fragen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Der Einbau des Gewerkschaftswesens weist seinerseits und neben der doppelpoligen Funktionsstruktur des Betriebsrats zwar darauf hin, daß dieses Gremium zugleich eine Einrichtung zur Interessenvertretung der Belegschaft und ihrer Angehörigen ist. Ebenso kann der Arbeitgeber/Unternehmer zur Geltendmachung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Belange auf seine Koalition zurückgreifen. Andererseits - und das haben vor allem die Gewerkschaften zu beachten - beruht das Beriebsverfassungsrecht ebenso wie das Personalvertretungsrecht primär jedoch auf dem Gedanken des Zusammenwirkens und somit bei der Einheit des Betriebs/Unternehmens auf dem Gedanken einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist eine eigenständige Größe, so daß der Gewerkschaft eine Aufsichtsfunktion hinsichtlich der Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung (BV) oder des sie ersetzenden Spruchs der Einigungsstelle selbst dann nicht zusteht, wenn sie gegen einen von der Gewerkschaft abgeschlossenen TV verstoßen sollte98. Eine Ablehnung·der hier und vom BAG vertretenen Sicht würde die Betriebsautonomie zu einer Annexgröße des Gewerkschaftswesens machen, was bereits mit der Repräsentation der nicht organisierten Arbeitnehmer durch den Betriebsrat nicht vereinbar ist. Vor allem aber wäre die Besonderheit des Personalverbundes Unternehmen einer externen Steuerung ausgesetzt99.
98 Zu dem Gedanken des Zusammenwirkens als des primären Prinzips des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts siehe BVerfG 50, 290 (372); zur Ablehnung einer allgemeinen Aufsichtsbefugnis der Gewerkschaften für den Bereich des Betriebsverfassungsrechts siehe den Beschluß des BAG vom 18. 8. 87- 1 ABR 80/86 -, inhaltlich veröffentlicht in DB 87, 2263 f. Bedeutsam ist noch, daß das BAG in seiner Entscheidung des näheren auch dann keine Angriffsbefugnis (Antragsrecht im Beschlußverfahren) der Gewerkschaft anerkennt, wenn der eine BV ersetzende Spruch einer betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstelle gegen einen von der Arbeitnehmervereinigung abgeschlossenen TV verstoßen soll und die Einigungsstelle eine nach § 76 Abs. 8 gebildete tarifliche Schlichtungsstelle ist. Dieses Organ ist ebenfalls eine betriebsverfassungsrechtliche Einrichtung und ihr Charakter als gemeinsamer Einrichtung i. S. des § 4 Abs. 2 TVG ist mindestens zweifelhaft. Eine Ablehnung der vom Verfasser und vom BAG vertretenen Sicht würde der Eigenart des Betriebsverfassungsrechts widersprechen. 99 A . A . zum Verhältnis zwischen Betriebsratswesen und Gewerkschaften Matthiessen, DB 87, 289/290.
4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht
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e) Ausübung der Mitwirkungskompetenzen des Betriebsrates und der Befugnisse des Arbeitgebers/Unternehmers im Blick auf eine Interessenverfolgung und unter gleichzeitiger Beachtung der Kooperationsmaxime
Die Mitbestimmungsbefugnisse und die sonstigen Mitwirkungskompetenzen des Betriebsrates sind ihm auch wegen der Interessenbelange der Belegschaft und ihrer Angehörigen zuerkannt. Sie sind aber doch, ebenso wie das für das Verhalten des Arbeitgebers/Unternehmers gilt, uno actu gemäß der Kooperationsmaxime zu gebrauchen. Die Formulierung des BAG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1982: "Als Repräsentant der Belegschaft nimmt der Betriebsrat ihre Interessen gegenüber dem Arbeitgeber wahr. Er muß daher auch auf die Interessen der Arbeitnehmer in der Weise Rücksicht nehmen, daß er nicht Betriebsvereinbarungen abschließt, die einzelnen oder allen Arbeitnehmern einzelvertragliche Rechte schmälern. Zum Abschluß einer Betriebsvereinbarung, die hierauf keine Rücksicht nimmt, fehlt ihm die Kompetenz" , ist mehr als bedenklich, wenn das apodiktisch und als ausschließliche Leitlinie für die Tätigkeit des Betriebsrats gemeint sein sollte. Daran ändert nichts, wenn das Gericht anschließend sagt, gegenüber Einzelarbeitsverträgen könne ausdrücklich oder konkludent ihre Ablösung durch eine BV zugelassen werdenloo. Die Arbeitsverhältnisse müssen wegen des Betriebs (Unternehmens) als dem einen ihrer beiden Bezugspunkte von vornherein einer benachteiligenden BV im Falle betrieblicher Einheitsregelungen, einheitlicher Arbeitgeberzusagen und überhaupt individualrechtlicher Absprachen, denen zugleich ein bedeutsames kollektives Moment eigen ist, offen stehen. Voraussetzung ist nur, daß dies in Abwägung der Situation des Betriebs/Unternehmens und der Belange der Arbeitnehmer unerläßlich geboten ist101 . t) Ergebnis
Zusammenfassend ist festzustellen: Das Betriebsverfassungsrecht kennt über die Betriebsratsgremien eine Mitträgerschaft des Betriebs (Unternehmens) durch die Belegschaft und gleichfalls ihre und ihrer Angehörigen Interessenvertretung durch den Betriebsrat. Es ist dualistisch strukturiert. Einmal wo BAG 39, 295 (302). Vgl. die zeitlich nach der in der vorhergehenden Anm. ergangene Entscheidung des Großen Senats des BAG AP Nr. 17 zu§ 77 BetrVG 1972 (BI. 268) mit dem Hinweis auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage (BI. 275). Die Entscheidung BAG 39, 295 und die hier angeführte Entscheidung hatten sich jeweils mit der Frage einer betriebliche Einheitsregelungen oder Gesamtzusagen verschlechternden BV zu befassen. Im Mittelpunkt stand in dem einen wie in dem anderen Falle das Verhältnis der BV zum Günstigkeitsprinzip. Die später ergangene Entscheidung des Großen Senats hat die frühere Entscheidung obsolet werden lassen. Das Günstigkeitsprinzip in seiner Beziehung zur BV steht hier nicht in Rede. IOJ
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
bringt die deutsche Rechtsordnung die mit dem Sozialverbund dem Unternehmen vorgegebene soziologische Größe in, wenn man so formulieren will, angemessener Weise gesellschaftsrechtlich zur Geltung. Durch den Betriebsrat als den Repräsentanten der Mitarbeiter tritt über seine (Teil-)Größe Betrieb insbesondere die sozial-humane Seite des Unternehmens in Erscheinung. Damit und allgernein mit der doppelpoligen Struktur des Betriebsverfassungsrechts wird die Interessensituation der Belegschaft und ihrer Angehörigen bejaht und kommt zur Geltung. Bei dem Charakter des Betriebsverfassungsrechts, rechtliche Grundlage für das Mittragen von Betrieb und Unternehmen durch die Mitarbeiterschaft zu sein und der gleichzeitig, wenn auch in Beachtung des Grundsatzes des Zusarnrnenwirkens, erfolgenden Bejahung der Interessenpositionen und Interessenspannungen innerhalb des Betriebs und Unternehmens, führt seine gesellschaftsrechtliche Seite als solche nicht zu einer Aufhebung und auch nicht zu einer betonten Modifikation des Arbeitsverhältnisses. Die Maxime der vertrauensvollen Zusammenarbeit geht sozusagen von der Voraussetzung aus, daß verschiedene Sichten vorliegen. Es ist aber zutreffend die Bedeutung des Mitarbeiters und der Belegschaft für das Unternehmen hervorgehoben, und es wird so in einer allgerneinen Weise seine Position als menschliche Persönlichkeit gestärkt. Ebenso sind die legitimen Interessenbelange der Belegschaft und der Mitarbeiter rechtlich zusätzlich abgesichert. Das Betriebsverfassungsrecht verschafft sowohl dem gesellschaftlichen Sozialverbund Unternehmen Geltung wie es die Möglichkeit von Interessenspannungen und Interessenkonflikten innerhalb von Betrieb und Unternehmen und damit wesentliche Tatsächlichkeiten des Arbeitsverhältnisses bejaht. Ein Denken, das unter der (wohl unbewußten) Prämisse einer in sich geschlossenen juristischen Systematik einen rechtlichen Monismus zeitigt, erfaßt hier wie in manch anderen Fällen die Wirklichkeit nicht. Die Tatsächlichkeit der Dinge kennt viele einheitliche Größen, die mehrere und dabei an sich divergierende Elemente enthalten. Die sachgemäße Erfassung und somit nicht zuletzt eine sachgemäße rechtliche Ordnung muß das Gesamte sehen. Der Charakter des Betriebsverfassungsrechts führt notwendig zu Ausgrenzungen. Eine Gewerkschaft könnte daran denken, bei ihr organisierte Betriebsratsmitglieder aufzufordern, im Hinblick auf von ihr für irgendeinen Zeitpunkt als Möglichkeit vorgesehene Streikmaßnahmen über wichtige Unternehmensdaten wie Hauptabnehmer, Hauptlieferanten, Lagerbestände, Größe der einzelnen Abteilungen und ihre gegenseitige funktionelle Abhängigkeit zu berichten. Der Betriebsratsangehörige würde wegen der ihm in dieser seiner Eigenschaft zugänglichen Kenntnisse und so im tatsächlichen Geschehen als solcher tätig. Es läßt sich bereits deswegen nicht sagen, das Betriebsratsamt selbst bleibe i. S. des § 74 Abs. 3 BetrVG unberührt und die Betätigung für die Gewerkschaft stehe unabhängig daneben. Bei aller Legitimität und Legalität eines etwaigen späteren Arbeitskampfes schlägt hier nicht zuletzt der Gedanke der Mitträgerschaft und die gesellschaftsrechtliche Seite
4. Näheres zum Betriebsverfassungsrecht
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des Betriebsverfassungsrechts durch. Vor allem aus diesem Grunde würde die betriebsrätliche Position verfehlt eingesetzt102. g) Sprecherausschüsse
Nicht wenige Unternehmen kennen Arbeitnehmer, deren Arbeitstätigkeit nach ihrem Arbeitsverhältnis in der Wahrnehmung unternehmerischer (Teil-) Aufgaben besteht. Es handelt sich um die sog. Leitenden Angestellten. Das BAG hat anerkannt, daß auch diese Arbeitnehmer Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Unternehmern/Arbeitgebern habenlo3. Es können ebenfalls Spannungen und Interessenkonflikte im Verhältnis zwischen ihnen und den Arbeitgebern auftreten. Das BAG hat die Bildung von Sprecherausschüssen aufgrund freiwilliger Entscheidungen der fraglichen Angestellten, als Gremien vergleichbar mit den Betriebsräten, bejaht104. Diese Gebilde werden in Kürze gesetzlich vorgesehene Einrichtungen sein. Rechtssystematisch zählen jene Gremien zum Betriebsverfassungsrecht in einem weiteren Sinne des Wortes, unbeschadet dessen, daß sie nicht im BetrVG, sondern in einem eigenen Gesetz verankert werden. Das BetrVG findet nach seinem § 5 Abs. 3 auf sie keine Anwendung, soweit in diesem Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Da die Leitenden Angestellten funktionell unternehmerisch tätig werden, wird man sagen müssen, daß der Sprecherausschuß primär als ein Gremium zur Aktualisierung und Verfolgung der Belange dieser Arbeitnehmer gegenüber dem Unternehmer gedacht ist. Die Arbeitnehmertätigkeit der Angehörigen des Personenkreises trägt bereits das Unternehmen in sozusagen besonderer Weise mit. Allerdings wird man in ihrem Falle nicht von einer in jeder Hinsicht völlig eigenartigen Stellung sprechen dürfen . Sämtliche anderen Arbeitnehmer tragen das Unternehmen auf ihre Weise ebenfalls entscheidend mit, und die sog. höheren Angestellten, die nicht im eigentlichen Sinne unternehmerisch in Erscheinung treten, nähern sich mit der Erbringung ihrer Arbeitsleistung den Leitenden Angestellten an. Die Aufgabe der Sprecherausschüsse wird nach alledem sachgerecht nur erfüllt, wenn sie stets die unternehmerische Tätigkeit der von ihnen repräsentierten Arbeitnehmergruppe mitbedenken und dies in ihrem Verhalten deutlich zum Ausdruck kommt. Sie sind wie Betriebsräte der Kooperationsmaxime verpflichtet. Sonst setzen sie sich in Widerspruch zu der Stellung der von ihr zur Geltung zu bringenden Arbeit102 Auf die gewerkschaftliche Betätigung von Betriebsratsmitgliedern als allgemeine Frage ist nicht einzugehen. Zu der einschlägigen Regelung des § 74 Abs. 3 BetrVG siehe Dietz!Richardi, BetrVG, Bd. 2, § 74 RZ 76 ff.; in der Bejahung einer solchen Bestätigung weitergehend Fitting!Auffahrt!Kaiser!Heither, BetrVG, § 74 RZ 14 ff. 103 BAG 27, 13 (40 ff.). 104 BAG 27, 13 (43/44) .
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
nehmer, ebenso wie es der Betriebsrat tun würde, wenn er einseitig lediglich die Arbeitnehmerinteressen verfolgte. Die Leitenden Angestellten können nicht aus dem Arbeitsverbund des Unternehmens herausgebrochen werden. Der Sprecherausschuß ist vom Arbeitgeber anzuhören, beide haben gemeinsam zu beraten und sie können im Hinblick auf die Leitenden Angestellten Richtlinien zum Abschluß, zum Inhalt und zur Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses vereinbaren. Die Richtlinien haben zur alleinigen Grundlage das freiwillige Übereinkommen zwischen dem Unternehmer/Arbeitgeber und dem Ausschuß, und sie wirken dann unmittelbar und zwingend gegenüber den Angestellten. Falls eine Einigung nicht erfolgt, ist eine Substituierung etwa durch den Spruch einer Einigungsstelle nicht möglich. Die unternehmerische Tätigkeit des Leitenden Angestellten verbietet es, daß ein Arbeitnehmerorgan bei der Ausgestaltung seiner Stellung aus eigener Kompetenz selbst mitbestimmt oder eine dritte Stelle die nicht zustande gekommene Einigung ersetzt. Die Leitenden Angestellten wären sonst nicht Arbeitnehmer mit Unternehmerischen Funktionen, sondern Mit-Unternehmer. Das tangierte zum Nachteil des Unternehmens sowohl die Stellung der Unternehmensleitung wie die der Leitenden Angestellten, welche die ihrer Stellung entsprechenden Arbeitnehmerschutzrechte verlieren müßten. Der Sprecherausschuß würde so zu einem Widerspruch in sich selbst. Im Falle der Richtlinien heißt dies, daß beim Abschluß des Arbeitsverhältnisses die Auswahl des konkreteilLeitenden Angestellten allein beim Arbeitgeber/Unternehmer liegt. Der Arbeitnehmer muß dessen besonderes Vertrauen besitzen. Selbstverständlich können Formfragen wie z. B . die Schriftlichkeit des Arbeitsvertrages als eine konstitutive Grundlage desselben abgesprochen werden. Beim Inhalt des Arbeitsverhältnisses wird es u. a. um die Beschreibung der Funktionsstelle gehen, die der Angestellte einnehmen soll. Die Beendigung der Arbeitsbeziehungen durch den Arbeitgeber/Unternehmer muß bei begründetem Verlust des Vertrauens stets möglich sein, erkennbare Willkür kann sie jedoch nicht rechtfertigen. Im übrigen stehen wieder Formfragen in Rede; auch ist es möglich, bei einer befristeten Kündigung bis zu dessen Ende die Suspendierung der Arbeitstätigkeit bei Fortzahlung des Arbeitsentgeltes vorzusehen. Die Gesamtsicht ergibt, daß der Sprecherausschuß ebenfalls doppelpolig verfaßt ist. Er macht innerhalb des Arbeitsverbundes des Unternehmens Arbeitnehmerbelange der Leitenden Angestellten geltend. Gleichzeitig trägt er in einer gesellschaftsrechtsähnlichen Weise den Arbeitsver-hunddurch die Repräsentation einer das Unternehmen zudem mit ihren unternehmerischen Aufgaben besonders zur Geltung bringenden Arbeitnehmergruppe mit. Die Institution des Sprecherausschusses findet ihre sachliche Legitimation in dem Vorhandensein der im Unternehmen tätigen Leitenden Angestellten. Sie ist als ihr Organ sozialethisch begründet, zumindest aber sozialethisch haltbar.
5. Die Sicht der katholischen Sozialphilosophie
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Unbedingte Voraussetzung ist des weiteren, daß von allen eine Gesamtheit darstellenden betriebsverfassungsrechtlichen Stellen, vom Unternehmer/Arbeitgeber, vom Betriebsrat und vom Sprecherausschuß, die Kooperationsmaxime beachtet wird. Das gilt nicht zuletzt, wenn es um einen Ausgleich der Interessen der Gruppen der Leitenden Angestellten und ihrer Angehörigen mit den Belangen sonstiger Arbeitnehmergruppen und ihrer Mitglieder geht. Die Bedeutung der Kooperationsmaxime, und zwar auch im letzteren Falle, ist zu beachten, selbst wenn das Gesetz die zunächst ausdrücklich vorgesehene Vorschrift nicht enthält, nach der diese Ausschüsse und die Betriebsräte vertrauensvoll zusammenarbeiten sollen. Der Arbeitsverbund des Betriebs und des Unternehmens darf, soll er nicht in sich gefährdet sein, kein bloßes Neben- oder sogar ein Gegeneinanderbestehen der betriebsverfassungsrechtlichen Gremien und Stellen kennenws. 5. Arbeitsverhältnis und Gesellschaftsverhältnis in der Sozialphilosophie der katholischen Kirche
Die von der katholischen Kirche vertretene Sozialphilosophie spricht, in allerdings zurückhaltender Weise, als eine Empfehlung aus, das herkömmliche Arbeitsverhältnis an ein Gesellschaftsverhältnis (gesellschaftsrechtliches) Verhältnis anzunähern. Die Enzyklika "Quadragesimo anno" (1931) gebraucht bei ihren Formulierungen den Terminus Gesellschaftsverhältnis ausdrücklichl06. Die Enzyklika "Laborem exercens" (1981) kennt das Wort nicht. Es heißt dort aber, daß der Mensch verlangt, "Mitverantwortlicher und Mitgestalter in der Werkstätte" zu sein, "in der er tätig ist. Daraus ergeben 10s Aufgrund der Entstehungsgeschichte des Gesetzes annehmen zu wollen, die Kooperationsmaxime entfalle im Verhältnis von Betriebsrat und Sprecherausschuß, wäre wegen des notwendigen Zusammenhaltens des Betriebs- und Unternehmensverbundes bei allen etwaigen Interessenkonfrontationen zwischen den beiden Organen eine Sachwidrigkeit. Gleich welche Gründe zu der fraglichen Streichung geführt haben, sie bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen, würde die Gefahr der Willkür heraufbeschwören. 106 "Quadragesimo anno", Nr. 65. "Für den heutigen Stand der gesellschaftlichen Wirtschaft mag immerhin eine gewisse Annäherung des Lohnarbeitsverhältnisses an ein Gesellschaftsverhältnis nach Maßgabe des Tunlichen sich empfehlen. Erfreuliche Anfänge sind ja bereits gemacht zum beiderseitigen nicht geringen Vorteil der Arbeitnehmer wie der Produktionsmittelbesitzer. Arbeiter und Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu irgendeiner Art Gewinnbeteiligung." (Zitiert nach: Texte zur katholischen Soziallehre, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands). Der Begriff der Mitverwaltung wird in der Enzyklika nicht näher definiert. Bei der sehr allgemeinen Fassung des Terminus wird man nicht folgern dürfen, es sei die Mitbestimmung i. S. des deutschen Betriebsverfassungsrechts und darüber hinaus die paritätische Mitbestimmung dort schlechthin für alle Bereiche und in allen Fragen des Unternehmensgeschehens, etwa auch in streng wirtschaftlichen Fragen, angesprochen. Dasselbe gilt für die Mitbestimmung im Bereich der Unternehmensverfassung. Zu ihr siehe unten.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
sich einige spezifische Rechte der Arbeitnehmer, welche der Verpflichtung zur Arbeit entsprechen ... Schon hier ist ... hervorzuheben, daß der Arbeitende nicht nur das geschuldete Entgelt seiner Arbeit erwartet, sondern auch, daß im Produktionsprozeß selbst die Möglichkeit erwogen werde, daß er bei seiner Arbeit- auch bei Gemeinschaftseigentum- gleichzeitig das Bewußtsein haben könne, im eigenen Betrieb zu arbeiten . . . Die Lehre der Kirche hat immer die sichere und tiefe Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die menschliche Arbeit nicht nur mit der Wirtschaft zu tun hat, sondern auch und vor allem personale Werte mitbetrifft. "107 An der die Frage einer Sozialisierung des Eigentums behandelnden Stelle des Rundschreibens heißt es: "Von einer Sozialisierung kann man nur dann sprechen, wenn der Subjektcharakter der Gesellschaft garantiert ist, d. h., wenn jeder aufgrundder eigenen Arbeit den vollen Anspruch hat, sich zugleich als Miteigentümer der großen Werkstätte zu betrachten, in der er gemeinsam mit allen anderen arbeitet. " 108 Mit diesen Formulierungen steht eine gesellschaftsrechtliche Größe in Rede, die als Möglichkeit erwogen werden möge. Nur dann kann man sich als "Miteigentümer" fühlen sowie von dem Bewußtsein sprechen, im eigenen Bereich zu arbeiten, und nur dann kann sich der Arbeitnehmer "als echtes Subjekt der Arbeit"109 fühlen. Die Verlautbarungen der Päpste haben jedoch niemals das, was sie unter Gesellschaftsverhältnis verstehen, näher ausgesprochen, und sein begrifflicher Inhalt ist in den Kommentaren zu den Sozialenzykliken umstritten uo. Der Verfasser bejaht mit seinen Ausführungen in einem analogen Sinne das gesellschaftsrechtliche Element, ohne das Arbeitsverhältnis selbst aufzuheben, und möglicherweise hat er damit den Grundgedanken der päpstlichen Äußerungen getroffen. Der Sozialverbund des Unternehmens mit seiner Ausrichtung auf das Unternehmensziel schafft eine Gemeinschaft; es besteht aufgrund seiner Aufgaben ein Verbundensein aller seiner Angehörigen. Die Kennzeichnung des Arbeitsverhältnisses als wirtschaftliches Austauschverhältnis unter Einschluß eines personalen Faktors erfaßt als solche trotz ihrer abstrakt zutreffenden Aussage mit der gebotenen Deutlichkeit noch nicht die Subjektstellung des Arbeitnehmers. Die Personalität der Arbeitnehmer und der Angehörigen der Unternehmensleitung ist Ausgangspunkt und Grundlage der Gemeinschaft des Unternehmens. Die Interessenspannungen zwischen der Unternehmensleitung hier und den Mitarbeitern dort werden übrigens in der von der katholischen Kirche vertretenen Sozialphilosophie als Tatsachen nicht nur nicht negiert, sondern darüber 101 "Laborem exercens", Abschn. 15, in der Übersetzung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz. 10s "Laborem exercens" , Abschn. 14. 109 "Laborem exercens", Abschn. 12. 110 Siehe Utz, in: Das Unternehmen als Größe der Arbeitswelt, 29.
6. Arbeitnehmerrepräsentanz in Unternehmensorganen
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hinaus in den Sozialenzykliken als immanent vorgegebene Tatsächlichkeiten anerkannt und ethisch nicht verworfen. Sehr deutlich kommt das in "Laborem exercens" zum Ausdruck, wenn dort nicht nur die Koalitionen der Arbeitnehmer, sondern ebenso die Vereinigungen der Arbeitgeber nachdrücklich bejaht werdenlli. Damit ist einschlußweise auch bejaht, daß die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber legitim je eigene, in gewisser Weise divergierende Interessen haben können und haben, und, da dies bei einer Interessensicht niemals ausgeschlossen werden kann, bei der Bestimmung der Interessen selbst das subjektive Moment in einem gewissen Ausmaß eine nicht zu verwerfende Rolle spielt112. Im letzten wird man folgern können und sogar sagen müssen, daß bereits allein mit dieser Aussage der Enzyklika "Laborem exercens" die die Menschenwürde des Arbeitnehmers als solche nicht berührende Strukturierung der Unternehmen nach Unternehmensleitung und Mitarbeitern und folglich das Arbeitsverhältnis anerkannt sind. Die Anerkennung des "Zurückbehaltungsrechtes an der Arbeitsleistung" setzt ebenfalls eine je andere Position der Mitarbeiter und der Unternehmer/Arbeitgeber voraus113. Das Rundschreiben "Quadragesima anno" hat wie die päpstliche Verlautbarung "Rerum novarum" (1891) den "Lohnvertrag" (Arbeitsverhältnis) sogar nachdrücklich bejahtll4.
6. Die Repräsentanz des Arbeitnehmers in Unternehmensorganen Im Blick auf die deutsche Rechtsordnung ist zu fragen, ob die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, des näheren die Regelungen des Montan-Mitbestimmungsgesetzes, des Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetzes, des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) sowie die Vorschriften der §§ 76 ff. BetrVG 1952, zu einer Modifikation des Arbeitsverhältnissesaufgrund eines gesellschaftsrechtlichen oder gesellschaftsrechtsähnlichen Momentes führt oder ob das Arbeitsverhältnis nicht sogar in Richtung auf ein gesellschaftsrechtliches Verhältnis umgestaltet ist.
"Laborem exercens", Abschn. 20. Siehe G. Müller, RdA 83, 75/77. 113 Den Tarifstreik hat "Laborem exercens" in den hier in Rede stehenden Ausführungen seines Abschn. 20 nicht im Blick; siehe unten. 114 "Quadragesimo anno", Nr. 64. "Zunächst kann nicht der Lohnvertrag in sich als ungerecht bezeichnet und sein Ersatz durch den Gesellschaftsvertrag gefordert werden. Eine solche Behauptung ist nicht nur völlig unhaltbar, sondern zugleich schwer ehrenrührig für unseren Vorgänger (gemeint ist Papst Leo XIII.), der in seinem Rundschreiben (gemeint ist "Rerum novarum") den Lohnvertrag nicht nur gelten läßt, sondern sich eingehend mit seiner gerechten Gestaltung befaßt." 111
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente a) Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts und Sichten des Schrüttums
Aufgabe und Stellung der Repräsentanten der Anteilseigner und der Arbeitnehmer in den nach den hier fraglichen Bestimmungen strukturierten Aufsichtsräten und damit die Frage nach der Aufgabe und Stellung dieser Aufsichtsräte hat bisher noch keine allseits anerkannte Antwort erhalten. Das sog. Mitbestimmungsurteil des BVerfG vom 1. März 1979115 sieht die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat recht eindeutig als Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft an. Das Gericht geht unbeschadet der Bemerkung, daß das Gesetz auf Kooperation angelegt ist116, von einer antagonistischen Stellung der Arbeitnehmervertreter gegenüber den Repräsentanten der Anteilseignerseite aus 117 . Das setzt voraus, daß die Arbeitnehmervertreter sich in einer Gegenposition gegenüber den Vertretern der Kapitalseite sehen. Des näheren kann das nur heißen, daß sie im Aufsichtsrat die Belange der Arbeitnehmerschaft zur Geltung bringen sollen und wollen. Das Gericht hat grundsätzlich verneint, daß das MitbestG einzelne Grundrechte der in körperschaftsrechtlicher Form verfaßten Unternehmen verletze118. Es spricht sodann von einer Fremdbestimmung der Unternehmen durch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat119. In diesem Zusammenhang spricht es auch von gesellschaftsexternen "Einflüssen auf das Unternehmen"120. Die gesetzlich vorgesehenen Vertreter von Gewerkschaften im Aufsichtsrat seien noch "gesellschaftsfremder" als die Vertreter der Arbeitnehmer des Unternehmens121 • Daß die Arbeitnehmerrepräsentanten im Aufsichtsrat die Belange der Arbeitnehmerschaft vertreten und daß diese Geltendmachung ihre Aufgabe sei, dürfte mit alldem deutlich werden. Nicht zuletzt hält es das höchste deutsche Gericht für möglich, durch die Mitbestimmung externer Kräfte auf die Unternehmen könne ein Einfluß auf die Organisation und die Willensbildung der Arbeitgeberkoalitionen erfolgen, der als nicht unbeachtlich anzusehen sei und der deswegen die Frage der Unabhängigkeit der Tarifpartner der einen und BVerfG 50, 290 ff. BVerfG 50, 290 {320}. 117 BVerfG 50,290 {322 ff.}. 118 Das BVerfG hält es allerdings auch für möglich, die für den Aufsichtsrat geltende Mitbestimmung könne zu nachhaltigen Funktionseinbußen oder gar zu einer Funktionsunfähigkeit der Unternehmen führen. Es ist jedoch der Auffassung, die Prognose des Gesetzgebers, dies werde nicht der Fall sein, sei vertretbar. Bei einem Eintreten der Funktionsunfähigkeit oder einer außerordentlich großen realen Gefährdung dieserhalb sei der Gesetzgeber zu einem entsprechenden Handeln verfassungsrechtlich verpflichtet. Siehe BVerfG 50 (376, 377/378}. 119 BVerfG 50, 290 (357, 359, 360). 120 BVerfG 50, 290 (360) . 121 BVerfG 50, 290 (361). Die Worte "gesellschaftsextern" und "gesellschaftsfremd" bringen zum Ausdruck, daß es sich bei den in der Entscheidung in Rede stehenden Unternehmen um körperschaftlich verfaßte Gebilde handelt. 11s
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6. Arbeitnehmerrepräsentanz in Unternehmensorganen
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der anderen Seite des Lebenstatbestandes der Arbeit aufwerfe122. Daß im Aufsichtsrat der dem MitbestG unterfallenden Unternehmen ein antagonistisches Verhältnis obwalte, wird mit einer weiteren Aussage deutlich ausgesprochen. Für die verfassungsrechtliche Prüfung sei nämlich als Prognose davon auszugehen, daß das MitbestG, ungeachtet etwaiger Gewichtsverlagerungen, nicht zu nachhaltigen Funktionseinbußen oder gar zur Funktionsunfähigkeit des Tarifvertragssystems führe123. Das sog. Gemeinschaftsgutachen, das im verfassungsgerichtlichen Verfahren zum MitbestG vorgelegt worden war, geht von einer geschlossenen Blockbildung im Aufsichtsrat und unvereinbaren Standpunkten zwischen der Anteilseigner- und der Arbeitnehmerseite aus124 • Das heißt nichts anderes, als daß sowohl die Vertreter der Anteilseigner wie die Vertreter der Arbeitnehmer jeweils nur die Belange ihrer Gruppen von einer verschiedenen Interessenposition aus und damit mindestens im Prinzip antagonistisch zur Geltung zu bringen und durchzusetzen suchen. Im Schrifttum wird die Meinung vertreten, relevanter Maßstab für die Arbeit der Abeitnehmervertreter im Aufsichtsrat seien ausschließlich die "berechtigten Interessen" der Belegschaftl25. In einer anderen, nach ihrem Inhalt weitgehend mit dieser Aussage identischen Sicht ist der Aufsichtsrat ein interessenpluralistisches Organ. Ein weiterer Autor spricht von dem Aufsichtsrat als einem durchaus heterogen zusammengesetzten Organ, in dem sich allerdings die Ausbalancierung der oft gegenteiligen Interesssen im Rahmen des Unternehmensinteresses bewegen müsse. Dieses Interesse sei als äußerste rechtliche Grenze und als äußerster Rahmen definiert126. Andere betonen zwar das Unternehmensinteresse stärker, halten es aber jedenfalls für zulässig, daß beide Seiten im Aufsichtsrat die unterschiedlichen Interessen zur Geltung bringen127. Eine rechtliche Untermauerungall dieser Sichten könnte gesehen werden in der sowohl nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz, dem Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz wie nach dem MitbestG notwendigen Mitgliedschaft von Gewerkschaftsrepräsentanten im Aufsichtsrat. Vor allem könnte der "elfte Mann" im Aufsichtsrat der den Montan-Mitbestimmungsgesetzen unterfallenden Unternehmen sowie das Doppelstimmrecht des AufsichtsratsBVerfG 50, 290 (374, 373). BVerfG 50, 290 (376) . 124 Der Verfasser bezieht sich insoweit auf Schrumpf, in: Säcker/Zander, Mitbestimmung und Effizienz, 21. Das Gutachten selbst hat ihm nicht vorgelegen. 125 Udo Mayer, Blätter für Steuerrecht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, 1976, 175, m.w.N. Dieser Autor spricht a.a.O. auch von einem durchaus imperativen Charakter der Stellung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, was eine Interessenverfolgung (zugunsten der Arbeitnehmer) extrem betont. - Ferner siehe Reich, Blätter für Steuerrecht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, 1976, 177/178. 126 Hoffmann, in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart, 1977, 43. 127 Wlotzke/Wißmann, DB 1976, 965. 122 123
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
vorsitzenden nach § 29 Abs. 2 MitbestG hierfür sprechen. Bei nicht behebbaren Interessenkonflikten erfolgte ihre Auflösung durch die Stimme eines "Neutralen" oder durch die qualifizierte Stimmabgabe des Vertreters einer der beiden Seiten, wobei letzterer im Blick auf§ 27 Abs. 1, 2 MitbestG durchweg den Vertretern der Anteilseignerseite angehört. Wegen der praktisch die Neutralität des "elften Mannes" sicherstellenden Verfahren für seine Bestellung nach § 8 Montan-Mitbestimmungsgesetz, § 5 Abs. 3 Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz würden in den den Vorschriften dieser Gesetze unterfallenden Unternehmen Interessenspannungen und Interessenkonflikte zwischen der Arbeitnehmerseite und der Seite der Anteilseigner durch eine Quasi-Zwangsschlichtung entschieden; im Geltungsbereich des MitbestG würde sich die Anteilseignerseite, in seltenen Fällen die Arbeitnehmerseite durchsetzen 128. An der Stellung und Aufgabe der Aufsichtsratsmitglieder änderte sich auch nichts, wenn im Falle der §§ 76, 77, 77 a BetrVG 1952 der Aufsichtsrat nur zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer besteht. Es schlüge nur immer die Interessensicht der Anteilseigner durch. Bei einer solchen Auffassung, Stellung und Tätigkeit der Vertreter der Anteilseigner und der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat kann nicht die Rede davon sein, das Arbeitsverhältnis weise ein gesellschaftsrechtliches Element auf. Erst recht kann nicht gesagt werden, es tendiere in Richtung eines Gesellschaftsverhältnisses oder es werde sogar in ein solches umgewandelt. Der Aufsichtsrat wäre in der Unternehmensverfassung ein Ort, in dem die Interessenspannungen und Interessenkonflikte zwischen der Eigentümerseite und den Arbeitnehmern auszutragen und zu beheben wären. Im Geltungsbereich aller Mitbestimmungsgesetze würde sich allerdings die Frage stellen, ob die TVAutonomie noch zum Zuge kommen könnte129. 12s Das Bestehen eines Betriebsverfassungsrechtes wäre dann bei der Geltung des Montan-Mitbestimmungsgesetzes und beim Mitbestimmungsgesetz im Falle des Aufsichtsratsvorsitzenden aus den Reihen der Arbeitnehmer jedenfalls ein Problem. Der Verfasser hat sein Vorliegen im Bereich des Montao-Mitbestimmungsgesetzes seinerzeit verneint, soweit Mitbestimmungsbefugnisse in Rede stehen; siehe Müller/ Lehmann, Mitbestimmungsgesetz Bergbau und Eisen, § 2 Anm. 10. Diese Auffassung hat er jedoch widerrufen; siehe BB 57, 412 einschließlich Anm. 34. Er spricht in der Kommentarstelle von dem Betriebsrat als Gegenspieler und als einer Einrichtung zur Vertretung der Interessen der Belegschaft. Seine Mitbestimmung wollte er entfallen lassen, weil die Interessen der Arbeitnehmerschaft bereits unmittelbar in dem Unternehmensorgan Aufsichtsrat zur Geltung kämen. Er hatte die Arbeitnehmerrepräsentanten im Aufsichtsrat der Montan-Mitbestimmungsunternehmen ebenfalls als Interessenvertreter gesehen. Seine jetzige Auffassung hat er bereits in den Ausführungen BB 57, 409 ff. im Zusammenhang einer umfassenden Gegenüberstellung des Betriebsratswesens und der Mitbestimmung nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz begründet. 129 Diese Problematik sieht, im Blick auf das Montan-Mitbestimmungs-Gesetz und das Montan-Mitbestimmungs-Ergänzungsgesetz, sehr scharf auch Hanau, in: Das Unternehmen als Größe der Arbeitswelt, 94. Die etwa allein entscheidende Rolle der sich nur aus den Anteilseignernlihren Bevollmächtigten zusammensetzenden Hauptversammlung bei den vom MitbestG erfaßten
6. Arbeitnelunerrepräsentanz in Untemelunensorganen
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b) Die Sicht des Verfassers
Der Aufsichtsrat ist, gleich wie seine nähere Ordnung sein mag, ein einheitliches Unternehmensorgan. Seine Aufgabe ist die Kontrolle und Überwachung des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung von Unternehmen. Auf eine mittelbare Weise ist er ein Führungsorgan im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Kontrolle und Überwachung der Tätigkeit und des Verhaltens der Angehörigen von Unternehmensgremien wird mindestens durchweg das Ergebnis zeitigen, daß die Mitglieder der betreffenden Funktionsstellen sich für die Zukunft an die Wertungen der Kontrollinstanz halten13o. Im staatlichen Bereich etwa ist das eine wesentliche Seite der den Rechnungshöfen zufallenden Aufgabe. Gegebenenfalls ist der Aufsichtsrat sogar unmittelbar Mitträger der Unternehmensleitung, sofern nämlich nach der Satzung seine Zustimmung zu bestimmten Geschäften erforderlich ist. In jedem Fall hat er, bezogen auf die Leitung des Unternehmens, spezifische Unternehmensaufgaben; die Kontrolle und Überwachung dient dem Unternehmen. Ursprünglich oblag nach der damaligen Konzeption diesem Organ zwar allein die Sicherung der Position der Anteilseigner und ihres Anteilseigentums. Deswegen könnte jetzt der Gedanke nicht völlig fern liegen, der Aufsichtsrat habe neben einer solchen Aufgabe beim Platzgreifen der Mitbestimmungsgesetze gleichfalls die Belange der Arbeitnehmer im Wege einer unbedingten Interessenverfolgung abzusichern; mit den Vorschriften der §§ 76 ff. BetrVG 1952 sei diese lnteressenverfolgung mit der Eindrittelrepräsentanz der Arbeitnehmervertreter immerhin mehr oder weniger deutlich anerkannt. Die Kontroll- und Überwachungsaufgabe ließ jedoch schon verhältnismäßig früh die Aufsichtsratstätigkeit ausgerichtet sein auf das Wohl des Unternehmens als solchem. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zählte seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts die Beachtung des Wohles der Arbeitnehmer zu den Aufgaben des Aufsichtsrates. Das heißt aber doch nicht, der Aufsichtsrat sei mit den Mitbestimmungsgesetzen ein Ort der Interessenauseinandersetzung geworden. Nach § 111 Abs. 1 AktG hat der Aufsichtsrat die Geschäftsführung zu überwachen, wie es auch § 95 Abs. 1 AktG 1937 vorschrieb. Die Überwachung besteht in der Prüfung der Geschäftsführung; sie kann auch hinsichtlich eines konkreten Einzelfalles und im unmittelbaren, insbesondere zeitlichen Zusammenhang mit ihm ausgeübt werden. Sie erstreckt sich nicht nur auf die Rechtmäßigkeit, sondern ebenfalls auf die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der einzelnen Maßnahmen und der gesamten Geschäftsführung, dabei nicht zuletzt auf die Beachtung der Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmern. Der Einwirkung sind entzogen nur Ermessensentscheidungen, soweit sie sich im Rahmen sachlich und eindeutig erkennbarer Ermessensschranken halten. Mit alleUnternehmen kann vernachlässigt werden. Dieses Gremium tritt nur in verhältnismäßig seltenen Fällen zusammen. 130 Vgl. G. Müller, BB 57, 410/411. 8 G. Müller
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
dem ist das Unternehmen als solches und folgerichtig sein umfassend verstandenes Wohl, einschließlich seiner inneren Ordnungm, der Bezugspunkt der Aufsichtsratstätigkeit und aller Angehörigen dieses Gremiums. An die hier geltenden Richtungspunkte hat sich nämlich auch die Geschäftsführung zu halten. Somit haben alle Aufsichtsratsmitglieder dieselbe Stellung und dieselben Aufgaben. Das Montao-Mitbestimmungsgesetz und das Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz normieren mit für diese Gesetze besonders weitgehenden Folgerungen zur inneren Struktur des Organs ausdrücklich: "Alle Aufsichtsratsmitglieder haben die gleichen Rechte und Pflichten. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. "132 Im MitbestG und in den Regelungen des BetrVG 1952 findet sich zwar eine entsprechende Regelung nicht. Gleichwohl gilt das, was die erstgenannten Gesetze als entscheidende Aussage enthalten, für die Aufgaben des Aufsichtsrats und damit seiner sämtlichen Angehörigen ebenfalls 133 • Der Aufsichtsrat ist nach dem AktG wie nach den hier in Rede stehenden Regelungen unbeschadet einer differierenden inneren Struktur als ein nach seiner Stellung und seiner Funktion stets gleiches Organ der Unternehmensverfassung konzipiert. Ob der Aufsichtsrat der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der nach dem GmbH-Gesetz nur ein fakultatives Organ ist, für das gegenüber dem Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft gewisse abweichende Regelungen gelten, als eine in bestimmter Hinsicht anders zu sehende Institution aufzufassen ist, muß nicht geprüft werden. Alle den Mitbestimmungsgesetzen unterfalleneo Unternehmen müssen einen Aufsichtsrat haben, also neben der Aktiengesellschaft auch die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die bergrechtliche Gewerkschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit sowie im Falle des MitbestG die Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft. Nach den Aufsichtsratsregelungen des BetrVG 1952 müssen Gesellschaften mit beschränkter Haftung, bergrechtliche Gewerkschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit, Erwerbsund Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit ab einer bestimmten Größenordnung dieses Organ ebenfalls aufweisen. Als Angehörige eines Unternehmensorgans zur Kontrolle und Überwachung der Geschäftsführung steht den Aufsichtsratsmitgliedern in dieser ihrer Eigenschaft eine Interessenwahrnehmung zugunsten irgendwelcher Schichten des Arbeits- und Wirtschaftslebens und deren Angehörigen nicht zu. Der Sinn 131 Letzterer Begriff ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen und nicht auf Rechtsfragen beschränkt. 132 § 4 Abs. 3 Montan-Mitbestimmungsgesetz, § 5 Abs. 4 Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz. Der Aufsichtsratsvorsitzende ist dort im strengsten Sinne des Wortes bestenfalls nurprimusinter pares. 133 BVerfG 50, 290 (361) .
6. Arbeitnehmerrepräsentanz in Unternehmensorganen
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der Strukturierung des Aufsichtsrats nach "Banken" ist ein anderer. Die Eigentümerseite (Anteilseigner) und die Arbeitnehmerseite als tragende Größen des Unternehmens haben die Sichten dieser Seiten des Wirtschaftslebens in die Beratung und Beschlußfassung des Aufsichtsrates einzubringen, und zwar im Interesse des Unternehmens. Es ist mit den Größen Belegschaft und Anteilseigner eine vom Unternehmensziel her konstituierte Einheit. - Die Unternehmensleitung wird vom Aufsichtsrat bestellt und unterliegt seiner Kontrolle und Überwachung.- Diese Sichten selbst müssen, auch und gerade wenn sie differieren, zutreffend, also objektiv, mitgeteilt werden. Sie sind sodann, und zwar vom Aufsichtsrat insgesamt, im Blick auf das Unternehmen zu werten. Dabei wird entsprechend der Zurechnung der Aufsichtsratsangehörigen zu der einen oder anderen Seite ohne weiteres ein subjektives Moment eine Rolle spielen können. Bleibt das Unternehmenswohl die maßgebliche Beurteilungsmaxime, kommt es jedoch in der Regel zu einem sachgemäßen Ergebnis. Die Dinge liegen vergleichbar der Begegnung von Interessen mit dem Sinn, zu einem tunliehst ausgewogenen Resultat zu kommen. Allerdings steuert hier die rechtliche Bindung an das unmittelbar durch die Rechtsordnung vorgegebene Ziel von vornherein das Verhalten. Daß nach den Mitbestimmungsgesetzendem Aufsichtsrat jeweils Vertreter von Gewerkschaften angehören müssen, soll eine umfassende Sicht der "Arbeitnehmerseite" des Aufsichtsrates verbürgen. Der Möglichkeit einer Betrachtung unter "unternehmensegoistischen" Gesichtspunkten durch die Vertreter der Belegschaft will man vorbeugen 134. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Berufung von Unternehmensfremden in den Aufsichtsrat immer möglich war und tatsächlich praktiziert wird, selbst wenn man von dem Depotstimmrecht der Banken absieht. Das Depotstimmrecht hat im übrigen auch den Aspekt, jedenfalls aber kann man es zwanglos derart auffassen, allgemein die Bedeutung der Geldwirtschaft für die Unternehmen zur Geltung zu bringen. Die Zuverlässigkeit einer Berufung von Unternehmensfremden weist auf die Geltendmachung einer umfassenden Sicht des Unternehmenswohles in seinen verschiedenen Aspekten hin. Es können besonders qualifizierte Persönlichkeiten entsandt werden135. Der "elfte Mann" der Montao-Mitbestimmungsgesetze und das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden nach dem MitbestG sollen die Beschlußfähigkeit des Aufsichtsrats sicherstellen, wenn einmal faktisch antagonistische Interessenansichten durchschlagen und sich die "Bänke" gegenseitig blockieren. Der "elfte Mann" hat jedoch als "Neutraler" zuvor und zunächst um einen sachgemäßen Ausgleich bemüht zu sein. Im Falle des MitbestG kann nach dessen § 29 Abs. 2 der Vorsitzende- oder der Stellvertretende Vorsitzende - sein doppeltes Stimmrecht erst bei einer erneuten 134 135
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BVerfG, a.a.O. BVerfG, a.a.O.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
Abstimmung nach einer vorhergehenden Abstimmung mit Stimmengleichheit ausüben; er dürfte sich nach dieser ersten Abstimmung sogar betont um einen Ausgleich bemühen müssen. Daß der Aufsichtsratsvorsitzende nach dem MitbestG regelmäßig der Seite der Anteilseigner angehört, ist seinerseits nicht sachwidrig. Die Anteilseigner dürften, motiviert durch ihr Anteilseigentum, an sich Interesse an einem umfassend gesehenen Wohl des Unternehmens haben. Weil bei den Arbeitnehmern ein solches Interesse ebenso angenommen werden kann, ist ein Aufsichtsratsvorsitzender aus ihren Reihen gleichfalls wählbar. Deswegen ist ein Repräsentant der Arbeitnehmerschaft als Stellvertretender Vorsitzender am Platze. Bereits nach dem AktG besteht der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern und, sollte die Satzung eine höhere Zahl vorsehen136, muß die Gesamtzahl durch drei teilbar seinm. Sogar wenn sich der Aufsichtsrat nur aus Repräsentanten der Anteilseigner zusammensetzt, rechnet also das Gesetz mit Gegensätzen; eine Blockade schließt aber die ungerade Zahl seiner Angehörigen aus. Unterschiedliche Auffassungen, wie sie in jedem auf dieselbe Handlungsmaxime verpflichteten Kollegialorgan, z. B. auch in einem Spruchkörper der Rechtsprechung, aufgrund divergierender Beurteilung und wegen verschiedener Sichtweisen immer einmal auftreten, sind im übrigen sogar innerhalb einer "Bank" der Mitbestimmungsgesetze und, besteht ihre Zahl aus mehr als einer Person, bei den Arbeitnehmerrepräsentanten nach dem BetrVG 1952 denkbar. Die Abwahl von der "Arbeitnehmerbank" angehörenden Mitgliedern des Aufsichtsrats nach § 23 MitbestG, nach § 10 Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz und nach§ 76 Abs. 5 BetrVG 1952 auf Antrag der Arbeitnehmerseite durch Gremien der Arbeitnehmer scheint noch am ehesten auf den Aufsichtsrat als ein Organ zur Geltendmachung von Interessen und zum Austrag von Interessenkonflikten hinzudeuten. Diese Vorschriften entsprechen § 103 Abs. 1 AktG zur Abberufung von Vertretern der Anteilseigner. Wenn in diesem Falle, wie allgemein anerkannt ist, die Abberufung nach freiem Ermessen erfolgen kann, so muß das ebenfalls für die hier fraglichen Gremien gelten; hier wie dort geht es um den gleichen Akt. Freies Ermessen heißt aber längst nicht willkürliches Ermessen. Völlig sachfremd ausgeübtes Ermessen (etwa wenn es seinen Grund allein darin hat, um denjenigen, demgegenüber es ausgeübt wird, nur in seiner Persönlichkeit zu verletzen) ist rechtlich und ethisch nicht haltbar. Willkür wäre bei dem Gegenstand des hier in Rede stehenden Sachverhaltes etwa ein Ermessen, das sich gewollt oder ungewollt über den Charakter des Aufsichtsrats als eines einheitlichen UnternehmensorIm HöchsttaUe 12. Nach den Mitbestimmungsgesetzen ist die Zahl stets höher. Im Fa11e der Montanmitbestimmungsgesetzebleibt sie stets wegen des "elften Mannes" ungerade. Nach dem MitbestG sind die Bänke zwar paritätisch besetzt, und die Gesamtzahl der Aufsichtsratsmitglieder ergibt so eine gerade Zahl, doch kommt hier ggf. das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden zum Zuge. 136
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6. Arbeitnehmerrepräsentanz in Unternehmensorganen
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gans mit seiner dem Wohle des Unternehmens dienenden Aufgabe einfach hinwegsetzen würde. Die Abberufung darf der Verpflichtung der Aufsichtsratsmitglieder nicht schlicht widersprechen. Nach§ 11 Abs. 2 Montao-Mitbestimmungsgesetz erfolgt die Abberufung auch der Arbeitnehmerrepräsentanten im Aufsichtsrat allerdings durch das nach Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern berufene Organ; im Falle der Aktiengesellschaft somit durch die Hauptversammlung und im Falle der GmbH durch die Gesellschafterversammlung13s aufgrund eines Abberufungsantrags der Arbeitnehmerseite. Das Wahlorgan, das zwar ohne einen solchen Antrag nicht abberufen darf, kann ihm entsprechen, muß ihm aber nicht stattgebenB9. Das deutet darauf hin, daß es eine Überprüfung des Antrags dahingehend vorzunehmen hat, ob er sich noch im Rahmen wenigstens einer äußersten, durch den Sinn des Aufsichtsrates bestimmten Grenze hält. Während die Vorschriften der Montanmitbestimmungsgesetze die Abberufungsmöglichkeiten der Arbeitnehmermitglieder des Aufsichtsrats abschließend regeln, kann nach dem MitbestG ein Arbeitnehmerrepräsentant ebenso wie ein sonstiges Aufsichtsratsmitglied nach § 103 Abs. 3 AktG auf Antrag des Aufsichtsrats aus wichtigem Grund durch das Gericht (Registergericht) abberufen werdent40. Dasselbe wird für die nach dem BetrVG 1952 berufenen Arbeitnehmerangehörigen dieses Gremiums angenommen 141. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, die sonstigen Abberufungen könnten immerhin im Blick auf die anderen Regelungent42 willkürlich stattfinden. Es wird unterschieden zwischen einem Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat nach einem freien Ermessen der zuständigen Gremien und dem Ausscheiden aus wichtigem Grund. Wegen der Stellung und Aufgabe des Aufsichtsrats läßt sich unbeschadet beider Möglichkeiten nicht sagen, im ersteren Falle sei eine Willkürmaßnahme gedeckt. Das würde nicht zuletzt dem Rechtsstaatsprinzip widersprechent43.
138 Die Wahl der Arbeitnehmervertreter erfolgt nach § 6 Montan-Mitbestimmungsgesetz ebenfalls durch das Wahlorgan , das allerdings niemanden wählen kann, der nicht von der Arbeitnehmerseite vorgeschlagen ist. 139 Müller!Lehmann, Mitbestimmungsgesetz Bergbau und Eisen,§ 11 Anm. 7. 140 § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG; siehe auch Hanau/Ulmer, MitbestG, § 23 Anm. 6. 141 Fitting!Auffarth!Kaiser!Heither, BetrVG, 15. Aufl., BetrVG 52,§ 76 Anm. 97. 142 § 76 Abs. 5 BetrVG 1952 spricht von "widerrufen". Das ist inhaltlich identisch mit "abberufen"; siehe Fitting!Auffarth!Kaiser!Heither, a.a.O. 143 Eine andere, hier jedoch nicht näher zu erörternde Frage ist, ob die nach zwei Gesetzen vorgesehene und nach zwei anderen Gesetzen nicht vorgesehene Abberufung der Arbeitnehmervertreter aus wichtigem Grunde eine widersprüchliche und damit gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz verstoßende Regelung ist. Die Möglichkeit gleichgelagerter Sachverhalte kann vielleicht nicht ausgeschlossen werden.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
Daß Tendenzunternehmen nicht vom MitbestG erfaßt werdeni44, kann schließlich ebenfalls nicht als ein Anzeichen dafür angesehen werden, der Aufsichtsrat sei zum Austragen von 'lnteressenkonfrontationen bestimmt. Es geht allein um eine größtmögliche tatsächliche Gewährleistung eines Tendenzschutzes. Nach alledem ist der Aufsichtsrat keine Institution der Unternehmensverfassung, die bei dem Platzgreifen des Mitbestimmungsgedankens zur Behandlung und zum Austragen von Interessenspannungen und Interessenkonflikten zwischen der Arbeitnehmerseite und der anderen Seite des Wirtschaftslebens vorgesehen ist oder doch wenigstens u. a. eine entsprechende Aufgabe hat. Es kann das gar nicht sein. Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber/Unternehmer können derartige Tatbestände legal und legitim auftreten. Aber bereits für das Verhältnis der Betriebspartner untereinander gilt als Fundamentalnorm das Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit, und das Betriebsverfassungsrecht ist der gesellschaftsrechtsähnliche Ausdruck des Unternehmensverbundes. Der Aufsichtsrat als ein Führungsorgan des Unternehmens setzt eine einheitliche, für alle seine Angehörigen in gleicher Weise geltende Aufgabenbestimmung voraus; die Bejahung eines institutionalisierten Gegeneinander wäre ein Widerspruch. Die Aufgabe der Überwachung und überhaupt der Führungsaufgabe würde, jedenfalls im Prinzip, gelähmt. Dies ist bei dem Sinn der Aufsichtsratstätigkeit sachwidrig. Nicht zuletzt würde das Unternehmen als Zelle der Volkswirtschaft und damit seine Bedeutung für die Gesamtgemeinschaft negativ getroffen, was unethisch wäre. Das umfassend verstandene Unternehmenswohl ist die Verhaltensmaxime für sämtliche Aufsichtsratsangehörigen 145. Eine Interessensicht und eine Interessenvertretung im Aufsichtsrat zu institutionalisieren, müßte schließlich die TV-Autonomie gefährden. Eine wichtige Führungsstelle des Unternehmens und damit ein Teil der Unternehmensleitung wäre gekennzeichnet durch einen Interessenantagonismus zwischen Anteilseignern und Arbeitnehmern. Je nach dem Ausgang der Auseinandersetzung wäre die Unternehmensleitung mehr auf die Linie der Anteilseigner oder mehr auf die Linie der Arbeitnehmer festgelegt. Das könnte sich zwar im Einzelfalle immer wieder ändern, es käme jedoch von vornherein zu einer unsicheren Stellung der Unternehmensleitungen. Eine im Rahmen der notwendigen Bindungen erfolgende Interessensicht und Interessenverfolgung 144 § 1 Abs. 4 MitbestG. - Die Montanmitbestimmungsgesetze betreffen Tendenzunternehmen nicht. 145 Hanau!Ulmer, MitbestG, § 25 Anm. 93. Wenn es a.a.O. weiter heißt, es sei den Aufsichtsratsangehörigen nicht verwehrt, die Interessen ihrer Gruppen zu beachten und sich für ihre Berücksichtigung bei der Definition des Unternehmensinteresses einzusetzen, dürfte die Gesamtsicht der Autoren bei dem von ihnen vertretenen Grundpostulat doch wenigstens mehr oder weniger mit der Auffassung des Verfassers übereinstimmen.
6. Arbeitnelunerrepräsentanz in Untemelunensorganen
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und damit die Gewährleistung eines möglichst sachgemäßen oder doch vertretbaren Tarifergebnisses auf Grund der Tarifprozedur bliebe nicht mehr mit der größtmöglichen Sicherheit verbürgt. Bei der Arbeitgebervereinigung müßte mit einem "sachfremden" Einfluß gerechnet werden. Der "elfte Mann", aber wohl schon nicht mehr das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden, könnte zwar gegenüber einem solchen Ergebnis immer noch als Sicherung wirken, das Prinzip der TV-Autonomie würde jedoch institutionell entscheidend tangiert. Das BVerfG hat das gesehen, bei dem dann von ihm allein näher zu beurteilenden MitbestG jedoch auf das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden abgestellt 146 und die sich dann für die Tarifpraxis stellende Problematik grundsätzlich und jedenfalls bis auf weiteres nicht als durchschlagend gewertet147. Die Frage der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat und ihre Aufgabe dort nach der Sicht des Verfassers ist wegen ihrer etwaigen Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis eingehend behandelt worden. Bei dem Ergebnis läßt sich nicht sagen, wegen der Zusammensetzung des Organs dürfe auf ein gesellschaftsrechtliches oder gesellschaftsrechtsähnliches Element des Arbeitsverhältnisses geschlossen werden. Es bleibt eine ausschließlich unternehmensleitende Einrichtung. Bei der umfassenden Aufgabe der Unternehmensleitung, die u. a. verlangt, die Belange der Mitarbeiter zu beachten und das Unternehmen selbst in seiner Bedeutung für die Allgemeinheit und damit auch für die Arbeitnehmerschaft zu sehen, ist eine Repräsentanz der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gerechtfertigt. Ihre Aufgabe dort hat aber Unternehmerischen Charakter. Daß die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat das Gewicht der Arbeitnehmer als unerläßliche Mitträger des Unternehmens allgemein hervorheben und so letztlich ebenfalls ihre Bedeutung für die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft, führt noch nicht zu einer Umwandlung oder doch zu einer Modifizierung des Arbeitsverhältnisses. Es wird allerdings die Notwendigkeit des Zusammenrückens aller Beteiligten und die Anerkennung ihrer legitimen Sichten unterstrichen, so daß, in einem jedoch sehr weit gefaßten und sonst nicht üblichen Sinne des Wortes, das gesellschaftsrechtsähnliche Gebilde des Unternehmensvertreters in Erscheinung tritt. An dem Bestehen des Arbeitsverhältnisses mit seinen Spannungen und seinen etwaigen Konfrontationen ändert das aber nichts. Das Betriebsverfassungsrecht mit den Mitbestimmungskompetenzen des Betriebsrats und ein gleichzeitiges Auftreten von Arbeitnehmervertretern auf der Unternehmensebene führen nach alledem in der Unternehmensführung auch nicht zu einer "Überparität" der Arbeitnehmerseite. Die unternehmensrechtliche Mitbestimmung bringt die Arbeitnehmerschaft als wirtschaftssoziologisch unerläßliche Größe zur Geltung. Der Arbeitnehmer wird jedoch 146 147
BVerfG 50, 290 (366). BVerfG 50, 290 (366 ff.).
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
weder bei einer die Unternehmensmitbestimmung und das Betriebsverfassungsrecht umfassend ergreifenden Sicht noch allein unter dem Blickwinkel des letzteren Rechtsbereiches Mit-Träger des Unternehmens im herkömmlichen spezifisch rechtlichen Sinne des Wortes. Es liegt kein Widerspruch zwischen seiner rechtlichen und seiner tatsächlichen Situation mit den für ihn negativen Folgen vor.
7. Eine Miteignerstellung des Arbeitnehmers im Unternehmen und die Mitbestimmung am Arbeitsplatz
Auf einen Weg über das Arbeitsverhältnis hinaus scheinen eine Realisierung der Beteiligung der Arbeitnehmer am sog. Produktivvermögen des Unternehmens hinzuweisen und überhaupt ihre irgendwie geartete Mit-Eignerstellung am Unternehmen, des näheren ihre Beteiligung speziell am Gewinn desselben. In diesem Zusammenhang ist erneut die Mitbestimmung des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz zu nennen. Am Arbeitsverhältnis ändert aber auch das alles nichts. a) Die Beteiligung am Produktiveigentum
Im Falle einer Beteiligung des Arbeitnehmers am Produktivvermögen des Unternehmens und allgemein bei einer Position als Anteilseigner, jeweils etwa begründet durch den sog. Investivlohn, ist eine begriffliche Trennung zwischen dem Arbeitsverhältnis und der Anteilseignerstellung möglich. Der Arbeitnehmer steht einerseits unverändert in dem durch die Weisungskompetenz des Arbeitgebers/Unternehmers gekennzeichneten Arbeitsverhältnis. Zusätzlich zu und neben dem Arbeitsverhältnis nimmt er eine Stellung als Anteilseigner ein, ggf. als Kommanditist und stiller Gesellschafter. Das gilt unbeschadet dessen, daß beim Investivlohn der Erwerb dieser Stellung auf der vereinbarten einschlägigen Verwendung eines Teils des Arbeitsentgelts beruht. Die rechtlich unterscheidende Sicht läßt eine Unterscheidung in der Sache deutlich werden. Es liegt jeweils ein besonderer Tatbestand und ein besonderes Rechtsverhältnis vor, verbunden allein durch eine Personalunion. Die begriffliche Trennung zeigt ein Auseinanderfallen in der Realität an. Die je andersartigen Beziehungen des Arbeitnehmers zu dem Unternehmen sind inhaltlich verschieden geartet. Das Ergebnis einer Position des Arbeitnehmers als Anteilseigner ist bei ihrer kontinuierlichen Aufrechterhaltung allerdings eine engere Bindung an das Unternehmen; es wird in einem betonteren Sinne sua res. Mit einer bleibenden Stellung des Arbeitnehmers als Anteilseigner tritt in der Tatsächlichkeit der Dinge auch ein gesellschaftsrechtsähnlicher Effekt ein; es kommt zu einer zusätzlichen Verzahnung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmeni 48. Ist das Anteilseignerturn der Arbeitnehmer an
7. Miteignerstellung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz
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einem Unternehmen weit verbreitet, mag des weiteren eine engere soziologisch-psychologische Beziehung zwischen den Belegschaftsangehörigen und der Unternehmensleitung eintreten. Das würde unbeschadet des Umstandes in Rechnung zu stellen sein, daß die persönlichen Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Arbeitnehmers in der Hauptversammlung und in der Gesellschafterversammlung praktisch ohne größere Bedeutung sind. Andererseits muß man jedoch ebenso sehen, daß notwendige Anpassungendes Unternehmens an veränderte technologische Bedingungen und an veränderte Marktdaten bei einem Interesse der Arbeitnehmer an der Beibehaltung ihrer bisherigen Arbeitsaufgabe u. U. erschwert und vielleicht sogar zunächst vereitelt werden können. Die sonstigen Anteilseigner und die Unternehmensleitung könnten es wegen des Unternehmens- und Betriebsklimas für angebracht halten, auf die Arbeitnehmer-Anteilseigner Rücksicht zu nehmen. Zu Lasten der berechtigten Interessen der sonstigen Arbeitnehmerschaft ist schließlich ein mehr oder weniger starker "Unternehmensegoismus" nicht auszuschließen. Wiederum zeigt sich die Ambivalenz des Menschen. Bei ständigen Verlusten des Unternehmens muß im übrigen mit einer zu Auswirkungen auf die Erfüllung seiner Arbeit aufgrund seines Arbeitsverhältnisses führenden Lockerung der psychologischen Bindung des Arbeitnehmers zu dem Unternehmen gerechnet werden - beim Investivlohn kann es sogar zu gravierenden Enttäuschungen mit weittragenden negativen Auswirkungen kommen. Allerdings ist auch eine Schärfung des wirtschaftlichen Blickes nicht auszuschließen. Es ist sogar eine betonte Identifizierung mit dem Unternehmen in der Art denkbar, wie es etwa bei dem im Arbeitsverhältnis zu dem Unternehmen seines Ehegatten stehenden anderen Ehepartners bei einer mehr oder weniger reibungslos verlaufenden Ehe der Fall sein wird. Wie alles aber immer sein mag, die grundlegende Arbeitsteilung zwischen der Unternehmensleitung hier und den Mitarbeitern dort wird niemals aufgehoben. Der mit ihr gegebene, stets im Blick zu behaltende sozialethische Wert bleibt unverändert bestehen. b) Die Gewinnbeteiligung
Die Beteiligung des Arbeitnehmersam Gewinn des Unternehmens ohne die Stellung eines Anteilseigners und somit ohne Beteiligung am Produktivvermögen ist rechtlich allein als zusätzliches Arbeitsentgelt zu werten. Die Gewinnbeteiligung dürfte mit der Gratifikation vergleichbar sein; sie ist eine zum Arbeitsentgelt im engeren Sinne hinzutretende Vergütung. Eine weitere und andere rechtliche Beziehung des Arbeitne}uners zum Unternehmen entsteht nicht. Es kommt zu keiner Modifikation des Arbeitsverhältnisses durch ein gesellschaftsrechtliches Element, und noch viel weniger kommt es zu einer 148 Das ist der zutreffende Gedanke der in Anm. 106 wiedergegebenen Aussage der Enzyklika "Quadragesima anno". Siehe auch Anm. 107.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
Annäherung desselben in Richtung auf ein gesellschaftsrechtliches Verhältnis. Möglich ist aber wieder eine engere psychologisch-personale Beziehung zu dem Unternehmen. Bleiben der Gewinn und seine (teilweise) Ausschüttung an die Mitarbeiter einmal längere Zeit aus, ist allerdings, wie bei einer Anteilseignerstellung im Falle des schlechten Ganges des Unternehmens, an eine erhebliche Distanzierung ihm gegenüber zu denken. Trotz aller Ambivalenz ist, was abschließend gesagt sei, eine Anteilseignerstellung des Arbeitnehmers ebensowenig wie die einfache Gewinnbeteiligung sozialethisch abzulehnen. Wollte man wegen ambivalenter Folgen an sich positiv zu beurteilende Größen verwerfen, würde die Entfaltung einer praktisch wirksamen Sozialethik von vornherein unterbunden. Nähere Erkenntnisse lassen sich sowohl hinsichtlich des Arbeitnehmers bei gleichzeitiger Stellung als Anteilseigner wie für den Fall der einfachen Gewinnbeteiligung jedoch erst gewinnen, wenn einschlägige empirische Untersuchungen vorliegen. Sie müßten längere Zeiträume erfassen und sich sowohl auf gutgehende, weniger gutgehende und auf von Krisen gepackte Unternehmen erstrecken. c) Die Mitbestimmung am Arbeitsplatz
Die Mitbestimmung am Arbeitsplatz läßt ebenfalls das Arbeitsverhältnis in seiner bisherigen Struktur weiterbestehen. Wenn der Arbeitnehmer Mitberatungs- und Entscheidungsrechte im Bereich des täglichen Arbeitsablaufes, selbst solche in der weiteren Umgebung seines Arbeitsplatzes wahrnehmen kannt49, so ändert dies an der allgemeinen Weisungskompetenz des Arbeitgebers/Unternehmers nichts. Die Mitbeteiligung vollzieht sich innerhalb der dem einzelnen Arbeitnehmer zugewiesenen Arbeitsaufgabe. Insbesondere wenn die Mitberatung und Mitentscheidung durch eine betriebliche Übung oder aufgrundeiner BV rechtlich verfestigt ist, erfährt die Stellung des Arbeitnehmers als Mensch aber eine beachtliche Verstärkung. Im Ergebnis kann es durch den ständigen Kontakt mit dem unmittelbaren Vorgesetzten, der weit über eine bloße Ausführung der Arbeit und ihre Überwachung hinausgeht, zu einer engeren personalen Verbindung mit dem Unternehmen kommen. Damit ist auch deswegen zu rechnen, weil eine betonte Kontrolle des Arbeitsergebnisses bei der jetzt erfolgenden Art der Zusammenarbeit zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Vorgesetzten in den Hintergrund treten dürfte. Vor allem könnte ein bedeutsamer Beitrag zu einem Interessenausgleich in Dingen des Arbeitsalltags erbracht werden. Ob ein gesellschaftsrechtliches oder gesellschaftsrechtsähnliches Element im Arbeitsverhältnis vorliegt, bleibt mindestens zweifelhaft. Der Arbeitnehmer wird im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses schöpferisch tätig, er ist entsprechend seinem Menschentum als eigenständige Persönlichkeit anerkannt. Dies alles ist ferner für die 149
Siehe Hanau, in: D as Unternehmen als Größe der Arbeitswelt, 70171.
7. Miteignerstellung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz
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Realisierung des Unternehmenszieles förderlich und dient so letztlich der Gesellschaft und der Gemeinschaft. Voraussetzung ist nur, daß der unmittelbare Vorgesetzte nicht autoritär auftritt und daß der Arbeitnehmer nicht mit Gewalt unausgegorene Gedanken verwirklichen möchte. Die Art der Arbeit selbst muß zudem für eigene Initiativen offenstehen. Das, was man die Mitbestimmung des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz nennt, ist schlechthin nicht nur anzuerkennen, sondern sogar in größtmöglichem Maße zu fördern. Vor allem das Menschentum des Arbeitnehmers, des näheren die Erfahrung der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit, verlangen sie; die Subjektstellung als Mensch wird nachdrücklich betont. Es handelt sich um keine Ideologie; das Postulat entspricht vielmehr dem Personalverbund des Unternehmens mit seiner Ausrichtung auf das UnternehmenszieL Im Kerne ist das alles m. E. bereits nach geltendem Recht geboten. Die beiden Beziehungsgrößen des Arbeitsverhältnisses, die Erringung der Arbeitsleistung wie die Anerkennung des Arbeitnehmers als Mensch, werden lediglich näher entfaltettso. Zu beachten sind dabei die Regelungen des Betriebsverfassungsrechts, etwa das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Fragen der Ordnung der Betriebe nach§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Weil die Tätigkeit des einzelnen Arbeitnehmers sich im Personalverbund des Betriebs/Unternehmens vollzieht, sind bereits unter dem sozialethischen Gesichtspunkt die Belange der einzelnen Mitarbeiter, der Gesamtbelegschaft und der Unternehmensleitung zu beachten. Das Betriebsverfassungsrecht soll einen entscheidenden Beitrag zur Integration des einzelnen Arbeitnehmers in die Gesamtheit der mit seiner Tätigkeit in Betrieb und Unternehmen in Rede stehenden sachlich· anzuerkennenden Felder leisten. Seine Persönlichkeit darf dabei nicht in untragbarer Weise tangiert werden. Das ist im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig. Bei der Bedeutung der Mitbestimmung am Arbeitsplatz erscheinen normative Regelungen angebracht und sogar wohl geboten. Die eben skizzierten einzelnen Aspekte sind ausgewogen zu erfassen. d) TV-Autonomie und Beteiligung am Produktivvermögen, Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz
Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen der Unternehmen, ihre Gewinnbeteiligung und die Mitbestimmung am Arbeitsplatz sind Regelungsgegenstände der TV-Autonomie. Die Koalitionen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber dürften von Hause aus bessere Möglichkeiten haben, sachgemäße Bestimmungen vorzusehen als der Gesetzgeber. Das gilt nicht zuletzt bei der Entscheidung, ob ein Investivlohn eingeführt werden soll 150 Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gewährung des Arbeitsentgeltes ist letztlich ebenfalls im Menschsein des Arbeitnehmers begründet. Sie setzt gedanklich und in der Sache voraus, daß der Arbeitnehmer kein Ding ist, kein Sklave im Sinne des "klassischen" Sklavenrechts der Antike.
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Kap. III: Gesellschaftsrechtliche Elemente
oder nicht. Zur Ethik der TV-Autonomie gehört, daß den Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber diejenigen Felder für ihre Tarifbetätigung offenstehen, in denen ihr Wirken besonders angebracht ist. Die Verbände wissen ferner am besten, wann Rahmenregelungen und wann detailliertere Normierungen Platz zu greifen hätten. Sie können mit entsprechenden Klauseln sicherstellen, daß Arbeitgeber und Betriebsrat mit ergänzenden Betriebsvereinbarungen der konkreten Betriebs- und Unternehmenssituation Rechnung tragen und daß, neben dem sowieso geltenden Günstigkeitsprinzip, arbeitsvertragliche Abmachungen Platz greifen, wenn dies sachgemäß ist. Ein Gesetz kann an sich ebenfalls derartige Freiräume vorsehen und sonstige Bestimmungen treffen. Die TV-Parteien sind jedoch eher in der Lage zu sagen, unter welchen Voraussetzungen das Einzelne geboten und zweckmäßig ist. Voraussetzung für eine Tariftätigkeit gerade in den hier in Rede stehenden Regelungsbereichen ist allerdings nicht zuletzt der Wille der Gewerkschaften, für die konkreten Arbeitnehmer zugunsten ihrer konkreten Belange eine entsprechende Ordnung zu schaffen. Die Koalitionen haben eine dienende Aufgabe gegenüber ihren Mitgliedern und überhaupt gegenüber den Angehörigen derjenigen Schichten des Arbeits- und Wirtschaftslebens, die sie organisieren wollen. Bejahen sie diese Aufgabe und erfüllen sie sie, ist zugleich eine wichtige Voraussetzung dafür erfüllt, daß die TV-Autonomie auch der Gesamtgemeinschaft dient. In diesem Zusammenhang heißt das u. a., daß nicht nur eine Gewinnbeteiligung, sondern ebenso eine Beteiligung am Produktivvermögen der Unternehmen dem einzelnen Arbeitnehmer unmittelbar zustehen muß. Die Beteiligung darf nicht bei von den Gewerkschaften getragenen Fonds liegen. Das wäre allenfalls nur eine höchst mittelbare, praktisch weitgehend sogar überhaupt keine Beteiligung der konkreten Arbeitnehmer. Das gilt alles ebenfalls beim Investivlohn. Hier ist sogar die persönliche Betätigung des Arbeitnehmers besonders geboten. Daran ändert sich nichts, wenn er sich aufgrundeigener Entscheidung durch eine Persönlichkeit seines Vertrauens beraten läßt und sie im Einzelfalle einmal zur Wahrnehmung seiner Anteilseignerrechte bevollmächtigt. Hinsichtlich einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz ist vor allem zu prüfen, welche konkreten einzelnen Betriebe und Unternehmen den Betriebsräten und Arbeitgebern sowie den Arbeitgebern und einzelnen Arbeitnehmern mit entsprechenden Gestaltungsräumen zustehen sollen und ggf. sogar zustehen müssen151. 151 Der staatliche Gesetzgeber als die umfassende und zentrale Autorität für die Rechtssetzung im Gesamtgemeinwesen hat für die oben angesprochenen Bereiche ebenfalls die Normsetzungsgewalt und zwar, nach der Bestimmung des Art. 74 Ziff. 12 GG zur konkurrierenden Gesetzgebung, sowohl auf der Bundes- wie auf der Landesebene. Tatsächlich bedeutsam ist allerdings nur die Bundesgesetzgebung. Als besonders wichtiges allgemein geltendes arbeitsrechtliches Gesetz sei das Kündigungsschutzgesetz des Bundes genannt. Daß der Betätigung der TV-Parteien ein weiter Spielraum zu
Kapitel IV
Entwicklung des Gedankens der TV-Autonomie Zusammenfassung Nach der einleitenden Darstellung der TV-Autonomie gemäß der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland bemühten sich die weiteren Überlegungen, den letzten Hintergrund dieser Institution vor allem sozialethisch aufzuhellen. Wenn man so will, erfolgte eine rechtsphilosophische Grundlagenuntersuchung. Die Subjektivität des Menschen verlangt, daß er die Verwirklichung seiner Belange oder Interessen in seine eigene Hand nimmt. Da er auf sich allein gestellt dazu längst nicht immer in der Lage ist, muß ihm die unabdingbare Möglichkeit zuerkannt werden, im Zusammenschluß mit anderen, die die gleiche Interessenlage haben, über eine solche Vereinigung wirkmächtig zu sein. Er ist kein ausschließlich auf sich hingeordnetes Individuum, sondern gemeinschaftsbezogen. Das zeigt einen Mangel an, die Gemeinschaft ist vielmehr unerläßliche Bedingung für den Menschen als Person. Er ist als ein Wesen mit Höchststand im übrigen zugleich kontingent und sogar "gebrochen" . Die Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern und Unternehmern/Arbeitgebern spielen sich ab im Unternehmen oder in der Dienststelle. Bei ihnen handelt es sich im Kern um einen Personalverbund, bestehend aus den Personen der Leitung und den Mitarbeitern. Diese Gemeinschaften sind auf die Verwirklichung des Unternehmenszieles/desZieles der Dienststelle ausgerichtet. Sämtliche Angehörigen des Unternehmens, der Zelle der Volkswirtschaft, haben auch eine treuhänderische Aufgabe gegenüber der Gesellschaft und der Allgemeinheit (die Dienststellen des Gemeinwesens erfüllen unmittelbar Aufgaben desselben). Die Arbeitsteilung zwischen Leitung und Mitarbeitern ist sachgebotene Voraussetzung für eine wirksame Tätigkeit von Unternehmen und Behörden, dabei nicht zuletzt deswegen, damit sie ihrer Bedeutung für die Gesamtheit entsprechen können. Unbeschadet der Gemeinschaft Unternehmen/Dienststelle und den entsprechenden Elementen und Größen im Arbeitsrecht haben die Angehörigen der Leitung und die Mitarbeiter wegen ihrer je verschiedenen Positionen sehr belassen ist, steht hiermit nicht in Widerspruch. Zum "Kernbereich" der TV-Autonomie selbst siehe weiter unten. Gerade im vorliegenden Zusammenhang die Gedanken zur "Betriebs-Autonomie- TV-Autonomie".
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Kap. IV: Der Gedanke der TV-Autonomie
häufig divergierende, ja sogar entgegenstehende Interessen. Sie müssen an sich und als solche keineswegs illegitim sein (und sind es weitgehend auch nicht). Die in den vorausgehenden Darlegungen bereits erwähnte TV-Auton6mie ist damit angesprochen. Ihr Ausgangspunkt und ihre Grundlage ist die Interessenverfolgung der Arbeitnehmer und der Unternehmer/Arbeitgeber in ihrem Verhältnis zueinander. Es geht um die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen je der einen Seite gegenüber der anderen. Der Hintergrund ist die je verschiedene Stellung der Leitung und der Mitarbeiter. Die Belange der Unternehmer/Arbeitgeber stimmen, bei aller etwaigen Verschiedenheit sonst, in allgemeinen Unternehmerischen Grundfragen jedenfalls durchweg überein. Entsprechendes trifft für die Belange der Arbeitnehmer zu. Die eigentümliche Stellung der einen und der anderen im Unternehmen und sonst wird in ihren wechselseitigen Beziehungen wirksam. Deswegen ist ein Zusammenschluß in Arbeitnehmervereinigungen hier und in Arbeitgebervereinigungen dort möglich. Der Zusammenschluß verbürgt eine Durchsetzungsmöglichkeit gegenüber dem anderen mit seinen anderen Interessen. Die Interessenverfolgung stellt ab auf die eigenen Interessen, auf das , was den Unternehmer/Arbeitgeber und den Arbeitnehmer in seinem ureigenen Bereich angeht. Insofern stehen pivate, "persönliche" Angelegenheiten in Rede. Sie zu verfolgen oder nicht zu verfolgen und ggf. die Art und Weise, wie sie gefördert werden sollen, ist im Grundsatz eine Frage, die der Einzelne zu entscheiden hat. Somit sind die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberverbände von Hause aus private Vereinigungen. Das Ergebnis ihrer Tätigkeit in ihrem Mit- und Gegeneinander ist zunächst, primär, ein Ergebnis für ihre Mitglieder. Die Belange der Angehörigen der Verbände kennzeichnen nicht allein ihre Interessenlage. Alle Angehörigen der Schichten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für die der einzelne Verband nach seiner Organisationsstruktur tätig sein will, befinden sich typisch in der gleichen Situation. Die Zusammenschlüsse verfolgen also Belange, die in der Sache über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus bedeutungsvoll sind. Die mit der Vereinigung gegebene Durchsetzungsmöglichkeit hat sowohl die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberseite. In dem Bestreben, ihre divergierenden Belange zur Geltung zu bringen, stehen sich die Verbindungen antagonistisch gegenüber. Das führt, anders als in der Körperwelt, nicht zu einer Blockade. Jede Seite will im Interesse ihrer Mitglieder möglichst wenigstens etwas erreichen. Da Durchsetzungskraft gegen Durchsetzungskraft steht, sind die Zusammenschlüsse gehalten, wechselseitig zu geben und zurückzustecken. Kein Verband kann die existentielle Situation seiner Angehörigen einer
Kap. IV: Der Gedanke der TV-Autonomie
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unmittelbaren Gefährdung aussetzen (für den Bereich der Arbeitgeber geht es vor allem um die existentielle Situation des Unternehmens als Wirtschaftsgröße und um ein sachgerechtes Arbeiten der Dienststelle); kein Verband kann aber auch anerkennenswerte Belange derer zur Seite stellen, die sich zur Wahrung und Förderung ihrer Interessen in ihm zusammengeschlossen haben. Das Ergebnis ist typisch ein Kompromiß. Wegen des Gegeneinanders von Durchsetzungskraft zu Durchsetzungskraft wird es sich um einen ausgewogenen oder doch um einen vertretbaren Kompromiß handeln. Ihn tatsächlich herbeizuführen sind (wenn nicht in Ausnahmefällen die volle Verwirklichung der einen oder der anderen Forderungen geboten ist) die Organisationen jedenfalls ethisch verpflichtet. -Die jeweiligen Interessen selbst dürfen nicht illegitim und illegal sein; ihre Verfolgung ist untersagt. - Das aufgezeigte Ergebnis ist daher anerkennenswert. Bei der Gleichheit der Interessenlage der in den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen zusammengeschlossenen Mitglieder mit den sonstigen Angehörigen der der Organisationsstruktur der Verbände entsprechenden Schichten des Arbeits- und Wirtschaftslebens hat der Kompromiß ebenfalls für sie Gewicht. Es ist eine auch für sie anerkennenswerte Regelung geschaffen worden. Die Lösung der Interessenspannungen und Konflikte in den Arbeitsbeziehungen der Mitglieder der Vereinigungen führt gleichfalls zu einer Lösung für die anderen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In einer konsequenten Ausfaltung des Gedankens der Interessenverfolgung durch Zusammenschluß erfaßt das Ergebnis der Tätigkeit der Verbände nicht nur ihre Mitglieder, sondern transzendiert in den Raum der Gesellschaft. Dieses Transzendieren ist deswegen innerlich gerechtfertigt, weil es die Vereinigungen der Sachnahen, die Koalitionen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, gewonnen haben. Der Kompromiß wird erzielt von Größen, deren Funktionäre besonders kenntnisreich sind und daher am ehesten zu einer annehmbaren Regelung kommen können. Das autonome Wirken der sachnahen Vereinigungen verschafft ihrer Lösung zudem eine zusätzliche Autorität. Die auf einer privaten Interessenverfolgung als ihrer Grundlage beruhende TV-Autonomie ist eine wertvolle Institution zur Ordnung eines wichtigen Bereichs der Gesellschaft. Sie dient durchweg (wenn manchesmal auch nur mehr oder weniger) der Gesamtgemeinschaft des Staates mit einem Erfolg, wie er in der Regel anderweitig nicht zu erreichen ist. Sie ist ein hohes sozialethisches Gut 152. Daran ändert nichts, daß die Vereinigungen als assoziative Gebilde die Möglichkeit zur Ausübung von Druck gegenüber ihren Kontrahenten haben und daß sie im Interesse ihrer Mitglieder in gegebenem Falle hiervon 152
Vgl. auch Kissel, NZA 86, 80.
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Kap. IV: Der Gedanke der TV-Autonomie
Gebrauch machen. Machtausübung gegenüber anderen muß in sich nicht unethisch sein. Hier dient sie, mag sie im Hintergrund bleiben oder tatsächlich eingesetzt werden, im Ergebnis der Herbeiführung einer dem Staatswesen (grundsätzlich) betont zugute kommenden Ordnung. Weitere Voraussetzung ist allerdings noch, daß die konkrete Aktivierung eines tatsächlichen Drucks einschließlich seiner negativen Nebeneffekte im angemessenen Verhältnis zu der zu gewinnenden Ordnung steht. Die private im Zusammenschluß erfolgende Interessenrealisierung mit ihrem gleichzeitig für die Allgemeinheit bedeutungsvollen Ergebnis zeigt, daß die TV-Autonomie und folglich auch die Koalitionen keine streng privaten Zwecken dienende Größen sind. Von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen kann man nicht sprechen. Die TV-Autonomie und die Verbände haben ihren Platz im Zwischenraum zwischen dem öffentlichen Recht und dem privaten Recht und müssen also entsprechend gekennzeichnet werden. In einem weiten und sogar im spezifischen Sinne des Wortes zählen sie zur Ordnungsstruktur der Allgemeinheit. Da die Vereinigungen im Ausgangspunkt private Zusammenschlüsse sind, sind ihre Organisationsverhältnisse und das Abstecken ihres Wirkungsbereiches ihre und ihrer Mitglieder Angelegenheiten. Die sachgemäße Verfolgung der Belange der tatsächlichen und potentiellen Organisationsangehörigen muß allerdings sichergestellt sein. Für Einheitsverbände heißt dies , daß sie die Interessen aller ihrer Gruppen und unter Umständen auch einzelner Mitglieder angemessen zu berücksichtigen haben. Sie dürfen im Verhältnis ihrer Angehörigen zueinander nicht die einen verfehlt bevorzugen oder benachteiligen. Ein Arbeitgeberverband, der neben größeren Unternehmen ebenfalls kleinere erfaßt, muß bei seinen Abmachungen mit der Arbeitnehmervereinigung z. B. die etwaige geringere wirtschaftliche Leistungskraft der letzteren berücksichtigen; innerhalb eines Regelungswerkes sind erforderlichenfalls gestaffelte Arbeitgeberleistungen gegenüber den Arbeitnehmern vorzusehen. Eine Arbeitnehmerkoalition, die neben sonstigen Arbeitnehmern solche in qualifizierten Funktionsstellen organisiert, darf die legitimen Belange der letzteren nicht vernachlässigen. Mit ihrer Organisationsstruktur haben sich die Vereinigungen gegenüber allen ihren Angehörigen ethisch und rechtlich verpflichtet, ihre jeweiligen Interessen ausgewogen zu wahren und zu fördern.
Kapitel V
Die Tragweite der TV-Autonomie nach einfachem Recht Einzelfragen 1. Die Regelungsbereiche der TV-Autonomie nach dem TVG Mit den nach dem TVG bestehenden Möglichkeiten zur Schaffung tarifvertraglicher Bestimmungen ist ein zentraler Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit der Ordnung durch die TV-Parteien zugewiesen. a) Inhalt, Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen
Der Regelungsbereich des Inhalts des Arbeitsverhältnisses entspricht in besonderer Weise dem Koalitionsgedanken einer Assoziation der Einzelnen, insbesondere von der Sicht der Arbeitnehmerschaft her. Es steht die Person des Arbeitnehmers maßgebend im Mittelpunkt. Vom Standpunkt des Arbeitgebers aus liegt ebenfalls ein wichtiges Feld vor. Die nähere Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses, wozu auch eine Beteiligung am Produktivvermögen und eine Gewinnbeteiligung gehören, hat für den Betrieb und das Unternehmen tragende Bedeutung. Das alles gilt auch für Fragen seiner Beendigung; sie berühren in gleicher Weise die Angehörigen der einen wie der anderen Seite des Arbeitslebens. Die Tragweite der Abschlußregelungen tritt demgegenüber zurück; betrifft aber gleichwohl kein Feld, das mehr oder weniger vernachlässigt werden könnte. Es sei etwa auf Abschlußgebote zur Neu- und insbesondere zu einer Wiedereinstellung hingewiesen. Letztere spielen zwar bei legitimen Arbeitskämpfen, die grundsätzlich nur zu einer Suspendierung der Arbeitsverhältnisse führen, keine Rolle mehr, können jedoch etwa nach wilden Streiks angebracht sein. Da nach der Rechtsprechung des BAG selbst bei den seltenen Fällen einer lösenden Aussperrung die Abeitnehmer, soweit die Arbeitsplätze noch vorhanden sind, im allgemeinen wieder eingestellt werden müssenm, dürften tarifvertragliche Regelungen für die Zeitpunkte der Wiedereinstellunghilfreich sein. Abschlußverbote werden z. B. bedeutsam, wenn in Anerkennung eines legitimen Arbeitgeberinteresses (Konkurrenztätigkeit zum Nachteil des Arbeitgebers des Hauptarbeitsverhältnisses; ganz erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers allgemein oder für 153
BAG 23, 292 (316).
9 G. Müller
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
bestimmte Arbeiten, in diesem Falle auch legitim erfolgender Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst) entsprechende Tarifbestimmungen vereinbart werdenls4 • Mit den tariflichen Regelungen zum Inhalt, zum Abschluß und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses steht ein für die Allgemeinheit wichtiger Bereich in Rede. Sämtliche Fragen sind bei der gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeitnehmerschaft und der volkswirtschaftlichen Aufgabe der Unternehmen von erheblicher Tragweite. Sozialer Friede und Unternehmenseffektivität müssen rechtlich und ethisch die Eck- und Richtungspunkte für die Tarifbestimmungen sein; die sinnvolle Harmonisierung bei der Aktualisierung dieser Maßstäbe ist in nicht wenigen Fällen eine schwierige, aber trotzdem unerläßliche Aufgabe der TV-Parteien. Abschlußgebote werden vielfach besonders zu schützende Gruppen der Arbeitnehmer erfassen; das dient von Hause aus dem Zusammenhalt der Gesellschaft, der Verminderung oder sogar der Aufhebung von Spannungen in ihr und damit dem Gemeinwohl. Abschlußverbote können Unternehmen vor einer unfairen Tangierung durch die eigenen Arbeitnehmer schützen und diese vor sich selbst, was ohne weiteres sachgemäß ist. Beendigungsnormen schließlich werden bei einem ausgewogenen Ausgleich der Interessen der Arbeitnehmer hier und der Arbeitgeber/Unternehmer dort in besonderer Weise den sozialen Frieden sichern und kommen so dem Frieden innerhalb der Gesellschaft überhaupt zugute. Bei den Regelungsfeldern mit ihren legitimen Belangen je der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite haben deren Angehörige an dem Regelungsergebnis ein außerordentliches, man kann sagen, ein sehr persönliches Interesse. Damit sind, bei aller leicht eintretenden harten Konfrontation, an sich auch die Möglichkeit und die Voraussetzung für besonders sachgerechte Kompromisse gegeben, und gleichzeitig strukturieren die Sachnahen wichtige Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Insgesamt läßt sich vielleicht sagen, daß der in der TV-Autonomie liegende ethische Gedanke hier gut, möglicherweise sogar sehr gut zum Ausdruck kommt. Die in den Koalitionen zusammengeschlossenen Mitglieder derselben werden durch und über den Verband im eigenen Interesse tätig. Die unmittelbar persönlichen 154 Siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 RZ 224, 225 , 219. Abschlußverbote werden im allgemeinen Nebentätigkeiten nicht unterbinden können , die beim Ergehen des Verbotes bereits praktiziert werden. Der Arbeitnehmer hatte, sofern sich nicht aus dem bereits bestehenden Arbeitsvertrag in Berücksichtigung aller Umstände etwas anderes ergibt, insoweit rechtlichen Handlungsspielraum, der Durchgriff auf die realisierte Nebenbeschäftigung wäre eine Beeinträchtigung einer legal bestehenden Position. Bei einer wesentlichen Beeinträchtigung des Arbeitgeberinteresses, etwa auch wegen mangelnder Arbeitsfähigkeit infolge Überlastung des Arbeitnehmers, hat der Arbeitgeber die Möglichkeit zu kündigen, u. U. kann er die außerordentliche fristlose Kündigung aussprechen. Ob diese Möglichkeit etwa wegen längerer Duldung des Verhaltens des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt, ist nach Lage des Einzelfalles zu beurteilen.
I. Die Regelungsbereiche nach dem TVG
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Belange der Verbandsangehörigen müssen bei der antagonistischen Stellung der TV-Parteien in aller Regel die Verbandsfunktionäre in einer besonderen Weise anhalten, einen sachlich getragenen Kompromiß zu finden, um zu einem für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer mindestens vertretbaren Ergebnis zu kommen. Es tritt, wie die Erfahrung zeigt, in der Tat im allgemeinen auch ein. Die Tätigkeit der Sachnahen schafft für wichtige wirtschaftlichsoziale Bereiche eine haltbare Ordnung. b) Betriebliche Fragen
Des weiteren kann der TV betriebliche Fragen regeln. Der Begriff der betrieblichen Vorschriften selbst wird immer noch nicht allseits übereinstimmend definiert. Vom Wortlaut her, dem im Blick auf das Postulat der Rechtssicherheit nächstliegenden Anhaltspunkt für die Auslegung, geht es um die Strukturierung des Betriebs und damit des Unternehmens insgesamt oder doch um sachliche und personelle, dabei im gegebenen Falle gleichzeitig räumliche Teilaspekte desselben. Diese Auslegung dürfte darüber hinaus gesetzessystematisch zwingend erscheinen. Wenn § 1 Abs. 1 TVG als Regelungshereich der TV-Autonomie auf der einen Seite das Arbeitsverhältnis in seinen verschiedenen Beziehungen und auf der anderen Seite den Bereich des Betriebsverfassungsrechts als Regelungsmaterie angibt, kann mit dem Begriff des Betrieblichen letztlich nur das allgemeine betriebliche Geschehen gemeint sein. Es geht um den Bereich des Betriebes, vor allem um seine Personalstruktur und damit um die Zusammensetzung der Belegschaft und die funktionale Verknüpfung ihrer Angehörigen. Deswegen zählen ferner hierher die Bedingungen, unter denen der Betriebszweck realisiert und unter denen somit die Arbeitsleistung erbracht wird; es geht um die Regeln zum Verhalten und um die Ordnung im Betrieb. Daß diese Fragen jedenfalls mittelbare, in nicht wenigen Fällen sogar unmittelbare Bedeutung für die Erreichung des Unternehmenszweckes haben, ist offensichtlich. Somit steht eine tarifvertragliche Strukturierung der Organisationsgewalt des ..(\.rbeitgebers/Unternehmers in Rede. Es sollen allgemeine Bedingungen für den Ablauf des betrieblichen Geschehens geschaffen werdentss. Damit stellt sich die Frage, ob mit diesem den TV-Parteien zuerkannten Regelungsbereich eine rechtlich verfehlte und sozial-ethisch mindestens bedenkliche Tangierung der Aufgabe der Unternehmensleitung eröffnet ist. Die Unternehmensleitung ist für das Unternehmen umfassend verantwortlich, also für den es tragenden Personalverbund und damit auch für die sozialhumane Situation der Arbeitnehmer. Bei dem jetzt in Rede stehenden Regelungshereich ist aber doch die Situation der Arbeitnehmer als Menschen entschieden und betont angesprochen, wenn auch anders und vielfach wohl auch 1ss Siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, § I RZ 243. 9*
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
nicht derart existentiell wie bei der Regelung zum Inhalt, zum Abschluß und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Es steht die sozial-humane Seite von Betrieb und Unternehmen in einer allgemeinen Weise zur Debatte. Somit ist es legitim, und zwar nicht zuletzt in sozialethischer Hinsicht, daß die Koalitionen als die Verbände der wiederum in ihren besonderen Belangen Angesprochenen und damit als die Zusammenschlüsse der Sachnahen einschlägige Regelungen treffen. Es muß sich dabei auch nicht nur allein um Rahmenbedingungen handeln. Das allgemeine Betriebsgeschehen kann detailliertere Vorschriften erfordern, jedenfalls können sie des öfteren angebracht sein. Schließlich lassen sich dem Feld betrieblicher Regelungen zuschreiben einheitliche Ordnungen wie Vergütungs- und Entlohnungssysteme, Urlaubsordnungen, Bestimmungen zur täglichen Arbeitszeit, der Lage der Pausen, der Zeit der Lohnzahlungen und Kündigungsfristen, sofern dieserhalb einheitliche Bestimmungen mindestens tunlieh erscheinen156. Der weit gespannte Begriff der Ordnung des Betriebes bezieht sich immer auf dessen Organisation, und diese Organisation selbst erfaßt in erheblichem Maße einen wichtigen persönlichen Lebensbereich der Arbeitnehmer. Das ist sogar bei einer Festlegung der Zeitpunkte für die Entgeltzahlung ersichtlich; es wird die persönliche und u. U. existentielle Situation der Arbeitnehmer mindestens berührt. Man kann sagen, daß sämtliche Fälle der betriebsverfassungsgesetzlichen Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten hier ihren Platz haben; die Mitbestimmung zu Grundsätzen über das betriebliche Vorschlagswesen bezieht sich sogar auf eine sehr persönliche Anteilnahme der Arbeitnehmer am Betriebs- und Unternehmensgeschehen. Ferner sind erfaßt die allgemeinen personellen Angelegenheiten und die Berufsbildung in der näheren Aufzählung nach dem BetrVG und nicht zuletzt die allgemeine Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung einschließlich angemessener Maßnahmen zur Abwendung, Milderung und zum Ausgleich von besonderen Belastungen157, somit also auch die Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Personelle Maßnahmen all dieser Art gestalten die allgemeine Ordnung des Betriebs sogar in besonders maßgeblicher Weisels&. Stets steht eine sozial-humane Situation der Belegschaft einschließlich einer arbeitsfunktionalen Gliederung derselben in Rede. Bei ihrer Gestaltung verlangen Gerechtigkeitsmaximen wie der Gleichbehandlungssatz, u. a. mit seinem Postulat sachgerechter oder doch wenigstens sachlich vertretbarer Differenzierungen, ihre Beachtung. Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 244. Siehe die mit den §§ 92 ff. , 96 ff., 90 f. BetrVG umschriebenen Tatbestände. Der jeweilige Standort der Regelungen im Betriebsverfassungsrecht erklärt sich aus der je verschiedenen Art der Mitwirkung des Betriebsrats. Tarifrechtliche Regelungen zu betrieblichen Fragen, die die Beteiligung des Betriebsrats vorsehen, werden angebrachtermaßen zu dem in § 1 Abs. 1 TVG eigens aufgeführten Komplex der betriebsverfassungsrechtlichen Fragen gezählt. Hierzu siehe oben sofort anschließend. 158 Die einschlägigen Gliederungen und Untergliederungen des BetrVerfG dienen einer näheren systematischen Übersicht; siehe auch Anm. 157. 156 157
1. Die Regelungsbereiche nach dem TVG
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Das die betrieblichen Fragen betreffende Regelungsfeld hat seine Bedeutung in gleicher Weise für Arbeitnehmer und Unternehmer. Es geht um personenhafte Belange der Arbeitnehmer, und die Ordnung des Betriebs und damit die des Unternehmens ist eine wichtige Größe für die Unternehmensleitung. Ein unter keinen Umständen zu vernachlässigender Bereich sowohl des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit wie der Wirtschaft ist angesprochen. Zu akzeptierende Regelungen gerade der Sachnahen sind ein rechtlicher Beitrag für das volkswirtschaftliche Geschehen mit seiner Tragweite für die Gesellschaft und für das Gemeinwohl. c) BetriebsverfassungsrechtUche Fragen
Betriebsverfassungsrechtliche Fragen haben zum Gegenstand die Rechtsstellung der Arbeitnehmerschaft im Betrieb einschließlich der Rechtsstellung ihrer Organe, deren Kompetenzen und ihre Stellung gegenüber dem Arbeitgeber/Unternehmer159. Bei seiner Materie betrifft das Betriebsverfassungsrecht ebenfalls das Unternehmen; der Betrieb wird in seiner Gänze nur erlaßt, wenn man ihn als eine Größe des und innerhalb des Unternehmens sieht. Besonders deutlich ist der Unternehmensbezug beim Gesamtbetriebsrat. Bei der Bildung eines Konzernbetriebsrates liegt sogar über das einzelne Unternehmen hinaus ein Bezug zum Konzern als einer Einheit vor. Nicht zuletzt wird die Mitwirkung in wirtschaftlichen Angelegenheiten und dabei die Mitbestimmung bei der Erstellung eines Sozialplanes zutreffend als ein Geschehen auf der Ebene des Unternehmens gesehen160. Fragen des Unternehmensverfassungsrechts zählen allerdings niemals zum Betriebsverfassungsrecht. Sie betreffen die Organisation und Struktur des Unternehmens als solchen, und zwar einschließlich einer dort angesiedelten Mitbestimmung. Das Betriebsverfassungsrecht soll die Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft des Betriebs und des Unternehmens gegenüber dem Arbeitgeber/ Unternehmer zur Geltung bringen. Gleichzeitig ordnet es den Verbund Unternehmen als eine soziale Größe. Damit ist seine Materie der TV-Autonomie zugänglich; es geht um einen sehr bedeutsamen Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die Situation der Arbeitnehmerschaft im Unternehmen gegenüber der Unternehmensleitung und die Möglichkeit der InteressenSiehe Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 248. Siehe § 106 ff. BetrVG, § 111 ff. BetrVG, des näheren zum Sozialplan § 112 Abs. 4 BetrVG. Der Bezug des Betriebsverfassungsrechts zum Unternehmen kommt im Falle des § 118 Abs. 1 BetrVG ebenfalls zum Ausdruck. Die Eigenart des Tendenzunternehmens steht der vollständigen Anwendung des gesetzlich geregelten Betriebsverfassungsrechtes entgegen, bei den in § 118 Abs. 2 BetrVG genannten Unternehmen entfällt es sogar schlechthin. Auch im Falle eines mehrbetrieblichen Unternehmens, bei dem etwa nur ein einziger Betrieb - Tendenzbetrieb - ist, schlägt hinsichtlich dieses Betriebes ein Unternehmensziel durch. 159 160
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wahrungjeder Seite im Unternehmensverbund ist zu regeln, und die Kooperation zwischen Leitung und Mitarbeitern ist in ihrer Bedeutung zu beachten. Der Kooperationsgedanke ist bei dem Sozialverbund Unternehmen als dessen funktionale Grundlage von der Sache her unerläßlich vorgegeben. Die interne Gestaltung des Unternehmens als einer Einheit, die gleichzeitig von Spannungen durchzogen ist, ist das Themai6I. Die Regelung der Interessenwahrnehmung, aber auch eine nähere Gestaltung der Kooperation den Verbänden als den Vereinigungen der Sachnahen zu eröffnen, ist nach alledem sinnvoll und sogar angebracht. Der Arbeitnehmer als Einzelner ist zur Schaffung betriebsverfassungsrechtlicher Regelungen sozusagen nicht handlungsfähig. Das hat mit einer irgendwie gearteten Unterlegenheit des Arbeitnehmers nichts zu tun. Die Regelungsmaterie ist durch einen kollektiven Tatbestand gekennzeichnet. Der einzelne Arbeitnehmer vermag die dann zu beachtenden Fragen, nicht zuletzt die Belange der Mitarbeiterschaft insgesamt, jedenfalls durchweg nicht genügend sicher zu erfassen. Die Verbände sind dagegen gerade auch bei dem hier in Rede stehenden Sachverhalt von vornherein in der Lage, den erforderlichen Überblick zu gewinnen; sofern sie institutionalisierte Vereinigungen sind, liegt bei ihnen der "gebündelte Sachverstand" vor. Deswegen kann man ebenfalls von einer Hilfe durch die über die Assoziation erfolgende Selbsthilfe sprechen. Eine Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen durch die TV-Parteien ist als solche sinnvoll, die positivrechtliche Zuweisung der Regelungsmaterie ist auch ethisch zu bejahen. Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit als der pnmaren Maxime des Betriebsverfassungsrechts steht der Erzielung tariflicher betriebsverfassungsrechtlicher Regelungen ini Wege einer antagonistischen Prozedur nicht entgegen. Die Sichten zur näheren Ausgestaltung des Postulates und der näheren rechtlichen Konkretisierung der Gesamtmaterie können ohne weiteres divergieren, und es wird dies des öfteren auch tatsächlich der Fall sein. Zudem sind je nach dem Sachverhalt Fragen der Interessenverfolgung im Verhältnis der Betriebspartner untereinander Gegenstand des TV. Schließlich betreffen die Materien zum Inhalt, zum Abschluß und zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie zu betrieblichen Fragen ebenfalls Gegenstände, die durchweg spannungsgeladen sind, aber doch einer befriedenden Ordnung zugeführt werden sollen. Alles in aqem liegen die Dinge ähnlich wie bei der parlamentarischen Gesetzgebung. In den gesetzgebenden Körperschaften ist es durchweg sehr streitig, welchen Inhalt ein Gesetz haben soll und wie eine Formulierung des näheren zu fassen ist, zuweilen sogar, ob überhaupt ein Gesetz zu erlassen sei. Ist es aber einmal verabschiedet, wird es von der Rechtsgemeinschaft durchweg anerkannt. Sollte seine Geltung einmal beim 161 Die Einheit des Unternehmensverbundes begründet doch auch die gesellschaftsrechtliche Seite des Betriebsverfassungsrechts.
1. Die Regelungsbereiche nach dem TVG
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Verfassungsgericht angegriffen werden, würde das an der grundsätzlichen Akzeptanz nichts ändern. Das Betriebsverfassungsrecht ist allerdings weitgehend gesetzlich normiert. Dies hängt mit seiner großen gesellschaftspolitischen Bedeutung zusammen; die ist mit der Organisation des Binnen-Bereichs der Unternehmen und den Kompetenzen der Organe der Belegschaften gegeben. Andererseits sind immer noch tarifvertragliche Regelungen möglich. Im Bereich wirtschaftlicher Angelegenheiten ist eine derart begründete Mitwirkung in Form einer Beratung mit dem Betriebsrat zur sachgerechten sozialen Bewältigung nur der Unternehmensleitung zustehenden Entscheidungen möglich; in personellen Angelegenheiten können über das Gesetz hinaus Erweiterungen der Mitwirkungsbefugnisse des Betriebsrats erfolgen, wenn auch abermals unter Beachtung eines Kernbereichs der dem Unternehmer allein zustehenden Befugnisse. Nicht zuletzt ist der TV ein Platz für organisatorische Vorschriften zur näheren Realisierung der Mitwirkungsrechte des Betriebsrates und für Bestimmungen zur Organisation der betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstelle und zum Verfahren vor ihr. § 76 Abs. 8 BetrVG sieht sogar vor, daß anstelle der Einigungsstelle aufgrund eines TV eine tarifliche Schlichtungsstelle tritt, und durch einen TV können, wie § 86 BetrVG ausdrücklich sagt, die Einzelheiten des in den §§ 84, 85 BetrVG angesprochenen Beschwerdeverfahrens geregelt werden. Durch einen TV dürfte sich u. a. schließlich vorsehen lassen, daß das Anhörungs- und Vorschlagsrecht des Arbeitnehmers und die Einsicht in die Personalakten grundsätzlich in einem bestimmten Verfahren unter Einschaltung des Betriebsrats realisiert werden162. In den letzteren Fällen kommt es allerdings auf das Ausmaß und das Gewicht der Einschaltung des Betriebsrats an. Danach entscheidet es sich, ob man von einer betriebsverfassungsrechtlichen oder von einer Regelung zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses u. U. vielleicht zu betrieblichen Fragen sprechen kann. Die Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten von der Art, wie sie in§ 87 BetrVG genannt sind (vorausgesetzt, es finden sich weitere entsprechende Tatbestände) betrifft allerdings keine betriebsverfassungsrechtliche Frage. Es liegt eine Regelung betrieblicher Angelegenheiten vor. Zu betriebsverfassungsrechtlichen Fragen i. S. des § 1 Abs. 1 TVG zählen nicht personalvertretungsrechtliche Fragen. Die tragenden Gedanken des Betriebsverfassungsrechts und des Personalvertretungsrechts stimmen zwar überein. In einem wechselseitigen Verhältnis geht es um die Belange der Bediensteten der Dienststellen und, repräsentiert durch ihre Leitung, um die 162 Zu all dem siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 254 ff. Bei der Einsichtnahme in die Personalakten muß in Angelegenheiten, die den Intimbereich des Arbeitnehmers betreffen m. E. allerdings auf sein Verlangen von der Beteiligung des Betriebsrats abgesehen werden. Die aus sonstigen Gründen erfolgende Unterrichtung der Betriebsvertretung in letzteren Fällen steht auf einem anderen Blatt.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Belange der letzteren. Vor allem gilt gleichfalls der umfassende Grundsatz der Kooperation; die Bediensteten tragen in Erfüllung ihrer Aufgaben die Dienststelle mit. Die Besonderheit des Personalvertretungsrechts ist jedoch, daß es öffentlich-rechtliche Einrichtungen (mit-)strukturiert und damit seinen Platz grundsätzlich im Raume der Organisation der hoheitlichen Gewalt hat. Dienststellen nehmen, unmittelbar oder mittelbar, Aufgaben der Gesamtgemeinschaft, des Staates, wahr. Das Personalvertretungsrecht als eine innere Ordnung staatlicher Funktionsstellen wirkt sich auf die Erfüllung dieser Aufgaben aus. Dann geht es aber an sich nicht an, seine Regelungen auch nur teilweise den in antagonistischer Stellung zueinander stehenden Verbänden zu überlassen, der staatliche Gesetzgeber ist kompetent. Hinzu kommt, daß die deutsche Rechtsordnung eine zahlreiche Beamtenschaft mit, entsprechend seiner rechtlichen Stellung, dem Beamten als staatlichem Organ kennt. Seine Stellung verhindert zwar nicht seinen Zusammenschluß in Koalitionen, muß aber doch im Personalvertretungsrecht unbedingt beachtet werden und gewahrt bleiben. Von den Vereinigungen ausgehende Bestimmungen einschlägiger Art könnten die Wahrung dieses Erfordernisses bereits im Ansatz g'efährden. Die Erfüllung vieler staatlicher Aufgaben könnte auch als eine Dienstleistung gesehen werden, die mehr oder weniger mit dem Erbringen von Dienstleistungen im privaten Bereich vergleichbar ist. Insofern ließe sich über ein der Regelung durch die Koalitionen offenstehendes Personalvertretungsrecht, das besser als eine Erscheinungsform des Betriebsverfassungsrechtes bezeichnet würde, jedenfalls reden16J. Soweit die spezifische staatliche Hoheitsgewalt in Dienststellen in ihrer Eigentümlichkeit in Erscheinung tritt, bleibt aber ohne irgendwelche Abstriche allein die Gesetzgebung zur Ordnung der Materie berufen. d) Gemeinsame Einrichtungen
Schließlich liegt ein tarifautonomes Regelungsfeld mit den gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien vor. Es ist nicht in§ 1 Abs. 1 TVG angeführt, die Zuständigkeit der TV-Parteien ergibt sich vielmehr aus § 4 Abs. 2 TVG. Der TV kann derartige Einrichtungen vorsehen und regeln. Diese Regelungen gelten dann in der Formulierung des Gesetzes "auch unmittelbar und zwingend für die Satzung dieser Einrichtung und das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern." Ihre Satzung verleiht den gemeinsamen Einrichtungen den Chartakter für sich bestehender Größen. Sie können unmittelbar durch den Rechtsakt des TV-Abschlusses ins Dasein gerufen werden; der TV trägt für die Dauer des Bestehens der Einrichtung also ihre Existenz. Insofern ist er ein ständig wirkender Rechtsakt mit der 163
Vgl. G. Müller, ArbuR 55, 143 ff.
1. Die Regelungsbereiche nach dem TVG
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einer Norm vergleichbaren Konsistenz. Mit der Formulierung, daß TV-Parteien gemeinsame Einrichtungen "vorsehen" können, ist nämlich nicht gesagt, sie könnten sich lediglich schuldrechtlich zu ihrer Bildung verpflichten. Eine Zweistufigkeit als unerläßliche Voraussetzung für die Schaffung der Einrichtung erscheint überflüssig und wäre daher als zwingendes Rechtsgebot nicht recht verständlich. Der entscheidende Akt ist ihre Errichtung als solche. Allerdings könnten die TV-Parteien zunächst auch nur eine schuldrechtliche Bindung eingehen, eine gemeinsame Einrichtung zu schaffen. Das ist etwa dann angebracht, wenn sie sie auf jeden Fall ins Leben rufen wollen, über ihre nähere Strukturierung jedoch noch nicht einig sind oder ihre Gestaltung und ihre Funktion noch gründlich überlegen wollen. Als betriebliche Regelungen lassen sich die Bestimmungen hinsichtlich der gemeinsamen Einrichtungen nicht auffassen. Es geht nicht, selbst nicht im weiteren Sinne, um eine Strukturierung des Betriebs und Unternehmenst64. Die gemeinsame Einrichtung muß als eigenständiges Gebilde eine eigene Organisation haben. Weil die TV-Parteien sie ins Dasein rufen und ihre Organisation ein für sie konstitutiver, notwendiger Faktor istt6s, muß letztere ebenfalls durch den TV festgelegt werden. Auch wenn sich die TV-Parteien zunächst schuldrechtlich zu ihrer Schaffung verpflichten, bleibt ein TV geboten; die Satzung muß im Willen beider Seiten ihre Grundlage haben . Die TVParteien müssen des weiteren die Möglichkeit haben, ihrer Einrichtung gemeinsam bindende Weisungen zu erteilen. Ohne eine irgendwie geartete Unterordnung unter die TV-Parteien wäre sie völlig verselbständigtt66. Die Zweckbindung des Gebildes als ein unerläßliches Moment derselben muß auf jeden Fall durch den TV und damit gemeinsam von den TV-Parteien festgelegt werden. Zwischen der Einrichtung einerseits und den Arbeitgebern und Arbeitnehmern andererseits bestehen unmittelbar wirkende, des näheren tarifvertraglich begründete Rechtsverhältnisse; auf die Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist, wie sich aus der letzten Aussage des § 4 Abs. 2 TVG ergibt, das Gebilde hingeordnet. Der TV hat deswegen die einschlägige Ordnung unmittelbar zu regeln. Der inhaltliche Sinn gemeinsamer Einrichtungen ist, jedenfalls nach einer weit verbreiteten Ansicht, dem einzelnen Arbeitnehmer Ansprüche zu geben und ihre Erfüllung sicherzustellen, Ansprüche, die der einzelne Arbeitgeber aus organisatorischen, psychologischen oder finanziellen Gründen faktisch nicht erbringen kann. Mit den Einrichtungen werden eigene Rechtsbeziehungen zwischen ihnen und den Arbeitgebern sowie den Arbeitnehmern geschaffen. Die Unterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit, insbesonSiehe auch Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 260. Eine Einrichtung ohne nähere Organisation wäre ein nicht greifbares Gebilde. Sie wäre im Ergebnis rechtlich ein Nichts. 166 Die weit überwiegende Meinung des Schrifttums vertritt allerdings die m. E. nicht unbedenkliche Ansicht, Organisation und Verwaltung müßten nicht paritätisch gestaltet sein; Nachweise bei Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 263. 164 165
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
dere durch Beiträge der Arbeitgeber sowie die Gewährung der Leistungen an die Arbeitnehmer ist eine an Stelle der TV-Parteien übernommene Obliegenheit der Institutioni67 . Ihre Leistungen sind eindeutig ein Ergebnis gemeinsamen Handeins der Vereinigungen des Arbeitslebens. Die Einrichtungen realisieren im Bereich des Koalitionswesens in einer betonten Weise, durchweg zugunsten der Arbeitnehmer, die Kooperation zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite. Daß den Arbeitnehmern unmittelbar Ansprüche ihnen gegenüber zustehen, dürfte ihre innere Begründung in der rechtlichen Verfestigung eines historisch gewordenen Sachverhaltes haben. Die gemeinsamen Einrichtungen im Baugewerbe, nämlich die auf den damaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft Bau - Steine - Erden, Georg Leber, zurückgehende Urlaubskasse, die Lohnausgleichskasse und die Zusatzversorgungskasse sowie die gemeinsame Einrichtung im Bereich der Chemiewirtschaft zur zusätzlichen Unterstützung arbeitsloser Chemiearbeiter und vergleichbare Erscheinungen u. a. im Bergbau und in der Land- und Forstwirtschaft sind prägnante Beispiele für die sich in der Institution manifestierenden Gedanken, nicht zuletzt den der Kooperation. Die gemeinsamen Einrichtungen betreffen und regeln jedenfalls im allgemeinen vermögenswirksame Leistungen zugunsten der Arbeitnehmer, wobei die Leistungen in einem, wenn auch ggf. weiten Zusammenhang mit ihrem Arbeitsverhältnis stehen. Damit sind Arbeitsbedingungen i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG von den TV-Parteien zugleich geschaffen und geordnet. Ihre betonte Kooperation vollzieht sich im Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit. Das Regelungsfeld und die Gestaltung der Regelung in Kooperation, auch eine paritätische und sogar eine, wenn sie zulässig sein sollte, nichtparitätische Organisation und Verwaltung (letzteres allerdings m. E. nur bei dem Bestehen wenigstens eines gemeinsamen allgemeinen Aufsichts- und Weisungsrechts) sowie die Unterhaltung der gemeinsamen Einrichtung selbst sind sozialethisch sehr anzuerkennen. Mag es vergleichbare öffentlich-rechtliche Körperschaften geben, festzuhalten bleibt, daß sie im wesentlichen ein Kind der TV-Autonomie sind. Die Sachnahen haben in besonderer Weise die Möglichkeit, derartige Gebilde Wirklichkeit werden zu lassen, und bei ihnen vor allem ist der Gedanke wirksam geworden. Eine sozialethische Betrachtung hat dies zu würdigen. Wie das betriebsverfassungsrechtliche Leben die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Betriebspartner verlangt, verlangen auch die gemeinsamen Einrichtungen die ständige vertrauensvolle Zusammenarbeit der TV-Parteien. Die gleichen Gründe, die dort das antagonistische Tarifverfahren legitimieren, verlangen jetzt ebenfalls ihre Beachtung. Die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung als solcher scheint jedenfalls bisher zwischen den Koalitionen nicht kontrovers gewesen zu sein; sie wurde von vornherein als notwendig 167
Zu dem Ganzen siehe Wiedemann/Stumpf, TVG , § 1 RZ 261 ff.
2. Tragweite der Regelungsbereiche
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oder doch als angemessen bejaht. Sollte die Bildung einer gemeinsamen Einrichtung wirklich einmal im Streit sein, ist das nach dem oben Gesagten aber doch ohne Bedeutung. 2. Tragweite der Regelungsbereiche
Die in ihrer Konkretisierung durch das TVG der TV-Autonomie eröffneten Regelungsfelder scheinen in ihrer Gesamtheit den sozial-humanen Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit abzudecken. Mindestens erfassen die Normierung des § 1 Abs. 1 TVG und des § 4 Abs. 2 TVG die wesentlichen und besonders wichtigen Bereiche des Raumes der weisungsgebundenen Arbeit. Die dieserhalb in Frage kommenden Sachverhalte sind einer Gestaltung durch die Koalitionen eröffnet. Im vorliegenden Zusammenhang sei noch einmal betont, daß die TV-Autonomie nicht nur gegenüber denjenigen Bereichen zum Zuge kommt, bei denen nach dem Gewicht der zu regelnden Materie primär Arbeitsbedingungen im strengen Sinne des Wortes in Rede stehen. Mit ihrer Ordnungsaufgabe ist sie ebenso dann am Platze, wenn mit je gleichem Gewicht zu einem unauflöslichen Komplex zusammengeschlossene Arbeits- wie Wirtschaftsbedingungen einer näheren Gestaltung unterworfen werden sollen. Anderenfalls würden bedeutsame Größen des Arbeitslebens von einer tarifvertragliehen Ordnung ausgeschlossen, was rechtlich und ethisch nicht verständlich wäre. Daß nach positiv-rechtlicher Regelung betriebsverfassungsrechtliche Fragen der Regelungsmöglichkeit der TV-Parteien zugeordnet sind, entspricht der Verfassung, und es ist das ebenfalls die Sicht des einfachen Gesetzgebers. Das Betriebsverfassungsrecht strukturiert nun einmal bei der unauflöslichen wechselseitigen Abhängigkeit zwischen der Position der Arbeitnehmer mit ihren legitimen Belangen und den Bedürfnissen der Unternehmensleitung gleichzeitig das Unternehmen selbst. Die antagonistische Stellung der TV-Parteien als Ausgangspunkt für die Schaffung des TV ist infolgedessen sozialethisch auch hier zu bejahen, unter keinen Umständen darf sie verneint werden. Die Tätigkeit der Sachnahen zur Wahrung der Belange der Angehörigen je ihrer Seiten bleibt in sich legitim, das je gleiche Gewicht des wirtschaftlichen und des sozial-humanen Aspektes rechtfertigt und verlangt sie unter Umständen sogar. Man kann, einer Sicht des BVerfG folgend, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Berufsfreiheit des Unternehmers und der Arbeitnehmer sehen, die in ihrer jeweiligen Verwirklichung die Belange der einen wie der anderen Seite betreffen. "Art. 12 Abs. 1 GG gebietet nicht, Ausübungsregelungen so zu gestalten und auszulegen, daß sie die Unternehmerische Entscheidungsfreiheit unberührt lassen, sondern läßt Raum dafür, auch durch Einschaltung einer Einigungsstelle nach Maßgabe des§ 76 Abs. 2 BetrVG [scil.: und damit ebenfalls des Betriebsrates] eine Konkordanz der Berufsfreiheit der
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Beschwerdeführerio [in dem zu entscheidenden Fall der Arbeitgeberin] und der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer herbeizuführen. "168 3. Bindung der TV-Autonomie a) AUgemeines
Aufgrund der TV-Autonomie und durch sie erfolgt, wie schon jetzt zu sagen ist, eine Setzung von Recht. Somit muß der allgemeine Grundsatz gelten, daß übergeordnetes zwingendes Recht zu beachten ist. Bei einem Verstoß hiergegen sind die tariflichen Regelungen jedenfalls im Ausmaß des Verstoßes unwirksam. Diese allgemein geltende Rechtsmaxime beansprucht von der Bindung des einfachen Gesetzgebers an die Verfassung bis zur Bindung der Parteien eines streng privatrechtliehen Vertrages an das unbedingte Anerkennung verlangende übergeordnete Recht Geltung. Sie greift ferner bei rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen Platz und begrenzt sogar die sog. natürliche Handlungsfreiheit. Für unsere Betrachtung zeigt sie die Einbettung der TV-Autonomie in die Rechtsgemeinschaft und deren Ordnung an. Die TVAutonomie kennt keine unbeschränkte und absolute Macht-(Rechtssetzungs-) befugnis. Notwendig hat sie ihr Wirkungsfeld innerhalb der Gesamtgemeinschaft, und sie wird daher innerhalb des Ordnungsrahmens der Gesamtgemeinschaft realisiert. Sie bezieht sich auf einen Teilregelungsbereich und führt eine Regelung nur innerhalb des Bereichs der rechtlichen Gesamtordnung herbei. Die Beachtung der zwingenden Ordnungen und der zwingenden Ordnungsstrukturen der Gesamtgemeinschaft ist im Interesse der Rechtssicherheit als einer wesentlichen Grundlage für das Bestehen und Wirken der Gemeinschaft sowie für das Leben der Gesamtgesellschaft und innerhalb derselben unerläßlich. Die Bindung an die allgemein geltenden Ordnungsstrukturen, also auch das Nicht-Eingreifen in die Bereiche anderer Teilordnungsfelder und die legitimierten Stellen (ggf. allerdings in deren Zusammenwirken mit den TV-Parteien, sofern jene Ordnungsfelder mit dem Bereich der TVAutonomie verzahnt sind) muß verlangt werden. Sonst würde der Zusammenhalt der Gesamtgemeinschaft ausgehebelt oder doch empfindlich getroffen. Die Gefahr des Chaos wäre nicht nur nicht theoretisch auszuschließen, sie würde sich mindestens als eine reale Möglichkeit zeigen. Nicht zuletzt erfolgte jedenfalls in der Sache ein massiver Angriff auf die zur Wahrung des Gesamtgemeinwohls unerläßliche Autorität der Gesamtgemeinschaft.
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BVerfG AP Nr. 15 zu§ 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit (BI. 302).
3. Bindung der TV-Autonomie
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b) Bindung an die Verfassung und ihre Anerkennung
Art. 9 Abs. 3 GG und die TV-Autonomie sind keine Instrumente zur Aushebelung der Verfassungsordnung. Die Verfassung als Grundordnung der Gesamtgemeinschaft und also des Gemeinwesens kann nicht in sich selbst die verfassungsrechtliche Voraussetzung für ihre Aufhebung enthalten. Das wäre ein Widerspruch in sich. Die Verfassung, insbesondere mit ihrem Grundrechtsteil, wäre nicht mehr die rechtliche Lebensgrundlage der Gemeinschaft, die sie nach ihrem Sinn doch sein soll. Als Grundordnung wäre sie in Frage gestellt oder sogar aufgehoben. Instabilität, Ungewißheit und Unsicherheit wären verfassungsrechtlich gewährleistete Größen. Durch verfassungsrechtlich gegebene Möglichkeiten dieser Art wäre das Dasein der Einzelnen wegen einer nicht aufhebbaren tiefgreifenden Rechtsunsicherheit existentiell mindestens sehr stark tangiert. Die Gesamtgemeinschaft trüge von ihrer rechtlichen Ordnung her den Keim des Verfalls in sich. Sie könnte nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen, Grund- und Rahmenbedingungen für die menschliche und menschenwürdige Existenz aller zu schaffen und zu sichern. Ihre eigene Existenz wäre getroffen. Sie ist aber Voraussetzung für eine solche Tätigkeit, die ihrerseits bei der Natur des Menschen als eines auf die Gemeinschaft hin angelegten und schon um seiner selbst willen von dieser Gemeinschaft abhängigen Wesens unerläßlich verlangt wird. Alles eben Gesagte müßte auch dann eintreten, wenn die in ihr angelegte Aufhebung der Verfassung in einem langsamen prozeßhaften, sozusagen geregelten Wege erfolgen könnte. Die Instabilität bliebe ein Wesensmoment der Grundlagenordnung; diese selbst würde nicht hinreichend ernst genommen, und die neu geschaffene Ordnung wäre ihrerseits bereits im Ansatz relativiert. Etwas anderes ist, bei gegebener Sachlage, eine vorsichtige Fortentwicklung der Verfassungsordnung durch die Praxis der Verfassungshandhabung und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes. Dabei müssen das Prinzip der Rechtssicherheit und unaufgebbare materiale Gerechtigkeitsgedanken gewahrt werden. Im übrigen ist jetzt deutlich, weshalb das BVerfG als verfassungsrechtliche Voraussetzung für die Anerkennung einer TV-Partei die Anerkennung des geltenden Tarifrechts durch sie verlangt. Das war bereits ein Grundsatz des allgemeinen Tarifrechts der Weimarer Zeit. Damals mag er sich des näheren deswegen erklärt haben, weil extremistische Arbeitnehmervereinigungen das geltende Tarifrecht als für sie unverbindlich ablehnten. Der entscheidende Grund für das Erfordernis ist jedoch, daß eine Teilgröße innerhalb der Gesamtgemeinschaft nicht an der Ordnung eines Bereiches desselben mitwirken kann, die ihrerseits das umfassende Fundament und die nähere Ausgestaltung für eine solche Mitwirkung ablehnt. Die Teilgröße einer Rechtsordnung muß die Gesamtrechtsordnung, weil in sie eingebunden, bejahen, wenigstens
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
jedoch respektieren, will sie tätig sein. Das gilt in besonderem Maß für eine Organisation, die an einer durch Vereinigungen ihrer Art in Spiel und Gegenspiel zu schaffenden autonomen Regelung mitarbeiten will, die dazu noch eine Normenordnung ist. Die Verbände können den Rahmen für die Ordnungsaufgabe nicht in Frage stellen. Etwas anderes ist ein legitimes rechtspolitisches Bestreben, eine gesetzliche Änderung der Rahmenregelung für die fragliche Tätigkeit herbeizuführen169. c) Bindung an eine mit Art. 9 Abs. 3 GG erfolgende Aussage
Die TV-Autonomie setzt voraus und verlangt die arbeitsteilige Wirtschaft in ihrer Grundform, also das Bestehen sowohl der Unternehmer-/Arbeitgeber wie das der Arbeitnehmer. Über die TV-Autonomie rechtlich die eine oder die andere Seite abschaffen zu wollen, ist daher, wie bereits gesagt, wegen der verfassungsrechtlichen Garantie der Institution nicht möglich. Das sei jetzt noch einmal im Zusammenhang der für die TV-Autonomie geltenden Bindungen beleuchtet. Art. 9 Abs. 3 GG erhärtet, daß die Unternehmerstellung und die Unternehmerkompetenz in ihrem Kerne nicht angetastet werden dürfen. Daß die dortigen unmittelbar ausgesprochenen sowie die sich als Folgerungen ergebenden Grundrechtsgewährleistungen nur den Lebenstatbestand der abhängigen Arbeit ansprechen, ist unbestritten. Ausgangspunkt, Grundlage und primäres Ziel der Regelung ist die im Verbund erfolgende Gewährleistung der jeweiligen Interessenverfolgung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Es stehen also die eigentümlichen Arbeitnehmer- und die eigentümlichen Arbeitgeber-/Unternehmerbelange in Rede. Bei der TV-Autonomie treten zwei Parteien in je gleicher Verhandlungsstellung einander gegenüber. Die Koalitionsfreiheit und damit das Koalitionswesen als spezifische Größe und mit spezifischen Funktionen der jeweiligen Vereinigungen werden garantiert. Folgerichtig muß auf der Arbeitgeber-/Unternehmerseite die eigentümliche Rolle und Funktion des Arbeitgebers und Unternehmers vorliegen. Dann können die Koalitionen der Arbeitnehmer nicht nur nicht in der Verfolgung spezifischer Arbeitnehmerinteressen arbeitgeberisch/unternehmerisch handeln. Sie können auch nicht rechtswirksam das Ziel verfolgen, aufgrundihres koalitionären Handeins die Arbeitnehmer als Unternehmer/Arbeitgeber in Zukunft tätig werden zu lassen. Könnte die TV-Autonomie dazu benutzt werden, die 169 Dem Abtun von Rechtsnormen und der Rechtsordnung überhaupt als "bloß formale Ordnung" wird nicht das Wort geredet. Das für den Einzelnen, die Gruppierungen der Gesellschaft und für die Allgemeinheit notwendige Postulat der Rechtssicherheit darf nicht in Vergessenheit geraten oder sogar bewußt beiseite geschoben werden. Eine durchgängige Wertung des Rechts als einer nur formalen Größe öffnet dem Kampf aller gegen alle und damit dem allgemeinen Durcheinander die Tür, an dessen Ende sehr schnell die Despotie steht.
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Unternehmerstellung und im unmittelbaren Ergebnis gleichzeitig die Arbeitnehmerstellung auszuhebeln, würde sie das Koalitionswesen und damit sich selbst aufheben. Bei ihrer unbedingten Gewährleistung durch die Verfassung muß dies als ihr Sinn ausscheidenl70. Die rechtliche Aufhebung der Unternehmer-/Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite wäre vor allem sachwidrig und damit unethisch. Es wurde ebenfalls schon angemerkt, daß im Interesse der Unternehmen und damit im Interesse der Volkswirtschaft und der Gesamtgemeinschaft die Unternehmensleitung bestehen muß, aus den gleichen Gründen aber auch die Mitarbeiter vorhanden sein müssen. Das gilt entsprechend für die Verwaltungen des öffentlichen Dienstes. Sie bedürfen sowohl der Behördenleitung wie der Mitarbeiter, also der Beamten, Angestellten und Arbeiter. Bei der je verschiedenen Punktionsstellung im Unternehmen und in der Dienststelle eigene Interessen zu haben, ist entschieden legitim. Andererseits darf die Interessenverfolgung nicht dazu führen, die legitimen Belange der einen oder der anderen Seite ungebührlich zu beeinträchtigen und sie ggf. sogar überhaupt nicht zur Geltung kommen zu lassen. In allen Unternehmen ist zur Realisierung des Unternehmenszweckes das Kooperationspostulat zu beachten, nicht zuletzt deswegen, weil sonst Volkswirtschaft und Gesamtgesellschaft tiefgreifende Schäden erleiden würden. Nur dann ist, soweit das von der Stellung und Tätigkeit der Unternehmensangehörigen her geschehen kann, auch der im eigenen Interesse von Arbeitnehmern und Unternehmern liegende Bestand des Unternehmens gewährleistet. Um alldiesen Erfordernissen gerecht zu werden, könnte man an die rigorose Einbindung aller im Unternehmen Stehenden, an die Aufgaben der Verfolgung ihrer jeweiligen Belange und an eine Zwangsordnung denken. Das ließe aber keine eigene Bewegungsmöglichkeit mehr zu, was der Persönlichkeit des Menschen, also seiner Subjektstellung und damit seiner Würde widerstreitet. Die Möglichkeit zur Interessenverfolgung, damit aber ebenfalls die Interessenverfolgung im Verbund mit anderen, und zwar nicht zuletzt im Bereich des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit, ist mit dem Menschen selbst gegebenl71 . Vor einer detaillierten Zwangsordnung, die bei einer das Gemeinwohl extrem treffenden Notsituation nicht ausgeschlossen werden kann, rangiert unaufgebbar entschieden die Selbstordnung derer, um deren Belange es in ihrer gegenseitigen Beziehung geht172. Der Sinngehalt des Art. 9 Abs. 3 GG entspricht der Ethik und wird sogar von ihr als eine von der Rechtsordnung zu bejahende Größe verlangt. 170 Ein rechtspolitisches Bestreben, Art. 9 Abs. 3 GG zu modifizieren, wäre legitim. Nur darf seine Substanz nicht angetastet werden, will man die TV-Autonomie mit ihrem sehr hohen sozial-ethischen und rechtlichen Wert erhalten. 171 Die Enzyklika "Laborem exercens" hat sehr zu Recht dem Koalitionswesen in der Sache einen naturrechtliehen Rang zuerkannt; siehe G. Müller, RdA 83, 75 ff. Vgl. auch AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 3. 172 Siehe G. Müller, Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, 21.
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Die Überlegungen erhärten, daß die rechtliche Gleichheit der Koalitionen beider Seiten des Arbeitslebens geboten ist. Art. 9 Abs. 3 GG entspricht dem. Der Wortlaut und die von ihm her zu bestimmende Tragweite der Verfassungsvorschritt gewährleisten das Koalitionswesen "für jedermann und für alle Berufe". Historisch sind die Arbeitnehmervereinigungen als Selbsthilfeorganisationen zuerst entstanden, die Arbeitgeberverbände folgten als "Abwehr"-Zusammenschlüsse. Mit Art. 159 Weimarer Verfassung nimmt in eindeutig positivrechtlicher Normierung die, abgesehen von der alles in allem kurzen Unterbrechung in der nationalsozialistischen Zeit, ununterbrochen festgehaltene entscheidende Sicht des Koalitionswesens ihren Anfang. Soweit nach 1945 die Länderverfassungen sich einschlägig äußerten, wird die rechtliche Gleichheit der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände entweder unmittelbar oder doch über eine Anerkennung der TV-Autonomie bejaht173 . Art. 9 Abs. 3 GG selbst übernimmt die verfassungsrechtliche Aussage der Weimarer Republik für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik174 • Die TV-Autonomie ist in ihrem Ausgangspunkt demgemäß kein Verteidigungsinstrument ausschließlich der Arbeitnehmerseite gegenüber der Arbeitgeberseite. Sie ist insbesondere kein Notwehrinstitut der ersteren, so sehr ggf. existentielle Belange der Arbeitnehmerseite - wie u. U. andererseits ebenso der Unternehmerschaft/Arbeitgeberschaft -im Einzelfall in Rede stehen mögen. Es geht um eine Interessenverfolgung als solcher und, über sie und durch sie, um eine Ordnung des Arbeitslebens. Dem entspricht die Gleichstellung der Verbände beider Seiten in der Rechtsordnung, und sie wird sogar verlangt. Ein Verständnis des Art. 9 Abs. 3 GG dahin, die Vorschrift besage eine grundrechtliche Gewährleistung für die Arbeitnehmerseite, während die Arbeitgeberseite durch Art. 14 Abs. 1 GG gesichert sei175, ist verfehlt. Einmal ist die der Eigentumsgarantie immanente Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit nach Art. 14 Abs. 2 GG zu beachten, also das Postulat "Eigen173 Siehe Bayer. Verf. Art. 170; Brem. Verf. Art. 50 Abs. 2; Hess. Verf. Art. 36; Rheinl.-Pfälz. Verf. Art. 54 Abs. 1, Satz 2; Saarl. Verf. Art. 47 Satz 1. Die Erwähnung nur des Streikrechts in Art. 18 Abs. 3 Berl. Verf. bedeutet keine Verneinung der Arbeitgeberverbände und erst recht nicht die der Arbeitnehmervereinigungen. 174 Die rechtliche Gleichheit der Koalitionen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber wird zusätzlich durch Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG unterstrichen. Selbst wenn diese Vorschrift hinsichtlich des Arbeitskampfes nur eine sog. neutrale Klausel wäre, ginge sie doch eindeutig davon aus, daß "Vereinigungen im Sinne des Satzes 1" und damit eben Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände legal Arbeitskämpfe führen können. 175 Die im klaren Widerspruch zum Text des Art. 9 Abs. 3 GG (und übrigens auch zu seiner Entstehungsgeschichte) stehenden Auffassungen, die den Arbeitgeberverbänden eine Koalitionsfreiheit minderen Grades zuteilen wollen, werden z. B . vertreten von Ramm, Jus 1966, 223 (227) und RdA 1968, 412; Däubler!Hege, Koalitionsfreiheit, 1976, 49 f.; Hensche, RdA 1971, 9 (12 ff.); Wohlgemuth, Staatseingriff und Arbeitskampf, 1977, 72 ff.; R. Hoffmann, in: Kittner, Streik und Aussperrung, 47 (59 ff.); Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, 1969, 169 ff.; siehe ferner auch AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 24 ff.
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turn verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." (Dabei ist zunächst gleichgültig, ob mit dem Satz 2 dort zu Satz 1 eine zusätzliche Eigentumsbeschränkung normiert ist oder ob Satz 1 und Satz 2 insgesamt eine Einheit bilden.) Vor allem aber ist Eigentum allein als solches im Wirtschaftsleben nun einmal nicht einsetzbar. Die wirtschaftliche Effizienz eines Unternehmens - und die Tätigkeit einer Dienststelle- verlangen entscheidend die Mitarbeitenden und notwendig dann mit ihren spezifischen Interessen. Selbst bei Kreditgewährungen der Banken, bei einer Vermietung von Maschinen udgl. wird das Tätigwerden von Menschen als letzte Voraussetzung für die Ermöglichung dieses Geschehens gefordert. Das gilt auch für die einschlägigen Vorarbeiten, die Einrichtung und sogar für den Ablauf eines voll automatisierten Betriebes. Bei ihm ist mindestens die Überwachung notwendig, die im letzten stets nllt der Mensch erbringen kann, selbst wenn er sich dabei wieder etwa des Computers bedient. Die Überwachung ist für den fraglichen Betrieb und das Unternehmen, das mit dem Betrieb zusammenfällt oder in das er eingefügt ist, tragend. Ohne sie bliebe die Betriebseffizienz ungewiß, im Ergebnis läge ein Unsicherheitsfaktor von zwar ungewissem, aber gerade deswegen nicht zu unterschätzendem Ausmaß hinsichtlich des Betriebs- und Unternehmensgeschehens und ein beachtliches zweifelhaftes Moment im volkswirtschaftlichen Ablauf vor176. Die TV-Autonomie beruht je für beide Seiten des Arbeitslebens allein auf Art. 9 Abs. 3 GG mit seiner Gewährleistung des Koalitionswesens. Art. 14 Abs. 2 GG ist mit seinen beiden Formulierungen zur Eigentumsbindung umfassend ausgerichtet. Satz 2 bezieht sich auf das Wohl der Allgemeinheit, nicht aber auf das Wohl einer einzelnen Schicht der Gesellschaft, unbeschadet dessen, daß die Wahrung der grundlegenden Belange der Mitarbeiter gleichfalls ein Aspekt des Gemeinwohls ist. Die mit Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG umfassend normierte kategorische Verpflichtung, die insofern die bereits mit der UnternehmerstelJung als solcher gegebene Verpflichtung unterstreicht, sich sozial-human gegenüber den Mitarbeitern zu verhalten, bildet, wenn sie in ihrer Allgemeinheit sachgerecht sein soll, mit der Verpflichtung nach Satz 2 eine Einheit und fällt mit ihr zusammen 177 • Die Ausrichtung des Eigentumsgebrauchs zugleich auf das Wohl der Allgemeinheit und aufgrunddieser Zielrichtung auch auf das 176 Daß die Kontrolle durch den Menschen versagen kann, ändert an ihrer Notwendigkeit nichts. Alles geschaffene Sein ist kontingent und, im religiösen Verständnis, infolge der Erbsünde "gebrochen" . 177 Siehe auch Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 14 RZ 249, 250. Anders als Papier, a.a.O., ist der Verfasser mit einem Teil des Schrifttums allerdings der Auffassung, daß es sich, unabhängig von der Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums durch die Gesetze nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Regelung des Abs. 2 der Verfassungsvorschrift um eine verfassungsunmittelbare Bindung handelt. Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG ist in ihrer Gesamtheit nicht eindeutig; siehe einerseits BVerfG 21, 73 {83) im Sinne von Papier ("in erster Linie eine Richtschnur für den Gesetzgeber"), andererseits BVerfG 50, 290 (339/340) , 56, 249 (260); BVerfG 58, 300 (338) scheint gegenüber beiden Auffassungen offen zu sein.
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Wohl der Mitarbeiter, aber ebenso auf die legitimen Positionen Dritter, u. a. der sonstigen Unternehmerl78, ist das Entscheidende179. d) Bindung an die Grundrechte allgemein
Die TV-Parteien sind an die mit den Grundrechten des GG gegebenen allgemeinen Wertfestsetzungen gebunden. Die Grundrechte sind sämtlich Entfaltungendes Urgrundrechtes der Würde des Menschen. Die Verfassungsordnung bringt dies hinsichtlich der Menschenrechte mit dem Wort "darum" in Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck. Es bezieht sich auf die Würde des Menschen und die Verpflichtung der staatlichen Gewalt, sie zu achten und zu schützen; um dessentwillenbekennt sich das deutsche Volk zu den Menschenrechten. Die Bindungswirkung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG läßt bei der systematischen Stellung dieser Vorschrift als dem dritten Absatz des Art. 1 GG die Grundrechte positivrechtlich deutlich als Folgerungen aus der Menschenwürde erscheinen. Auf jeden Fall ist diese Würde das sittliche Fundament der Grundrechte; sie drücken unter je verschiedenen Aspekten immer wieder den Seihstand der menschlichen Persönlichkeit aus und bringen ihn zur Geltung18°. Die Würde des Menschen verlangt gleichzeitig seine Bindung. Den Menschen als absolut frei und völlig emanzipiert zu sehen, ist schon mit seiner Kontingenz, mit seiner Geschöpflichkeit, und darüber hinaus mit seiner "Gebrochenheit" nicht vereinbar. Das Erkenntnisvermögen des Menschen, vor allem sein Verstand, ist auf die Wahrheit ausgerichtet, und seine Entscheidungsfreiheit wird legitim nur gebraucht, wenn sie sich im Rahmen und unter Beachtung des sittlich Wahren, des ethisch Rechten hält. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, als ethische und rechtliche Forderung unmittelbar von der Würde des Menschen geboten, darf nicht gegen das Sittengesetz verstoßen. Der Soweit-Satz des Art. 2 Satz 1 GG hat insofern Bedeutung für alle Grundrechte. Sie sollen das Entfaltungsrecht und damit die Entfaltungsmöglichkeit des Menschen des näheren sichern. Die Bindung der freien Entfaltung des Menschen an die Achtung der Rechte anderer ist in ethischer Hinsicht nichts anderes als ein Gebot des Sittengesetzes. Diese Maxime gilt ebenfalls für das Verhalten eines Kollektivs. Ein Kollektiv tritt stets durch das Handeln und Sich-Verhalten von Menschen in Erscheinung, und es ist ein Gebilde von 178 M. E. läßt sich aus Art. 14 Abs. 2 GG zwanglos eine Fairneß postulierende Wettbewerbsordnung ableiten. 179 Die Gedanken und weitgehend auch die Formulierungen der beiden letzten Absätze sind aus G. Müller, Arbeitskampf und Recht, 68 ff., übernommen. 180 Die Bindung der TV-Autonomie an die Grundrechte erkennt auch Schatz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 357 an. Seine Begründung dürfte aber der mit dem subjektiven Grundrecht stets gegebenen allgemeinen Wertanerkennung und Wertsetzung nicht voll entsprechen.
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Menschen. Das Wirken sowie überhaupt das Auftreten eines Kollektivs ist des weiteren stets auf Menschen bezogen oder hat doch Auswirkungen auf Menschen. Dann gilt das in dem Soweit-Satz enthaltene ethische Gebot und die mit ihm erfolgende rechtliche Normierung für das Kollektiv und ihm gegenüber ebenfalls. Es darf weder die Rechte anderer einschließlich dritter Kollektivgebilde verletzen noch darf es seinerseits in seinen Rechten, die, wie vor allem bei dem Gemeinwesen, sehr oft mit seinen Pflichten zusammenfallen, verletzt werden. Das hemmungslose Agieren der Menschen, einschließlich des hemmungslosen Agierens von Funktionsträgern eines Kollektivs, ist in sich verfehlt. Gegenüber den hiervon betroffenen Dritten, legitime gesellschaftliche Gebilde und vor allem das Gemeinwesen mit einbezogen, ist es willkürlich und somit nicht in sich getragen. Die Anerkennung einer derartigen "Selbstentfaltung" führt, um das auch jetzt wieder zu betonen, zum Chaos, das seinerseits ohne weiteres eine Tyrannei hervorrufen kann. Ebensowenig vermag sich mit der in der neueren Geschichte immer wieder festzustellenden Berufung auf die angebliche Repräsentation irgendeines Gesamtwillens durch die Machtstellung eines Einzelnen oder eines kleinen Gremiums deren unumschränkte Ausübung zu rechtfertigen. Wie die Würde des Menschen bereits die Anerkennung seiner Bindung verlangt, so ist folgerichtig diese Bindung ebenfalls allen Grundrechten immanent. Leider hat dies das BVerfG trotz verschiedentlich wohl vorliegender Fallagerung nicht immer betont. e) Bindung an Art. U Abs. 1 GG
Als eine Erscheinungsform der Würde des Menschen ist mit Art. 12 Abs. 1 GG die Berufsfreiheit des Unternehmers gewährleistet, nachdem bereits mit Art. 9 Abs. 3 GG dieser Beruf vorausgesetzt ist. Daß der Unternehmerberuf als solcher in sich ethisch volllegitim ist, wurde bereits gesagt. Seine Bedeutung für die Tarifautonomie ist an dieser Stelle ebenfalls zu behandeln. Die Berufsfreiheit, einschließlich der einen wichtigen Aspekt derselben aussagenden Berufsausübungsfreiheit, bildet als Grundrecht die Normsetzung der TV-Parteieni8I. Nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Gesetzgebung hat wegen ihrer allgemeinen Ordnungswirkung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG im Strukturgefüge des Rechts die Grundrechte zu beachten. Die Bindungswirkung der Grundrechte tritt somit auch gegenüber dem TV ein 182. Selbst mit demjenigen TV, der nur für die Mitglieder der ihn abschließenden Verbände zur Anwendung kommen sollte, erfolgt eine materielle Gesetzgebung, äußerlich erkennbar durch den Normcharakter der Regelungen. For181 Siehe u. a . Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog!Scholz, GG, Art. 12 RZ 11, 69, 70. -Zur Normsetzung der TV-Parteien siehe näheres unten. 182 Siehe BVerfG 44, 322(341); BAG 1, 258 (262) . Die Normsetzung durch den TV wird ebenfalls des näheren weiter unten behandelt.
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melle Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte von verfassungsrechtlicher Qualität müssen mit ihrem Autoritätsanspruch jede Art der unterverfassungsmäßigen Normsetzung bindents3. Die vorgegebene verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit für den Einzelnen wirkt zudem als Strukturnorm des gesellschaftlichen Lebens, was nun einmal als vorgegebene Größe die tarifliche Normsetzung ebenfalls zu beachten hat. Wenn und soweit Grundrechte Erscheinungsformen der Menschenwürde sind, ist dies alles schließlich sozialethisch fundiert. aa) Berufsfreiheit des Unternehmers
Gerade im Falle des TV ist zu beachten, daß nach Art. 19 Abs. 3 GG auch die Berufsfreiheit für inländische juristische Personen anerkannt wird, wobei letzterer Begriff weit zu fassen istt84. Einer juristischen Person einschließlich einer Vereinigung in dem umfassenden Sinne des Art. 9 Abs. 1 GG die Berufsfreiheit nicht zuerkennen zu wollen, hieße, ihre Tätigkeit, um derentwillen sie rechtlich besteht und wegen der ihre Gründer sie ins Dasein gerufen haben, sowie die Berufstätigkeit derjenigen, durch die sie nach außen und nach innen in Erscheinung tritt, rechtlich zu negieren. Das BVerfG sieht so die Freiheit einer juristischen Person, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe zu betreiben, durch Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG als gewährleistet antss. Die einen Kerngehalt der Unternehmerischen Tätigkeit bildende Unternehmensleitung verlangt die diesbezügliche Selbstbestimmung durch den Unternehmer einschließlich der anstelle des oder der Eigentümer handelnden "angestellten Unternehmer". Aufgrund ihrer Unternehmerstellung kommt ihnen ebenfalls die Ausübung der unternehmefischen Berufsfreiheit zuts6. Der entscheidende personale und somit der letzte ethische Grundzug des Grundrechts auf Berufsfreiheit ist die Gewährleistung, daß der Einzelne jede Arbeit, für die er sich geeignet glaubt, als "Beruf" ergreifen kann, d . h. zur Grundlaget87 seiner Lebensführung zu machen vermagtss. Er wird auch dort wirksam, wo eine Tätigkeit "im Unternehmen" oder "auf der Ebene des Unternehmens" als unternehmerischer Beruf ergriffen ist; es geht ebenfalls um die personale Verwirklichung des Einzelnents9. Die Selbstbestimmung hinsichtlich einer sehr wichtigen Seite des BAG 1, 258 (262/263). Siehe Schatz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 98; auch Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Abs. 3 RZ 29. 185 BVerfG 50, 290 (363). 186 G. Müller, Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, 31132; Schatz, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 35. 187 Besser spricht man von "einer" Grundlage der Lebensführung. 188 BVerfG 50, 290 (367). 189 Papier, in: Maunz/Dürig!Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 35. 183
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menschlichen Lebens, nämlich der Berufstätigkeit, ist ein hoher ethischer Wert; Voraussetzung ist, daß der Beruf ethisch zu bejahen ist und daß die Berufsentscheidung in Verantwortung vor sich selbst und damit nicht zuletzt in nüchterner Beurteilung der eigenen Fähigkeiten getroffen wird. Diese ethische Verantwortung ist allerdings rechtlich nicht erzwingbar. In diesem wie in vielen anderen Fällen der Selbstentfaltung des Menschen kann die ethisch gebotene Verantwortung des Einzelnen bei einem Fehlverhalten durch die sozusagen äußere Rechtsordnung als solche nicht sanktioniert werden. Die Sanktion besteht in dem Scheitern der Entfaltung. Wenn der Beruf eine Grundlage der Lebensführung ist, ist er im übrigen in aller Regel gleichzeitig Grundlage der Existenzerhaltung und Existenzsicherung. Insgesamt ist er tragend für die nähere Verwirklichung der Persönlichkeit und ein wichtiger Aspekt derselben. Der Unternehmerberuf ist durch spezifische, ihn notwendig konstituierende Merkmale gekennzeichnet. Es sind dies etwa die Bestimmungen des Unternehmenszieles, die Verfügungsbefugnis über Sachwerte des Unternehmens (z. B. auch die Belastung von Sachgütern desselben) und nicht zuletzt die Organisationsbefugnis, d. h. jedenfalls die Dispositionszuständigkeit für den Einsatz der personellen und sachlichen Größen nach Art, Ausmaß, Gestaltung und Dauer ihres Einsatzes 19°. Damit liegt auch die Auswahl, Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern, soweit nicht legitimerweise eine Mitbestimmung des Betriebsrates nach dem Betriebsverfassungsrecht in Frage kommt, bei dem Unternehmer191. Die Dispositionszuständigkeit des Unternehmers ist nicht zuletzt im Blick auf die konkrete Person des einzelnen Mitarbeiters gegeben. Seine Fähigkeiten wie seine Haltung zur Arbeitsleistung im allgemeinen und für die konkret zu verrichtende Arbeit im besonderen sind z. B. bedeutsam. Die Dispositionsbefugnis tritt ferner in Erscheinung bei der Bestimmung der Zahl der bei den einzelnen Tätigkeiten einzusetzenden Mitarbeiter. Der Gedanke der Sachnähe des Unternehmers spielt bei seiner Unternehmerischen Dispositionskompetenz und überhaupt bei seiner Unternehmerischen Tätigkeit eine tragende Rolle. Da das Unternehmen als Personalverbund einer Leitung bedarf, deren Inhaber für das Unternehmen in seiner Gesamtheit verantwortlich sind, muß ihnen eine umfassende "Gewalt" zustehent92. Die umfassende Kompetenz der Unternehmensleitung bezieht sich, um es abermals zu sagen, u. a. auf die gesamte sozial-humane Seite des Unternehmens. Sie ist neben den Einstellungen und Entlassungen z. B. gegeben bei der Siehe auch Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 124, 125. Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 57. 192 Die Befugnis des Unternehmens (der Unternehmensleitung) u. a. zur Entlassung von Arbeitnehmern ist zutiefst also keine lediglich mit dem privatwirtschaftliehen Wirtschaftssystem gegebene Größe, wie Zöllner, Verhandlung des 52. Deutschen Juristentages, GutachtenD, 177, möglicherweise annimmt. 190
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näheren Ausgestaltung der Arbeitsplätze udgl. Es werden aber auch die Belange des Mitarbeiters in einer ganz unmittelbaren Weise gleichfalls angesprochen, des weiteren die Belange dritter Mitarbeiter, beispielsweise, wenn der vom Arbeitgeber zur Einstellung Vorgesehene ein zänkischer, unverträglicher Mensch ist. Wie die Berufsfreiheit des Unternehmers 193 rechtlich und ethisch in ihrer Kernsubstanz zu wahren ist, so sind ebenso die Belange der Arbeitnehmer zu sichern. Dies ist ohne weiteres im Verein mit anderen Arbeitnehmern, also über eine Koalition, im Wege des TV möglich. Es kann derart zu einer erheblichen Bindung der Berufsfreiheit des Unternehmers kommen, wenn die Belange der einen und der anderen Seite, unbeschadet ihres je verschiedenen Gehaltes, gleichgewichtig sind. So wird es ggf. rechtlich und sozialethisch legitim sein, durch TV die Unternehmen zur Einstellung einer bestimmten Anzahl von Arbeitnehmern zu verpflichten. Andererseits darf das konkrete einzelne Unternehmen nicht überlastet werden; sonst ist es nicht zuletzt in der Erfüllung seiner Aufgabe als Zelle der Volkswirtschaft mehr oder weniger erheblich gefährdet. Das hier Gesagte zeigt aber auch, daß die Interessenlage der einen wie der anderen Seite im letzten gleichgerichtet ist. Der Unternehmer will den Bestand des Unternehmens, wenn nur irgend möglich, erhalten, und hierzu ist er unter ethischen Gesichtspunkten, aus volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Gründen sogar - jedenfalls grundsätzlich - verpflichtet. Die Arbeitnehmer wollen und sie müssen, soweit dies nur irgendwie geht, um ihrer Existenz willen Arbeitsplätze erhalten. Eine Überlastung des Unternehmens gefährdet aber die Arbeitsplätze der dort bereits Beschäftigten sowie ferner gerade derjenigen, die jetzt in dem Unternehmen Arbeit finden sollen. Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß die Mitwirkungs- und vor allem die Mitbestimmungsbefugnisse des Betriebsrates, wie sie im geltenden deutschen Betriebsverfassungsrecht vorgesehen sind, verfassungsrechtlich und sozialethisch wegen der sozial-humanen Belange der Arbeitnehmer ebenfalls zu bejahen sind. Die Tragweite, aber auch die Bindung der Berufsfreiheit des Unternehmers läßt sich anband eines Sachverhalts aufzeigen, der bereits im anderen Zusammenhang als Beispiel für die Begrenzung und die Tragweite der mit der TVAutonomie gegebenen Regelungsmöglichkeiten angeführt wurde. Es geht um die Einführung neuer Technologien. Die Entscheidung über die Einführung neuer Technologien und nicht zuletzt die konkrete Entscheidung zum Ob und Wie betrifft als solche die technische Organisation von Betrieb und Unternehmen. Dieser Bereich hat für das Unternehmen grundlegende Bedeutung; er ist wesentlich für die Errei!93 Die Berufsfreiheit des Unternehmers wird hier wie durchweg in den Darlegungen unter Einschluß des Aspektes der Freiheit ihrer Ausübung verstanden.
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chung des Unternehmenszieles. Somit fällt er in die Kompetenz der Unternehmensleitung, die bei ihrer Stellung und Aufgabe die Unternehmensziele bestimmt. Deswegen muß es im Grundsatz auch ihre Sache sein, die nähere Verwirklichung dieses Zieles zu bestimmen und die Mittel vorzusehen, es zu erreichen. Sie sind auf das Ziel bezogen; es selbst und die zu seiner Erreichung zweckdienlich erscheinenden Vorkehrungen korrespondieren. Das Grundrecht der Berufsfreiheit des Unternehmers (und die als ein Aspekt derselben in der Verfassung eigens aufgeführte Berufsausübungsfreiheit) gewährleisten ihm diese spezifisch Unternehmerische Funktion194 • Die Einführung neuer Technologien wird aber erheblich und oft sogar existentiell in den Bereich der Belange der Mitarbeiter eingreifen. Sie müssen insoweit ihre Position mit dem gleichen Gewicht zur Geltung bringen können, wie dies dem Unternehmen mit seinen Unternehmerischen Belangen zusteht, die ihrerseits auf das Unternehmen bezogen und von ihm her begründet sind. Man könnte infolgedessen daran denken, es läge ein Fall des Konfliktes eines Grundrechtes mit sich selbst vor; in derselben Angelegenheit machen in einer antagonistischen Stellung verschiedene Grundrechtsträger dasselbe Grundrecht geltend. Demgegenüber ist jedoch zu bedenken, daß der Mitarbeiter sich in das Unternehmen begibt, dessen Unternehmensziele er nicht bestimmt. Der Beruf als Arbeitnehmer ist soziologisch dadurch vorgeprägt, daß in ihm, unbeschadet des Personalverbundes Unternehmen, Dienste für fremdgesetzte Zwecke erbracht werdenl95. Der Konflikt eines Grundrechtes mit sich selbst liegt also in Wirklichkeit nicht vor. Andererseits werden die Belange des Arbeitnehmers tangiert, und zwar nun einmal in nicht wenigen Fällen sogar besonders schwerwiegend. Diese Tangierung ist jedoch nicht mit der Entscheidung über das Ob und Wie der Einführung neuer Technologien als solcher gegeben, vielmehr ist sie eine ihr logisch nachfolgende Wirkung. Sie tritt als Folge einer Verwirklichung der Entscheidung auf. Somit setzt die Wahrung der Interessen der Arbeitnehmer hier ein. Die nachteiligen Folgen für sie sind auszugleichen oder doch zu mildern. Daß bei der Entscheidung über die Einführung der Technologien sowie bei der Entscheidung hinsichtlich der Folgewirkungen die Interessen der Allgemeinheit zu berücksichtigen sind, sei zusätzlich ausdrücklich gesagt. Einmal kann das zugunsten des Unternehmers, einmal zugunsten 194 Bei der Errichtung eines in der Rechtsform der juristischen Person auftretenden Unternehmens bei dem, wie es in der Tatsächlichkeit des wirtschaftlichen Lebens weitgehend der Fall ist, die Träger des Unternehmens im Rechtssinne und die Unternehmensleitung nicht zusammenfallen, treffen im Zusammenhang mit der Bildung des Unternehmens diese Unternehmensträger die Entscheidung über das Unternehmensziel. Sie treten auch in der Hauptversammlung/Gesellschafterversammlung auf und haben dort, in praktisch allerdings seltenen Fällen, sogar das letzte Wort im Unternehmen. 195 Das gilt selbst dann, wenn der Arbeitnehmer gleichzeitig Anteilseigner des Unternehmens ist. Als Arbeitnehmer ist und bleibt er Arbeitnehmer, als Anteilseigner ist er in einem besonderen Sinne Mitträger des Unternehmens und kann insoweit, aber eben auch nur in dieser Eigenschaft, dessen Schicksal spezifisch mitbestimmen; siehe oben.
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der Arbeitnehmer ausschlagen. In der Sache kommt die Anerkennung der Allgemeinbelange letztlich beiden Seiten zugute. Die Überlegungen mögen spitzfindig erscheinen. Sie sind jedoch das Ergebnis einer am Sachverhalt orientierten Betrachtung. Sollten die Arbeitnehmer, etwa über den Betriebsrat, bei der Einführung und der konkreten Ausgestaltung in der Anwendung der Technologien mitentscheiden, sind sie unausweichlich unternehmerisch tätig. Sie verlieren, zumal bei der zentralen Bedeutung der fraglichen Entscheidung, folglich ihren rechtlichen Schutz als Arbeitnehmer, bleiben aber soziologisch unverändert in dieser Position. Es tritt all das ein, was bereits gesagt wurde. Ein solches Ergebnis widerspricht den legitimen Grundbelangen der Arbeitnehmerschaft selbst. Die streng sachorientierte Sicht erweist sich nicht nur als berechtigt, vielmehr sogar als notwendig. Wird ein unaufhebbarer und als ethisch anzuerkennender Sachverhalt nicht beachtet, tritt irgendeine tatsächliche Sanktion für dieses Verhalten ein. Nach alledem können insbesondere auch aufgrund der TV-Autonomie Regelungen zur Minderung einer Tangierung der Belange der Arbeitnehmer und sogar ein Ausgleich vorges(!hen werden. Dieser Ausgleich kann etwa darin bestehen, daß der Unternehmer Umschuli:Jngsmaßnahmen für die in ihrer bisherigen Tätigkeit nicht mehr zum Einsatz Kommenden durchzuführen hat. Ferner kann an diese Arbeitnehmer das bisherige Entgelt für eine kürzere oder längere Übergangszeit weiter gezahlt werden, selbst wenn die neuen Technologien geringere Anforderungen an die Arbeitsleistung stellen. Schließlich kann für eine Übergangszeit ein Kündigungsverbot ausgesprochen werden, sollte an sich eine Kündigung wegen des Wegfalls des bisherigen konkreten Arbeitsplatzes bedingt sein. Es sind aber ebenfalls die legitimen Belange des Unternehmens zu beachten. Eine Kurzformel würde die für die Aufstellung eines Sozialplanes durch die Einigungsstelle ausdrücklich vorgesehene positive Regelung des BetrVG abgeben können. Danach sind sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen als auch ist auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Entscheidung für das Unternehmen zu achten196. Über jenen Wortlaut hinaus muß ferner die Bedeutung des Unternehmens als Zelle der Volkswirtschaft und damit seine Bedeutung für die Allgemeinheit gesehen werden, wie andererseits bei dem Gewicht der menschlichen Situation der Arbeitnehmer die Rentabilität des Unternehmens nicht der einzige anzuerkennende Faktor sein kann197 . Insgesamt ist eine in jeder Hinsicht ausgewogene Betrachtung erforderlich. Das aber heißt, daß die TV-Parteien wenigstens durchweg keine generell-abstrakten, die Dinge bis ins einzelne erfassenden Regelungen für alle vom TV erfaßten Unternehmen auf§ 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG. Das gilt nicht nur für den von der Einigungsstelle anzulegenden Maßstab, sondern ebenso für die ohne ihre Einschaltung erfolgende E inigung zwischen Betriebsrat und U nternehrner. 196
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zustellen berufen sind. Angebracht und jedenfalls im allgemeinen sogar geboten sind Handlungsanweisungen für den Unternehmer und den Betriebsrat, die sowohl klar gefaßt sind wie genügend Spielraum zur Berücksichtigung der konkreten Situationen der einzelnen Unternehmen und der einzelnen Arbeitnehmer enthalten. Es geht nicht um Rationalisierungsabkommen herkömmlicher Art, allenfalls, wenn man so will, um eine Fortentwicklung dieser Institute. Daß der Entscheidung des Unternehmers zum Ob und Wie neuer Technolagien eine Beratung vor allem mit dem Betriebsrat vorausgehen und daß dies tarifvertraglich festgelegt werden kann, stellt keine Bindung der Berufsfreiheit des Unternehmers im eigentlichen Sinne des Wortes dar. Bereits nach dem geltenden BetrVG hat der Wirtschaftsausschuß, der nach der Konzeption des Gesetzes auf den Betriebsrat hingeordnet ist und ihn zur Geltung bringti9s, mit dem Unternehmer und der Unternehmer mit dem Wirtschaftsausschuß insbesondere die Einführung neuer Arbeitsmethoden zu berateni99. Vor allem kann tarifvertraglich vorgesehen werden, daß der Unternehmer mit den betroffenen Arbeitnehmern, und zwar u. U. mit jedem einzelnen und dabei unter Hinzuziehung des Beriebsrates, ihre Situation im Blick auf die Einführung der Technologien zu erörtern hat200. Insbesondere kann ein TV sogar die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der näheren Durchführung einer Anwendung der Technologien insoweit vorsehen, als mit längeren, wenn auch zeitlich vorübergehenden oder sogar mit ständigen besonderen Belastungen der Arbeitnehmer vernünftigerweise zu rechnen ist. In allen Fällen einer neue Technologien betreffenden tarifvertragliehen Regelung ist die Beachtung sämtlicher in Betracht kommenden Umstände sowie die sorgfältige Abwägung des Gewichts der einzelnen Umstände in ihrem Verhältnis zueinander ethisches und rechtliches Gebot. Es geht insbesondere um die Auswirkung über das einzelne Unternehmen hinaus auf die Volkswirtschaft, die Arbeitnehmerschaft insgesamt oder doch auf beachtliche Teile derselben sowie gegenüber der Allgemeinheit einschließlich einer Umweltgefährdung. Des weiteren haben die TV-Parteien die Situation der konkreten einzelnen Unternehmen und ggf. der gesamten Branche sachgemäß zu beachten ; es steht in besonderer Weise die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Unternehmen und ebenfalls in diesem Zusammenhang das Schicksal 198 199
§ 107 BetrVG. § 106 Abs. 3, 5 BetrVG.
200 Ob die Frage der Einschaltung des Betriebsrats vor der Einführung neuer Technologien nach der Wesentlichkeilstheorie des BVerfG notwendig vom Gesetzgeber zu regeln ist oder ob auf diese Weise der allgemein gebotene weite Spielraum für die Betätigung der Koalition in nicht vertretbarer Weise eingeengt würde, soll hier nicht näher erörtert werden. Der Verfasser ist allerdings der Meinung, daß einer tariflichen Regelung der Vorrang gebührt; die TV-Parteien als dieSachnahen können an sich die angemessenste Regelung treffen.
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ihrer Belegschaften in Rede. Im Ergebnis ist so mittel-, jedenfalls aber langfristig den legitimen Belangen beider Seiten, darüber hinaus auch denen der Gesamtwirtschaft und der Gesamtgemeinschaft gedient. In die Kompetenz der Unternehmungsleitung fällt auch die Entscheidung, wer die Stellung eines Leitenden Angestellten und mit welchen Befugnissen im einzelnen übernehmen soll. Wie immer der Begriff dieses Arbeitnehmers positivrechtlich näher bestimmt wird, maßgebend ist, daß seine Tätigkeit ihre Prägung durch die Erfüllung unternehmerischer (Teil-)Aufgaben erhält. Die Mitbestimmung eines Betriebsratsgremiums würde wiederum die Arbeitnehmer mit allen Konsequenzen für sie als Mit-Unternehmer auftreten lassen; für die Sprecherausschüsse und die von ihnen repräsentierten Leitenden Angestellten wurde entsprechendes bereits gesagt. Die Berufung in den Wirkungskreis als Leitender Angestellteraufgrund der Delegation durch die Unternehmensspitze änderte daran nichts. Die Arbeitnehmer hätten unmittelbar einen entscheidenden Einfluß darauf, wer das Unternehmen führt . Wegen seiner Aufgaben hat, wie schon bemerkt, der Leitende Angestellte im Verhältnis zur Unternehmensleitung eine Vertrauensstellung inne. Die in Rede stehende Mitbestimmung des Betriebsrats kann dieses Vertrauensverhältnis ohne weiteres in Frage stellen. Das müßte auf das sachgemäße Arbeiten aller unternehmerisch Tätigen und damit auf das Unternehmen und bei dessen Einbettung in die Volkswirtschaft igendwie auf die Allgemeinheit negativ durchschlagen. Bereits die Einrichtung der Mitbestimmung als solche kann ein derartiges Ergebnis zeitigen. Diese Erwägungen gelten entsprechend für die Abberufung der Leitenden Angestellten. Die Sachlage ist in der Substanz die gleiche. Dies gilt bei ihrer Vertrauensstellung auch für die Vergütung. Leitende Angestellte nach freiem Belieben zu bestimmen und einzusetzen, ist dem Unternehmer allerdings nicht möglich, auch nicht gegenüber dem Sprecherausschuß. Die Funktionsstellung muß Unternehmerischen Charakter haben. Eine sachwidrige Entscheidung kann nicht anerkannt werden. Anders ist es mit der Organisation des Unternehmens. Ihre Gestaltung liegt, unbeschadet aller denkbaren Beratungsbefugnisse eines Betriebsrates, im letzten als eine ihrer wesentlichen Aufgaben bei der Unternehmensführung. Dem BetrVG liegt ebenfalls der Gedanke zugrunde, daß die Bestimmung, die Umsetzung und die Abberufung des Leitenden Angestellten Sache des Unternehmers ist. Nach den Einleitungsworten des § 3 Abs. 3 des Gesetzes findet es, soweit etwas anderes nicht ausdrücklich bestimmt ist, keine Anwendung auf diese Personen. Eine solche Anwendung ist nur für Tatbestände vorgesehen, bei denen der Sachverstand der fraglichen Angestellten eine Rolle spielt. Die Regelungen bezüglich Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung, Versetzung und Kündigung von Arbeitnehmern erwähnen die Leitenden Angestellten nicht20I.
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Das alles ist ein Beispiel dafür, wie die Koalitionen bei der Verfolgung der Belange der Angehörigen je ihrer Seite durch ihre Tätigkeit als die Tätigkeit der Sachnahen die Interessen je ihrer Gruppen fördern und gleichzeitig dem Gemeinwohl gerecht werden. Die Beachtung der erstgenannten Maxime, die die betonte Befolgung des zweiten Postulates jedenfalls in nicht wenigen Fällen verlangt, wird bei allen anderen tariflichen Regelungen dieselben positiven Folgen zeitigen. bb) Berufsfreiheit des Arbeitnehmers Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist gekennzeichnet durch seinen personalen Grundzug. Es ist zu verstehen in seiner Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen. Sie formt sich durch den Beruf aus und vollendet sich in gewisser Weise dadurch, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist, und mit der er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Das Grundrecht gewinnt so Bedeutung für alle sozialen Schichten. "Die Arbeit als Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde. "202 Wie jeder andere ist ebenfalls der Arbeitnehmer mit dem rechtlichen und ethischen Gehalt des Art. 12 Abs. 1 GG angesprochen. Beruf ist, wie schon kurz bemerkt, ebenfalls der "ungeliebte Beruf". Wirtschaftliche und sonstige Zwänge können den Menschen zu einer seiner Persönlichkeit nicht angemessenen und sogar ihr widerstrebenden Tätigkeit bestimmen. Gleichwohl bleibt ein Kern freier und personaler Entscheidung erhalten. Das wird deutlich, wenn man diesem Sacbverhalt den anderen gegenüberstellt, bei dem jemand aufgrund einer rechtlichen Zwangsordnung oder einer rechtlichen Zwangsmaßnahme Arbeiten mehr oder weniger als eine lebenslange Tätigkeit zu verrichten hat. Dann ist kein Raum für eine Berufswahl mehr. Die Persönlichkeit des Menschen ist sogar dann getroffen, wenn die Gesellschaft und der Einzelne eine Zwangsordnung ohne weiteres hinnehmen. Die Möglichkeit zur freien Entfaltung wird in einem wesentlichen Aspekt von vornherein abgeschnitten. 2o1 Die zur Zeit der Abfassung des Manuskripts nur durch eine Pressemitteilung bekannte Entscheidung des BAG vom 10. Februar 1988- 1 ABR 70/86- (DB 88, 503), dürfte nach ihrem Tatbestand noch nicht einmal mit einem obiter dieturn dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Einstellung eines Leitenden Angestellten zukommen lassen. Sie betraf die Einstellung eines Automatenkassierers bei einer Spielbank. Nach dem einschlägigen TV hatte in allen personellen Angelegenheiten der Betriebsrat ein volles Mitbestimmungsrecht. Das Gericht erkannte dies an. Das TVG erlaube die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen durch einen TV. Zur Tragweite dieser Befugnis sagte es aber offensichtlich nichts. Für den von ihm zu beurteilenden Fall bestand hierzu kein Anlaß. 2o2 BVerfG 7, 377 (397); 50, 290 {362).
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Die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers weist allerdings eine besondere Kennzeichnung auf. Unbeschadet des Personalverbundes, in dem er sich gemeinsam mit der Unternehmensleitung befindet und gleich wie die Art seiner Tätigkeit sein mag, steht er in einem Beruf, dessen Realisierung fremdgesetzten Zwecken dient. Dieser Umstand bedingt seine Weisungsgebundenheit, und das Unternehmen, dessen Kern er mitträgt, ist, wie man in diesem Zusammenhang sagen kann, in einer maßgebenden rechtlichen Hinsicht für ihn eine dritte Größe. Somit ist der Platz des Berufes von einem Dritten vorzusehen und bereitzustellen. Der Arbeitnehmer ist für seinen Beruf auf Dritte angewiesen, und zwar in einer qualitativ anderen Weise als andere Berufstätige, die, wie die Dienstleistungsberufe, gleichfalls Dritten zu Diensten sind oder die die Ergebnisse ihrer Berufsarbeit absetzen müssen. Die Beziehung zu Dritten ist im Falle des Arbeitnehmers seinem Beruf in der Weise immanent, daß andere erst einmal die Möglichkeit der Berufsarbeit schaffen und sie ferner ständig sichern müssen. Der Arbeitnehmer kann nicht unmittelbar durch seine Tätigkeit diejenigen gewinnen, die sein Arbeitsergebnis abnehmen und ihm damit die Verwirklichung des Berufes gewährleisten. Die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers ist in erheblichem Maße gekennzeichnet durch die Freiheit in der Wahl des Arbeitsplatzes. Den Arbeitsplatz als den räumlichen Ort, die Stelle der Tätigkeit in Ausübung seines Berufes, kann der Arbeitnehmer zwar wählen, aber nicht selbst schaffen. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes ist ein von vornherein wesensnotwendiger Aspekt der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers. Dies kann auch für sonstige Berufe wichtig sein203 , für den Arbeitnehmer ist dieses Moment schlechthin unaufgebbar. Wenn Art. 12 Abs. 1 GG das Recht der freien Wahl des Arbeitsplatzes als besonderes Grundrecht normiert, ist vor allem ein Recht der Angehörigen unselbständiger Berufe angesprochen204. Es spricht viel dafür, daß die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes wegen der Arbeitnehmer und ihrer Bedeutung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft in der Verfassung besonders genannt ist. Bei der verfassungsrechtlichen Garantie dieser Freiheit ist eine Zwangsbindung an die Arbeitsstätte nicht möglich, sie kann auch nicht aufgrund eines TV erfolgen. Die fragliche Verbürgung ist, wie die Berufsfreiheit überhaupt, und zwar einschließlich der mit ihr gegebenen Möglichkeit des Berufswechsels, personenbezogen. Der Mensch muß bei einer für sein Lebensschicksal so entscheidenden Frage, wie es die Berufsbestimmung ist, durchweg selbst die Entscheidung treffen könnenzos. Ihm eine maßgebliche Grundlage für sein 203 Siehe Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG , Art. 12 RZ 429; AK-GGRittstieg, Art. 12 RZ 113, 114. 204 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 422. zos Die Fälle,-in denen die Verstandeserkenntnis und die Freiheit der Willensbestimmung angegriffen sind, stehen nicht in Rede.
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höchstpersönliches Leben vorzuschreiben, ist von Hause aus mit seinem Selbstand nicht vereinbar. In diesem Zusammenhang sei eine allgemeine Überlegung angebracht. Daß die Beachtung der Komplementärgröße zur Berufsfreiheit, die sorgfältige Erfassung der Begabungen, der Konstitution der Persönlichkeit udgl. seitens des Einzelnen durch die Rechtsordnung grundsätzlich nicht erzwungen werden kann, ist eine andere Frage. Zwingende rechtliche Bindungen würden trotzihrer Zielrichtung, dem Wohl des Menschen zu dienen, seinen personalen Kern treffen. Darauf hinzuweisen, daß die Sanktion für das Fehlverhalten durchweg mit dem beruflichen Scheitern erfolgt, ist die Aufgabe der Erziehungsberechtigten und Erziehungsverpflichteten einschließlich der Schulen. Die Tätigkeit der staatlichen Berufsberatung, allgemeine Äußerungen befugter Repräsentanten der Gesamtgemeinschaft, ggf. auch Hinweise aus dem Freundeskreise zum Berufsweg sind ebenfalls am Platz. Die rechte Ordnung und das rechte Verhalten werden auch von rechtlich nicht vorzusehenden und rechtlich nicht zu normierenden Größen getragen, so notwendig andererseits die Rechtsordnung ist. Daß das Gemeinwohl Zugangssperren zu Berufen gebieten kann, ist ebenfalls zu sehen. Bei drohender Überbesetzung von Berufszweigen kann es erforderlich sein, nur denjenigen den Zugang zu ermöglichen, die nach vertretbaren Kriterien besonders geeignet erscheinen. Das BVerfG hat so den Numerus clausus beim Zugang zu Hochschulen im Falle eines für einen Beruf unerläßlichen Studiums in gegebenen Fällen als mit der Berufsfreiheit verträglich bejaht2D6. Die längerfristige Überbesetzung eines Berufes zeitigt über die Existenzgefährdung von Berufsangehörigen hinaus mehr oder weniger tiefgreifende negative Auswirkungen für die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft. Die Gemeinwohlbindung selbst ist Rechtspositionen und damit nicht zuletzt den Grundrechten immanent. Bei extremer Gemeinwohlgefährdung sind im übrigen Bindungen an Berufe und die zwangsweise Hinführung zu Berufen gleichfalls zulässig. Voraufgehen muß nur, dies aber unerläßlich, eine Abwägung zwischen der wegen der Eigenständigkeit des Menschen gerade vom Gemeinwohl her erforderten Freiheit der Berufsentscheidung einerseits und den sonstigen Belangen der Gesamtheit andererseits, und das Ergebnis der Abwägung muß sachgerecht sein. Die Freiheit in der Wahl des Arbeitsplatzes läßt die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers als solche unberührt; der Beruf kann auch an anderer Stelle ausgeübt werden. Gleichwohl ist die Arbeitsumgebung für den Arbeitnehmer von existentieller Bedeutung. Sie hat maßgebliches Gewicht für sein in der Arbeitserbringung zur Vollziehung kommendes Menschentum, was zugleich 206 Siehe u. a. BVerfG 33, 303 (329, 334/335, 336). Das Gericht stellt gleichzeitig sehr strenge Anforderungen an die Beschränkung der Zulassung.
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für die Art und Weise der Erbringung der Arbeitsleistung und ihr Ergebnis von Bedeutung ist. - Die Art der Berufstätigkeit kann im übrigen für jede Berufsausübung ins Gewicht fallen, so daß die Berufsfreiheit die Freiheit der Wahl des Ortes zur Ausübung der Berufstätigkeit über die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes hinaus stets mit einschließt. - Die Ermöglichung einer freien Wahl des Arbeitsplatzes ist damit eingebunden in einen Zusammenhang mit dem Wohle der konkreten Unternehmen, und sie hat sogar eine bestimmte Beziehung zur Situation der Gesamtgemeinschaft. Eine sinnvolle Ausübung der Berufsfreiheit des Unternehmers und die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes auf Seiten des Arbeitnehmers stehen in einem Korrespondenzverhältnis. Hinsichtlich der Gewährleistung der Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes im Falle des Arbeitnehmers sind besondere Gegebenheiten zu beachten. Anders als bei einem selbständigen Beruf, der ggf. durch denjenigen, der ihn ergreift, erst ins Dasein gerufen wird und der als solcher niemals besetzt ist207, muß der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers erst einmal vorhanden sein. Die freie Wahl beinhaltet kein Recht, daß ein bestimmter Arbeitsplatz geschaffen werde, und sie gewährt ferner keinen Bestandsschutz für den eingenommenen Arbeitsplatz20s. Die Bereitstellung von Arbeitsplätzen hängt von vielen Umständen ab, und sie kann niemals in dem an sich jeweils notwendigen Ausmaß garantiert werden, selbst nicht durch eine Politik der Vollbeschäftigung. Ein Recht auf Arbeit im strengen Sinne des Wortes läßt sich nicht postulieren. Allerdings besteht die Verpflichtung des Staates und im Rahmen ihrer Möglichkeiten derer, die in ihm zusammengeschlossen sind, dabei nicht zuletzt der verschiedenen Gruppen und Gruppierungen, insbesondere der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, das ihre zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beizutragen. Die Wege hierzu lassen sich im allgemeinen aber nicht vorschreiben, zumal insofern durchweg breite Beurteilungsspielräume bestehen dürften209. Weil es sich um die Gewährleistung eines Teilaspektes der freien Berufswahl handelte, würde ein Bestandsschutz hinsichtlich des Arbeitsplatzes verlangen, daß er für den Bereich sonstiger Berufe ebenfalls garantiert wird. Das bedeutete die konkrete Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage unmittelbar durch die Rechtsordnung. Die Gewährleistung eines Berufes als Lebensgrundlage ist jedoch im erforderlichen Ausmaß ebenso unmöglich wie die Schaffung der konkret erforderlichen Zahl von Arbeitsplätzen. In der Wirklichkeit der Dinge wird sogar in nicht wenigen Fällen ein Obsoletwerden von Berufen und Arbeitsplätzen von der Volkswirtschaft verlangt, und es liegt dies letztlich dann im Interesse der Allgemeinheit selbst. Ferner ist die mit einer Gewährleistung der Berufsfreiheit grundsätzlich 207 208 209
Scholz, in: Maunz/Dürig!Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 429. Siehe Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 48, 424. Das dürfte in der öffentlichen Diskussion jedenfalls des öfteren verkannt werden.
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zugleich institutionalisierte Wettbewerbsfreiheit210 zu beachten, die auch bei nicht ruinöser Art ohne weiteres Existenzen treffen kann. Mit der Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes ist der Wettbewerb bei der Nachfrage nach Arbeitsplätzen prinzipiell mit eingeschlossen211. Jeder kann einen bestimmten Arbeitsplatz erreichen wollen; ist ein konkret angestrebter Arbeitsplatz bereits besetzt, kann er jedoch für einen anderen Arbeitnehmer, der ihn anstrebt, unter dem Gesichtspunkt der freien Wahl des Arbeitsplatzes nicht freigemacht werden. Die Zielrichtung der Arbeitsplatzwahl geht auf das Gewinnen eines konkreten Arbeitsplatzes. Es träte eine Zielvereitelung ein, wenn ihn sein Inhaber wegen eines anderen, der ihn begehrt, verlassen müßte212. Das ist eine notwendige Folge der um des Menschen willen bestehenden Berufsfreiheit und der Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes. Wollte man den Wettbewerb ausschließen, um allen Berufe und Arbeitsplätze zu gewährleisten, könnte solches nur über eine die Berufsfreiheit und die Freiheit der Arbeitsplatzwahl aufhebende Zwangsordnung geschehen. Allein auf diese Weise ließe sich entsprechend zuteilen und die Zuteilung selbst aufrecht erhalten; das ist im Grundsatz aber mit dem Seihstand des Menschen eben nicht vereinbar. Auch ein Verlassen des Arbeitsplatzes, um einen jeden, der ihn anstrebt, einmal zum Zuge kommen zu lassen, ein Rotieren, würde die Zielsetzung der Freiheit der Arbeitsplatzwahl vereiteln. Wir müssen anerkennen, daß die Welt kein Paradies ist und in diesem Äon kein Paradies sein wird. Zum Wettbewerb und nicht zuletzt zum Wettbewerb der Arbeitnehmer untereinander um die Arbeitsplätze erscheinen noch einige Bemerkungen angebracht. Der Wettbewerb kann und soll als eine instrumentale Größe einen Beitrag zu effizienten Leistungen der Volkswirtschaft zeitigen und damit Gewinn für die Gesamtheit bringen213. Ihn verneinen zu wollen, hieße, seine guten und anders nicht zu erreichenden Wirkungen für die Gesamtgemeinschaft negieren und unterdrücken. Andererseits würde ein hemmungsloser Wettbewerb zu schwerwiegenden Tangierungen des Gemeinwohls führen. Da mit der grundrechtliehen Gewährleistung der Berufsfreiheit im Prinzip der Wettbewerb rechtlich bejaht ist, dürften rechtliche Vorkehrungen für die Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs bereits unmittelbar aufgrund des Art. 12 Abs. 1 GG geboten sein. Im Interesse der Dritten und der Gesamtgemeinschaft ist immanent mit den dort gewährleisteten Freiheiten zugleich eine Bindung ausgesprochen. Nicht zuletzt verlangt das Sozialstaatsprinzip mit seiner Forderung einer allgemein gerechten Sozialordnung ebenfalls dieses Ergebnis, ebenso das Ur-Grundrecht der Menschenwürde und die Gewährleistung der freien Entfaltung der Persönlichkeit für jeden. Mit seinem SoweitSchatz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 49, 84. m BAG 44, 141 (152). 212 Schatz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 RZ 85. 213 Vgl. Hersehe!, RdA 75, 30. 21o
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Satz, des näheren mit dem Verbot der Verletzung der Rechte anderer und der Untersagung eines Verstoßes gegen das Sittengesetz, spricht Art. 2 Abs. 1 GG die in Rede stehende Beschränkung mit an2I 4 . Der Wettbewerb der Arbeitnehmer um die Arbeitsplätze trägt von Hause aus zum Gemeinwohl bei. Der Qualifizierte soll tätig werden. Daß möglichst für alle Arbeitsplätze vorhanden sein müssen und daß die Gesamtgemeinschaft und alle, die zur Bereitstellung von Arbeitsplätzen beitragen können, dieserhalb das ihre zu tun haben, wird damit nicht verneint, ebenso nicht die Weite des Beurteilungsspielraums hinsichtlich der'in Frage kommenden Maßnahmen. Den Wettbewerb mit seiner Zielrichtung, Geeignete und Geeignetes zur Geltung zu bringen, abzuschaffen, verlangte sonst doch die Abschaffung der Berufsfreiheit und der Freiheit de:r Wahl des Arbeitsplatzes mit ihrer Bedeutung für die Persönlichkeit. Nicht alles Gebotene, Angebrachte und Mögliche zu tun, damit in genügender Zahl Arbeitsplätze vorhanden sind, wäre ebenfalls ein schwerer Angriff auf den Menschen. Beide Postulate widersprechen sich nicht, sie ergänzen sich vielmehr. Sie sind ebenfalls in wirtschaftlichen Krisenzeiten, in einer der dann gegebenen Sachlage entsprechenden Weise, zu beachten. Wegen der existentiellen Bedeutung des Arbeitsplatzes für den Arbeitnehmer geht es nicht an, ihn ohne hinreichenden Grund seines Arbeitsplatzes verlustig gehen zu lassen. Einem anderen Arbeit suchenden Arbeitnehmer den Arbeitsplatz zu verschaffen, ist keine anerkennenswerte Überlegung. Es ist für jeden Arbeitnehmer als Existenzgrundlage und zur Ausübung sinnvoller Tätigkeit gleich wichtig; ein Kernaspekt des Menschen steht in Rede. Deswegen läßt sich nicht sagen, wegen der allgemein schlechteren Lage des anderen müsse legitim der Inhaber des Arbeitsplatzes weichen2IS. Die Überlegungen zeigen, daß ein bestimmter Bestandsschutz für ein konkret bestehendes Arbeitsverhältnis angebracht und sogar geboten ist. Man muß zwischen einem absoluten und einem relativen Schutz des Arbeitsplatzes unterscheiden. Die Notwendigkeit des relativen Bestandsschutzes für das Arbeitsverhältnis des konkreten Arbeitnehmers, wie ihn das Kündigungsschutzgesetz gewährt, und der abgeschwächte Bestandsschutz für den Arbeitsplatz, den der Arbeitnehmer jeweils konkret innehat2I6, sind unmittelbar ein214 Zur Tragweite des Soweit-Satzes für alle Grundrechte siehe wieder Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Abs. 1 Art. 2 RZ 69 ff., insbesondere RZ 71 ff., 75. Siehe auch Anm. 19. 215 Etwas anderes ist es, wenn aus betriebsbedingten Gründen eine Kündigung erfolgen muß, der Inhaber des Arbeitsplatzes jedoch sozial besser gestellt ist als ein anderer für die fragliche Tätigkeit ebenfalls qualifizierter Arbeitnehmer. Die Kündigung selbst ist aus Sachgründen geboten; es soll aber derjenige gehen, der sie am ehesten auf sich nehmen kann. 216 Daß der Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 KSchG ggf. zu einer Umsetzung des Arbeitnehmers verpflichtet ist, stellt gegenüber der Sicherung des konkreten Arbeitsplatzes in
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sichtig. Sogar im Falle des "ungeliebten" Arbeitsplatzes ist seine Sicherung existenzwichtig. Hat der Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz gefunden, ist nicht zuletzt der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz durch das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes legitimiert. Für selbständige Berufe, für die, wenn gleichwohl in anderer Weise als im Falle der Arbeitsplätze der Arbeitnehmer, bei der Freiheit der Berufswahl die Wettbewerbssituation besteht oder zumindest auftreten kann, ist u. U. ein, wenn auch in anderer Weise zu vollziehender, relativer Bestandsschutz angebracht. Gründe der Volkswirtschaft, gesellschaftspolitische Gründe, etwa eine Sicherung von Arbeitsplätzen oder sonstige Belange der Allgemeinheit, können die Erhaltung eines Unternehmens gebieten. Andererseits ist entschieden zu beachten, daß derjenige, der einen solchen Beruf einschließlich des Berufes als "angestellter Unternehmer" wählt, mit seiner Berufswahl für sich persönlich das Berufsrisiko übernimmt. Der Arbeitnehmer übernimmt zwar gleichfalls mit seinem Beruf und der Wahl seines Arbeitsplatzes das Risiko, seines Berufs und seines Arbeitsplatzes verlustig zu gehen. Der selbständig Tätige ist jedoch an sich in ganz anderer Weise als der unselbständig Tätige in der Lage, für seine Existenz zu sorgen. Er kann mittel- und langfristig planen, dabei in Beobachtung der wirtschaftlichen Entwicklung Änderungen und Umstellungen seiner Berufstätigkeit vorsehen und, bei sorgfältiger Beobachtung, sogar kurzfristig, aber immer noch rechtzeitig Vorkehrungen für das Weiterführen seiner Arbeit, ggf. in der einen oder anderen Art und Weise, treffen. Der auf Zeit "angestellte Unternehmer" wie das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft wird bei entsprechender Befähigung und Leistung erfahrungsgemäß immer wieder erneut berufen. Der Arbeitnehmer dagegen ist abhängig von dem Schicksal des Unternehmens, in dem er und für das er tätig ist. Dabei hängt das Unternehmenswohl bei weitem nicht von ihm allein ab. Der Selbständige wird zwar ebenfalls von Vorgängen betroffen, die nicht in seiner Hand liegen; in einem jedenfalls bestimmten Ausmaß vermag er jedoch u. U. mit seinem Tun und Lassen Beachtliches zu seinen Gunsten zu erreichen. Das existentielle Schicksal des Arbeitnehmers einschließlich seines Arbeitsplatzes mit seiner Bedeutung für die Persönlichkeit ist weitgehend von Faktoren abhängig, die er selbst nicht beeinflussen kann. Der Betriebsrat hat bei entsprechendem Tatbestand neben der Unternehmensleitung und zusammen mit ihr zwar dahin zu wirken, daß die Mitarbeiter im Unternehmensverbund zu bleiben vermögen. Die allgewissem Sinne eine Ersatzlösung dar. Die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses im Interesse der Existenz des Arbeitnehmers ist jedoch vordringlich. Die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes ist im übrigen von vornherein nicht beeinträchtigt, wenn mit dem Arbeitsverhältnis ausdrücklich oder konkludent zugleich die Möglichkeit der Umsetzung durch den Arbeitgeber vereinbart ist. Hier kann sich allerdings die Frage einer rechtlich verfehlten Ausübung der Umsetzungsbefugnis unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 157 BGB) oder sogar die Frage der Willkür stellen. II G. Müller
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gemeine Leitung des Unternehmens mit ihrer grundlegenden Bedeutung für dessen Schicksal ist jedoch die Aufgabe der Unternehmensleitung, die ihr nicht abgenommen und auf die Arbeitnehmerschaft oder ihre Repräsentanten nicht mit- und erst recht nicht ausschließlich übertragen werden kann. Der Arbeitnehmer selbst bringt mit seiner Arbeit einen im allgemeinen gebotenen, jedenfalls aber angebrachten Beitrag zur Erhaltung der Existenz und zur Wirksamkeit des Unternehmens ein. Bei diesem Sachverhalt ist es nicht nur angebracht, sondern ethisch sogar geboten, daß der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und seinen Arbeitsplatz nur verlieren darf, wenn in Abwägung aller in Frage kommenden Umstände sein Verbleiben im Unternehmen nicht mehr verantwortet werden kann217. Nicht nur bei der Einführung neuer Technologien, sondern ebenso in anderen Fällen ist eine Garantie des Arbeitsverhältnisses in einem bestimmten Ausmaß ethisch und rechtlich möglich. Das Arbeitsleben scheint derartiges zu kennen , jedenfalls streben verschiedene Gewerkschaften Tarifabkommen dieses Inhalts an. Wegen der Bedeutung des Unternehmens müssen sie allerdings stets zeitlich befristet sein, mögen sie ggf. verlängert werden können. Das konkrete Unternehmen muß überhaupt mit ihnen zurechtkommen, ein Erfordernis, das durch eine entsprechende Fassung der Vorschriften des TV zum Zuge zu kommen hat. In der Wirklichkeit des Wirtschaftslebens werden wohl nur Großunternehmer in der Lage sein, eine Aufrechterhaltung der Arbeitsverträge auf sich zu nehmen. Jedenfalls bedenklich ist eine für eine gewisse längere Zeitspanne erfolgende Absicherung des konkreten Arbeitsplatzes für den konkreten Arbeitnehmer. Umsetzungen und die Zuweisung einer für den Arbeitnehmer zurnutbaren anderen Tätigkeit können aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Gründen geboten sein. Die Möglichkeit der Umsetzung für den äußersten Fall darf nicht unterbunden werden. Der "Heizer auf der E-Lok" ist nicht vertretbar. cc) Der Zusammenhang der Berufsfreiheit des Unternehmers mit der Berufs- und der Arbeitsplatzwahlfreiheit des Arbeitnehmers
Die Berufsfreiheit des Unternehmers und die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers einschließlich seiner Freiheit zur Wahl des Arbeitsplatzes stehen in gegenseitigen Berührungen und in wechselseitigen Beziehungen218. Mit dem Unternehmerischen Beruf ist die Kompetenz zur Errichtung, zur Verfassung 217 Um Mißverständnisse zu vermeiden sei betont, daß die Überlegungen nichts zur Unterscheidung zwischen der ordentlichen und der außerordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung besagen. 218 Das wollen im Ergebnis vielleicht die Darlegungen von He/ga Borrmann, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 24, 74/75, ebenfalls sagen.
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und zur Aufhebung der Arbeitsplätze im Unternehmen gegeben. Ohne die Unternehmerische Tätigkeit werden sogar die für den Unternehmensverbund existenzwichtigen Arbeitsplätze weder geschaffen noch erhalten. In der arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung des Unternehmens und überhaupt in jeder Wirtschaftsordnung ist es Aufgabe des Unternehmers, das Unternehmen insgesamt und in allen seinen Bezügen zu sehen. Die Berufsfreiheit des Unternehmers einschließlich seiner Berufsausübungsfreiheit ist wie jede Berufsfreiheit vom Inhalt des Berufes her bestimmt. Der hier skizzierte Inhalt dieser Unternehmerischen Freiheiten wird sogar wegen der Belange der Gesamtgemeinschaft verlangt. Nur dann kann das Unternehmen seine volkswirtschaftliche Aufgabe zum Wohle der Gesamtgesellschaft erfüllen. Das Grundrecht hat, sieht man näher zu, gleichzeitig eine Pflichtenseite219. Die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers und die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes haben, sollen sie nicht gegenstandslos sein, zur Voraussetzung, daß der konkrete Beruf des Arbeitnehmers für Unternehmen erforderlich ist und daß die angestrebten Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Der Zusammenhang der Freiheiten des Arbeitnehmers mit der Berufs- und der Berufsausübungsfreiheit des Unternehmers ist offensichtlich. Die Freiheit des Unternehmers mit ihrem Bezug zu dem Unternehmen insgesamt und zu allen seinen Aspekten, damit nicht zuletzt zu den für das Unternehmen wichtigen Mitarbeitern, erzeugt eine beachtliche Verpflichtung. Immer wieder muß betont werden, daß die Arbeitnehmer Menschen sind, deren Menschenwürde und deren mit ihrer menschlichen Natur gegebenen Rechte vom Unternehmer anzuerkennen und zu achten sind. Das aber bedeutet im vorliegenden Zusammenhang etwa, daß der Unternehmer nicht willkürlich Arbeitsplätze aufheben und nicht willkürlich konkrete Berufe der Arbeitnehmer obsolet werden lassen darf. Bei der ihm obliegenden Organisation des Unternehmens hat er nachdrücklich die Belange der Arbeitnehmer mitzusehen und mitzubeachten. Er darf also auch nicht ohne anerkennenswerte Gründe Rationalisierungen vornehmen, die zum Wegfall von Arbeitsplätzen und Berufen führen. Letztlich muß insofern entscheidend sein, ob bei dem Unternehmen als Zelle der Volkswirtschaft und bei seiner allgemeinen Bedeutung für die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft derartige Schritte geboten sind oder doch angebracht erscheinen. Der Arbeitnehmer mit der Freiheit seiner Berufswahl und der Wahl seines Arbeitsplatzes ist kein Objekt. Die Beispiele zeigen im übri219 Das Gebrauchmachen eines jeden Grundrechts darf nicht nur unaufhebbare Rechte, insbesondere Grundrechte und sonstige notwendig schützenswerte Positionen Dritter einschließlich notwendiger Positionen der staatlichen Gerneinschaft im Kern treffen oder auch nur wesentlich tangieren. Die Grundrechte sind auch gewährleistet, damit der Einzelne sich selbst gerecht wird und in der Gesellschaft und Gemeinschaft in einer sachgemäßen Weise aufzutreten vermag. Bereits dieser ihr sozialer Aspekt zeitigt die Verpflichtung, die Belange von Gesellschaft und Gerneinschaft bei ihrer Ausübung zu beachten.
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gen, daß der Unternehmer ggf. nicht nur die Belange der Angehörigen der Arbeitnehmerschaft in ihrer Gesamtheit zu beachten hat. Unternehmens- und Betriebsänderungen mit der Folge eines Wegfalls bisheriger Berufe und Arbeitsplätze treffen in einer Fernwirkung durchweg, jedenfalls aber des öfteren, mehr oder weniger beachtliche Teile der Arbeitnehmerschaft überhaupt. Andererseits muß gesehen werden, daß die Berufs- und die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers von vornherein begrenzt sind. Da sie als Arbeitnehmer tätig werden wollen, sind sie darauf angewiesen, daß die (Arbeitnehmer-)Berufe und die Arbeitsplätze benötigt werden. Die Grundfreiheiten des Arbeitnehmers haben die Arbeitswelt mit ihrer jeweiligen Technik und mit ihren jeweiligen Berufen zum Hintergrund. Ihren notwendigen Beitrag zur konkreten Anerkennung der Menschenwürde des Arbeitnehmers leisten sie nur unter der Bejahung oder doch unter der Hinnahme dieser Gegebenheiten. Letztere müssen als solche allerdings ethisch bejaht werden können oder doch wenigstens ethisch vertretbar sein. Wegen der Berührung und dem Ineinandergreifen der Berufsfreiheit des Unternehmers und der des Arbeitnehmers einschließlich seiner Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes läßt sich von einer Mischzone sprechen, in der diese Grundrechte zum Zuge kommen. In ihr können ohne weiteres Interessenkonflikte auftreten. Der Unternehmer wird, in jedenfalls nicht wenigen Fällen wohl primär wegen der Sicherung des Unternehmens, allerdings auch aus großem Eigeninteresse, maßgeblich dessen Renditesituation sehen; die Arbeitnehmer werden betont ihre berufliche Existenz und ihre Arbeitsplatzbelange ins Feld führen. Damit ist im Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG ein erheblicher Raum für die Wirksamkeit der TV-Autonomie gegeben, nicht zuletzt in Zeiten technologischer und allgemein-wirtschaftsorganisatorischer Umstellungen. Eine konträre Wertung der Belange des Unternehmens hier und der Belange der Arbeitnehmer dort kann bei der jeweils verschiedenen Stellung der Unternehmer und der Arbeitnehmer und ihrer hierdurch bestimmten Sicht insbesondere dann nicht als in sich verwerflich gewertet werden, wenn die existentielle Situation des Unternehmens und die existentielle Situation der Arbeitnehmer in Rede stehen. Die sachgemäße Lösung des Konflikts wird unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen sein, was alles in allem der Gesamtgemeinschaft dient. Dabei spielen Prognosen, die Setzung von Prioritäten udgl. mit den hierbei anzuerkennenden Beurteilungsspielräumen eine beachtliche Rolle. Vor allem sind die Auswirkungen der existentiellen Absicherung der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmerschaft mit ihren Folgen für die Mitarbeiter und allgemein für die Arbeitnehmerschaft zu sehen und mit ihrem jeweiligen Gewicht in ihrem Verhältnis zueinander abzuwägen. Der Sinn der TV-Autonomie, durch die Tätigkeit der Sachnahen zu einer befriedenden Ordnung des Arbeitslebens zu kommen, wird eindrucksvoll deutlich. Es zeigt sich gleichzeitig, daß diese befriedende Ordnung von dem Gesichtspunkt des allgemeinen Wohles aus zu bestimmen ist.
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Die sozialethische Grundlage und der sozialethische Gehalt der rechtlich bestehenden Berufsfreiheit des Unternehmers sowie der Berufsfreiheit und der Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers sind sichtbar geworden. Gleichzeitig tritt die wegen dieser Rechte der tariflichen Betätigung gezogene Grund-Schranke, die Existenz eines ethisch getragenen und ethisch verlangten Grund-Rechtes in Erscheinung. Die Freiheiten binden die TV-Autonomie. Ebenso ist aber auf der anderen Seite die ihr offenstehende Möglichkeit im Bereich der "Mischzone" als sozialethisch legitim anzuerkennen. Die konkreten tariflichen Regelungen müssen wegen der Notwendigkeit, sowohl den Kerngehalt der Berufsfreiheit des Unternehmers wie den der Freiheiten des Arbeitnehmers zu sehen, vor allem das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten. Wegen seines Gebotes, die verschiedenen Größen in ihrer konkreten Erscheinung in eine Beziehung zueinander zu setzen und in ihrer Bedeutung abzuwägen, ist es zunächst ein formales Prinzip. Bei diesem seinem Gebot ist es jedoch zugleich ein materielles Gerechtigkeitsprinzip und somit ein sozialethisches Erfordernis von besonderem Rang. Daß bei der Erfassung der Gewichte der Positionen und der Abwägung innerhalb derjenigen Grenzen, die je nach der Sachlage einmal enger und einmal weiter gezogen sind, divergierende Beurteilungen rechtlich und sozialethisch legitim sind, ist allerdings ebenso zu beachten. Die Kontingenz der menschlichen Erkenntnisfähigkeit tritt in Erscheinung. Allgemein gehaltene nähere und deshalb doch abstrakt bleibende Angaben zu den Grenzen lassen sich nicht machen. Was soeben zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitspostulates im Blick auf die Berufsfreiheiten des Arbeitnehmers und des Unternehmers im Zusammenhang mit der TV-Autonomie gesagt ist, hat für die Setzung der tariflichen Regelungen allgemeine Bedeutung. Die sachgemäße Behebung von lnteressenspannungen und Interessenkonflikten ist nur bei Beachtung dieser Maxime möglich. Nur in Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips läßt sich im übrigen ermitteln, zu welchem Ergebnis die vom Gemeinwohl gebotene oder doch nach ihm wenigstens vertretbare Behebung der Spannung führen muß. Allerdings sind wiederum in wenigstens sehr vielen Fällen legitime Beurteilungsspielräume anzuerkennen. Eine brauchbare Formel für die Prüfung bietet sich mit dem Begriff von der offensichtlichen Verletzung des Gemeinwohls an. Seine Tangierung muß schon deswegen eindeutig erkennbar sein, um nicht wegen sonst eintretender Auseinandersetzungen über ihr Vorliegen gerade auf diese Weise eine Störung hervorzurufen.
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dd) Ausschluß der Iaboristischen Wirtschaftsordnung bei der Anerkennung der Berufsfreiheit, insbesondere der Berufsfreiheit des Unternehmers und des Arbeitnehmers Die Gewährleistung der Berufsfreiheit des Unternehmers/Arbeitgebers und des Arbeitnehmers könnte, was abschließend bemerkt sei, Bedeutung für die Grund-Arbeitsteilung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern haben. Die irgendwie erfolgende Umwandlung des Arbeitsverhältnisses in das Verhältnis eines Mit-Unternehmers, ohne daß sich aber das Arbeitsverhältnis als soziologische Größe aufheben ließe, wäre ein Widerspruch in sich. Ein tatsächlich bestehender Sachverhalt würde rechtlich konträr bewertet. Das ist in der Sache willkürlich, und es ist absurd. Die Erfassung sowohl der Tatsächlichkeit wie ihre hier fragliche rechtliche Bewertung, also eine Gesamtbetrachtung, läßt ein unhaltbares Gebilde in Erscheinung treten; wegen seines inneren Widerspruchs ist es jedenfalls sozialethisch nicht anzuerkennen. Die grundrechtliche Anerkennung eines Berufes, der mit der ihm zugrunde liegenden Wirklichkeit schlechterdings nicht in Deckung gebracht werden kann, heißt eine Nicht-Wirklichkeit als Wirklichkeit zu definieren. Im vorliegenden Zusammenhang ist das noch nicht einmal als Fiktion möglich, geschweige denn, daß ein atypischer Beruf in Rede steht. Die Rechtsordnung und zumal eine Grundrechtsordnung hebt sich als Ordnung selbst auf, wenn sie, gewollt oder ungewollt, entsprechendes leisten sollte. Die erkennbar vorliegende Anerkennung der Berufe als Unternehmer und als Arbeitnehmer durch das GG schließt die Anerkennung eines in sich widersprüchlichen Berufes im Wirtschafts- und Arbeitsleben aus, und sie kann, als in sich verfehlt, somit ferner nicht im Namea,der allgemeinen Berufsfreiheit verlangt werden. Die Autoren, die im Ergebnis eine strenge rechtliche Mit-Unternehmerstellung des Arbeitnehmers von seinem Arbeitsverhältnis her für möglich halten, sehen diesen Sachverhalt nicht220. Ein laboristisches Wirtschaftssystem bleibt unannehmbar. 220 Siehe etwa v. Nell-Breuning, in: Festschrift Hersehe! zum 85. Geburtstag, 312/ 314, mit der betonten Bejahung einer Vereinbarkeit des "Nur-Lohnarbeitsverhältnisses" mit der voll gleichberechtigten Mitbestimmung auch in streng wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die in Sowjetrußland angestrebte Neuordnung des Wirtschaftssystems scheint nach einem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 2. Januar 1988 ("Sowjetische Bürokraten hemmen den Wandel") ebenfalls ein laboristisches Wirtschaftssystem verwirklichen zu wollen. Nach einem zum 1. Januar 1988 in Kraft getretenen Gesetz soll ein ausschließlich aus Betriebsratsangehörigen bestehendes und von der Gesamtbelegschaft des jeweiligen Betriebes gewähltes Gremium "Belegschaftsrat" die Führungskräfte allein bestellen, die sodann ihm Rechenschaft schuldig sind. Alle Entscheidungen der Führungskräfte müssen mit dem "Belegschaftsrat" abgestimmt werden. Dieses Organ wird in der Pressemitteilung von der Zeitung als "Arbeitnehmervertretung und Aufsichtsrat" in einem bezeichnet. Bei der Konstruktion des Gebildes mag die kommunistische Ideologie von der Arbeiterklasse als Besitzerin der Produktionsmittel im Hintergrund stehen. Im übrigen werden schwerwiegende Reibungen deswegen entstehen,
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Die "Vergesellschaftung" von Unternehmen führt an sich nicht zu einer Iaboristischen Ordnung. Rechtlicher Träger des Unternehmens ist eine näher gekennzeichnete eigenständige Größe, u. U. der Staat selbst. Die Unterscheidung zwischen Unternehmensleitung und Arbeitnehmern bleibt ihrerseits voll aufrechterhalten. Eine andere hier nicht zu behandelnde Frage ist, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine "Vergesellschaftung" sozialethisch geboten, angebracht oder doch annehmbar ist. Staatsunternehmen und überhaupt Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Hand, wie z. B. die sog. Regie-Unternehmen von Kommunen, sind, was einmal ausdrücklich gesagt sei, jedenfalls in sich nicht unethisch. f) Der Koalitionspluralismus und die negative Koalitionsfreiheit. Der Solidaritätsbeitrag
Wie mit Art. 12 Abs. 1 GG der Beruf als Unternehmer besonders geschützt ist, aber schon mit Art. 9 Abs. 3 GG vorausgesetzt wird, so garantiert letztere Bestimmung verfassungsrechtlich des weiteren den Koalitionspluralismus. Der Schutz des Zusammenschlusses mit anderen, die gleichgerichtete Interessen haben, ist mit Zwangsorganisationen zur Interessenverfolgung nicht vereinbar. Sozialethisch und damit ebenfalls rechtlich muß es dem Menschen (jedenfalls im Prinzip) frei stehen, ob und in welchen Zusammenschlüssen er seine Belange in Vereinigungen mit Dritten wahren und fördern will. Ebenso steht es ihm frei, ob er seine Interessen überhaupt in einem Verbund zu realisieren sucht. Die Bejahung der negativen Koalitionsfreiheit ist daher ein ethisches Gebot, das durch Art. 9 Abs. 3 GG anerkannt ist. Die Gewährleistung der positiven Koalitionsfreiheit zur Interessenverfolgung schließt notwendig die Gewährleistung der diesbezüglichen negativen Freiheit mit ein, also die Freiheit des Fernbleibens von und des Austrittes aus den Koalitionen221. Der dem angelsächsischen Rechtskreis bekannte closed shop ist sozialethisch im Prinzip mehr als bedenklich. - Der closed shop ist allerdings auch als eine betriebsverfassungsrechtsähnliche Strukturierung des Betriebes zu werten, die ihrerseits sämtliche Angehörigen der Belegschaft erfassen muß. - Was den Koalitionspluralismus betrifft, so stehen die positive und die negative Koalitionsfreiheit in einem inneren Zusammenhang. Die Freiheit des Austritts aus einem Verband ermöglicht die Gründung eines anderen Verbandes und den Beitritt zu ihm. Die Anerkennung des Koalitionspluralismus gewährleistet im übrigen den einzelnen Verbänden ihren Bestands- und Betätigungsschutz. Die negative Koalitionsfreiheit verbietet, jedenfalls im Grundsatz, nicht zuweil nach allen Mitteilungen eine umfassend tätige zentrale Planungsbürokratie des Staates aufrechterhalten bleibt. Das gilt auch dann, wenn diese Bürokratie nur "Rahmennormen" setzen sollte. 221 Siehe BVerfG 50, 290 {367); BAG 20, 175 (215); Scholz, in: Maunz/Dürig!Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 221.
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Ietzt die sog. tariflichen Differenzierungsklauselri und die ihrer Absicherung dienenden Spannenklauseln. Die in einem TV vereinbarten Differenzierungsklauseln gewähren dem Arbeitnehmer, welcher der die Vereinbarung abschließenden Koalition angehört, vom Arbeitgeber zu erbringende Vergünstigungen, die dritten Arbeitnehmern nicht zustehen sollen. Die Spannenklauseln sollen dies absichern. Läßt der Arbeitgeber die Vergünstigungen den anderen Arbeitnehmern ebenfalls zukommen, erhöhen sie sich für das durch den TV bedachte Gewerkschaftsmitglied. Mittelbar wird so ein Druck auf die gewerkschaftsfremden Arbeitnehmer ausgeübt, dem Arbeitnehmerverband beizutreten; sie gehen ja sonst leer aus. Die sog. beschränkten Differenzierungs- und Spannenklauseln, die sich zugleich gegen in anderen Gewerkschaften organisierte Arbeitnehmer richten, verstoßen zudem gegen die positive KoalitionsfreiheiL Rechtlich und sozialethisch beeinträchtigen sämtliche Klausein die persönliche Entscheidung zum Ob und Wie der persönlichen Interessenverfolgung. Allerdings ist eine unerhebliche Verschiedenbehandlung kein irgendwie die negative und positive Koalitionsfreiheit tangierender Druck222. Im Falle der beschränkten Differenzierungs- und Spannenklauseln dürfte sie zudem zusätzlich als ein Angriff auf die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisiertel). Jlnzusehen sein. Deren Ausschluß wirkt bereits ohne Rücksicht auf einen von der Klausel ausgehenden Druck als Diskriminierung223. Die vor allem mit der TV-Autonomie den Verbänden zugewiesene öffentliche Aufgabe ist andererseits nicht außer acht zu lassen. Das wirft die Frage nach einer Unterstützung der Vereinigungen durch die nicht koalitionsgebundenen Angehörigen derjenigen Schichten auf, deren Belange durch die Koalitionen als Repräsentanten der Schichten des Arbeits- uhd Wirtschaftslebens verfolgt und in Spiel und Gegenspiel grundsätzlich in einer mehr oder weniger ausgewogenen Ordnung aufgehoben werden. Ein Zwang zum Beitritt, gleich ob er in massiver oder in subtiler Weise ausgeübt wird , scheidet aus. Die öffentliche Aufgabe der Koalition ist das Folgeergebnis einer in antagonistischer Weise stattfindenden privaten lnteressenverfolgung, und die befriedende Ordnung des Arbeitslebens soll aufgrund der in erster Linie geschützten Interessenvertretung eintreten. Dagegen ist ein Beitrag der nicht organisierten Arbeitnehmer an die Gewerkschaften - und ebenso ein Beitrag der nicht organisierten Arbeitgeber an die Arbeitgebervereinigungen- als Pflichtleistung zulässig (Solidaritätsbeitrag)224. Er findet seine Legitimierung darin, daß die Verbände im Ergebnis die Belange dieser Angehörigen der Arbeitsund Wirtschaftsgesellschaft gleichfalls verfolgen, und vor allem in der öffentli222 Siehe aber unten die Sicht der Frage unter dem Gesichtspunkt der Gegnerunabhängigkeit 223 Siehe zu alledem Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. RZ 76. Ferner BAG 20, 175 (203 ff., auch 210/222, 228) mit allerdings unter dem Gesichtspunkt der negativen Koalitionsfreiheit etwas kompliziert wirkenden Überlegungen. 224 Wiedemann!Stumpf, TVG, Ein!. RZ 73.
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eben Aufgabe, die die Koalitionen erfüllen. Sie werden nun einmal repräsentativ für die Angehörigen derjenigen Schichten des Arbeits- und Wirtschaftslebens tätig, zu denen ihre Mitglieder zählen. Der Solidaritätsbeitrag muß deutlich unter dem Mitgliedsbeitrag liegen. Es darf wegen seiner Höhe kein Druck zu einem Koalitionsbeitritt ausgehen. Schließlich muß es den NichtOrganisierten freistehen, an welchen Verband sie ihre Beiträge entrichten wollen. Eine Regelung, ihn an eine bestimmte Organisation abzuführen, verstößt gegen das Prinzip des Koalitionspluralismus. Sozialethisch fällt zugleich ins Gewicht, daß der zum Solidaritätsbeitrag verpflichtete Arbeitnehmer und Arbeitgeber frei zu entscheiden hat, bei welcher Vereinigung er die Wahrung und Förderung seiner Belange am besten aufgehoben sieht. Für den Solidaritätsbeitrag ist eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Sie ist notwendig; weil die Verbände Nichtmitglieder nicht durch einen TV oder sonstwie zur Leistung an die Koalitionen verpflichten können. Der Gedanke, daß die Vereinigungen auch für die Nichtorganisierten tätig werden und eine öffentliche Aufgabe realisieren, kann in diesem Zusammenhang keine Geltung beanspruchen. Eine irgendwie geartete Beitragshoheit gegenüber dritten Arbeitnehmern und Arbeitgebern steht den Vereinigungen bei ihrem primären Charakter als privaten Interessentenzusammenschlüssen nicht zu. Die tarifvertragliche Begründung des Solidaritätsbeitrags in der Schweiz ist insofern kein Vorbild225. Die Überlegungen liegen auf einer anderen Ebene als die Ablehnung des Gedankens der Differenzierungs- und Spannungsklauseln. Hier geht es um die Unterstützung der öffentlichen Aufgabe der Verbände, dort um einen Zwang zum Koalitionsbeitritt. Ob der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur Erbringung des Solidaritätsbeitrags ausspricht oder nicht, steht in seinem freien Ermessen. Der Interessenverfolgung im Verbund muß die persönliche Entscheidung der Interessenten zugrunde liegen. Ebenso haben die Koalitionen als Interessenvereinigungen entschieden ein höchst eigenes Interesse an ihrem Bestehen und an ihrer koalitionsgemäßen Betätigung. Sogar wenn das Koalitionswesen verkümmern sollte, ist insofern keine gesetzgeberische Tätigkeit geboten. Das Eigeninteresse der Arbeitnehmer und der Unternehmer kann zwar angeregt, aber nicht erzwungen werden. Ein Gesetz zu einem Solidaritätsbeitrag mit dieser Zielrichtung wäre verfehlt. Etwas anderes ist aber eine Sicherstellung des Koalitionswesens im Interesse der Arbeitnehmerschaft und Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, Einl. RZ 73. Für die Schweizer Regelung spricht in gewisser Weise allerdings Art. 365 b Abs. 2 Schweizer Obligationsrecht. Der wegen der Tätigkeit der TV-Parteien erfolgende Beitrag darf ihnen nämlich nicht ausschließlich zugute kommen. Die vom Verfasser in einem früheren Gutachten "Gedanken zum Solidaritätsbeitrag" vertretene Auffassung, daß durch einen TV den Nichtorganisierten die fragliche Leistung auferlegt werden könne, wird ausdrücklich aufgegeben. 22s
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Unternehmerschaft insgesamt, des näheren zur Gewährleistung der Selbstregelung der sie primär betreffenden Fragen durch diesachnahen Verbände. Ein sozialethisch anzuerkennender, mindestens aber vertretbarer Aspekt einer Forderung nach allein einer einzigen Koalition auf jeder Seite des Arbeitslebens ist der Gedanke, daß in einem Betrieb und in einem Unternehmen im Interesse des möglichst reibungslosen Geschehensablaufes dort einheitliche bzw. sachgemäß aufeinander abgestimmte allgemeine Arbeitsbedingungen vorliegen sollten. An der Zurückweisung der Forderung in ihrem Kern ändert dies allerdings nichts; der Verstoß gegen die Ethik der Interessenvertretung bliebe bestehen. Der anzuerkennende Aspekt läßt jedoch deutlich werden, daß die verschiedenen auf derselben Seite des Arbeitslebens vorhandenen Koalitionen die sozialethische Verpflichtung haben, dieselben Materien hinsichtlich derselben Unternehmen und Betriebe einer übereinstimmenden tariflichen Regelung oder doch praktisch übereinstimmenden Ordnungen zuzuführen. Rechtlich wird das allerdings nur als eine Iex imperfecta zu werten sein. Der Charakter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände als Interessenvereinigungendürfte einer zwingenden Bindung entgegenstehen. Die Prinzipien der negativen Koalitionsfreiheit und des Koalitionspluralismus werden wegen des Auftretens insbesondere der Gewerkschaften im allgemeinen politischen und sogar im weltanschaulichen Raum, wie das in der Bundesrepublik und in sonstigen europäischen Ländern der Fall ist, sozialethisch sozusagen zusätzlich erfordert. Der Einzelne muß sich nach seinem (sorgfältig urteilenden) Gewissen ohne irgendwelchen Druck zum Beitritt, Nicht-Beitritt und zum Austritt entscheiden können. Die Gewissens- und Glaubensfreiheit einschließlich der Freiheit der Ausübung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und ebenso die Freiheit der Religionsgemeinschaften und der Weltanschauungsvereinigungen, ihre Angelegenheiten eigenständig zu ordnen und zu verwalten, sind zudem durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG sowie durch Art. 140 GG i. Verb. m. Art. 137 Abs. 3, 7 Weim. Verf. verfassungsrechtlich geschützt226. Letztere Vorschriften haben diejenigen Koalitionen sogar in ihrem internen Bereich, ihren Mitgliedern gegenüber, zu beachten, die nicht unter einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Aspekt tätig werden wollen227 . Die letzteren Verfassungsvorschriften gewährleisten die sog. Kirchenautonomie. Sog. "weltanschauliche Verbände" können gebildet werden, sofern es darum geht, daß sie - und zwar eigenständig - gesellschaftliche Ordnungsgedanken von Kirchen, sonstigen Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Vereinigungen für ihre Tätigkeit übernehmen. Es geht jedoch nicht an, daß eine Vereinigung als solche an Kirchen usw. gebunden oder sogar von ihnen abhängig ist; siehe G. Müller, Die Freiheit von parteipolitischen und kirchlichen Bindungen als eine Voraussetzung für die Tariffähigkeit einer Koalition, in: Festschrift für Nipperdey zum 70. Geburtstag, Band Il, 435 ff. Voraussetzung für die Anerkennung "weltanschaulicher Verbände" ist allerdings wiederum, daß die Ordnungsgedanken der religions- und weltanschaulichen Gemein226
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Daß die Verbände der Arbeitnehmer von ihren Funktionären deren Zugehörigkeit zu ihnen verlangen müssen und von ihren sonstigen Bediensteten jedenfalls erwarten können, ist mit ihrer Eigenart gegeben. Andererseits können Funktionäre der Arbeitgebervereinigungen nicht Mitglieder von Gewerkschaften sein. Die Glaubwürdigkeit der Interessentenzusammenschlüsse läßt um der Interessenverfolgung willen die positive Koalitionsfreiheit zurücktreten. Die Gewährleistung der Interessenverfolgung im Zusammenschluß gestattet kein Verhalten entgegen der Maxime, auf der der Zusammenschluß selbst beruht. Die freie Entschließung, im Koalitionswesen tätig zu werden, läßt das ethisch haltbar sein und verlangt es als Erfüllung der Arbeitsaufgabe sogar. g) Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip, Rechtsstaatsprinzip
Vor allem sind die TV-Parteien an die fundamentalen Wert- und Ordnungsprinzipien wie die der Menschenwürde, des Sozialstaatsprinzips und des Rechtsstaatsprinzips gebunden228. Diese Prinzipien sind sowohl äußerste Grenzen für die Setzung von Regelungen wie verbindliche Leitlinien zu ihrer inhaltlichen Gestaltung. Die grundlegenden Wertprinzipien der Verfassung sind zugleich sozialethische Postulate von höchstem Gewicht. Das Sozialstaatsprinzip verlangt eine allgemein gerechte Sozialordnung. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet die Beachtung materialer Gerechtigkeit und die Gewährleistung von RechtssicherbeiL Beide Teilgrößen des Rechtsstaatsgedankens stehen in einer notwendigen Beziehung zueinander. Materiale Gerechtigkeit verlangt die sozialethische Haltbarkeit der Ordnungen und Maßnahmen und dabei die Berücksichtigung der Bedingungen von Raum und Zeit. Rechtssicherheit wird erfordert wegen der Verläßlichkeit der Rechtsordnung als eines konstitutiven Elementes zum Leben in der Gesellschaft und für das Dasein der Gesamtgemeinschaft. Ohne materiale Gerechtigkeit entbehrt das Recht der verbindlichen Legitimation und führt auf die Dauer nur zu leicht zu untragbaren Belastungen der Gesamtgemeinschaft; ohne Rechtssicherheit steht das Chaos vor der Tür. Zu verkennen ist aber auch nicht, daß die beiden Postulate sehr oft in schaften dem Menschen mit den ihm seiner menschlichen Natur zukommenden Rechten und den ihm nach seiner Natur obliegenden Pflichten entsprechen. Religionen, Religionsgemeinschaften, Weltanschauungen und Weltanschauungsgemeinschaften, die Ethikwidriges gebieten oder auch nur erlauben und tolerieren (z. B. Witwenverbrennungen, Förderung des Selbstmordes), genießen als Pervertierungen von vornherein keinen verfassungsrechtlichen Schutz. Sie verstoßen gegen die Rechtsordnung und sind somit gemäß Art. 9 Abs. 2 GG verboten. Auch die Grundrechte nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG kennentrotzihrer dem Wortlaut nach unbeschränkten Gewährleistung eine immanente Schranke. 228 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 82. Siehe vor allem auch BVerfG 3, 162 (182); 6, 55 (71); 27, 111 (121); 31, 8 (25); 31, 119 (130).
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einem Spannungsverhältnis zueinander stehen können; es besteht im gegebenen Falle ein legitimer Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Gewichtes beider Größen in ihrem Verhältnis zueinander. Es ist sowohl im Interesse der materialen Gerechtigkeit wie der Rechtssicherheit und somit wegen des Rechtsstaatsprinzips der bestmögliche Ausgleich zu suchen. Der Mensch ist autonomes Subjekt, aber gleichzeitig gemeinschaftsgebunden und sittlich verpflichtet, also eben nur relativ "autonom". Als geist-leibliches Wesen besitzt jeder Mensch von seiner Empfängnis an bis zum Tode die gleiche Menschlichkeit und damit die gleiche Würde, gleich, ob er seine stets vorhandenen Anlagen, insbesondere seinen Verstand und die Möglichkeit zur freien Willensentscheidung, zu entfalten vermag oder nicht. Die Wertprinzipien sind keine nur idealen Postulate; sie sind unmittelbar mit der menschlichen Natur als verbindliche Größen gegeben. Das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip besagen m. E. jedenfalls im Kern rechtlich und ethisch dasselbe. Das Rechtsstaatsprinzip ist eine rechtlich allgemein ordnende und regelnde Maxime, während das Sozialstaatsprinzip auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten im eigentlichen Sinne des Wortes abstellt. Mit ihrer jeweiligen Zielrichtung sprechen sie, ineinander übergehend, in gewisser Weise aber doch je verschiedene Anwendungsgebiete an. Das Sozialstaatsprinzip als das Gebot zur Herbeiführung einer allgemein gerechten Sozialordnung und als Grenzlinie gegenüber ungerechten Ordnungen hat für die TV-Autonomie besondere Bedeutung. Der TV schafft eine Teil-Ordnung für die Arbeitsgesellschaft. Mit seinem stets das Wirtschaftsleben im engeren Sinne erfassenden Ergebnis bleibt er ohne jede Einschränkung dabei immer im Wirkungsbereich der Maxime; das Wirtschaftsleben ist ebenfalls eine gesellschaftliche Größe. Ferner tritt in beiden Bereichen das Rechtsstaatsgebot als allgemeine Ordnungsmaxime deutlich in Erscheinung, und es muß dort in Erscheinung treten. Mit dem TV liegt ein Beispiel für die Identität oder doch für die Teilidentität beider Prinzipien vor229. Ein besonderer Aspekt des Sozialstaatsprinzips ist das in ihm enthaltene Gebot der Anhebung sozial Schwacher. Nur ist für den Bereich der TV-Autonomie, wie übrigens allgemein für das Arbeitsrecht, zu beachten, daß von vornherein z. B. kleine Unternehmer und ein Teil der Inhaber mittlerer 229 Ob man von einer Identität oder von einer Teilidentität der Rechtsstaatsmaxime und des Sozialstaatsprinzips spricht, hängt davon ab, ob erstere betont nur als allgemein regelndes Postulat und letzteres allein in seiner ihm immanenten Beziehung zum gesellschaftlichen Leben gesehen wird. Der Verfasser neigt dazu, bei dem eigentlichen Gehalt ihrer Aussage beide Sätze im Grunde als identisch anzusehen. Er möchte des näheren den Sozialstaatsgrundsatz als eine Teilgröße des Rechtsstaatssatzes auffassen. Vom umfassend gesehenen Rechtsstaatsprinzip aus liegt keine Unvereinbarkeit und keine Spannung zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat vor. Das Gegenteil wird in der Rechtswissenschaft allerdings angenommen. Hierzu und zur Auflösung der dann gegebenen Problematik siehe Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 VIII RZ 29 ff.
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Unternehmen ebenfalls sozial schwach sind oder doch leicht sozial schwach sein können. Allein den Arbeitnehmer als sozial Schwachen zu sehen, ist verfehlt. Ausschließlich ihn in der Wirtschaftsgesellschaft in diese Kategorie einzuordnen, erscheint als eine Nachwirkung der ersten Periode der Industrialisierung. Wegen seiner Weisungsunterworfenheit befindet sich der Arbeitnehmer allerdings immer in einer von einer besonderen Gefahr gekennzeichneten Lage. Des weiteren darf die Bedeutung des Arbeitsplatzes, der Entgeltfrage sowie der allgemeinen Arbeitsbedingungen für die existentielle Lage des Arbeitnehmers nicht außer acht gelassen werden. Auf der anderen Seite hat sich die gesellschaftliche Wertung des Arbeitnehmers und nicht zuletzt sein rechtlicher Schutz und seine Stellung nach der Rechtsordnung gegenüber früheren Zeiten wesentlich geändert. Er ist heute menschlich, gesellschaftlich und mit seiner funktionellen Aufgabe voll anerkanntes Glied der Gesellschaft und der Gemeinschaft. Gegenüber der TV-Autonomie ist das Willkürverbot von besonderem Gewicht. Die Rechtswissenschaft sieht dieses Verbot jedenfalls verschiedentlich als einen Aspekt des mit Art. 3 Abs. 1 GG normierten allgemeinen Gleichheitssatzes230. Zutiefst ist dies jedoch eine rechtsstaatliche Aussage; willkürliche Setzungen und überhaupt willkürliche Handlungen und willkürliches Verhalten jeder Art sind in sich ungerecht. Das Willkürverbot bestimmt, den zu regelnden Sachverhalt entsprechend seiner Gegebenheit zu beachten; die Regelung muß dem Tatbestand entsprechen. Als Ergebnis eines überspitzten Rechtspositivismus, bei der Annahme einer unbeschränkten und unbeschränkbaren Souveränität der Rechtssetzung insbesondere durch den Staat, scheint der Gedanke einer selbstherrlich erfolgenden Normgebung im Hintergrund immer noch eine Rolle zu spielen. Die Rechtsregel darf aber nicht am Sachverhalt vorbeigehen. Sie muß ihm im Gebot, im Verbot und in etwaigen Begriffsdefinitionen entsprechen23t. Anderenfalls liegt eine innerlich nicht legitimierte Anordnung vor; da sie nicht haltbar ist, ist sie in sich verfehlt und brüchig. Nicht zuletzt kann sie wegen des Fehlens innerlicher Autorität sachlich nicht binden. Bei dem mit dem Unternehmen vorgegebenen Sozialverbund ist es unzulässig, den Betriebsrat und sein Wirken unter dem Gesichtspunkt einer "Gegenmacht" zum Unternehmer zu betrachten. Wenn im anderen Zusammenhang darauf hingewiesen wurde, daß der Gedanke der Gegenmacht die geltende Rechtsordnung mit ihrer Anerkennung des Sozialverbundes mißachtet, geht es jetzt um das Verbot, einesachverfehlte Rechtssetzung durch den TV vorzunehmen. Der substantielle Kern des Unternehmens als eine volllegitime und dabei nicht zuletzt im Blick auf die Allgemeinheit notwendige Größe würde abermals erheblichen Gefährdungen ausgesetzt und 230 Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet u. a., Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. 231 Vgl. BVerfG 55, 274 (303/306).
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schließlich gesprengt. - Die Interessenwahrung zugunsten der Belegschaft und ihrer Angehörigen ist etwas anderes. - Das für die TV-Autonomie bedeutsame Verhältnismäßigkeitsprinzip mit seiner Aussage, Gegebenheiten in ein sachgerechtes Verhältnis zueinander zu setzen, vielleicht besser gesagt, das im Sachverhalt vorgegebene Verhältnis zu beachten, ist m. E. gleichfalls eine Erscheinungsform des allgemeinen Willkürverbotes. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit bringt einen Gedanken des Rechtsstaatsprinzips zum Ausdruck, und es ist insofern mehr und anderes als lediglich eine letzte Grenzlinie. Die mit dem Rechtsstaatspostulat gegebene Forderung zum Gehalt der Regelungen tritt deutlich in Erscheinung. Das sachgemäße Erfassen des Tatbestandes und die sachgemäße Beziehung zwischen ihm und der rechtlichen Anordnung als ein grundlegendes Gebot für die Handhabung der TV-Autonomie muß von den TV-Parteien auf jeden Fall unbedingt beachtet werden. Der Grundsatz der Menschenwürde, das Rechtsstaatsprinzip mit seinem Willkürverbot und dem Verhältnismäßigkeitspostulat sowie die Sozialstaatsmaxime einschließlich ihres Aspektes einer Anhebung sozial Schwacher lassen durchweg einen mehr oder weniger breiten Beurteilungsspielraum für die Rechtssetzung zu und erfordern ihn sogar. Es stehen allgemeine rechtliche und ethische Maximen in Rede; gegenüber konkreten Situationen sind sie in nähere Ordnungsvorschriften und in etwaige sonstige Maßnahmen umzusetzen. Abwägungsfragen mit ihrem in Grenzen jeweils zulässigen volitiven Moment und selbst Zweckmäßigkeitserwägungen spielen eine Rolle. Ein völlig sachgerechtes Erkennen in "Detailfragen" ist dem kontingenten menschlichen Verstand jedenfalls sehr oft versagt. Die Maximen geben aber die unverrückbaren ethisch und rechtlich nicht zu mißachtenden Grenzlinien sowie eine als solche unerläßlich zu beachtende Regelungsdirektive vor. In wohl nicht wenigen Fällen ist über den unmittelbar zu regelnden Sachverhalt hinaus im Interesse einer möglichst sachgemäßen Ordnung das weitere, für die Regelung selbst jedoch bedeutsame Umfeld zu beachten. Das besagt das Rechtsstaatsprinzip und ggf. des näheren der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch. h) Das Gemeinwohl
Das Gemeinwohl bindet die TV-Parteien ebenfalls und sogar betont. aa) Allgemeines
Der Gemeinwohlbegriff ist kein Leerbegriff. Sein Inhalt ist vielmehr, bei den unausdenkbaren Möglichkeiten des menschlichen Lebens und des menschlichen Zusammenlebens, u. a. unter Beachtung von Zeit, Ort und Umständen, derart gefüllt, daß er nicht uno actu ausgeschöpft und insofern nicht definiert werden kann. Die inhaltliche Fülle der Maxime läßt es nicht zu.
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Sie ermöglicht aber doch eine allgemeine Umschreibung. So wird man als Gemeinwohl die Grund- und Rahmenbedingungen für die menschenwürdige Existenz des Einzelnen und u. U . ihre nähere Gewährleistung, die sachgemäße Sicherstellung der legitimen Gruppen und ihrer legitimen Betätigung sowie die sachgemäße Sicherstellung und legitime Betätigung der Gesamtgemeinschaft als der bei der gemeinschaftsbezogenen Natur des Menschen letzten und umfassenden, wenn auch keineswegs ausschließlichen Trägerio des Gemeinwohls bezeichnen können. Die Einzelnen und die Gruppen innerhalb der Gesamtgemeinschaft sind auf die Gesamtgemeinschaft angewiesen. Deren Dasein, ihre Wirkfähigkeit und ihr sachgemäßes Tätigwerden ist für alle Angehörigen der Gesamtgemeinschaft und für alle in ihr stehenden Gemeinschaften und Gesellungen unerläßlich232. Die Gesamtgemeinschaft, der Staat, ist die zentrale Ordnungsgröße zur Verhütung des den Menschen in seinem Kern angreifenden Chaos. Er hat u. a. den Frieden in seinem Raume zu gewährleisten und ggf. zu stiften. Bei ihrer Aufgabe, das Gemeinwohl sicherzustellen, ist gerade deswegen die Gesamtgemeinschaft selbst ethisch und rechtlich gebunden. Sie muß den Menschen in seinem Höchststand und die legitimen Gesellungen und "niederen" Gemeinschaften anerkennen. Das Gemeinwohl umfaßt so die ethische und rechtliche Bejahung und Verwirklichung des Kerngehaltes dessen, was wir heute Grundrechte und grundrechtsähnliche Institutionen nennen. Daß sie in ihrer jetzigen Erscheinungsform auch ein Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen und Auseinandersetzungen sind und die formelle Gewährleistung des Grundrechtes ihrerseits ethisch nicht, jedenfalls nicht unbedingt geboten werden kann, ist eine andere Frage233. Das Gemeinwohl wird zutiefst beeinträchtigt und verletzt, werden die hier in Rede stehenden, unmittelbar in der Menschennatur wurzelnden Postulate nicht anerkannt; jedes totalitäre Staatswesen erweist das zur Evidenz. Insofern strukturieren die Grundrechte zu ihrem Teil wesentlich das Ordnungsgefüge der Gesamtgemeinschaft234. Andererseits sind, was im Kern an anderer Stelle bereits gesagt ist, der Mensch, seine Gruppen, Gesellungen und seine Gemeinschaften unterhalb des Staates wegen der gemeinschaftsbezogenen Natur der Person gerade auch dem in besonderer Weise durch die Gesamtgemeinschaft zu verbürgenden Allgemeinwohl verpflichtet. Sie müssen für das Bestehen, die legitimen Strukturen und die legitime Tätigkeit der Gemeinschaft auf allen Ebenen derselben nach ihren Fähigkeiten, Möglichkeiten und 232 Die hier gebrauchten Begriffe der Angehörigen der (Gesamt-)Gemeinschaft und der in ihr vorhandenen Gemeinschaften und Gesellungen sind in einem weiten Sinne gebraucht; sie gehen über den Begriff des Staatsangehörigen hinaus. 233 England, das keine geschriebene Verfassung kennt, ist ein Beispiel für die rechtliche und durchdauernde Geltung der entsprechenden Maximen und Rechte, ohne daß eine formelle rechtliche Grundrechtsqualität derselben bestünde. 234 Vgl. Utz, Weder Streik noch Aussperrung, IfG Verlagsgesellschaft, Bonn, 24, 25.
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Kompetenzen handelnd und sich verhaltend wirken, ohne daß dabei der Mensch in seinem recht verstandenen Höchstwert unterworfen oder sogar aufgehoben werden darf. Der Mensch in seinem ihn mitkonstituierenden Charakter als Gemeinwesen verpflichtet ihn als Person zur Subsidiarität. Das Gemeinwohl erfordert ferner ein sachgemäß funktionierendes und Rechtssicherheit verbürgendes Rechtssystem einschließlich der Gewährleistung einer sachlichen Rechtsprechung. Rechtsgeschichtlich tritt letzter.es sogar noch vor der formellen Gesetzgebung in Erscheinung: Die Rechtsprecher wirkten dann gleichzeitig mehr oder weniger wie ein Gesetzgeber235. Zum Gemeinwohl gehört nicht zuletzt die Sicherung des Bestehens der Gesamtgemeinschaft und die Begegnung der ihr drohenden Gefahren. Allgemein erfordert das sehr oft eine weite Tätigkeit des Staates, je nach Sachlage andererseits seine Zurückhaltung236.
bb) Das konkrete Gemeinwohl Abgesehen von den in ihrer Allgemeinheit erwähnten Größen ist das konkrete Gemeinwohl, die Frage der näheren Grund- und Rahmenbedingungen einschließlich von Einzelakten und Einzelmaßnahmen, jedenfalls häufig nur schwer zu bestimmen. Das ist durch seinen Charakter als der Gewährleistung der Grund- und Rahmenbedingungen für die möglichst menschenwürdige Existenz der Einzelnen, der Sicherstellung der legitimen Gruppen und ihrer legitimen Wirksamkeit und der Sicherstellung der Gesamtgemeinschaft und ihres umfassenden Wirkens bedingt. So kann es legitim zu Divergenzen darüber kommen, was es konkret verlangt. Es läßt sich z. B. darüber streiten, unter welchen näheren Voraussetzungen der Staat finanzielle Leistungen zur Sicherung der Existenz von Einzelnen und nicht zuletzt von einzelnen Unternehmen sowie ggf. in welchem Ausmaß zu erbringen hat. Nicht zuletzt stellt sich die Prioritätenfrage, nämlich was hic et nunc vorrangig zu tun oder zu unterlassen ist. Gerade hier sind jedenfalls sehr oft auseinandergehende Beurteilungen möglich. Das gilt zumal, wenn der des näheren zu beurteilende Sachverhalt bei der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht hinreichend vollständig in den Blick kommt237.
235 Das Römische Recht etwa war, jedenfalls zu einem beachtlichen Teil, nichts anderes als die in kodifikatorischer Form zusammengefaßten Rechtssprüche des Prätors. Das Buch der Richter im Alten Testament zeigt beispielhaft, welche Bedeutung der richterlichen Tätigkeit beigemessen wurde, obwohl und vielleicht gerade weil von den dort auftretenden Persönlichkeiten gar nicht als spezifisch richterlich tätig werdenden Männern berichtet wird. 236 Zum allgemeinen Gemeinwohlbegriff siehe auch G. Müller, Arbeitskampf und Recht, Anm. 237. 237 Siehe G. Müller, Arbeitskampf und Recht, 213.
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Das mag mit ein Grund für die verfehlte Bezeichnung des Gemeinwohls als eines Leerbegriffes sein. Dahinter steht, m. E. ein Ergebnis positivistischen und neopositivistischen philosophischen Denkens, ein ausschließlich auf die Faktizitäten abstellendes Erkennen. Letztlich ist dies die Auffassung, nur die Empirie sei die allein gültige Erkenntnisweise und ihre Ergebnisse würden solange gelten, bis sie falsifiziert seien238. Daß die Faktizitäten analysierbar sind und auf dies Weise ihr innerer Seinsgehalt erschlossen werden kann, wird nicht gesehen. Größen, die nicht unmittelbar greifbare Daten oder als logischmathematisch-naturwissenschaftliche Zusammenhänge sichtbar sind, kommen aus dem Blick. Die Analyse der Seinsgegebenheit Mensch erschließt aber die Erkenntnis, daß er ein gemeinschaftsbezogenes Wesen mit "gebundener Autonomie" ist. Diese Erkenntnis wiederum führt in ihrer Konsequenz zum Gemeinwohlbegriff. Soweit er als Leerformel deswegen bezeichnet wird, weil er ideologisch motiviertes Handeln zu rechtfertigen vermöge, erfolgt ebenfalls keine Analyse der Seinsgröße Mensch. Die sachgerechte Erfassung des konkreten Gemeinwohls verlangt u. a. Gewichtsbestimmungen, die ohne nähere Differenzierungen nicht vorzunehmen sind. Dabei können immer noch legitime Beurteilungsspielräume und somit legitim volitive Momente vorliegen. Das ist die partielle Wahrheit der Bewertung des Gemeinwohlgedankens als eines Leerbegriffes. Sehr häufig ist ferner eine Prognose erforderlich, die in der Regel nur mit Wahrscheinlichkeiten rechnen kann. Unerläßlich ist andererseits, u . a. auch gegenüber überzogenen Interessenbestrebungen, die unbedingte ethische Bejahung des Gemeinwohls selbst. Deswegen werden von dem Gemeinwohl, und zwar nicht nur von dem Staatsmann und dem Politiker, sondern ebenso von dem Richter und dem in der Exekutive Tätigen, bei der Verwirklichung des Gemeinwohls zusammen mit dem Wissen um die eigene Kontingenz und die eigene Gebrechlichkeit zugleich die Tugenden des Mutes und der Demut in einem verlangt. Das trifft ebenso für die Funktionäre der Koalitionen zu. Darüber hinaus gilt es für jeden, der nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten an der Realisierung jenes Gutes mitzuwirken hat239. Ideologische Gedanken und Vorstellungen gefährden als Verzerrungen das Gemeinwohl. Ethisch verwerfliche und überhaupt ethisch nicht zu akzeptierende Mittel, die zur Verwirklichung eines an sich guten oder doch vertretbaren Zweckes eingesetzt werden, tangieren bei dem derart vorliegenden Gesamtkomplex ebenfalls das Gemeinwohl. Nüchternheit zur Bestimmung dessen, was es konkret verlangt, bleibt ein oberstes Gebot.
238 Das ist, jedenfalls in der Sache, nichts anderes als ein absoluter philosophischer Relativismus. 239 Zu alldem siehe G. Müller, Arbeitskampf und Recht, Anm. 237, 359.
12 G. Müller
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cc) Die TV-Autonomie und das Gemeinwohl
Die TV-Autonomie ist, jedenfalls in der ausgebildeten arbeitsteiligen Wirtschaft, ein keineswegs unwichtiger institutioneller Aspekt des Gemeinwohls240. Die Sachnahen werden in Bereichen und für Bereiche tätig, bei denen es sich nicht zuletzt um sie betreffende und von ihnen zu bewältigende Aufgaben handelt. An ihrer Stelle im Grundsatz allein den Staat tätig werden zu lassen, heißt, entscheidend wichtige Möglichkeiten zur Realisierung eines beachtlichen Teilaspektes des Gemeinwohls zu übersehen. Die Gemeinwohlbezogenheit und die Gemeinwohlbindung der TV-Parteien ist unerläßlich. Ihre Tätigkeit gestaltet das Leben der Gesamtgemeinschaft in unmittelbarem Ergebnis maßgeblich mit, und sie ordnet es in wichtigen Bereichen sogar allein und ausschließlich. Durchweg werden Dritte und die Allgemeinheit von der Tariftätigkeit der Verbände erfaßt24I. Der Sinn der TVAutonomie ist und bleibt, eine befriedende (Teil-)Ordnung des Arbeitslebens herbeizuführen. Die "eigennützige" Tätigkeit der Koalitionen im Interesse ihrer Mitglieder bei dem Einander-Gegenüber-Stehen dieser Interessen und bei der Repräsentation der jeweiligen Schichten des Arbeitslebens zielt nun einmal im Ergebnis irgendwie auf einen mehr oder weniger sachgemäßen Ausgleich. Dies gilt unbeschadet dessen, daß, wie es durchweg der Fall ist, über die Verbände jeweils lediglich eine bestimmte Anzahl der Arbeitnehmerschaft und der Unternehmerschaft und dazu oft nur hinsichtlich bestimmter regionaler Bereiche in Erscheinung tritt. In diesen Fällen liegt, was die TV-Parteien wissen, unverändert die Auswirkung auf das Arbeits- und Wirtschaftsleben schlechthin vor. Wegen des der TV-Autonomie immanenten Zieles haben die Verbände ihren öffentlichen Status242. Somit wird von den TV-Parteien zuzüglich unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls die Beachtung des allgemeinen Ordnungs- und Strukturgefüges der staatlichen Gemeinschaft verlangt. Insbesondere sind die ethisch fundierten Grundrechtswerte und überhaupt die fundamentalen sittlich begründeten und sittlich verlangten Wertmaximen wie das Verbot des Sittenverstoßes und das Gebot von Treu und Glauben als unabdingbare Bestandteile des Gemeinwohlpostulates (allerdings auch als zwingende Erfordernisse des Rechtsstaatsgebotes um ihrer selbst willen) anzuerkennen. So verstößt ein TV gegen die guten Sitten, wenn er erkennbar die Konkurrenz im eigenen Lager wirschaftlich ruiniert oder doch in schwere wirtschaftliche Bedrängnis bringt. Eine Arbeitgebervereinigung, die neben Großunternehmen des weiteren andere Unternehmen organisiert, schließt unter dem Einfluß der ersteren Unternehmen z. B. einen TV ab, dessen diese Arbeitgeber treffenden Belastungen von 240 241 242
G. Müller, Arbeitskampf und Recht, 213. Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. RZ 198; auch BAG 23 , 292 (306). Siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, Ein!. RZ 197, m. w. N.
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ihnen noch getragen werden können, die aber die anderen Arbeitgeber ersichtlich weit überfordern243. Der Höchstwert des menschlichen Lebens läßt es ferner nun einmal nicht zu, Tarifverträge abzuschließen, die im Zusammenhang mit einer Abtreibung Leistungen des Arbeitgebers vorsehen, zumal die Konsequenz eine Mißachtung des menschlichen Lebens überhaupt sein muß244. Ferner haben sich die Vereinigungen an die allgemeine Kompetenzordnung des Gemeinwesens bis hin zum Prinzip der privaten Vertragsfreiheit zu halten. Hinsichtlich der letzteren Maxime gilt dies unbeschadet der legitimen und legalen Bindungen der Verbandsangehörigen an ihre Koalition245. Im vorliegenden Zusammenhang ist noch auf den zwingenden und allgemein anerkannten Rechtsgedanken hinzuweisen, daß die Tariffähigkeit einer Koalition die Anerkennung des geltenden Tarifvertragsrechts erfordert, was die Anerkennung des mit ihm in einem inneren Zusammenhang stehenden staatlichen Schlichtungsrechts einschließt246. Die Koalitionen setzen durch den und im TV Normen, üben also in einem weiteren Sinne hoheitliche Gewalt aus; diese Normen können, ohne daß sie einer Veränderung durch den Staat zugänglich wären, durch eine AVE, somit durch einen spezifisch hoheitlichen Staatsakt, in ihrer Normqualität über den Kreis der Mitglieder der tarifschließenden Parteien hinaus erstreckt werden. In der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe und wegen ihres öffentlichen Status sind die TV-Parteien Teil des Staatsganzen. Schließlich und nicht zuletzt dürfen die Vereinigungen durch ihre Tarifverträge und überhaupt durch ihre Tariftätigkeit die Allgemeinheit als solche nicht schädigen247. Hier spielt allerdings die Frage der Prioritätensetzung mit ihren innerhalb eines bestimmten Rahmens legitim divergierenden Sichtmöglichkeiten eine Rolle. Eine eindeutig nicht vertretbare Schädigung haben die Koalitionen jedoch stets zu unterlassen. Es zeigt sich deutlich, daß die TV-Autonomie keine isoliert für sich bestehende Größe ist. Das Tarifverfahren und sein Ergebnis, die Tarifverträge, stehen in einer Interdependenz zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Gesamtlage. Es liegt ein ausgedehntes und kompliziertes System von Abhängigkeiten vor, das auf die Unternehmen als Wirtschaftsgrößen, nicht zuletzt auch auf die niemals aus dem Auge zu verlierende mensch243 Siehe G. Müller, DB 1986, 2675. Beginnend mit S. 2667 finden sich dort eingehende Ausführungen zur rechtlichen Beurteilung des Schwangerschaftsabbruches allgemein, insbesondere ab S. 2672. Die Rechtsordnung muß ihn stets als rechtswidrig kennzeichnen, und erst recht ist er ethisch auf das strengste zu mißbilligen. 244 Die Auffassung, die Indikationstatbestände des § 218 a StGB seien rechtfertigende Tatbestände, und die Abtreibungspraxis sind ebenfalls auch unter diesem Blickpunkt zu sehen. 245 Gegenüber dem höchstpersönlichen Bereich des Menschen steht den Verbänden niemals eine Kompetenz zu. 246 BVerfG 4, 96 (106/107) ; 18, 18 (28); 59, 290 (367/368); 58, 233 (247) . 247 Ihr öffentlicher Status verbietet ihnen eine solche Schädigung auch durch ihr sonstiges Auftreten.
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liehe Existenz des Arbeitnehmers durchschlägt248. Weil Bedingungen für das Arbeits- und Wirtschaftsleben gesetzt werden, spricht die Enzyklika "Laborem exercens" von dem "indirekten Arbeitgeber". Die kollektiven Arbeitsverträge, somit nicht zuletzt die Tarifverträge, werden eindeutig von diesem Begriff mit erfaßt249. Im Ergebnis geht es um einen wichtigen Aspekt des konkreten Gemeinwohls. Um dem Interdependenzverhältnis, in dem die Tarifverträge mit der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Gesamtlage stehen, gerecht zu werden, sind mehr oder weniger ständige Gespräche der führenden Repräsentanten der Verbände mit den verschiedenen hier in Betracht kommenden Stellen und Persönlichkeiten geboten. Sie vermitteln eine Grundlage für den erforderlichen Überblick und vor allem kann der innere Zusammenhang der Tarifverträge mit dem sonstigen Geschehen, einschließlich der wechselseitigen Auswirkungen, deutlich werden. Es geht um eine beachtliche Möglichkeit, daß die Vereinbarungen der Verbände dem Gemeinwohl gerecht werden oder doch gemeinwohlverträglich sind. Eine formelle Institutionalisierung ist allerdings nicht unbedenklich, wie der Ausgang der sog. Konzertierten Aktion gezeigt hat. Es prallen nur zu leicht gegenläufige Interessen aufeinander, ohne daß es, wie im allgemeinen in den Tarifverhandlungen, zu einer genügenden Annäherung kommt. Dies wird möglicherweise sogar erschwert werden. Des näheren kann im gegebenen Falle eine Gemeinwohlwidrigkeit zu bejahen sein, wenn sich Tarifverträge mit der in sich vertretbaren staatlichen Wirtschaftspolitik in Widerspruch setzen. Die Erhöhung der Lohnkosten z. B. kann zu einer strukturellen Veränderung des Arbeitsmarktes nicht zuletzt zum Nachteil der Arbeitnehmer selbst führen. Dies erfolgt, wenn aus diesem Grunde Produktionen und Dienstleistungen im Inland keine Abnehmer mehr finden und deswegen ins Ausland verlagert werden oder zur Sicherung der Wirtschaftlichkeit der Unternehmen sonst nicht gebotene Rationalisierungen, verbunden mit einem Wegfall von Arbeitsplätzen, durchgeführt werden müssen. Es ist im übrigen stets zu bedenken, daß eine Erhöhung der Lohnkosten eine Steigerung der sog. Lohnnebenkosten zur Folge hat. Es erscheint angebracht, dies in seinem Ausmaß, nicht zuletzt im Blick auf das Sozialversicherungsrecht, jeweils offen auszuweisen, ebenso die konkreten steuerlichen Auswirkungen. Mit dem Gemeinwohl ist es nicht verträglich, wenn eine Berufsgruppe ihre Schlüsselstellung dazu ausnutzt, unverhältnismäßige Entgeltforderungen durchzusetzen und diese Mehrkosten sodann aus zwingenden "Laborem exercens", Abschn. 17. Ob dieser Terminus treffend genug ist, mag dahin stehen. Auf jeden Fall kommt zum Ausdruck und dies bezweckt die Enzyklika, daß es sich um Bedingungen handelt, die im allgemeinen Geschehen, im Wirtschaftsleben, im internationalen Wirtschaftsleben und nicht zuletzt im Staat von Menschen gesetzt werden. Hierfür tragen die Menschen daher Verantwortung. Um diese Aussage geht es "Laborem exercens". 248 249
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wirtschaftlichen Gründen auf die Allgemeinheit überwälzt werden müssenzso. Allerdings muß die Schädigung wieder offensichtlich sein. Es ist wohl nicht von vornherein auszuschließen, daß der Sachverhalt Beurteilungsspielräume zuläßt und mehr oder weniger schwierige Entscheidungen hinsichtlich einer Prioritätensetzung verlangt. Sich übet eine nicht gute Stellung der einheimischen Wirtschaft in der internationalen Konkurrenz hinwegzusetzen, kann ebenfalls gemeinwohlwidrig sein. Das setzt jedoch voraus, daß die Existenz der Unternehmen ersichtlich gefährdet wird. Ob das der Fall ist, wird sich längst nicht immer sagen lassen, selbst wenn man- und mehr ist vernünftigerweise nicht zu fordern- lediglich eine Prognose von hohem Wahrscheinlichkeitsgrad verlangt. Kommen unabhängig von einer Konkurrenzsituation wegen des TV sog. Grenzbetriebe zum Erliegen, ist abzuwägen, ob unter Gemeinwohlgesichtspunkten dem TV oder der Erhaltung der Unternehmen, z. B. wegen der Arbeitsplätze, der Vorrang zuzusprechen ist. Gegner einer Gemeinwohlbindung der TV-Parteien dürften vor allem verschiedene den Gewerkschaften nahestehende Autoren sein251. Im Interesse völlig ungebundener Bewegungsfreiheit der Gewerkschaften könnte der Gedanke der "absoluten Tarifautonomie" vertreten werden; eine solche Annahme liegt nahe, betrachtet man manches Verhalten und manche Äußerung aus den Reihen des DGB und verschiedener seiner Einzelgewerkschaften. Damit aber kämen die Arbeitnehmervereinigungen in die Nähe des "Staates im Staat"; die Gewerkschaftssichten müßten als von vornherein maßgebliche Richtlinien zur Verwirklichung des Gemeinwohls angesehen werden. Partikularauffassungen würden schnell als Gesamtbelange ausgegeben. Wollten sich die Gewerkschaften im Ergebnis wirklich mehr oder weniger weitgehend mit dem Staat identifizieren, gingen sie zum Nachteil der Arbeitnehmerschaft ihres Charakters als Interessenvertretung verloren. Die Sachlage würde sie zwingen, als Repräsentation der Gesamtheit aufzutreten und im Blick auf die Gesamtheit zu handeln252. Daß Art. 9 Abs. 3 GG nicht die Klausel eines Vorbehalts der Gesetze kennt, spricht nicht für eine im Ergebnis gemeinwohlwidrige schrankenlose TV-Autonomie und nicht für eine schrankenlose Betätigungsfreiheit der Koalition. Abermals sei darauf hingewiesen, daß Grundrechte und grundrechtsähnliche Institute wegen der Gemeinschaftsbezogenheit und der Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen innerlich notwendig eine ihnen immanente Beide Beispiele sind entnommen aus Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. RZ 200. Nachweise (Nennung der Autoren) bei Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. RZ 199. zsz Als sich das Bürgertum in der Französischen Revolution mit dem Staate gleichsetzte, war es der in der Folgezeit "bürgerliche Staat", der u. a. die auswärtige Politik zu betreiben hatte, sich zum Kriegführen entschloß udgl. Die russische kommunistische Partei sah sich nach ihrer Machtergreifung sehr schnell gehalten, die Belange des russischen Staates als solche geltend zu machen, obwohl sie entsprechend der streng marxistischen Ideologie zunächst den Staat abschaffen wollte. 250 251
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Begrenzung und Bindung kennen. Das Gemeinwohl verlangt prinzipiell die Grundrechte, und es verlangt gleichfalls ihre Bindung. Das GG hat dies, wie in einem etwas anderen Zusammenhang schon bemerkt, mit dem Soweit-Satz seines Art. 2 Abs. 2 positivrechtlich zum Ausdruck gebracht. Wenn das BVerfG und ihm folgend die Rechtslehre Art. 2 Abs. 2 GG als "AuffangRecht" sieht, das gegenüber speziellen grundrechtliehen Freiheitsverbürgungen nicht zum Zuge kommt, ist das in bestimmter Hinsicht zutreffend. Eine eigene grundrechtliche Sicherstellung verwirklicht bereits unter einem gewissen Aspekt das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das .insoweit ihr gegenüber obsolet wird. Der nach dem Aufbau des Grundrechtsteiles der Verfassung bestehende systematische Zusammenhang des Art. 2 GG mit der in Art. 1 GG erfolgenden Anerkennung des Ur-Grundrechts der Menschenwürde sowie sein Charakter als allgemeines Persönlichkeitsrecht lassen aber deutlich werden, daß mit ihm zugleich Näheres zur Würde des Menschen gesagt ist253. Die Bindung des Menschen und ihre Bejahung, vor allem die Bindung durch das Sittengesetz und an die allgemeine legitime Ordnung, die mit der menschlichen Natur selbst gegeben ist, machen einen wesentlichen Aspekt seiner Würde aus. Die Gemeinschaftsbezogenheit und damit die Bindung an das Gemeinwohl ist ihr gleichfalls immanent. Eine anarchische Freiheit und eine anarchische Freiheitsgewährleistung, die sofort als Mißbrauch gegenüber Dritten in Erscheinung tritt, wäre ein direkter Angriff auf das Gemeinwohl. Sie sind dem GG fremd. Das gilt auch im Falle der TV-Autonomie als einer die Betätigung der Sachnahen sicherstellenden Institution. Der "Mechanismus der TV-Autonomie" ist auf den sachlichen Ausgleich gegenläufiger Interessen, jedenfalls auf den sachlich haltbaren Kompromiß ausgerichtet. Die Fälle, in denen es nicht zu diesem Kompromiß kommt, sind bisher selten gewesen. Die TV-Autonomie soll erzielen und erzielt Ergebnisse für die Koalitionsmitglieder; dabei sind diese Ergebnisse gleichzeitig auf den gesamten Bereich hingeordnet, der mit dem persönlichen und branchenmäßig-betrieblichen Geltungsfeld der Vereinbarung umschrieben ist254 • Somit ist es für die TV-Parteien bei der letztlich wegen ihrer Bedeutung für die Gesamtgemeinschaft erfolgten verfassungsrechtlichen Verankerung der TV-Autonomie255 ein rechtliches Gebot, trotzaller etwaigen Härte der TV-Verhandlungen entsprechend tätig zu werden. Die in Rede stehende rechtliche Verpflichtung wird darüber hinaus verlangt vom Sozialstaatsprinzip mit einer Forderung nach einer allgemein gerechten Sozialordnung; ferner vom Rechtsstaatsprinzip mit seinem allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken und dessen Teilaspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit seinem Gebot, die beidersei253 Vgl. BVerfG 54, 148 (153). Die Beziehung des Art. 2 Abs. 1 GG wird dort nachdrücklich betont. 254 Siehe G. Müller, Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, 42/43. 255 G. Müller, Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, 44.
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tigen Belange abzuwägen. Alle diese Maximen werden vom Gemeinwohlbegriff umfaßt und sind mit ihm gegeben. Die Rechtsfolge der offensichtlichen Gemeinwohlwidrigkeit eines TV ist dessen Nichtigkeit. Die offensichtliche Gemeinwohlwidrigkeit ist bei dem Gewicht des Gemeinwohls m. E. als Sittenwidrigkeit einzustufen256. Das BVerfG zieht in ständiger Rechtsprechung die Gemeinwohlmaxime entsprechend ihrer Bedeutung als einen umfassend greifenden rechtlichen Bewertungsmaßstab heran257, wie dies dem rechtlichen und ethischen Gehalt des Prinzips entspricht. Im gegebenen Falle ist, zur Vermeidung eines Angriffs auf das Gemeinwohl, eine Abwägung erforderlich, etwa wenn der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden soll258, ein in seiner Substanz aufrecht zu erhaltendes Grundrecht in Rede steht259 oder ein Aspekt der Rechtsstaatsmaxime wie die Rechtssicherheit berührt ist260. Bei offensichtlicher Gemeinwohlwidrigkeit von Teilen eines TV hängt die Beurteilung, ob nur eine Teilgemeinwohlwidrigkeit des Gesamtwerkes vorliegt oder ob es insgesamt als nicht geltend zu bewerten ist, von dem Durchschlagen der Nichtigkeit auf die gesamten Regelungen ab. Die Härte der TV-Verhandlungen kann sich derart steigern, daß es nicht nur zu erheblichen sozial-psychologischen Belastungen der Mitglieder und der Angehörigen ihrer Schichten insgesamt kommt. Vor allem wird auch die sozial-psychologische Situation im Arbeits- und Wirtschaftsleben schlechthin und damit die der Allgemeinheit empfindlich in Mitleidenschaft gezogen. Das kann seinerseits mehr oder weniger negative betriebs- und volkswirtschaftliche Auswirkungen zur Folge haben; es werden etwa im Interesse der Allgemeinheit liegende wichtige wirtschaftliche Entscheidungen nicht getroffen oder doch bedenklich verzögert. Der TV, der nach der Beendigung der Tarifprozedur vorliegt, kann als solcher jedoch nicht wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinwohl angegriffen werden, es sei denn, sein Inhalt selbst sei gemeinwohlwidrig. Die erzielte Ordnung des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit ist tragfähig. Eine andere Frage ist, ob die extrem verlaufenden Verhandlungen unterbunden werden können. Wegen ihres negativen Gewichtes muß das bejaht werden. Als Mittel, die Ausuferung der TV-Parteien zu unterbinden, käme bei der gegebenen Sachlage vor allem der Erlaß einer 256 Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. RZ 202. Allerdings wird dort zwischen Gemeinwohlwidrigkeit und Sittenwidrigkeit unterschieden. Die Gemeinwohlwidrigkeit soll erst zur Nichtigkeit führen , wenn sie zusätzlich als Sittenverstoß zu qualifizieren sei. Die offensichtliche Gemeinwohlwidrigkeit ist jedoch gleichzeitig eine Sittenwidrigkeit. Ein höchstes Rechtsgut wird grob verletzt. 257 Siehe etwa BVerfG 7, 377 (405); 11, 30 (44/45); 12, 144 (148); 13,261 (272); 18, 429 (439). Das Gericht hat diese Rechtsprechung ständig aufrechterhalten. 258 BVerfG 43, 198 (200); 44, 243 (248). 259 BVerfG 42, 263 (293/294) . 260 BVerfG 18, 429 (439).
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einstweiligen Verfügung in Betracht. Antragsbefugt wäre m. E. allein die jeweils andere TV-Partei. Die allgemeine Belastung schlägt durch auf die TVVerhandlungen, die Erreichung eines sachlichen Kompromisses als Aufgabe der Koalition wird gefährdet. Das kann, bei allem Verhandlungsritual einer verbal scharfen Konfrontation, die Angemessenheil der Vorgehensweise in Frage stellen. Etwas anderes ist im allgemeinen eine harte, auch aggressiv geführte, jedoch auf die Erzielung eines Sachkompromisses zielende Vorgehensweise. Solange das keine schwerwiegenden Folgen für die Allgemeinheit hat, muß es hingenommen werden, selbst dann, wenn die Härte und die Aggressivitäten unangebracht sind. Die TV-Autonomie würde anderenfalls zu sehr gegängelt. Die Grenzlinie ist schwer zu ziehen. Im Interesse der TVAutonomie wird Zurückhaltung bei der Bejahung einer nicht mehr tragbaren Verhandlungsweise zu verlangen sein.
i) Betriebs-Autonomie- TV-Autonomie
Eine Betrachtung zur Bindung der TV-Autönomie verlangt die, soweit zu sehen, bisher noch nicht erfolgte Behandlung ihres Verhältnisses zur sog. Betriebs-Autonomie. In Rede stehen die TV-Autonomie einerseits und die Betätigungsmöglichkeiten von Unternehmer/Arbeitgeber und der Betriebsratsgremien in ihrer wechselseitigen Beziehung andererseits (einschließlich der Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft von Betrieb und Unternehmen durch letztere gegenüber dem Unternehmer/Arbeitgeber). Es geht nicht um die Setzung betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften durch einen TV. Vielmehr ist die Frage, ob und ggf. in welchem Ausmaß tarifliche Regelungen mit der Folge ergehen können, daß ein betriebsverfassungsrechtliches Wirken entfällt. Können an die Stelle von Betriebsvereinbarungen unbeschränkt Tarifvorschriften treten und kann jedes Handeln betriebsverfassungsrechtlicher Organe durch TV-Bestimmungen überflüssig werden? Das Betriebsverfassungsrecht, das eine wichtige Materie des Arbeits- und Wirtschaftslebens sinnvoll und mit seiner Eigenart letztlich sogar notwendig strukturiert, ist von dem Sozialstaatsprinzip abgedeckt. Seine Regelungen sind, zudem in ihrer rechtsgeschichtlichen Verfestigung, als solche ein wesentlicher Beitrag zu einer allgemein gerechten sozialen Ordnung. Die Existenz eines nicht auf dem Papier stehenbleibenden Betriebsverfassungsrechts wird, wie man sagen darf, als eine nicht unwesentliche Erscheinungsform der Soziaistaatsmaxime letztlich von der Verfassung verlangt. Es bringt den Unternehmensverbund mit seiner Leitung und seinen Mitarbeitern in einer gesellschaftsrechtsähnlichen Weise sachgemäß zur Geltung; dabei negiert es die in diesem Verbund auftretenden Interessenspannungen und Interessenkonflikte nicht. Mit ihm liegt eine in jeder Hinsicht realistische Ordnung vor. Entsprechend dem Unternehmen als einem Verbund ist sie für das Verhältnis zwi-
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sehen Unternehmer und Betriebsrat getragen von der Maxime der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Das Betriebsverfassungsrecht erscheint nach alledem von der Sache her geboten, auf jeden Fall hat es sozialethisch einen hohen Rang. Seine Aufhebung und der Wegfall der betriebsverfassungsrechtlichen Betätigung seiner Organe ist somit nicht möglich. Ebenso scheidet eine "Minimalisierung" aus. Die Bedeutung der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung von Betrieb und Unternehmen und ihr tatsächliches Leben haben ein maßgebliches Gewicht. Sie prägen und tragen Betrieb und Unternehmen heute in einer an sich und von Hause aus betont positiven Weise. Das verleiht ihnen zugleich einen beachtlichen Stellenwert für die Volkswirtschaft, die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft261. Wenn das Sozialstaatsprinzip eine allgemein gerechte Sozialordnung verlangt, sind Aspekte desselben Rechtsinstitutionen, die ihrerseits im Laufe der Geschichte entstanden sind und sich in ihrem Fluß derart bewährt haben , daß sie zu ihrem Teil das gesellschaftliche Gefüge mittragen. Verlangt wird nur, daß die Voraussetzungen für das Bestehen der Institutionen vorliegen. Bei dem Betriebsverfassungsrecht ist dies als einer sinnvollen und in der Praxis zwar nicht stets, aber immerhin mehr oder weniger zu ausgewogenen oder doch zu annehmbaren Ergebnissen führenden Grundkomponente unserer auf der Arbeitsteilung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern beruhenden Wirtschaftsordnung der Fall. Institutionen als Aspekte der Sozialstaatsmaxime besagen allerdings nicht, jede ihrer einzelnen Regelungen müsse unverändert bestehen. Es geht allein um ihre tragenden Gedanken. Bei einer allgemein gerechten Sozialordnung geht es u. a. um die gerechtfertigten Belange der Einzelnen und der Gruppen sowie um ihre sachgemäß geordneten Beziehungen zueinander. Die Sozialstaatsmaxime bezieht sich bei diesem ihrem Charakter auch auf die wohlverstandenen Belange von Betrieb und Unternehmen, der Belegschaft und der Unternehmensleitung. Sie fordert wegen aller dieser Gegebenheiten ein irgendwie näher gestaltetes Betriebsverfassungsrecht. Nach § 87 Einl. BetrVG kann die tarifliche Regelung die Gestaltung der in der Vorschrift aufgeführten Mitbestimmungstatbestände abschließend regeln262. Es wäre aber eine Überspannung der mit der TVAutonomie gegebenen Regelungskompetenz der Koalitionen, wenn sie die fraglichen Sachverhalte ihrerseits sämtlich erschöpfend ordnen wollten. Die Materien der sog. Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten sind ein für das betriebsverfassungsrechtliche Geschehen wichtiger Bereich. In allen anderen Fragen der "internen" Ordnung des Betriebs und des Unternehmens muß gleichfalls Spielraum für die spezifisch betriebsverfassungsrechtliche Betätigung gegeben sein. Das eigentümliche Mittragen des Unternehmens, wie es über die Betriebsverfassung erfolgt, darf im Interesse der unmittelbar Betei261 262
Vgl. Schatz, in: Maunz/Dürig/Herzog!Scholz, GG, Art. 9 Abs. 3 RZ 207. Siehe Dietz!Richardi, BetrVG, Bd. II, § 87 RZ 130.
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ligten sowie im Blick auf die Gesellschaft und die Gesamtgemeinschaft nicht unterlaufen werden. Ebensowenig lassen sich die eigentümliche Interessenverfolgung und der eigentümliche Interessenausgleich, die auf der Ebene des Betriebsverfassungsrechts stattfinden, zur Gänze anderweitig ersetzen. Die TV-Autonomie mit ihrer sich unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Gewährleistung hat einen höheren verfassungsrechtlichen Stellenwert als die Betriebs-Autonomie. Der Rang und das Gewicht des Betriebsverfassungsrechts und der betriebsverfassungsrechtlichen Tätigkeiten sind jedoch ebenfalls anzuerkennen. Eine annähernd sichere Abgrenzung beider Bereiche voneinander erscheint nicht möglich. Das betriebsverfassungsrechtliche Leben muß alles in allem nur bedeutsam bleiben. Wird bei Beachtung dieses zugegebenermaßen vagen Kriteriums die Grenze zur Willkür offensichtlich überschritten, ist die für die TV-Parteien geltende Grenze nicht eingehalten. Andererseits darf bei ihrer Bedeutung für die sinnvolle Ordnung des allgemeinen Arbeitslebens die TV-Autonomie durch eine Verlagerung auf das Betriebsratswesen mit seinen Betriebsvereinbarungen nicht ausgehöhlt werden263. Übrigens können bestimmte Dinge, wie etwa die Vereinbarung eines Sozialplanes durch den Betriebsrat und den Unternehmer und die Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch einer arbeitnehmerseitigen Kündigung(§ 102 Abs. 1 BetrVG) durch eine noch so detaillierte tarifliche Regelung nicht ersetzt werden264. Möglich und angebracht erscheint es in vielen Fällen, daß tarifvertragliche Bestimmungen als Rahmen- und Grundlagenvorschriften ergehen, die näheren Gestaltungen und Maßnahmen aber über die Betriebsverfassung erfolgen265. 263 Die Gedanken des BAG in BAG 39, 295 ff. (insbesondere 300) zur Kompetenz des Betriebsrates zum Abschluß von Betriebsvereinbarungen befassen sich nicht mit dem Verhältnis von Betriebs-Autonomie und TV-Autonomie. Zander, DB 87, 1315 ff., sieht im Verhältnis der Betriebs-Autonomie zur TV-Autonomie erstere faktisch im Vordringen. Ein Zurücktreten der TV-Autonomie, wie es a.a.O. angenommen wird, ist allerdings nicht vertretbar. Zander weist zu Recht auf den nicht zu unterschätzenden Ordnungsfaktor der Gewerkschaften - und im Ergebnis damit einschlußweise auf den Ordnungsfaktor der Arbeitgebervereinigungen- im wirtschaftlichen und sozialen Leben hin (a.a.O. 316). Die TV-Autonomie bleibt in unserer Wirtschaftsgesellschaft eine unverzichtbare ethische und damit eine unverzichtbare rechtliche Größe. Daß sie nicht durch eine Verlagerung der Regelungen in den Bereich der Betriebsverfassung weitgehend obsolet werde, hat nachdrücklich wohl als erster Kissel, NZA 86, 76, 78 ff., betont. Gast, BB 1987, 1251, geht auf die oben behandelte Problematik nicht ein. Er vertritt schlicht den unbedingten Vorrang des TV. 264 Die etwaige Tätigkeit der Einigungs- oder der tariflichen Schlichtungsstelle bei der Nichteinigung von Betriebsrat und Unternehmer läßt den Raum des Betriebsverfassungsrechts nicht hinter sich. Diese Gremien treten sozusagen als "letzte Mittel" zur Aufrechterhaltung eines effektiven Betriebsverfassungsrechtes in Erscheinung.
4. Die Allgemeinverbindlicherklärung
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4. Die AUgemeinverbindlicherklärung a) AUgemeines
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung- und für einzelne Fälle die oberste Arbeitsbehörde eines Landes kraft Delegation durch diesen Minister- kann einen TV mit der Wirkung für allgemein verbindlich erklären, daß seine Rechtsnormen auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfassen (§ 5 TVG). Die AVE kann ausgesprochen werden, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des TV fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Unabhängig von diesen Voraussetzungen kann die Erklärung erfolgen, wenn dies zur Behebung eines sozialen Notstandes erforderlich erscheint(§ 5 Abs. 1 TVG). Seine letzte Grundlage hat das Institut darin, daß die Koalitionen mit ihrer Tariftätigkeit die Belange ihrer Mitglieder verfolgen, der TV sich aber tendenziell auf alle nach seinem Geltungsbereich in Frage kommenden Unternehmen und Arbeitnehmer erstreckt und der Tarifabschluß mit seinem regelmäßig vorliegenden sachlichen Kompromiß als befriedende Ordnung wirkt. Wenn die Praxis des Arbeitslebens bereits durchweg den Inhalt der TV-Vorschriften über den Kreis der unmittelbar Tarifgebundenen hinaus auf die anderen in Frage kommenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber anwendet, so statuiert die AVE insoweit ein zwingendes Gebot. Sie sieht sowohl die Interessenverfolgung der Vereinigungen als den primären Ausgangspunkt und die primäre Grundlage der TV-Autonomie wie deren hierin wurzelnde Zielrichtung, zu einer befriedenden (Teil-)Ordnung des Arbeitslebens zu kommen. Mit der AVE werden mit breiter Wirkung beide Größen zu einem einzigen rechtlichen Komplex zusammengefaßt. Ethisch ist das von Hause aus voll sachgemäß. Unbeschadet der mit den Koalitionen vorliegenden soziologischen Repräsentation der Schichten ihrer Mitglieder und der tatsächlichen Anwendung der TV-Regelung über den Kreis der Koalitionsangehörigen hinaus sind die Nichtorganisierten der Rechtsmacht der Verbände doch nicht unterworfen. Als Interessenvereinigungen können sie keine Kompetenz beanspruchen, daß ihr gemeinsames Ergebnis unmittelbar für jene anderen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ebenfalls gilt. Diese Geltung bedarf eines besonderen staatlichen Hoheitsaktes266. 265 Eine die Selbständigkeit und die Eigenständigkeit der E ntscheidungen der Betriebsratsgremien letztlich unberührt lassende Einschaltung der Gewerkschaften durch einen TV ist möglich; siehe Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 RZ 263, 306, 358, 359. Eine nach Art. 9 Abs. 3 GG ermöglichte Befugnis der Arbeitnehmervereinigungen überschreitet insoweit die unerläßlich zu beachtende Grenzlinie gegenüber der Betriebs-Autonomie nicht. 266 Zur Rechtsnatur der AVE ist hier nicht näher Stellung zu nehmen. Sie kann weder als Akt der Gesetzgebung noch als Verwaltungsakt angesprochen werden. Es handelt sich bei ihr um eine hoheitliche Maßnahme sui generis; siehe BVerfG 44,322 (340/351).
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Die Vornahme des Aktes kann an das Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen gebunden werden. Da primär ein Handeln der Verbände im Interesse ihrer Angehörigen vorliegt, muß die Rechtsordnung nicht eine sofort und vor allem nicht eine unbedingt eintretende Allgemeinverbindlichkeit des TV vorsehen. § 5 Abs. 1 TVG dürfte den legitim zu erfordernden Voraussetzungen genügen. Sofern die tarifgebundenen Arbeitgeber wenigstens 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des TV fallenden Arbeitnehmer beschäftigen267, liegt bereits ein gewichtiges Indiz für eine Erstreckung vor. Der Gedanke einer gleichmäßigen Ordnung mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung greift Platz. Daß dieAVEnoch nach einem hinzutretenden öffentlichen Interesse geboten erscheinen muß, darf ebenfalls nicht verneint werden. Das positiv verlangte Allgemeininteresse268 gewährleistet, daß die verbindliche Erklärung in Fällen von besonderer Notwendigkeit ausgesprochen wird. Die Verwendung des Terminus "erscheint" weist auf den Beurteilungsspielraum hin, wie er im Blick auf eine Bejahung oder Verneinung des öffentlichen Interesses jedenfalls durchweg angebracht sein dürfte. Der Begriff des sozialen Notstandes als Voraussetzung für den zweiten Fall des Ausspruchs der AVE ist zunächst in dem engeren Sinne des Wortes zu verstehen. M. E. kann er ohne weiteres aber auch im Sinne eines allgemein gesellschaftlichen Notstandes aufgeiaßt werden. Er liegt dann vor , wenn ohne die AVE die Allgemeinheit unverhältnismäßig belastet wird. Sie in einem solchen Fall auszusprechen ist mindestens durchweg ein ethisches Gebot. Die AVE ist also möglich und angebracht, grundsätzlich sogar erforderlich, wenn sie etwa schwerwiegenden Wettbewerbsverzerrungen zwischen tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Unternehmen mit bedenklichen Auswirkungen auf das volkswirtschaftliche und letztlich auf das gesellschaftliche Gefüge durch einheitliche Basisregelungen entgegensteuert269. Im gegebenen Falle begegnet sie des weiteren der Gefahr einer nicht vertretbaren Lohndrückerei, sofern eine solche nicht bereits zu einem sozialen Notstand führt27o. Bei der Bedeutung des TV mit seiner typisch vorliegenden Befriedung des Arbeitslebens ist m. E. die unmittelbar nach seinem lokrafttreten erfolgende Anordnung seiner umfassenden Wirksamkeit bei dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen angebracht. Allerdings verlangt das Prinzip des Koalitionspluralismus ebenfalls Beachtung. Über welche Vereinigungen der Unternehmer und der Arbeitnehmer ihre Belange im Arbeits- und Wirtschaftsleben verfolgen wollen, muß ihnen neben der 1v1öglichkeit, jeder Koalition fernbleiben zu können, nun einmal 267 Es genügt im gegebenen Falle eine sorgfältige Schätzung; siehe Wiedemann/ Stumpf, TVG, § 5 RZ 26. 268 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 29. 269 Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 33. 270 Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG , § 5 RZ 2 i. V. m. § 5 RZ 3.
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freistehen. DieAVE steht dem Koalitionspluralismus an sich entgegen, zumal sie einen von anderen Koalitionen abgeschlossenen TV zu verdrängen vermag271 . Der Sinn der TV-Autonomie, durch den TV einen Beitrag zur befriedenden Ordnung des Arbeitslebens zu leisten, läßt als übergeordneter Gesichtspunkt jedoch zu, den Koalitionspluralismus und die negative Koalitionsfreiheit zurücktreten zu lassen, wenn sie nur institutionell erhalten bleiben. Da bei dem Staat, unbeschadet der Bedeutung der TV-Autonomie im Gefüge des Gemeinwesens, die letzte Verantwortung für die angemessene Ordnung der Gemeinschaft liegt, kann sein Organ die AVE aussprechen. Es hat zwar darauf zu sehen, ob dieser Akt im Blick auf die eben genannten, letztlich gleichzeitig den Koalitionspluralismus angemessen beachtenden Prinzipien vertretbar ist. Die Begriffe des öffentlichen Interesses und der Behebung eines sozialen Notstandes lassen andererseits eine vertretbare Hintanstellung des Koalitionspluralismus sowie der negativen Koalitionsfreiheit zu und verlangen diese Hintanstellung sogar sehr oft. Bei einer AVE kommt des weiteren das Prinzip der TV-Autonomie noch zum Tragen. Die Erklärung kann nämlich nach § 5 Abs. 1 TVG nur im "Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß" ausgesprochen werden, und ebenso kann sie, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint, nach Abs. 5 der Vorschrift nur im Einvernehmen mit diesem Ausschuß aufgehoben werden272. Der Ausschuß muß sogar dann einer AVE zustimmen, wenn sie zur Behebung eines sozialen Notstandes erfolgen soll; nach§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG kann zur Behebung eines sozialen Notstandes lediglich von den Voraussetzungen der Nr. 1 und 2 seines Satzes 1, nicht aber von der bereits vor diesen Regelungen erwähnten Zustimmung des Ausschusses abgesehen werden. Der Repräsentant des Staates kann allerdings von dem Erlaß und der Aufhebung der AVE absehen, selbst wenn das hier in Rede stehende Gremium einhellig anderer Ansicht ist. Sein Einvernehmen wird allein für den jeweiligen Akt verlangt, eine darüber hinausgehende Bindung würde den Staat auf die Ebene der TVParteien herabziehen. Die Entschließung des Ausschusses hat im gegebenen Falle den Charakter eines Votums. Das Gewicht der Regelungen der TV-Parteien kommt des weiteren dadurch zur Geltung, daß die AVE ihren Inhalt nicht abzuändern vermag, m. E. muß sie sogar streng dem Wortlaut des TV entsprechen. Ebensowenig vermag sie den Geltungsbereich zu erweitern. Daß räumlich, fachlich, betrieblich, unternehmensmäßig und persönlich eine Einschränkung möglich ist273, ist ohne Bedeutung. Die Prinzipien de r TV-Autonomie werden im letzteren Falle so wenig berührt wie in dem Falle, daß einzelne Tarifnormen von der Erklärung ausgenommen werden274. Zu bemerken Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 75; vor allem aber unten. Dazu, daß dies auch in dem letzteren Falle erforderlich ist, siehe Wiedemann/ Stumpf, TVG, § 5 RZ 61. 273 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 24. 271
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ist schließlich, daß das Institut der AVE die Bedeutung erkennen läßt, die einem gleichlaufenden und übereinstimmenden Tätigwerden aller im gegebenen Falle in Frage kommenden Koalitionen für den Abschluß eines TV hinsichtlich derselben Regelungsmaterie zukommt. Existieren auf jeder Seite des Arbeitslebens nur je ein Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverband und dürfte sich aller Voraussicht nach an diesem Zustand nichts ändern, bestehen rechtspolitisch und ethisch keine Bedenken, die Rechtswirkung der Tarifverträgekraft Gesetzes ohne zusätzliche Voraussetzungen und unmittelbar sogar sofort bei ihrem Inkrafttreten, auf sämtliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber des regionalen und sachlich-organisatorischen Geltungsbereichs zu erstrecken. Die Österreichische Rechtsordnung sieht eine Erstreckung auf alle Arbeitnehmer eines "kollektivvertragsangehörigen Dienstgebers" vorm. Österreich kennt nur eine einzige Gewerkschaftsorganisation. b) Die umgreifende Wirkung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen Ihre AUgemeinverbindlicherklärung
Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Regelungen des TV gelten nach § 3 Abs. 2 TVG für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind. Der Sinn dieser Tarifvorschriften ist es, die Betriebe als solche zu strukturieren. Ihre Geltung erstreckt sich auf alle in Frage kommenden Arbeitnehmer gemäß und entsprechend ihrer Regelungsaussage. Andernfalls würden die Bestimmungen den Betrieb gar nicht ordnen. Bei einer Bindung allein des Arbeitgebers schlagen sie auf den Betrieb nicht durch. Die betrieblichen Fragen des Tarifrechts sind nach den oben gemachten Darlegungen Fragen der sozialen Ordnung des Betriebes. Es sollen Regelungen hinsichtlich einer bestimmten, sich im Arbeits- und Wirtschaftsleben vorfindenden Gruppierung von Menschen als solcher erfolgen. Betriebsverfassungsrechtliche Regelungen müssen wie die betrieblichen Regelungen die Arbeitnehmerschaft des Betriebes sofort miterfassen, unbeschadet dessen, daß sie je nach ihrem Inhalt u. U. nur Teilgrößen desselben ansprechen und tarifvertragliche betriebsverfassungsrechtliche Regelungen ebenso nicht auf sämtliche Belegschaftsangehörigen bezogen sein müssen. Im gegebenen Falle geht es um Teilgrößen eines einheitlichen Ganzen. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 24. Der Gedanke, daß der TV in seiner Gesamtheit ein einheitliches ausgewogenes Ganzes ist, spricht zwar gegen eine eingeschränkte Wirkung der AVE, ist aber doch nicht zwingend. Einzelne Normen können bereits für sich mit ihrer AVE den gesetzlichen Zwecken der Institution gerecht werden und es nicht zuletzt zu einer von der Sachlage gebotenen oder angebrachten gleichmäßigen Ordnung kommen lassen. 275 Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 3 RZ 18. 274
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Die Ordnungsaufgabe der einschlägigen Bestimmungen eines TV erfordert von vornherein ihre Rechtswirkungen gegenüber Nicht- und Andersorganisierten. Inhaltlich nicht übereinstimmende betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Vorschriften, die in derselben Hinsicht dieselbe Materie betreffen, können in ein und demselben Betrieb nicht gleichzeitig nebeneinander bestehen. Die Strukturierung des Sachverhaltes erfolgte sonst in einer widersprüchlichen Weise. Bei gleicher Geltungskraft träte nicht nur Ungewißheit in der Rechtslage, sondern darüber hinaus ein Chaos ein. Das ist mit der von einer jeden Rechtssetzung bezweckten und das Recht selbst entscheidend kennzeichnenden Ordnungsfunktion nicht vereinbar. Bei der zwingend weitgreifenden Wirkung der tarifrechtliehen betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften stellt sich unabhängig von einer AVE die Frage, welche gelten, wenn bei dem in jeder Hinsicht identischen Regelungsgegenstand die verschiedenen TV-Parteien verschiedenartige Ordnungen vereinbart haben, sofern nach dem erkennbaren Willen der Tarifkontrahenten jede Platz greifen soll. Hinsichtlich der in Rede stehenden Bereiche ist die Interessenverfolgung durch die TV-Parteien verfassungsrechtlich gewährleistet und sozialethisch legitim. Ebenfalls ist das Ziel des tariflichen Wirkens, eine sinnvolle, sozial befriedende Ordnung einzurichten, zu beachten. Wegen dieses Sinnes der TVAutonomie hat die über die Verbände erfolgende und ihren Mitgliedern zuzurechnende Interessenverfolgung hier einen geringeren Rang. Eine rechtliche und sozialethische Lösung derart, es gelte überhaupt keine Regelung, ist nicht haltbar. Es ginge nicht nur die Interessenverfolgung ins Leere, vor allem würde der Zweck der TV-Autonomie nicht verwirklicht. Die TV-Parteien hätten es dann in der Hand, durch ihr Verhalten eine mit unverändertem Geltungsanspruch bestehende tarifliche betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Ordnung aushebein zu können und durch ihr tarifliches Wirken nicht eine Ordnung, sondern eine Nicht-Ordnung herbeizuführen. Die TVAutonomie als eine in sich sinnvolle Größe wäre in ihr Gegenteil verkehrt. Das widerspricht in gleicher Weise der Ethik und dem Recht. Der Sinn und das letzte Ziel der TV-Autonomie, die Schaffung einer haltbaren Regelung verlangt, daß auf jeden Fall eine der Tarifregelungen Geltung hat. Anderenfalls würde, um es mit anderen Worten zu sagen, das an sich legitime Tätigwerden der TV-Parteien in sich selbst ohne weiteres die Ergebnislosigkeit enthalten können. Es fragt sich nur, nach welchen Kriterien die Vorrangigkeit eines TV festzustellen ist. Eine eindeutige Entscheidung, welche Vorschriften die sachlich angemesseneren sind, ist praktisch kaum möglich. Durchweg, jedenfalls aber wohl in nicht wenigen Fällen dürften bestimmte Gesichtspunkte für das eine und bestimmte Gesichtspunkte für ein anderes Tarifwerk sprechen. Eine Beurteilung durch eine neutrale dritte Stelle wäre denkbar, wenn sich sämt-
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liehe Tarifkontrahenten darauf einigten, den Spruch dieser Stelle als verbindlich anzuerkennen. In der Sache läge dann, nach einem vorausgehenden tariflosen Zustand, ein von ihnen gemeinsam getragener TV vor; über die neutrale Stelle werden die TV-Parteien tätig. Es ist jedoch mit einem von ihnen allen als einem Substitut getragenen Spruch nicht zu rechnen, allenfalls für höchst seltene Ausnahmen. Dies erscheint aber selbst in einem solchen Falle und erst recht sonst schon deswegen ethisch nicht haltbar, weil zunächst völlige Rechtsunsicherheit eintritt. Einer der Tarifverträge würde wirksam, aber welcher? Die Ungewißheit belastet alle, die durch den Spruch einer der Vereinbarungen unterworfen werden sollen. Sie sind ihnen als Regelungswerke bereits bekannt und sie haben ein verständliches Bedürfnis, disponieren zu können, können ihm jedoch nicht entsprechen. Die Entscheidung durch eine vom Staat eingesetzte neutrale Stelle (etwa durch ein Gericht?) scheidet ebenfalls aus. Einmal bleibt der Unsicherheitsfaktor unverändert bestehen. Des weiteren und nicht zuletzt wird dem Gedanken einer Tätigkeit der Sachnahen im letzten nicht mehr entsprochen, unbeschadet dessen, daß ein TV zum Zuge käme. Die TV-Parteien machten lediglich Vorschläge, unter denen ein Dritter verbindlich auswählt. Die "Tarifverträge" wären Vorgaben, die maßgebliche Entscheidung träfe ein anderer. Im Schrifttum wird einmal als Lösungskriterium der Organisationsgrad der einzelnen Gewerkschaften im jeweiligen Betrieb genannt; die Regelung der zahlenmäßig stärkeren Arbeitnehmervereinigung soll Geltung haben276. Diese Zahl ist jedoch nicht immer sicher festzustellen; die verschiedenen Arbeitnehmervereinigungen dürften sich bei der oft großen Zahl von Unorganisierten über die Anzahl ihrer jeweiligen Mitglieder streiten. Sollte der Arbeitgeber die Gewerkschaftsbeiträge im Zusammenhang mit der Auszahlung des Arbeitsentgeltes unmittelbar an die Gewerkschaften abführen, wird er nicht veranlaßt werden können, die Mitgliederzahlen bekanntzugeben. Dies gilt auch, wenn er zur Einbehaltung und Abführung der Beiträge befugt ist277. Er muß damit rechnen, von der mitgliederschwächeren Arbeitnehmervereinigung bei ihrer Interessenverfolgung und sonst in zwar noch zulässiger, bei dem Motiv hierfür aber in einer doch nicht recht vertretbaren Weise ständig aggressiv und unsachlich angegangen zu werden. Andererseits den TV gelten zu lassen, der von derjenigen Gewerkschaft abgeschlossen ist, die nach den Berufen der bei ihr organisierten Mitglieder und nach ihrem näheren Koalitionszweck eine besondere Nähe zu dem Betrieb hat278, will ebenfalls nicht völlig überzeugen. Dieser Gedanke erscheint auf den ersten Blick sehr beachtlich; eine Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 166. Der Fall jeweils gleich mitgliederstarken Gewerkschaften ist theoretischer Natur. Sollte er wirklich einmal auftreten, würde sich zusätzlich die Untauglichkeit des Kriteriums erweisen. 277 Hierzu siehe unten. 278 SoWiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 166, m. w. N. 276
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gewisse besondere Sachnähe der Koalitionen ist zweifellos gegeben. Hierauf abzustellen ist aber m. E. mit dem Prinzip des Koalitionspluralismus als Anerkennung der Interessenverfolgung entsprechend der persönlichen Entscheidung des einzelnen Arbeitnehmers nicht vereinbar. Es bleibt als maßgebliches Kriterium wohl nur, darauf abzustellen, welcher TV zeitlich zuerst abgeschlossen worden ist279. Das Argument mag zunächst nicht besonders überzeugend wirken. Es läßt sich jedoch ohne weiteres, zum mindesten sehr leicht feststellen, welcher TV gilt. Das dient der RechtsklarheiL Vor allem entspricht der Maßstab am ehesten den Strukturprinzipien der TV-Autonomie. Die betrieblichen und die betriebsverfassungsrechtlichen tariflichen Regelungen müssen umfassend wirken. Der erste TV führt bereits mit der von seinen Trägern durchgeführten Interessenverfolgung zu einer grundsätzlich befriedenden Ordnung. Bei dem Gewicht dieses Umstandes ist nicht einzusehen, daß sie mit ihrer notwendig umfassenden Geltung durch zeitlich spätere Ordnungen abgelöst werden sollte, selbst wenn diese eine noch bessere Regelung treffen. Was die TV-Autonomie zu leisten hat, ist in der Sache bereits geleistet. Alles in allem ist das Kriterium der zeitlichen Priorität rechtlich und ethisch fundiert. Die betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften eines TV können für die nicht unmittelbar erfaßten Betriebe als allgemein verbindlich erklärt werden. Die näheren Voraussetzungen nach§ 5 Abs. 1 Satz 1, 2 TVG können vorliegen. Das Tarifergebnis wird auch bei ihnen gewonnen aufgrund einer Interessenverfolgung der einander gegenüberstehenden TV-Parteien; es ist typmäßig ein sachlicher Kompromiß, der eine sinnvolle Gestaltung des Arbeitslebens zeitigt. Schließlich erfolgt wegen gewichtiger Allgemeinbelange die formelle umfassende Ausdehnung der tariflichen Geltung durch den autoritativen staatlichen Spruch. Zu beachten ist nur, daß ein legaler und legitimer Grund zur Erstreckung der betriebsverfassungsrechtlichen Normen nur in Ausnahmefällen vorliegen dürfte. Das BetrVerfG gewährleistet bereits eine in jeder Hinsicht akzeptable Ordnung. Bei betrieblichen Regelungen kann es dagegen ohne weiteres anders liegen. Bei dem durch ihren Regelungsbereich bestimmten Inhalt wird allerdings sowohl das öffentliche Interesse wie der soziale Notstand (in der vom Verfasser vertretenen Auslegung dieses Begriffes) in nicht wenigen Fällen zu bejahen sein. c) Die AUgemeinverbindlicherklärung und gemeinsame Einrichtungen
Gemeinsame Einrichtungen können ebenfalls von der AVE erfaßt werden. Sie sind sogar gewissermaßen hierauf angelegtzso. Ihre sozialpolitische Auf279 Fitting!Auffarth/Kaiser, BetrVG, 12. Auf!. ,§ 77 RZ 55. In der jetzt vorliegenden 15. Auf!. ist a.a.O . diese Sicht modifiziert worden. 2so Wiedemann/Stumpf, TVG , § 5 RZ 77.
13 G. Müller
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gabe können sie erst dann voll erfüllen, wenn alle Angehörigen des fraglichen Fachbereiches, wenn auch etwa nur in einem regionalen Wirtschaftsraum, von ihr erfaßt sind. Lohnausgleichskassen, Urlaubskassen udgl. sollen idealiter von vornherein an alle in Frage kommenden Arbeitnehmer Leistungen gewähren, und alle in Frage kommenden Unternehmer- sowie ggf. sämtliche Arbeitnehmer- sollen Beiträge an die Einrichtung entrichten. Jeder andere TV zielt zwar als eine repräsentative Regelung der Sachnahen ebenfalls auf seine unmittelbar umfassende Wirkung, sie kann aber rechtlich nicht erzwungen werden. Im Falle der gemeinsamen Einrichtungen erscheint es sozialpsychologisch besonders schwer erträglich, nicht- und andersorganisierte Arbeitnehmer von den Leistungen auszuschließenzst. Wegen ihrer sozialpolitischen Aufgabe kann die AVE sogar die wirtschaftliche Grundlage der gemeinsamen Einrichtung sein, sofern nämlich nur mit Hilfe der nicht- und anders Organisierten die erforderlichen Mittel in ausreichendem Maße aufgebracht werden können. Zu einer Zwangsmitgliedschaft in den Verbänden führt dies nicht. Es erfolgt lediglich eine Zuordnung zu der gemeinsamen Einrichtung. Im Falle der anders Organisierten werden, ist dies satzungsgemäß vorgesehen, bei einerAVEderen Koalitionen zwar Mitglieder der Einrichtungzsz. Damit wird jedoch nicht die Interessenverfolgung ihrer Angehörigen über eine Vereinigung nach freier persönlicher Wahl tangiert. Hat ein Unternehmer einen Firmen-TV abgeschlossen, ist er gegenüber der von anderen Tarifkontrahenten getragenen gemeinsamen und für allgemein verbindlich erklärten Einrichtung Dritter wie jeder nicht- und anders Organisierte auch. Sollte der Wirkungsbereich der nach einem Firmen-TV für sein Unternehmen eingerichteten Institution ausgedehnt werden, trägt der Unternehmer sie von Anfang an mit. Ein unzulässiger Druck auf die nicht- und anders organisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Mitglied der Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigung zu werden, die die gemeinsame Einrichtung mitträgt, dürfte nicht praktisch werden. Es kann für sie nur in Rede stehen, Mitglied zu werden, um auf diese Weise über den Verband die Tätigkeit der Einrichtung kontrollieren zu können. In der Wirklichkeit der Dinge wird die Verbandsleitung einer Arbeitnehmervereinigung bei den wohl stets nicht ganz kleinen Mitgliederzahlen zumindest durchweg aber allein tätig. Für die Arbeitgeberseite könnten wegen der weit geringeren Mitgliederzahl ihrer Verbände die Dinge an sich anders liegen. Daß das schwerwiegende Interesse eines Arbeitgebers besteht, in der gemeinsamen Einrichtung betont mitzuwirken, dürfte jedoch von den jeweils konkret auftretenden und in einer Prognose im allgemeinen nicht zu erfassenden Einzelfragen abhängig sein. Veranlassung, Angehörige der Arbeitgebervereinigung zu werden, liegt also letztlich doch nicht vor. Eine Verletzung des 281 282
Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 78. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 77.
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Prinzips des Koalitionspluralismus ist weder in dem einen noch in dem anderen Fall anzunehmen283. Die Vorschrift des § 4 Abs. 2 TVG, der die Regelungen der TV-Parteien u. a. unmittelbar und zwingend auch für die Satzung der gemeinsamen Einrichtungen zur Geltung bringt, wirft keine schwierigen, vor allem keine schwierigen ethischen Fragen auf. Die Einrichtungen gründen auf einem TV oder werden sogar durch ihn ins Dasein gerufen. Dann aber ist ein eo ipso erfolgendes Durchgreifen gerechtfertigt. Eine andere Betrachtung kompliziert die Dinge unnötigerweise, was mit. dem Gewicht des Gebotes möglichster Rechtsklarheit nicht vereinbar ist. Weicht die Satzung allerdings vom TV ab, ist sie, selbst wenn darin eine Änderung desselben zu sehen ist, mit ihrem Inhalt wirksam. Eine unmittelbare Wirkung des TV scheidet aus. Die TV-Parteien sind untereinander allerdings verpflichtet, eine Harmonisierung herbeizuführen284. Die Rechtssicherheit erfordert die Anerkennung der konkret vorliegenden Satzung, die nicht zuletzt Bedeutung für das Verhältnis der Einrichtung zu Dritten hat. Das Harmonisierungsgebot beruht auf einer schuldrechtlichen Verpflichtung der TV-Parteien in ihrer Beziehung zueinander, die ihrerseits unmittelbar im TV gründet. Sie haben das ihre zu tun, daß er beachtet wird. Das Gesamtergebnis erscheint unter allen in Frage kommenden Gesichtspunkten sachgemäß und somit gerecht. Es entspricht in gleicher Weise der Institution der gemeinsamen Einrichtung wie dem Gedanken der TV-Autonomie. Zwar ist rechtlich und rechtsethisch das Denken vom Ergebnis her nicht immer angebracht. Es besteht die Gefahr, daß das positive Recht nicht oder zu wenig beachtet und deswegen das Postulat der Rechtssicherheit tangiert wird. Im vorliegenden Falle erscheint dieser Weg aber voll vertretbar. Das die gemeinsame Einrichtung betreffende Organisationsrecht ist zwingend; seine strenge Beachtung trägt sie rechtssicher in ihrem Bestand und in ihrer Funktion. Andererseits können die tarifvertraglich gesetzten Vorschriften im Verhältnis der TV-Parteien zueinander bei allen etwa auftretenden praktischen Schwierigkeiten in der Umstrukturierung der bereits verfaßten und mit dieser ihrer Satzung bestehenden Einrichtung noch zur Wirksamkeit gebracht werden. M. E. steht auch der Einrichtung selbst, hat sie den Charakter einer juristischen Person, ein Anspruch auf die Beachtung der tariflichen Bestimmungen zu. Sie ist ebenfalls und sogar in erster Linie angesprochen. Der zweite Regelungstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 TVG, das unmittelbare Greifen der tariflichen Satzungsvorschriften gegenüber den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ist zwar zunächst gleichfalls verdrängt. Die gebotene Erfüllung der schuldrechtlichen Verpflichtung führt jedoch zum 283 BVerfG 55 , 7 (22/23) . In dieser Entscheidung steht des näheren die negative Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer in Rede. Für die positive Koalitionsfreiheit der anders organisierten Arbeitnehmer gilt nichts anderes; der Gedanke der E ntscheidung trifft ebenso für die negative und positive Koalitionsfreiheit der Arbeitgeber zu. 284 Wiedemann/Stumpf, TVG , § 4 RZ 179.
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gesetzlich verlangten Ergebnis. Die zunächst vorliegende und damit wirksame Satzung muß im Interesse einer reibungslosen Tätigkeit der gemeinsamen Einrichtung bis auf weiteres anerkannt werden. Die Darlegungen in ihrer Ausführlichkeit sind ein Beispiel dafür, daß die Art des sog. juristischen Denkens sowohl für die rechtliche wie für die sozialethische Erfassung eines Sachverhaltes Bedeutung hat. Es ist häufig eine subtile und das heißt eine differenzierende und ggf. sehr differenzierende Betrachtung erforderlich. Das gilt für die Philosophie, es ist auch sonst ein notwendiges erkenntnistheoretisches Vorgehen. Die alte Wahrheit wird deutlich, daß der Sachverhalt das Denken bestimmen muß, wenn letzteres "sach"-gerecht und damit zutreffend, wahr sein soll. Der Sachverhalt selbst erfordert immer wieder die unterscheidende geistige Sicht, auf daß sein Erfassen tatsächlich seiner Wirklichkeit entspricht. Diese Sicht kann ebenfalls dann geboten sein, wenn zur Erkenntnis ihrer normativen Geltung zwei normative Größen in ihrem Verhältnis zueinander gewertet werden müssen. Es zeigt sich so etwa, daß die eine Größe gegenüber der anderen schlechthin zu weichen hat. Andererseits ist es möglich, daß der an sich bestehende Geltungsanspruch jedes der beiden Normpostulate oder auch ein Postulat zurückzutreten hat, ohne daß die normative Geltung beider völlig entfällt. Dem Recht ist dies unter dem Stichwort der praktischen Konkordanz bekannt. Stets läßt die unterscheidende Methode eine Relativität des einen oder des anderen Geltungsanspruches oder eben beider Ansprüche in einer gegenseitigen Abstimmung deutlich werden. Es ist ferner ersichtlich, daß jedenfalls im Bereich der rechtlichen und sozialethischen Erkenntnis diese selbst des öfteren nur aufgrundeiner Abwägung zu gewinnen ist. Das Bestehen der nur relativen Geltung einer Norm gegenüber ihrer an sich gegebenen unbedingten Geltung läßt sich sogar wohl nur auf diese Weise feststellen. Die Erreichung völlig präziser Erkenntnis ist nicht möglich; das ist mit der Abwägung sozusagen notwendig gegeben. Gleichwohl bleibt das Erkenntnisverfahren zulässig und geboten und führt trotz Einschlusses eines volitiven Momentes in aller Regel zu einem zutreffenden Ergebnis. Unumgängliche Voraussetzung ist aber, daß der Erkennende bewußt auf Distanz zu seinem sog. Vor-Verständnis geht, insbesondere seine etwaigen emotionalen Bindungen sieht und entschieden von ihnen Abschied zu nehmen sucht. Bei dem Abwägen und allgemein bei dem unterscheidenden geistigen Erfassen nimmt, was zu beachten ist, der Gewißheitsgrad der Erkenntnis in dem Maße ab, je differenzierender das Erkennen sein muß. Die Dinge liegen ähnlich wie beim schlußfolgernden Denken. Je mehr aufeinander folgende, auf ihren Vorgängerinnen aufbauende Schlußfolgerungen gezogen werden müssen, desto geringer wird der subjektive Gewißheitsgrad hinsichtlich ihrer Ergebnisse. Die Logik der Kette ist zwar als solche nicht fraglich; der menschliche Geist, der bis auf die Fälle echter Evidenz die Wahr~eit der Seinsgege-
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benheiten nicht unmittelbar zu schauen vermag, ist aber von Zweifeln angefochten. Bei der Abwägung und, sofern bei ihm ebenfalls ein volitives Moment mitwirkt, bei dem differenzierenden Erfassen ist der Unsicherheitsfaktor dagegen eine von vornherein mitgegebene Größe. Gegenüber einem solchen Sachverhalt hat der Gedanke, es sei überhaupt nur eine Plausibilität der Erkenntnis zu erreichen, ggf. seinen legitimen Platz. d) Geltungsbereich des für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages bei Vorbandensein mehrerer Tarifverträge
Wollte man es für zulässig ansehen, daß ein Verband einen TV für seine Mitglieder im Rahmen des Geltungsbereichs eines für allgemein verbindlich erklärten TV abschließen könnte, müßte man es auch für zulässig halten, daß der Verband im gegebenen Falle den Arbeitskampf zur Erzielung der von ihm erstrebten Regelungen einsetzt; der Arbeitskampf ist ein Ordnungsmittel, um, ist dies anders nicht möglich, zur tariflichen Abmachung zu kommen. Er zeitigt jedoch unaufhebbare Schäden nicht nur für die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen, sondern vor allem auch für Dritte und die Allgemeinheit285. Deswegen ist ein Anzielen der besonderen Vereinbarung rechtlich und sozialethisch nicht möglich. Mit dem Arbeitskampf tritt stets ein Schaden ein. Ob andererseits für seinen Geltungsbereich einsachgerechterer TV als derjenige, der für allgemeinverbindlich erklärt ist, zustande kommt, bleibt ungewiß; er kann sogar in seinem Gehalt geringwertig sein, und wenn er ihm gleichwertig sein sollte, war der Arbeitskampf ebenfalls nicht angebracht. Die Güterabwägung, die sachnotwendig vor einer Eröffnung des Kampfes vorzusehen ist, muß somit in diesem Falle zu seiner Verwerfung führen. Scheidet der Arbeitskampf von vornherein aus, ist das Zustandekommen des TV unsicher. Die Erfahrungstatsache, daß die große Mehrzahl der Tarifverträge ohne Arbeitskampf abgeschlossen wird, besagt nichts dazu, ob er nicht doch bei der Auseinandersetzung um die Herbeiführung eines konkreten TV erforderlich wäre. Wegen der Unmöglichkeit, ihn einzusetzen, darf in den Tarifverhandlungen noch nicht einmal auf die sonst allgemein gegebene Möglichkeit hingewiesen werden, ihn zu führen. Der TV, demgegenüber AVE ausgesprochen worden ist, ist ebenfalls durch die Tätigkeit der Interessentenvereinigungen zustande gekommen. Es sind also die Sachnahen gewesen, die das Arbeitsleben (in einem Teilbereich) geregelt haben, welcher Umstand der TV-Autonomie ihr besonderes Gewicht verleiht. Die sachliche fundierte Staatsentlastung ist bereits eingetreten. Zudem kann die AVE nur im Einvernehmen mit dem nach § 5 Abs. 1 TVG vorgesehenen Ausschluß erfolgen, mag der Repräsentant des Staates auch nicht an dessen positives Votum gebunden sein286. Der 285 Zum Arbeitskampf als einem Ordnungsmittel, das zugleich Schäden herbeiführt, siehe unten. 286 BVerfG 44, 322 (344); siehe vor allem auch oben.
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staatliche Hoheitsakt hat also eine innere Beziehung bestimmter Art zur TVAutonomie. Im übrigen ist die mit der AVE jetzt unmittelbar rechtlich verbindlich gewordene weitgreifende Ordnung in ihrer Gleichmäßigkeit ein beachtliches Gut für die Angehörigen der Branche und der Wirtschaftsregion, auf die sich der TV erstreckt, und damit ein Gut für die Allgemeinheit. Bereits der Ausschluß des Arbeitskampfes und erst recht alle Umstände in ihrer Gesamtheit lassen m. E. während der Dauer der Allgemeinverbindlichkeit des TV in seinem Geltungsbereich einen weiteren TV nicht zu. Die Erwägungen stehen nicht in einem unaufhebbaren Widerspruch zur positiven KoalitionsfreiheiL Sie ist verfassungsrechtlich garantiert mit der Folge, daß jeder einer Vereinigung entsprechend seiner Entscheidung beitreten oder (zusammen mit anderen) eine neue gründen kann. Andererseits ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein notwendiger und unaufhebbarer Bestandteil der Rechtsstaatsmaxime. In seiner konsequenten Anwendung führt er zu dem Ergebnis, daß während der Dauer eines allgemein verbindlichen TV bei Identität der Regelungsgegenstände ein anderer TV unzulässig ist. Gegenüber der positiven Koalitionsfreiheit ist das Rechtsstaatsprinzip mit seinem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als verfassungsfestes Postulat höherrangig. Es ist dies derselbe Gedanke, der auch gegenüber der den Verbänden zustehenden TV-Autonomie durchgreift. Das Verhältnismäßigkeitsgebot ist ihr übergeordnet. Das Verhältnismäßigkeitsgebot darf nicht überspannt werden. Es verbietet unbegründete, überzogene und unsachgemäß ausgeübte Gewalt, gebietet aber ihre Anwendung zum Schutz hoher und höchster Rechtsgüter und erkennt das angemessene Gebrauchmachen etwa von der Institution des Arbeitskampfes zur Realisierung eines Wertes wie des der TV-Autonomie an, der Regelung eines wichtigen Lebensbereiches durch die hierzu besonders berufenen Sachnahen. Da jedoch der letzte Gedanke der TV-Autonomie gewahrt ist, kann zur Herbeiführung einer anderen tarifrechtliehen Ordnung im Geltungsbereich der AVE der Arbeitskampf mit allen dann sich ergebenden Konsequenzen nicht eingesetzt werden. Bei der Güterahwägung kommt der restriktive Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Zuge. Man kann sich zur Durchbrechung der AVE auch nicht auf die Tarifpluralität berufen. Gerade wegen der positiven Koalitionsfreiheit würde sie zur Gültigkeit eines TV führen, den andere Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden im Geltungsbereich des aUgemein verl:tindlichen TV bei Deckungsgleichheit der Regelungsfelder abschließen. Die vorstehenden Erwägungen stehen dem jedoch entgegen. Mit dem BAG und dem BVerfG kann die Tariffähigkeit einer jeden kraft der positiven Koalitionsfreiheit gebildeten Arbeitnehmervereinigung - und
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entsprechendes gilt für eine Arbeitgebervereinigung - nicht ohne weiteres bejaht werden. Die Vereinigungen müssen hinreichend mächtig sein. Bei der Einheit der Verfassung tritt nach dem Postulat der praktischen Konkordanz die verfassungsrechtlich abgesicherte, aber nicht verfassungsfeste positive Koalitionsfreiheit sowie die TV-Autonomie in ihrer ausgeprägten Form gegenüber der Rechtsstaatsmaxime zurück. Das wird gleichfalls vom Gemeinwohl verlangt. Da aufgrundder AVE eine tarifrechtliche Regelung besteht, ist der Arbeitskampf zur Herbeiführung einer besonderen tarifvertragliehen Ordnung wegen seiner Schäden nicht vertretbar. Das BVerfG bejaht in ständiger Rechtsprechung das Gemeinwohlpostulat als umfassend greifenden rechtlichen Bewertungsmaßstab. Er muß nur im gegebenen Falle sachlich begründet die Berechtigung eines bestimmten Verhaltens, eines bestimmten Gebotes oder Verbotes, verlangen, und Grundstrukturen der Rechtsordnung müssen gewahrt bleiben. Das Postulat ist kein Freibrief für die Durchsetzung von mehr oder weniger persönlichen und Gruppenansichten. Es legitimiert allein zutiefst ethisch Erfordertes. Dann beansprucht es allerdings Geltung. Somit kann sich die Frage einer echten Tarifkonkurrenz von vornherein nicht stellen. Bereits die Aufnahme von Tarifverhandlungen ist unzulässig. Das gilt auch insoweit, als es um die Schaffung eines TV für die Zeit nach der Wirksamkeit des staatlichen Hoheitsaktes gehen sollte. Schon die Führung von Verhandlungen kann zu einer psychologischen Belastung des Arbeitslebens führen. Dies tritt nur dann nicht ein, wenn sie erst kurz vor dem bevorstehenden, aus welchem Grunde auch immer erfolgenden Außerkrafttreten der AVE aufgenommen werden. Das wäre vor allem dann möglich, wenn mit dem Ende der AVE gleichzeitig der von ihr erfaßte TV ausläuft. Solange dieser TV gilt, ist allerdings ein Arbeitskampf stets unstatthaft. Das eben Gesagte gilt alles ebenfalls, wenn nach der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit im Geltungsbereich des betreffenden TV ein Firmen-TV über eine gemeinsame Einrichtung abgeschlossen werden soll. Es ließe sich zwar vorbringen, daß insofern eine besonders sachnahe Regelung erfolge, und dies ist grundsätzlich sogar der Fall. Ist jedoch die Regelungsmaterie identisch, wäre die Gleichheit der Ordnung mit ihrer Bedeutung für die Branche und die Wirtschaftsregion durchbrochen. Die umfassende Regelung ist durch die Staatsautorität angeordnet worden. Bei der Einschaltung des in§ 5 Abs. 1 TVG genannten Ausschusses geschah dies, ohne daß der Gedanke eines Tätigwerdens der Sachnahen in der repräsentativen Verfolgung der Belange der Angehörigen ihrer Seite des Arbeitslebens als ein tragendes Prinzip der TV-Autonomie verletzt wäre. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß ein Firmen-TV ebenfalls für allgemein verbindlich erklärt werden kann . Die Voraussetzungen hierfür sind etwa dann gegeben, wenn ein großes Unternehmen
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in Rede steht, bei dem ein Großteil der örtlichen Bevölkerung beschäftigt ist287. Die Voraussetzung des ersten in§ 5 Abs. 1 TVG genannten Sachverhaltes, daß nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des TV fallenden Arbeitnehmer beschäftigt werden, sind bei dem Firmen-TV stets gegeben. Er erfaßt sämtliche in Frage kommenden Arbeitnehmer. Besonders zu prüfen ist die Frage, wie es mit denjenigen Tarifverträgen steht, die sich bereits vor der AVE abgeschlossen, im Raume des für allgemein verbindlich erklärten TV vorfinden. Die Sachnahen haben sie bereits rechtswirksam vereinbart. Es könnte deswegen viel dafür sprechen, sie von einem Platzgreifen der AVE auszunehmen. Bei einer völligen Identität der Regelungsmaterie des räumlichen, persönlichen und branchenmäßig-betrieblichen Geltungsbereichs sämtlicher Regelungswerke scheint dies aber doch nicht angängig zu sein. Der Gedanke der gleichmäßigen und dabei die wesentlichen Prinzipien der TV-Autonomie wahrenden Ordnung schlägt durch. Das Prinzip der Tarifeinheit, also die Anwendung nur eines einzigen TV auf ein und denselben Sachverhalt, hat eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung und entspricht, wenn auch nur in einer allgemeinen Weise und insofern nicht zuletzt im Blick auf die Arbeitnehmer, dem Gerechtigkeitsgedanken. Ob nämlich die anderen noch in Frage kommenden Tarifwerke ebenso dem Postulat der größtmöglichen Gerechtigkeit gerecht werden, läßt sich, wenn überhaupt, nur schwer sagen. Irgendwelche Auseinandersetzungen hierüber mit Belastungen für die Arbeitnehmer, die Unternehmen, für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgen. Die gleichmäßige und jedenfalls vertretbare Ordnung erscheint demgegenüber sozialethisch und rechtlich gewichtiger. Die alleinige umfassende Geltung des für allgemein verbindlich erklärten TV läßt es zudem nicht zu den Schwierigkeiten kommen, die im Falle einer echten Tarifkonkurrenz auftreten. Möglich ist, daß der allgemein verbindlich erklärte TV eine umfassende Regelung enthält, die vor der AVE abgeschlossen und in den Geltungsbereich jenes TV fallenden Tarifverträge diese Grundregelung jedoch insgesamt oder wenigstens unter dem einen oder anderen Aspekt schon spezieller ausgeformt haben. Tritt insoweit eine Verdrängung der letzteren Tarifverträge ein? Die bisherigen Ausführungen stellen darauf ab, daß der dritte TV zeitlich nach der AVE in Erscheinung trat. Ihre Tragweite bei dem Gewicht der Staatsautorität, der Wahrung des Grundgedankens der TV-Autonomie und, im allgemeinen, des Gutes der umfassenden gleichmäßigen Ordnung muß zu demselben Ergebnis führen, wenn bei ihrem Ausspruch dieselben Regelungsmaterien bereits von anderen Tarifverträgen erfaßt waren. Die in Rede stehenden Größen behalten ihre Bedeutung, auch wenn der Arbeitskampf hinsichtlich der dritten Regelungswerke nicht mehr irrfrage kommt. Jedenfalls ist 287
Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 31.
4. Die Allgemeinverbindlicherklärung
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eine Aufspaltung der Wirkung einerAVEaus systematischen Gründen, damit letztlich im Interesse der Wahrung einer in keiner Weise befrachteten Gleichmäßigkeit des Rechts und somit letztlich wegen des Gemeinwohls nicht möglich. Die dritten Tarifverträge treten zurück. Es bleibt die Frage der verfassungsrechtlich gewährleisteten positiven Koalitionsfreiheit. Die zeitlich vor der AVE in Kraft getretenen Regelungen haben die Vereinigungen erzielt in Verfolg der Belange ihrer Mitglieder. Letztere sind den betreffenden Verbänden beigetreten, weil sie über sie ihre Interessen gewahrt und gefördert wissen wollen. Der durch den einschlägigen TV erreichte Interessenausgleich muß im Prinzip als auf jeden Fall vertretbar angesehen werden. Ein Verdrängen der bereits vor der AVE bestehenden Rechtslage durch den allgemein verbindlichen TV kann daher als ein irgendwie gearteter Eingriff in den persönlichen Bereich der Angehörigen der dritten Koalitionen erscheinen. Die mit dem Menschen gegebene höchst legitime Möglichkeit, Interessen zu haben und Interessen wahrzunehmen, wollten sie über "ihre". Vereinigung realisieren. Gleichwohl dürfte mehr dafür sprechen, das Prinzip der positiven Koalitionsfreiheit auch jetzt zurücktreten zu lassen. Wegen des Gewichts einer gleichmäßigen Ordnung für die Beteiligten, die Betroffenen und die Allgemeinheit bei einem in jeder Hinsicht identischen Regelungsbereich dürften bei seiner Ranghöhe und, im Zusammenhang hiermit, die letzte Erwägung und dann ebenfalls die sonstigen Gedanken beachtenswerter sein. Letztlich schlägt abermals der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als wichtiges Element der verfassungsfesten Rechtsstaatsmaxime durch. Daß ein Arbeitskampf von vornherein ausscheidet, ist ohne Bedeutung. Das Einvernehmen der die AVE aussprechenden staatlichen Stelle mit dem in§ 5 Abs. 1 TVG genannten Ausschuß, der als Repräsentant schlechthin der Arbeitnehmerschaft und der Arbeitgeberschaft angesehen werden kann, ist wiederum zu beachten. Schließlich sind bei der Prüfung, ob dieAVEauszusprechen ist, die Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls zu beachten, also die Interessenverfolgung durch den Verband der eigenen Wahl. Entsprechendes gilt bei einer Rückwirkung der AVE. Sie ist bei Beachtung der wegen der Rechtsnormqualität der TV-Regelungen wie bei einem Gesetz bedeutsam werdenden Erfordernisse der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Klarheit des Rückwirkungsausspruches zulässig, darf jedoch niemals willkürlich sein. Die Frage einer Weitergeltung dritter Tarifverträge stellt sich, wenn ihre Bestimmungen einen anderen Regelungsgegenstand betreffen, ein Sachverhalt, der immer wieder einmal vorliegt2BB. Das hat mit dem sich bei einer AVE stellenden Problem aber nichts zu tun. 288 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Auf!., Bd. II, Erster Halbband, 642.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Das BVerfG scheint nach seinen Formulierungen keinen Vorrang allgemein verbindlicher Tarifverträge gegenüber solchen anerkennen zu wollen, die bei identischem räumlichen, betrieblichen, fachlichen, persönlichen und zeitlichen Geltungsbereich von einer anderen Koalition für ihre Mitglieder abgeschlossen worden sind. Welcher TV maßgebend sei, müsse ohne Rücksicht auf die AVE nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Lösungsgrundsätzen für die Tarifkonkurrenz entschieden werden2B9. Das kann als eine der vom Verfasser sozialethisch und rechtlich vertretenen Auffassung entgegengesetzte Sentenz verstanden werden. Eine solche Annahme ist allerdings nicht unbedingt zwingend. Die Sicht des höchsten deutschen Gerichts läßt sich als ein Lösungsprinzip für eine Konkurrenz auffassen, wenn eine Übereinstimmung der Regelungsmaterien vorliegt. Es wird nicht deutlich, was das BVerfG unter den für seine Entscheidung maßgeblichen Gedanken "der allgemeinen arbeitsrechtlichen Lösungsgrundsätze für die Tarifkonkurrenz"290 und unter den "in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur entwickelten Grundsätzen" zur Lösung der Tarifkonkurrenz29t versteht. Auf jeden Fall sind diese Grundsätze verfassungsrechtlich nicht festgeschrieben, und die diesseitigen Überlegungen dürften Gewicht haben. In nicht wenigen Fällen betreffen die Lösungsgrundsätze, sieht man auf das Ergebnis ihrer Anwendung, zudem Sachverhalte, bei denen eine echte Konkurrenz nicht vorliegt. Es bedarf "jeweils einer besonders gründlichen Auslegung der für den Konkurrenzfall in Betracht kommenden Tarifverträge dahin, ob tatsächlich mehrere Tarifverträge nebeneinander anwendbar sind"292. Keine Tarifkonkurrenz besteht, wenn die Regelungen eines TV durch die Regelungen eines anderen TV ergänzt werden. Das ist auch hinsichtlich eines allgemein verbindlichen TV ohne weiteres möglich. Die AVE steht dem nicht entgegen, gleich ob andere TV-Parteien oder die Parteien des umfassend wirkenden TV die fraglichen Regelungen vorsehen. Der Fall ist nicht vergleichbar mit demjenigen, bei dem die Grundregelungen eines TV spezieller ausgeformt sind. Es wird ein anderer TV mit einem Regelungsinhalt geschaffen, der seinerseits mit seinem Inhalt noch nicht einmal im Ansatz vorlag. Der Bereich und die Möglichkeiten der TV-Autonomie einschließlich des Arbeitskampfes als Ordnungsmittel stehen insoweit offen. Die Ordnungskompetenz der Vereinigungen kann legal und legitim wirksam werden. Das eben Gesagte gilt in gleicher Weise für eine Erweiterung des Geltungsbereiches des allgemein verbindlichen TV durch die Vereinigungen, die ihn abgeschlossen haben. Dieser ergänzende TV ist in der Sache ein von den Sachnahen ins Dasein gerufener neuer TV mit einem neuen Inhalt, der zu den 289 290 291 292
BVerfG 55, 7 (24); 44, 322 (352). BVerfG 44, 322 (352). BVerfG 55, 7 (24). BAG AP Nr. 11 zu§ 4 TVG Tarifkonferenz (92) .
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früheren TV hinzutritt. Wegen der Bedeutung des tarifvertragliehen Handeins als Grundlage und Bezugsgröße für die AVE kann diese selbst sich immer nur auf den unmittelbar von ihrerfaßten TV erstrecken293. Wird der Geltungsbereich des allgemein verbindlichen TV durch eine Vereinbarung von Verbänden erweitert, bei der auf der einen oder der anderen Seite oder auf beiden Seiten andere Koalitionen als diejenigen in Erscheinung treten, die den "Grundlagen-TV" abgeschlossen haben, ist unmittelbar ersichtlich, daß ein neuer und anderer TV vorliegt. e) Beendigung der Allgemeinverbindlicherklärung
Die AVE endet mit dem Ende des TV, für den sie ausgesprochen war. Ihre Wirkung entfällt mit dem Ablauf der Vereinbarung. Der Begriff "Ablauf des TV" in § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG meint jede Beendigung desselben, gleich wodurch sie eintritt294. Wenn nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG ein Akt des Ministers dieAVEaufheben kann und Satz 3 der Vorschrift mit seinen Eingangsworten "Im übrigen" schlechthin von ihrem Ende mit dem Ablauf der Tarifregelungen spricht, ist bei der somit vorliegenden kodifikatorischen Gesamtregelung dieses Ergebnis zwingend. Es kann keine Art der Beendigung des Tarifwerkes ausgenommen sein. Vor allem entspricht der Schluß dem Prinzip der TV-Autonomie und ist daher auch sozialethisch gerechtfertigt. Die Kompetenz der im Wege antagonistischer Interessenverfolgung tätigen Sachnahen muß Bedeutung haben für das Gesamtfeld des Bereiches der TV-Autonomie, also nicht nur für die Setzung der Vorschriften, sondern ebenso für ihre Beendigung. Die Dauer der Tarifregelungen ist ein Aspekt ihrer von den TV-Parteien getragenen Geltung; sie sind in jeder Hinsicht die Sachnahen. DieAVE endet etwa aufgrund einer Aufhebungsvereinbarung der TV-Parteien, durch eine rechtmäßige ordentliche oder außerordentliche Kündigung und durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung. Bei einer Teilkündigung oder einer Teil-Aufhebungsvereinbarung enden die von der Kündigung betroffenen Regelungen, sofern sie selbständig bestehen können, also keine unlösbare Verbindung mit sonstigen Tarifvorschriften und ggf. sogar mit dem Gesamtwerk haben. In diesen letzteren Fällen ist die Kündigung unwirksam. Der staatliche Hoheitsakt mit seiner umfassenden Wirkung kann durch die Koalitionen nicht aufgehoben werden , wenn sie ihrerseits nur einen Teil ihrer Bestimmungen nicht mehr gelten lassen wollen. Daß die staatliche Autorität die AVE aufheben kann, fällt dagegen in ihre Zuständigkeit. Die Erklärung wurde ausgesprochen, weil sie im öffentlichen Interesse geboten oder zur Behebung eines sozialen Notstandes erforderlich erschien; bei der für ihren Erlaß zuständigen staatlichen Autorität muß es dann auch liegen, sie außer 293 294
Wiedemann!Stumpf, TVG, § 5 RZ 23 . Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 59.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Kraft zu setzen, wenn diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Die AVE ist eine Ordnungsmaßnahme des Staates. Das Gewicht der TV-Autonomie für das Bestehen der Tarifregelungen einschließlich ihrer Dauer kommt durch die für die Außerkraftsetzung der Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls stets notwendige Zustimmung des sich aus den Vertretern der Spitzenorganisationen zusammensetzenden Ausschusses zum Tragen. In allen anderen Fällen kann die Beendigung der Wirkung der AVE immer nur über und durch die TV-Parteien erfolgen. Es steht die Beendigung des TV selbst in Rede. Eine auflösende Bedingung muß von ihnen tarifvertraglich vorgesehen sein. Es geht ethisch und rechtlich um den von ihnen zu gestaltenden und gestalteten Ordnungsbereich. Hinsichtlich der Beendigung des von einer AVE erfaßten TV dürfen die TV-Unterworfenen keiner Unsicherheit ausgesetzt werden. Eine Kündigung gegenüber der anderen TV-Partei oder der Eintritt einer auflösenden Bedingung ist dem TV-Unterworfenen mitzuteilen. Dabei korrespondiert der Tarifsetzungsmacht der Verbände nicht bloß ihre Verpflichtung, über Wegfall des Tarifwerkes ihre Verbandsangehörigen zu unterrichten. Wegen der in der TV-Autonomie von Hause aus angelegten Erstreckung der Wirksamkeit der Vereinbarungen über diesen Kreis hinaus haben sie die in Frage kommenden Angehörigen des Arbeits- und Wirtschaftslebens sämtlich, "die Öffentlichkeit", zu informieren. Fallen beide TV-Parteien weg oder verlieren sie aus welchen Gründen auch immer ihre Tariffähigkeit, spricht Maßgebliches dafür, daß die Geltung des TV jedenfalls nach dem Außerkrafttreten der AVE sofort mit dem Abtreten des letzten Mit-Tarifträgers entfällt und die AVE daher außer Kraft tritt. Anderenfalls hängt der TV sozusagen in der Luft, gleichgültig, ob man seinen schuldrechtlichen Teil mit den Verpflichtungen des Tarifträgers im Blick auf den normativen Teil als konstitutiv für ihn ansieht oder nicht. Der Wille zur Begründung des Regelungswerks umfaßt den Willen, es aufrechtzuerhalten; nur so ist die Vereinbarung als ein Instrument zur Gewährleistung einer Ordnung sinnvoll. Dieser Wille kann aber bei Wegfall beider TV-Parteien nicht länger als noch bestehend angenommen werden. Bei Wegfall einer TV-Partei ist er nicht als unbeschränkt fortdauernd zu unterstellen. Ist der TV mit zeitlicher Befristung abgeschlossen oder unterliegt er einer auflösenden Bedingung, steht seine Laufdauer allerdings insofern fest . Wegen seiner Ordnungswirkung wird die Geltung seiner Regelungen bis zum Eintritt des fraglichen Zeitpunktes anzunehmen sein. Im übrigen führt die Ordnungsbedeutung zu dem Ergebnis, daß seine Vorschriften so lange bestehen bleiben, bis das Tarifwerk aufgrund einer frühestmöglichen, ggf. zu fingierenden Kündigung (im Falle der Fiktion sollte m. E. eine Kündigungsfrist von drei Monaten angenommen werden) sein Ende gefunden hätte295. Eine solche Sicht dürfte bei der umfassenden Wirkung der AVE rechtlich und sozialethisch geboten sein. 295
Im Ergebnis so auch Frey, RdA 65, 366.
4. Die Allgemeinverbindlicherklärung
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Anders liegen die Dinge nur bei den gemeinsamen Einrichtungen. Da sie von TV-Parteien beider Seiten des Arbeitslebens getragen werden, entfällt allein schon bei dem Nicht-Weiterbestehen eines Verbandes ein konstitutives Element derselben. Es bleibt allein die Möglichkeit einer irgendwie erfolgenden Liquidation der Einrichtung. Möglich ist ferner, daß eine dritte TV-Partei anstelle der weggefallenen bei unverändertem Zweck und unveränderter Struktur der Einrichtung eintritt, wenn auch streng begrifflich nunmehr eine andere Rechtsgröße existiert2%. Den Wegfall des TV der Öffentlichkeit und damit den Mitgliedern der nicht mehr existierenden früheren TV-Partei mitzuteilen, wird angebrachtermaßen der weiterbestehenden TV-Partei obliegen; die primäre Begründung seiner Vorschriften hatte ihre Mitwirkung verlangt. Fallen beide Kontrahenten gleichzeitig weg, muß darauf gesetzt werden, daß der Arbeitsminister irgendwann einschließlich des Zeitpunktes des Wegfalles hiervon Kenntnis erhält und er als die nach Lage der Dinge zuständige staatliche Stelle die Veröffentlichung vornimmt297 • Haben die TV-Parteien einem Zusammenschluß von Verbänden angehört, müssen die Spitzenorganisationen die Veröffentlichung veranlassen. Bei der Bedeutung des Verlustes der Tariffähigkeit einer TV-Partei für das Arbeits- und Wirtschaftsleben kann bei einem Wegfall der AVE, aber auch bei einer sonstigen diesbezüglichen Unsicherheit, die Frage der Weitergeltung einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden. Antragsberechtigt ist jede räumlich und sachlich zuständige Gewerkschaft und jede räumlich und sachlich zuständige Arbeitgebervereinigung sowie der Bundesarbeitsminister und die oberste Arbeitsbehörde eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt (§§ 2 a Abs. 1 Ziff. 3, 97 ArbGG). Das Verfahrensrecht gibt den vor allem Interessierten eine Möglichkeit zur Klärung an die Hand, von der sie allerdings auch Gebrauch machen müssen. Im Wege einer gebotenen analogen Anwendung kommen die arbeitsgerichtliehen Vorschriften ebenfalls für einen sehr seltenen, aber nicht auszuschließenden Fall zum Zuge. Sie greifen, wenn die Geltung eines TV und ggf. eines für allgeFür diesen Fall ebenso Frey, RdA 65, 366. Wenn Frey auch den betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften eines TV sogar bei Wegfall sämtlicher TV-Parteien Fortdauer für eine von ihm nicht angegebene Zeitspanne zuerkennen will (RdA 65, 365, 367), so spricht hierfür die Aufrechterhaltung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Struktur; ihr ersatzloser Wegfall könnte zu einer Unsicherheit führen. M. E. geht es aber doch nicht an, diesen Regelungen eine nicht absehbare Dauer zuzuschreiben; die konstitutiv erforderlichen Normträger sind weggefallen. Nach der Meinung des Verfassers kommen im Falle der betrieblichen Normen jedenfalls die Mitwirkungsbefugnisse des Betriebsrates zum Zuge, und die weitgreifende Regelung des BetrVG wird das Nicht-Weitergelten der betriebsverfassungsrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen nicht allzu schwerwiegend sein lassen. 297 Sie wird wohl im Bundesanzeiger zu erfolgen haben . Derart wäre auch der den TV-Parteien obliegenden Verpflichtung nachzukommen. M
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
mein verbindlich erklärten TV deswegen umstritten ist, weil eine oder beide Kontrahenten später weggefallen seien oder ihre rechtliche Existenz sogar bereits ab dem Zeitpunkt des Tarifabschlusses in Zweifel gezogen wird. Die Klärung ist angebracht, um nicht vorschnell zur Annahme eines Wegfalls der Bestimmungen des TV zu kommen. f) Schlußbemerkungen
Die AVE kann im Einzelfalle zu erheblichen Belastungen von Unternehmen führen. Die finanziellen Auswirkungen können erheblich sein, was leicht auch auf die Arbeitnehmerschaft durchschlägt. Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, daß es mit dem TV durchweg mindestens zu einem (noch) vertretbaren sachlichen Kamprarniß gekommen ist. Bei der Ausdehnung eines Firmen-TV auf dritte Unternehmen ist allerdings nicht von vornherein gesagt, der hier gefundene Sachkompromiß sei für sie ebenfalls tragbar. Die für die AVE zuständige staatliche Stelle hat in diesem Fall wie ebenfalls sonst die legitimen Belange der Arbeitnehmer und die legitimen Belange der Unternehmen unter dem Gesichtspunkt gegeneinander abzuwägen, was den gesamten Umständen nach der Allgemeinheit dient. Mit derAVEgibt die Rechtsordnung einen Hinweis zum.öffentlichen Charakter des TV. Der Staat hat kein eigenständiges Initiativ- und Entscheidungsrecht bei seinem Vorgehen, und er kann keinen Einfluß auf den Inhalt der Regelungen nehmen298. Die AVE ist ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome, von den Koalitionen ausgehende Ordnung des Arbeitslebens abstützen soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu weitergreifender rechtlicher Geltung verhilft. Daneben dient das Institut u. a . dem Zweck, den Außenseitern angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern299. Die Ausweitung der Normwirkung muß aber durch den Staat erfolgen. Allein die antagonistische Interessenverfolgung durch die Verbände führt zu den Regelungen, allein der Staat erstreckt ihre von Hause hierauf angelegte Geltung auf die Nicht-Koalitionsangehörigen und bringt die von den Koalitionen geschaffene Ordnung zu ihrer in ihr von Hause als angelegten breiten Wirkung. Der TV ist nicht zuletzt dadurch auf die Allgemeinheit ausgerichtet, daß die auf verfassungsrechtlicher Grundlage beruhende TV-Autonomie das Gemeinwesen mitstrukturiert. Mit zusätzlicher Betonung kommt das durch die AVE zum Ausdruck. ·
298 299
Siehe auch BVerfG 44, 322 (348). BVerfG 44, 322 (342) .
5. Der Normencharakter der tarifrechtliehen Regelungen
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5. Der Normencharakter der tarifrechtliehen Regelungen a) Allgemeines
Die Regelungen des TV zur Ordnung der in § 1 Abs. 1 TVG genannten Bereiche sind Rechtsnormen, und dieser Begriff wurde bereits bisher schon verschiedentlich verwandt. Dasselbe gilt für die Regelungen hinsichtlich der gemeinsamen Einrichtungen, es sei denn, daß die abweichenden Satzungsvorschriften Platz greifen und der TV zunächst nur eine schuldrechtliche Wirkung zu entfalten vermag. Wenn nach dem Gesetz die Tarifbestimmungen unmittelbar und zwingend für die Satzung der gemeinsamen Einrichtung und ihr Verhältnis zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gelten sollen, ist aber sonst die Bejahung des Normcharakters ebenfalls unausweichlich. Unter der Herrschaft der TVO hatte das RAG die Normqualiät der TVVorschriften verneint. Nach seiner Rechtsprechung gingen sie als Vertragsbestandteil derselben in die tarifunterworfenen Einzelarbeitsverhältnisse ein. Die positiv-rechtlichen Vorschriften des TVG mit ihrer ausdrücklichen (§ 1 Abs. 1 TVG) oder doch hinreichend deutlichen(§ 4 Abs. 2 TVG) Anerkennung der Normqualität lassen die Bedeutung und das Gewicht der TV-Autonomie nachdrücklich hervortreten. Die Betätigung der Sachnahen als Repräsentanten der Arbeitnehmerschaft und der Unternehmerschaft wird für die Allgemeinheit als derart gewichtig angesehen, daß sie Recht setzt, die zu regelnde Materie also hoheitlich ergreift. Bei dem sozialethisch hohen Rang der mit der TV-Autonomie durch die Sachnahen bewirkten Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens und der so erfolgenden Staatsentlastung ist die Entscheidung des Gesetzgebers zum mindesten billigenswert. Grundsätzlich gelten die Normen des TV nach § 3 Abs. 1 TVG allerdings nur gegenüber den Mitgliedern der TV-Parteien und dem Arbeitgeber, der einen Firmen-TV abgeschlossen hat. Insoweit ist der Gedanke maßgebend, daß es der Zusammenschluß der Interessenten ist, im Falle des Firmen-TV die nach dem Gesetz vorliegende Tariffähigkeit des Arbeitgebers und dessen Zusammenwirken mit der Gewerkschaft, die zu Tarifregelungen führen. Diese Beschränkung der Normwirkung ist nach den Ausführungen oben nicht in sich verfehlt. Der Normencharakter unterstreicht aber schon mit seiner grundsätzlichen Tragweite die Ordnungsaufgabe und die Ordnungswirkung des TV. Vom Gesetzgeber gewollt oder ungewollt, vor allem wird mit der Setzung von Normen die tendenzielle Ausrichtung des Tarifwerkes auf seinen gesamten potentiellen fachlichen, betrieblich-unternehmungsmäßigen und personellen Geltungsbereich sowie die praktische Bedeutung des Tarifwerkes für das Arbeitsleben anerkannt; seine allgemeine Leitfunktion wird bestätigt. Nähere empirische Untersuchungen liegen zwar nicht vor; es scheint aber häufig so zu sein, daß die Übernahme der tariflichen Regelungen über eine betriebliche Übung oder auf Grund einer betrieblichen Einheitsregelung erfolgt300. Der kollektivrecht-
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
liehe Aspekt in diesen beiden Fällen einer Übernahme läßt auf seine Weise das allgemeine Gewicht des TV hervortreten. Die Übernahme durch einen Einzelvertrag im strengen Sinne des Wortes ist demgegenüber wohl verhältnismäßig selten. Die von vornherein bestehende umfassendere Geltung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften und die Erstreckung der unmittelbaren Normenwirkung durch die AVE sind in ihrer Legitimität und in ihrer Bedeutung bereits aufgewiesen. Der Normencharakter der TV-Regelungen findet letztlich seinen Grund in der öffentlichen Bedeutung der TV-Autonomie und in der insofern vorliegenden öffentlichen Aufgabe der Koalitionen. Die positive Rechtsordnung der Bundesrepublik dürfte dem Gedanken der TV-Autonomie besonders gerecht werden. Allerdings erfordert die Zuerkennung der Normqualität, gleich wie weit oder wie eng ihr Geltungsbereich sei, als Grundlage stets ein die Normeigenschaft statuierendes Gesetz30l. Die hoheitliche Bindung an Akte , die von innerhalb der Gesamtgemeinschaft bestehenden Teilgrößen gesetzt werden und die ihrerseits nicht die staatliche Gemeinschaft als solche repräsentieren, muß durch die Gesamtgemeinschaft als Inhaberirr der umfassenden Ordnungskompetenz erfolgen oder doch wenigstens anerkannt werden. Im Falle der TV-Autonomie geht es insoweit ebenfalls um die lediglich öffentliche Stellung der Verbände gegenüber einer ihnen nicht zukommenden öffentlich-rechtlichen Stellung. b) Rückwirkung von Tarifnormen
"Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört die Rechtssicherheit ... Der Staatsbürger soll die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können; er muß darauf vertrauen können, daß sein dem geltenden Recht entsprechendes Handeln von der Rechtsordnung mit allen ursprünglich damit verbundenen Rechtsfolgen anerkannt bleibt. In diesem Vertrauen wird der Bürger verletzt, wenn der Gesetzgeber an abgeschlossene Tatbestände ungünstigere Folgen knüpft als an diejenigen, von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz. "302 Was für die vom Staat gesetzten Rechtsregelungen gilt, gilt auch für die TV-Normen; Gesetzgebung ist jede materiale Gesetzgebung. "Zum Sinn jeder Normensetzung gehört wesenhaft, mit ihr Frieden zu schaffen. Mit der sich in der gesetzten Norm verkörpernden Rechtsklarheit soll Rechtssicherheit erreicht werden. "303 Mit der Rechtsnorm und allgemein mit 300 Letzter Weg kann als gewollt formalisierte betriebliche Übung gekennzeichnet werden. 30I An sich wäre für die Schaffung der Normennatur ein jeweils einzelner staatlicher Akt notwendig, und man könnte ihn sogar lediglich für Tarifregelungen von ganz besonderer Tragweite vorsehen. Das würde jedoch der allgemeinen Bedeutung der TVAutonomie nicht gerecht. 302 BVerfG 13, 261 (271) .
5. Der Normencharakter der tarifrechtliehen Regelungen
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der Rechtsordnung kommt unmittelbar ein sozialethisches Postulat zum Ausdruck, und es findet seine rechtliche Anerkennung. Das ebenfalls sozialethische Prinzip des Vertrauensschutzes gilt nicht ausnahmslos. Es kommt nicht zum Zuge, wenn das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt ist. Folgende Fälle stehen in Rede: "a) Das Vertrauen ist nicht schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser [scil.: verschlechternden] Regelung rechnen mußte . .. b) Der Staatsbürger kann auf das geltende Recht bei seinem Planen dann nicht vertrauen, wenn es unklar und verworren ist. In solchen Fällen muß es dem Gesetzgeber erlaubt sein, die Rechtslage rückwirkend zu klären c) Der Staatsbürger kann sich nicht immer auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen. Der Gesetzgeber kann daher u. U. eine nichtige Bestimmung rückwirkend durch eine rechtlich nicht zu beanstandende Norm ersetzen .. . d) Schließlich können zwingende Gründe des gemeinen Wohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen."304 Mit der rückbezogenen Rechtsfolge ab dem Zeitpunkt, zu dem die Rückwirkung eintritt, muß nach der rechtlichen Situation gerechnet werden, sobald eine "verschlechternde" Rückwirkung für jeden sachlich Denkenden geboten erscheint. Die "Geschäftsgrundlage" der bisherigen Norm muß ersichtlich entfallen sein. Eine unklare und verworrene Normlage wird bei Tarifregelungen vorliegen, wenn, was immer wieder einmal vorkommt, die TV-Parteien sich auf einen Formelkompromiß geeinigt haben, der bei jeder denkbaren Auslegungsmethode inhaltlich widersprüchlich ist. Jede TV-Partei meint, die gefundene Formulierung entspreche ihrem der anderen Seite entgegengesetzten Begehren; dafür lassen sich jeweils beachtliche Gründe anführen3os. BAG 8, 285 (307). BVerfG 13, 261 (2711272) ; 18, 429 (439) ; siehe auch BVerfG 13, 215 (323/324). Das BVerfG hat sich in der ersten einschlägigen Entscheidung mit der Formulierung, es kommen "unter anderem" die von ihm angeführten Tatbestände einer zulässigen Rückwirkung in Betracht, an sich die Möglichkeit offengehalten, daß auch noch aus sonstigen Sachverhalten Normen mit verschlechternder Rückwirkung in Betracht gezogen werden könnten. In der inhaltlich und weitgehend wörtlich mit jener Entscheidung übereinstimmenden Entscheidung BVerfG 18, 429 (439) findet sich ein solcher Vorbehalt aber nicht mehr. Weitere Möglichkeiten dürften in der Tat auch nicht denkbar sein. Wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls eine Rückwirkung rechtfertigen, sind alle anerkennenswerten Gründe erfaßt. 303
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14 G. MUIIer
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein kann man sich nicht verlassen, sofern die Norm gleichsam den Stempel der Ungültigkeit auf der Stirne trägt. Zwingende, dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen die rückwirkende Regelung, wenn anderenfalls die Allgemeinheit einen Schaden erleiden würde, der gegenüber der Beachtung des rechtsstaatliehen Gebotes der Rechtssicherheit unverhältnismäßig groß ist. Abermals ist die fundamentale Bedeutung des Gemeinwohls, sogar im Verhältnis zu grundlegenden Rechtsmaximen, deutlich. Auf der anderen Seite ist, mag bei der Beurteilung ein volitives Moment auch stets eine gewisse Rolle spielen, in der Bewertung, die Rückwirkung sei zulässig, immer größte Vorsicht geboten. Ein Fall der hier in Rede stehenden zulässigen Rückwirkung mag etwa gegeben sein, wenn Tarifforderungen als solche schon erwachsen sind, ihre Erfüllung jedoch zu schweren gesamtwirtschaftlichen Schäden führen müßte. Dann sind die TV-Parteien sozialethisch und rechtlich sogar verpflichtet, unverzüglich die rückwirkenden Normen zu schaffen und in Kraft zu setzen. M. E. kann unter den angegebenen Voraussetzungen die Rückwirkung auch für die von einer AVE erfaßten Tarifvorschriften vorgesehen werden. Die Rechtslage wird klargestellt, oder es wird dem zwingenden Gebot des Gemeinwohls entsprochen. Die Legitimation und die Legalität der AVE selbst sind nicht berührt. Etwas anderes gilt nur, wenn die Rückwirkung die AVE schlechthin gegenstandslos werden ließe, eine Möglichkeit, die nicht bloß theoretisch nicht ausgeschlossen werden kann. Hier tritt die AVE mit der Rückwirkung ohne weiteres außer Kraft. "Verschlechternde" Tarifnormen mit rückwirkender Geltung können, was nicht außer acht gelassen werden darf, sowohl die Arbeitnehmer- wie die Unternehmer-/Arbeitgeberseite treffen. Tarifregelungen wirken des öfteren von vornherein "zweischneidig". Ein letztes sei noch bemerkt. Nicht nur der letzte vom BVerfG genannte Sachverhalt, sondern alle Fälle erfahren ihre Rechtfertigung zutiefst aufgrund der Gemeinwohlmaxime. Ihr grundlegendes Gewicht wird deutlich, unbeschadet dessen, daß die besonderen Aufzählungen im Interesse der Rechtssicherheit zumindesten angebracht sind. Das Prinzip der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit hat mehrere Aspekte. Zutiefst soll die Rückwirkung einer jeden "verschlechternden" Norm u. a. schwerwiegender Unsicherheit, Streitigkeiten mit nicht vorhersehbarem Ausgang und sonstigen tiefgreifenden Belastungen der Gesamtgemeinschaft begegnen. Jos Ein solches Vertragsergebnis ist dem Rechtsleben auch sonst nicht unbekannt. Es findet sich z. B. immer wieder bei völkerrechtlichen Verträgen, die die vertragschließenden Staaten aus politischen Gründen unbedingt abschließen wollen, obwohl sie sich in wichtigen Fragen sachlich nicht geeinigt haben. Das Ergebnis derartiger "Kompromisse" ist nur zu leicht neuer, das Leben der Staatengemeinschaft belastender Streit.
5. Der Normencharakter der tarifrechtliehen Regelungen
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c) Schriftfonn und Publikation der Tarifverträge
Nach§ 1 Abs. 2 TVG bedürfen die Tarifverträge der Schriftform. Sie dient der Klarstellung und Feststeilbarkeit des Inhalts des TV, des näheren und vor allem hinsichtlich seiner Normen306 • Regelungen mit Normencharakter, die selbst nicht fixiert sind, tragen ein Unsicherheitsmoment in sich, das ihre Ordnungswirkung mehr oder weniger beeinträchtigt. Eine Ungewißheit, ob die Vorschriften bestehen oder nicht und welchen Inhalt sie haben, kann ohne weiteres zu Streit unter den Rechtsgenossen führen . Die schriftliche Fassung der Tarifregelungen hat sogar dann ihre Bedeutung, wenn die TV-Parteien von vornherein über sie einig sind, sie also nicht aufgrun_d eines betont antagonistischen Verfahrens gewonnen wurden. Die Eindeutigkeit ihrer rechtlichen Existenz und ihrer Tragweite wird gesichert. Die größtmögliche Sicherheit über den Inhalt und die nähere Aussage der Norm wird darüber hinaus gewährleistet durch ihre formelle öffentliche Publikation. Sie ist allerdings für die tariflichen Bestimmungen nicht vorgesehen; insofern liegt ein sozialethisches und rechtspolitisches Defizit vor. Die tendenzielle Bedeutung des TV für dritte Arbeitnehmer und Arbeitgeber spielt wieder ihre Rolle. Das beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geführte Tarifregister (§ 76 TVG) und die nach§ 16 DVO TVG einem jeden gegebene Einsichtsmöglichkeit in die registrierten Tarifverträge sind kein vollwertiger Ersatz, zurnal erfahrungsgemäß die Zusendung eines jeden TV an das Registertrotz § 7 TVG nicht immer erfolgt. Die Erfüllung der Verpflichtung der Arbeitgeber nach § 8 TVG, die für ihren Betrieb maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, kann nicht erzwungen werdenJm. Ihre Verletzung hat für den Arbeitgeber, wenn überhaupt, nachteilige Folgen nur, wenn er sich auf für ihn günstige Bestimmungen beruft, den TV aber nicht bekannt gernacht hatJOs. Im Interesse der Rechtsklarheit müßte ferner das Außerkrafttreten des TV formell publiziert werden. Die AVE und ihre Aufhebung bedürfen nach § 5 Abs. 7 TVG der öffentlichen Bekanntmachung, und jedenfalls für die Wirksamkeit der Erklärung ist dies eine notwendige Bedingung309. Der Staat nimmt den entscheidenden Akt der Rechtssetzung vor. Aber sogar für diesen Fall wird als eine konstitutive Voraussetzung für die Anordnung der Verbindlichkeit eine Veröffentlichung des TV nicht verlangt, obwohl das gerade hier mehr als tunlieh wäre.
Siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 98. Mit dem Begriff der "maßgebenden Tarifverträge" dürften im übrigen allein die tarifgebundenen Arbeitgeber angesprochen sein, im Falle der AVE aber auch diejenigen ·Arbeitgeber, die lediglich wegen dieses Hoheitsaktes tarifunterworfen sind. 308 Siehe Wiedemann!Stumpf, TVG, § 8 RZ 2. 309 Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 RZ 92. 306
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen a) AUgemeines
Die TV-Vorschriften zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses setzen nur Mindestbedingungen fest. Die TV-Parteien können sie aufgrund der positiven Rechtsordnung nicht gleichzeitig zu Höchstarbeitsbedingungen erklären. Die Bindungswirkung der tariflichen Regelungen nach § 5 Abs. 1 TVG und die gleichzeitige Zulässigkeit von Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers nach § 4 Abs. 3 TVG ergeben in ihrer Gesamtheit, daß die Bestimmungen nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers unterschritten werden dürfen. Bei einer Besserstellung werden sie in der Sache erfüllt, sie sind hierin enthalten3IO. Die Qualifizierung der Regelungen eines TV als Mindestregelungen ist in diesem Zusammenhang noch einmal anzusprechen. Immer wieder muß betont werden, daß der TV durch das antagonistische Zusammenwirken der Repräsentanten beider Seiten des Arbeitslebens zustande kommt und so im Prinzip eine sowohl für die Arbeitnehmer wie für die Unternehmen mindestens vertretbare Abmachung, hier zum Inhalt der Arbeitsverhältnisse, ist. Er unterliegt darüber hinaus der Beurteilung durch fundamentale Kriterien der Rechtsordnung, die zugleich fundamentale ethische Kriterien sind. Bei einem Sittenverstoß, bei einem Verstoß gegen Treu und Glauben sowie bei einer Verletzung des Willkürverbotes sind seine einschlägigen Regelungen und u. U. seine Vorschriften insgesamt nichtig, auch wenn es sich nur um objektive Fehl-Regelungen handelt. Jene Grundmaximen sichern vom Recht her die Unternehmen für den äußersten Fall ab, zugleich gewährleisten sie eine entsprechende Sicherung für die Arbeitnehmer und ihre legitimen Belange. Eine von den zwingenden Vorschriften des TV abweichende Abmachung erscheint nach § 4 Abs. 3 TVG von vornherein möglich, wenn sie durch den TV gestattet ist. Derartige Öffnungsklauseln können Abweichungen allgemein, für einzelne Fälle oder für einen bestimmten Sachverhalt zulassenm, so daß die Mindestbestimmungen des TV unterschritten werden dürfen. Auf diese Weise soll nicht zuletzt die konkrete Situation einzelner unter den TV fallenden Unternehmen Berücksichtigung finden . Eine unbeschränkte Aufnahme der Klausel in den TV ist jedoch nicht statthaft. Dies wäre mit der Ordnungsaufgabe der TV-Autonomie nicht vereinbar. Das Tarifwerk könnte jederzeit nicht nur durchlöchert, sondern sogar völlig gegenstandslos gemacht werden. Die Öffnungsklauseln dürfen also gegenüber der Ordnungsfunktion des TV jedenfalls nicht willkürlich sein3t2. Sie sind am Platze, sofern wirtSiehe Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl., II, 423. Die Frage einer Besserstellung bei sog. negativen Inhaltsnormen sowie bei Regelungen im Bereich der sonstigen Regelungsfelder eines TV ist unten angesprochen. 311 Wiedemann!Stumpf, TVG, § 4 RZ 205. 312 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 205. 310
6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen
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schaftliehe Bedürfnisse in gleichzeitiger Beachtung sozialer Gegebenheiten sie im gegebenen Fall angebracht erscheinen lassen313. Die Gefahr etwa der Lohndrückerei muß vermieden werden. Des weiteren gilt, daß die TV-Parteien von vornherein sowohl auf die Situation der Arbeitnehmer wie auf die Situation der Unternehmen Bedacht haben müssen. Wirtschaftlich schwache Zeiten, die zudem voraussichtlich eine gewisse Zeit andauern, wirtschaftlich schwache Branchen und wirtschaftlich schwache Regionen verlangen, die tariflichen Mindestbedingungen unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten festzusetzen . Das ist eine von den TV-Kontrahenten streng zu beachtende sozialethische Pflicht. Führt ihre Verletzung zu einer offensichtlichen Existenzgefährdung der Unternehmen, werden das Verbot des Sittenverstoßes, das Gebot von Treu und Glauben und das Willkürverbot Platz greifen. Der TV ist des weiteren seinem Zwecke nicht gerecht geworden, das Arbeitsleben sinnvoll zu befrieden, und das Gemeinwohlpostulat ist offensichtlich verletzt. Eine andere Frage ist dagegen, ob durch den Tarifabschluß überhaupt keine Gefährdung eines einzelnen Unternehmens eintreten darf. Das ist m. E. jedenfalls dann zu verneinen, wenn das Unternehmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in absolut kurzer Zeit auf jeden Fall zusammenbrechen würde. Angemessene Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer der anderen Unternehmen kämen sonst nicht zustande, ohne daß jedoch der Arbeitsplatz der Arbeitnehmer in den notleidenden Unternehmen wenigstens für eine gewisse Dauer gesichert bliebe. Die Sozialstaatsmaxime läßt im übrigen ggf. weit über die TV-Autonomie hinaus sonstige Maßnahmen erforderlich sein, und schließlich ist im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Eigeninitiative der Betroffenen gefragt. In diesem Zusammenhang sei noch folgendes gesagt: Der Tatbestand des sog. Grenzbetriebes wird, unabhängig von der Wirtschaftslage insgesamt, wohl des öfteren gegeben sein. Ebenso ist es möglich, daß die Arbeitgeber derselben Branche in der einen Region gut, in einer anderen Region aber schlecht dastehen. Für Tarifverträge, die bundesweit gelten sollen, wirft das die Frage auf, ob sie sich insgesamt mit Minimalregelungen zu begnügen haben. Das kann zu Unruhen in den wirtschaftlich besser gestellten Bereichen führen. Alle Unternehmen werden über einen Kamm geschoren. Den Arbeitnehmern in den mehr oder weniger erfolgreich tätigen Wirtschaftseinheiten ist das Tarifergebnis nur schwer verständlich zu machen; vor allem kann bei diesen Arbeitnehmern wegen der Situation ihrer Unternehmen ein Mißverhältnis zwischen ihrer Leistung und der Gegenleistung des Arbeitgebers vorliegen. Dagegen erscheint es möglich, in einem bundesweiten TV Untergruppen mit gestaffelten Arbeitgeberleistungen je nach Region und Branchenlage vorzusehen. Durchgängig "hohe" Tarifregelungen mit gleichzeitigen Öffnungsklauseln für wirtschaftlich schwache Bereiche und Unternehmen er313
Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 205.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
scheinen andererseits verfehlt. Die TV-Autonomie mit ihrer allgemeinen Ordnungsbedeutung würde im Ergebnis unterlaufen, was bei der Bedeutung der Institution sachwidrig und somit willkürlich wäre. Nicht zuletzt bieten individualrechtliche Abmachungen und Betriebsvereinbarungen niemals die Gewähr, daß es zu einer einheitlichen Regelung für alle in Rede stehenden Unternehmen kommt. Ein bundesweiter M~mteltarifvertrag (MTV) erscheint, jedenfalls im allgemeinen, angebracht. Er befaßt sich mit durchweg gleich liegenden und daher einer übereinstimmenden Regelung zuzuführenden Grund- und allgemeinen Fragen. b) Das Günstigkeilsprinzip
Im Rahmen seiner Tragweite ist das Günstigkeitsprinzip, die Zulässigkeil einer Änderung der tariflichen Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer, eine Erscheinungsform der Maximeder Vertragsfreiheit; es bleibt die Möglichkeit, ausdrücklich oder konkludent Absprachen zu treffen, die dem Arbeitnehmer entgegenkommen. Vergleichbares gilt für die Betriebspartner mit ihren Betriebsvereinbarungen und sonst noch zulässigen Absprachen.
aa) Günstigkeilsprinzip und Tarifnormen als Höchstbedingungen Da in der grundsätzlichen Gewährleistung der freien Entfaltung der Persönlichkeit das Prinzip der Vertragsfreiheit mit enthalten ist, wird im Schrifttum verschiedentlich angenommen, der Günstigkeilsgrundsatz sei durch die Verfassung selbst festgeschrieben314 . Das BAG nimmt ebenfalls eine verfassungsrechtliche Verankerung dieses Rechtsgedankens an. Es beruft sich auf die Vertragsfreiheit, vor allem auch auf Art. 28 GG mit seiner Statuierung des Gedankens vom sozialen RechtsstaatJ15. Das Günstigkeitspostulat ist der Verfassung jedoch unbekannt. Das Sozialstaatspostulat, selbst mit der Rechtsstaatsmaxime zusammen gesehen, verlangt in seinem Kern lediglich eine allgemein gerechte Sozialordnung. Sie läge ebenfalls vor, wenn die TV-Parteien als dieSachnahen mit ihrer derart gegebenen Kompetenz die tariflichen Mindestbedingungen gleichzeitig als Höchstbedingungen vorsehen würden. Die mit Art. 2 Abs. 1 GG an sich verfassungsrechtlich abgesicherte Vertragsfreiheit ist kein absolut geltendes Prinzip. Sie verträgt, wenn sie nur als Grundsatz gewahrt bleibt, aufSachgründen beruhende Einschränkungen, und u . U. werden Einschränkungen vom Gemeinwohl sogar verlangt. Die TV-Parteien 314 Nachweise bei Wiedemann!Stumpf, TVG, § 4 RZ 218. Besonders nachdrücklich vertritt die fragliche Ansicht Nikisch, Arbeitsrecht, II, 420/421. 315 BAG, AP Nr. 2 zu§ 4 TVG, Angleichungsrecht, BI. 610, 612; BAG AP Nr. 3 zu § 4 TVG, Angleichungsrecht (BI. 615). Die nähere Begründung des BAG ist entsprechend seinem Verweis aus Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 1111, 232 Anm. 38, zu entnehmen.
6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen
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könnten an sich die Tarifregelungen ohne Möglichkeit einer Änderung somit "oben" festschreiben, und sie würden, weil sie die Sachnahen sind, mit diesem Ergebnis nicht gegen den Grundsatz der Vertragsfreiheit Dritter verstoßen316. Hinzu tritt der Gedanke der durch den TV herbeigeführten gleichmäßigen Ordnung mit seiner Bedeutung für das Arbeits- und Wirtschaftsleben. Bereits allein mit ihm ließe sich m. E. eine Wertung der Tarifvorschriften als Höchstbedingungen begründen. Die Qualifizierung der Tarifsätze als Mindestbedingungen ist ihrerseits legitimiert durch den Gedanken der angemessenen Sicherung der Arbeitnehmer und gleichzeitig durch den Schutz eines fairen Wettbewerbs für die Unternehmerseite. Es soll im Tarifbereich nicht zu Unterbietungen auf dem Markt kommen, die zudem auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen würden (Gedanke der Unzulässigkeit einer Schmutzkonkurrenz)317. Vor allem hat das Prinzip der Mindestregelung verfassungsrechtlich und sozialethisch einen hohen Stellenwert, und es wird sogar verlangt. Die sozial befriedende Ordnung des Arbeitslebens, die über die TV-Autonomie erreicht werden soll, wäre in sich brüchig, könnte der TV aufgrund rangniederer Absprachen mit seiner gleichmäßigen Ordnung gerade zu Ungunsten der Arbeitnehmer durchbrochen werden. Jedenfalls in ihrer jederzeit möglichen Kumulation würden die Absprachen, gleich welchen näheren Inhalt die einzelne haben mag, die Normen des TV in ihrem Regelungsbereich weitgehend und ggf. sogar völlig gegenstandslos machen, so daß er überhaupt keine Ordnungsbedeutung mehr hätte. Der Gedanke der gleichmäßigen Ordnung, der auch zugunsten der Unternehmen wirkt, ist also , wie jetzt deutlich wird, mit der TV-Autonomie als einer Institution der Verfassung von vornherein mitgegeben. Sozialethisch wird er verlangt, damit die von den sachnahen Verbänden geschaffene Ordnung mit ihrem Gewicht als (Teil-)Strukturierung der Gesamtgemeinschaft Bestand hat, ein Gedanke, der zumindest im Kerne mit der verfassungsrechtlichen Überlegung identisch ist. Wegen alledem ist hinsichtlich der Öffnungsklauseln zu sagen, daß sie nicht nur nicht willkürlich vorgegeben werden dürfen, sondern daß von ihnen allgemein nur ein sparsamer Gebrauch gemacht werden kann. Das Erfordernis der gleichmäßigen Ordnung seinerseits wird durch die Überlegungen am Ende der allgemeinen Ausführungen eingangs dieses Abschnittes nicht berührt; seine Bedeutung wird sogar im Sinne einer sachgerechten Gleichmäßigkeit verstärkt. Das Günstigkeitsprinzip steht seinerseits dem Gedanken der gleichmäßigen Ordnung nicht entgegen. Die tariflichen Vorschriften sind in den den Arbeitnehmern entgegenkommenden Rechtsakten sozusagen als Fundament vorhanden und ihre Besserstellung als solche kann weder rechtlich noch sozialethisch verneint werden. Jedenfalls im Ergebnis wie hier Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 218. Es zeigt sich abermals, daß die Tarifverträge von Hause aus auf eine umfassende Wirkung angelegt sind. 316
317
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Zusammenfassend wird man sagen dürfen: Der freien Entfaltung der Persönlichkeit und damit der Vertragsfreiheit setzt neben dem Sittengesetz die verfassungsmäßige Ordnung eine Schranke. Es ist keineswegs sinnlos, die der TV-Autonomie innewohnende Möglichkeit, die Tarifregelungen gleichzeitig als Höchstbedingungen vorzusehen und dies, bei entsprechender rechtlicher Positivierung, als einen Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung festzuhalten. Zudem könnte daran gedacht werden, im Sinne einer Kompetenz von einem derartigen Recht der TV-Parteien zu sprechen, immer vorausgesetzt, daß das positiv einfache Gesetz es vorsieht. Eine solche gesetzliche Regelung wäre allerdings auch erforderlich. Gegenwärtig bejaht die Rechtsordnung ausdrücklich das Günstigkeitsprinzip. Die Anerkennung der freien Entfaltung der Persönlichkeit- und das ist der berechtigte Aspekt des Gedankens, das Günstigkeltsprinzip sei verfassungsmäßig verbürgt - birgt in sich die Möglichkeit, solche Abmachungen seitens der Tarifunterworfenen einzugehen. Voraussetzung ist, daß sie wegen des Gewichts der durch die TV-Parteien erzielten gleichmäßigen Ordnung von der positiven Rechtsordnung nicht als unbedingt abschließend gesehen ist. Nach den obigen Überlegungen ist eine "Verschlechterung" oder sogar ein Ausschluß der TV-Normen nicht möglich. Dies kann man als Ergebnis einer praktischen Konkordanz im Verhältnis von Privatautonomie und TV-Autonomie bezeichnen. Die sozialethische Legitimierung der Tarifregelungen als Höchstbedingun· gen ist mit der Darlegung des einschlägigen Rechtsgedankens in einem erfolgt. Immer wieder zeigt sich, daß ein in der Sache fundierter rechtlicher Grund stets sozialethischen Gehalt hat. bb) Die Tragweite des Günstigkeitsprinzips und allgemeine sozialethische Erwägungen in diesem Zusammenhang Nachzutragen ist noch ein weiterer Gedanke. Das Günstigkeltsprinzip deckt nicht nur den Arbeitnehmer besser stellende einzelvertragliche Abmachungen ab, es greift weiter. § 4 Abs. 3 TVG spricht schlechthin von abweichenden "günstigeren" Abmachungen. Es kommen also Betriebsvereinbarungen und etwa sonst zulässige Abmachungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber gleichfalls in Frage. Man könnte ihre Grundlage, immer in Beachtung der Funktion der TV-Normen als Mindestbedingungen, wiederum in einer Persönlichkeitsentfaltung sehen. Der einzelne Arbeitgeber oder die aus mehreren Personen bestehende Unternehmensleitung werden in der Geltendmachung unternehmerischer Gesichtspunkte auf der einen Seite tätig und auf der anderen Seite der durchweg mehr als eine Person zählende BR318. Mit der Tätigkeit seiner Mitglieder als den Repräsentanten der Belegschaft würde es mittelbar zur Entfaltung der jeweils in Rede stehenden einzelnen Mitarbeiter kommen. Eine solche Sicht erscheint aber gekünstelt. Zudem stellt Art. 2 GG nach 318
Siehe§ 9 BetrVG.
6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen
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seiner Fassung und nach seinem systematischen Zusammenhang mit der in Art. 1 GG genannten Menschenwürde primär auf die eigene Persönlichkeit ab319. Sachgerechter ist die Überlegung, daß der Unternehmer/Arbeitgeber und der BR als betriebsverfassungsrechtliche Größen Angelegenheiten des "Binnenraumes" des Unternehmens im Rahmen und aufgrunddes Betriebsverfassungsrechts regeln. Sie machen von ihren Kompetenzen Gebrauch. Bei der Bedeutung der TV-Normen ändert sich jedoch wiederum nichts an ihrem grundsätzlichen Charakter als Mindest-Vorschriften, ebenso wie sie an sich zugleich Höchst-Bestimmungen sein könnten. Das Günstigkeilsprinzip selbst wirft im einzelnen viele schwierig zu beantwortende Rechtsfragen auf320. Bereits über seine Tragweite läßt sich streiten. Hinsichtlich der sog. negativen Inhaltsnormen, also derjenigen Bestimmungen, die vorsehen, welchen Inhalt das Arbeitsverhältnis nicht erhalten darf, wird allgemein angenommen, sie verlangten unbedingte Beachtung. Die negative Vorschrift werde durch jede Abweichung verletzt. Das könnte eine sehr formale Wertung sein. Als Beispiel sei gebracht das Verbot, Arbeitnehmer zur Leistung von Akkordarbeit zu verpflichten. Hier könnte es bei seinen persönlichen Verhältnissen einem einzelnen Arbeitnehmer sehr wohl dienen, als Akkordarbeiter die Möglichkeit eines höheren Verdienstes zu gewinnen, vorausgesetzt, daß er ständig zu Akkordarbeit imstande ist. Ist die negative Inhaltsnorm etwa deswegen vorgesehen, um jüngere und/oder ältere Arbeitnehmer pauschal vor Überanstrengungen zu schützen, könnte sich das Verbot für den konkreten, nach gewissenhafter ärztlicher Prognose für Akkordarbeit voll tauglichen Arbeitnehmer u. U. geradezu ungünstig auswirken. Es zeigt sich gleichzeitig, daß die Durchführung des Günstigkeitsvergleichs in nicht wenigen Fällen Schwierigkeiten bereitet. Welche Umstände sind im einzelnen zu berücksichtigen? Wie ist unter dem Gesichtspunkt der Günstigkeit ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen? Die auf rein "äußere Merkmale" abstellende negative Inhaltsnorm erscheint je nach den Gesamtumständen des Einzelfalles innerlich nicht unbedingt haltbar. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Abs. 1 Art. 2 RZ 68. Die Grundrechtsfähigkeit inländischer juristischer Personen hat ebenfalls einen bestimmten persönlichkeitsbezogenen Gehalt. Sie liegt nach Art. 19 Abs. 3 GG vor, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese Gebilde anwendbar sind. Im Interesse der Verwirklichung und Gestaltung ihrer legitimen und legalen Zweckbestimmung sollen sie Grundrechtsträger sein. Ihre Zweckbestimmung wird aber gesetzt durch die Menschen, die sie ins Dasein gerufen haben, und durch die sie in Erscheinung treten. Ausschließlich der menschlichen Persönlichkeit zukommende Grundrechte wie z. B. die Freiheit des Gewissens können kollektiven Größen als solche nicht zustehen (siehe Dürig, in: Maunz!Dürig/Herzog/Scholz, GG, Abs. III Art. 19 RZ 32). Sie sind unbeschadet ihrer Grundrechtsfähigkeit keine Persönlichkeiten. Den Menschen, die sie als ihre Funktionsträger zur Geltung bringen, stehen allerdings im Verhältnis zu den juristischen Personen im gegebenen Falle diese Grundrechte zu. 320 Siehe etwa Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 230, 231 ff., 237 ff., 229. 319
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Einstellungsgebote in Beziehung zu dem Günstigkeltsprinzip zu setzen, dürfte Bedenken begegnen. Das TVG spricht von "abweichenden Abmachungen", so daß m. E. die bereits beschäftigten Arbeitnehmer als Bezugspunkt für die günstigere Vereinbarung in Frage kämen. Dem Unternehmer steht es von Hause aus .frei, über eine Verpflichtung zur Einstellung einer bestimmten Anzahl von Arbeitnehmern hinaus weitere Arbeitnehmer der begünstigten Gruppe einzustellen. Ihm dies verbieten zu wollen, würde in aller Regel sogar gegen den Schutzzweck des Einstellungsgebotes verstoßen. Einstellungsverbote können, von besonderen Ausnahmefällen abgesehen, mit der Berufsund Berufsausübungsfreiheit des Unternehmers kollidieren. Er hat grundsätzlich nach seiner Sicht zu entscheiden, mit welchen Mitarbeitern er das Unternehmensziel verfolgen will. Eine günstigere Stellung einzelner tarifunterworfener Abeitnehmer gegenüber den für sämtliche tarifunterworfenen Arbeitnehmern geltenden und dabei erkennbar abschließend aufgeführten Beendigungsnormen dürfte zwar oft mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und der Gleichbehandlungsmaxime mit ihren Geboten, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln, in Konflikt kommen. Sofern aber, etwa kraft betrieblicher Übung oder aufgrund einer Betriebsvereinbarung, ganze Gruppen von Arbeitnehmern wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit eine Vergünstigung derart erhalten, daß ihnen wegen der mit ihrer Arbeitserbringung verbundenen besonderen Belastung über die tariflichen Regelungen hinausgehend immer nur aus wichtigem Grund gekündigt werden darf, ist eine solche zusätzliche Besserstellung nach der Verfassungsvorschrift und dem gleichfalls nicht zur Disposition stehenden Postulat der Gleichbehandlung von vornherein zulässig. Betriebliche Fragen verlangen ihre einheitliche Anwendung. Betriebliche tarifrechtliche Vorschriften können somit zugunsten einzelner Arbeitnehmer nicht abgeändert werden. Eine begünstigende Abänderung insgesamt aufgrundeiner Betriebsvereinbarung wird jedoch zuzulassen sein321. Betriebsverfassungsrechtliche Regelungen verlangen ebenfalls ihre allgemeine Geltung für die einzelnen Betriebe. Ihre Änderung durch Absprachen zwischen dem Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern oder einzelnen Arbeitnehmergruppen ließe Betriebsverfassungsrecht mit seinen den Betrieb als solchen erfassenden Bestimmungen der selbstherrlichen Disposition von Einzelnen zugänglich sein. Die (völlige oder teilweise) Ablösung durch eine Betriebsvereinbarung für einen konkreten einzelnen Betrieb würde die Betriebspartner die absoluten Herren der Betriebsverfassung sein lassen. Zwar läge kein privatautonomes Abkommen vor. Bei der allgemeinen Bedeutung des in Rede stehenden Rechtsgebietes für das Arbeits- und Wirtschaftsleben und dem bei seiner Art betont zu beachtenden Gedanken einer einheit321
Nikisch, Arbeitsrecht, Il , 424/425 .
6. Die Tarifregelungen als Mindestregelungen
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liehen tarifrechtliehen Ordnung wäre eine entsprechende Möglichkeit gemäß einer Öffnungsklausel im TV sogar bei nur begünstigenden Vorschriften aber nicht unbedenklich. Anders liegen die Dinge bei einem eine Öffnungsklausel enthaltenden Firmen-TV. Der Ordnungsgedanke dürfte allerdings im Falle eines aus mehreren Betrieben bestehenden Unternehmens und bei einem Konzern wohl im Verhältnis eines Unternehmens zu den anderen Unternehmen seine im vorliegenden Zusammenhang gewichtige Rolle spielen. In einem gewissen Ausmaß können m . E . selbst die Betriebspartner betriebsverfassungsrechtliche Regelungen setzen, ihr ureigener Bereich steht in Rede. Ein Vergleich mit dem der TV-Autonomie offen stehenden Raum für betriebsverfassungsrechtliche Regelungen liegt nahe. Die Leistungen der gemeinsamen Einrichtungen können nicht durch Absprachen zwischen dem einzelnen Arbeitgeber als Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern zugunsten der letzteren verbessert werden; die Parteien des Arbeitsvertrages haben insoweit keine Verfügungsbefugnis. Denkbar könnte es erscheinen, durch derartige Vereinbarungen etwaige Beitragsverpflichtungen der Arbeitnehmer unter dem Gesichtspunkt der sog. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers in besonderen Fälleil zu verdrängen322. Andererseits darf es auf keinen Fall zu einer Gefährdung der Existenz der Einrichtung kommen323. In jedem Falle einer für Arbeitnehmer gegenüber dem TV günstigeren Abmachung sowie stets dann, wenn von einer Öffnungsklausel Gebrauch gemacht wird, ist eines unbedingt zu beachten. Der Gleichheitssatz und der Gleichbehandlungsgrundsatz dürfen, gleich welche Materie die Vereinbarungen betreffen mögen, niemals verletzt werden, die Besserstellung muß sachlich mindestens vertretbar sein. Das Günstigkeilsprinzip beinhaltet, wie der Sache nach schon gesagt, nichts anderes als eine Kompetenzaussage; allgemeine Grundsätze des Arbeitsrechts bleiben unberührt. Der Gleichheitssatz bringt in einer positiv gefaßten Aussage das Willkürverbot zur Geltung, und dessen Beachtung ist mit konstitutiv für den Personalverbund des Unternehmens. Eine Meinung und Aussage, die Motivation für die Begünstigung und ihr Ergebnis seien ohne Belang für das Platzgreifen des tarifvertragliehen Grundsatzes, ist zumindest bedenklich. Die vorstehenden Gedanken zeigen, daß in bestimmten Fällen sozialethisch eine bestimmte positivrechtliche Regelung ebenso anzuerkennen ist wie eine 322 Streng ablehnend Nikisch, Arbeitsrecht, li, 425. Das ist anscheinend auch die allgemeine Ansicht; siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 225. 323 Ausdrücklich sei bemerkt, daß die AVE eines TV im Verhältnis zu zulässigen günstigeren Abmachungen, gleich welche Materie sie betreffen und gleich, worin sie ihren Rechtsgrund haben, keine besonderen Probleme mit sich bringt. Die Erklärungen und die Abmachungen liegen auf je verschiedenen Ebenen. Der TV besteht im Falle von für die Arbeitnehmer besseren Bedingungen als Grund-Regelung weiter und wird insoweit von dem staatlichen Akt erfaßt.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
ihr entgegengesetzte. Lehnt man, wie es im Schrifttum weitgehend geschieht, die Meinung des Verfassers ab, läßt sich der herrschenden Ansicht das sozialethische Fundament doch nicht absprechen. Das Günstigkeilsprinzip ist kein zwingendes ethisches Gebot, die Tarifverträge könnten als solche Höchstbedingungen normieren. Es erscheint schon deswegen nicht ausgeschlossen, jenen Rechtsgedanken lediglich eingeschränkt gelten zu lassen. Der Günstigkeitsgrundsatz ist von Hause aus und an sich sogar allein auf die Inhaltsnormen eines TV zugeschnitten324, und Tarifnormen, die zugleich Mindest- und Höchstregelungen wären, ließen noch nicht einmal Öffnungsklauseln "nach oben" zu. Der wahren naturrechtliehen Betrachtung ist immer bewußt gewesen, daß der positive Gesetzgeber erhebliche Freiräume hat. Unbedingte Anerkennung verlangen nur die unbedingten sozialethischen Gebote und Verbote; des öfteren ist für die Beurteilung eines Sachverhalts sogar hier zunächst einmal das Verhältniszweier ethischer Maximen zueinander zu ermitteln. Die praktische Konkordanz, als Methode im gegebenen Fall angebracht gleichfalls für die Sozialethik, sei als Beispiel angeführt. Sozialethisch ist jeweils wohl nicht weniges zu bejahen oder es ist doch zu vertreten, was einer gleichzeitig ebenfalls legitim geltenden rechtlichen Ordnung widersprechen würde. Das gilt sogar, wenn Zeit und Umstände bei den einzelnen Rechtsgemeinschaften jeweils identisch sind. Nicht nur für den Günstigkeitsgedanken, sondern ebenso für andere sozialethische Erwägungen zur TV-Autonomie dürfte das zu sagen sein. Die Meinung, das Recht sei als solches und in jeder Hinsicht eine voll dem Wandel ausgesetzte Erscheinung, ist in dieser Allgemeinheit zwar verfehlt. Ein zutreffendes Element ist in ihr aber enthalten. Eine nähere sozialethische Untersuchung des gesamten mit dem Günstigkeitsprinzip gegebenen Fragenkomplexes würde die Arbeit ausufern lassen. Es konnten nur allgemein Erwägungen angestellt werden. Sie betreffen die wesentlichen Fragen, jedenfalls aber Grundfragen. c) Schlußbemerkung
Wegen einer sich wohl abzeichnenden Entwicklung sei noch ein recht konkreter Gedanke gebracht. Die technologische und die von dorther bestimmte wirtschaftliche Situation dürfte individuell ausgestalteten Arbeitsverträgen einen größeren, vielleicht sogar einen mehr oder weniger weiten Raum eröffnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß eine beachtliche Anzahl von Arbeitnehmern mit einer hohen persönlichen Befähigung und Qualifikation zur Besetzung wichtiger Funktionsstellen in zahlreichen Unternehmen erforderlich sind. Wegen ihrer spezifischen Leistung könnten sie zu Recht entsprechende Arbeitsbedingungen für ihre Person, insbesondere ein auf sie zugeschnittenes Entgelt erwarten, wie andererseits die Unternehmer an der 324
Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 RZ 223.
7. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages
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Arbeitserbringung dieser Mitarbeiter betont interessiert sind. Beide Parteien des Einzelarbeitsverhältnisses sind somit in der Lage, in individueller Absprache zu angemessenen Ergebnissen zu kommen. Zu denken ist ferner - dabei im Falle der Leitenden Angestellten unter Beteiligung des Sprecherausschusses der Leitenden Angestellten, hier nicht aber des Betriebsrates - an Betriebsvereinbarungen, die abstrakt-generelle Maßstäbe für die in Rede stehenden Tätigkeiten vorsehen. Die gemeinsam zwischen Arbeitgeber/Unternehmer und Sprecherausschuß vereinbarten Richtlinien würden dies mit dem Begriff des Inhalts des Arbeitsverhältnisses abdecken. Auf solchen Vereinbarungen und den Betriebsvereinbarungen können ggf. die individuellen Absprachen aufbauen, ebenso wie sich Richtlinienhöchstsätze vorsehen ließen. Im Interesse des Personalverbundes Unternehmen muß, wie bei Einzelabmachungen im strengen Sinne des Wortes, auch im Blick auf sämtliche Mitarbeiter der Gleichbehandlungssatz mit seinem Gebot einer sachgemäßen Differenzierung beachtet werden. Ein absolut wirksamer Günstigkeitsgedanke kommt nicht zum Zuge. Der TV mit einer Geltung für sämtliche Mitarbeiter bleibt bei alledem unerläßlich. Er hat im Interesse des Unternehmens und aller seiner in ihm tätigen Arbeitnehmer eine allgemeine Grundlagenordnung bereitzustellen . Das Günstigkeilsprinzip ermöglicht sodann die in Rede stehenden Absprachen und Vereinbarungen. Es erweist sich als ein beachtliches Instrument für angemessene Einzelregelungen. 7. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages a) AUgemeines
Das Tarifvertragswesen und damit die TV-Autonomie als sein Fundament kennen nicht nur Normen. Nach § 1 Abs. 1 TVG regelt der TV auch die Rechte und Pflichten der TV-Parteien. Der Wortlaut der Bestimmung ist eindeutig. Die den TV abschließenden Kontrahenten begründen mit ihm und in ihm Rechte und Pflichten eben der TV-Parteien, also schuldrechtliche Beziehungen. Schuldner tarifvertraglicher Pflichten sind stets und allein die TVParteien; Gläubiger aus dem TV ist die gegenüberstehende TV-Partei325. Daß es sich um schuldrechtliche Verhältnisse in der üblichen Bedeutung des Wortes handelt, läßt ferner das vom Gesetz verwandte Begriffspaar "Rechte und Pflichten" erkennen; die Rechte sind gegenüber den Pflichten und die Pflichten gegenüber den Rechten in Beziehung gebracht. Nicht zuletzt ist die Unterscheidung zwischen diesem und den die Rechtsnormen erfassenden Inhalt des TV in § 1 Abs. 1 TVG bedeutsam. Die Unterscheidung zwischen Verpflichtung und Anspruch hier sowie der Norm dort ist im Interesse der Rechtsklar325
Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 315.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
heit und damit sozialethisch jedenfalls angebracht. Die Verpflichtung kann nicht wie eine Norm Dritte erfassen, und der schuldrechtliche Anspruch kann nicht Dritten zustehen326. b) Beispiele für schuldrechtliche Beziehungen der TV-Parteien Im Zusammenhang hiermit stehende Fragen
Schuldrechtliche Verpflichtungen und schuldrechtliche Berechtigungen, und zwar solche wechselseitiger Art, liegen etwa vor, wenn der TV die Verpflichtung der TV-Parteien ausspricht, vor dem Ende des bisherigen TV angemessen früh Verhandlungen über den Abschluß eines neuen TV aufzunehmen. Eine solche Klausel kann in einer betonten Weise der Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens zugute kommen; ein tarifloser Zustand bei Materien, die tunliehst tariflich zu regeln sind, soll vermieden werden. Die ausdrückliche Festlegung einer Verhandlungspflicht der TV-Parteien für den Fali, daß zum normativen Teil des TV zwischen ihnen Auslegungsdifferenzen entstehen, ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu nennen327. Die Schöpfer des TV sehen in dieser ihrer Eigenschaft und als seine Träger eine Verantwortung, als die Sachnahen für Klarheit zum Inhalt und zum Bestehen der Tarifnormen zu sorgen. Kommt es zu einer einvernehmlichen Beurteilung, ist sie durchweg als ein ergänzender TV anzusehen; die Auslegung ist mit den Unterschriften der Repräsentanten der Koalitionen oder durch den Austausch gleichlautender Urkunden schriftlich festzuhalten. Entsprechend liegen die Dinge, wenn allgemein oder für Einzelfälle aufgrundeiner tarifvertragliehen Abmachung ein Schiedsgericht über die Auslegungsstreitigkeiten entscheidet. Es substituiert die Tätigkeit der TV-Parteien einschließlich einer die Tragweite und den Inhalt der im Streit befangenen Vorschriften klarstellenden Vereinbarung. Ein solches Schiedsgericht mit dieser Wirkung seines Spruches ist eine legitime Möglichkeit der TV-Autonomie328. Sie ist mit § 101 Abs. 1 326 Diese Erwägungen sprechen m. E. zwingend dagegen, die Einteilung des TV in einen normativen und einen schuldrechtlichen Teil abzulehnen (so aber etwa Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 314); daß ein und dieselbe Tarifklausel ggf. sowohl normative wie schuldrechtliche Wirkung entfaltet und deswegen jedenfalls grundsätzlich einheitlich ausgelegt werden muß, ändert nichts daran, daß ihr rechtssystematisch ein zweifacher Gehalt innewohnt. Aus diesem TV notwendige folgende Verpflichtungen der TV-Parteien (siehe weiter unten) sind ebenfalls ausschließlich Verpflichtungen, wenn auch ihr Sinn und ihre Unerläßlichkeit mit der TV -Partei gegeben ist. Daß der TV ein einheitliches Ganzes ist- was sehr deutlich wird, sofern die schuldrechtlichen Verpflichtungen und Ansprüche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Rechtsnormen stehen - und daß deswegen die Auslegung sogar lediglich schuldrechtlicher Elemente diese Einheit des Tarifwerkes nicht aus dem Auge verlieren darf, läßt das Gebot der Rechtsklarheit unberührt. Es zeigt sich im übrigen, daß eine einwandfreie Rechtssystematik unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit einen sozialethischen Aspekt aufweist. 327 Zu der Frage, ob diese Verhandlungspflicht nicht bereits ihre Grundlage in der Normsetzung durch die TV-Parteien findet und somit ein immanenter schuldrechtlicher Bestandeil des TV ist, siehe unten.
7. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages
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ArbGG positiv-rechtlich anerkannt. Die TV-Parteien können für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen ihnen aus Tarifverträgen die Arbeitsgerichtsbarkeit durch die Vereinbarung ausschließen, daß die Entscheidung durch ein Schiedsgericht erfolgen soll329. Das Rechtsstaatsprinzip wird durch derartige Schiedsgerichte nicht tangiert. Es verlangt zwar an sich, daß die rechtsprechende Tätigkeit durch staatliche Gerichte auszuüben ist. Dahinter steht sozialethisch der Gedanke einer von der staatlichen Gemeinschaft getragenen Autorität der Rechtsprechung, ferner wohl die Auffassung, daß die Unabhängigkeit der Rechtspflege in besonderer Weise durch staatliche Vorkehrungen gesichert werden könnte. In dem hier in Rede stehenden Fall geht es letztlich aber um die Substituierung der Tätigkeit der TV-ParteienJJo. Wegen der allgemeinen Bedeutung der TV-Vorschriften und ihres Normencharakters läßt sich mit gutem Grund daneben ferner die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte vorsehen, eine Regelung, die im Ergebnis das ArbGG vorgenommen hat. Nach alledem ist es nur folgerichtig, daß der Spruch des Schiedsgerichtes zwingend nicht nur gegenüber den TV-Parteien, sondern uno actu ebenfalls gegenüber den Tarifunterworfenen wirkt. Das Schiedsgericht bleibt zuständig nach der AVE eines TV, und sein Spruch bindet ebenfalls diejenigen, die allein wegen des hoheitlichen Aktes tarifunterworfen sind. Dasselbe gilt für alle, auf die sonst die Vorschriften des TV zur Anwendung kommen. Dieselbe Tragweite hat die einvernehmliche Auslegung unmittelbar durch die TV-Parteien. In der ordnenden und befriedenden Tätigkeit der Sachnahen, die sich mit der näheren Bestimmung von Tragweite und Inhalt der Tarifnormen fortsetzt und die im gegebenen Falle stellvertretend für sie durch die von ihnen bestellte 328 Die TV -Parteien können allerdings auch vereinbaren, daß das "Schiedsgericht", das dann lediglich schiedsgutachterlich tätig wird, einen Auslegungsvorschlag unterbreitet. Die TV-Autonomie muß es den Sachnahen ermöglichen, sich für ihre ordnende Tätigkeit bestimmter Hilfsmittel bedienen zu können. Es soll ihre Entscheidung unter Berücksichtigung von Stellungnahmen Dritter fundiert werden. Daß das heutige ArbGG die Schiedsgutachtervorschriften des ArbGG 1926 nicht mehr kennt, steht dem nicht entgegen. Es ist etwas anderes, ob die Schiedsgutachten im Blick auf die Beurteilung einer Streitigkeit erfolgen, bei der es um ein Arbeitsverhältnis und in diesem Zusammenhang um die Auslegung einer TV-Norm geht, oder ob eine sozusagen für sich stehende Auslegung des TV durch die TV-Parteien vorgenommen werden soll. Sie auch im letzteren Falle ausschließen zu wollen, wäre ein Eingriff in die TV-Autonomie. 329 Da die Tätigkeit der TV-Parteien zwar eine solche von öffentlicher, aber nicht von öffentlich-rechtlicher Art ist, kann man den TV insofern als einen bürgerlich-rechtlichen Vertrag bezeichnen. Siehe BAG 4, 133 (136); Grunsky, ArbGG, 4. Auf!.,§ 2 RZ 53; vgl. ferner Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 9 ff., m.w.N. Daß die Streitigkeiten zwischen TV-Parteien über das Bestehen oder Nichtbestehen von Tarifverträgen nach § 101 Abs. 1 ArbGG gleichfalls einem tarifvertraglich vereinbarten Schiedsgericht zur Entscheidung vorgelegt werden können, läßt sich ebenso mit der TV-Autonomie begründen. Es geht noch um einen Bereich, der der abschließenden Beurteilung durch die Sachnahen zugewiesen werden kann, mag es im übrigen zweifelhaft sein, ob dies rechtlich und ethisch zwingend geboten ist. 330 Bei dem Streit über das Bestehen oder Nichtbestehen eines TV geht es darum, ob die Sachnahen im Rahmen ihrer Kompetenz überhaupt einen TV realisiert haben, ihr Tätigkeitsbereich steht also immer noch und vielleicht sogar erst recht in Rede.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Schiedsinstitution realisiert wird, findet das alles seine Begründung. Rechtlich sind die Schiedsgerichte, insbesondere wegen ihrer Bedeutung für die Tarifunterworfenen, als gemeinsame Einrichtungen aufzufassen, unabhängig davon, ob sie nur für einen Einzelfall gebildet werden oder als ständige Einrichtungen bestehen331. Die positive Rechtsordnung sieht mit§ 101 Abs. 2 ArbGG auch vor, daß durch einen TV die Angehörigen der in der Vorschrift genannten Berufsgruppen332 die Arbeitsgerichtsbarkeit durch ausdrückliche Vereinbarung "für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis, das sich nach einem TV bestimmt", für tarifgebundene Personen ausschließen können. Der Begriff der Rechtsstreitigkeiten "aus einem Arbeitsverhältnis" umfaßt mit Ausnahme der Streitigkeiten über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses alle sonstigen bürgerlich-rechtlichen Auseinandersetzungen, also nicht nur solche, die sich auf die Auslegung des die Tarifunterworfenheit begründenden TV beziehen333. Der Spruch des Schiedsgerichtes bindet die Parteien des Arbeitsverhältnisses; sie sind ihm und überhaupt der Zuständigkeit des Schiedsgerichtes aufgrund des die Schiedstätigkeit vorsehenden TV von vornherein zugeordnet. Hier ist allerdings die Rechtsstaatsmaxime mit ihrer Forderung nach der grundsätzlichen Alleinzuständigkeit der staatlichen Gerichte berührt. Soweit es lediglich um eine Anwendung des TV geht, die ohne weitere Auslegungsdifferenzen als streitige Frage in Rede stehen kann334, läßt sich ein Bezug zur TV-Autonomie herstellen. Es geht darum, ob der TV Platz greift oder nicht, also um die Tragweite der von den TV-Parteien geschaffenen Regelung. Der Bezug kann selbst dann bejaht werden, wenn nach§ 101 Abs. 2 Satz 3 ArbGG Parteien, deren Arbeitsverhältnis sich aus anderen Gründen nach dem TV regelt, etwa aufgrundeiner Absprache, seine Bestimmungen anzuwenden, den Ausschluß der Arbeitsgerichtsbarkeit vereinbaren. Es geht abermals allein darum, ob das Tarifwerk zum Zuge kommt oder nicht. Bedenklich ist es jedoch, die staatliche Gerichtsbarkeit für andere Fälle verdrängen zu dürfen335 • Es läßt sich wohl nicht mit einem Hin331 Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 304, m.w.N. Das Schiedsgericht als gemeinsame Einrichtung wird dort allerdings nur für den Fall bejaht, daß es als ständige Größe geschaffen ist. 332 Es handelt sich um Bühnenkünstler, Filmschaffende , Artisten sowie Kapitäne und Besatzungsmitglieder i. S. der§§ 2, 3 Seemannsgesetz. 333 Grunsky, ArbGG, § 101 RZ 8 i. Verb. m. § 2 RZ 87 ff., insbesondere RZ 89,90 dort. 334 Zu denken ist z. B. daran, daß der Tatbestand umstritten ist, bei entsprechender Klärung die TV-Vorschriften jedoch ohne weiteres und ohne besondere Subsumtionsschwierigkeiten zur Anwendung kommen. 335 Ein Verstoß gegen die Rechtsstaatsmaxime ist allerdings zu verneinen, wenn vor einer umfassenden Etablierung einer staatlichen Gerichtsbarkeit Rechtsstreitigkeiten, die wir als bürgerlichrechtliche zu kennzeichnen pflegen , durch von den konkret in Frage kommenden Beteiligten einem Schiedsspruch unterworfen wurden . Die Rechtspflege als solche blieb gewährleistet, sofern die Einrichtung der Schiedsgerichtsbarkeil
7. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages
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weis auf eine überkommene und mit der heutigen Fassung des ArbGG dazu größtenteils beendete Tradition halten. Die staatliche Gerichtsbarkeit ist, jedenfalls im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, eine Größe geworden, für deren Zurücktreten besondere Gründe sprechen müssen. Zu halten ist die Regelung m. E. unter dem Gesichtspunkt, daß die Streitigkeiten vielfach gleichzeitig Auslegungsfragen oder eine Auseinandersetzung über das Bestehen oder Nichtbestehen des TV zum Gegenstand haben werden und eine Aufspaltung in eine Zuständigkeit des Schiedsgerichtes hier und der Arbeitsgerichtsbarkeit dort zu Unklarheiten über die Kompetenzverteilung führen dürfte. Es zeigt sich der sozialethische Rang des Prinzips der Rechtssicherheit mit seinem Aspekt der Rechtsklarheit und ebenso die sozialethische Bedeutung einer praktikablen Gestaltung der Rechtsordnung. Mit der allgemeinen Bejahung der Schiedsgerichtsbarkeit in bestimmten geschichtlichen Situationen zeigt sich im übrigen und nicht zuletzt, daß sozialethische FundamentalPrinzipien in gewisser Hinsicht ebenfalls zeit- und umstandsbedingt sein können. Man muß zwischen absoluten, immerdar geltenden Maximen und solchen Postulaten unterscheiden, die erst bei dem Vorlegen näherer Bedingungen verpflichtend sind. Insoweit kann man zulässigerweise von einer geschichtlich bedingten und erst im Verlauf der Geschichte auftretenden, ggf. im weiteren Verlauf der Geschichte wieder verschwindenden sozialethischen Wahrheit sprechen. Die Schlichtungsklauseln bezwecken, über eine Schlichtungsstelle Hilfe zum Abschluß oder zur Erneuerung von Tarifverträgen zu geben, sei es, daß das Schlichtungsorgan lediglich einen Schlichtungsvorschlag macht oder aber, die Einigung der TV-Parteien ersetzend, "in ihrer Vertretung" den TV ins Dasein ruft. Anders als bei dem Schiedsgericht handelt es sich nicht um eine rechtsprechende Tätigkeit; vielmehr steht eine Unterstützung vor allem zur Setzung von Rechtsnormen in Rede336. In einer wechselseitig getroffenen Absprache sagen sich die Kontrahenten zu, zur Herbeiführung eines TV solange nicht zum Arbeitskampf zu schreiten, bevor nicht das Schlichtungsverfahren durchgeführt ist oder es, entsprechend der Schlichtungsabrede, bei einem verbindlichen Schlichtungsspruch überhaupt nicht zum Arbeitskampf kommen zu lassen. Die Abmachung führt zu einer die TV-Parteien bindenden schuldrechtlichen Verpflichtung, das Schlichtungsverfahren zu realisieren. Setzen sich eine oder beide Parteien über die Verpflichtung hinweg, erhebt sich allerdings die Frage, ob ein aufgrund eines Arbeitskampfes zustande gekommener TV rechtswirksam ist337. auf einem allgemeinen Konsens beruht oder ihre Tätigkeit herkömmlich war, und die Art des Verfahrens und nicht zuletzt die als die Streitentscheider auftretenden Personen die Unparteilichkeit des Spruches hinreichend sicherstellten. Hat sich allerdings die Bedeutung der staatlichen Autorität für die Rechtsprechung herauskristallisiert, ist die Rechtsstaatsmaxime mit dem Aspekt staatlicher Rechtspflege sozialethisch stärker konturiert. 336 Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 365. 15 G. Müller
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
Zu bemerken ist ein weiteres. Das schiedsgerichtliche Verfahren nach§ 101 Abs. 2 Satz 3 ArbGG bezieht sich zwar auf den TV, dessen Bestimmungen regeln die Arbeitsverhältnisse. Die Parteien des Arbeitsverhältnisses sind jedoch nicht von vornherein dem TV rechtlich unterworfen. Seine Vorschriften finden auf sie nichtkrafteiner unmittelbaren Tarifkompetenz der TV-Parteien Anwendung, sondern "aus anderen Gründen", aufgrund betrieblicher Übung, kraft einzelvertraglicher Abmachung udgl. Entsprechend beruht die Kompetenz des Schiedsgerichtes auf den Vereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien. Man wird sagen dürfen und sogar sagen müssen, daß sich mit der Anwendung der Tarifregelungen die allgemein ordnende Bedeutung des Tarifwerkes manifestiert. Im Falle der Schlichtung verpflichten sich dagegen die TV-Parteien auf das nur sie betreffende Schlichtungsverfahren. Gegenstand dieser Verpflichtung ist allerdings nicht der TV selbst, sondern eine Art des Vorgehens, ihn zu erreichen. Es geht um die Befugnis der Sachnahen, Regelungen für die TV-Prozedur vorsehen zu können338. Wer zur Setzung von Rechtsregeln befugt ist, muß auch Regelungen zur Art und Weise ihres Zustandekoromens vorsehen können. Eine Rechtsverpflichtung der TV-Parteien, Vereinbarungen über eine Behebung von Auslegungsdivergenzen zuzüglich zu der Behebung einer Auseinandersetzung darüber einzugehen, ob ein TV rechtswirksam existiert, besteht nicht339. Das Gesetz sagt nur, daß der TV die Rechte und Pflichten der TV-Parteien regelt. Eine ethische Verpflichtung bei Auslegungsdifferenzen, seinen Normeninhalt zu klären und das Ergebnis der Auslegung, nicht zuletzt im Falle einer AVE, in die Form einer verbindlichen Norm zu bringen, ist aber abstrakt nicht auszumachen. Auf den ersten Blick könnte man zwar meinen, der Ordnungs- und Befriedungsgedanke verlange das von den Sachnahen. Es ist jedoch zu fragen , ob die TV-Parteien immerhin für den einen oder anderen Fall mit einem solchen Verlangen nicht derart belastet werden, daß sie im Ergebnis dazu neigen, in eine gewisse Distanz zur Tarifsetzung überhaupt zu gehen; sie müssen insoweit noch zusätzlich tätig werden. Mit gerichtliche Verfahren zeitigenden Auslegungsstreitigkeiten ist allgemein immer wieder zu rechnen. Ebenfalls kommt es immer wieder vor, daß die Geltung oder Nichtgeltung einer Rechtsnorm gerichtlich zu klären ist. Ob die in Rede stehenden tarifvertragliehen Verpflichtungen statuiert werden sollen oder nicht, muß der Entscheidung der TV-Parteien überlassen bleiben. Es spielt schließlich eine Rolle der Gedanke, daß die Normenauslegung sowie die Näheres siehe unten. Wenn das BAG (BAG 23, 292 [307]) tarifvertragliche Regelungen zur Durchführung eines Arbeitskampfes als Ausfluß der TV-Autonomie charakterisiert, bringt es dies für einen speziellen Sachverhalt zum Ausdruck. 339 Die vom BAG a.a.O. postulierte Verpflichtung, tarifrechtliche Regelungen zur Durchführung von Arbeitskämpfen vorzusehen, betrifft einen besonderen Sachverhalt. Arbeitskämpfe sind immer auch ein Übel, das die Kampfparteien selbst in seinem Ausmaß begrenzen sollten. 337
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Entscheidung zum Bestehen eines Gesetzes grundsätzlich Sache der Gerichte ist. Wenn im Laufe eines Prozesses die TV-Parteien die umstrittene Auslegungsfrage entscheiden, könnte man daran denken, es werde die Zuständigkeit der rechtsprechenden Autorität unterlaufen. Es läge ein Eingriff in die umfassende Ordnungsgewalt des Staates vor. Die Prozeßparteien würden dem Richter entzogen und eine Willkürentscheidung sei nicht auszuschließen340. M. E. ist mit Willkürergebnissen von Hause aus jedoch nicht zu rechnen. Die eine und die andere TV-Partei mögen zwar ein vielleicht sogar erhebliches Interesse an dem Ausgang des Ausleg~ngs- und Geltungsverfahrens haben und unter diesem Gesichtspunkt die Auswahl "ihrer" Beisitzer vornehmen. Die würde jedoch durch das inhaltlich gegenteilige Interesse der anderen Beisitzer regelmäßig im Austausch von Argument und Gegenargument korrigiert. Zudem hat der neutrale Vorsitzende besonderes Gewicht. Die Aufgabe der Auslegung der Rechtsnorm könnte zudem ohne weiteres stärker zu Buche schlagen als der Gedanke, parteiisch Interessen zu verfolgen. Die Funktion bestimmt erfahrungsgemäß jedenfalls weitgehend den Mann. Den TV-Parteien steht es bei diesen Erwägungen sogar frei, auch ohne jede von vornherein vorgesehene Verpflichtung während eines gerichtlichen Verfahrens die Auslegungsdifferenzen und die umstrittene Geltung der TV-Normen endgültig zu klären34I. c) Die Einwirkungspflicht
Mit dem Abschluß des TV entsteht als ein ihm immanentes und sofort eintretendes Ergebnis die Verpflichtung der TV-Parteien, im gegebenen Falle ihren Mitgliedern gegenüber auf die Beachtung der TV-Normen hinzuwirken. Sie haben ein normatives Ordnungswerk erstellt; eine Gleichgültigkeit ihm gegenüber und erst recht eine Zurückhaltung bei Verstößen ihrer Mitglieder gegen die Tarifvorschriften ist mit ihrer durch den TV verwirklichten Ord340 Des näheren steht ein Entzug des "gesetzlichen Richters" in Rede. Der Richter überhaupt ist für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten und für die Entscheidung im Prozeßverfahren zuständig. Seine allgemeine Zuständigkeit (Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Strafrecht usw.) ist durch die Rechtsordnung vorgegeben, und die Zuständigkeit des konkreten Richters bestimmt bis auf den Fall des Ein-Mann-Gerichtes der alljährlich aufzustellende Geschäftsverteilungsplan. Mit ihm sollen Manipulationen unterbunden werden; im Interesse der Objektivität der Rechtsprechung ist ein Aussuchen des Richters nicht statthaft. 341 Erst die rechtskräftige Entscheidung, gleich in welcher Instanz sie ergangen ist, bindet umfassend, so daß eine Tätigkeit der TV-Partner von diesem Zeitpunkt an nicht mehr möglich ist;§ 9 TVG. Ein vorheriger Vergleich der TV-Parteien könnte den Charakter eines TV haben (Wiedemann/Stumpf, TVG, § 9 RZ 10), bei einer Schriftform desselben ist das m. E. sogar mindestens in aller Regel anzunehmen. Zur rechtlichen und ethischen Zulässigkeit eines Arbeitskampfes zur Erzielung einer Vereinbarung der oben in Rede stehenden Art siehe unten.
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
nungsaufgabe nicht vereinbar. Die Einwirkungspflicht ist ein notwendiges Folgeergebnis der Befugnis zur tariflichen Rechtssetzung. Es gehört zu den Aufgaben der Tarifkontrahenten, dafür zu sorgen, daß die Ordnung, die sie geschaffen haben, beachtet wird. Die Ordnungskompetenz und die Ordnungsaufgabe finden mit dem Vorliegen der Ordnung rein als solche nicht ihr Ende, sie setzen sich fort in dem Beitrag zur konkreten Beachtung "ihrer Ordnung". Anderenfalls bliebe das Werk der TV-Parteien irgendwie unvollständig, und ethisch ist ihre Distanzierung von ihm nicht erträglich. Da eine formelle Publikation nicht vorgesehen ist, verlangt die Einwirkungspflicht einmal, daß die Verbände jedenfalls ihre Mitglieder über die Existenz des TV, seinen Inhalt und seinen Geltungsbereich unterrichten; eine entsprechende Verpflichtung trifft sie im Interesse der Rechtsklarheit, vom Falle des von vornherein zu einem festen Zeitpunkt endenden TV abgesehen, ebenso hinsichtlich seiner Beendigung. Die Einwirkungspflicht verlangt weiter, bei Nichtbeachtung der Rechtssetzung und bei Verstößen gegen sie die Mitglieder mit allen zur Verfügung stehenden rechtmäßigen und nach Lage der Dinge jeweils angebrachten Mitteln zur Befolgung der Vorschriften anzuhalten. In Betracht kommen Hinweise, Warnungen, Geldbußen, Entziehung von Unterstützungen beim Arbeitskampf und äußerstenfalls die Ausschließung aus dem Verband342. Die unmittelbare Beachtung der TV-Normen kann allerdings immer nur eine Sache der Verbandsangehörigen sein. Andererseits besteht keine Einwirkungspflicht der TV-Parteien gegenüber denjenigen, die nur durch eine AVE rechtlich TV-Unterworfene sind oder auf die der TV kraft betrieblicher Übung udgl. einschließlich einzelvertraglicher Abmachung Anwendung findet. Die TV-Parteien haben keine Rechtsmöglichkeit, NichtVerbandsangehörigen gegenüber aufzutreten. Anders würden die Dinge liegen, wenn ein TV (ohne AVE) sofort mit seinem lokrafttreten von rechts wegen allgemeine Geltung beanspruchen könnte. Die in der TV-Autonomie gründende Tendenz eines TV, innerhalb seines Geltungsbereiches schlechthin zu wirken, verleiht den frei gebildeten Interessenvereinigungen keine Rechtsbefugnisse gegenüber dritten Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es liegt eine Ordnungswirkung vor, aber es besteht keine institutionell gesicherte Ordnung. Im Falle der AVE erfolgt eine solche Absicherung erst durch die staatliche Autorität. d) Die TariferfüllungspDicht
Mit dem TV besteht ohne weiteres und sofort die Verpflichtung der TVParteien, ihn zu beachten. Sie sind an die von ihnen gesetzte Ordnung gebunden. Deshalb dürfen sie ihre Mitglieder nicht auffordern, etwa untertarifliche Löhne zu zahlen, die Gewährung tariflicher Zulagen und Zuschläge zu verwei342
Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 354.
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gern udgl. 343. Auch das bewußt unzutreffende Bestreiten der Geltung des TV oder einzelner Normen desselben ist ein Verstoß gegen die Tariferfüllungspflicht. Ebenso wie bei der Pflicht, auf die Beachtung des TV durch die Verbandsangehörigen hinzuwirken, geht es darum, die von den Verbänden als den Sachnahen gesetzte Ordnung mit ihrer Bedeutung für das Arbeits- und Wirtschaftsleben zu gewährleisten. Mit der Tariferfüllungspflicht hängt die Friedenspflicht der TV-Parteien zusammen. Sie besagt, daß es ihnen verboten ist, während der Laufzeit des Tarifwerkes Arbeitskämpfe zur Regelung von Materien zu führen, die durch den TV bereits geregelt sind344. Eine Ordnung ist vorhanden; sie ist von den Sachnahen geschaffen worden, und für die Dauer ihrer Geltung sind sie an sie gebunden. Sonst hätten die Ordnungsetzenden eine betonte Möglichkeit, "ihre Ordnung" in Frage zu stellen und anzugreifen. Das widerstreitet einem mit einer Ordnung selbst gegebenen Postulat. Die Friedenspflicht kann daher als eine besondere Ausprägung der Tariferfüllungspflicht aufgefaßt werden345. e) Eintreten der Einwirkungs- und Erfüllungspflicht
Die Tariferfüllungspflicht und die Einwirkungspflicht dürfen nicht überspannt werden. Sie kommen erst zum Zuge, "wenn eine tarifmäßige Arbeitsnorm in einem Betriebe im wesentlichen nicht verwirklicht oder so häufig oder unter solchen Umständen verletzt wird, daß nicht nur der Einzelarbeitsvertrag, sondern die typische Ordnung als solche betroffen erscheint"346. Ein Einzelverstoß durch die Tarifunterworfenen in einzelnen Fällen wird im allgemeinen kein Handeln der TV-Parteien begründen können. Es ist Sache der Arbeitsvertragsparteien und der Partner der Betriebsverfassung, tätig zu werden, was für letztere insbesondere bei einer Verletzung betrieblicher Normen gilt. Im Falle der gemeinsamen Einrichtungen ist es in der Regel primär wohl eine Angelegenheit der Leistungsberechtigten, für ihr Recht zu sorgen. Werden Beiträge an die Einrichtung nicht abgeführt, ist sie es, die den Eingang durchsetzen muß; sie ist, gleich ob sie eine juristische Person ist oder nicht, eine eigenständige Größe. Es geht zunächst um Angelegenheiten dieser Personen und Einrichtungen. Ihr Bewegungsraum würde tangiert, wenn die VerWiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 353. Man spricht insoweit von einer relativen Friedenspflicht. Die absolute Friedenspflicht, die eine eigene Vereinbarung voraussetzt, besagt, daß die TV-Parteien sich für die Dauer ihres Vorliegens eines jeden Arbeitskampfes enthalten, auch und insoweit tarifliche Regelungen nicht existieren, der Abschluß eines weiteren TV also möglich ist und der Arbeitskampf als Mittel zur Erzielung des Abschlusses ggf. an sich statthaft wäre. 345 Vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 353. 346 RAG ARS 4, 53 (56), wiedergegeben nach Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 355; dort auch weitere einschlägige Nachweise. 343
344
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Kap. V: Die Tragweite der TV-Autonomie
bände ohne weiteres tätig werden. Den TV-Parteien steht deswegen auch keine Befugnis zu, die aus dem TV fließenden Rechte ihrer Mitglieder gegenüber der anderen Partei des Arbeitsverhältnisses geltend zu machen, und sie besitzen insoweit keine Prozeßstandschaft347. Soweit andere Rechtssysteme wie jedenfalls die französische Arbeitsrechtsordnung eine Tariferfüllungsklage der TV-Parteien kennen34B, ist das sozialethisch nicht ganz bedenkenfrei. Der Betreffende wird in einer Angelegenheit, die er von Hause aus selbst wahrzunehmen hat, der Sorge eines Dritten unterstellt, seine Persönlichkeit ist, wenn vielleicht auch nicht besonders, tangiert. Anders liegen die Dinge dann, wenn typisch eine wirtschaftlich und sozial drückende Situation vorliegt, bei der mit einer Verfolgung seiner Rechte durch den Berechtigten regelmäßig nicht zu rechnen ist349. Bei einem Verstoß B. gegen die Tarifregelungen auf breiter Front, bei einer Häufung der Verletzungen, gleich ob die Mißachtung der Tarifregelungen bewußt oderunbewußt erfolgt, sowie bei einer planmäßigen Durchbrechung derselben durch gemeinschaftlich wirkende Mitglieder einer TV-Partei ist das Einschreiten der Tarifkontrahenten gebotenJso. Ihr Ordnungswerk wird unmittelbar und zugleich erheblich angegriffen. Dann verlangt ihre Ordnungsaufgabe ihr Tätigwerden und verpflichtet sie hierzu.
z.
f) Schrotform der schuldrechtlichen Vereinbarungen?
§ 1 Abs. 2 TVG statuiert in einer apodiktischen Fassung "Tarifverträge bedürfen der Schriftform". Da der TV außer der riiit ihm erfolgenden Normsetzung die Rechte und Pflichten der TV-Parteien regelt, wäre nach dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes der schuldrechtliche Teil eines Tarifwerkes bei der Gefahr einer sonst eintretenden Unverbindlichkeit des gesamten TV schriftlich zu fassen. Das läßt sich in diesem Ausmaß nicht halten.
Die Einwirkungs- und die Tariferfüllungspflicht obliegen den TV-Parteien ipso jure mit den von ihnen gesetzten Normen. Ob diese Pflichten akut werden und in welcher Weise sie im gegebenen Falle zu erfüllen sind, läßt sich von vornherein nicht sagen. Wenn man sie wirklich näher konkretisieren wollte, müßten wahrscheinlich entweder Lücken oder überzogene und unpraktikable Regelungen in Kauf genommen werden. Beides verträgt sich mit dem sozial347 Wiedemann!Stumpf, TVG, § 1 RZ 356. Einschlägige Rechtsbeziehungen der Koalitionen gegenüber nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern, auf die der TV gleichwohl Anwendung findet, liegen von vornherein nicht vor. 348 Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 356. 349 So beruht die Klagebefugnis der Länder nach § 25 Heimarbeitsgesetz auf dem Gedanken, die nach diesem Gesetz Berechtigten wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit besonders zu schützen. 350 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 355.
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ethischen Gehalt des Rechtsgedankens nicht; die fraglichen Verpflichtungen treten nun einmal mit dem Abschluß des TV selbst ein. Die Schriftform greift daher nicht Platz. Anders ist es mit den Schieds- und Schlichtungsklauseln. Sie sind kein immanenter Bestandteil eines TV, erfordern vielmehr eine besondere zusätzliche Absprache. Um der Rechtsklarheit willen ist aus diesem Grunde die Schriftform sozialethisch jedenfalls angebracht, und bei der Fassung des § 1 TVG wird man sie rechtlich als geboten ansehen müssen. Die Schiedsahkommen haben darüber hinaus erhebliche Bedeutung für die Tarifunterworfenen. Das Postulat der Rechtsklarheit führt somit über eine sozialethische Angebrachtheit hinaus zur sozialethischen Verpflichtung. Die Schlichtungsklauseln haben als Instrumente zur Zurückdrängung und im gegebenen Falle zur Ausschaltung eines Arbeitskampfes Gewicht für die Allgemeinheit. Ein sozialethisches Erfordernis, sie schriftlich vorzusehen, ist letztlich ebenso am Platze, wie das entsprechende rechtliche Gebot gelten dürfte. Ob man in diesen Fällen im strengen Sinne des Wortes von normersetzenden schuldrechtlichen Abreden sprechen kann351, erscheint zwar fraglich. Daß die einvernehmliche Auslegung der TV-Parteien oder die Entscheidung eines Schiedsgerichtes zum streitigen Inhalt eines TV im Ergebnis durchweg zu einem dann schriftlich zu fixierenden TV führen, betrifft einen anderen Sachverhalt. Die Schiedsverträge sind jedoch um ihrer selbst willen rechtsklar festzuhalten; sie müssen daher sogar als lediglich für sich stehende Abmachungen schriftlich vereinbart werden. Wenn die Tarifnormen um der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit willen dieser Form bedürfen, kommt bei der Tragweite der jetzt in Rede stehenden Verpflichtungen der TV-Parteien dieser Gedanke entsprechend zum Zuge. Man kann von einer normähnlichen Wirkung sprechen.
351
So möglicherweise Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 RZ 100.
Kapitel VI
Von der TV-Autonomie verlangte Strukturforderungen Notwendige Kennzeichen tariffähiger Koalitionen 1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen a) Das aUgemeine Prinzip
Die TV-Autonomie verlangt, daß die Koalitionen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber jeweils keine Angehörigen der anderen Seite zu Mitgliedern haben dürfen (Gegnerreinheit) sowie von der anderen Seite unabhängig sein müssen (Gegnerfreiheit). Das ist allgemein anerkannt352. Die antagonistische Begegnung voneinander verschiedener und ggf. sich konträr gegenüberstehender Interessen verlangt dies. Es handelt sielT um eine Ausformung des ideengeschichtlich liberalen Gedankens, Harmonie durch Konfrontation und auf diese Weise den Ausgleich zu gewinnen. Die Sachgrundlage liegt in der Tatsächlichkeit der, unbeschadet des Unternehmens als Personalverbund, Verschiedenartigkeit der Interessen mit ihrer typmäßigen Gegenläufigkeit, die zum Nutzen aller Beteiligten und Betroffenen, der Gesellschaft und der Gesamtgemeinschaft in einem Sachkompromiß aufzuheben sind. Die Gegnerreinheit und die Gegnerfreiheit sind von der Verfassung erfordert. Art. 9 Abs. 3 GG hat die Koalitionsbildung derer, die auf den jeweiligen Seiten des Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit stehen, in dieser ihrer jeweiligen Stellung zum Sinn und Zweck. Der Antagonismus mitgliedschaftlieh getrennter Verbände bringt die Interessenlage eindeutig zum Ausdruck und sichert von dorther die Sachgemäßheit des Ausgleichs. Die Ordnungsaufgabe, die der TV im Interesse der Beteiligten und Betroffenen sowie der Allgemeinheit zu erfüllen hat, verlangt die Organisation der ihn schaffenden und tragenden Verbände im Sinne ihrer Unabhängigkeit voneinander. Das BVerfG erkennt die Gegnerunabhängigkeit - und damit einschlußweise die Gegnerfreiheit ausdrücklich als Wesenselement der Koalitionen an353. Die Prinzipien der Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit sind nicht starr und eng anzuwenden. Es muß lediglich sichergestellt sein, daß die Verbände nicht 352 Siehe u. a. AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 50; Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Nr. 725. 353 BVerfG 4, 96 (107); 18 (28, hier wird ausdrücklich auch die Gegnerfreiheit genannt); 50, 290 (373) .
1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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unter den Einfluß der Gegenseite geraten354 , oder auch nur eine reale Möglichkeit hierzu besteht (was beides aber auch unter allen Umständen zu vermeiden ist). So können etwa Angehörige eines Arbeitnehmerverbandes, die Arbeitgeber geworden sind, der Vereinigung als außerordentliche Mitglieder ohne aktives und passives Wahlrecht und ohne Mitspracherecht angehören355. Abzulehnen ist allerdings die Meinung, daß aus den Gewerkschaften kommende Arbeitsdirektoren ohne weiteres Mitglieder derselben bleiben könnten356. Dies wäre nur unter den eben genannten Voraussetzungen möglich, wenn diese Personen also "Ehrenmitglieder" wären. Alles in allem ist die Gesamtfrage heute jedoch problemlos; die Prinzipien der Gegnerfreiheit und Gegnerreinheit sind von ihrem Sinn her eindeutig357. b) Umfassende Betrachtung der Rechtslage
Einige besondere Fragen zur Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit sind im Schrifttum und teilweise schon von der Rechtsprechung behandelt worden. aa) Die Leitenden Angestellten
Einen Problemfall stellen diejenigen Vereinigungen dar, die neben sonstigen außertariflichen auch Leitende Angestellte organisieren. Dieser Umstand allein soll nach dem BAG nicht ausreichen, um die Organisation als nicht gegnerfrei anzusehen. Als tariffähige Organisation könne eine solche Gruppierung allerdings dann nicht mehr gewertet werden, wenn die zu ihr gehörenden Leitenden Angestellten neben ihrer Unternehmer- oder Arbeitgeberfunktion im Unternehmen Aufgaben in Unternehmer- und Arbeitgeberorganisationen wahrnehmen, die auf die arbeitsrechtliche und wirtschaftliche Situation der Wiedemann/Stumpf, TVG, § 2 RZ 142. Siehe Wiedemann/Stumpf, TVG, § 2 RZ 142, m. N. aus der Rechtsprechung bereits des RAG und des Reichsgerichts. 356 So möglicherweise AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 50. 357 § 11 Abs. 1 Satz 2 ArbGG spielt bei der Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit im Raume der TV-Autonomie keine Rolle. Die selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung sind keine Interessenverbände; sie sind nicht auf eine "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" ausgerichtet. Das muß gerade das spezifische Merkmal einer Koalition sein. Jene Vereinigungen haben schlechthin keinen Bezug zum Koalitionswesen. Die Rechtsvertretung vor den Arbeitsgerichten ist zwar ebenfalls eine Erscheinungsform der Interessenverfolgung. Der Gesetzgeber durfte die Vertreter der hier in Rede stehenden Organisationen vor den Gerichten erster Instanz im Blick auf einen allgemeinen Arbeitnehmerschutzgedanken postulationsfähig sein lassen. Es muß sich um "Vereinigungen von Arbeitnehmern" handeln, die Prinzipien der Gegnerfreiheit und der Gegnerreinheit werden wegen des Arbeitnehmerschutzgedankens ihnen gegenüber insofern allerdings Platz greifen müssen; siehe Grunsky, ArbGG, 5. Aufl., § 11 Anm. 9. 354
355
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV -Autonomie
vom Verband erfaßten außertariflichen und Leitenden Angestellten einzuwirken vermögen3ss. Diese Rechtsprechung erscheint bedenklich359. Die Tätigkeit der Leitenden Angestellten im Unternehmen muß zwar nicht unmittelbar zur Verneinung der Gegnerunabhängigkeit führen. Bei den ihre Stellung bestimmenden Unternehmerischen Aufgaben in den einzelnen Unternehmen kann aber ohne weiteres eine unternehmerisch/arbeitgebermäßige Sicht in die Willensbildung des Verbandes einfließen. Die Aufgabe der Leitenden Angestellten im Unternehmen vermag die Interessensicht des Verbandes mitzubestimmen. Möglichkeiten, dies bei der Zugehörigkeit zum Verband auszuschließen, bestehen rechtlich nicht; ein Ausschluß der betreffenden Angestellten von jeder Abstimmung und von jeder Wahl in der Vereinigung läßt ihre Mitgliedschaft dort gegenstandslos sein. Die Rechtsordnung sieht die Leitenden Angestellten zwar als Arbeitnehmer an. § 5 Abs. 3 BetrVG qualifiziert sie derart, und das MitbestG kennt sie als eine, allerdings eigenständige Arbeitnehmergruppe. Diese Sicht ist soziologisch zutreffend. Wegen ihrer Aufgabenstellung im Unternehmen kann und muß das jedoch für die Leitenden Angestellten zu je verschiedenen rechtlichen Folgerungen führen . Als soziologische Repräsentanten einer Gruppe der Arbeitnehmerschaft können sie Unternehmerische Aufgaben auf der "Arbeitnehmerbank" im Aufsichtsrat eines Unternehmens wahrnehmen. Im Bereich der Betriebsverfassung mit ihrem sie neben der Maxime der vertrauensvollen Zusammenarbeit mitkonstituierenden Hintergrund der Interessenspannung lassen sie sich aber nicht zur Belegschaft zählen. Ihre soziologische Situation als Arbeitnehmer verlangt mit den Sprecherausschüssen die Bildung besonderer Vertretungsorgane gegenüber dem Arbeitgeber360. Die Bildung einer "gemischten Vereinigung" erscheint bei der Gesamtbetrachtung ihrer Situation jedenfalls nicht zulässig. Denkbar ist m. E. eine sowohl außertarifliche wie Leitende Angestellte umfassende Organisation, wenn hinsichtlich der näheren Aufgaben und ihrer Durchführung streng getrennte Abteilungen mit je eigenen Leitungen bestehen und ein Gesamtvorstand lediglich ganz allgemein gehaltene Richtlinien zu geben hat, die die konkrete Interessenverfolgung durch die beiden Abteilungen selbst nicht berühren. Selbst dann liegen die Dinge immer noch etwas schwierig. Werden unter dem Dach eines einzigen Verbandes in jeweils verschiedenen Unterstrukturen zwei Arbeitnehmergruppen zusammengeschlossen, wobei die Tätigkeit der Angehörigen der einen Gruppe durch die Erfüllung unternehmenscher Aufgaben gekennzeichnet ist, erinnert eine solche Vereinigung an den Pommersehen Landbund361. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß sich jetzt in jeder Klasse der Organisation soziologisch 358 359 360 361
BAG 29, 72 (85/86). So auch AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 50. BAG 27,33 ff.; a.a.O ., 46 ff. Siehe unten.
1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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nur Arbeitnehmer finden. Die strikte funktionelle Trennung in der Willensbildung der einzelnen Untergruppen zur allgemeinen und näheren Interessenwahrnehmung selbst muß unter allen Umständen satzungsrechtlich einwandfrei abgesichert sein. Vom Gesamtverband und vom Gesamtvorstand können etwa allgemeine Organisationsfragen udgl. behandelt und entschieden werden, soweit sie rein formalen Charakter haben. Bei entsprechender Konstruktion könnten Leitende Angestellte ohne Tangierung der Gegnerfreiheit ebenfalls Arbeitnehmervereinigungen allgemeiner Art angehören. Mit diesen Ausführungen ist einschlußweise bereits gesagt, daß Verbände, die ausschließlich Leitende Angestellte erfassen, als Arbeitnehmerkoalitionen zu Recht bestehen362. Jetzt schlägt allein die soziologische Stellung als Arbeitnehmer durch. Um der Arbeitnehmerinteressen der fraglichen Angestellten willen wird ein solcher Verband gegründet, sofern er etwas anderes als ein berufspolitischer Zusammenschluß sein soll. Allerdings wird durchweg eine gewisse Selbstspaltung der Mitglieder der Vereinigung vorliegen. Die Angehörigen der Organisation und die ihres möglichen Mitgliederkreises haben nun einmal beruflich Unternehmerische Aufgaben zu erfüllen. Man könnte sogar die Frage stellen, ob sie als Mitglieder eines der Arbeitgeberseite gegenüberstehenden Interessenverbandes ihre berufliche Tätigkeit wegen der aufgrundihrer Mitgliedschaft in der Vereinigung denkbaren "arbeitnehmermäßigen" Einflüsse legitim noch auszuüben vermögen. Eine solche Sicht verkennt jedoch, daß auch Leitende Angestellte gegenüber ihren Arbeitgebern Arbeitnehmerinteressen, und zwar sogar solche spezifischer Art, haben, die ihrerseits zur Geltung kommen können und ggf. zur Geltung kommen müssen. Das BAG hat dies anerkannt. "Auch die Leitenden Angestellten sind Arbeitnehmer und haben ihre Arbeitnehmerinteressen, die insbesondere in Großunternehmen, aber auch in anderen Unternehmen der Einzelne nicht immer ausreichend allein wahrnehmen kann."363 Es wäre inhuman und ein Verstoß gegen die Menschenwürde, ferner gegen das Sozialstaatsprinzip, die legitime lnteressensituation vom Recht her negieren oder sogar unterdrücken zu wollen. Mag die Aufgabenstellung auch nicht zu einer Konfliktsituation vergleichbar derjenigen bei den Leitenden Angestellten führen, so haben die sonstigen Arbeitnehmer in einem Unternehmen ihre Interessen gegenüber den Unternehmensleitungen, und sie sind von vornherein interessenbefugt, ohne daß ihre Zugehörigkeit zu dem Personalverbund Unternehmen mit seinem gesellschaftsrechtlichen Charakter hieran etwas ändertJ64. In einem nur als LeitenSiehe auch AK-GG-Kittner, Art. 9 Abs. 3 RZ 37, 50. BAG 27, 33 (44). 364 Diese Überlegungen zeigen mit besonderer Deutlichkeit, daß die Leitenden Angestellten von der Sache her ein eigenes betriebsverfassungsrechtliches Repräsentationsorgan haben müssen . Es geht um ihre spezifischen Interessen. Ferner kommen die Gedanken entsprechend zum Zug, die im Prinzip eine einheitliche Koalition von außertariflichen und Leitenden Angestellten - und ebenso eine allgemeine Arbeitnehmeror362 363
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
den Angestellten bestehenden Verband- oder in einem organisatorisch streng getrennten Unterverband eines Dachverbandes- geht es um ihre ureigenen Arbeitnehmerbelange.
bb) Die Chef-Manager Ein Chef-Manager kann allerdings kein Mitglied in einer Koalition Leitender Angestellter sein; er vereinigt in sich untrennbar die herausgehobenste Unternehmerfunktion mit seinem Eigeninteresse. Seine Stellung kann er halten und seine Interessen verfolgen, wenn er b~stmögliche Unternehmerische Leistungen erbringt. Zu fragen ist nur, ob ein Verband, bestehend allein aus Chef-Managern, eine Koalition i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG wäre. M. E. ist das trotz des Wortlauts der Verfassungsvorschrift zu verneinen, mindestens aber muß es bedenklich erscheinen. Die betreffenden Personen üben ihre Tätigkeit aufgrundeines Anstellungsvertrages aus, sind aber funktionell Nur-Unternehmer. Letzteres dürfte soziologisch und jedenfalls weitgehend psychologisch durchschlagen.
cc) Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Die Unternehmerische Tätigkeit und Stellung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat steht ihrer Zugehörigkeit und einer Betätigung in einer Arbeitnehmervereinigung nicht entgegen. Es wurde schon betont, daß es hier um eine soziologische Repräsentanz der Arbeitnehmerschaft geht. Als Personen, die dieser Schicht zuzuzählen sind, können sie deren Sichten in das Unternehmensorgan im Interesse einer Gesamtbeurteilung besonders gut einbringen; sie müssen nur den Willen zur streng objektiven Darlegung haben und das Unternehmen als Gesamtheit sehen. Ähnlich wie bei den Leitenden Angestellten, die Mitglieder eines Arbeitnehmerverbandes sind, wird ebenso bei ihnen eine gewisse psychologische Selbstspaltung vorliegen können. Daß sie überwindbar ist, zeigt das Beispiel der ehrenamtlichen Richter von der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite in der ArbeitsgerichtsbarkeiL Nach den jahrzehntelangen Erfahrungen des Verfassers als Berufsrichter in diesem Zweig der Rechtspflege nehmen diese Persönlichkeiten ihr richterliches Amt durchweg streng objektiv wahr.- In "gemischten Arbeitnehmervereinigungen" und in "reinen" Verbänden jener Arbeitnehmer geht es, sozusagen spiegelverkehrt, bei den Leitenden Angestellten ausschließlich um ihre Arbeitnehmerstellung, mag sie ganisation - rechtlich unmöglich sein lassen; die Berufsaufgabe der Leitenden Angestellten steht einem betriebsverfassungsrechtlichen Einheitsorgan im Wege. Der Betriebsrat als eine übergreifende Dachorganisation der Leitenden Angestellten hier und der der anderen Arbeitnehmer dort dürfte bei der sachgebotenen gesonderten Repräsentation der Leitenden Angestellten noch nicht einmal formale Organisationsaufgaben in Anspruch nehmen können.
I. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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auch mit ihrer unternehmerischen Aufgabe eine unlösbare Einheit bilden. Ethisch angebracht ist es allerdings, als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat möglichst keine Personen in besonders herausgehobener Gewerkschaftsfunktion zu berufen. c) Die sozialethische Grundlage der Prinzipien der Gegnerreinheit und Gegnedreiheit
Der innere Grund der Prinzipien der Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit wurde bereits angesprochen. Es geht um die Grundsätze, die für jeden Vertrag gelten, bei dem sich zwei verschiedene Interessenträger mit verschiedenen Interessen einander gegenüberstehen und die doch übereinkommen wollen. Dann heißt es im allgemeinen, im Wege des Ab- und Zugebens, nicht zuletzt im Wege des gegenseitigen Nachgebens, zu einem Ausgleich zu kommen. Diese Ordnungsaufgabe soll jeder Vertrag im Interesse der Beteiligten und der Allgemeinheit erfüllen, und um ihretwillen ist die Institution des Vertrags von der Rechtsordnung anerkannt. In-sich-Geschäfte oder Verträge mit abhängigen Personen sind lediglich der Form und nicht der Funktion nach Verträge. Das gilt für Verträge, gleich in welchen Rechtsbereichen sie angesiedelt sind, also z. B. gleich, ob es sich um bürgerlich-rechtliche oder völkerrechtliche Verträge handelt, sofern immer nur Vertragsparteien mit ihren Interessenpositionen einander gegenüberstehen365. Der TV, ein Vertrag von öffentlicher Bedeutung, ist geradezu ein Prototyp eines Vertrages, der zum Sachkompromiß führen solP66. Die Gegnerfreiheit im weiten Sinne des Wortes, einschließlich der Gegnerreinheit, ist bereits für eine wirksame Interessenverfolgung geboten. Anderenfalls ist schon die Definition der sachgerechten und sachgemäßen, legitim anzuerkennenden Interessen sowie der sozialethisch noch vertretbaren Interessen gefährdet, weitgehend vielleicht sogar überhaupt nicht möglich. Derartige Interessen sind immer wieder vorhanden, unbeschadet dessen, daß sie ggf. erst von Verbandsfunktionären aufgedeckt oder als mögliche Interessen erkannt werden. Bei nicht gegnerfreien Vereinigungen ist die Bestimmung und die Verfolgung der eigentümlichen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbelange niemals hinreichend sicher gewährleistet. Somit wäre die Erzielung eines sachgemäßen Kompromisses von Hause aus, gleichsam von innen her, stets in Frage gestellt. Der von nicht gegnerfreien Vereinigungen abgeschlossene TV als Ergebnis der Tarifverhandlungen erschiene in sich brüchig, und in 365 Der völkerrechtliche Vertrag hat in einem solchen Falle einen deutlichen Bezug zur Gesamtstaatengemeinschaft. Je nachdem, ob es im Vertrag zu einem sachlichen Ausgleich kommt oder nicht, wird die Situation der anderen Staaten gleichfalls positiv oder negativ berührt. 366 Vgl. Zöllner!Seiter, Paritätische Mitbestimmung, 34 ff.; auch Wiedemann!Stumpf, TVG, § 2 RZ 143.
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
einer beachtlichen Anzahl von Fällen wäre dies wohl auch tatsächlich der Fall. Der Sinn der TV-Autonomie, durch einen sachlichen Ausgleich das Arbeitsleben sozial zu befrieden, ist unmittelbar in Frage gestellt. Wenn die Verbände in ihren Reihen sowohl Unternehmer/Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zählen, sind sie bei dieser ihrer Struktur zwar nicht in der Lage, Arbeitskämpfe der einen gegen die andere Seite durchzuführen, und die Übel dieses Kampfes werden vermieden. Bei der von der Sozialethik und der Rechtsordnung verlangten Einschränkung zum Einsatz und zur Durchführung des Arbeitskampfes367 wird man jedoch sagen dürfen, daß die größtmögliche institutionelle Absicherung des tariflichen Sachkompromisses das höhere Gut ist. Die Geltung der Prinzipien der Gegnerreinheit und der Gegnerfreiheit sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohlpostulates mindestens angebracht. Das Gemeinwohl gebietet zwar ein tunliehst niemandem Schaden zufügendes sachgemäßes Verhalten. Der Gedanke einer "harmonischen Ordnung" i. S. eines stets spannungs- und konfliktfreien Zustandes ist bei der Gebrochenheit des Menschen und vielleicht schon wegen seiner Kontingenz aber eine Utopie und eine illusionäre Ideologie. Erst recht ist es illusionär, in einer sowohl die Arbeitnehmer wie die Unternehmer/Arbeitgeber erfassenden Organisation den Ausgleich erreichen zu wollen. Die ausreichend klare Bestimmung der eigenen Sicht und Situation ist bereits nicht möglich. Der Zusammenschluß wäre durch ständige innere Auseinandersetzungen gekennzeichnet, haltbare Lösungen in Sachtragen dürften jedenfalls weitgehend nicht möglich sein. Im Ergebnis kann das, wie schon kurz bemerkt, zu leicht in eine nicht menschengerechte Zwangswirtschaft führen. Eine sozusagen reine Interessenverfolgung kann andererseits ohne weiteres eine nicht mehr vertretbare Radikalität zeitigen. Die Rechtsordnung kann entsprechend dem Gedanken des sachlichen Kompromisses bei streng getrennter Interessenverfolgung der einen wie der anderen Seite Exzesse unterbinden. Jedenfalls in extremen Fällen läßt sich ihnen rechtlich bereits heute begegnen. Die Tarifverhandlungen sind im Interesse des Tarifkompromisses in einer angemessenen Weise zu führen, was aber eine "massive Härte" als ultima ratio nicht ausschließt. Die Einschränkung eines "freien" Agierens kann nur bei eindeutig groben Exzessen in Frage kommen. Die Tarifverhandlungen dürfen nicht in die Nähe eines Rituals geraten, das abgespielt wird. Dies geschieht dann möglicherweise, um es zu sonst doch vermeidbaren Arbeitskämpfen mit ihren negativen Auswirkungen für alle Beteiligten und nicht zuletzt für die Allgemeinheit kommen zu lassen. Harte und sogar sehr harte Verhandlungen können, mag das auch stets eine Frage des Einzelfalles sein, den Arbeitskampf vermeiden. Ein mangelhafter Interessenausgleich, vor allem, wenn er recht häufig am Ende der Verhandlungen steht, kann zu einem 367
Siehe unten.
1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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bis zum Haß gehenden Aufstau eines gegenseitigen Mißtrauens und am Ende zu gesellschaftlichen Explosionen führen. Daß eine ungezügelte Verhandlungsweise dieselben Ergebnisse mit sich bringen kann, ist aber gleichfalls nicht zu bestreiten. Sozialethisch ist das rechte Augenmaß bei den TV-Parteien gefragt; es läßt sich jedoch nur nach den Gegebenheiten des konkreten Falles und der gegebenen Situation bestimmen. Die Rechtsordnung stößt an Grenzen ihrer Wirkmöglichkeiten. Die Ausführungen haben Geltung für alle Vertragsverhandlungen. Sie sind insofern ein Beitrag zur Sozialethik des Vertragswesens überhaupt. Weder die Sozialethik noch das Recht vermögen die Tatsächlichkeit der menschlichen Unzulänglichkeiten, Fehler und Schwächen aufzuheben. Der Pommersehe Landbund, der in der Zeit der Weimarer Republik bestand und der sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer erfaßte, organisierte die Angehörigen der beiden Seiten des Arbeitslebens in je getrennten Gruppen. Insofern blieb eine gewisse Reinheit der Interessenverfolgungen gewahrt. Das Prinzip einer an einer jeweils auf spezifische Interessen ausgerichteten Interessenverfolgung wurde in einer letzten Hinsicht anerkannt. Die umgreifende Vereinigung von Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen unter dem Dach eines einzigen Verbandes bietet allerdings keine Gewähr für eine (auch nur ausreichende) Gegnerunabhängigkeit. Es ist nicht recht verständlich, daß das RAG seinerseits die beiden Gruppen des Pommersehen Landbundes, in dem zu entscheidenden Falle die des näheren zu beurteilende Arbeitnehmergruppe, in ihrem Verhältnis zueinander an sich als tariffähig angesehen hat36s. Die einheitliche Deutsche Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Zeit, in der Wirklichkeit der Dinge eine von der Einheitspartei getragene halb-öffentlich-rechtliche Organisation mit starkem Zwangscharakter, erfaßte ebenfalls Arbeitnehmer und Arbeitgeber getrennt. Wenn damals auch die TV-Autonomie nicht anerkannt war, so trat der Gedanke der getrennten Interessenverfolgung immerhin in Erscheinung, ebenso wie das nach der Entscheidung des RAG für den Pommersehen Landbund galt. d) Grundsätzliche Einzelfragen zur Gegnerfreiheit
Die Prinzipien der Gegnerfreiheit und der Gegnerreinheit, wurzelnd in der Gegnerunabhängigkeit, sind als Maßstäbe für die gegenseitige Abgrenzung 368 RAG 2, 289 (294/295). Das Gericht hat allerdings auch entschieden betont, daß kein näherer Einfluß der Arbeitgebergruppe auf die Arbeitnehmergruppe nach Organisation und Satzung sowie tatsächlich bestehen dürfe und daß die Arbeitnehmergruppe finanziell unabhängig sein müsse. Zur Klärung dieser Fragen erfolgte die Zurückverweisung des Verfahrens. Dem Verfasser scheint es aber ein Widerspruch zu sein, daß beide Gruppen dann einem übergeordneten Verband gemeinsam als Mitglieder angehören konnten. Das RAG hat gerade betont, die Untergruppe müsse in der Lage sein, ihre eigenen Interessen selbständig und unabhängig wahrzunehmen (a.a.O. , 295) .
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen und gewissermaßen zur Bestimmung ihres gegenseitigen Verhältnisses gesehen worden. Diese Betrachtung genügte solange, als, historisch bedingt, die Unternehmerschaft hier und die Arbeitnehmerschaft dort mehr oder weniger in Blöcken einander gegenüberstanden369. Heute haben sich innerhalb der Arbeitnehmerschaft und innerhalb der Arbeitgeberschaft erhebliche soziologische Differenzierungen herausgebildet, die zu Spannungen und Konflikten innerhalb der beiden Seiten des Arbeitslebens selbst führen. Die Frage der sauberen Interessenverfolgung und ihrer Unabhängigkeit ist daher unter einem erweiterten Gesichtspunkt zu sehen. Die Innengruppierungen im Bereich je beider Seiten sind sachlich begründet, und ihre Angehörigen haben anzuerkennende eigentümliche Interessen. Ein Einheitsinteresse mit Ausschließlichkeitscharakter dekretieren zu wollen, ist sachwidrig und läuft im Ergebnis auf eine totalitäre, jedenfalls aber auf eine autoritäre Bevormundung hinaus. In der Arbeitnehmerschaft finden sich, ineinander übergehend, die Gruppen der ungelernten und der angelernten Arbeitnehmer. Ferner die Gruppen der Facharbeiter und der Meister. Diese grobe Gliederung bezieht sich auf die Schicht, die man früher und bisweilen immer noch mit dem allgemeinen Begriff der Arbeiter erfaßt. Unterscheidungen waren auch damals üblich, heute sind sie besonders zwischen den Gruppen der ungelernten und der angelernten Arbeiter einerseits und denen der Facharbeiter einschließlich der Meister andererseits funktionell und damit soziologisch entschieden stärker ausgeprägt. Die Interessenlagen stimmen nicht länger mehr oder weniger überein. Andererseits ist die herkömmliche Unterscheidung zwischen den Arbeitern und Angestellten mindestens fließend geworden, ein funktional begründeter Sinn scheint weitgehend nicht mehr recht verständlich. Dafür treten in den verschiedensten Bereichen Gruppen besonders hochqualifizierter Arbeitnehmer deutlich hervor, die ihr Vorhandensein zu einem beachtlichen Teil HochTechnologien und deren Anwendung, z. B. dem Computerwesen, verdanken. Die qualifizierte Tätigkeit ihrer Angehörigen und damit deren Bedeutung für die Unternehmen führt gleichsam psychologisch notwendig zu eigenen Interessenlagen und Interessensichten. Im Bereich der Unternehmerschaft wird die Bedeutung der Unterscheidung zwischen kleinen , mittleren und großen Unternehmen immer greifbarer. Das überkommene Arbeitsrecht ist weitgehend, bewußt oder unbewußt, im Blick auf die Großindustrie als Hintergrund entwickelt worden. Jetzt treten die differenzierten Interessenlagen der Unter369 Diese Situation kann nicht allein als Erscheinungsform eines Klassenkampfdenkens gewertet werden, mag eine solche Haltung daneben ihre Rolle gespielt haben. Die Anfangsphase der Industrialisierung und noch lange Jahrzehnte nachher führten aus mehreren Gründen zu diesen Blockbildungen, die sich sozialpsychologisch verfestigten. Der Klassenkampfgedanke selbst war weitgehend Ausdruck einer Notwehrsituation der lndustriearbeiterschaft, in seiner Absolutsetzung allerdings in sich verfehlt.
1. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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nehmen entsprechend ihrer Größe hervor und verlangen Beachtung. Die Unterscheidung zwischen Industrie, gewerblicher Wirtschaft, Handel und nicht zuletzt den Dienstleistungsbereichen erfordert Aufmerksamkeit. Neben dem Bereich der Wirtschaft steht der Bereich des öffentlichen Dienstes, in dem die lnteressenlagen, insbesondere auf der Seite der öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber, ihre besondere Eigenart haben. Auf derselben Seite je der Arbeitnehmer hier und der Unternehmer dort treten jeweils eigentümliche Interessen der Angehörigen verschiedener Gruppen auf, die mit den Interessen anderer Gruppen der Arbeitnehmerschaft und der Arbeitgeberschaft in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen oder sogar in Konflikt geraten. Zu denken ist etwa an die Entgeltfrage im Verhältnis zwischen ungelernten/ angelernten Arbeitern hier und für Facharbeiter dort sowie, von beiden abgehoben, an die Entgeltinteressen der besonders hoch qualifizierten Arbeitnehmer mit bisher technisch unbekannten Aufgaben. Auf der Unternehmerseite ist die verschiedene Interessenlage der Großunternehmen und der mittleren Unternehmen innerhalb desselben Wirtschaftszweiges bekannt. Erstere sehen sich eher in der Lage, Interessen und Forderungen der Arbeitnehmer entgegenzukommen als letztere. Die Unternehmer des Dienstleistungswesens dürften in absehbarer Zeit Unternehmerinteressen geltend machen, die von denen der im Produktionsbereich tätigen Unternehmen verschieden sind. Sie wollen und müssen um ihrer Existenzwillen auf die Bedürfnisse derer sehen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, was in vielen Fällen eine eigene Organisation der Arbeit in mancher, u . a. auch in zeitlicher Hinsicht, erforderlich erscheinen läßt. Bei dem Vorliegen divergierender Belange auf ihrer Seite kann es gegenüber einer übereinstimmenden Interessensicht in der Arbeitnehmerschaft zu erheblichen Spannungen innerhalb der Unternehmerschaft in ihrer Gesamtheit kommen. Bei diesen Vorgegebenheiten , zu denen über kurz oder lang weitere Differenzierungen hinzukommen können und die in ihrer Gesamtheit ein weiter ansteigendes Gewicht erhalten dürften, ist es legitim, durch eigene, auf den besonderen soziologischen Sachverhalt abstellende Organisationen der Unternehmer/Arbeitgeber und der Arbeitnehmer die Interessenverfolgung zu betreiben. Die verschiedenen Organisationen je derselben Seite sind dabei ethisch gehalten, sich im Interesse der Gesamtwirtschaft und damit des Gemeinwohls in der Verfolgung ihrer Ziele untereinander abzustimmen. Ein bereits geäußerter Gedanke verlangt unter einem weiteren Aspekt Geltung. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Interessen der verschiedenen Gruppen jeweils überzogen werden, und ihre Durchsetzung ohne besondere Rücksicht auf die Angehörigen anderer Gruppen auf derselben Seite des Arbeitslebens nachdrücklich angestrebt wird. Das allein führt schon zu erheblichen Spannungen innerhalb der Arbeitnehmerschaft und im gegebenen Falle innerhalb der Unternehmerschaft mit nachteiligen Folgen für das Wirtschaftsleben insgesamt und für die Allgemeinheit. Diese Spannungen 16 G. Müller
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
werden noch verschärft, sofern sich die überzogenen Forderungen durchsetzen sollten und/oder es kommt dahin, daß andere Gruppen ebenfalls überzogen nachziehen. Ein ausgewogener, von den Belangen der Allgemeinheit aus zu gewinnender Kamprarniß ist nicht leicht zu erreichen. Bei nach dem Einheitsprinzip strukturierten Vereinigungen ist von vornherein die Möglichkeit des internen Ausgleichs gegeben; es darf allerdings keine Gruppe im Verhältnis zu den anderen Gruppen unangemessen gefördert oder unangemessen benachteiligt werden. Dieses ethische Postulat ist ebenfalls nicht einfach zu realisieren. Alles in allem gilt: Die funktional sehr bedeutsamen Differenzierungen im Arbeits- und Wirtschaftsleben zugunsten eines einfachen Einheitsdenkens zu überspielen, ist ebenso verfehlt wie eine radikale Verfolgung spezieller Interessen. Die Organisation der Interessenverbände muß ethisch und rechtlich in ihrer Hand liegen. Es zeigt sich wiederum, daß die Rechtsordnung ethisches Verhalten nicht in aller und jeder Hinsicht vorzuschreiben vermag. Die hier in Rede stehenden Sachverhalte verlangen von den Leitungen der Koalitionen ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein, ohne daß die Verantwortung der Koalitionsangehörigen übersehen werden darf. Bei einem großen und andauernden Fehlverhalten wird die Sanktion die akute Gefährdung der Existenz der Vereinigung und der Aufrechterhaltung des Verbandswesens sein, zum Nachteil der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber/Unternehmer. e) Besondere Fragen zur Gegnerunabhängigkeit
In anderem Zusammenhang wurde bemerkt, daß (nur) tarifvertragliche "einfache" Differenzierungs- und Spannungsklauseln, von denen kein nennenswerter Druck zum Koalitionsbeitritt ausgeht, die negative Koalitionsfreiheit nicht beeinträchtigen. Jetzt stellt sich die Frage, ob sie den Grundsatz der Gegnerfreiheit tangieren; der Arbeitgeber könnte mit der Beachtung der Vorschriften, wenn auch in einem nicht nennenswerten Maße, die betreffende Arbeitnehmervereinigung unterstützen. Dies dürfte als Tatsache zu beachten sein. Die Verfolgung der Arbeitnehmerinteressen durch eine Arbeitnehmerkoalition ist tendenziell bereits bei einer gewissen Unterstützung dieser Koalition durch die Arbeitgeberseite gefährdet. Der Arbeitgeber könnte als Gegenleistung die Anerkennung unangemessener Interessen verlangen, und der Arbeitnehmerverband könnte der dann an ihn herantretenden Versuchung nachgeben. In der Folge ist es denkbar, daß das Vertrauen der Arbeitnehmerschaft in das Koalitionswesen ihrer Seite sozialpsychologisch gefährdet ist. Im Ergebnis spricht jedenfalls viel dafür, daß selbst bei einem nicht nennenswerten Druck, Mitglied der Arbeitnehmervereinigung zu werden, die Klauseln unter dem Gesichtspunkt der Gegnerunabhängigkeit unzulässig sind.
I. Gegnerreinheit und Gegnerfreiheit der Koalitionen
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Anders liegen die Dinge, wenn aufgrundschuldrechtlicher Tarifabsprachen der Arbeitgeber bei der Entgeltzahlung die den Gewerkschaftsbeiträgen entsprechenden Geldbeträge einbehält und an die Gewerkschaft abführt. Hier scheint keine Gefährdung der Gegnerunabhängigkeit des Arbeitnehmerverbandes einzutreten. Er wird von der Arbeitgeberseite nicht abhängig, wenngleich der Zufluß der Mitgliederbeiträge in besonderer Weise gesichert ist. Die von der TV-Autonomie verlangte Mächtigkeit der Koalitionen370 muß bereits bei den TV-Verhandlungen vorliegen. Diese Mächtigkeit, für die die Koalitionen von sich aus zu sorgen habenm, sichert u. a. ihre Unabhängigkeit gegenüber der anderen Seite. Bei bestehender Mächtigkeit dürfte eine Abhängigkeit der Arbeitnehmervereinigung nicht denkbar sein. Man wird sogar sagen können, daß tarifvertraglich vereinbarte Einzugs-und Abführungsklauseln einen Beitrag dazu zu leisten vermögen, ein im Interesse des Sachkompromisses in letzter Hinsicht gebotenes Vertrauensverhältnis zwischen den Verbänden des Arbeitslebens mit zu begründen und mit zu festigen, wenn auch diese Vertrauensbeziehung zutiefst nur durch ständiges sachliches Verhalten der Koalitionen zu erreichen ist. Die tarifvertraglich zwischen den Verbänden der Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbarte Einbehalturig der den Mitgliedsbeiträgen bei der Gewerkschaft entsprechenden Geldsummen bei der Entgeltzahlung und ihre Abführung durch den Arbeitgeber an die Gewerkschaft mag unter dem Aspekt des Postulates der Gegnerunabhängigkeit ein Grenzfall sein. Eine subtil abwägende Betrachtung scheint jedoch zu dem hier vertretenen Ergebnis zu führen. Auf Grund der in Rede stehenden TV-Vereinbarungen erhält der Arbeitgeber Kenntnis, welche Mitarbeiter bei welcher Gewerkschaft organisiert sind und wer keiner Koalition angehört oder, wenn nur mit einer Gewerkschaft die Abmachung getroffen ist, möglicherweise einem anderen Arbeitnehmerverband angehört. Eine Tangierung der positiven und der negativen Koalitionsfreiheit ist aber nicht zu befürchten. Die streng~ Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG unterbindet dies von der Rechtsordnung her. Daß die Einbehaltungs-und Abführungsklauseln selbst keine unzulässigen Abreden im Sinne dieser Verfassungsvorschrift sind, wurde zu zeigen versucht. In der Praxis des Arbeitslebens ist es bisher offenbar nicht zu einschlägigen Beanstandungen gekommen.
370 371
16*
Siehe die anschließenden Ausführungen. Siehe ebenfalls anschließend.
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV -Autonomie
2. Das Mächtigkeitsprinzip a) Die Rechtslage
Das BAG hat schon verhältnismäßig früh verlangt, daß eine Koalition, die als TV-Partei auftreten will, in der Lage sein muß, auf den Partner des angestrebten TV einen im Rahmen der Rechtsordnung zulässigen fühlbaren Druck auszuüben und ihn so zur Aufnahme von Tarifverhandlungen und zum Abschluß von Tarifverträgen zu veranlassen372 • Diese Auffassung hat das Gericht in weiteren Entscheidungen beibehalten373. Das BVerfG hat die Auffassung des BAG entsprechend dem von ihm zu beurteilenden Fall für die Arbeitnehmervereinigungen bestätigt374. Aufgabe der TV-Autonomie ist es nun einmal, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen und so das Arbeitsleben und im Ergebnis in dieser Hinsicht die Gemeinschaft sozial zu befrieden. Diese den TV-Partnern zukommende und im Rahmen der TV-Autonomie obliegende Aufgabe kann nur dann angemessen erfüllt werden, wenn sie selbst soviel Gewicht haben, daß sie in ihrem Verhältnis zueinander eine zulässige spürbare Macht einsetzen können, um den Beginn von Verhandlungen und einen TV zu erreichen375. Die Koalitionen müssen über die Mittel eines wirksamen Drucks und Gegendrucks verfügen. Die TV-Autonomie beruht soziologisch auf der zwischen den beiden Seiten des Arbeitslebens bestehenden "Gegengewichtigkeit der Interessen", die durch tarifliche Vereinbarungen zu einem möglichst echten Ausgleich kommen sollen. Dies setzt eine Gleichgewichtigkeit der TVParteien voraus376. Das BVerfG hat sich der Argumentation des BAG angeschlossen. "Dazu [sei!.: zur Tariffähigkeit] gehört eine Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler, die sicherstellt, daß dieser wenigstens Verhandlungsangebote nicht übersehen kann.· Denn ein angestrebter Interessenausgleich durch Tarifvertrag kann nur dann zustandekommen, wenn eine Arbeitnehmerkoalition so leistungsfähig ist, daß sich die Arbeitgeberseite veranlaßt sieht, auf Verhandlungen über die tariflichen Regelungen der Arbeitsbedingungen einzugehen und zum Abschluß eines Tarifvertrages zu kommen. "377 Das höchste deutsche Gericht stellt in seinem Beschluß ensprechend dem ihm zur Entscheidung unterbreiteten Tatbestand auf eine Arbeitnehmervereinigung ab. Der Sache nach gilt dies aber allgemein für jede Koalition auf BAG 21, 98 (101/102) . BAG 23, 320 (323/324), hier auf eine Arbeitnehmervereinigung abstellend; BAG 29, 72 (79/83); BAG AP Nr. 30 zu§ 2 TVG (7021703). 374 BVerfG 58, 233 (249/250). 375 Siehe BAG 29, 72 (80). 376 BAG 21 , 98 (1011102); BAG AP Nr. 30 zu § 2 TVG (702); auch BAG 23, 320 (323/324) . m BVerfG 58, 233 (249). 372
373
2. Das Mächtigkeitsprinzip
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jeder Seite des Arbeitslebens. Eine Nicht-Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitgebervereinigung stellt den Sachkompromiß des TV gleichfalls in Frage. Das BAG spricht deshalb durchweg von den Vereinigungen schlechthin. Die Entscheidung des BVerfG sagt einmal, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Rechtsprechung die Tariffähigkeit von gewissen Mindestvoraussetzungen abhängig mache, wozu die Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler gehöre. Andererseits heißt es: "In diesem Umfang ist das Vorhandensein einer ,Verbandsmacht' bei einer Arbeitnehmerkoalition ein Umstand, von dem die Tariffähigkeit abhängig gemacht werden kann, weil er von der Sache selbst gefordert wird und also der im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens dient. "378 Die Aussagen erscheinen auf den ersten Blick "gebrochen". Eine Gesamtbetrachtung ergibt gleichwohl m. E., daß die Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung - und entsprechend die eines Arbeitgeberverbandes - nach dem Sinn der TV-Autonomie als eine unerläßliche Voraussetzung der Tariffähigkeit bewertet wird. b) Die sozialethische Grundlage des Mächtigkeitsprinzips
Die sozialethische Grundlage des Mächtigkeitsprinzips ist mit den vorhergehenden Überlegungen bereits dargetan. Das Erfordernis ist eine notwendige Voraussetzung dafür, daß die TV-Parteien zu einem sachlichen Kamprarniß kommen. Steht auf der einen Seite ein starker und auf der anderen Seite ein schwacher Verband, kann letzterer aus sich heraus nichts erreichen. Es bleibt ihm nur, auf das Entgegenkommen der anderen Seite zu setzen, "zu betteln". Sind beide Parteien schwach, ist das Ziel des sachlichen Ausgleichs von vornherein in Frage gestellt. In dem einen und in dem anderen Fall auf die Kraft der Argumente zu bauen, ist mit einem beachtlichen Unsicherheitsfaktor belastet. Es ist ohne weiteres damit zu rechnen, daß die Interessensicht selbst gediegene Argumente der anderen Seite nicht aufnimmt und nicht zur Geltung kommen läßt. Die "Gebrochenheit" des Menschen steht immer wieder im Hintergrund. Der Sachkompromiß als Ergebnis der Interessenverfolgung ist jedenfalls bei beiderseitiger Stärke zu erwarten, ein optimales Ergebnis wohl, wenn beide Seiten dazu jeweils noch gute Argumente ins Feld führen. Ethik und Mächtigkeit dürften manchem als ein Widerspruch vorkommen. Eine solche Sicht gründet einmal in dem illusionären Denken, der Mensch sei in sich letztlich gut; die Gebrochenheit, ein in diesem Leben unaufhebbarer Bestandteil des Menschen, wird in der Sache geleugnet. Die Vertreter einer solchen Auffassung setzen aber ebenfalls auf Macht. Psychologischer Druck 378
BVerfG 58, 233 (249, 250).
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
wird von ihnen in nicht wenigen Fällen immer wieder ausgeübt. Wird er in der Sache mit einer echten moralischen und ethischen Argumentation verwechselt, handelt es sich um nichts anderes als um den Versuch einer dazu ethisch nicht einwandfreien Manipulierung. Verfügen Menschen dieser Art über die entsprechende Möglichkeit, üben sie darüber hinaus unmittelbaren Druck aus, und im Besitz der Macht setzen sie sie unbedenklich zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen ein. Sogenannte Idealisten werden in der Praxis oft Terroristen379. Macht als solche ist vor allem nicht unsittlich. Anderenfalls müßte jede Erscheinungsform der Fähigkeit, Druck einzusetzen, mißbilligt werden. Zwangsgewalt ist als solche ebenfalls keineswegs verwerflich. Jeder Verband bedarf einer Ordnung, die gesetzt, gehandhabt und gesichert werden muß. Das alles ist nur kraft Autorität möglich, die bereits eine Erscheinung von Macht ist. Um des Bestehens des Verbandes und zum Wohle der Verbandsmitglieder müssen gegenüber Verbandsangehörigen im gegebenen Falle Zwangsmittel eingesetzt werden. Macht und Zwangsgewalt sind, derart gehandhabt, im letzten nichts anderes als notwendige Ordnungsfaktoren. Ihre Legitimität kann nur leugnen, wer die Sozialnatur des Menschen leugnet, seine Gemeinschaftsbezogenheit verkennt oder sie nicht wahrhaben und nicht zur Kenntnis nehmen will. Das streng und ausschließlich individualistische, damit aber verfehlte Menschenbild muß in seiner Konsequenz eine ethische Begründung und eine ethische Notwendigkeit der Gewalt von vornherein ablehnen. Insbesondere läßt sich von diesem Ausgangspunkt her eine Begründung der Staatsgewalt als der Gewalt der umfassenden Gemeinschaft nicht finden. Ebensowenig hätten Sozialgrößen jeder Art in und unterhalb des Staates, von der Familie bis zu den frei gebildeten Vereinigungen, keine legitime Befugnis zur Durchsetzung ihres Zieles und ihrer spezifischen Ordnung gegenüber ihren Angehörigen. Jede Gemeinschaft, jeder Zusammenschluß, jeder Verband wäre in sich brüchig, nicht haltbar und letztlich eine Absurdität, eine Folge, die als argurnenturn ad hominem die Schwierigkeit des Ausgangspunktes aufzeigt. Voraussetzung für die Legitimität der Macht und der Zwangsgewalt als institutionelle Einrichtungen im Dasein des Menschen ist des weiteren, daß die Gemeinschaften und Vereinigungen selbst legitim sind. Die Legitimität des Staates und der Familie muß bei der Sozialnatur des Menschen hier nicht weiter begründet werden. Frei gebildete Assoziationen, nicht zuletzt solche, durch die legitime oder doch vertretbare Interessen der Einzelnen zur Ver379 Die Jakobiner der Französischen Revolution haben um der bürgerlichen Tugend willen, wie sie sie verstanden, von Staats wegen ein Terror-Regiment ausgeübt. Rousseau hielt den Menschen für gut und verderbt nur durch die Gesellschaft. Seine Schüler waren nicht zuletzt die Jakobiner. Da die Gesellschaft immer aus Menschen und allein aus Menschen besteht, ist der weit verbreitete Gedanke, der Einzelne sei an sich gut und die Gesellschaft habe ihn korrumpiert, eine contradictio in adjecto. Lenin wollte um der Menschen willen in seinen Augen eine gute und klassenlose Gesellschaft erreichen und liquidierte deshalb in Rußland die sog. Bourgeoisie.
2. Das Mächtigkeitsprinzip
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wirklichung kommen sollen, sind ebenfalls legitim. Hilfe durch Zusammenschluß hat sein Fundament in der sozialen Komponente des Menschen. Die Gewalt kann nur zur Erreichung ethisch anerkennenswerter Ziele einschließlich der Sicherung ethisch anerkennenswerter Ordnungen eingesetzt werden, und die Art und Weise ihres Gebrauchs muß ethisch bejaht werden können. Die Ordnungen und Ziele müssen der menschlichen Persönlichkeit mit ihrer Autonomie und ihrer Gebundenheit entsprechen oder unter dieser Sicht doch vertretbar sein. Da Macht und Zwangsgewalt in ihrem hier skizzierten Grund und Rahmen legitime Notwendigkeiten sind, ist das öfter zu hörende undifferenzierte Wort von der Gewaltfreiheit (innerhalb des Gemeinwesens) ein auflrrwege führendes Schlagwort. Es dürfte ebenfalls auf dem Gedanken einer bindungslosen Emanzipation des Einzelnen beruhen. Zur Erreichung des gewaltfreien Beieinander und Zusammenseins wird in der Realität der Dinge aber nur zu leicht eine kollektivistische Zwangsordnung mit totalitären Zügen verlangt, hat man nur die Möglichkeit hierzu. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit bleibt nur noch die Frage, wie es mit der ethischen Legitimation einer gegenseitigen Machtausübung bei einer antagonistischen Interessenverfolgung steht. Insofern möchte man auf den ersten Blick den Einsatz von Macht ethisch ablehnen. Eine Interessenverfolgung, und zwar auch eine in einem Antagonismus erfolgende Interessenwahrnehmung, ist nach den Ausführungen oben bei ethisch anzuerkennenden oder doch ethisch vertretbaren Interessen jedoch legitim. Die Situation der einen und die Situation der anderen führt sehr oft zum Antagonismus und im gegebenen Falle sogar zur Konfrontation und zum Konflikt. Solange und soweit sich die Aktualisierung der Interessenauseinandersetzungen in einem akzeptablen oder wenigstens vertretbaren Rahmen abspielt, ist sie unter dem Gesichtspunkt der Ethik zum mindesten hinzunehmen. Die Interessensituation der Menschen zeitigt nun einmal häufig antagonistische Positionen, und dann muß es wenigstens zu einem hinnehmbaren Ausgleich kommen. Spannungen und Konfrontationen bestehen zu lassen, ist für die Beteiligten nicht vertretbar, erst recht nicht, wenn sie auf Dritte und im gegebenen Falle auf die Allgemeinheit durchschlagen. Verhandlungen über gegensätzliche Interessenpositionen, in denen wegen mangelnder Stärke keine Seite durchsetzungsfähig ist, können, um es abermals zu sagen, jedenfalls im allgemeinen nicht zu einem sachlichen Kamprarniß führen. Dasselbe Ergebnis tritt typischerweise ein, wenn nur eine Seite durchsetzungsfähig ist. Die Überlegungen gelten für Tarifvertragsverhandlungen und Tarifauseinandersetzungen, und sie gelten darüber hinaus für Vertragsverhandlungen schlechthin. Verträge und Vertragsabschlüsse, mit und in denen sich das soziale Wesen des Menschen ebenfalls äußert, sind für das Zusammenleben der Menschen nicht zu entbehren. Nicht zuletzt sind sie benötigt, wenn die
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Kap. VI: Strukturforderungen der TV-Autonomie
unmittelbar Beteiligten und Betroffenen durch ihr eigenes Handeln ihre lnteressenpositionen auszugleichen vermögen, deswegen aber auch derart ausgleichen müssen. Stärke oder Macht der Koalitionen und ein maßvolles Verhandeln schließen sich keineswegs aus. Wie sie zu einem ethisch nicht mehr vertretbaren Stil im Umgang der Verbände miteinander führen können, so ist es andererseits möglich, daß sie gegenseitigen Respekt erzeugen. In diesem Fall ist die Gefahr von Radikalismen nicht groß. Nicht zuletzt ist ein derartiger Respekt für das Finden eines Sachkompromisses dienlich. Der Mächtigkeltsgedanke darf nicht vorschnell mit einer Kampfmächtigkeit der Verbände gleichgesetzt werden. Zwar ist er auch für den Arbeitskampf bedeutsam; das ist nur ein bestimmter Aspekt eines allgemeinen Postulates für den Fall einer besonders zugespitzten Situation380. Allgemein geht es bei der Mächtigkeit der Vereinigungen um das Verhandlungsgleichgewicht im Interesse eines möglichst ausgewogenen tariflichen Ergebnisses381. Daß wegen des Erfordernisses der Mächtigkeit der TV-Parteien bei den Tarifverhandlungen stets eine reale Ausübung von Druck und Gegendruck zu erfolgen hätte, ist ethisch sowie rechtlich nicht geboten und faktisch nicht stets erforderlich. Man muß unterscheiden zwischen der Notwendigkeit, daß Stärke stets vorliegen muß einerseits und dem effektiven Gebrauchmachen von dieser Stärke andererseits. Geboten ist, daß gewichtige Verhandlungspartner in ihrem gegenseitigen Verhältnis einander gegenübertreten und daß erst im gegebenen Falle Stärke zur Erzielung von Verhandlungen und zu ihrer näheren Durchführung eingesetzt werden darf. Bestimmte Formulierungen des BAG könnten allerdings mißverständlich sein382. c) Das Mäcbtigkeitserfordernis und der Gedanke der KonOiktgeseUscbaft
Das Mächtigkeitsprinzip muß keineswegs als eine Größe gewertet werden, die allein in der Vorstellung von der Konfliktgesellschaft zu Hause sei und ihr entstamme383. Nach der Theorie der Konfliktgesellschaft ist die Gerechtigkeit rein methodologisch als das Ergebnis der Auseinandersetzung der verschiedenen Grup380 Utz, Weder Streik noch Aussperrung, scheint den Gedanken der Mächtigkeit der Koalitionen lediglich im Sinne einer Kampfparität zu verstehen. Er sieht die TV-Autonomie der Bundesrepublik verfehlt nur unter dem Zeichen eines Kampfrechtes; siehe u. a. 46, 49. 381 Näheres zur Mächtigkeit/Kampfparität siehe unten. 382 Siehe etwa BAG 46, 322 (332). 383 Dies ist die Auffassung von Utz in seiner bereits zitierten Schrift "Weder Streik noch Aussperrung". Er faßt die TV-Autonomie der deutschen Rechtsordnung als eine Erscheinungsform des Gedankens der Konfliktgesellschaft auf.
2. Das Mächtigkeitsprinzip
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pen- und der Einzelnen - anzusehen. Gerechtigkeit ist keine objektive, an sich bestehende und deswegen als solche bindende Größe. In der Sache ist sie nichts anderes als die Folge der Austragung eines Konfliktes, bei dem die einzelnen Gruppen nach ihren Interessen die soziale Gerechtigkeit bestimmen und in der kampfweisen Auseinandersetzung ein Ergebnis zeitigen. Es komme nur darauf an, bei dieser Auseinandersetzung die Kampfparität als Grundregel der Konfliktgesellschaft zu beachten. Gerechtigkeit wäre somit nichts anderes als reine Faktizität, und bereits die Bestimmung der Gerechtigkeit durch die Gruppen entbehrte der anerkennenswerten Berechtigung. Interessen sind nur "nackte" Interessen ohne eine sie innerlich legitimierende Grundlage. Letztlich sind sie rein subjektive Positionen, mögen sie auch aufgrund objektiver Umstände im Bewußtsein gebildet werden. Die Theorie der Konfliktgesellschaft ist offensichtlich vom philosophischen Relativismus getragen384. Das Mächtigkeilspostulat in der TV-Autonomie ist dagegen eine Bedingung, um auf dem Wege über das Selbsthandeln der unmittelbar Beteiligten und Betroffenen zu einer befriedenden Ordnung des Arbeitslebens zu kommen. Interessen zu haben und Interessen zu verfolgen ist nichts Unethisches. Im Gegenteil, in vielen Fällen ist dies ethis