Die Ästhetik Apollinaires und der frühen Avantgarde: Mythos als Modus 9783110739633, 9783110736267, 9783110736304, 2021938520

"Tu marches vers Auteuil tu veux aller chez toi à pied / Dormir parmi tes fétiches d’Océanie et de Guinée [...]&quo

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German Pages 360 [362] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure
III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung in der poetischen Praxis
IV Mythos und Moderne
V Schlussbemerkung: Auch die moderne Welt ist eine Welt voller Magie
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis Abbildung
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Die Ästhetik Apollinaires und der frühen Avantgarde: Mythos als Modus
 9783110739633, 9783110736267, 9783110736304, 2021938520

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Katarina Rempe Die Ästhetik Apollinaires und der frühen Avantgarde

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 92

Katarina Rempe

Die Ästhetik Apollinaires und der frühen Avantgarde Mythos als Modus

Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Universität Osnabrück eingereicht.

ISBN 978-3-11-073963-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073626-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073630-4 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2021938520 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

für Tobias

Danksagung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2020 an der Universität Osnabrück angenommen wurde. An dieser Stelle möchte ich all jenen meinen Dank aussprechen, die mich beim Schreiben dieser Arbeit unterstützt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Andrea Grewe, welche das Entstehen dieser Arbeit überhaupt erst ermöglicht hat und mich mit Rat und Tat in guten wie in schlechten Zeiten begleitet hat. Ich schätze mich glücklich, dass ich in ihr eine sowohl vielseitig gebildete, als auch humorvolle Betreuerin fand, von der ich zum einen sehr viel lernen konnte, zum anderen auch den erforderlichen Freiraum bekam, um meinen Forschungen nachzugehen. Auch Robert Fajen möchte ich danken, der mich in Halle in meinem letzten Studienjahr mit Apollinaire bekannt gemacht und somit gewissermaßen den Grundstein für meine Arbeit gelegt hat. Ich bin dankbar für seine Begutachtung meiner Arbeit, seine aufmerksame Lektüre und konstruktive Kritik. Anke Auch danke ich nicht nur für ihre hingebungsvolle und sorgfältige Korrekturarbeit und Kritik, sondern auch für ihre langjährige Unterstützung und Förderung. Des Weiteren möchte ich mich herzlich bei meinen Freunden Linda Bongers, Marco Cristalli, Elisabeth Flucher, Manuel Förderer, Moritz Rauchhaus, Andrea Stahl, Daniel Wendt, meinem Großvater Gerhard Oehlstöter und meiner Mutter Anita Rempe für ihren Beistand und ihr Lektorat bedanken. Ich bedanke mich beim Institut für Romanistik der Universität Osnabrück und den Kolleginnen und Kollegen, die mich auf verschiedenste Weise in meiner Arbeit unterstützt haben. Winfried Wehle danke ich für seine aufmunternde Email ganz zu Beginn meiner Arbeit – ihr verdanke ich die titelgebende Formel ‘Mythos als Modus’. Bei Ottmar Ette bedanke ich mich sehr herzlich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Mimesis.

https://doi.org/10.1515/9783110736267-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung I 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2

II 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2 2.1 2.2 2.3 2.4

VII

Einleitung 1 Positionsbestimmungen 7 Positionierung in der Mythosforschung 7 Die Ästhetik des mythischen Denkens als ein Beitrag zur Idee eines ‘Literarischen Primitivismus’ 9 Problematik des Begriffs ‘Primitivismus’ 12 Der primitivistische Diskurs: Konfigurationen des Primitive Turn 17 Historische Schichtung: Evolutionistische und genealogische Modelle 19 Relativität des eigenen Standpunkts: Infragestellung des Kunst- und Wissenschaftsbegriffs 21 Ernst Cassirer: Das mythische Denken 23 Kunst und mythisches Denken als Teil der Philosophie der symbolischen Formen: Ernst Cassirers Kulturphilosophie 23 Einordnung Cassirers in die Konfigurationen des primitivistischen Diskurses: Cassirers universalistischer Standpunkt 28 Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure 35 Die ‘Entdeckung’ der ‘primitiven’ Kunst – Resonanzbeziehungen zwischen Kunst und Dichtung 35 Apollinaires Beitrag: Sculptures nègres 38 Kulturrelativistischer Standpunktwechsel: ‘Primitive’ Werke sind auch Kunst 43 Paul Guillaume: ‘L’art nègre et l’esprit de l’époque’ 46 Primitive Turn … 50 … oder literarischer Kubismus? 54 De la poésie avant toute chose 61 Ästhetisches Selbstverständnis: Grundlagen der Ästhetik 65 Beziehung des Ichs zur Welt und Universalität 65 L’art pur 67 Gegen einen mimetischen Realismus 70 Abstraktion 77

X

2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 III 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3

Inhaltsverzeichnis

Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden 92 Natur 97 Prophetie: Beobachtung der ‘nature extérieure et intérieure’ 101 Imagination 104 Realismus der Dichtung, Realität des Kunstwerks 108 Schöpfung 112 Wahrheit 114 Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild und Befreiung von Institutionen 117 Gegen Intellektualisierung 117 Gegen Wissenschaft 121 Gegen Regeln 126 Instinkt und Emotion 128 Logik des Kunstwerks, Logik des mythischen Denkens 130 Ordnung und Einheit des Kunstwerks 133 Liberté d’esprit statt Schule und Tradition 136 Dekanonisierung 139 Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung in der poetischen Praxis 147 Grundstrukturen mythischen Denkens 147 Kausalität als Netzstruktur 147 Nichtunterscheiden von Ideellem und Reellem 149 Formen mythischen Denkens in der Dichtung 152 Bewegung und Lebendigkeit 152 Metamorphosen und Transformationen 172 Sprache 198 Mythische Weltanschauung in der dichterischen Gestaltung von Zeit und Raum 215 Simultaneität und Ubiquität – Phänomene der Moderne? 215 Der mythische Raumbegriff und seine Figuration in der Lyrik 230 Der mythische Zeitbegriff und seine Figuration in der Lyrik 251

Inhaltsverzeichnis

IV 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 V

Mythos und Moderne 295 Das mythische und das moderne Subjekt 295 Subjektkonstitution, Identitätssuche und mythisches Einheitsgefühl 295 Schöpferische Bewältigung: Divinisierung 302 Mythischer Bruch 309 Mythos als Kompensation für die Moderne? 309 Selbstreflexivität: Eine Poetik des ‘Machens’ 318 Schlussbemerkung: Auch die moderne Welt ist eine Welt voller Magie 325

Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Register

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327 345

XI

I Einleitung Plus tard, ceux qui étudieront l’histoire littéraire de notre temps s’étonneront que, semblables aux alchimistes, des rêveurs, des poètes aient pu, sans même le prétexte d’une pierre philosophale, s’adonner à des recherches, à des notations qui les mettaient en butte aux railleries de leurs contemporains, des journalistes et des snobs.1 Gli uomini ridiventano mitici!2 Voi ci credete pazzi. Noi siamo invece i Primitivi di una nuova sensibilità completamente trasformata.3

Das frühe 20. Jahrhundert bringt in Kunst, Literatur und Musik eine Mannigfaltigkeit an Strömungen unterschiedlicher philosophischer und ideologischer Ausrichtung hervor, so dass es wie eine Simplifizierung erscheint, verschiedene Literaturbewegungen wie den Futurismus, Dadaismus und Surrealismus unter dem in sich selbst kontradiktorisch anmutenden Sammelbegriff der historischen Avantgarden zusammenzufassen. Zudem können zahlreiche Autoren zwar der Avantgarde zugeordnet werden, gehören aber keiner Strömung an. Apollinaire hegt gewisse Sympathien für den Futurismus, sein Verhältnis zu ihm bleibt aber sehr reserviert.4 Dennoch wird er von dem Futuristen Soffici, der ihn sehr

1 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes [1917/1918]. In: ders.: Œuvres en prose complètes. Band II.Herausgegeben von Pierre Caizergues und Michel Décaudin. Paris: Gallimard 1991 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 941–954, hier S. 948. Band II der Œuvres en prose complètes wird im Folgenden abgekürzt mit PrII. 2 Filippo Tommaso Marinetti: Prefazione futurista a ‘Revolverare’ di Gian Pietro Lucini [1909]. In: ders.: Teoria e invenzione futurista. Herausgegeben von Luciano De Maria. Milano: Mondadori 2010 (I Meridiani), S. 27–33, hier S. 28. Der Band Teoria e invenzione futurista wird im Folgenden abgekürzt mit MTI. 3 Umberto Boccioni/Carlo Dalmazzo Carrà/Luigi Russolo/Gino Severini/Giacomo Balla: La pittura futurista. Manifesto tecnico. Milano: Direzione del Movimento Futurista 1910. 4 Apollinaire geht in mehreren Artikeln auf den Futurismus ein, so beispielsweise in: Chroniques d’art. Les futuristes, erschienen in Le Petit Bleu am 9. Februar 1912 (PrII, S. 407–412), oder auch: Nos amis les futuristes, erschienen in Les Soirées de Paris am 15. Februar 1914 (PrII, S. 970–972), um nur zwei zu nennen.Laurence Campa betont: Das «Manifeste de l’antitradition futuriste n’est pas un geste d’allégeance au mouvement italien. […] Il reproche notamment au futurisme ses excès. La mention ‘à 65 mètres au-dessus du boulevard St-Germain’, qui désigne de façon humoristique le domicile d’Apollinaire […] est ironique: elle raille avec humour les déclarations de Marinetti qui disait avoir conçu son ‘Manifeste technique’ de 1902 en aéroplane, à deux cents mètres du sol.»Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire. Paris: SEDES 1996, S. 21. Michela Landi hingegen sieht im Manifeste de l’antitradition futuriste keine Parodie seitens Apollinaires, sondern «l’intenzione […] sintetica e pacificatrice.» Michela Landi: Apollinaire/Avance, retarde, s’arrête parfois. Sull’Antitradition futuriste. In: Semicerchio 42, 1 (2010), S. 46–51, hier S. 47. https://doi.org/10.1515/9783110736267-001

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I Einleitung

schätzt, der «scuola futurista» zugeordnet5 und in die Nähe des Futuristen Palazzeschi gerückt.6 Andererseits prägt er den Begriff ‘Surrealismus’, kann aber auch dieser Strömung nicht zugerechnet werden.7 Wenn Apollinaire in einer Strömung zu verorten wäre, obwohl er selbst derartige Zuordnungen ablehnt,8 müsste der ‘Orphisme’ bzw. ‘Surnaturalisme’ in Betracht gezogen werden, eine Richtung, die er selbst initiiert, ohne dass sich diese aber etablieren kann.9 Vielmehr bleibt er als Einzelfigur stehen, um die herum sich Künstler und Dichter der Avantgarde gruppieren. Zu diesen gehören Cendrars und Reverdy, die selbst wiederum keiner Avantgardebewegung uneingeschränkt zugeordnet werden können.10 Obwohl Reverdy die Frühphase des Surrealismus mit seiner image-Theorie beeinflusst und Autoren wie Breton, Aragon und Tzara Platz in seinem Journal Nord-Sud gewährt, distanziert er sich von dieser Strömung – viel inniger sind seine Beziehungen zu den Kubisten.11 Anders verhält es sich bei dem Dichter, Maler und Kunstkritiker Ar-

5 «Fu per quest’ultima virtù [la profezia nel campo dell’estetica] che quanto di buono e vitale nella scuola futurista italiana trovò sempre in lui un patrocinatore entusiasta, e alla fine un seguace che l’onora e basterebbe da solo a legittimarla.» Ardengo Soffici: Statue e fantocci. Scritti letterari [1919]. In: ders.: Opere. Band I. Firenze: Vallecchi Editore 1959, S. 422–744, hier S. 529. Band I der Opere wird im Folgenden abgekürzt mit SOI. 6 Vgl. ebda., S. 530. Außerdem stellt er Apollinaire auch implizit neben Palazzeschi, indem er Les Mamelles de Tirésias als eine «allegoria clownesca» beschreibt. Ebda., S. 532. 7 Laurence Campa hat gezeigt, dass, abgesehen von den konzeptuellen Unterschieden, Breton selbst dafür gesorgt hat, Apollinaire vom Surrealismus zu trennen. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire. 8 Apollinaire äußert sich in diesem Sinne gegenüber Jean-Marc Bernard im April 1914 über seinen Gedichtband Alcools: «Vous le classerez dans l’école poétique qui vous plaira; je ne prétends faire partie d’aucune, mais il n’en est aucune également à laquelle je ne me sente un peu attaché.» Guillaume Apollinaire: Correspondance générale. Band I: En guise d’introduction 1891–1914. Herausgegeben von Victor Martin Schmets. Paris: Honoré Champion 2015, S. 605. Laurence Campa sieht den Grund darin, dass Apollinaires Denken nicht analytisch sei und der Systematik, die einer Gruppe immer zugrundeliege, widerstreben würde: «Apollinaire, qui a toujours fait preuve d’une grande réticence envers les dogmes, les systèmes et les écoles, est davantage porté vers la poésie, sous toutes ses formes, que vers l’analyse.» Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 6. 9 In einem am 24.6.1917 in der Zeitschrift Pays abgedruckten Interview sagt Apollinaire, dass ihm die Ismen nicht viel bedeuten, doch habe er eine Präferenz für den Orphisme oder den Surnaturalisme. Gaston Picard: Interviews. M. Guillaume Apollinaire et la nouvelle école littéraire [1917]. In: PrII, S. 988–991, hier S. 989. 10 Vgl. Claude Leroy: Modernité chez Cendrars. L’amour des commencements. In: Thomas Hunkeler (Hg.): Paradoxes de l’avant-garde. La modernité artistique à l’épreuve de sa nationalisation. Paris: Classiques Garnier 2014, S. 93–107, hier S. 94. 11 Vgl. Robert W. Greene: The poetic theory of Pierre Reverdy. University of California Press: Berkeley/Los Angeles 1967, S. 45 und Andrew Rothwell: Textual Spaces. The Poetry of Pierre Reverdy. Amsterdam: Rodopi 1989, S. 224.

I Einleitung

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dengo Soffici, der zwar dem Futurismus angehört, aber von den Futuristen aufgrund seiner Kritiken große Ablehnung erfährt.12 Angesichts dieser Vielfalt an Strömungen und nicht zuordenbaren Persönlichkeiten verwundert es wenig, dass das Konzept einer Avantgarde immer wieder diskutiert, (um)definiert und kritisiert wurde und wird.13 Unabhängig davon, welche Stellung zu dieser Problematik bezogen wird, gilt die Beobachtung als Konsens, dass die Avantgarde trotz ihrer ideologisch-politischen Heterogenität14 im ästhetischen Bereich Gemeinsamkeiten aufweist. Diese werden in der Forschung vornehmlich in ihrer «Ablehnung tradierter Formen» und ihrer «Suche nach neuen Verfahren»15 gesehen, in ihrem Streben nach Ausdrucksmitteln, welche der sich im schnellen Tempo entwickelnden modernen Gesellschaft adäquat seien.16 In dieser Sichtweise dient der Moderne-Diskurs um die technischen Veränderungen und deren Einfluss auf die Lebenswelt als Erklärung für die neuen

12 Apollinaire schreibt darüber: «M. Ardengo Soffici qui, par sa critique, avait excité la colère des futuristes, est un peintre de talent et un des écrivains d’art les plus distingués en Italie. Il n’est pas un inconnu à Paris et il est lui-même au courant des tendances de la nouvelle peinture française autant que quiconque en France. Les futuristes, au demeurant, reconnaissent tous les mérites de leur adversaire. Ils ne l’en ont pas moins bâtonné parce qu’il n’était pas de leur avis et la bastonnade a beau être empreinte de courtoisie, elle est une singulière façon de forcer l’admiration.» Guillaume Apollinaire: Peintres futuristes [1911]. In: ders.: Œuvres en prose complètes. Band III. Herausgegeben von Pierre Caizergues und Michel Décaudin. Paris: Gallimard 1993 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 89. Band III der Œuvres en prose complètes wird im Folgenden abgekürzt mit PrIII. 13 Eine Auswahl: Wolfgang Asholt (Hg.): Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld. Berlin/Boston: De Gruyter 2014; Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde. Avantgardekritik und Avantgardeforschung. Amsterdam: Rodopi 2000; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Göttingen: Wallstein 2017; Michel Décaudin: De la difficulté d’être avant-garde. In: Pasquale Jannini (Hg.): Apollinaire e l’avanguardia. Roma: Bulzoni 1984, S. 59–70; Winfried Wehle: Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma ‘moderner’ Literatur und Kunst. In: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: Wilhelm Fink Verlag 1982, S. 9–41. 14 «On verra donc souvent aux révolutions formelles de l’avant-garde s’adjoindre une réflexion et un militantisme socio-politique: anarchisme de Hugo Ball ou de John Cage, communisme de Radtchenko ou d’Aragon, fascisme de Marinetti ou d’Ezra Pound, tentation nazie chez le peintre Nolde ou le cinéaste Ruttmann.» Serge Fauchereau: Avant-gardes du XXe siècle. Arts & Littérature 1905–1930.Paris: Flammarion 2010, S. 12. 15 Peter Zima: Komparatistische Perspektiven. Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Tübingen: Francke 2011, S. 31. Siehe auch Serge Fauchereau, der von einer «lutte contre les formes usées et les thèmes rebattus» spricht, Serge Fauchereau: Avant-gardes du XXe siècle, S. 11. 16 Vgl. Winfried Wehle: Einführung: Lyrik der zweiten Moderne – Wandlungen einer dissidenten Sprachbewegung im 20. Jahrhundert. In: ders. (Hg.): 20. Jahrhundert. Lyrik. Tübingen:

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I Einleitung

ästhetischen Verfahren und bildet das verbindende Element zwischen den verschiedenen Dichtern. Dabei wird der zu derselben Zeit höchst relevante Diskurs des Primitivismus, dessen Einfluss auf die bildende Kunst allgemein bekannt ist, bei der Betrachtung der literarischen Werke zumeist ausgespart. Diese Arbeit schlägt daher einen von der Forschung noch wenig beschrittenen Weg ein, indem sie sich der Ästhetik Guillaume Apollinaires vor dem Hintergrund des primitivistischen Diskurses widmet. Damit werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll die Arbeit den primitivistischen Diskurs in der Ästhetik Apollinaires aufzeigen. Untersuchungsgegenstand sind seine Gedichtbände Alcools (1913) und Calligrammes (1918) sowie seine poetologischen, kunstkritischen Schriften und diverse unkategorisierte Artikel. Dabei geht es weniger darum, umfassende Einzelinterpretationen seiner Gedichte zu liefern, als vielmehr darum, Kristallisationspunkte des primitivistischen Diskurses in seinen Gedichten aufzudecken. Dazu dient Cassirers Konzept des mythischen Denkens, das er in seinem 1925 erschienenen Band Das mythische Denken entwickelt, als Analysewerkzeug.17 Die Kategorien dieses Konzepts werden als Beschreibungskategorien für die Ästhetik Apollinaires genutzt, auf welche aus diesem Grund mit der Bezeichnung ‘Ästhetik des mythischen Denkens’ referiert wird. Cassirers Das mythische Denken steht in unmittelbarer historischer Nähe zu den Werken der oben genannten Autoren. Nicht nur in den Künsten, auch in den Wissenschaften lässt sich die Suche nach neuen Formen feststellen, die sich in dem Interesse an neuen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsformen äußert. Diese Entwicklung zeichnet sich in der Entstehung neuer Disziplinen wie der Ethnologie ab, die das Augenmerk auf die Beziehung zum ‘Anderen’ und Fremden legen. Daraus resultiert ein Bewusstsein für die Relativität des eigenen Standpunkts sowohl in den Künsten als auch in den Wissenschaften. Cassirers Kulturphilosophie hat Anteil

Stauffenburg Verlag 2010, S. 9–42. Peter Bürger weist darauf hin, dass sich Gesellschaft und Kunst gegenseitig bedingen und daher das literarische Werk «nicht einfach als Abbild, d. h. als Verdopplung der gesellschaftlichen Realität begriffen wird, sondern als deren Produkt. Er [der ideelle Gehalt bzw. das literarische Werk] ist Resultat einer Tätigkeit, die auf eine als unzulänglich erfahrene Wirklichkeit antwortet.» Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 15. Siehe auch, speziell auf Apollinaire bezogen: Abdelhakim Moucherif: La poésie apollinarienne et le monde moderne: une poétique de l’extériorité. In: Abdelaziz Amraoui/Marie-Rose Abomo-Maurin (Hg.): Littérature et réalité. Regards croisés. Paris: L’Harmattan 2018, S. 265–275. Auf Marinetti bezogen: Simona Cigliana: ‘Tutto dovete sperare dall’avvenire’. Marinetti e il mondo del futuro, tra profezia e fantascienza. In: Antonio Saccoccio/Roberto Guerra (Hg.): Marinetti 70. Sintesi della critica futurista. Roma: Armando 2014, S. 23–32. 17 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band II: Das mythische Denken. Herausgegeben von Claus Rosenkranz. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2010, im Folgenden abgekürzt mit MD.

I Einleitung

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an dieser Entwicklung in Richtung eines Kulturrelativismus, den auch Apollinaire gemeinsam mit den primitivistischen und kubistischen Künstlern durch die Auseinandersetzung mit sogenannten ‘primitiven’ Kulturen und ihrer Kunst befördert. Diese Beobachtung bildet den Hintergrund für den theoretischen Ansatz der Arbeit, die Ästhetik anhand von Cassirers Konzept des mythischen Denkens zu beschreiben. Zum anderen wird die Arbeit Parallelen in den poetischen Bestrebungen der frühen Avantgarde aufzeigen sowie eine neue Erklärung für diese Gemeinsamkeiten liefern, mit dem Ziel, somit eine weitere Perspektive auf das Phänomen der Avantgarde zu ermöglichen. Aus diesem Grund wird die Untersuchung dort, wo es sinnvoll erscheint, durch die Berücksichtigung der Werke von Blaise Cendrars, Filippo Tommaso Marinetti, Pierre Reverdy und Ardengo Soffici erweitert – Lyriker, die sich um Apollinaire gruppieren und in Dialog mit ihm stehen.18 Obwohl er keine literarische Schule begründet, nimmt Apollinaire einen entscheidenden Einfluss auf die literarische Szene. In Reverdys Worten zeigt sich, dass Apollinaire eine Kristallisationsfigur der damaligen Poesie darstellt: «Quoi d’étonnant que nous ayons jugé le moment venu de nous grouper autour de Guillaume Apollinaire. Plus que quiconque aujourd’hui, il a tracé de routes neuves, ouvert de nouveaux horizons. Il a droit à toute notre ferveur, à toute notre admiration.»19 Welch hohes Ansehen Apollinaire genießt, zeigt sich auch in den lobenden Tönen, mit denen ihn Soffici charakterisiert: «fu tra gli uomini della nostra epoca uno dei più aperti alla cultura universale, uno dei più acuti indagatori dei problemi del pensiero e dell’arte, uno dei più sensibili alle necessità del gusto e dell’ordine».20 Dabei sieht er ihn nicht nur für die französische,

18 Gaston Picard schreibt in seiner Veröffentlichung eines Interviews mit Apollinaire über ihn: «Voici donc le poète autour duquel des auteurs se groupent comme d’autres naguère, affirment-ils, autour de Verlaine. Il est le maître de toutes les questions de poésie et de peinture moderne. Il a l’un des premiers lancé ce cubisme dont le nom, même malgré lui, a fait, et plus fortement encore fera fortune. Les gazettes comme les revues sont pleines de ses propos et de ses inventions.» Gaston Picard: Interviews. M. Guillaume Apollinaire et la nouvelle école littéraire. In: PrII, S. 990. 19 Pierre Reverdy: ohne Titel. In: Nord-Sud I (15.03.1917). In: ders.: Œuvres complètes. Band I. Herausgegeben von Etienne-Alain Hubert. Paris: Flammarion 2010, S. 457. Band II der Œuvres complètes von Reverdy werden im Folgenden abgekürzt mitROCI. Auch im folgenden Zitat wird deutlich, dass Apollinaire als Zentrum der frühen avantgardistischen Dichtung gesehen wird: «On s’est groupé autour d’Apollinaire. Ce n’est pas un symbole, c’est une réalité.» Pierre Reverdy: La Faune de Flore [1917]. In: ROCI, S. 461. 20 Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 528. Umgekehrt schätzt auch Apollinaire Soffici sehr: «Soffici, cet esprit si intéressant que goûte notre Arbouin, Soffici qui dessina la couverture des anciennes éditions de la Plume, Soffici, qui est un des meilleurs peintres de l’Italie contemporaine et qui en est un des littérateurs les plus distingués après avoir peint à

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I Einleitung

sondern für die gesamte europäischeAvantgarde als Leitfigur.21 In Sofficis Werk ist Apollinaires Einfluss deutlich zu spüren, sodass Pier Vincenzo Mengaldo ihn als «un Apollinaire italiano in formato ridotto» bezeichnet.22 In dieser Arbeit sind daher Dichter verschiedener Nationalitäten vertreten. Damit kann gezeigt werden, dass es sich bei der ‘Ästhetik des mythischen Denkens’ nicht lediglich um ein nationales Phänomen handelt. Außerdem wird damit dem kosmopolitischen Charakter Apollinaires und der Avantgardebewegungen Rechnung getragen. Soffici sieht Apollinaire als die zentrale Figur, von der aus und durch die die verschiedensten künstlerischen Strömungen gingen. Er sei «come un centro ricettore insieme e propulsore di quante correnti vibravano per ogni parte del nostro mondo, e gli valse, da chi viveva nella sua stessa sfera, la simpatia e l’ammirazione riconoscente».23 Aufgrund dieser Funktion als «centro ricettore» der frühen Avantgarde nimmt er in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Position ein, von der aus Verbindungslinien zu den anderen Autoren aufgedeckt werden. Die Auswahl der Werke konzentriert sich daher im Wesentlichen auf den Wirkungszeitraum Apollinaires. Werke, die eindeutig dem Surrealismus zugeordnet werden können, werden daher nicht mehr berücksichtigt. In der Auseinandersetzung mit alternativen Denkformen ist Cassirer keineswegs eine Einzelfigur. Er gesellt sich zu einer Reihe an Wissenschaftlern der Zeit wie Edward B. Tylor (Primitive Culture,1871), James George Frazer (The Golden Bough, mehrere, immer weiterentwickelte Versionen erschienen zwischen 1890–1936), Lucien Lévy-Bruhl (Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, 1910 und La mentalité primitive, 1922) und Franz Boas (z. B. The mind of Primitive Man, 1911), um nur einige zu nennen. Cassirers Arbeiten zum Mythos eignen sich für die Erschließung avantgardistischer Literatur aufgrund der Einbettung des mythischen Denkens in seine Kulturphilosophie, welche Parallelen

Paris une importante série de natures mortes, s’en retourne à Florence où il dirige Lacerba.» Guillaume Apollinaire: Soffici [1914]. In: PrII, S. 768. Und: «M. Ardengo Soffici est un des écrivains les plus sympathiques de la jeune école italienne. C’est encore un des meilleurs amis de la France qu’il connaît bien et où il compte beaucoup d’amitiés.» Guillaume Apollinaire: ohne Titel. In: L’Europe nouvelle (13.07.1918). In: PrII, S. 1457. Lobende Worte auch in ders.: Peintres futuristes. In: PrIII, S. 89. 21 Vgl. «E difatti, se qualcuno della nostra generazione, meritò l’appellativo onde Nietzsche amò definirsi, di ‘buon europeo’, questi fu senza dubbio Apollinaire.» Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 528. 22 Pier Vincenzo Mengaldo (Hg.): Poeti italiani del novecento. Milano: Mondadori 1987 (I Meridiani), S. 337 f. Über Sofficis Verhältnis zu Apollinaire siehe das Kapitel ‘Apollinaire e Soffici. Deux amis, deux vies parallèles’. In: Mario Richter: Apollinaire. Le renouvellement de l’écriture poétique du XXe siècle. Paris: Classiques Garnier 2014, S. 315–330. 23 Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 528.

1 Positionsbestimmungen

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zu den ästhetischen Überlegungen der hier behandelten Autoren aufweist. Eine Einführung dazu gibt Kapitel I.3, nachdem in Kapitel I.2 die Konfigurationen des primitivistischen Diskurses umrissen worden sind. Welche Rolle dieser für die Konzepte einer avantgardistischen Ästhetik der Autoren spielt und wie sich ihr ästhetisches Selbstverständnis gestaltet, ist Thema des Kapitels II. Dieses Kapitel bildet die Grundlage für die Untersuchungen der poetischen und poetologischen Werke anhand der Kategorien des mythischen Denkens. In Kapitel III werden die von Cassirer entwickelten Kategorien des mythischen Denkens mit den Texten der Autoren in Beziehung gesetzt. Nachdem im Kapitel III.1 die Grundstrukturen des mythischen Denkens vorgestellt worden sind, werden im darauffolgenden Kapitel die Formen des mythischen Denkens in der Literatur, wie Bewegung, Transformation und Metamorphose und Sprachmagie betrachtet. Auf die Gestaltung von Zeit und Raum geht Kapitel III.3 ein. Kapitel IV schließt mit einer Betrachtung der Subjektkonstitution in Apollinaires Gedichten, was zu der abschließenden Frage führt, wie das Verhältnis zur Moderne und zu einer vermeintlich mythischen Vergangenheit in der Ästhetik des mythischen Denkens zu fassen ist.

1 Positionsbestimmungen 1.1 Positionierung in der Mythosforschung Die Mythosforschung ist ein fester Bestandteil der Literaturwissenschaften, dementsprechend zahlreich sind die Publikationen, die sich mit der Bedeutung des Mythos in den Werken der hier behandelten Autoren beschäftigen.24 Dabei lassen

24 Vgl. die folgenden repräsentativen Studien: Madeleine Boisson: Apollinaire et les mythologies antiques. Paris: Schena 1989. Jean Burgos: Apollinaire et le recours au mythe. In: Michel Décaudin (Hg.): Du monde européen à l’univers des mythes. Actes du Colloque de Stavelot 1968. Paris: Minard 1970, S. 117–131. Nathalie Goodisman Cornelius: A Semiotic Analysis of Guillaume Apollinaire’s Mythology in Alcools. New York: P. Lang 1995. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools. Tübingen: Narr 2003. Tatiana Cescutti: Les origines du futurisme. Marinetti, poète symboliste (1902–1908). Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne 2008. Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello. Firenze: Le Monnier 2002. Jean Burgos: Cendrars et la poétique du phénix: à propos de L’Homme foudroyé. In: Recherches interdisciplinaires sur les textes modernes 15 (1989), S. 21–36. Delphine Gillès de Pélichy: L’absence de mythe, un mythe. Étude comparative entre Guillaume Apollinaire et Pierre Reverdy. In: Alberto Navarro González/Juan Carlos Pueo Domínguez u. a. (Hg.): Mitos: Actas del VII Congreso Internacional de la Asociación Española de Semiótica (Investigaciones

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I Einleitung

sich zwei Tendenzen feststellen: Die meisten Monographien und Aufsätze befassen sich entweder mit der Analyse mythischer Motive, oft jedoch, ohne diese unter dem Aspekt ihrer poetologischen Relevanz zu untersuchen, oder mit Mythos-analogen Textstrukturen. Bei letzterer Variante werden die literarischen Texte aufgrund dieser formalästhetischen Bezugnahmen auf Strukturelemente des Mythos als Versuche von Mythenbildung betrachtet und positiv als Kompensation und Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen einer sich immer weiter profanisierenden Moderne gesehen. Arbeiten, die den Mythosbegriff für die Literaturwissenschaft nutzbar machen, begegnen zunächst dem Problem der Unmöglichkeit einer Definition des Begriffs ‘Mythos’, wie Bruce Lincoln in seiner Einleitung zu Theorizing Myth pointiert bemerkt: «It would be nice to begin with a clear and concise definition of ‘myth’, but unfortunately that can’t be done.»25 Diesem Problem stellt sich die vorliegende Arbeit nicht, da sie nicht primär auf Theorien des Mythos aufbaut, sondern auf den in den verschiedenen theoretischen Texten beschriebenen Formen des mythischen Denkens. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Bereiche der mythischen Motive oder der Mythopoiesis nicht berührt – mythische Motive der Literatur können zwar durchaus thematisiert werden, aber immer unter der Perspektive des mythischen Denkens als einer literarischen Denkfigur. Die wenigen Arbeiten, die das spezifisch cassirersche mythische Denken für die Textanalyse in der Literaturwissenschaft nutzbar machen, sehen in den literarischen Texten ein reales Fortleben mythischer Denkformen in der Moderne. So betrachtet Herwig Gottwald in seiner auf den deutschsprachigen Raum bezogenen Arbeit Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur einzelne Werke moderner Literatur als kulturelle «Residuen für mythisches Denken nach der Aufklärung.»26 András Horn stützt sich in seinem Buch Mythisches Denken und Literatur hauptsächlich auf anthropologischethnologische Kultur- und Zivilisationstheorien und bezieht mit seinem Begriff «Tiefenperson» psychoanalytisches Gedankengut in seine Überlegungen mit ein. Das Ziel seines Buches ist es ebenfalls, in der Literatur Erscheinungen mythischen Denkens, welches er in Anlehnung an Heinz Werner als «primitiven Geist» versteht, nachzuweisen und zu belegen.27 Der Hispanist Gustavo Correa hingegen

Semióticas VII) celebrado en la Universidad de Zaragoza del 4 al 9 de noviembre de 1996. Zaragoza: Asociación espanõla de semiótica 1998, S. 483–488. 25 Bruce Lincoln: Theorizing Myth. Narrative, Ideology and Scholarship.Chicago: The University of Chicago Press 1999, S. IX. 26 Herwig Gottwald: Spuren des Mythos in der deutschsprachigen Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 333. 27 András Horn: Mythisches Denken und Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 16.

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sieht von solchen essentialistischen Vorstellungen ab und nutzt das cassirersche mythische Denken als Analysewerkzeug für die Lyrik García Lorcas.28 Die vorliegende Arbeit weicht von diesen Ansätzen – mit Ausnahme von Correas Studie – jedoch ab, indem sie nicht die Absicht hat, die als real, substantialistisch gedachte Existenz der mythischen Denkformen in der modernen Literatur nachzuweisen. Solche Arbeiten unterscheiden sich gedanklich kaum von den zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorherrschenden Theorien, in denen versucht wird darzustellen, inwiefern sich etwa in der Kunst der ‘Primitiven’, Geisteskranken und Kinder etwas von einem ‘ursprünglichen’ Menschen wiederfinden lasse. Stattdessen wird das mythische Denken im Kontext des primitivistischen Diskurses betrachtet, unter dem die Aneignung und Konstruktion mythischer Wahrnehmung verstanden wird.

1.2 Die Ästhetik des mythischen Denkens als ein Beitrag zur Idee eines ‘Literarischen Primitivismus’ Die Untersuchung der Einflüsse sogenannter ‘primitiver’ Kunstwerke auf entstandene Kunstrichtungen, häufig zusammengefasst unter dem Begriff ‘Primitivismus’, ist längst ein erschlossenes Gebiet der Kunstgeschichte: Als kunsthistorischer Begriff in einer Monographie setzt sich ‘Primitivismus’ zum ersten Mal 1966 mit Goldwaters Studie Primitivism in Modern Art durch.29 Noch recht eng gefasst ist der Primitivismus-Begriff in dem für die Kunstgeschichte wegweisenden Ausstellungskatalog Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts (1984) von William Rubin, da er allein auf die Rezeption von afrikanischen und ozeanischen Formgedanken durch europäische Künstler beschränkt ist.30 Im Laufe der Zeit erweitert sich der Begriff. Inzwischen berücksichtigt er auch die Änderung des eigenen Kunstverständnisses in Auseinandersetzung mit dem ‘Anderen’. So heißt es beispielsweise in der Anthologie Primitivism and Twentieth-century Art: «When we speak of Primitivism, we refer not only to artists’ use of formal ideas from the works of so-called Primitive cultures, but also to a complex network of attitudes about the processes, meanings, and functions of art, and about culture itself.»31 Mit der Aneignung und

28 Gustavo Correa: Poesía mítica di Federico García Lorca. Madrid: Editorial Gredos 1970. 29 Vgl. Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 13–27, hier S. 16. 30 William Rubin: Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München: Prestel 1984. 31 Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history. Berkeley: University of California Press 2003.

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Transformation des ‘Fremden’ und der Reflexion darüber, inwiefern das Kunstverständnis relativ zum Weltverständnis ist und damit als ein Ergebnis kultureller Formung zu verstehen sei, öffnet sich der Primitivismus-Begriff einem Komplex, der sich mit der Wahrnehmung und dem Denken der ‘primitiven’ Kulturen beschäftigt. In diesem Sinne definiert sich der Primitivismus nicht als «eine Geschichte der Kunstformen der Naturvölker», vielmehr umfasst er «den Diskurs über die Wahrnehmung und Rezeption ‘primitiver Kunst’»,32 wie es beispielsweise beim Kubismus der Fall ist, der sich an der Formsprache der afrikanischen und ozeanischen Kunst inspiriert. In der jüngeren Forschung wird verstärkt reflektiert, dass ‘Primitivismus’ nicht nur ein Phänomen der bildenden Kunst darstellt: Der von der Germanistin Nicola Gess herausgegebene Band Literarischer Primitivismus liefert Ansätze, den Begriff auch für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen, und gibt Hinweise zur Verbindung zwischen Theorien des mythischen Denkens und der literarischen Avantgarde.33 Ein Problem ist, dass das kunsthistorische ‘Primitivismus’-Konzept nicht ohne weiteres auf die Literatur übertragen werden kann, da es der kunsthistorischen Auseinandersetzung um den Primitivismus vorrangig um die «Frage nach dem Vorbild-Charakter der ‘primitiven Kunst’ für moderne Künstler»34 gehe. Eine literaturhistorische Auseinandersetzung mit dem Primitivismus lässt sich nicht unter der Fragestellung durchführen, inwiefern die Dichtung der ‘Primitiven’ Vorbild und Inspiration für die Dichtung der europäischen Schriftsteller ist.35 Nur in Ausnahmefällen orientieren sich die Autoren an der Dichtung der als ‘primitiv’ bezeichneten Völker36 – dies scheitert allein am Nichtbeherrschen der afrikanischen Sprachen und der daher sehr geringen Kenntnis dieser Literaturen –, deren Vorliegen in schriftlicher Form vorausgesetzt. Gess macht deutlich, dass es im ‘literarischen Primitivismus’ daher nicht vorrangig um die «Nachahmung von Objektqualitäten» gehen könne, wie dies

32 Claudia Öhlschläger: Abstraktion im Licht der Faszination. Wilhelm Worringer am Ort des Primitivismus. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 59–73, hier S. 61. 33 Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013. Ein erster Versuch in diese Richtung stammt von Michael Bell. Michael Bell: Primitivism. London: Methuen 1972. 34 Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, S. 16. 35 Vgl. ebda., S. 17. 36 Wie etwa Cendrars, der sich ansatzweise an mündlichen Überlieferungen und Übersetzungen orientiert. Vgl. dazu Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara. Dakar/Abidjan/Lomé: Nouvelles éditions africaines 1981, S. 105 und 109.

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bei den primitivistischen Strömungen der Kunst der Fall ist, sondern um die «Aneignung einer vermeintlich ‘primitiven’ Weltwahrnehmung und -anschauung».37 Erhard Schüttpelz zählt dazu auch den «Rekurs auf ein vorgeblich ‘primitives Denken’».38 Es mangelt allerdings noch an einer auf die avantgardistische Literatur bezogenen Analyse sowie an einem Instrumentarium für eine solche Analyse. Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit schließen, indem sie die Erscheinungsformen ‘mythischen Denkens’ in der Avantgardelyrik und die Partizipation der Dichter am primitivistischen Diskurs zusammendenkt. In der ‘Ästhetik des mythischen Denkens’ zeigt sich, inwiefern der primitivistische Diskurs, also die Vorstellungen über die Wahrnehmung, Mythen und Glaubensvorstellungen der Naturvölker und anderer ‘primitiver’ Diskursfiguren in den ästhetischen Ansichten und Produkten der Dichter Eingang gefunden hat bzw. gespiegelt wird. Dies darf jedoch eine Rezeption der ‘primitiven’ Kunstwerke nicht ausschließen, denn das Interesse der Literatur an einem ‘primitiven’ Weltbild39 steht historisch in einem direkten Zusammenhang mit den Reflexionen und Werken der bildenden Künstler: Die kubistischen Künstler wie etwa Picasso und Braque pflegen enge Beziehungen zu Apollinaire, Reverdy und Soffici. Es ist daher naheliegend, dass sich das Phänomen, das der literarische Primitivismusbegriff umschreibt, der in Gess’ Band entwickelt wird, letztlich auch in der Kunst wiederfindet. Denn auch hier beschränkt man sich nicht nur auf die Nachahmung ‘primitiver’ Kunstwerke, wie die folgende Beobachtung Colin Rhodes’ bestätigt: there is a large body of Primitivist art, particularly among Dadaists and Surrealists, which bears no direct relationship to primitive art – its Primitivism lies in the artists’ interest in the primitive mind and it is usually marked by attempts to gain access to what are considered to be more fundamental modes of thinking and seeing.40

Rhodes liefert mit seiner Beobachtung, der Primitivismus äußere sich in der Suche nach fundamentalen Denk- und Sehweisen, eine weitere Dimension des Primitivismusbegriffs, die es ermöglicht, sowohl den künstlerischen als auch den literarischen Primitivismus zu fassen. Das Phänomen des Primitivismus umfasst mehr als einen Bereich und lässt sich nur in der Resonanzbeziehung zwischen Künstlern und Schriftstellern und dem wissenschaftlichen Kontext der Zeit verstehen. Die in dieser Arbeit untersuchte Poetik des mythischen

37 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, in: Dies. (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 1–9, hier S. 3. 38 Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, S. 17. 39 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 2. 40 Colin Rhodes: Primitivism and modern art, London: Thames & Hudson 2005, S. 7 f.

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Denkens ist, wie der Primitivismus der Kunstgeschichte, Teil eines mit der Avantgarde entstandenen Diskurses. Dass die Avantgarde in diesem Diskurs eine tragende Rolle spielt, deutet sich in der romanistischen Avantgardeforschung in den wenigen Untersuchungen an, welche sich dem Interesse der frühen Avantgarde an der ‘primitiven’ Kunst widmen.41 Zu diesem Diskurs gehört auch, was die Philosophie und Ethnologie als ‘primitives Denken’, ‘mythisches Denken’ oder ‘wildes Denken’ beschreiben. Obwohl die Kunst in der Ethnologie nicht als ein autonomer Bereich betrachtet wird, bezieht «sich der gesamte Primitivismusdiskurs bis weit in die 1920er-Jahre fast ausschließlich auf die zeitgenössische ethnologische Literatur.»42 Auch aufgrund des regen Austauschs zwischen Schriftstellern und bildenden Künstlern muss daher von einem von der Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft gemeinsam vollzogenen ‘Primitive Turn’ gesprochen werden.

1.3 Problematik des Begriffs ‘Primitivismus’ Da ‘Primitivismus’ ein in der Kunstgeschichte historisch gewachsener Begriff ist, wird er auch heute noch weitergeführt, trotz der problematischen Konnotationen, die er mit sich bringt. ‘Primitiv’ ist mit einer Semantik des Niederen und Unterentwickelten versehen und transportiert eine ethnozentristisch verankerte Geringschätzung der derartig bezeichneten Kunst.43 Zur Verdeutlichung dieser

41 Ein sehr frühes Beispiel ist der kurze Aufsatz des Apollinaire-Forschers Michel Décaudin: Guillaume Apollinaire devant l’art négre. In: Présence Africaine 2 (1948), S. 317–324. In ihrem Kapitel ‘Arts nègres/barbaries germaniques’ spricht Annette Becker die Rolle Apollinaires für das Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende Interesse an der indigenen Kunst an und gibt interessante Hinweise auf semantische Überblendungen mit Charakterisierung der Deutschen während des Ersten Weltkriegs. Leider untersucht sie den zugrundeliegenden Diskurs nicht näher und gibt keinen Hinweis auf einen Einfluss auf seine Ästhetik. Annette Becker: La Grande Guerre d’Apollinaire: Un poète combattant. Paris: Éditions Tallandier 2014. Vereinzelt thematisiert Timothy Mathews den Einfluss des Interesses an indigener Kunst: Timothy Mathews: Reading Apollinaire. Theories of poetic language. Manchester: Manchester University Press 1987, S. 104 ff. 42 Doris Kaufmann: ‘Primitivismus’: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930. in: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 93–124, hier S. 107. 43 «Die in der Rezeption des Primitivismus verankerte, entwicklungsgeschichtliche Anordnung von früh/primitiv und spät/zivilisiert wird, wie Wolfgang Riedel gezeigt hat, zuweilen mit einer Semantik belegt, die das Frühe als das Einfache, Unentwickelte, das Späte als das Fortgeschrittene, das Komplexe verstanden wissen will.» Claudia Öhlschläger: Abstraktion im Licht der Faszination. Wilhelm Worringer am Ort des Primitivismus, S. 6.

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Problematik identifiziert Francis Hsu eine Reihe von Synonymen für das Adjektiv ‘primitiv’: non-literate, lower, simple, […], small-scale, isolated, arrested in development, folk, […], lacking in historical records, […] societies in which social relations are based primarily on kinship, […], lacking in literature, […], non-urban and tribal, […], one endowed with overpowering sense of reality, where everyday facts have religious and ritual covering, those who endow all nature with spirit life […]44

Einige dieser Assoziationen sind weitläufig darauf zurückzuführen, dass die Beschäftigung mit der ‘primitiven’ Kunst im Kontext von evolutionistischen Modellen beginnt und die indigene Kunst demnach häufig als «arts produced by peoples whose cultures were still alive and vital and who were seen as throwbacks to some sort of primordial state»45 gesehen wird. Bis in die Mitte der 60er Jahre, konstatiert Doris Kaufmann, sei in den wissenschaftlichen Arbeiten dieses «dichotome Grundmodell von primitiv versus zivilisiert, unterentwickelt versus entwickelt, einfach versus differenziert»46 weit verbreitet. Doch ist nicht der gesamte primitivistische Diskurs von diesem dichotomen Modell geprägt, dieses bildet vielmehr den verbreiteten gedanklichen Hintergrund.47 Auch die Kritik am Umgang mit dem ‘Primitiven’ und dessen Verständnis müssen als Teil des Diskurses angesehen werden, denn bereits zur selben Zeit, in der sich der primitivistische Diskurs entwickelt, werden kritische Stimmen laut, die sich gegen solche vereinfachenden Dichotomien wenden. Diese Einwände stammen vor allem aus den Reihen der Künstler und Kunstwissenschaftler, sodass sie als Katalysatoren für die Kritik am Eurozentrismus angesehen werden können, die mit den Postkolonialismus-Debatten der 70er Jahre populär wird und die Problematik des Primitivismus-Begriffs verstärkt ins Bewusstsein ruft.

44 Francis L.K. Hsu: Rethinking the Concept ‘Primitive’. In: Current Anthropology 5, 3 (1964), S. 169–178, hier S. 173. Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 93 f. 45 Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. XV. 46 Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 93. 47 Vgl. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 6.

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Obwohl, wie diese Arbeit zeigen wird, die Auseinandersetzung mit dem Fremden bei vielen Künstlern und Autoren der Avantgarde von kulturrelativistischen Ansätzen begleitet ist, sind Bezüge «des ästhetischen Primitivismus zum rassenbiologischen Diskurs» nicht in jedem Fall vollkommen auszuschließen.48 Dazu ist ebenfalls anzumerken, dass die Autoren den Begriff «nègre» oft nicht in einem spezifisch geographischen oder politischen Sinne verwenden, sondern damit schlichtweg alles bezeichnen, das nicht ‘weiß’ ist.49 Schüttpelz sieht die «literarische Beschwörung des Primitiven […] in der Moderne» nicht zu unrecht als «eine Montage und Variation von Klischees» an.50 Wie Blachère zeigt, rekurrieren Apollinaire und Cendrars auf Klischees und vorherrschende Vorstellungen über die ‘primitiven’ Kulturen, auch wenn diese von der Ethnologie generierten Gemeinbilder fruchtbar gemacht und positiv umgewertet werden.51 Neben der Bedeutung des Traums bei Reverdy ist die Ansicht, dass die Sprache der indigenen Völker fast ausschließlich konkret sei, ein weiteres Beispiel dafür. Letztere Vorstellung übernimmt u. a. Cendrars in seine eigene poetische Sprache.52 Ein anderes Beispiel ist die Assoziation der schwarzen Menschen mit Energie, Leidenschaft und Vitalität.53 Der verbreiteten rassistischen Mythologie zum Trotz – die Öffentlichkeit bezieht ihre Kenntnisse über Afrika hauptsächlich aus den kolonialistischen Romanen – wendet sich Cendrars jedoch auch gegen die geläufigen Meinungen, wie sich in seinem Gedicht ‘Continent noir’54 aus den Poèmes nègres zeigt.55 Das Gedicht erscheint als eine Aufzählung von Vorurteilen und Informationen, die

48 Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische ‘Anti-Kunst’ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 315–333, hier S. 328. 49 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 10 f. 50 Erhard Schüttpelz: Moderne im Spiegel des Primitiven, zitiert nach: Marcus Hahn: Primitivismus und Literaturtheorie. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 125–137, hier S. 130. 51 Dabei wurden die ethnologischen Erkenntnisse der Zeit von den Autoren nicht unbedingt genau studiert und rezipiert, vielmehr handle es sich um ein «mirage anthropologique», der die Künstler beeinflusst habe. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 19. 52 Ebda., S. 8. 53 Ebda., S. 89–91. 54 Blaise Cendrars: ‘Continent noir.’ In: ders.: Poésies complètes avec 41 poèmes inédits. Herausgegeben von Claude Leroy. Paris: Denoël 2001, S. 117 f. Die Poésies complètes von Cendrars werden im Folgenden abgekürzt mit PC. 55 Vgl. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 81.

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durch pseudowissenschaftliche Literatur und Hören-Sagen verbreitet sind und die Cendrars in seiner ironischen Zusammenstellung ihrer Lächerlichkeit preisgibt.56 In den Gedichten ‘Les Boubous’ und ‘Bijou-concert’ drückt sich die Sympathie aus, die er den Schwarzen entgegenbringt.57 Cendrars greift auf die bestehenden rassistischen Stereotype zurück, verleiht ihnen aber oft eine andere Bedeutung.58 Dies betrifft beispielsweise die Vorstellung, im schwarzen Menschen sei noch eine frühere Stufe der Menschheit vorzufinden und er befinde sich in einem Stadium der Naivität und des Kindlichen. Bei Cendrars finden wir eine Fortführung dieses Gedankens, jedoch erscheint, so Blachère, diese Naivität nicht als ein Mangel, sondern im Gegenteil als Reichtum, da das Kindsein von Cendrars mit dem poetischen Zustand gleichgesetzt wird.59 Doch auch bei einer positiven Identifikation mit dem Fremden handelt es sich unweigerlich um eine Übertragung der eigenen Kategorien auf das Fremde und um eine Aneignung der indigenen Kunst nach eigenen Maßstäben. Selbst wenn rassistische Begriffe und Klischees in der Ästhetik der Avantgarde positiv umkodiert sind, werden damit bestehende Stereotype perpetuiert. Es wäre daher kurzsichtig, die diskriminierenden und auch stereotypisierenden Implikationen in der Ästhetik der Avantgarde von sich zu weisen. Dies müsste in einer sich an postkolonialen Theorien orientierenden Untersuchung näher betrachtet werden – einem weiteren Forschungsdesiderat, welches diese Arbeit aufzeigt, aber nicht nachkommen kann, da sie sich vordergründig auf die Entwicklung und Beschreibung der Ästhetik konzentriert. Ein Entwurf in diese Richtung liegt von Burkhard Meyer-Sickendiek vor, der sich mit der «Frage nach der Figur der ‘Diskriminierung’ als einem Darstellungsprinzip moderner Avantgardekunst»60 beschäftigt. In dieser Studie arbeitet er mit Kristevas Begriff der abjection und Judith Butlers Konzept der Performativität, um die Verbindung dieser Ästhetik zur Konstitution einer modernen Subjektivität ziehen zu können,61 und kommt zu dem Schluss, dass ras-

56 Ebda., S. 82. 57 Ebda., S. 84 f. 58 Ebda., S. 89. Dies trifft in besonderem Maße auf Marinetti zu, in dessen Werk die Projektionen Afrikas im Unterschied zu Apollinaire, Cendrars, Reverdy und Soffici keinen reflexiven Charakter haben. Dazu Kai Mikkonen: Artificial Africa in the European avant-garde: Marinetti and Tzara. In: Sascha Bru/Jan Baetens (Hg.): Europa! Europa? The avant-garde, modernism, and the fate of a continent. Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 391–407. 59 Ebda., S. 88. 60 Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische ‘Anti-Kunst’ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung, S. 319. 61 Ebda., S. 328 f.: «Im Sinne einer Verwerfung dient es [das Abjekte bei Kristeva] der Konstitution einer modernen Subjektivität, im Sinne einer erneuten Besetzung des Verworfenen dient es der Charakterisierung einer ‘revolutionären’ Ästhetik des Abjekten, welche Kristeva sowohl

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sistische Klischees unumgänglich scheinen: «Doch ohne eine derart subversive Partizipation am rassistischen Klischee ist die Wirkkraft einer modernen Ästhetik des Primitivismus wohl kaum zu haben.»62 Obwohl der Begriff ‘primitiv’ aus historischen Gründen weiterverwendet wird, distanziert sich die vorliegende Arbeit ausdrücklich von rassistischen Begriffen und ihren Konnotationen.63 Für die Beschreibung der Ästhetik der Avantgarde-Autoren wird hier das Adjektiv ‘mythisch’ bevorzugt, wobei damit auf das der Arbeit zugrundeliegende Konzept des cassirerschen mythischen Denkens verwiesen wird. Zudem lässt sich somit trotz der Verwandtschaft die Unterscheidung zum kunsthistorischen Begriff stärker betonen, denn die Ästhetik des mythischen Denkens verweist nicht allein auf eine Kunst der indigenen Völker, sondern vielmehr auf die Strukturen, die aus einem alternativen Denken entstehen, auf bestimmte Denk- und Bewusstseinsmuster, die sich auf die Kunstwerke und Literatur übertragen lassen. Einige der hier vorgestellten Gedankengänge und Formulierungen der Zeit sind von einem heutigen Standpunkt aus betrachtet ideologisch und begrifflich problematisch. Die Texte liefern jedoch Aufschluss über die Erkenntnisse und Vorstellungen der damaligen Zeit und geben Hinweise auf die geistige Landschaft, welche die Künstler und Schriftsteller umgibt, als sie sich ihrerseits mit indigenen Kulturen auseinandergesetzt haben. Die Arbeit distanziert sich von rassistischen Gedanken, auch wenn sie diese zitiert. Es geht darum, zu zeigen, welche Vorstellungen man von dem ‘Primitiven’ zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte. Es soll nicht gezeigt werden, was ‘primitiv’ ist, sondern was geglaubt wurde, was ‘primitiv’ sei.

als Revolution der poetischen Sprache am Beispiel Lautréamonts, Mallarmés und Baudelaires als auch als Literatur des Grauens und des Abscheus am Beispiel von Céline erarbeitet hat.» 62 Ebda., S. 331. 63 Ich schließe mich an dieser Stelle den Herausgebern der Anthologie Primitivism and Twentieth-century Art an, die zu diesem Thema folgendermaßen Stellung nehmen: «for historical purposes we retain the word Primitivism and Primitive art […]. The first is a cultural concept that clearly says what it means; the second is a historical designation which, although burdened by all sorts of negative connotations, is useful for its brevity and conciseness. (It is understood, of course, that we do not feel that either the art in question or the peoples who produced it should be considered ‘primitive’ in the sense of crude, unformed, etc.).» Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. XIV.

2 Der primitivistische Diskurs: Konfigurationen des Primitive Turn

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2 Der primitivistische Diskurs: Konfigurationen des Primitive Turn Die Faszination für das vermeintlich ‘Primitive’ kann Anfang des 20. Jahrhunderts bereits auf eine lange Tradition in Literatur, Kunst und philosophischen Erörterungen zurückblicken. Man denke allein an Autoren wie Nerval, Lamartine und Flaubert und den Orientalismus des 19. Jahrhunderts, der zumeist eine realistisch wirkende Illusion und Traumwelt fremder Kulturen zu erzeugen sucht und Bilder für die Sehnsucht und Irritationen angesichts des Fremden bereithält. Das Motiv des ‘edlen Wilden’, das in der französischen Literatur vor Jean-Jacques Rousseau bereits in den Essais von Montaigne zu finden ist,64 und die Beschreibung exotischer Gepflogenheiten und Bräuche (z. B. in Montesquieus Lettres persanes) dienen dazu, moralische und sittliche Fragen zu erörtern. Was berechtigt, angesichts dieser bis in das Altertum zurückreichenden Tradition65 von einem Primitive Turn im 20. Jahrhundert zu sprechen? Der Primitivismus des frühen 20. Jahrhunderts ist keine nahtlose Fortsetzung des Exotismus des 18. und 19. Jahrhunderts.66 Vielmehr vollzieht sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein konzeptioneller Umbruch, der mit der beginnenden Bemühung um eine wissenschaftliche Erforschung der ‘primitiven’ Phänomene in den Disziplinen der Ethnologie, Soziologie, Völkerpsychologie, Philosophie und der Kunstgeschichte zusammenhängt.67 Waren ‘primitive’ Objekte vorher hauptsächlich Kuriositäten, füllen sie nach und nach die Museen. Bereits vor 1914 entwickelt sich eine veritable Sammelleidenschaft für die noch als «art nègre» bezeichnete indigene Kunst.68 Ab den 20er Jahren widmet sich verstärkt die Entwicklungs- und

64 Vgl. die Essais ‘Des Cannibales’ und ‘Des coches’. 65 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische ‘Anti-Kunst’ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung, S. 316. 66 Vgl. Marcus Hahn: Primitivismus und Literaturtheorie, S. 129. Auch Klaus Kiefer unterscheidet zwischen Exotismus und Primitivismus, wobei ersterer «sich per definitionem durch eine spezifische Referenzialität im Rahmen einer Abbildästhetik aus[weist]. Man besetzt Werkstrukturen welcher Art auch immer (Motive, Personal, Raum/Zeit usw.) mit fremdländischem Material […]. Exotismus ist – mit einem Wort gesagt – ethnozentrisch. Exotismen gehören eher zum decorum, ja zum raffinement eines Werks». Im Gegenzug dazu nimmt der Primitivismus «von vorneherein vom Eigenen Abstand, so daß das Fremde tiefer in die kulturelle Substanz eindringt, ja sie transformieren kann.» Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 147. 67 Vgl. Marcus Hahn: Primitivismus und Literaturtheorie, S. 129 und Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 147 f. 68 Vgl. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 8.

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Gestaltpsychologie sowie die Psychiatrie dem ‘Primitiven’.69 Nicola Gess sieht das ‘primitive’ Denken als ein Paradigma des frühen 20. Jahrhunderts, «insofern es ganze Disziplinen, deren Fragestellungen und Antworten konfiguriert.»70 Im Gegensatz zum Exotismus, der eher als ein Manierismus zu fassen sei, wirke der Primitivismus epochenbildend, so Klaus Kiefer.71 In ähnlicher Weise verstehen Doris Kaufmann den Primitivismus72 und Michael Rössner das mythische Denken73 als eine Denkfigur. Die Art der Thematisierung des ‘Primitiven’ in der Philosophie und die Herausbildung der Ethnologie als Wissenschaftszweig zeugen davon, dass das Interesse nunmehr den Strukturen des ‘primitiven’ Denkens und Wahrnehmens zugewandt ist. Doris Kaufmann nennt zwei Problemfelder, die zur Entstehung des Primitivismus als einer paradigmatischen Denkfigur führen und die daher den Hintergrund für die folgenden Überlegungen bilden: erstens, «die zentrale Frage nach der Genese, der Existenz und den Wirkungsweisen ‘anderer’ Denk- und Bewusstseinsformen».74 Diese Frage wird zumeist anhand eines evolutionistischen Schichtenmodells beantwortet. Die Bestimmung des ‘Primitiven’ als Zeitliches, als entwicklungsgeschichtlich Vorgelagertes ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal des Primitivismus vom Exotismus, der vor allem die räumliche Distanz betont.75 Daraus ergibt sich zweitens die erkenntnistheoretische Frage, wie sich überhaupt andere Denkformen erkennen lassen, «wenn der untersuchende Wissenschaftler selbst einer historisch bestimmten europäischen Wahrnehmungs- und Denkform angehört.»76 Diese erkenntnistheoretische Frage ermöglicht sowohl in der Wissenschaft und, wie sich zeigen wird, auch in der Kunst einen zunehmend selbstreflexiven Standpunkt, ohne den die Avantgarde undenkbar wäre.

69 Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 97. 70 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 4. 71 Vgl. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 147. 72 Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 94. 73 Michael Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum myhischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Athenäum 1988, S. 11. 74 Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 96. 75 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische ‘Anti-Kunst’ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung, S. 316. 76 Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 96.

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2.1 Historische Schichtung: Evolutionistische und genealogische Modelle Basierten die exotistischen Betrachtungen auf einer räumlichen Trennung von ‘Wilden’ und ‘Zivilisierten’, bringt der primitivistische Diskurs dieses Verhältnis in ein zeitliches Nacheinander. Der durch die technischen Neuerungen um die Jahrhundertwende motivierte Fortschrittsglaube trägt dazu bei, den ‘primitiven’ Menschen als eine historische Vorform des zeitgenössischen Daseins zu sehen. Der wissenschaftlichen Annäherung zum ‘Primitiven’ liegt zumeist ein evolutionistisches Konzept zugrunde, das sich an das «Progressions-/Regressions-Schema […] der darwinistischen Biologie, die Lebewesen als historisch ‘geschichtet’ begreift»77 anlehnt und davon ausgeht, «man könne vergangene und gegenwärtige natürliche und kulturelle Phänomene tatsächlich oder hypothetisch in ältere (‘primitivere’) und jüngere (‘zivilisiertere’) Entwicklungsstufen unterscheiden».78 Daraus erwächst die den Diskurs dominierende Idee, in den Naturvölkern habe etwas vom ursprünglichen Menschen überlebt. Dieser Gedanke wird auch auf Geisteskranke und Kinder übertragen, die die Naturvölker als ‘primitive’ Diskursfiguren ergänzen und deren kulturelle Objektivationen für die Erforschung des ‘Anderen’ von Interesse gewesen sind:79 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Erhard Schüttpelz, der zwischen einem chronologischen/historischen Primitivismus und einem kulturellen Primitivismus unterscheidet, d. h. zwischen einem Primitivismus, der entweder «am Ursprung der Geschichte», oder «bei zeitgenössischen einfacheren Kulturen» angelegt sei.80 Er kommt zu dem Schluss, dass «in der Moderne beide Formen oft zusammengefallen sind».81 Folglich bearbeiten die verschiedenen Disziplinen das Thema vor allem anhand von Analogisierungen, mit denen eine Nähe zwischen den ersten, ursprünglichen Menschen und den zeitgenössischen ‘Primitiven’ hergestellt wird. Die Untersuchung der gestalterischen Verfahren der Kunst der afrikanischen und ozeanischen Völker erfolgt in den theoretischen Texten der Zeit häufig im Vergleich mit der Kinderkunst und den Zeichnungen von Geisteskranken. Golberg und Réja beispielsweise, der in L’art chez les fous (1907) ein Kapitel den Zeichnungen der Kinder und ihren Übereinstimmungen mit denen der ‘Wilden’ widmet (‘Dessins d’enfants et de sauvages’), betrachten in ihren Überlegungen die Kunst der indigenen Völker als eine reifere Stufe der kindlichen

77 Marcus Hahn: Primitivismus und Literaturtheorie, S. 129. 78 Ebda. 79 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 4. Siehe auch Dies.: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne. Müller, Musil, Benn, Benjamin. Paderborn: Fink 2013. 80 Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, S. 13. 81 Ebda.

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Kunst.82 Töpffer und Taine machen die Ähnlichkeit der ‘primitiven’ Kunst zu Kinderzeichnungen an ihrem emotionalen Inhalt, der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, dem magischen Realismus und der persönlichen Ikonographie fest.83 Aus diesen Analogiebildungen heraus wird auch die moderne Kunst mit der Kunst ‘primitiver’ Kulturen verglichen, wobei oft über einen bloßen Vergleich hinausgegangen und eine Entsprechung moderner und ‘primitiver’ Kunst postuliert wird.84 Dieser Gedanke bildet die Voraussetzung für die Anthropologie, die auf dem Grundsatz eines zivilisationsgeschichtlich übergreifenden Kulturvergleichs aufbaut.85 Das zeitliche Nacheinander verschiedener Entwicklungsstufen wird zunehmend zu einem Ineinander, wenn im Sinne einer Genealogie angenommen wird, im zeitgenössischen modernen Menschen ließen sich noch Reste des ursprünglichen Menschen wiederfinden. Eine Gemeinsamkeit ‘primitiver’ und moderner Kunst wird in der abstrakten Kunstform gesehen. Wilhelm Worringer macht in seiner 1908 erschienenen Dissertation Abstraktion und Einfühlung eine psychische Verwandtschaft zwischen modernem und ‘primitivem’ Menschen für die Übereinstimmungen verantwortlich.86 Ebenso wie Maurice Denis, der von einem «sens de l’objet» spricht, kommt er zu dem Schluss, das «Ding an sich» sei für den ‘primitiven’ Menschen wesentlich, wobei der moderne Mensch sich dieses «Instinkts» wieder annehme, da er zu der resignativen Erkenntnis gelangt sei, die rationalistische Denkweise würde die Welt nur unzureichend erklären: «Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der ‘primitive’ Mensch».87 Auf eine ähnliche Weise werden die ‘primitiven’ Kulturen als Interpretationsfolie für die modernen Gesellschaften genutzt,88 indem eine innere Verwandtschaft zwischen dem modernen und dem ‘primitiven’ Menschen angenommen wird. Mary Gluck formuliert die These, das ‘Primitive’ werde nunmehr von außen, im Sinne eines zeitlich/geographisch Fernen,

82 Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp. Ann Arbor: UMI Research Press 1984, S. 12. 83 Vgl. ebda., S. 5. 84 Michael C. Frank: Überlebsel. Das Primitive in Anthropologie und Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 159–187, hier S. 160. 85 Vgl. ebda., S. 161. 86 Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900– 1930, S. 99. 87 Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie [1908]. Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1981, S. 17 f. 88 Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900– 1930, S. 93–124.

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nach innen, in die psychologische, die Wahrnehmung betreffende Sphäre des Künstlers verlagert und trage somit zu neuen ästhetischen Möglichkeiten in den klassischen Avantgarden bei.89 Wassilij Kandinsky beispielsweise führt die Ähnlichkeiten in der Formsprache zwischen moderner und ‘primitiver’ Kunst auf ihre «innere Verwandtschaft» zurück: Die Ähnlichkeit der inneren Bestrebungen in der ganzen moralisch-geistigen Atmosphäre [...], also die Ähnlichkeit der inneren Stimmung einer ganzen Periode kann logisch zur Anwendung der Formen führen, die erfolgreich in einer vergangenen Periode denselben Bestrebungen dienten. So entstand [...] unser Verständnis, unsere innere Verwandtschaft mit den Primitiven. Ebenso wie wir, suchten diese reinen Künstler nur das Innerlich-Wesentliche in ihren Werken zu bringen.90

Damit weist er in eine ähnliche Richtung wie die in der vorliegende Arbeit behandelten Autoren, die – wie Kapitel II ausführt – auch am Wesentlichen der Kunst interessiert sind, ohne dass sie aber selbst Theorien entwickeln, die ihr Interesse an der ‘primitiven’ Kunst und dem ‘primitiven’ Weltbild moralisch oder geistesgeschichtlich erklärten.

2.2 Relativität des eigenen Standpunkts: Infragestellung des Kunstund Wissenschaftsbegriffs Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit indigenen Kulturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bringt zwangsläufig eine methodische Selbstreflexion mit sich, da sich die Wissenschaftler den Fragen stellen müssen, ob und wie sich andere Kulturen überhaupt ‘von außen’ erklären lassen und ob es möglich ist, sie und ihre Weltwahrnehmung mit ‘unseren’ Mitteln zu verstehen. Dadurch schärft sich das Bewusstsein für den eigenen Standpunkt, der den Blick auf die indigene Kultur beeinflusst, was differenziertere Perspektiven ermöglicht. Dies hat zur Folge, dass die Theoretiker und Künstler die indigene Kultur nicht mehr gemeinhin als ‘zurückgeblieben’ betrachten.

89 Vgl. «By transforming the Primitive from a geographic reality, existing outside European modernity, into a psychological space, located within the inner experience of the artist, the prewar avant-garde reconfigured the conditions of possibility for aesthetic creativity in the contemporary world. It liberated the aesthetic Other of modernism from the exotism of popular culture.» Mary Gluck: Interpreting Primitivism, Mass Culture and Modernism: The Making of Wilhelm Worringer’s Abstraction and Empathy. In: New German Critique 80 (2000), S. 149–169, hier S. 167. 90 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, zitiert nach Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 99.

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In ähnlicher Weise zeigt sich das Wahrnehmungs- und Verstehensproblem in der Kunstbetrachtung, die sich zunehmend dem kulturrelativistischen Gedanken widmet,91 die Kunst der ‘Primitiven’ sei nur aus einem europäischen Standpunkt heraus fremd. Ihre Andersartigkeit wird nicht mehr qualitativ interpretiert. Demnach wird die ‘primitive’ Kunst von Denkern wie Carl Einstein und Wilhelm Worringer nicht mehr als unzulänglich, sondern als eine «Ausdrucksform anderen Denkens»92 verstanden. Carl Einstein tadelt die westliche Überheblichkeit mit den anklagenden Worten, dass zu oft der schwarze Mensch als unterlegen angesehen wird und dass «das von ihm Gebotene […] a priori als ein Manko verurteilt» wird93, und zeigt damit eine Nähe zu den späteren postkolonialistischen Überlegungen auf. Einem Kulturrelativismus nähert sich auch Herbert Kühn in seiner Studie über die Kunst der ‘Primitiven’ von 1923 an: «Die Kunst der Primitiven ist in Wahrheit nicht primitiv – der Mensch der Zeit lebt primitiv, seine Wirtschaftsform ist primitiv – seine Kunst ist der reinste Ausdruck seiner Welt, die nie primitiv, sondern nur anders geschaut, unter anderen Formen erlebt ist.»94 Der Primitive Turn schließt einen Wandel des Kunstverständnisses ein, der aus dem Bewusstsein um die Relativität ästhetischer Maßstäbe erwächst. Für die ästhetischen Betrachtungen ergeben sich aus dem Kulturrelativismus zwei wesentliche Themen, erstens die «Einsicht in die soziokulturelle Prägung der ästhetischen Sphäre» und zweitens die «Frage nach der Autonomie der ästhetischen Sphäre».95Herbert Kühn konstatiert 1928, dass der Begriff der Kunst selbst [...] durch die Einbeziehung der Primitiven Kunst [...] eine vollkommene Änderung erfahren [hat]. Nicht mehr kann der Maßstab der ‘Schönheit’ im Sinne der idealisierten Natur gelten, der Begriff Kunst scheint m. E. am bestimmtesten gefaßt, wenn man ihn bezeichnet als den gestalteten Ausdruck der Beziehung vom Ich zu [sic] Welt.96

91 Ohne dies als Primitive Turn zu bezeichnen, stellt auch Doris Kaufmann diese Entwicklung zu einem kulturrelativistischen Ansatz fest. Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 105 f. 92 Ebda., S. 97. 93 Vgl. auch: «Der Europäer beansprucht in seinen Urteilen über die Neger eine Voraussetzung, nämlich die einer unbedingten, geradezu phantastischen Überlegenheit.» Carl Einstein: Negerplastik. München: Kurt Wolff Verlag 1920, beide Zitate S. V. 94 Herbert Kühn: Die Kunst der Primitiven, zitiert nach Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 110. 95 Doris Kaufmann:Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 97 f. 96 Herbert Kühn: Primitive Kunst. In: Max Ebert (Hg.): Reallexikon für Vorgeschichte. Band X. Berlin: De Gruyter 1928, S. 264–292, hier S. 269. Hervorhebung K.R.

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Wie Kapitel II zeigen wird, fügen sich in diese Positionsbestimmung der Kunst die ästhetischen Programme und Werke der historischen Avantgarde nahtlos ein: Durch die Auseinandersetzung mit der indigenen Kunst reflektieren sie die Relativität ihrer eigenen ästhetischen Maßstäbe. Gleichzeitig erstarkt daraus die Forderung nach einer autonomen Konzeption der Kunst. Diese Autonomie bedeutet jedoch nicht, dass die Lebenswelt aus der ästhetischen Welt ausgegrenzt ist, was sich allein darin äußert, dass die Schriftsteller und Künstler ihre Ästhetik mit der Beziehung zur sie umgebenden Welt begründen, mit ihrer subjektiven Perspektive und ihrer Wahrnehmung der Welt. Die «methodische Selbstreflexion»97 und die daraus resultierenden Infragestellung und Neudefinition des Kunst- und Wissenschaftsbegriffs kann als die spezifische Errungenschaft des Primitivismus-Diskurses gesehen werden. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist das Ergebnis einer methodischen Selbstreflexion darüber, was Wissenschaft ist. Dabei wird der Begriff ‘Wissenschaft’ insofern infrage gestellt, als Cassirer nach den epistemischen Grundlagen, den Strukturen des Denkens und Wahrnehmens sucht.

3 Ernst Cassirer: Das mythische Denken 3.1 Kunst und mythisches Denken als Teil der Philosophie der symbolischen Formen: Ernst Cassirers Kulturphilosophie Das mythische Denken ist Teil von Cassirers Kulturphilosophie, die er in seinem Hauptwerk, der Philosophie der symbolischen Formen, entwickelt. Die im zweiten Band beschriebenen Kategorien des mythischen Denkens, die Cassirer am empirischen Material seiner Zeit und aus seiner Perspektive heraus entwickelt, sind philosophisch zwischen Anthropologie und idealistischer Subjektphilosophie anzusiedeln und nicht als Teil einer Ästhetik entwickelt worden. Dementsprechend wurde Das mythische Denken bisher selten für ästhetische Betrachtungen in der Literaturwissenschaft herangezogen.98 Cassirer hat kein systematisches Werk über die Kunst als symbolische Form verfasst, doch finden sich in seinem

97 Doris Kaufmann: Primitivismus: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 119. 98 Zu den wenigen gehören: Gustavo Correa: Poesía mítica di Federico García Lorca; Anja Schwennsen: Kunst und Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation: Cassirers Begriff des mythischen Denkens in literaturwissenschaftlicher Perspektive. In: Bent Gebert/Uwe Mayer (Hg.): Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 205–225.

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Werk verstreut mehrere Ansätze ästhetischer Überlegungen. Manuskripte eines vierten Bandes der Symbolischen Formen, der sich der Kunst widmen sollte, und das achte Kapitel des Essay on man lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Kunst um eine weitere eigenständige symbolische Form, ja eventuell sogar um die symbolische Form schlechthin handele.99 Symbolische Formen sind, knapp definiert, Funktionen des Weltbegreifens. Die Kunst nimmt im System der symbolischen Formen eine besondere Stellung ein, da sie die imaginativen Kräfte des Mythos und die logischen Leistungen der Sprache zu einer Harmonie vereint, welche Cassirer als Schönheit definiert.100 Nicht nur aufgrund der Sonderstellung der Kunst als verbindendes Moment für die symbolischen Formen ergeben sich Bezüge zum Mythos. Mythos und Kunst scheinen für Cassirer ursprünglich miteinander verknüpft zu sein: «On the other hand, art seems to be connected with myth in its origin and first beginning, and even in its progress can never completely escape the domain and the power of mythical and religious thought.»101 Weitere Anhaltspunkte für eine besondere Verwandtschaft dieser beiden symbolischen Formen liefert Cassirer, indem er in Das mythische Denken von «mythischer Phantasie»102 und in ‘Language and Art II’ von «mythical imagination»103 spricht. Letztlich sind aber alle symbolischen Formen miteinander verwoben und nicht getrennt voneinander fassbar. Gerade in der verknüpfenden Betrachtung dieser kulturellen Phänomene liegt das Spezifische des cassirerschen Denkens. Cassirer sieht alle Prozesse der Kultur als Objektivierungsprozesse:

99 Vgl. Muriel van Vliet (Hg.): Ernst Cassirer et l’art comme forme symbolique. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2010, S. 12. 100 Vgl. «What, therefore, is characteristic for myth, language, or art is not the fact that in one of them we find a marked process or faculty that is completely missing in the other. It is not the presence or absence of one of these faculties but the relation they bear to each other that makes the real difference. In myth the power of imagination is prevailing; and in its premature stage it seems to be overwhelming. In language the logical moment, the Logos in its proper sense, is gradually increased […]. But in art the combat seems to be reconciled, and this reconciliation is one of its essential privileges and one of its deepest charms. […] All our different powers and all our different needs seem to be melted to a perfect harmony. In this we may interpret the Kantian definition of beauty. What we enjoy in beauty, says Kant, is ‘des freien Spiels der Vorstellungskräfte’, ‘the free play of the powers of representation with reference to knowledge in general.’» Ernst Cassirer: Language and Art II. In: Donald Philip Verene (Hg.): Symbol, Myth and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945. New Haven: Yale University Press 1979, S. 166–195, im Folgenden abgekürzt mit LAII, hier S. 190 f. 101 Ebda., S. 188. 102 MD, S. 68. 103 LAII, S. 173.

3 Ernst Cassirer: Das mythische Denken

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I attempted to describe this process as a process of objectification. What man seems to strive at and what he really attains in the different forms of human activity – in myth and religion, in art, in language, in science – is to objectify his feelings and emotions, his desires, his perceptions, his thoughts and ideas.104

Damit schließt er auch nicht-propositionale Erfahrungen wie Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle in seine Theorie ein.105 Bezogen auf eine Ästhetik ergibt sich daraus die interessante Konsequenz, dass auch Kunstwerke und der Mythos die Wirklichkeit ausdrücken, als objektiv und nicht als Illusion oder von der Wirklichkeit abgelöste Träumerei verstanden werden dürfen106 – ein Aspekt, der auch den hier behandelten Autoren sehr wichtig ist, welche die Kunst sogar als eine Realisierung von Träumereien versteht, als ein Entwickeln von Ideen, welche die Technik erst Anfang des 20. Jahrhunderts einzulösen beginnt. Der Prozess der Objektivierung findet durch Symbole statt. Alles, was der Mensch denkt und tut, geschieht über die Vermittlung der symbolischen Formen. Dabei versteht Cassirer ‘Symbol’ nicht primär als Gegenstand, sondern bezieht diesen Begriff funktionell auf unsere Bewusstseinsinhalte: «Unsere objektive Erfahrung ist dann insofern symbolisch, als wir des vermittelnden Mediums der Begriffe bedürfen.»107 Wir können uns nicht auf eine objektive Welt beziehen, ohne Begriffe zu verwenden. Nach Cassirer ist der Geist derart gestaltet, dass er symbolisch operiert. Aus diesem Grund gebe es keine Wahrnehmung, die nicht symbolisch sei, «kein Inhalt des Bewußtseins ist an sich bloß ‘präsent’, noch ist er an sich bloß ‘repräsentativ’; vielmehr faßt jedes aktuelle Erlebnis beide Momente in unlöslicher Einheit in sich».108 Ohne die symbolische Vermittlung würde der Mensch die Welt als inkohärent und disparat, als amorphe Masse erfahren – insofern dies als Erfahrung überhaupt möglich ist. Erst durch die symbolische Vermittlung konstituiert sich die Ord-

104 Ebda., S. 189. 105 Zur Theorie der Welterschließung Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 201 ff. 106 Vgl. «Nevertheless it would be wrong to consider the world of myth as a mere dream, as a perfectly unorganized mass of crude superstitions, of illusions or hallucinations. Even myth obeys a rule of its own. It does not only invent at random but it has a tendency to organize its feelings and imaginations.» LAII, S. 174. «Art does not live in our common, average, empirical reality of material things. But it is just a little true that it simply lives in the sphere of the inner personal life, in imaginations or dreams, in emotions or passions. Of course all the artist creates is based on his subjective and objective experience.» Ebda., S. 192 f. 107 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 100. Hervorhebung im Original. 108 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band III: Phänomenologie der Erkenntnis. Herausgegeben von Julia Clemens. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2010, S. 232.

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nung der Welt. Jede sinnliche Wahrnehmung schließt gleichsam eine Gestaltung ein, was Cassirer mit dem Begriff symbolische Prägnanz bezeichnet. Um dieser Gestaltung Dauerhaftigkeit zu verleihen, bedarf es einer Repräsentation des Wahrgenommenen durch die Form. In der Ähnlichkeit ihrer Art der Formbildung tritt die Verknüpfung von Mythos und Kunst deutlich hervor. Die Kunst, so Cassirer, bringe «lebendige Formen» hervor: «But in art not only is the horizon of our sense-experience enlarged, but our perspective, our prospect of reality, is changed. We see reality in a new light, in a medium of living forms.»109 Auffällig ist die Betonung der Lebendigkeit, welche Cassirer auch in der Beschreibung des mythischen Denkens als einer physiognomischen Formbildung wiederholt. Man könnte daher in folgender Passage, in der Cassirer den mythischen Objektivierungsprozess beschreibt, «myth» durch den Begriff «art» ersetzen: In myth man objectifies his own deepest emotions; he looks at them as if they had an outward existence. [...] But it is just this exteriorization and realization that we find in mythical thought. All sorts of affections – fear, sorrow, anguish, excitement, joy, orgasm, exultation – have, so to speak, a shape and a face of their own. In this respect we may define myth not as a theoretical or causal interpretation of the universe but as a physiognomical interpretation. Everything in mythical thought assumes a special physiognomy. […] The things that surround him [i. e. man] are not dead-stuff; they are filled and impregnated with emotions.110

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die wesentliche Funktion der Imagination, welche in Mythos und Kunst Lebendigkeit erzeugt: Artistic imagination and contemplation does not give us the aspect of dead physical things or of mute sense-qualities. It gives us a world of moving and living forms – a balance of lights and shadows, rhythms, and melodies, of lines and contours, of patterns and designs.111

Wie sich zeigen wird, sind Lebendigkeit und Imagination auch konstitutive Begriffe der Ästhetik Apollinaires sowie des Futurismus, der sich gegen die ‘tote’ Vergangenheit richtet.112 Auch wenn Apollinaire eine mimetische Literatur ab-

109 Ernst Cassirer: Language and Art I. In: Donald Philip Verene (Hg.): Symbol, Myth and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945. New Haven: Yale University Press 1979, S. 145–165, im Folgenden abgekürzt mit LAI, hier S. 160. 110 LAII, S. 173. 111 Ernst Cassirer: The Educational Value of Art, in: Donald Philip Verene (Hg.): Symbol, Myth and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945. New Haven: Yale University Press 1979, S. 196–215, hier S. 215. 112 Vgl. «Per i moribondi, per gl’infermi, pei prigionieri, sia pure: – l’ammirabile passato è forse un balsamo ai loro mali, poiché per essi l’avvenire è sbarrato … Ma noi non vogliamo più saperne,

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lehnt und die Autonomie der Kunst vertritt, ist die Verankerung in der Natur wesentlich für ihn. Darunter versteht er eine Verankerung in der Lebenswirklichkeit, das Eingebettetsein des Menschen in die lebendige Welt.113 Bei den symbolischen Formen Mythos, Wissenschaft, Sprache, Kunst und Religion handelt es sich um Kulturphänomene, die für den Menschen sowohl Mittel zu einer Objektivierung und «organization»114 des Wahrgenommenen als auch der Konstruktion von Welt sind.115 In der Ästhetik der Autoren übersetzt sich dieser Gedanke derart, dass sie das Kunstschaffen als einen aktiven Prozess sehen, im Gegensatz zur geniebasierten Ästhetik, aber auch im Gegensatz zur écriture automatique des Surrealismus. Da Cassirers Kulturbegriff auf dem Grundgedanken fußt, dass Wahrnehmung und Formung der Wahrnehmung nicht getrennt voneinander existieren, ist sein Werk für die Untersuchung der hier behandelten Dichter besonders geeignet, da derselbe Gedanke auch ihrem ästhetischen Selbstverständnis zugrunde liegt. Eine Poetik bedeutet für die Autoren mehr als die Beschreibung formaler Strukturen. In ihren ästhetischen Reflexionen tritt zu Tage, dass die ästhetischen Verfahren im Dienste des Ausdrucks einer persönlichen Weltsicht stehen und ihnen ein subjektives Verständnis von Wirklichkeit zugrunde liegt.116 In dieser Hervorhebung der Beziehung des Ichs zur Welt ähneln sich die in dieser Arbeit betrachteten Schriftsteller trotz der Unterschiede in den politischen und ideologischen Ansichten und in der Motiv- und Stoffwahl. Die Auffassung, dass Objektivität nicht per se vorhanden, sondern das Ergebnis einer Aufgabe, einer Handlung sei, übernimmt Cassirer von Kant. Kultur ist demnach sowohl das Ergebnis als auch die Methode der Objektivierung unserer menschlichen Erfahrung.117 Diese Objektivierung besteht in der geregelten Organisation der Wirklichkeit. Cassirer versteht die symbolischen Formen als

del passato, noi, giovani e forti futuristi!», Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo [1909]. In: MTI, S. 7–14, hier S. 12. 113 «Lorsque nous parlons de la nature, nous ne devons pas oublier que nous en faisons partie et que nous devons nous considérer avec autant de curiosité et de sincérité que lorsque nous étudions un arbre, un ciel ou une idée. Car il y a un rapport de nous au reste de l’univers, nous pouvons le découvrir et ensuite ne plus essayer de le dépasser.» Guillaume Apollinaire: Henri Matisse [1907]. In: PrII, S. 100–103, hier S. 103. Hervorhebung K.R. 114 LAII, S. 171. 115 Vgl. «It is obvious that this world does not exist as a ready-made thing. It has to be constructed; it has to be built up by a continual effort of the human mind. Language, myth, religion, art science are nothing but the single steps made in this direction. They are not imitations or reproductions of a ready-made nature of things.» Ebda., S. 167. 116 Vgl. die Kapitel II und III der vorliegenden Arbeit. 117 LAII, S. 167.

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Funktionen des Geistes. Symbolische Formen wie Sprache, Kunst und Mythos sind Ausdrucksformen, die eine innere Organisation aufweisen und daher als Resultat der Anwendung spezifischer Zuordnungsregeln verstanden werden. Ausdrucksgestalten sind regelförmige Verbindungen. Sprachliche Ausdrucksgestalten sind durch die Regeln der Grammatik organisiert, künstlerische Ausdrucksgestalten durch die Regeln einer Gattung, einer Epoche oder eines autonomen Kunstwerks, mythische Ausdrucksgestalten durch die regelnden Vorgaben eines Kultes.118

Auch der Mythos weist eine Regelhaftigkeit auf und drückt einen «narrativ strukturierten Inhalt»119 aus bzw. sind auch «mythische Kulte rational in dem Sinne, daß sie intersubjektiv gültigen Regeln folgen.»120 Auch dieser Gedanke findet sich in den ästhetischen Betrachtungen Apollinaires, denn während er die Kunstwerke als ‘primitiv’ bezeichnet und sich auf Kategorien wie den Instinkt beruft, betont er gleichermaßen die Logik und Rationalität der Werke.121 Aus der Erkenntnis der Regelhaftigkeit und Rationalität müssen laut Cassirer alle Ausdrucksformen als intellektuelle Leistung anerkannt werden, da keine mehr oder weniger über die Wirklichkeit aussage als die andere.122 Indem Cassirer Mythos und Kunst neben der Wissenschaft als intellektuelle Leistung anerkennt, deutet sich ein relativistischer Standpunkt bei ihm an, auf den im folgenden Kapitel eingegangen wird.

3.2 Einordnung Cassirers in die Konfigurationen des primitivistischen Diskurses: Cassirers universalistischer Standpunkt Die Philosophie der symbolischen Formen ist das Projekt einer umfassenden Kulturphilosophie, was sich bereits daran ermessen lässt, dass Cassirer sich in der Ausgangsfrage, wie die Wirklichkeit zu fassen sei, nicht auf die geistigen Leistungen der Wissenschaft beschränkt. Der Cassirer-Experte Guido Kreis sieht darin einen der Leitgedanken der Philosophie der symbolischen Formen, daß die Welt, die die Naturwissenschaft beschreiben kann, nicht die Welt ist, in der wir leben. Die Welt, in der wir leben, ist

118 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 140. Hervorhebung im Original. 119 Ebda., S. 137. 120 Ebda. 121 Vgl. Kapitel II.3.5 ‘Logik des Kunstwerks, Logik des mythischen Denkens’ der vorliegenden Arbeit. 122 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 142.

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reichhaltiger als der gesetzmäßig geordnete Inbegriff von Kausalrelationen, den die Wissen123 schaft beschreibt.

Für Cassirer sind nicht nur die Sprache und die Wissenschaft ein Mittel, durch das wir uns auf die Welt beziehen und die Welt erschließen. Indem er die Wirklichkeit als Beziehung des Ichs zur Welt versteht, öffnet sich seine Philosophie anderen, nicht nur gedankenlogischen Möglichkeiten dieser Bezugnahme, den anderen Ausdrucksformen von Welt – wie dem Mythos und der Kunst.124 Der relativistische Gedanke ist eine Konsequenz der Anerkennung verschiedener Weltbilder und Ausdrucksformen in seiner Theorie. Cassirer betont, im mythischen Denken liege ein Ordnungsprinzip vor, auch wenn die Gegenstände nicht in einer festen Ordnung im Sinne des logozentristisch orientierten wissenschaftlichen Denkens erscheinen. Es handle sich um eine andere Form der Objektivierung: «the world of myth is not a world of natural powers that may be reduced to certain causal laws but a dramatic world – a world of actions, of supernatural forces, of gods or demons. This, too, is without any doubt a sort of objectification».125 Der durch die Anerkennung verschiedener Weltbilder und Ausdrucksformen ausgelöste Relativismus führt zu dem Verlust einer einheitlichen Welt mit universaler Geltung – ein Problemkomplex der Moderne, an dem auch Dichter wie Apollinaire leiden. Indem sie sich mit anderen Lebens-, Kunst- und Denkformen auseinandersetzen, erkennen sie die Relativität der Standpunkte, die sich zeitweilig in einer Orientierungslosigkeit und in brüchigen Identitäten äußert.126 Dies sind auch die Probleme, auf die Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen eine Antwort finden muss.127 In der Ästhetik der Autoren werden Relativität und Identitätsverlust durch eine Suche nach Universalität kompensiert. Diese Universalität wird aber gerade in der Relativität gefunden: In der Frage nach der Vergleichbarkeit mit den anderen Kunst- und Denkformen verbirgt sich auch die Idee einer auf ein universales Prinzip verweisenden Verwandtschaft. Diese dialektische Figur, die Kreis als «Relativierung der Relativierung» bezeichnet, findet sich auch bei Cassirer: Cassirer zeigt, daß die Wende der Philosophie zu den historisch und geographisch gebundenen Sprachen und Ausdrucksformen nicht den Schritt in einen unauflösbaren Relativismus darstellt, sondern daß gerade die Domäne sozialer Relativität ihrer eigenen logischen Struktur nach auf nicht-relative Geltung bezogen ist. Am Relativen zeigt sich das Univer-

123 124 125 126 127

Ebda., S. 41. Vgl. ebda., S. 142. LAII, S. 172 f. Vgl. Kapitel IV.1 ‘Das mythische und das moderne Subjekt’ der vorliegenden Arbeit. Vgl. Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 147.

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sale als seine Wahrheit. Der langwierige Gang durch die symbolischen Formen ist also, 128 kurz gesagt, die Relativierung der Relativierung.

Cassirers Antwort auf das Relativitätsproblem ist, Universalität nicht als etwas Naturgegebenes, sondern als konstruiert und gemacht zu begreifen. Objektive Geltung, Normativität haben bestimmte Ausdrucksformen nur in einer sozialen Gruppe.129 In diesem Fall ist Universalität auf soziale Handlungsräume bezogen und von diesen konstruiert.130 Die Ausdrucksformen sind zwar relativ, erheben aber einen unauflöslichen Anspruch auf objektive Gültigkeit.131 Absolute universelle Gültigkeit findet sich für Cassirer nur in der Wissenschaft, denn in der Wissenschaft wird die Konstruktion von Universalität reflektiert und diese Reflexion in die Konstruktion ihrer Begriffe einbezogen.132 Der relativistische Gedanke ist demnach nur ein Zwischenergebnis für Cassirer, dessen Ziel eine Rettung der Universalität der Erkenntnis bleibt. Apollinaire, Reverdy und Cendrars gehen nicht so weit, eine strenge Allgemeingültigkeit ihrer Kunst zu fordern, wie es in der Wissenschaft der Fall ist. Aber sie gehen doch einen Reflexionsschritt mit, den Cassirer der Wissenschaft, aber auch seiner Philosophie der symbolischen Formen zuschreibt, denn sie reflektieren den Relativismus: den Relativismus als Problem hat nur der, der über seine und alle anderen Geltungsansprüche reflektiert. Erst wer sich grundsätzlich zur Reflexion über die verschiedenen Sprachen und Weltbilder insgesamt veranlaßt sieht, hat begriffen, daß jede Sprache nur ein Weltbild unter vielen darstellt. Mit diesem Reflexionsschritt ist aber bereits der eigene standpunktgebundene ‘natürliche’ oder ‘lebensweltliche’ Ort verlassen und die Grenze zu derjenigen Ausdrucksform überschritten, die der ausdrücklichen Selbst- und Fremdreflexion in methodisch geregelter Weise fähig ist.133

Cassirer und die Dichter und Künstler der Avantgarde eint nicht nur die Zugehörigkeit zum primitivistischen Diskurs, der um 1905 entsteht, sondern insbesondere ihr selbstreflexiver Standpunkt innerhalb dieses Diskurses, der bei Cassirer

128 Ebda., S. 157. Hervorhebung im Original. 129 «Was in einer jeweiligen Ausdrucksform implizit von der jeweils sprachlich (oder mythisch oder ästhetisch) erfahrenen Welt gilt, gilt für diese und innerhalb dieser Ausdrucksform grundsätzlich in einer nicht relativistischen Weise.» Ebda., S. 155. 130 Vgl. ebda., S. 148 ff. 131 Vgl. «Cassirer demonstriert, daß die These vom Relativismus der Sprachen und Weltbilder nicht das letzte Wort sein kann, weil der Anspruch universaler Geltung die immanente Konsequenz aller für sich genommen relativ gültigen Ausdrucksformen ist.» Ebda., S. 157. 132 Ebda., S. 151 f. 133 Ebda., S. 156. Hervorhebung im Original.

3 Ernst Cassirer: Das mythische Denken

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systematischer Teil seiner Theorie ist.134 Der relativistische Gedanke bleibt bei Cassirer nicht unreflektiert stehen. Er nutzt das wissenschaftliche Denken als Kontrastfolie, um die Eigenheiten des mythischen Denkens zu charakterisieren, doch problematisiert er zugleich die Vorgehensweise, das mythische Denken aus der Position des wissenschaftlichen Denkens zu entwickeln: «Denn bedeutet es nicht schon eine Petitio principii, läuft es nicht bereits auf eine falsche Rationalisierung des Mythos hinaus, wenn wir ihn aus seiner Denkform heraus zu verstehen suchen?»135 Cassirer stellt das mythische Denken im Vergleich zum wissenschaftlichen Denken dar, wobei er an mehreren Stellen darauf eingeht, dass es Entwicklungen gibt, in denen sich beide Denkformen einander annähern. Er betrachtet das mythische Denken durchaus als einen geistigen Entwicklungsschritt, wenn er zeigt, wie sich der Mythos stufenweise dem wissenschaftlichen Denken annähert. Indem in Das mythische Denken verschiedene Stufen des Denkens thematisiert werden, offenbaren sich Spuren des evolutionistischen Modells. Darin liegt das historische Moment in der Vorgehensweise. Doch wie mit dem relativistischen Ansatz verhält es sich auch mit dem evolutionären Stufenmodell: Cassirer modelliert die verschiedenen Ausdrucksgestalten anhand von historischem und empirischem Material; sein Werk erschöpft sich jedoch nicht in dieser Aufgabe, diese stellt nur den Ausgangspunkt dar. Mit den Stufungen ist demnach nur zweitrangig eine historische Einordnung gemeint, die in den meisten Fällen unkonkret und unklar bleibt. Die Stufen stellen keine ontologischen Schritte dar, sondern sind Ex-post-Konstruktionen und als begriffslogische Unterscheidung zu verstehen. Cassirer stellt sich stattdessen die grundsätzliche Frage nach der Gliederung der Wirklichkeit, und wie die Wirklichkeit erfahren und erschlossen werden kann.136 Er zielt auf das universelle Prinzip der symbolischen Formen ab und sucht nach den Regeln, nach der kategorialen Ordnung der verschiedenen Ausdrucksformen, welche die Grundkategorien Raum, Zeit, Kausalität und Substanz umfassen.137

134 Ein Grund dafür liegt auch darin, dass es Cassirer um eine philosophische und nicht um eine ethnologische Deutung des mythischen Denkens geht und er demnach nach den «Bedingungen, die mythisches Denken als mythisches Denken bestimmen» fragt. Cassirer ist somit «einer der wenigen Philosophen […], die den Mythos überhaupt ernst nehmen. Doch ist es auch wichtig zu sehen, daß Cassirer keine ethnologischen bzw. anthropologischen Forschungen verfolgt, sondern eine philosophische Deutung dessen anstrebt, was an Daten im Raume steht bzw. stand.» Andreas Graeser: Ernst Cassirer. München: C.H. Beck 1994, S. 64. 135 MD, S. 85. Hervorhebung im Original. 136 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 173. 137 Ebda., S. 170 ff.

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I Einleitung

Wenn er von verschiedenen Stufen des Denkens spricht, sind diese Stufungen also nicht primär als historisch und real existierende Abfolgen zu verstehen, sondern funktional als Illustrationen einer Denkfigur. Im Sinne dieser Denkfigur ordnet er den symbolischen Formen entsprechende Eigenschaften, bestimmte ‘Typen’ der Objektivierung zu: Dem Mythos ist vorrangig die imaginative Objektivierung eigentümlich, der Kunst eine intuitive und betrachtende und der Sprache und Wissenschaft eine begriffliche Objektivierung.138 Dadurch wird deutlich, weshalb Cassirer zwar von verschiedenen Stadien des Bewusstseins spricht, aber zugleich betont, dass diese drei Objektivierungsstufen nicht getrennt voneinander existieren, sondern miteinander verwoben sind: «We must not think that what we have called by a separate name is a separate entity or a separate function. Man is not a mixture of single and isolated faculties.»139 Cassirer versteht den Mythos ähnlich wie Carl Einstein als eine Funktion und damit nicht als ein Objekt, das man isoliert studieren kann. ‘Mythos’ ist hier also kein substantialistischer Begriff, sondern eine von mehreren möglichen Funktionen des Weltbegreifens.140 Sein Interesse gilt der Suche nach der Form des Mythos und seinem geistigen Prinzip. Sein Ziel ist struktureller, funktionaler Natur und in dieser Wende zum Allgemeinen ahistorisch. Grundlegend geht es Cassirer um die Universalität des Denkens, wie Guido Kreis formuliert: In den drei Bänden der Philosophie der symbolischen Formen analysiert Cassirer «die Struktur von Sprache, Mythos und Wissenschaft in ihrem Eigenrecht, und zugleich stellt der dritte Band die normativitätslogische Sukzession der Ausdrucksformen als idealtypisch fortschreitende Universalisierung dar.»141 Das Grundstreben nach Universalität, die Bewegungslinie von einer natürlich geglaubten und damit dogmatisch empfundenen Universalität zur Einsicht in die Relativität, um dann diese für eine ‘selbstreflexive’ Universalität zu überwinden, ist auch ein Muster der Ästhetik der hier behandelten Autoren. Es deutet sich darin bereits an, dass die Ästhetik des mythischen Denkens keine Sehnsucht nach einem ‘paradiesischen’ Zustand der Vergangenheit beschreibt, sondern die Suche nach etwas Universellem in einer unbeständigen Zeit der Relativismen und damit eine der Moderne adäquate, als Universalie alle Relativismen umspannende Form. Öhlschlägers Beobachtung trifft genau den Kern: «Der Rückgriff auf die Kunst der ‘Primitiven’ wurde nicht als Regression aufgefasst, sondern als Möglichkeit, zu einer ‘tieferen Wahrheit’, zum Ursprung der Kunst,

138 LAII, S. 187: «We may say that what we find in myth is imaginative objectification, that art is a process of intuitive or contemplative objectification, that language and science are conceptual objectifications.» 139 Ebda. 140 Vgl. MD, S. 3. 141 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 157.

3 Ernst Cassirer: Das mythische Denken

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vorzudringen.»142 Mit Cassirer und den Autoren der Avantgarde zeigt sich ein Spezifikum des Primitivismus-Diskurses: Zum einen die Einsicht in die Relativität, aber auch die Erkenntnis von der Universalität. Es wurde gezeigt, dass Cassirer sich aus einer systematischen Nähe zu den Autoren heraus für die Analysen eignet, welche den Schwerpunkt von Kapitel III bilden. Im folgenden Kapitel II werden die ästhetischen Grundlagen der frühen Avantgarde im Zusammenhang mit dem in dieser Einleitung vorgestellten Primitivismus-Diskurs erörtert, wodurch die Nähe zu Cassirers Relativismus und Universalismus weiter zum Vorschein tritt.

142 Claudia Öhlschläger: Abstraktion im Licht der Faszination. Wilhelm Worringer am Ort des Primitivismus, S. 60.

II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure Dieses Kapitel wird das doppelte Verhältnis der Inspiration und der Identifikation aufzeigen, das zwischen Literatur und ästhetischen Prinzipien der frühen Avantgarde, kubistischer Kunst, ‘primitiver’ Kunst und ‘primitivem’ Weltbild besteht. Dabei wird dargelegt, in welcher Beziehung das Interesse für die ‘primitive’ Kunst und das ‘primitive’ Denken zu den Grundelementen der avantgardistischen Ästhetik Apollinaires, Cendrars’, Marinettis, Reverdys und Sofficis steht (Kapitel II.2). Zuvor wird beleuchtet, auf welchen Wegen die ‘primitive’ Kunst Einzug in das künstlerische Feld Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt und dass die Auseinandersetzung mit der ‘primitiven’ Kunst zu einem Umdenken geführt hat, das zu Recht als ein Primitive Turn bezeichnet werden kann (Kapitel II.1). Darauf folgt abschließend eine Reflexion über die antiintellektualistische Grundeinstellung, die sich hinter dem Interesse für mythisches Denken und ‘primitive’ Kunst und Kultur verbirgt (Kapitel II.3).

1 Die ‘Entdeckung’ der ‘primitiven’ Kunst – Resonanzbeziehungen zwischen Kunst und Dichtung Il ne faut pas oublier en effet que […] la plupart des peintres cubistes, vivent dans la compagnie des poètes […]1

Wie kamen Kunst und Literatur zum ‘Primitiven’? Der Künstler Maurice de Vlaminck behauptet in einer Anekdote, er sei als erster von der Ausdruckskraft afrikanischer Skulpturen fasziniert gewesen und habe ihren ästhetischen Wert erkannt. In seinem literarisch anmutenden Bericht erzählt er, er sei auch derjenige gewesen, der mit seinen Erwerbungen den Künstler André Derain begeisterte, woraufhin dieser Picasso mit der afrikanischen Kunst bekannt machte: Une après-midi de l’année 1905, je me trouvais à Argenteuil. Je venais de peindre la Seine, les péniches, le coteau. Le soleil tapait dur. Mes couleurs et mes brosses rangées, j’emportai ma toile et rentrai dans un bistrot. Des mariniers, des débardeurs de charbon étaient au comptoir. Tout en me rafraîchissant d’un vin blanc à l’eau de Seltz, je remarquais, posées sur l’étagère, entre les bouteilles de Pernod, d’anis et de curaçao, trois sculptures nègres. Deux statuettes du Dahomey, peinturlurées d’ocre rouge, d’ocre jaune et de blanc. Une autre de la Côte d’Ivoire, toute noire.

1 Guillaume Apollinaire: Les cubistes et les poètes [1912]. In: PrIII, S. 131. https://doi.org/10.1515/9783110736267-002

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

Était-ce parce que je venais de travailler en plein soleil pendant deux ou trois heures? Ou bien, était-ce l’esprit particulier dans lequel je me trouvais ce jour-là? Ou bien, cela cadrait-il avec certaines recherches qui occupaient habituellement ma pensée? Ces trois sculptures me frappèrent. J’eus l’intuition de ce qu’elles contenaient en puissance. Elles me révélèrent l’art nègre. Nous avions bien, Derain et moi, exploré en tous sens, à plusieurs reprises, le musée du Trocadéro. Nous le connaissions à fond. Nous avions tout regardé curieusement. Mais ni Derain ni moi, n’avions jamais vu, dans les objets exposés, autre chose que ce qu’il était convenu d’appeler des fétiches barbares. Cette expression d’un art instinctif nous avait toujours échappé. Les trois statuettes nègres du bistrot d’Argenteuil me disaient tout autre chose! J’étais remué au plus profond de moi-même. Je demandai au patron de me les vendre. Il commença par refuser. J’insistai et, après toutes sortes d’hésitations, de refus et de prétextes, il me les donna à condition que je paierais une tournée générale de gros rouge et j’emportai les trois statues. À quelque temps de là, un ami de mon père à qui j’avais montré mon acquisition, me proposa de m’en donner d’autres qu’il possédait, car sa femme voulait jeter aux ordures ‘ces horreurs’. J’allai chez lui et j’emportai un grand masque blanc et deux superbes statues de la Côte d’Ivoire. J’accrochai le masque blanc au-dessus de mon lit. J’étais à la fois ravi et troublé: l’art nègre m’apparaissait dans tout son primitivisme et toute sa grandeur. Quand Derain vint, à la vue du masque blanc il resta interdit. Il était suffoqué et me proposa vingt francs pour que je le lui cède. Je refusai. Huit jours après, il m’en offrit cinquante. Ce jour-là, j’étais sans le sou: j’acceptai. Il emporta l’objet et le suspendit au mur, dans son atelier de la rue Tourlaque. Quand Picasso et Matisse le virent chez Derain, ils furent, eux aussi, retournés. 2 Dès ce jour, ce fut la chasse à l’art nègre!

De Vlaminck gibt in seinen 1943 unter dem Titel Portraits avant décès veröffentlichten Erinnerungen zwar das Jahr 1905 an, die Forschungsliteratur nimmt jedoch an, das Ereignis habe ein Jahr später, also 1906 stattgefunden.3 Diese Geschichte hat beinahe den Status eines ‘Gründungsmythos’ für die sich in den Jahren nach 1906 entwickelnde und den Grundstein für den Kubismus legende intensive erste Auseinandersetzung mit der ‘primitiven’ Kunst eingenommen.4

2 Maurice de Vlaminck: Portraits avant décès [1943]. Versailles: SVO art éd. 2008, S. 112 ff. 3 Vgl. Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 27. 4 Dass der Primitivismus das gesamte zwanzigste Jahrhundert beschäftigen wird, zeigt die Anthologie Primitivism and Twentieth-century Art, in der die erste Phase der Entdeckung 1905–1918 angesiedelt wird, auf die eine weitere Phase der Intensivierung und des Perspektivenwechsels folgt (1919–1940), dann eine dritte Phase, die zu der Primitivismus-Ausstellung des Museum of Modern Art 1984 führt, welche wiederum eine vierte Welle der Auseinandersetzung auslöst. Ebda.

1 Die ‘Entdeckung’ der ‘primitiven’ Kunst

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Sogar Apollinaire berichtet in Le Temps vom 16. Oktober 1912, Vlaminck sei einer der ersten ‘Entdecker’ der afrikanischen Kunst gewesen: Toujours à l’affût de curiosités esthétiques, de Vlaminck avait acheté chez les brocanteurs, durant ses randonnées à travers les villages des bords de la Seine, des sculptures, des masques, fétiches taillés dans le bois par des artistes nègres de l’Afrique française et rapportés par des marins ou des explorateurs […] Quoi qu’il en soit, ces singuliers simulacres africains causèrent une profonde impression sur André Derain, qui les considérait non sans complaisance, admirant avec quel art les imagiers de la Guinée ou du Congo arrivaient à reproduire la figure humaine en n’utilisant aucun élément emprunté à la vision directe. Le goût de Maurice de Vlaminck pour les sculptures bizarres, à une époque où les impressionnistes avaient enfin délivré la peinture des chaînes académiques, devaient avoir une grande influence sur les destinées de l’art français.5

Noch fünf Jahre später bezeichnet Apollinaire de Vlaminck in seinem Artikel ‘Mélanophilie ou mélanomanie’ als Initiator der «mélanomanie».6 Etwa zur selben Zeit wie Vlaminck und Derain beginnt auch Henri Matisse sich für die afrikanische Skulptur zu interessieren, einer anderen Quelle zufolge soll tatsächlich er es gewesen sein, der Picasso mit ihr vertraut machte.7 Auch in Décaudins Zusammenstellung möglicher Initiatoren der «Mélanophilie» finden sich Hinweise dafür, die auf Matisse und Derain hindeuten.8 Bei Klaus Kiefer wiederum ist zu lesen, der ungarische Bildhauer Joseph Brummer habe sich als erster mit der afrikanischen Kunst beschäftigt, sie erworben, in Umlauf gebracht und Picasso 1906 damit bekannt gemacht.9 Der von Apollinaire geförderte Kunstsammler und -händler Paul Guillaume deutet in seinem Artikel ‘Une esthétique nouvelle. L’art nègre’ an, dass er selbst bereits 1904 Apollinaire auf die ‘primitive’ Kunst aufmerksam gemacht habe:

5 PrII, S. 1514 f. 6 «Telle fut l’origine d’une curiosité dont l’initiateur fut, je crois il y a quelque seize ans, le peintre Maurice de Vlaminck. S’il n’a pas la prétention de vulgariser le goût des sculptures nègres de toutes les époques, de toutes les régions, de toutes le tendances, de tous les ateliers, du moins a-t-il eu le mérite d’être le premier à recueillir une série d’exemplaires typiques de la culture fétichiste, en se souciant, non pas des caractères ethniques des statues nègres, mais de leur beauté qui retient, à présent, l’attention de nombreux artistes, esthéticiens et amateurs contemporains.» Guillaume Apollinaire: Mélanophilie ou mélanomanie [1917]. In: PrIII, S. 252–255, hier S. 254 f. 7 Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 31. 8 Michel Décaudin: Guillaume Apollinaire devant l’art négre, S. 319. 9 Vgl. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 156.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

C’est en 1904, chez une blanchisseuse de Montmartre, que le hasard m’a conduit pour la première fois devant une idole noire. […] A cette époque, je commençais à fréquenter les milieux littéraires et les peintres. Je connaissais Guillaume Apollinaire et c’est à lui d’abord que je montrai ma trouvaille. Je ne rencontrerai sans doute plus de ma vie un esprit aussi enthousiaste, aussi clairvoyant que l’était Guillaume Apollinaire devant l’œuvre d’art qui révèle quelque chose de rare et étrange.10

Seiner Darstellung zufolge ist die ‘primitive’ Kunst um 1907 eine Inspiration für die Maler gewesen: Vers 1907, à Paris, quelques personnes qui s’intéressaient aux mouvements d’art contemporains, commencèrent à parler de la sculpture nègre. Des peintres qui cherchaient à produire certains effets sur la toile […] découvrirent soudain que des effets semblables avaient déjà été obtenus avec un grand succès remarquable dans l’art primitif africain.11

Wer als erster die afrikanische Kunst ‘entdeckt’ und den kubistischen Künstlern zeigt, mag unklar bleiben, sicher ist jedoch, dass Apollinaire in der Förderung und Wertschätzung der ‘primitiven’ Kunst der Indigenen sowie der modernen kubistischen Kunst eine wesentliche Rolle spielt. Er ist nicht nur ein interessierter Sammler, sondern gilt geradezu als ein «Katalysator»12 des Interesses an der ‘primitiven’ Kunst. Seine Aufmerksamkeit gilt besonders der afrikanischen und ozeanischen Kunst. Paul Guillaume bezeichnet ihn als «l’apôtre le plus passionné de la plastique noire».13

1.1 Apollinaires Beitrag: Sculptures nègres Gleichermaßen ist Apollinaire ein ‘Katalysator’ der kubistischen Kunst: On ne peut nier que c’est lui qui a présenté Braque à Picasso; que c’est lui qui a écrit la préface au catalogue de la première exposition Braque chez Kahnweiler; que c’est lui qui a soutenu avec éloquence les peintres qui exposaient ensemble au Salon des Indépendants de 1911; que c’est lui enfin l’auteur des Peintres cubistes.14

10 Paul Guillaume: Une esthétique nouvelle. L’art nègre [1919]. In: ders.: Les écrits de Paul Guillaume. Une esthétique nouvelle. L’art nègre. Ma visite à la Fondation Barnes. Neuchâtel: Ides et Calendes 1993, S. 15–21, hier S. 15 f. Les écrits de Paul Guillaume werden im Folgenden abgekürzt mit PG. 11 Paul Guillaume: Comment s’est développé le goût pour l’art africain [1925]. In: PG, S. 9–13, hier S. 9. 12 Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp. 13 Paul Guillaume: Une esthétique nouvelle. L’art nègre, S. 18. 14 LeRoy C. Breunig: Apollinaire et le cubisme. In: Michel Décaudin (Hg.): La revue des lettres modernes 69–70: Guillaume Apollinaire, le cubisme et l’esprit nouveau. Études et informations (1962), S. 7–24, hier S. 8.

1 Die ‘Entdeckung’ der ‘primitiven’ Kunst

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In mehreren Artikeln setzt sich Apollinaire mit dem Einfluss ‘primitiver’ Kunstwerke und den von ihr gewonnenen ästhetischen Möglichkeiten für die zeitgenössische Kunst auseinander,15 beispielsweise in den Werken Gauguins, Matisses, Rousseaus und Picassos. Der Einfluss, den Apollinaires Meinung auf die Kunstwelt hat, wird nicht von jedem gern gesehen, wie der Artikel ‘Le Salon Indépendant et la critique’ (1914) deutlich macht, in dem der Verfasser M. Thiessen Apollinaire Inkompetenz vorwirft.16 Apollinaire reagiert dementsprechend: «il serait bon qu’il [Thiessen] achevait sa pensée en nous disant quels artistes médiocres la critique des poètes a mis au premier rang et quels génies elle a méconnus.»17 Der Begriff «critique des poètes» bestätigt den Einfluss der Dichter auf die Kunstwelt, insbesondere was die Verteidigung der Werke von Künstlern wie Degas, Cézanne, Henri Rousseau, Matisse, Picasso und Braque betrifft.18 Zu diesem Kreis der «critique des poètes […], qui surent défendre avec conviction les peintres des nouvelles générations abandonnées par la critique professionnelle» gehört, «par les liens de l’amitié», auch Ardengo Soffici.19 Auch er thematisiert in seinen kunstkritischen Schriften den Einfluss der ‘primitiven’ Kunstwerke auf moderne Künstler wie Gauguin und Picasso und deutet diese Entwicklung als eine Abwendung vom Impressionismus:20 Quest’arte fu la pittura e la scultura degli antichissimi egiziani, e quelle affini – e forse anche più nativamente sintetiche – dei popoli selvaggi dell’Africa meridionale. […] Gauguin […] s’era rifugiato nello studio di quei mondi artistici primordiali […]. Picasso invece – una volta arrivato alla comprensione e all’amore di quell’arte ingenua e grande, semplice ed espressiva, grossolana e raffinata ad un tempo, subito seppe appropriarsene le virtù essenziali.21

15 Zum Beispiel in den folgenden Aussagen: «on a déjà signalé l’influence que les fétiches des sauvages avaient exercée sur l’art contemporain» Guillaume Apollinaire: Exotisme et ethnographie [1912]. In: PrII, S. 473–476, hier S. 476. «De nos jours ces œuvres expressives sont entrées dans le domaine de l’art.» Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui [1913]. In: PrII, S. 594–598, hier S. 595. «Ces fétiches qui n’ont pas été sans influencer les arts modernes ressortissent tous à la passion religieuse qui est la source d’art la plus pure.» Guillaume Apollinaire: Sculptures d’Afrique et d’Océanie [1918]. In: PrII, S. 1415. 16 Zum Beispiel schreibt Thiessen: «Votre éclectisme est le résultat de votre curieuse incompréhension de la peinture.» Ebda., 1619. 17 Guillaume Apollinaire: La critique des poètes [1914]. In: PrII, S. 671 ff., hier S. 673. 18 Vgl. ebda., S. 671 und La Ghirba [1918]. In: PrII, S. 1413. 19 Guillaume Apollinaire: La Ghirba. In: PrII, S. 1413 Exemplarisch für die Vehemenz, mit der Apollinaire die Kubisten verteidigt vgl. Le salon d’automne [1911]. In: PrII, S. 371 f. 20 Diese Deutung – der Kubismus sei eine Reaktion auf den Impressionismus – finden wir auch drei Jahre zuvor, 1911, bei Apollinaire. Vgl. Guillaume Apollinaire: Le salon d’automne. In: PrII, S. 372. 21 Ardengo Soffici: Picasso e Braque [1911]. In: SOI, S. 617–633, hier S. 623f., auch S. 626: «Picasso […], risalendo alle arti primitive e barbare» Und «Chi desiderasse nomi celebri di precursori del cubismo, anche senza risalire ai nostri primitivi, ai bizantini, agli egiziani, agli africani, si potrebbero citare quelli di Masaccio, del Greco, di Rembrandt, di Tintoretto … .», ders.: Cubismo e oltre [1913]. In: SOI, S. 633–655, hier S. 633f.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

Möglicherweise hat er diese Beobachtung von Apollinaire übernommen, der ebenfalls auf die antike Kunst im Zusammenhang mit der ‘primitiven’ Kunst hinweist.22 Um die indigene Kunst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, plant Apollinaire ein Buch, das den Titel L’art chez les sauvages tragen soll. Dieses Vorhaben wird er nie realisieren, jedoch veröffentlicht der von ihm unterstützte Kunsthändler Paul Guillaume23 1917 das Album Sculptures nègres, das mehrere Photographien afrikanischer Skulpturen enthält. Paul Guillaume macht in seiner Einführung zu diesem Band auf den Einfluss der ‘primitiven’ Kunst und die sich immer weiter verbreitende Begeisterung aufmerksam, nicht ohne bei der Gelegenheit, wie Apollinaire drei Jahre zuvor, zu kritisieren, dass das Musée du Trocadéro hinsichtlich der ästhetischen Behandlung der Kunstwerke noch weit hinter den anderen europäischen Museen zurückstehe.24 Für diesen Band verfasst Apollinaire auf Bitten Guillaumes ein Vorwort, dessen Inhalt er zu großen Teilen seinem im selbigen Jahr im Mercure de France bereits erschienenen Artikel mit dem bezeichnenden Titel ‘Mélanophilie ou mélanomanie’ entnimmt.25 Neben aller Begeisterung bedauert Apollinaire den fehlenden systematischen Zugang zur afrikanischen Kunst. In seinem Vorwort zu

22 Vgl. Guillaume Apollinaire: Mélanophilie ou mélanomanie. In: PrIII, S. 253. Soffici war offensichtlich mit Apollinaires Schriften über Picasso bekannt: «Fu alludendo a queste opere che Guillaume Apollinaire, il quale scrisse di Picasso verso quell’epoca, notava già la sobrietà verso cui tendeva la sua ricerca e quel ritorno a una più generale comprensione delle cose viste nella loro corposità e non più dissolte per le varie accidentalità delle illuminazioni e dei riflessi.» Ardengo Soffici: Picasso e Braque. In: SOI, S. 623. 23 Die fördernde Rolle, die Apollinaire für Paul Guillaumes Karriere als Kunsthändler spielt, wurde kürzlich mit der Veröffentlichung der Korrespondenz der beiden hervorgehoben. Guillaume Apollinaire/Paul Guillaume: Correspondance. Herausgegeben von Peter Read. Paris: Gallimard 2016. 24 Vgl. «Il y a plusieurs années que les idoles nègres sont recherchées. Les artistes d’avantgarde en subirent l’influence; certains en devinrent fanatiques. Les collectionneurs voulurent en posséder. Déjà les musées se souciaient d’en acquérir et en reconnurent bien vite les mérites artistiques. Ceci, il faut l’avouer, n’est vrai que pour ceux de l’étranger, le Musée du Trocadéro ne les abritant guère qu’en considération de leur intérêt ethnographique. Le South Kensington de Londres, le Musée de Leyde en Hollande, celui de Tervueren en Belgique, de Boston aux États-Unis, ceux d’Allemagne, exposent dans leurs vitrines des sculptures nègres à côté des plus beaux vestiges des arts antiques.» Paul Guillaume: Exposé. In: ders.: Sculpture nègre. In: Sculptures Nègres/Sculptures d’Afrique, d’Amérique, d’Océanie. New York: Hacker Art Books 1973, ohne Seitenangaben. 25 Guillaume Apollinaire: Mélanophilie ou mélanomanie. In: PrIII, S. 252–255. Der Artikel wurde sehr positiv aufgenommen. Paul Guillaume hatte nach der Lektüre des Artikels Apollinaire darum gebeten, ihm diesen in leicht veränderter Form als Vorwort für sein im Erscheinen begriffenes Buch Sculptures nègres zur Verfügung zu stellen. Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 46.

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Sculptures nègres konstatiert er, «aucun appareil critique n’est encore à la disposition de cette nouvelle curiosité».26 Das Publikum sei eine präzise Katalogisierung, eine genaue Angabe der Meister und der Kunstschulen bei einem Kunstwerk gewohnt, aber im Falle der indigenen Kunst wäre eine «présentation analogue […] impossible».27 Die genaue Herkunft der Werke sei meist ungewiss und sie könnten keinem spezifischen Künstler zugeordnet werden. Es sei daher unmöglich «de fixer l’époque certaine des plus beaux de ces fétiches de bois».28 Der Versuch einer Klassifikation wäre sowieso vergeblich: «pour ce qui concerne l’art africain, cette classification serait souvent en défaut, et nous ne nous hasarderons pas non plus dans cette voie.»29 Ein Jahr später, 1918, regt er jedoch an, diese Lücke zu schließen: Il faut maintenant que les chercheurs, les savants, les hommes de goût collaborent pour que l’on arrive à une classification rationnelle de ces sculptures d’Afrique ou d’Océanie. Quand on connaîtra bien les ateliers et l’époque où elles furent conçues, on sera plus à même de juger de leur beauté et de les comparer entre elles, ce que l’on ne peut guère faire aujourd’hui, les points de repère ne permettant encore que des conjectures.30

Dieses offensichtliche Bedauern einer fehlenden Systematisierung sollte als Ausdruck des Bestrebens gesehen werden, die indigenen Werke als ernst zu nehmende Kunst zu etablieren, indem sie durch westliche wissenschaftliche Untersuchungen klassifizierbar und damit fassbar gemacht würden. Das Bedauern der fehlenden Klassifikation ist ambivalent, denn in Apollinaires Vorwort zu Sculptures nègres wird ebenso deutlich, dass gerade diese Unmöglichkeit der Zuschreibung eines Ortes, einer genauen Epoche und einer Schule zum Reiz und zur Faszination dieser Kunst beitragen.31 Die ästhetische Empfindung werde geradezu von diesem «Geheimnis» getragen: Celui qui entreprendrait de telles recherches esthétiques, ne pourrait s’appuyer sur aucun écrit, aucune inscription ancienne, et, sauf quelques précisions et surtout quelques hypothèses anthropologiques sur la destination religieuse des idoles en question, rien ne vient éclairer le mystère de leur anonymat aémère, et il faudra longtemps encore se contenter

26 Guillaume Apollinaire: À propos de l’art des noirs. In: Paul Guillaume: Sculpture nègre [1917]. In: Sculptures Nègres/Sculptures d’Afrique, d’Amérique, d’Océanie. New York: Hacker Art Books 1973, ohne Seitenangaben. 27 Ebda. 28 Ebda. 29 Ebda. 30 Guillaume Apollinaire: Sculptures d’Afrique et d’Océanie. In: PrII, S. 1416. 31 Dies scheint auch für Picasso der Fall gewesen zu sein: «Picasso possède un certain nombre de pièces des origines les plus variées; il fait coquetterie de n’attacher aucune importance aux époques.» Paul Guillaume: Une esthétique nouvelle. L’art nègre, S. 18.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

de n’éprouver vis-à-vis des idoles nègres que des sensations esthétiques et d’évocation poétique.32

Zum Ausdruck kommt Apollinaires Faszination für das Rätselhafte und Unklassifizierbare dieser Kunst auch in seiner Bezeichnung der Kunstwerke als «belles œuvres de l’art mystérieux des noirs».33 In seiner Besprechung der indigenen Kunst fallen Parallelen zu seinem ästhetischen Selbstverständnis auf. Zum ersten mag der Umstand, dass die indigenen Werke keiner Schule zugeordnet werden können, ihn in seinem eigenen Bedürfnis, keiner literarischen Schule zugeordnet zu werden, angesprochen haben. Zum zweiten hat auch das Mysteriöse, Unentdeckte einen hohen Stellenwert in seiner eigenen Poetik:34 Nous voulons vous donner de vastes et d’étranges domaines Où le mystère en fleurs s’offre à qui veut le cueillir Il y a là des feux nouveaux des couleurs jamais vues Milles phantasmes impondérables35

Das erklärte Ziel der Herausgabe von Sculptures Nègres ist nicht, eine von einem wissenschaftlichen bzw. ethnologischen Standpunkt aus klassifizierte, in Epochen und Strömungen eingeteilte Zusammenstellung zu liefern, sondern «avant tout l’agrément et ensuite de réunir une série d’exemples typiques au point de vue esthétique.»36 Apollinaire weist ausdrücklich auf den Kunstwerkstatus der Objekte hin: C’est par une grande audace du goût que l’on est venu à considérer ces idoles nègres comme de véritables œuvres d’art. […] on se trouve ici en présence de réalisations esthétiques auxquelles leur anonymat n’enlève rien de leur ardeur, de leur grandeur, de leur véritable et simple beauté.37

Es soll insbesondere der ästhetische Wert, den die zeitgenössischen Künstler und Sammler bereits erkannt haben, propagiert werden. Dieser sei schließlich unabhängig von systematischen Einordnungen.

32 Guillaume Apollinaire: À propos de l’art des noirs, k.S. 33 Ebda. 34 Michel Décaudin: Guillaume Apollinaire devant l’art négre, S. 323 f. 35 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: ders.: Œuvres poétiques. Herausgegeben von Marcel Adéma und Michel Décaudin. Paris: Gallimard 1965 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 313 f. hier 313. Die Œuvres poétiques werden im Folgenden abgekürzt mit Po. 36 Guillaume Apollinaire: À propos de l’art des noirs, k.S. 37 Ebda., auch in: Guillaume Apollinaire: ‘Mélanophilie ou mélanomanie’. In: PrIII, S. 255.

1 Die ‘Entdeckung’ der ‘primitiven’ Kunst

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1.2 Kulturrelativistischer Standpunktwechsel: ‘Primitive’ Werke sind auch Kunst Wie auch Picasso hat Apollinaire der Besuch des Musée d’ethnographie du Trocadéro zutiefst beeindruckt und Anlass gegeben, auf der Wichtigkeit der indigenen Kunst zu insistieren, welche bis dato keine öffentliche Anerkennung gefunden habe und nur als Kuriosität ausgestellt worden sei: Il faudrait aussi faire un effort en faveur de certaines manifestations artistiques que l’on a complètement négligées jusqu’ici. Il s’agit des œuvres de certaines contrées, de certaines colonies, comme l’Australie, l’île de Pâques, la Nouvelle-Calédonie, les Nouvelles-Hébrides, Tahiti, les diverses régions africaines, Madagascar, etc. Jusqu’à présent on n’a guère admis les œuvres d’art issues de ces pays que dans les collections ethnographiques où elles ne sont conservées qu’à titre de curiosité, de document, pêle-mêle parmi les objets les plus vulgaires, les plus communs et parmi les productions naturelles de leurs régions.38

Mehrmals ruft er dazu auf, die staatlichen Sammlungen zu erweitern,39 mehr Ausstellungsfläche zur Verfügung zu stellen40 oder gar eine Art ‘Louvre für exotische Kunst’ zu gründen.41 Er betont die Notwendigkeit, die Kunstwerke der indigenen Völker nicht nur von einem ethnologischen Standpunkt aus zu betrachten, sondern vor allem aus einer ästhetischen Perspektive: «Le musée ethnographique du Trocadéro mériterait d’être développé et non pas seulement au point de vue ethnographique, mais surtout au point de vue de l’art.»42 Das Musée du Trocadéro solle in dieser Hinsicht weiterentwickelt werden: «La réforme du musée du Trocadéro s’impose. Il faudrait séparer de l’ethnographie les objets dont le caractère est surtout artistique et qui devraient être mis dans un autre musée.»43 Auch diese Worte zeigen deutlich, dass Apollinaire daran gelegen ist, auf die ästhetischen Werte aufmerksam zu machen, welche zwar die Künstler und Kunstsammler seiner Zeit längst erkannt

38 Guillaume Apollinaire: Sur les musées [1909]. In: PrII, S. 122 ff., hier S. 123. 39 «Quant à augmenter ses collections d’art exotique, l’État n’y songe guère. […] il n’y a même pas au Trocadéro une collection intéressante relative à l’art si particulier des indigènes de Madagascar.» Guillaume Apollinaire: Exotisme et ethnographie. In: PrII, S. 474. 40 Guillaume Apollinaire: Le musée du Trocadéro [1914]. In: PrII, S. 833. 41 «On pourrait même faire plus et il n’y a pas de raison pour qu’on ne fonde pas un grand musée d’art exotique, qui serait à cet art ce que le Louvre est à l’art européen.» Guillaume Apollinaire: Exotisme et ethnographie. In: PrII, S. 475, auch hier «Il faudrait créer à Paris un grand musée exotique pour remplacer le musée ethnographique du Trocadéro», ders.: Sur les musées. In: PrII, S. 123. 42 Guillaume Apollinaire: Exotisme et ethnographie. In: PrII, S. 475. 43 Ebda., S. 476.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

haben,44 die aber die Öffentlichkeit noch nicht anerkennt. Apollinaire betont die Ebenbürtigkeit der indigenen und der westlichen Kunst: «Le Louvre devrait recueillir certains chefs-d’œuvre exotiques dont l’aspect n’est pas moins émouvant que celui des beaux spécimens de la statuaire occidentale.»45 Ein weiteres Beispiel für seinen Kulturrelativismus in Hinblick auf die Literatur findet sich in dem kleinen, anekdotischen Artikel Apollinaires mit dem Titel ‘Poèmes tongouses’ in La Vie anecdotique vom 1. Juni 1912, in dem er von der Begegnung mit einem Reisenden und dessen Übersetzung eines tongusischen Gedichts berichtet. Apollinaire schließt: «Tout cela a bien autant de valeur que beaucoup de poèmes contemporains.»46 Nicht zuletzt zeugt auch der Versuch einer kulturellen Übersetzung der Fetischskulpturen in ‘Zone’ von einer gewissen interkulturellen Sensibilität. Die Skulpturen seien eine Art Christus, nur in einer anderen Form und eines anderen Glaubens:47 Dormir parmi tes fétiches d’Océanie et de Guinée Ils sont des Christ d’une autre forme et d’une autre croyance48

Apollinaires positive Betrachtung der ‘primitiven’ Kunst ist alles andere als selbstverständlich – erst im Jahr 2000 wurde Apollinaires Forderung, der Louvre müsse auch ‘primitive’ Kunst ausstellen, realisiert.49 Die staatlichen Museen sehen 1912 die Kunst indigener Völker als «grossiers fétiches, témoignages grotesques de superstitions ridicules»50 an, und noch 1914 bemerkt er anlässlich einer bevorstehenden Ausstellung afrikanischer Skulpturen: «il se peut que beaucoup d’eau passe encore sous les ponts que l’art africain reçoive la grande consécration parisienne.»51 Auch Paul Guillaume erinnert sich, dass die ‘primitive’ Kunst bei der «critique académique»

44 Vgl. «Il y a longtemps déjà qu’un grand nombre d’artistes ne cachent plus leur admiration pour les sculpteurs inconnus du Congo, pour la précision passionnée de quelques ouvrages des Canaques ou des Maoris.» Guillaume Apollinaire: Sur les musées. In: PrII, S. 123. 45 Ebda. 46 Guillaume Apollinaire: Poèmes tongouses [1912]. In: PrIII, S. 111. 47 Vgl. Timothy Mathews: Reading Apollinaire. Theories of poetic language, S. 105. 48 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’ [1912]. In: ders.: Alcools [1913]. In:Po, S. 40–44, hier S. 44. 49 Jack Flam: ‘Introduction’. In: Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentiethcentury Art. A documentary history, S. 1–22, hier S. 6. 50 Guillaume Apollinaire: Exotisme et ethnographie. In: PrII, S. 473. 51 Guillaume Apollinaire: Exposition de sculptures nègres [1914]. In: PrII, S. 837. Es gibt noch weitere ähnliche Textstellen, z. B. «Je suis sûr que cette divinité surprenante est encore presque ignorée des Parisiens. Le musée du Trocadéro n’est guère fréquenté que le dimanche et n’y vont que les militaires en congé et les bonnes d’enfant en balade.» Ders.: Exotisme et ethnographie. In: PrII, S. 474, «Les singuliers fétiches que l’on peut admirer à Paris, au musée du Trocadéro, étaient restés jusqu’à notre temps méprisés des artistes aussi bien que du public.» Ders.: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 595.

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auf Widerstand stieß, wenn sie auch von den Künstlern begeistert aufgenommen wurde: La critique académique répliqua que de pareils postulats étaient de pure fantaisie; disciplinés par les canons grecs qui régissent la beauté sculpturale, ses yeux se refusaient à voir en ces fétiches autre chose qu’un comique grotesque, repoussant ou, tout au plus, curieusement bizarre. Mais des jeunes se mirent à copier les motifs nègres, les interprétant par la pierre ou par la peinture, traitant des sujets modernes dans la manière nègre, parlant ou écrivant sur la sculpture nègre en termes extatiques et non sans quelque incohérence.52

Vor diesem geistigen Hintergrund ist verständlich, warum Apollinaire behauptet, Sculptures nègres sei das erste Buch, «où l’on se soit soucié de mettre en valeur, non pas le caractère ethnique des statues nègres, mais leur beauté qui a déjà retenu l’attention des artistes et des amateurs contemporains.»53 Tatsächlich handelt es sich bei dieser Behauptung um eine Übertreibung, denn Paul Guillaumes und Apollinaires Kunstband gesellt sich zu einer Reihe anderer bedeutender Veröffentlichungen zur Kunst der ‘primitiven’ Völker und ihrem Einfluss auf die zeitgenössische Kunst, die im Zeitraum 1905–1930 erscheinen. Zu den Denkern, die wie Apollinaire einen anderen Blick auf die Werke haben und sie als Kunst verstehen, gehört auch Carl Einstein, dessen Band Negerplastik bereits 1915 erscheint. Aus Einsteins Werk geht hervor, dass die ‘primitiven’ Werke bereits ernst genommene Studienobjekte darstellen, in denen die Künstler Lösungen, beispielsweise den Raum und die Plastizität betreffend, für ihre ästhetischen Probleme finden. Dies habe zu einem neuen Kunstverständnis geführt und zu einer Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten beigetragen: «Was vorher sinnlos erschien, gewann in den jüngsten Bestrebungen des bildenden Künstlers Bedeutung; man erriet, daß kaum irgendwo bestimmte Raumprobleme und eine besondere Weise des Kunstschaffens in dieser Reinheit gebildet waren, wie bei den Negern.»54 Einstein thematisiert aber auch deutlich die Schwierigkeit der ‘primitiven’ Kunst, in einem eurozentristischen Milieu anerkannt zu werden: Kaum einer Kunst nähert sich der Europäer dermaßen mißtrauisch, wie der afrikanischen. Zunächst ist er hier geneigt, überhaupt die Tatsache ‘Kunst’ zu leugnen, und drückt den Abstand, der zwischen diesen Gebilden und der kontinentalen Einstellung sich auftut, durch eine Verachtung aus, die sich geradezu eine verneinende Terminologie schuf.55

Ein Jahr später, 1916, erscheint, um nur ein weiteres Beispiel für diejenigen zu nennen, die beginnen, die indigene Kunst von einem ästhetischen Standpunkt aus zu untersuchen und von ihnen eine Verbindung zur zeitgenössischen Kunst

52 53 54 55

Paul Guillaume: Comment s’est développé le goût pour l’art africain, S. 10. Guillaume Apollinaire: À propos de l’art des noirs, k.S. Carl Einstein: Negerplastik, S. VI. Ebda., S. V.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

zu ziehen, African Negro Art and Modern Art des mit Apollinaire bekannten Malers und Galeristen Marius de Zayas.56 Dieses Werk ist jedoch nicht frei von dem verbreiteten evolutionistischen Schema, das die ‘primitive’ Kunst in einem kindlichen mentalen Stadium verortet.57

1.3 Paul Guillaume: ‘L’art nègre et l’esprit de l’époque’ Gegen dieses evolutionistische Schema verteidigt neben Carl Einstein auch Paul Guillaume die indigene Kunst: «Ces figurines ne représentaient pas, après tout, de simples tentatives enfantines en vue de produire des statues comme nous les entendons; c’étaient des tentatives réussies en vue de produire des statues d’une espèce entièrement différente.»58 Vehement richtet sich Guillaume gegen das in seiner Zeit vorherrschende Vorurteil, die ‘Primitiven’ wären eine frühere Stufe der Zivilisation: Les détracteurs, les irréfléchis, ceux que l’impuissance prive d’une appréciation désintéressée et libre des œuvres du génie humain, traitent encore les races africaines de primitives, certains voudraient que l’on comparât le centre du continent noir à ce qu’était la France, par exemple, à l’époque magdalénienne. Quel manque de lucidité, d’esprit, d’imagination, d’indépendance.59

In Anbetracht dieser Fortschrittlichkeit sind die lobenden Worte von Albert C. Barnes, Stifter der Barnes Foundation, verständlich, wenn er Paul Guillaume 1923 folgendermaßen charakterisiert: Known to the world in general as the best-informed man on ancient negro art, […] honoured by nearly every artist, collector, connoisseur and writer on three continents as the Parisian who felt the pulse-beat of the modern movement when its creators were obscure and unknown.60

Tatsächlich setzt Paul Guillaume das Erbe seines Förderers Apollinaire fort61 und bemüht sich nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt darum, die afrikanische

56 Eine umfassende Anthologie bietet der Band Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history. 57 Vgl. Jack Flam: ‘Introduction’, S. 7. 58 Paul Guillaume: Comment s’est développé le goût pour l’art africain, S. 10. 59 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique. In: PG, S. 23–60, hier S. 25. 60 Albert C. Barnes: The Temple [1924]. In: PG, S. 127–133, hier S. 130 f. 61 André Dezarrois macht deutlich, dass Paul Guillaume von Apollinaire den Anstoß für seine intensive Förderung der primitiven Kunst erhalten habe: «Guillaume Apollinaire, le subtil, avait lancé dans cette voie le jeune commis qui, amoureux des bois sculptés par les Noirs, les exhibait en belle place dans les vitrines d’un marchand de caoutchouc, son patron.» André Dezarrois: L’art nègre en deuil [1934]. In: PG, S. 147–148, hier S. 147.

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Kunst bekannt zu machen. Gemeinsam mit dem Kunstsammler André Level organisiert er 1919 in der Galerie Devambez eine Ausstellung, die ‘Première Exposition d’Art Nègre et d’Art Océanien’.62 In seinem Artikel ‘Une esthétique nouvelle’ desselben Jahres thematisiert er die ästhetischen Werte der indigenen Kunst und gibt einen Überblick über die Künstler und Autoren, die sich mit der afrikanischen Plastik auseinandersetzen.63 Zu ihnen zählt natürlich Apollinaire, den er auch in anderen Publikationen hervorhebt.64 Trotz seiner Konzentration auf die indigene Skulptur und deren Einfluss auf die zeitgenössische Kunst berührt Guillaume in seinen Publikationen die ganze Bandbreite der indigenen Lebenswelt, unter anderem die Rolle der Magie und den Animismus, und erkennt auch den poetischen Wert der indigenen Legenden an.65 In diesem Zusammenhang sticht neben Apollinaire insbesondere Blaise Cendrars aus der Gruppe der von Guillaume erwähnten Schriftsteller hervor, da sein Interesse ebenfalls nicht nur den Skulpturen gilt, sondern auch der indigenen Lebenswelt. Dies zeigt sich in zahlreichen Gedichten, unter anderem in seinen Poèmes nègres und seiner Anthologie nègre, einer Sammlung verschiedener Schöpfungsgeschichten und mündlich überlieferter Legenden. Obwohl er bereits ab Februar 1916 mit der Arbeit an beiden Werken beginnt, erscheint die Anthologie nègre erst 1921. Erst im Jahr darauf veröffentlicht er das Gedicht ‘Les grands fétiches’ aus den Poèmes nègres, welches besonders eindrucksvoll von der zeitgenössischen Faszination für die Plastizität der indigenen Kunst zeugt. Dabei werden die Skulpturen entweder aus einer Beobachterperspektive beschrieben – III Nœud de bois Tête en forme de gland Dur et réfractaire Visage dépouillé Jeune dieu insexué et cyniquement hilare66

–, oder sie werden direkt angesprochen –

62 Jack Flam: ‘Introduction’, S. 13. 63 Paul Guillaume: Une esthétique nouvelle. L’art nègre. In: PG, S. 15–21. Ebenso in: ders.: L’art nègre et l’esprit de l’époque [1925]. In: PG, S. 73–76, hier S. 73. 64 Vgl. auch in: Paul Guillaume: The discovery and appreciation of primitive negro sculpture [1926]. In: PG, S. 97–103, hier S. 99. 65 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 48. 66 Blaise Cendrars: ‘Les grands fétiches’ [1917/1922]. In: ders.: Poèmes nègres [1922]. In: PC, S. 119 ff., hier S. 119.

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IV L’envie t’a rongé le menton La convoitise te pipe Tu te dresses Ce qui te manque du visage Te rend géométrique Arborescent Adolescent67

–, oder Cendrars lässt die Skulpturen selbst sprechen, was auf einen gewissen Identifikationsschritt schließen lässt – VII Je suis laid! Dans ma solitude à force de renifler l’odeur des filles Ma tête enfle et mon nez va bientôt tomber68

In Cendrars’ Gedicht zeigt sich das Interesse an einfachen («Visage dépouillé») und abstrakten Formen («Ce qui te manque du visage/Te rend géométrique») und der Technik der Deformation («Ma tête enfle»). Es handelt sich möglicherweise um eine Beschreibung von zehn Exponaten des British Museum, wie die Datierung «British Museum, Londres, février 1916» am Ende des Gedichts nahelegt. Gesichert ist dies jedoch nicht, da sich Cendrars 1916 nicht in London aufhielt und zudem auf den Manuskripten andere Ortsangaben, nämlich Paris und Cannes, zu finden sind.69 Doubinsky sieht in der Fälschung der Ortsangabe einen bewussten Versuch Cendrars’, sich von Apollinaire, der als Entdecker und Förderer der indigenen Kunst gilt, und dem von ihm geförderten Kunsthändler und Sammler indigener Kunst Paul Guillaume zu distanzieren: En choisissant Londres plutôt que Paris, Cendrars délocalise aussi la genèse acceptée de la découverte de l’Art Nègre à Paris par Apollinaire chez le collectionneur Paul Guillaume, ou plutôt, il s’en détache en l’effaçant totalement et doublement: d’abord par la ville, ensuite par le lieu, ‘British Museum’, au lieu de l’appartement de Paul Guillaume, ou de la salle accueillant l’exposition Lyre et palette, où ont été présentées pour la première fois 25 statues nègres des collectionneurs, du 19 novembre au 5 décembre 1916 (soit neuf mois après la date d’écriture de la série sur le manuscrit). Il s’agit donc bien d’un geste conscient chez Cendrars et porteur de sens.70

67 Ebda., S. 120. 68 Ebda. 69 Sébastien Doubinsky: Blaise Cendrars et ses Grands Fétiches. L’objet colonisé comme médium instable du poétique. In: Orbis Litterarum 71, 6 (2016), S. 509–524, hier S. 517. 70 Ebda., S. 517 f.

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Vermutlich hat Cendrars die von ihm beschriebenen Exponate auf Photographien gesehen, die zu der Zeit im Umlauf waren, zudem ähnelt die Beschreibung der vierten Statue einem Objekt aus der Sammlung Paul Guillaumes.71 Unter dem Begriff ‘art nègre’ fällt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Sammelsurium unterschiedlichster Völker und Kunstrichtungen. Guillaumes Artikel ‘L’art des Noirs de l’Afrique’ ist ein Ansatz, die von Apollinaire bedauerte fehlende Klassifikation und Charakterisierung der Kunst verschiedener Regionen und Stämme zu erarbeiten. Dabei geht er auch auf ihren Einfluss auf die zeitgenössische Kunst ein. So sieht Paul Guillaume besonders in der sudanesischen Kunst die Inspirationsquelle für den Kubismus: «C’est plus particulièrement à l’art abstrait, presque ésotérique, du Soudan noir que le cubisme semble redevable de ses tout premiers moyens d’expression.»72 Die ‘primitive’ Kunst hat nicht nur ästhetisch Einfluss auf die moderne Kunst, sondern konstituiert den «esprit de l’époque», wie bereits der Titel ‘L’art nègre et l’esprit de l’époque’ eines weiteren Artikels Guillaumes deutlich macht.73 In der Einleitung wurde die These formuliert, dass der Primitivismus nicht nur als ein Phänomen der bildenden Kunst, sondern auch der Literatur angesehen werden muss. Dass dies für die Literatur der frühen französischen Avantgarde gilt, zeigt sich in den Schriften Guillaumes deutlich, denn er thematisiert nicht nur den evidenten Einfluss der afrikanischen Kunst auf die moderne Kunst, sondern macht auch stark, dass es ebenso eine «école nègre»74 in Literatur, Musik und Architektur gebe: L’effet sur d’autres arts a été moins apparent mais aussi réel. La musique du groupe français connu comme celui des Six – Satie, Auric, Honneger, Milhaud, Poulenc et Tailleferre – a incorporé l’ancienne âme nègre en des formes musicales accusant en même temps un haut degré de culture musicale européenne. Une grande partie de Stravinski, comme nous l’avons déjà donné à entendre, et des Ballets russes sous Diaghilev, doit son inspiration aux sources africaines en même temps qu’aux traditions de la musique et de la danse russes. Des architectes tels que les frères Perret et Jeanneret, des poètes et des prosateurs tels que Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau, Max Jacob, Blaise Cendrars et Reverdy (tous ayant de bonne heure soutenu le mouvement) révèlent, et dans beaucoup de cas ont explicitement reconnu, le caractère fondamentalement nègre de leur œuvre en ce qui concerne son fonds d’émotion et sa forme d’expression.75

71 Ebda., S. 518. 72 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 38 f. 73 Guillaume zum Einfluss der afrikanischen Kunst auf die moderne Kunst: «Les arts modernes, dont la floraison confère à notre époque son enchantement unique, ressortissent à un ordre de données sensationnellement offertes à la curiosité des esthéticiens par la révélation de l’art nègre.» Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque, S. 73. 74 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne [1926]. In: PG, S. 77–95, S. 79 f. 75 Ebda.

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Guillaumes Reflexionen verdeutlichen den Einfluss der ‘primitiven’ Kunst auf alle Bereiche der künstlerischen Produktion, wobei er hervorhebt, dass sich dieser Einfluss nicht allein auf technische Aspekte der Kunst beschränkt, sondern es sich um eine «inspiration spirituelle léguée aux temps modernes par des artistes anonymes de la race noire»76 handele. Dementsprechend hätten die Schriftsteller und Künstler die ‘primitive’ Kunst nicht einfach imitiert – «Cette influence n’est pas limitée à la copie littérale et servile des modèles nègres ni à leur simple traduction en un autre moyen77» –, sondern würden ihr Werk vielmehr aus einer «intelligence nègre»78 schöpfen. Guillaume erklärt, dass es sich dabei um eine bestimmte Form zu fühlen und zu denken handele, die auf die Grundkräfte des menschlichen Lebens rekurriere. Mit seiner Bezeichnung des Phänomens als «une forme de sentiment, une architecture de la pensée» stimmt er im Ansatz mit dem Projekt Cassirers überein, die Formen des mythischen Denkens zu beschreiben, und liefert somit eine Bestätigung für den Grundansatz der vorliegenden Arbeit: «On peut presque dire qu’il y a une forme du sentiment, une architecture de la pensée, une expression subtile des forces les plus profondes de la vie qui ont été extraites de la civilisation nègre et introduites dans le monde artistique moderne.»79 Wie im Folgenden noch deutlicher herausgearbeitet wird, handelt es sich tatsächlich nicht um eine Imitation oder Evokation archaischer Bewusstseinsstufen, sondern es sind gerade die Übereinstimmungen von mythischer Denkform und moderner ästhetischer Weltsicht, die sich im ästhetischen Interesse der Künstler und Schriftsteller widerspiegeln.

1.4 Primitive Turn … Zu der Sammlerleidenschaft für indigene Kunstwerke gesellt sich auch das Sammeln volkstümlicher Kunst. Apollinaires Interesse für alle Arten der populären Kunst, von Musik, Chansons bis hin zu Kinderreimen, Legenden und auch für das immer beliebter werdende Kino80 zeigt sich in einzelnen Artikeln zu diesen

76 Ebda., S. 78. 77 Ebda., S. 80. 78 Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque, S. 74: «L’intelligence de l’homme (ou de la femme) moderne doit être nègre». 79 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 80 f. 80 Er verschlingt nicht nur die populäre ‘Fantômas’–Reihe, sondern liebt auch deren Verfilmung.

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Themen,81 in seinen handschriftlichen Notizen82 sowie auch in seiner Dichtung selbst, beispielsweise in seinem Rhénanes-Zyklus, und an seiner Verwendung folkloristischer und mythischer Motive.83 Auch Soffici, bemerkt Apollinaire, sammelt folkloristische Malereien: «En France, en Italie, c’est Soffici qui réunit de remarquables produits de la peinture populaire italienne.»84 Die Volks- und Kinderkunst, gemeinsam mit der Kunst von Geisteskranken, bildet abgesehen von der indigenen Kunst weitere Diskursformen des Primitivismus.85 Besonders in Spanien, etwa bei García Lorca in seinem Gedichtzyklus Romancero gitano, ist der Primitivismus in der Bezugnahme auf die Folklore des ‘cante jondo’ präsent. Obwohl diese Hinwendung zum ‘Primitiven’ Anfang des 20. Jahrhunderts zwar auffällig ist, ist die Begeisterung für das ‘Primitive’ selbstverständlich nichts Neues. Wie Kiefer konstatiert, gab es den Stilwandel zum Primitiven – besser gesagt: zum Primitiveren – […] freilich schon immer, nur war für die in Rede stehende Primitivierung nicht oder nicht notwendigerweise eine fremdkulturelle Rezeption verantwortlich. Sturm und Drang oder Romantik greifen ins Reservoir des Volkstümlichen, des Geschichtlichen (Mittelalter), in dem scheinbar ‘einfache Formen’ archiviert lagen.86

Neuartig am Primitivismus des 20. Jahrhunderts ist, dass er aufgrund der fremdkulturellen Rezeption die Wahrnehmung von Kunst grundlegend verändert. Vor ihrer ‘Entdeckung’ um 1905 wurden die ‘primitiven’ Kunstwerke von den Künstlern überhaupt nicht als solche registriert. Es war ein wesentlicher Paradigmenwechsel, diese Werke als ästhetische Gebilde zu betrachten. Dies machen auch die Worte Carl Einsteins deutlich: «Der neuen Beziehung entsprach alsbald eine neue Leidenschaft; man sammelte Negerkunst als Kunst».87 Primitive Turn bezeichnet einen Wandel des Kunstverständnisses88 und die daraus erwachsene Bewusstwerdung der Relativität ästhetischer Maßstäbe, so

81 Vgl. Guillaume Apollinaire: Peintures populaires [1914]. In: PrII, S. 842. 82 Zum Beispiel notiert er verschiedene deutsche Kinderlieder und Reigentänze: Ms NAF 16301, Bibliothèque nationale de France. Siehe auch die Kapitel II.3.2 ‘Gegen Wissenschaft’ und III.3.3.1 ‘Nicht-sukzessives Zeitverständnis’ der vorliegenden Arbeit. 83 Vgl. Madeleine Boisson: Apollinaire et les mythologies antiques. 84 Guillaume Apollinaire: Peintures populaires. In: PrII, S. 842. 85 Ebda. 86 Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 147. 87 Carl Einstein: Negerplastik, S. VI. 88 Vgl. «Eventually, broad principles about art and aesthetics in general came to be drawn from encounters with primitive art, and these in turn led to a questioning of many of the tradi-

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dass die ‘primitive’ Kunst nicht mehr als unzulänglich, sondern als ‘anders’ betrachtet wird.89 Dass man von einem Primitive Turn sprechen kann – Klaus H. Kiefer sieht darin zumindest eine «primitivistische Revolte der Avantgarde»90 – belegen auch Paul Guillaumes Beschreibungen der Wirkmächtigkeit, mit der die ‘primitive’ Kunst die zeitgenössische Kunstwelt verändert hat: C’est alors que, comme par miracle, l’art d’une région éloignée, incomprise et méprisée, apparut à l’horizon et que tout fut transformé. En un temps incroyablement court, les énergies comprimées furent libérées, une nouvelle et intense vitalité apparut dans tous les domaines de l’effort esthétique et l’art européen, qui avait semblé flétri, fleurit une fois de plus.91

Er sieht die Erscheinung der ‘primitiven’ Kunst gar als einen Meilenstein der Kulturgeschichte: L’art nègre a donné la vie à tant de peintres, à tant d’artistes; il l’a conservée si simplement à l’art tout court qu’on peut considérer son apparition, sa révélation, en ce premier quart du XXe siècle, comme un de ces formidables événements qu’enregistre l’histoire des civilisations.92

Guillaume vergleicht die Bedeutsamkeit der ‘primitiven’ Kunst für das 20. Jahrhundert mit der Rolle, welche die antike Kunst gespielt hat: «These statues […] hane [sic, have] in the short space of twenty years played a role no less important for our age than was the role of classic art in inspiring the Renaissance.»93 Der ‘esprit’ der indigenen Kunst wird zu einer entscheidenden Denkfigur des ästhetischen Interesses der Avantgarde, welche jenseits von exotistischen Tendenzen weitreichende Folgen für die Kunstwelt hatte. Paul Guillaume beschreibt eindringlich die Erneuerung,94 welche die ‘primitive’ Kunst in der Kunstwelt Anfang des 20. Jahrhunderts ausgelöst hat – und dies in allen Bereichen der Kunstwelt:

tional assumptions of post-Renaissance Western art.» Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 25. 89 Ohne dies als Primitive Turn zu bezeichnen, stellt auch Doris Kaufmann diese Entwicklung zu einem kulturrelativistischen Ansatz fest. Vgl. Doris Kaufmann: Primitivismus‘: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, S. 105 f. 90 Klaus H. Kiefer: «Primitivismus und Modernismus im Werk Carl Einsteins», in: Nicola Creighton/Andreas Kramer (Hg.): Carl Einstein und die europäische Avantgarde. Berlin/Boston: De Gruyter 2012,S. 188. 91 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 77 f. 92 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 59. 93 Paul Guillaume: The discovery and appreciation of primitive negro sculpture, S. 98. 94 Auch hier «I have said that before 1905 art in France, and indeed in all of Europe, was menaced by extinction. Five years later, the enthusiasm, the joy of the painters, their fever of excitement, made it apparent that a new renaissance had taken place. Not less evident was it that the honour of this renaissance belonged to negro art.» Ebda., S. 101.

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Avec une éloquence atteignant parfois la sublimité, l’art nègre a commandé aux grands principes régénérateurs de l’écriture plastique universelle d’aujourd’hui; il a conféré une force et une mesure fraîches à la peinture, à la sculpture, à la musique, à la poésie, à l’architecture, dont le salut se trouvait compromis par la défaillance de la mesure grecque et l’insuffisance des apports archéologiques du Proche-Orient. En humiliant à l’extrême les éléments conventionnels, il a réalisé, créé en quelque sorte, le ‘chiffre’ de vérité idéale le plus élevé qui soit connu jusqu’ici.95

Die Betonung der ästhetischen Werte der ‘primitiven’ Kunstwerke ist zu unterstreichen, da aus ihr bereits ersichtlich ist, wie die Begeisterung für das ‘primitive’ Weltbild nicht von der Romantik eines Ursprungszustandes, sondern von einem Interesse an den Ausdrucksmöglichkeiten und Facetten einer ‘anderen’ Kunst geleitet ist. Paul Guillaume wendet sich dezidiert gegen «l’amour populaire des chimères à propos de la vie sauvage des tropiques» und setzt dem ein «plaisir esthétique plus profond et plus complet qu’elle [la sculpture indigène] a pu leur procurer» entgegen.96 Mit dem Wandel des Kunstverständnisses und der Aufwertung der indigenen Kunst verändert sich auch die Einstellung zu anderen Lebens- und Denkformen, zu den Kulturen, die diese Kunstwerke hervorbringen. Es kann sich nicht nur in ästhetischer Hinsicht um einen Primitive Turn handeln: «The consideration of African objects as ‘art’ had to be accompanied by a change of thinking about Africa itself».97 An dieser Stelle zeigt sich, wie das Ästhetische eine gesellschaftliche Funktion annimmt: Die Künstler sehen ihre Kunstwerke als Ausdruck ihrer Beziehung zur Welt. Wenn sie in der indigenen Kunst Ähnlichkeiten und Lösungen für ihre künstlerischen Probleme sehen, dann müssen sie auch annehmen, dass sie den afrikanischen und ozeanischen Völkern näher sind als kolonialistische Schriften suggerieren, die von der Superiorität der ‘weißen Rasse’ ausgehen. Blachère bestätigt die Sonderposition, die Apollinaire und die Schriftsteller und Künstler aus seinem Kreis in einer Zeit einnehmen, in der die negativen Stereotype der kolonialistischen Literatur weit verbreitet sind.98 Dem Ästhetischen wird Anfang des 20. Jahrhunderts eine Erkenntnisfunktion zugewiesen, es wird, so Klaus Kiefer, «zum Medium eines radikalen Erkenntnisprozesses, von Fremderkenntnis, zu der die rationalen Wissenschaften nicht mehr imstande waren.»99 Kiefer spricht

95 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 59 f. 96 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 81. 97 Jack Flam: ‘Introduction’, S. 6. 98 Vgl. «Tous ces auteurs ont écrit sur l’Afrique noire, sur les valeurs nègres, sur l’homme noir, et leur discours ne ressemble pas nécessairement à celui des écrivains coloniaux.» JeanClaude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 6. 99 Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 136.

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von einer «epistemologischen Funktion von Ästhetizität».100 In diesem Sinne ist der Auseinandersetzung mit der afrikanischen Kunst ein Schritt in der Wegbewegung von einem Eurozentrismus hin zu einer Gleichberechtigung aller Kulturen, für die noch heute auf gesellschaftlicher und politischer Ebene gekämpft wird. Nach ihrer ‘Entdeckung’ wird die ‘primitiven’ Kunst und Weltwahrnehmung zu einer Modeerscheinung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Apollinaire spricht bereits 1917 von einer «Mélanophilie ou mélanomanie».101 Auch die Dadaisten, insbesondere der Erfinder der Bewegung, Tristan Tzara, wenden sich dem ‘Primitiven’ zu.102 In ihrem Cabaret Voltaire veranstalten die Dadaisten ‘Afrikanische Abende’. Tristan Tzara ist nicht nur ein Befürworter und Sammler der ‘primitiven’ Kunst,103 sondern interessiert sich darüber hinaus für die afrikanische Poesie, verfasst selbst ‘Poèmes nègres’ und gibt sich als Übersetzer aus.104 Er experimentiert auch in seinem Theaterstück «La Première Aventure céleste de M. Antipyrine» damit, pseudo-afrikanische Wörter zu integrieren. Der Mitbegründer von Dada, Richard Huelsenbeck, bietet angeblich authentische afrikanische Gedichte dar und zeigt sich fasziniert von afrikanischen Rhythmen.105 Die dadaistische Ausprägung des Primitivismus, die sich mit ihren scheinbaren Imitierungen und Evokationen an der Kultur der schwarzen Völker orientiert und Tendenzen eines ‘Blackfacings’ aufweist, zeigt besonders, dass die Grenzen zu aggressiven Aneignungen nicht klar gezogen werden können. Weitere Aspekte des Interesses an der schwarzen Kultur in Europa zu der Zeit bilden die amerikanische Jazzmusik, welche in das Ballett Parade von Apollinaire, Satie und Cocteau integriert wird, Francis Poulencs Rhapsodie nègre sowie die gefeierte Tänzerin Josephine Baker.106

1.5 … oder literarischer Kubismus? Die hier skizzierten Anfänge des primitivistischen Diskurses in Kunst und Malerei zeigen deutlich, in welch engem Verhältnis bildende Künstler und Schrift100 Ebda. 101 Guillaume Apollinaire: Mélanophilie ou mélanomanie. In: PrIII, S. 252. 102 «In reaction to the senseless bloodshed [of World War I], the Dadaists embraced ideas of Negritude and used primitivist modalities to challenge what they felt to be the tragic shortcomings of European civilization.» Jack Flam: ‘Introduction’, S. 11. 103 Vgl. Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 111. 104 Vgl. Kai Mikkonen: Artificial Africa in the European avant-garde: Marinetti and Tzara, S. 400f. 105 Vgl. Jack Flam: ‘Introduction’, S. 12. 106 Vgl. ebda., S. 13.

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steller zueinander stehen. Ein gegenseitiger Einfluss ist kaum zu leugnen, wenn man sich die Verbindungen vor Augen hält, die gerne zwischen Apollinaires Gedichten und den kubistischen Bildern gezogen werden: Ainsi l’emploi du temps présent pour unir le passé et le présent dans un seul moment immédiat, comme dans Zone […] ressemblera à la suppression de la perspective dans la peinture. Ou bien la succession rapide de la première et de la deuxième personne en parlant d’un seul individu: […] ce procédé serait analogue à celui qui sur une seule toile montre plusieurs faces d’un objet. La juxtaposition de vers sans aucun lien logique entre eux ressemblerait à celle des papiers collés et des collages introduits par Picasso et Braque en 1911 et 12. Et la notion du ‘tableau-objet’, c’est-à-dire du tableau qui a sa propre existence organique et indépendante, serait à la base des petits calligrammes proprement dits.107

Diese offensichtlichen Parallelen in den ästhetischen Verfahren von kubistischer Kunst und der Literatur derselben Zeit108 sowie die enge Verbindung der Namen Apollinaires und Reverdys mit dem Kubismus führen dazu, dass immer wieder die These aufgestellt wird, ihre Poesie ließe sich als eine Form des literarischen Kubismus verstehen.109 In diesen Diskussionen besteht das Problem, dass die Frage nach der Kompatibilität der Dichtung mit ästhetischen Kategorien der bildenden Kunst zumeist unbeantwortet bleibt.110 Eine kritische Stimme

107 LeRoy C. Breunig: Apollinaire et le cubisme, S. 21 f. 108 David LeHardy Sweet: Savage Sight/Constructed Noise. Poetic Adaptations of Painterly Techniques in the French and American Avant-Gardes. Chapel Hill: North Carolina Studies in the Romance languages and literatures 2003, S. 12. 109 Zu diesem Themenkomplex, u. a. auch zur Geschichte des Begriffs ‘cubisme littéraire’ vgl. Claude Debon: ‘L’écriture cubiste’ d’Apollinaire, S. 118–127 und Michel Décaudin/Étienne-Alain Hubert: Petite histoire d’une appellation: ‘cubisme littéraire’, S. 7–25, beide Aufsätze erschienen in: Europe, Cubisme et littérature 638–639 (1982). Zum Einfluss des Kubismus auf Apollinaire auch: Timothy Mathews: Apollinaire and Cubism?. In: Russell King/Bernard McGuirk (Hg.): Reconceptions. Reading Modern French Poetry. Nottingham: The University of Nottingham 1996, S. 46–64; Peter Read: Picasso and Apollinaire. The Persistence of Memory. Berkeley/London: University of California Press 2008und Deniz Eyüce: Cubist memories, sensory cityscapes: representations of the urban in Apollinaire’s Alcools. In: French Studies Bulletin 37, 139 (2016), S. 39–43. Zu Reverdy: Michel Collot: La syntaxe du visible: Reverdy et l’esthétique cubiste. In: Michel Collot et Jean-Claude Mathieu (Hg.): Reverdy aujourd’hui. Actes du colloque des 22, 23, 24 juin 1989. Paris: Presses de l’École normale supérieure 1991, S. 67–76. 110 Mit Ausnahme von Philippe Geinoz, der die Frage nach der Vergleichbarkeit von bildender Kunst und Literatur mit einer strukturellen Ähnlichkeit beider beantwortet, die er unter dem Begriff travail fasst: Beide würden vom Rezipienten dieselbe Aktivität erfordern, «un même travail, lequel peut se concevoir en un double mouvement – celui de la reconnaissance, impliquant la mémoire, et celui de la mise en relation dans l’espace présent du poème ou du tableau – conformément à une organisation dont se dégagent deux niveaux distincts: celui de l’élément, coupé dans le tissu des représentations existantes ou possibles, et celui de l’ensemble, composé selon une logique propre et offert aux parcours interrogateurs du regard». Phil-

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gegen die These eines literarischen Kubismus erhebt auch Breunig. Er sieht Apollinaires Zeitungsartikel über den Kubismus als Ausdruck seiner Anerkennung der kubistischen Strömung, interpretiert aber die schwärmerische Lobpreisung Delaunays – der am wenigsten Kubist ist – als Zeichen der Zurückhaltung gegenüber der kubistischen Kunst, die nicht wirklich dem eigenen Geschmack und Stil entspräche.111 Zudem zögere Apollinaire, dieser Kunst den Namen ‘Kubismus’ zu geben, was Breunig aus Apollinaires verhaltenen Formulierungen wie «Künstler, die man als Kubisten bezeichnet» und «die man Kubisten nennen will» schließt. Breunig wertet dies als Distanzierung von der kubistischen Strömung.112 Seine Argumente erweisen sich jedoch als angreifbar, denn die Formulierungen Apollinaires könnten schlicht die Neuheit des Begriffs ‘Kubismus’ zu der Zeit widerspiegeln. Breunig argumentiert des Weiteren, Apollinaire habe sich ab 1912 eher vom dynamischen Modernismus Delaunays prägen lassen und den Kubismus für eine Bewegung gehalten, die ihr Ende gefunden habe.113 Stattdessen bezeichne er die neue Kunst als «orphisme», zu der er Delaunay, Léger, Picabia, Duchamp und Picasso zähle. Diese Kunst entspräche ihm mehr als der Kubismus: Il va sans dire qu’Apollinaire préférait ce nouveau terme qu’il avait trouvé lui-même et qui, par son origine poétique plutôt que picturale, rapprochait son art personnel de celui des peintres. Il essayera donc de l’imposer dans les mois qui suivent, d’abord à Berlin en janvier 1913 à l’occasion d’une exposition Delaunay, ensuite au Salon des Indépendants où il relègue le cubisme au rôle de précurseur et annonce le triomphe de l’orphisme.114

Entgegen Breunigs Intention verdeutlicht diese Argumentation aber weniger die Distanz, vielmehr bestätigt sie einmal mehr die Nähe zwischen Apollinaires ästhetischem Verständnis und dem der Maler. Breunig zeigt keine inhaltliche Distanznahme Apollinaires zum Kubismus, sondern legt allenfalls seine Zurückhaltung gegenüber dem Kubismusbegriff dar.115 Patricia Oster-Stierle bringt eine neue Sicht in die Debatte um die Wechselwirkung zwischen Kubismus und Literatur ein, indem sie dafür plädiert, in Apollinaire einen Vorreiter der kubistischen Strömung zu sehen. Sie zeigt an mehreren Beispielen, wie Apollinaire die Technik der Découpage in seinem Werk praktiziert, noch

ippe Geinoz: Relations au travail. Dialogue entre poésie et peinture à l’époque du cubisme. Apollinaire – Picasso – Braque – Gris – Reverdy.Genève: Librairie Droz 2014, S. 19. 111 LeRoy C. Breunig: Apollinaire et le cubisme, S. 11. 112 Ebda., S. 12. 113 Ebda., S. 13 f. 114 Ebda., S. 15. 115 Breunig sagt im Prinzip selbst, dass es um ein Wort geht: «nous avons vu qu’Apollinaire se sentait constamment gêné devant ce mot.» Ebda., S. 17.

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bevor er Picasso kennenlernt und bevor die Kubisten diese anwenden. Es könne folglich davon ausgegangen werden, dass Apollinaire den Kubisten vorausging: Mais Apollinaire expérimente les cuts, les césures textuelles, bien avant d’avoir vu Les Demoiselles d’Avignon de Picasso, donc bien avant 1907. C’est donc moins le ‘simultanisme littéraire’ qui fera écho au simultanisme du cubisme, qu’Apollinaire proclamera être une catégorie esthétique essentielle dans son essai Les Trois Vertus plastiques en 1908, mais le montage des textes avec de nombreuses césures et ruptures brusques qui fera d’Apollinaire un précurseur des cubistes, C’est dans le cycle de poèmes Rhénanes, composé entre 1901 et 1902, qu’il expérimente pour la première fois ce type de montage.116

Oster-Stierles Ansatz unterscheidet sich damit von der zumeist vertretenen Forschungsmeinung, die Dichtung sei von der kubistischen Malerei geprägt – allein der Terminus ‘literarischer Kubismus’ impliziert einen Vorrang der Kunst vor der Literatur.117 Autoren wie Apollinaire und Reverdy sehen sich selbst mit der Frage nach einem literarischen Kubismus konfrontiert.118 Der oben genannten Prämisse widerspricht bereits Reverdy, der wie Apollinaire intensive freundschaftliche Verbindungen zu kubistischen Malern, insbesondere zu Georges Braque, pflegt. Er vertritt die Auffassung, der Kubismus sei eher von der Poesie beeinflusst, denn umgekehrt: Il n’y a rien de simple, de familier comme le contraire de la vérité, et on trouva cette idée énorme que la poésie moderne découlait de la peinture. On l’écrivit. C’est exactement le contraire qui est vrai, et que les poètes restent dans leur tradition propre. Ce sont les poètes qui ont créé d’abord un art non descriptif, ensuite les peintres en créèrent un non imitatif. Dégager, pour créer, les rapports que les choses ont entre elles, pour les rapprocher, a été de tous temps le propre de la poésie. Les peintres ont appliqué ce moyen aux objets et, au lieu de les représenter, se sont servis de rapports qu’ils découvraient entre eux.119

Reverdy lehnt die Idee eines literarischen Kubismus damit eindeutig ab – «La poésie cubiste n’existe pas.»120 Dennoch zeigen auch seine Argumentationsgänge

116 Patricia Oster-Stierle: Apollinaire précurseur des cubistes?. In: Anja Ernst/Paul Geyer (Hg.): La Place d’Apollinaire. Paris: Classiques Garnier 2014, S. 133–147, hier S. 137. 117 Dies ist auch die Prämisse für LeHardy Sweets Untersuchung: «It is a premise of this study, then, that experiments in the plastic arts were central in affirming, suggesting, influencing, and sometimes defining avant-garde practice in French and American poetry (although Symbolist poetics strongly influenced the artists as well).» David LeHardy Sweet: Savage Sight/Constructed Noise. Poetic Adaptations of Painterly Techniques in the French and American Avant-Gardes,S. 12. 118 Vgl. Pierre Reverdy: De La Vérité [1918]. In: ROCI, S. 498. 119 Pierre Reverdy: Le cubisme, poésie plastique [1919]. In: ROCI, S. 547 ff., hier S. 547. 120 Ebda., S. 548.

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wieder die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen dem Kubismus und der modernen Dichtung auf. Eine Ähnlichkeit zwischen kubistischer Ästhetik und derjenigen von Soffici, Apollinaire und Reverdy ist nicht von der Hand zu weisen. Die Künstler und Dichter verkehren in denselben Kreisen, sodass eine gegenseitige Befruchtung unabdingbar erscheint. Apollinaire zitiert den holländischen Dichter Albert Verwey zustimmend, der davon spricht «qu’il n’y a pas un poète chez nous qui n’ait aussitôt saisi les relations qui lient la nouvelle peinture à la poésie.»121 Es verwundert demnach nicht, dass sich Apollinaires Beschreibung der Ästhetik der Künstler mit seinen eigenen poetologischen Ideen deckt: Die drei «vertus plastiques: la pureté, l’unité et la vérité»122 sind auch Elemente seiner Poetik. Auch die Idee einer «vérité […] toujours nouvelle»123, welche er im Zusammenhang mit den Méditations esthétiques. Les peintres cubistes entwickelt, führt er in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ aus.124 Es bleibt unentscheidbar, wer wen beeinflusst hat und in welchem Ausmaß es eine Übertragung literarischer auf künstlerische Phänomene geben kann. Problematisch an dem Konzept des «literarischen Kubismus» ist, dass dieser Terminus eine Vorrangstellung der Kunst postuliert und damit suggeriert, künstlerische Verfahrensweisen würden in der Literatur imitiert werden. Betrachtet man die von Reziprozität geprägte Beziehung zwischen den Künstlern und Schriftstellern, kann nicht von einem Primat der Kunst vor der Literatur die Rede sein. Den gleichberechtigten Charakter der Verhältnisse macht Apollinaire in seinen Méditations esthétiques deutlich, in denen er nicht nur von Künstlern, sondern auch von Dichtern spricht, denen gemeinsam die Aufgabe der ästhetischen Erneuerung zukommt: Les grands poètes et les grands artistes ont pour fonction sociale de renouveler sans cesse l’apparence que revêt la nature aux yeux des hommes. Sans les poètes, sans les artistes les hommes s’ennuieraient vite de la monotonie naturelle. L’idée sublime qu’ils ont de l’univers retomberait avec une vitesse vertigineuse. […] Les poètes et les artistes déterminent de concert la figure de leur époque et docilement l’avenir se range à leur avis.125

121 Guillaume Apollinaire: Les cubistes et les poètes. In: PrIII, S. 131. 122 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes [1913]. In: PrII, S. 3–18, hier S. 5. 123 Ebda., S. 8. 124 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Apollinaire Kunst und Dichtung dieselben ästhetischen Konzepte zuweist, ist, dass er die Flamme als Symbol für die Malerei nennt (vgl. ders.: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 6) – bekanntermaßen ist das Feuer ein wesentliches Symbol seiner eigenen Poetik. 125 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12 f.

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Eine scharfe Trennung zwischen Kubismus und Literatur markiert Apollinaire einige Jahre später in einem Interview mit Pérez-Jorba, in dem er über seine ästhetischen Ansichten spricht: «Il n’existe pas de relations entre le cubisme et la nouvelle orientation littéraire.»126 Diese Aussage steht jedoch nur oberflächlich in einem Widerspruch zu seinen sonstigen Ausführungen. Vielmehr sollte sie im Kontext der Idee des ‘literarischen Kubismus’, mit der die Dichter konfrontiert werden, gelesen und damit in eine Reihe mit Reverdys Ablehnung des literarischen Kubismus gestellt werden. Angesichts der zunehmenden Popularität des Kubismus scheint es den Dichtern notwendig, die Eigenständigkeit der Dichtung zu betonen. Zudem war Apollinaire nicht an einer Auflösung der Kunstgattungen gelegen.127 Blachère schätzt den Einfluss der bildenden Kunst auf die Literatur als gering ein. Er ist der Auffassung, der «primitivisme» lasse sich nicht allein durch das Aufkommen der indigenen Kunst, die insbesondere von den Kubisten rezipiert wurde, erklären. Er argumentiert, die bildenden Künstler hätten sich vor allem in ihrer Formensprache, d. h. von einem technischen Gesichtspunkt aus von den ‘primitiven’ Kunstwerken inspirieren lassen. Die afrikanischen Skulpturen wurden von ihnen studiert, so wie vorherige Generationen bislang die Werke der Renaissance studiert haben.128 Anders verhalte es sich mit den Schriftstellern, welche sich für den «homme noir» und seine Welt interessieren würden: «Au contraire, l’écrivain (une fois qu’il s’est dégagé du simple rôle de critique artistique qui écrit sur la sculpture des autres) recherche le témoignage vivant de l’homme noir: mieux que ses masques, sa parole; mieux que sa parole, sa façon de vivre, son amitié.»129 Blachères Einschätzung ist insofern zutreffend, als er die Inspirationsquelle in der indigenen Erfahrungswelt verortet und damit keine Vorrangstellung der Kunst behauptet. Sie greift aber zu kurz, weil sie die Wechselwirkung zwischen Künstlern und Schriftstellern verkennt. Zudem setzt Blachère eine deutliche Trennung zwischen Formsprache und Weltsicht voraus. Die These eines ‘literarischen Kubismus’ ist nicht haltbar, da die Ähnlichkeiten zwischen Literatur und Kunst nicht mit einer eindeutigen Zuschreibung von gegenseitigen Aneignungen nachvollzogen werden können. Doch gibt es 126 La publicidad (24. Juli 1918). In: PrII, S. 993. 127 «Les peintres cubistes se servent d’éléments accessoires, d’éléments extérieurs pour construire leurs œuvres. Leurs œuvres sont essentiellement destinées aux regards des spectateurs devant lesquels elles exhibent, pour ainsi dire, le secret de leurs volumes et le jeu de leurs dimensions. Ce sont bien plutôt des œuvres d’analyse […]. Les nôtres, au contraire, s’acheminent directement vers l’esprit, auprès duquel elles remplissent plutôt une fonction de synthèse; ce n’est pas pour rien qu’elles sont lyriques.» Ebda. 128 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 19 f. 129 Ebda., S. 19.

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einen gemeinsamen Nährboden, der diese Konvergenzen in der Kunst und Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts erklärt. Sinnvoller ist es daher, die Beziehung zwischen Kunst und Literatur als eine Resonanzbeziehung zu fassen und nach dem gemeinsamen Dritten zu suchen, welches die Dichter und Künstler miteinander verbindet. Dieses gemeinsame Dritte bildet das Interesse an alternativen Denk- und Sehweisen und deren Ausdrucksformen, dem mythischen Denken und der ‘primitiven’ Kunst. Apollinaire spricht von der «arrivée dans notre esthétique de l’esthétique des Sauvages.»130 Auf diese Weise lassen sich die Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Kunst fassen, gleichzeitig bleibt aber auch Raum für die durch die spezifischen Ausdrucksformen von Literatur und Kunst bedingten Unterschiede. Dennoch wäre die Annahme falsch, die ‘primitive’ Kunst hätte die Funktion eines Vorbilds inne, welches die Schriftsteller und Künstler nur zu imitieren bräuchten. Vielmehr finden sie in ihnen ihre eigenen Vorstellungen verwirklicht.131 Apollinaire reflektiert diesen Umstand an mehreren Stellen: «l’art nègre […] n’a fait que confirmer dans l’esprit de jeunes sculpteurs ce qu’ils pensaient déjà de l’avenir de leur art.»132 Blachère spricht in diesem Zusammenhang von einer «convergence accidentelle entre une ‘demande’ et une ‘offre’»,133 Décaudin von einer «résonance de sa propre inquiétude».134 Es spricht für die Bedeutsamkeit des mythischen Denkens für das frühe 20. Jahrhundert, dass der Grund für die Auseinandersetzung mit dem ‘Primitiven’ nicht in der Verfügbarkeit der ‘primitiven’ Kunst allein liegen kann. Bevor die Künstler diese Kunst als Kunst für sich entdeckten, waren sie ihr gegenüber blind, obwohl auf der Weltausstellung in Paris 1900 durchaus ‘primitive’ Kunstwerke zu bewundern gewesen wären.135 Die indigene Kunst stieß im 20. Jahr-

130 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 595. 131 So hat Picasso bereits vor der ‘Entdeckung’ der indigenen Kunst mit plastischen Deformationen experimentiert. Vgl. Pierre Reverdy: Pablo Picasso et son œuvre [1924]. In: ROCI, S. 584–592, hier S. 587. 132 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 596. Siehe auch: «On peut voir là la raison qui a poussé les artistes soucieux de renouveler leur art à s’intéresser avant tout à l’art sauvage, qui, lui, n’est pas un art complémentaire, car les statuettes des nègres, conçues dans un but passionnément intellectuel, ne jouent pas un rôle décoratif.» Ebda. Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 4: «Gradually, artists and art critics began to appreciate the creative and imaginative aspects of primitive art. In primitivism they no longer saw technical weakness but creative invention and a precedent for their own opposition to mimesis. Gauguin is the earliest and most dramatic case of an artist embracing the primitive imagination.» 133 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 6. 134 Michel Décaudin: Guillaume Apollinaire devant l’art négre, S. 324. 135 «In fact, only a few years before they discovered Primitive art, Western artists had been almost totally blind to it. Neither Matisse nor Picasso, for example, seems to have remarked on any of the African objects at the 1900 Exposition Universelle in Paris, even though a number of the French African colonies were elaborately represented there.» Jack Flam: ‘Introduction’, S. 6.

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hundert auf fruchtbaren Boden, weil sie mit den ästhetischen Ideen der Dichter und Künstler übereinstimmte: «il y eut parfaite adéquation entre ce que désirait l’artiste occidental et ce que fournissait l’exemple nègre».136 Der Primitivismus ist mit der Entwicklung der modernen Ästhetik derart eng verbunden, dass sich beide oft nicht voneinander trennen lassen.137

1.6 De la poésie avant toute chose Wenn Reverdy den Begriff eines literarischen Kubismus ablehnt, dann nicht, weil er sich von der kubistischen Ästhetik distanzieren möchte, sondern weil er die neue Dichtung als eigenständig verstanden wissen will.138 Nicht die Kunst bildet den Kern der neuen Dichtung: «Nous nous rattachons à une pure tradition de poésie.»139 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass alle Autoren und sogar die Künstler «poésie» anstreben. Der Kubismus wird von Reverdy als «poésie plastique»140 bezeichnet. So schreibt er: «Picasso avait élévé son art à un plus haut degré vers la poésie – que l’émotion, ressentie devant une de ses toiles d’un aspect tout nouveau ressortissait à celle que fait naître la pure, la véritable poésie.»141 Auch Apollinaire hält Poesie für eine wichtige Qualität der bildenden Kunst, wenn er Picabia den folgenden Rat gibt: «Mais comme peintre de tableaux je lui conseille d’aborder franchement le sujet (poésie) qui est l’essence des arts plastiques.»142 Dabei geht es Apollinaire und Reverdy nicht um eine Auflösung der Kunstgattungen, auch wenn diese Schlussfolgerung naheliegt, sofern man die kubistische Collagetechnik, bei der typographische Versatzstücke in die Bilder integriert werden, die Bildhaftigkeit der Kalligramme und anderer typographischer Experimente bedenkt. Wenn im Hinblick auf die bildende Kunst von «poésie» die Rede ist, ist auf keinen Fall ‘Literatur’ gemeint. Diese soll im Gegenteil vermieden werden. Apollinaire verwendet die Begriffe ‘poetisch’ und ‘lyrisch’ lobend, kritisiert

136 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 9. 137 Vgl. «Retenons pour l’instant la spécifité du primitivisme nègre au XXe siècle; il ne saurait constituer un élément mineur de la vie intellectuelle puisqu’il apparaît génétiquement lié à son évolution et à la manière dont elle essaie de résoudre ses problèmes.» Ebda. 138 Vgl. «mais pourquoi vouloir designer un art du nom qui désigne déjà un autre art?» Pierre Reverdy: De La Vérité. In: ROCI, S. 498. 139 Ebda. Zum Begriff der ‘pureté’ siehe Kapitel II.2.2. ‘L’art pur’ der vorliegenden Arbeit. 140 Pierre Reverdy: Le cubisme, poésie plastique. In: ROCI, S. 547 und S. 549. 141 Pierre Reverdy: Pablo Picasso et son œuvre. In: ROCI, S. 592. 142 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 46.

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aber Kunstwerke, die zu ‘literarisch’ seien.143 Der Begriff «littérature» ist für ihn zu sehr mit dem Intellekt verbunden, vor dem sich der Künstler hüten soll. Er spricht gar von «le danger qu’il y a toujours pour les peintres de devenir des littérateurs»144 und davon «que l’on se garde de devenir un peintre littéraire».145 In seinen unter dem Titel ‘Cubismo e Futurismo’ 1914 erschienenen Schriften erklärt auch Soffici, die künstlerische Vorgehensweise würde sich an dichterische Verfahren anlehnen und nicht umgekehrt. Er nennt ‘poetisch’ und ‘lyrisch’ als die für den malerischen Schaffensprozess ausschlaggebenden Kriterien.146 Einerseits vertritt er damit eine ähnliche Auffassung wie Reverdy, andererseits zeigt er damit auch die Loslösung der bildenden Kunst von der Mimesis an und betont, es solle keine vorgegebenen Regeln geben.147 Mit Poesie ist gemeint, dass Dichter und Künstler nicht mehr einer äußeren Objektivität im Sinne einer Nachahmung verpflichtet sind, sondern die Beziehung zu den Objekten, die aus ihrer individuellen Sicht hervorgeht, in den Vordergrund rückt: «C’è un problema che interessa particolarmente noi pittori moderni, ed è quello di arrivare nelle nostre opere ad una omogeneità e vastità che uguaglino quella della nostra sensazione lirica davanti alle cose.»148 Die Kunst soll Ausdruck dieser poetischen Wahrnehmung von Welt sein. Tatsächlich sieht Soffici die Kunst als Ausdruck der Beziehung des Menschen zur Welt, genauer, der ganz persönlichen Sicht des Künstlers auf die Welt.149 Auch für Marinettis futuristische Ästhetik ist das lyrische Empfinden der Ausgangspunkt: Scartando tutte le stupide definizioni e tutti i confusi verbalismi dei professori, io vi dichiaro che il lirismo è la facoltà rarissima di inebbriarsi della vita e di inebbriarla di noi

143 Im Abschnitt über Marcel Duchamp wird dies besonders deutlich: «Ainsi, la littérature, dont si peu de peintres se sont passés, disparaît de son art, mais non la poésie.» Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 47. 144 Ebda., S. 45. 145 Ebda., S. 46. 146 «NOTA. Questa trasposizione delle qualità poetiche del vero in qualità pittoriche è ciò che caratterizza propriamente la nuova arte; e ciò che […] obbligherà gli estetici a modificare le loro teorie – e sbratterà il campo della critica dei letteratucoli privi dell’organo necessario alla comprensione delle arti plastiche. Merito insigne, questo. Proibito l’ingresso alle persone non addette al cantiere = incompetenti.» Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, S. 650. 147 Vgl. Ardengo Soffici: Picasso e Braque. In: SOI, S. 627: «la proiezione integrale della realtà […] viene anzi operata indipendentemente da ogni regola prestabilita, secondo criteri strettamente poetici» Und: «farà in una parola una ricostruzione di una realtà che del violino non è se non un riassunto strettamente pittorico, puramente lirico.» Ebda., S. 628. 148 Ardengo Soffici: La pittura futurista [1913]. In: SOI, S. 656–664, hier S. 662. 149 Vgl. ebda., S. 657.

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stessi. La facoltà di cambiare in vino l’acqua torbida della vita che ci avvolge e ci attraversa. La facoltà di colorare il mondo coi colori specialissimi del nostro io mutevole.150

An Marinettis Beschreibung ist besonders hervorzuheben, dass sich das Subjekt nicht nur am Leben berauschen soll, sondern auch wechselseitig auf das Leben einwirkt. Cendrars sieht den «lyrisme» ebenfalls als Charakteristikum der modernen Poesie151 und definiert ihn als «une façon d’être et de sentir».152 Für Reverdy ist der Gedanke, die Poesie bestehe in den Beziehungen zwischen den Dingen, besonders wichtig. In einer Sonderausgabe der Zeitschrift Derrière le miroir erscheint nach dem Tod von Braque 1964 ein Dialog zwischen Braque und Reverdy, der 1950 stattgefunden haben soll. Darin ist zu lesen: Braque: Pour nous, ce qui compte c’est le rapport des choses et pour la couleur, c’est identiquement pareil, c’est le rapport des couleurs qui compte, n’est-ce pas. […] Et dans le fond, ce qu’il y a de plus flagrant, dans la poésie, ce sont ces rapports, n’est-ce pas? Reverdy: Eh bien, j’ai vu les rapports poétiques qu’il y a dans vos dernières toiles, ainsi entre la palette et l’oiseau, et j’ai vu toute la poésie. […] Braque: Quand je parle de la poésie, il ne faut pas croire que je la réduise, comme beaucoup de gens qui la font commencer avec le vers et la rime. La poésie est une chose qui s’applique à toute la vie, somme toute ce sont des rapports, des rapports nouveaux, et qui donnent, si l’on peut dire, la vie à tout ce que l’on touche. Dans le fond, la poésie, c’est ce qui nous fait échapper par moments à la vie automatique, qui nous dégage du sens usuel des choses et qui leur donne une nouvelle vie. C’est ce qui a fait dire à un poète: ‘Une hirondelle poignarde le ciel.’ Vous comprenez, de faire d’une hirondelle un poignard, pour moi, toute la poésie est là.153

Das, was Braque und Reverdy unter «poésie» verstehen, erinnert durch die Betonung der Lebendigkeit und des transformierenden Charakters an Cassirers Beschreibung des mythischen Denkens und des künstlerischen Prozesses.154 Die

150 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà [1913]. In: MTI, S. 65–80, hier S. 70. Hervorhebungen im Original. 151 «Ce qui caractérise l’ensemble de la jeune poésie française est son lyrisme.» Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: ders.: Aujourd’hui 1917–1929 suivi de Essais et réflexions 1910–1916. Herausgegeben von Miriam Cendrars. Paris: Denoël 1987, S. 89–114, hier S. 91. Der Band wird im Folgenden abgekürzt mit AH. 152 Ebda. 153 Zitiert nach Françoise Nicol: Braque et Reverdy. La genèse des Pensées de 1917. Paris: L’Échoppe 2006, S. 54. 154 Vgl. Kapitel I.3.1 «Kunst und mythisches Denken als Teil der Philosophie der symbolischen Formen: Ernst Cassirers Kulturphilosophie» der vorliegenden Arbeit.

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II Der Primitive Turn in der Avantgarde: Zu einer Ästhetik der poésie pure

Kraft der Poesie und ihre Lebendigkeit besteht darin, die Dinge in Beziehung zueinander zu setzen und diese Beziehung aufzufangen. Dies sind auch die Eigenschaften, welche sie in der indigenen Kunst und dem ‘primitiven’ Weltbild wiederfinden.155 Auch in Hinblick auf die indigene Kunst wird von «lyrisme» gesprochen.156 Was Cendrars aus dem Kontakt zu der Kultur der schwarzen Menschen folgert, ist, dass ein poetischer Akt verschiedene Formen annehmen kann, dass Poesie überall ist, «qu’elle existe d’abord dans la façon de dire le monde et non dans une forme ou une disposition typographique.»157 Die Künstler und Autoren finden in der ‘primitiven’ Kunst und Welt ‘Poesie’ und meinen damit ihr eigenes Kunstideal. Die afrikanische Kunst scheint alle Ideale zu vereinen, die die avantgardistische Kunst anstrebt: L’art héroïque des Noirs, ordonné, lyrique, empreint d’humanité, dramatique, douloureux, hautement désintéressé, initiateur de réalités profondes, réapparaît aujourd’hui, dressant devant la vie universelle le flambeau spirituel de son incontestable, de sa formelle et éternelle beauté.158

‘Poesie’ meint keine Gattungsbezeichnung, sondern ein Kunstideal, eine ästhetische Kategorie, eine Eigenschaft von künstlerischen Werken jeder Gattung, unabhängig davon, ob es sich um Literatur oder Malerei handelt. Weder die indigene noch die kubistische Kunst allein erklären die Phänomene der modernen Lyrik, doch ist der Diskurs des Primitivismus untrennbar mit dem ästhetischen Selbstverständnis der Autoren und Künstler verbunden. Es handelt sich um ein dynamisches Ineinander von ähnlichen Ideen, die in den verschiedenen Künsten ihren eigenen Ausdruck finden und für welche die Bewunderung der ‘primitiven’ Kunst symptomatisch ist. Die hier skizzierten Charakteristika des ästhetischen Selbstverständnisses der Avantgarde werden in den folgenden Kapiteln ausdifferenziert. Damit wird dargelegt, in welcher Form sich die beiden Themen ‘Beziehung des Ichs zur Welt’ und ‘Universalität’ der Kulturphilosophie Cassirers, wie in Kapitel I.3 gezeigt, im ästhetischen Selbstverständnis der Avantgarde aus-

155 Cendrars, so Blachère, sehe eine Verwandtschaft zwischen der Spiritualität der schwarzen Menschen und der Poesie: «L’âme nègre, dans toutes ses composantes, est poésie: dans sa passion torrentielle, dans sa douceur, dans sa fraternité avec l’invisible, dans son expression chantée et rythmée. Et c’est là la raison ultime et unique de l’attachement de Cendrars à la ‘haute spiritualité nègre’: une parenté de poètes.» Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 101. 156 Z.B.: «il n’a pas la liberté, le lyrisme, la merveilleuse spiritualité de l’art des Pahouins ou des Baoulé par exemple.» Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 56. 157 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 105. 158 Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 58.

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drücken. Gleichzeitig wird auch der Frage Rechnung getragen, inwiefern der Diskurs des ‘Primitiven’ Eingang in die ästhetischen Konzeptionen findet.

2 Ästhetisches Selbstverständnis: Grundlagen der Ästhetik 2.1 Beziehung des Ichs zur Welt und Universalität […] notre époque où l’universel et l’individuel se répondent, conflit permanent et admirable.159

Nicht nur Cassirers Kulturphilosophie widmet sich dem Konflikt zwischen der subjektiven Beziehung des Ichs zur Welt und einem Universalitätsanspruch, er steht auch im Zentrum der frühen avantgardistischen Ästhetik. In der Forderung nach «poésie» offenbart sich bereits das erste von zwei grundsätzlichen Themen der frühen avantgardistischen Ästhetik, nämlich die Bedeutung, die der Beziehung des Ichs zur Welt gegeben wird. Dabei spielen Subjektivität und die persönliche Wahrnehmung von Welt, die an die Stelle einer Imitation der äußeren Welt treten, eine besondere Rolle. In der ‘primitiven’ Kunst sehen die Künstler und Schriftsteller der Avantgarde dieses Ideal verwirklicht, da sie mit ihren eigenwilligen Formen neue Möglichkeiten der Darstellung eröffnet, eine andere Form der Wahrnehmung präsentiert und eine Alternative zu den traditionellen naturalistischen Darstellungen bietet.160 Die Betrachter finden nicht mehr «beauté et grâce physique, ou bien encore la posture vivante et l’expression faciale», noch ein «idéal moral ou intellectuel», sondern eine «difformité et une distorsion grotesques de la face et du corps humain».161 Diese subjektive Art der Darstellung, von Paul Guillaume als «dessin» bezeichnet, fasziniert die modernen Künstler, da sie sich mit ihrem Bestreben deckt, sich von einer mimetischen Repräsentation wegzubewegen: La raison essentielle de l’intérêt que portent les artistes modernes à la sculpture égyptienne, chinoise, hindoue et polynésienne, aussi bien qu’à la sculpture nègre ne réside pas dans le caractère exotique des sujets représentés, mais dans le fait que ces premières traditions soulignent le dessin plutôt que la représentation littérale, et présentent des effets de dessin, des qualités de ligne et de surface, des dispositions de masse, qui sont inconnus dans la tradition grecque.162

159 Guillaume Apollinaire: Lettre de Paris [1913]. In: PrII, S. 966 ff., hier S. 966. 160 Vgl. Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 4. 161 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 82. 162 Vgl. ebda., S. 87.

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Zweitens aber besteht trotz dieser subjektiven Perspektive ein Anspruch auf Universalität als einer neuen Form der Objektivität außerhalb von naturwissenschaftlichen Konzeptionen: «Nous avons la volonté décidée de donner à notre lyrisme une signification idéale, concentrée et générale qui conférera à nos productions une portée universelle.»163 Universalität bedeutet für Apollinaire auch, dass die Geltung der französischen Literatur nicht allein national ist – «de même que la langue française, de même que les idées de la France, la poésie française est avant tout internationale.»164 Obwohl die Dichter aus ihrer persönlichen Wahrnehmung schöpfen und weder Modeerscheinungen noch Schulen folgen, sprechen sie mit ihrer Lyrik die ganze Menschheit an: Nous ne ferons pas de concessions au goût du jour, fût-il le goût populaire, nous n’attiédirons point notre lyrisme pour nous attirer les disciples, mais nous n’interdirons à personne le libre accès de nos ouvrages. Nous ne rimons point de curiosités, nous chantons pour l’humanité tout entière des chants dignes d’elle.165

An dem Gedanken einer universalen Poesie hält Apollinaire außerdem in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ fest: «l’esprit nouveau […] a l’ambition de marquer l’esprit universel et […] n’entend pas limiter son activité à ceci ou à cela».166 Sowohl Cendrars als auch Marinetti sehen Universalität ebenfalls als ein wesentliches Element der modernen Poesie: Mille tendances se font jour. Il y a donc beauté nouvelle. Les jeunes poètes français s’en sont rendu compte. Ils en ont déjà dégagé quelques éléments: l’universalité et la grandeur de la vie moderne167 La Poesia vuol cantare diverso ed universale.168

Subjektive Wahrnehmung und Universalität stehen sich jedoch nicht als unlösbare Gegensätze gegenüber. Die frühe Avantgarde geht nicht den Weg, den der Surrealismus unter dem Einfluss der Psychoanalyse einschlagen wird, indem das «objet extérieur» komplett verschwindet und das Unbewusste die alleinige Quelle der Kunst ist, welche sich als «représentation mentale pure» ähnlich der

163 Guillaume Apollinaire: Les poètes aujourd’hui. In: PrII, S. 915. Vgl. auch in ders.: Les poèmes de l’année [1909]. In: PrII, S. 901–909, hier S. 904. 164 Guillaume Apollinaire: Les poètes aujourd’hui [1909]. In: PrII, S. 911–916, hier S. 916. 165 Ebda. 166 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 946. 167 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 59. 168 Filippo Tommaso Marinetti: Prefazione futurista a ‘Revolverare’ di Gian Pietro Lucini. In: MTI, S. 28.

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Halluzination über die reale Wahrnehmung hinaus erstreckt.169 Die moderne Lyrik soll für Apollinaire weder ästhetizistisch noch impressionistisch sein, in ihr geht es im Gegenteil genau um die Frage der Vermittlung zwischen Subjekt und äußerer Realität – «Ce n’est pas un art décoratif, ce n’est pas non plus un art impressionniste. Il est tout étude de la nature extérieure et intérieure, il est tout ardeur pour la vérité.»170 Genauso wenig, wie die äußere Realität ausgespart werden soll, soll das Problem der Universalität und Objektivität umgangen werden. An der Konzeption einer universalen ‘poésie pure’ zeigt sich, dass diese Thematik ganz im Zentrum der Ästhetik steht. Aus dem gemeinsamen Ideal ‘Poesie’, auf welches sich sowohl Dichter als auch Maler berufen, folgt, dass die ästhetischen Konzepte, die sich in der kunsttheoretischen Betrachtung entwickeln, auch für die Literatur gelten und umgekehrt. Individueller Ausdruck und Universalität werden in Literatur und bildender Kunst gleichermaßen reflektiert, wobei sowohl Künstler als auch Schriftsteller in der ‘primitiven’ Kunst eine Vereinigung dieser Ideale verwirklicht sehen. In welcher Form sich diese beiden Themen im ästhetischen Selbstverständnis der Dichter ausdrücken, soll im Folgenden erläutert werden.

2.2 L’art pur In einem Artikel schreibt Apollinaire über Henri Rousseau: «le douanier peignait avec une pureté, une grâce et une conscience de primitif.»171 In seiner Beschreibung deutet sich an, dass die ‘pureté’ sowohl ein angestrebtes Ziel der modernen primitivistischen Kunst ist als auch ein Qualitätsmerkmal der afrikanischen Kunst. Beispielsweise wird die Plastik der Malayer von Paul Guillaume als nicht wertvoll eingestuft, weil es ihr an Reinheit mangele.172 Was meint aber diese ‘pureté’? Im Zusammenhang mit dem ‘Primitiven’ lassen Begriffe wie Unberührtheit und Reinheit zunächst an das zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorherrschende Verständnis der ‘primitiven’ Völker als ‘Kinder der Menschheit’ denken. Doch obwohl die ‘pureté’ konzeptionell eine Rolle in der Ästhetik der Avantgarde spielt, ist dies nicht mit einer Rückkehrphantasie in eine ‘primitive’ Kindheit der

169 «Le fait essentiel est que, en déportant du côté de l’impensé toute perception extérieure, le surréalisme en vient à décréter le ‘peu de réalité’.» Marie-Louise Lentengre: Apollinaire. Le Nouveau Lyrisme. Paris: Éditions Jean-Michel Place 1996, S. 49. 170 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 949. 171 Guillaume Apollinaire: Le Douanier [1914]. In: PrII, S. 627–641, hier S. 627. 172 «leur art est peu expressif, stéréotypé, impur: en tout cas il n’est pas nègre.» Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 31.

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Menschheit in der Art einer historischen Schichtung gleichzusetzen, denn schließlich ist es gerade das Ahistorisch-Universelle, das Apollinaire am ‘Primitiven’ fasziniert. Begriffe wie ‘art pur’ (Apollinaire und Réverdy) und ‘pittura pura’ (Soffici) verweisen statt auf eine Rückkehr in ein unvordenkliches Zeitalter darauf, dass die Künstler überzeitliche Grundregeln und das Wesen der Kunst selbst erkunden wollen. Dabei finden sie in diesen Grundformen eine Art der Abstraktion, die gleichzeitig im Menschlich-Individuellen verankert bleibt, die Konkretion also nicht aus den Augen verliert. In diesem Sinne ist der Begriff ‘pureté’ ein Attribut für eine Kunst, die sowohl universell und abstrakt als auch menschlich und individuell ist. Laut Apollinaire besteht die ‘pureté’ in der Würdigung des Instinkts, darin, die Kunst menschlich und dabei die eigene Person göttlich zu machen: «Considérer la pureté, c’est baptiser l’instinct, c’est humaniser l’art et diviniser la personnalité.»173 Dies sind auch Schlüsselkonzepte der apollinaireschen Dichtung. Die Tragweite des Pureté-Konzepts zeigt sich auch bei Reverdy, in dessen ästhetischen Aussagen sich die Begriffe ‘pur’ und ‘pureté’ häufig finden lassen. In seiner Zeitschrift NordSud bespricht er – unterzeichnet mit seinem Pseudonym «Laforêt» – seine eigene Gedichtsammlung Ardoises du toit.174 Die Notiz gibt Aufschluss darüber, dass Reverdy selbst gerne als ein der ‘pureté’ verschriebener Dichter gesehen werden will: «La caractéristique de la poésie de M. Pierre Reverdy c’est la pureté. Elle vient de la pureté et de la simplicité des moyens employés. Chaque poème est ici un fait poétique présenté au lieu d’être une anecdote representée.»175 Seine Selbstbeschreibung erinnert an Beschreibungen der ‘primitiven’ Kunst, welche, um es mit Katia Samaltanos zu sagen, eine Bewegung «away from verisimilitude and toward simplicity, linearity, and emotive power» vollzieht.176 Auch für Apollinaire gehört die Ablehnung der Mimesis zu den Bedingungen der reinen Kunst. Neben dem «cubisme scientifique» zählt Apollinaire noch den «cubisme orphique» und den «cubisme instinctif» zu den Richtungen des «art pur».177 Die neue Kunst unterscheide sich von der alten dadurch, dass sie nicht mehr ein «art d’imitation» sei, sondern ein «art de conception qui tend à s’éléver jusqu’à la création.»178 Die von Apollinaire identifizierten Richtungen des Kubismus unterscheiden sich untereinander in der Art, durch die sie sich von der Imitation der visuellen Realität absetzen. Während der «cubisme scientifique» die optisch erfahrene Realität durch die gewusste Realität ablöse, seien die gemalten Elemente des «cubisme orphique» schöpferisch

173 174 175 176 177 178

Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 6. Pierre Reverdy: Livres [1918]. In: ROCI, S. 504 f., hier S. 505. Ebda., Hervorhebung im Original. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 12. Vgl. Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 16 f. Ebda., S. 16.

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– «entièrement créés par l’artiste et doués par lui d’une puissante réalité.»179 Eng verwandt mit letzterem sei der «cubisme instinctif», der sich ebenfalls von der visuellen Realität distanziere, indem er sich auf die dem Instinkt und der Intuition des Künstlers entspringende Realität stütze.180 Zu der ‘pureté’ gehört für Reverdy neben einem amimetischen Literaturverständnis, dass die Poesie auch medial ‘rein’ bleibe. Er lehnt Mischungen aus bildender Kunst und Poesie ab. Die Reinheit der Mittel würde die Reinheit der Werke garantieren: «Il n’y a que la pureté des moyens qui ordonne la pureté des œuvres. La pureté de l’esthétique en découle.»181 Reverdys schöpferisches Dichtungsverständnis bedeutet jedoch nicht, dass er seine Kunst als von der vorhandenen Welt abgetrennt sieht oder als intellektuelle Poesie versteht: «Croire qu’on peut le rehausser et lui donner plus d’éclat à l’aide d’éléments extraits d’une érudition livresque est une erreur. Cet art est en contact direct avec la vie qui est sa seule source.»182 Es handle sich nicht um intellektuelle Spielereien – wie auch Apollinaire betont er die Verhaftung im Leben, welches bei letztgenanntem unter dem Begriff «Natur»183 gefasst ist: «Et pour renouveler l’inspiration, la rendre plus fraîche, plus vivante et plus orphique, je crois que le poète devra s’en rapporter à la nature, à la vie.»184 Die Dichtung wird sowohl von Apollinaire als auch von Reverdy als schöpferischer Weltbezug verstanden. Dieses Konzept findet sich auch bei dem Dichter Vicente Huidobro in seinem Essay ‘La creación pura’ dargelegt. Er schreibt: «No se trata de imitar la Naturaleza. Sino que hacer como ella; no imitar sus exteriorizaciones sino su poder exteriorizador.»185 Auch dieser mit Apollinaire befreundete chilenische Dichter und Begründer des Creacionismo versteht die Kunst als einen schöpferischen Weltbezug, eine Vermittlung zwischen dem Ich des Künstlers und der objektiven Welt: «Tendremos, pues, que considerar las relaciones que hay entre el mundo objetivo y el Yo, el mundo subjetivo del artista.»186 Für den Futuristen Soffici steht in dieser Vermittlung die Sehnsucht nach einem alles umfassenden Sinngefüge im Vordergrund:

179 Ebda., S. 17. 180 «Le ‘cubisme instinctif’, art de peindre des ensembles nouveaux empruntés non à la réalité visuelle, mais à celle que suggèrent à l’artiste l’instinct et l’intuition», ebda. 181 Pierre Reverdy: L’image [1918]. In: ROCI, S. 496. 182 Pierre Reverdy: Livres. In: ROCI, S. 505. 183 Zum Natur-Begriff siehe Kapitel II.2.6 ‘Natur’ der vorliegenden Arbeit. 184 Guillaume Apollinaire: Nos amis les futuristes. In: PrII, S. 972. 185 Vincente Huidobro: La creación pura [1921]. In: ders.: Obras completas. Band I. Santiago de Chile: Editorial Andres Bello 1976, S. 718–722, hier S. 720. 186 Ebda.

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Nell’arte pura, tutto si risolve in un godimento sereno, in una contemplazione spirituale in un perfetto equilibrio dei sensi e dell’intelligenza, sodisfatti appieno in un’armonia superumana di pensieri e di immagini; in una tranquillità estasiata simile a quella di un cielo stellato e infinito.187

Mit der übermenschlichen Harmonie spricht Soffici wieder das Ideal einer universalen und grenzenlosen Gültigkeit der Kunst an, die das Subjekt im ästhetischen Erleben erfährt.

2.3 Gegen einen mimetischen Realismus Im Konzept des ‘art pur’ manifestiert sich bereits der zentrale Stellenwert, den die Überlegungen zur Mimesis in der avantgardistischen Ästhetik einnehmen. Im Grunde sind alle weiteren, in den folgenden Kapiteln besprochenen Themen der avantgardistischen Ästhetik fundamental mit der Ablehnung der Mimesis verknüpft. Das Verhältnis von Kunst und Literatur zur Wirklichkeit stellt einen wesentlichen Berührungspunkt der ästhetischen Konfiguration der Avantgarde mit den Repräsentationsformen des mythischen Denkens dar, weil sich in ihnen das Verhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität offenbart. Dass sich Wahrnehmung und das Wahrgenommene wechselseitig formen – eine grundlegende Erkenntnis in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen – wird in Apollinaires, Cendrars’, Reverdys und Sofficis Schriften anhand der Frage der Mimesis reflektiert. Apollinaire antwortet 1907 in einem Interview: «Je suis pour un art de fantaisie, de sentiment et de pensée, aussi éloigné que possible de la nature avec laquelle il ne doit avoir rien de commun.»188 Noch deutlicher wird seine Ablehnung eines mimetischen Kunstbegriffs in einem Interview elf Jahre später, in dem er seinem Gesprächspartner Pérez-Jorba mitteilt: «je suis tout à fait hostile à l’art mercenaire de l’imitation».189 Apollinaire begrüßt, dass sich die bildenden Künstler ebenfalls immer mehr von «l’ancien art des illusions d’optique et des proportions locales»190 entfernen. Das Optisch-Mimetische sei überflüssig geworden im Zeitalter der Technik, in der die Photographie längst die Malerei in dieser Hinsicht übertrumpft habe. Es wäre «absurde […] de réduire la poésie à une sorte d’harmonie imitative qui n’aurait même pas pour excuse d’être exacte.»191

187 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista [1920]. In: SOI, S. 677–741, hier S. 695 f. 188 Guillaume Apollinaire: Réponse à une enquête [1906]. In: PrII, S. 958 f. hier 958. 189 Apollinaire in einem Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 992. 190 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12. 191 Vgl. Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 947.

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Reverdy lehnt die Imitation der Natur als ästhetisches Prinzip ebenfalls ab. Für ihn besteht die ‘pureté’ der Kunst in ihrer Autonomie und Losgelöstheit von der natürlichen Welt.192 Dies kann nur mit ‘reinen Mitteln’ geschehen, womit er meint, die zur Dichtung herangezogenen künstlerischen Mittel seien nur auf die Kunst selbst bezogen und dürften keine andere Funktion haben. Nicht dazu gehören dementsprechend «des moyens d’observation directe» – das heißt Mittel zur Beschreibung der visuell wahrgenommenen Realität.193 Es zeigt sich hier, dass die Ablehnung der Mimesis mit der Infragestellung des Wissensbegriffs – einer Begleiterscheinung des primitivistischen Diskurses194 – eng verbunden ist. Denn wenn die Realität von der Sicht des Subjekts abhängt, stellt sich die Frage, welche Natur imitiert werden kann. Das Konzept der Mimesis wird in dem Moment problematisch, in dem man davon ausgeht, dass die Wahrnehmung selbst das Wahrgenommene modifiziert. Zu dieser Skepsis kommt hinzu, dass durch die von Max Weber konstatierte «Entzauberung der Welt» alles transzendente ‘Was’ als Dispositiv, Erfahrungen zu bündeln, infrage gestellt ist. Die Dichter der Poetik des mythischen Denkens versuchen folgerichtig, aus dem ‘Wie’ der Wahrnehmung ein Konzept zu machen, das, wie sich in Apollinaires Begriff des ‘Sublimen’ zeigen wird, ebenfalls transzendente Züge trägt. 2.3.1 Das Sublime Aus dem Ideal einer nicht-deskriptiven Kunst folgt für Reverdy nicht die Reduktion oder der Verzicht auf Sprache: «Je parle d’un art non descriptif et non pas d’un art descriptif en moins de mots.»195 Analog dazu spricht Apollinaire sich in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ gegen eine Dichtung aus, die nur Geräusche nachahmt und kein Gefühl vermittelt: «je conçois mal que l’on fasse consister tout simplement un poème dans l’imitation d’un bruit auquel aucun sens lyrique, tragique ou pathétique ne peut être attaché.»196 Diese Kritik lässt ‘La Victoire’ als eine Ironisierung der von Apollinaire gering geschätzten Geräuschpoesie erscheinen:197

192 Vgl. «C’est en se dégageant de ces sentiments que l’art s’élève – plus il en est dégagé, plus il est élevé et pur.» Pierre Reverdy: L’Émotion [1917]. In: ROCI, S. 482–486, hier S. 484. 193 Pierre Reverdy: L’image. In: ROCI, S. 496. 194 Vgl. Kapitel I.2.2 ‘Relativität des eigenen Standpunkts: Infragestellung des Kunst- und Wissenschaftsbegriffs’ der vorliegenden Arbeit. 195 Pierre Reverdy: Self defence [1919]. In: ROCI, S. 515–531, hier S. 522. 196 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 947. 197 Vgl. Willard Bohn: Reading Apollinaire’s Calligrammes. London: Bloomsbury Academic 2018, S. 184. Vgl. auch Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire.Lausanne: Édition L’Âge d’Homme 1969, S. 181. Siehe auch Claude Tournadre [Debon]: À propos de ‘La victoire’. In: Michel Décaudin (Hg.): Apollinaire inventeur de langages. Actes du Colloque de Stavelot (1970). Paris: Minard 1973, S. 167–180.

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Mais entêtons-nous à parler Remuons la langue Lançons des postillons On veut des nouveaux sons de nouveaux sons de nouveaux sons On veut des consonnes sans voyelles Des consonnes qui pètent sourdement Imitez le son de la toupie Laissez pétiller un son nasal et continu Faites claquer votre langue Servez-vous du bruit de celui qui mange sans civilité Le raclement aspiré du crachement ferait aussi une belle consonne198

Die Imitation der natürlichen Welt hat für Apollinaire etwas Analytisch-Wissenschaftliches und ist als Gedicht unbrauchbar, denn «la réalité sera toujours supérieure.»199 Anders würde es sich jedoch verhalten, wenn die Geräuschpoesie beispielsweise für eine Tanzchoreographie eingesetzt würde, bei der die Tänzer statt ihrer üblichen Kunststücke «des cris ressortissant à l’harmonie d’une imitative nouveauté»200 ausstoßen würden. Denn hier würden die Geräusche auf etwas zutiefst Menschliches verweisen, das es in allen Völkern zu finden gibt. Damit würde das Gedicht etwas universal Gültiges aussprechen – eine anthropologische Konstante –, und wäre somit nicht mehr «absurde»: «c’est là une recherche qui n’a rien d’absurde, dont les sources populaires se retrouvent chez tous les peuples où les danses guerrières, par exemple, sont presque toujours agrémentées de cris sauvages.»201 Für Apollinaire ist die Ablehnung der Mimesis an den Ausdruck des Transzendenten gekoppelt: «pour exprimer la grandeur des formes métaphysiques.»202 Es zeigt sich hier wieder, wie die Abwendung vom Mimetischen auch auf die universalistische Dimension der von Apollinaire anvisierten Ästhetik verweist. Für ihn geht es in der Poesie um etwas, das unveränderlich ist und sich, da es nicht messbar ist, nicht durch die Technik ersetzen bzw. reproduzieren lässt. Apollinaire bezeichnet dies als das ‘Sublime’. Das Erhabene ändere sich nicht, solange der Mensch Mensch sei: C’est ainsi que le sublime demeure sain et sauf. Il ne change point, car il constitue l’essence même de l’art humain et pour qu’il y eût un sublime d’une autre sorte il faudrait que l’homme fût entièrement différent de ce qu’il est. Le sublime moderne est identique

198 Guillaume Apollinaire: ‘La Victoire’ [1917]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. Po, S. 309–312, hier S. 310. 199 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 947. 200 Ebda. 201 Ebda. 202 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12.

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au sublime des siècles passés et le sublime des artistes de l’avenir ne sera rien autre que ce qu’il est aujourd’hui.203

Aufgrund dieser Eigenschaft vergleicht Apollinaire die Kunst mit dem Feuervogel Phönix, der wie das Erhabene in der Kunst im Grunde immer gleich bleibt, sich aber durch die Flammen, welche die Alltagskunst symbolisieren, nährt und verbraucht: «Admirable mythe du Phénix! Les flammes qui dévorent et alimentent la merveille figurent l’art populaire qui est à la fois le produit de la décadence des arts et aussi le foyer qui les échauffe et les vivifie, mais le Phénix, c’est-à-dire le sublime, ne change point.»204 Das Feuer und der Feuervogel Phönix sind wiederkehrende Motive in Apollinaires Dichtung, u. a. in ‘Cœur couronne et miroir’, ‘Le brasier’, ‘Les fiançailles’ und in Vitam impendere amori. Die Avantgarde gewährt der Wahrnehmung des Subjekts Vorrang vor einer kunstakademischen Seh- und Malweise oder einer den Naturzustand beschreibenden Lyrik. Pascal Rousseau zeigt in Hinblick auf das kubistische Porträt, wie Apollinaire den Begriff des Sublimen verwendet, um eine amimetische Kunst zu verteidigen.205 Rousseau sieht in der intimen Beziehung zum Modell den Grund für eine Rückkehr zum Porträt in der kubistischen Kunst, das Porträt «pose la question de l’essence intime du sujet.»206 Daraus folge, dass eine rein frontale Abbildung, wie in der klassischen Malerei üblich, ungenügend sei: «Chaque fois, il s’agit de saisir le trait essentiel et, dans la synthèse d’une ligne qui résume l’être, de rendre compte de la capacité du peintre à embrasser l’intégralité de son sujet: une vue de face est une vue trop partielle sur l’individu.»207 Die persönliche Wahrnehmung steht jedoch immer in einem universalen Kontext, indem sich in ihr Konstanten wie «des formes métaphysiques» und das Sublime herauskristallisieren. In diesem Universalitätsanspruch sieht Apollinaire eine Ähnlichkeit zwischen der modernen und der religiösen Kunst: «C’est pourquoi l’art actuel, s’il n’est pas l’émanation directe de croyances religieuses déterminées, présente cependant plusieurs caractères du grand art, c’est-à-dire de l’Art religieux.»208 In ‘La Victoire’ heißt es schließlich: «La parole est soudaine et c’est un Dieu qui tremble.» Dieser Vers verdeutlicht wieder, dass Apollinaire nicht an Geräuschen, sondern Worten interessiert ist, wie Willard Bohn erläutert, aber auch, dass die

203 Guillaume Apollinaire: La loi de renaissance [1912]. In: PrII, S. 963 ff., hier S. 965. 204 Ebda., S. 963. 205 Pascal Rousseau: Le Portrait d’Apollinaire par Robert Delaunay. La dissection cubiste et l’esthétique de la fragmentation. In: Michel Décaudin (Hg.): Apollinaire et le portrait. Paris/ Caen 2001, S. 23–46, hier S. 28 ff. 206 Ebda., S. 26. 207 Ebda., S. 26 f. 208 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12.

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Dichtung wie die Sprache sowohl universell (=göttlich) als auch persönlich ist: «The spoken word appears magically out of nowhere but is shaped and expressed by the poet’s mouth. The written word pops into the poet’s head but is shaped and expressed by his or her hand.»209 Weil sich in ihm menschliche und universale Wahrheit vereinen, ist der Begriff des Sublimen ein wichtiges Element des ‘art pur’.210 2.3.2 Darstellung der von innen geformten Realität Der Gedanke, in einer amimetischen Kunst würden sich Grundideen wiederfinden, entwickelt sich aus der Auseinandersetzung mit der ‘primitiven’ Kunst, wie sich anhand des 1904 in Les Arts de la Vie erschienen Aufsatzes ‘De la gaucherie des primitifs’ des Künstlers Maurice Denis beispielhaft nachvollziehen lässt. Denis unterscheidet darin zwischen einer wahrgenommenen und einer gewussten Realität, um auf den Konflikt zwischen der inneren Vision und der Sinneswahrnehmung aufmerksam zu machen, der in der ‘primitiven’ Kunst gelöst scheint.211 Er führt aus, wie sich insbesondere bei der Darstellung der Perspektive zeigt, dass der ‘primitive’ Künstler nicht der rein visuellen Realität folgt. Das Sehbare deckt sich nicht mit dem Gewussten – «Il y a conflit entre ma vision intellectuelle et l’apport de mes yeux»212 – wie Denis mit folgendem Beispiel verdeutlicht: Ein ‘primitiver’ Künstler male sein Dorf als Anhäufung von Häusern, die übereinandergestapelt erscheinen, ohne Rücksicht darauf, dass ein Gebäude den Blick auf eines hinter ihm eigentlich verstellt.213 Marcel Réja beobachtet das ähnliche Phänomen in von Kindern angefertigten Porträtzeichnungen, in denen sie Profil und Front in einer totalen Ansicht kombinieren – diese ‘Technik’ wird bekanntermaßen ungefähr gleichzeitig zur Publikation von Réjas Buch L’art chez les fous (1907) von Picasso verwendet: Il [l’enfant] connaît les éléments qui doivent entrer dans sa figure représentative et il en fait un tout graphique, il les assemble sur le papier comme ils sont assemblés dans son esprit, sans remarquer qu’une figure de face ne peut dans aucun cas présenter un nez de profil.214

209 Willard Bohn: Reading Apollinaire’s Calligrammes, S. 466. 210 Vgl. Pascal Rousseau: Le Portrait d’Apollinaire par Robert Delaunay. La dissection cubiste et l’esthétique de la fragmentation, S. 31: «Pour cela, la peinture doit échapper aux contraintes de l’individuation, acquérir un vocabulaire qui touche immédiatement à l’universalité.» 211 «Il y a conflit entre ma vision intellectuelle et l’apport de mes yeux.» Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs [1904]. In: ders.: Théories 1890–1910. Du symbolisme et de Gauguin vers un nouvel ordre classique. Paris: L. Rouart et J. Watelin Éditeurs 1920, S. 172–178, hier S. 176. 212 Ebda. 213 Ebda. 214 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie. Paris/Montréal: L’Harmattan 2000, S. 69.

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Aufgrund ihrer Grundlegung in diesem inneren Wissen sind der ‘primitiven’ Kunst Hierarchisierungsmuster fremd, die aus einer optischen Perspektivierung erwachsen: «Les questions de transparence et de proportion ne sauraient se poser, l’opacité et la perspective étant des propriétés de la matière qui n’ont rien à voir avec le domaine des idées.»215 Dem Schöpfungsprozess geht ein innerer geistiger Prozess voraus, welcher in der Abbildung zur Darstellung kommt. Auf eine provokative Weise findet sich dieser Gedanke, die indigene Kunst drücke «verdades de su espíritu» aus und folge nicht den «imposiciones de verdades externas», auch bei Vicente Huidobro in seinem Essay ‘El arte negro’. Huidobro erklärt darin, er liebe die indigene Kunst, weil sie keine Sklavenkunst sei.216 Mit diesem Satz reflektiert er zwar auf ironische Weise das kolonialistische Problem, aber hauptsächlich soll etwas anderes ausgedrückt werden: Die indigenen Künstler sind im Gegensatz zu den Weißen nicht Sklaven der Mimesis und stehen damit für ein schöpferisches Kunstverständnis, das Huidobro mit Apollinaire teilt: «El Arte Negro está mucho más cerca de la creación que de la imitación.»217 Er löst seine provokante Aussage in dieser Hinsicht auf: «Los negros no imitan directamente la naturaleza. En sus obras hay una mayor transposición que en el arte europeo, son menos esclavos de objeto que los artistas blancos.»218 Diese Eigenschaft ist es laut Huidobro auch, die der schwarzen Kunst einen so großen Stellenwert bei den modernen Dichtern und Künstlern beschert hat und erklärt, dass diese für sie nicht nur eine Modeerscheinung ist: «Para nosotros y para todos los artistas de la nueva generación, el Arte Negro tiene otra importancia harto menos banal que una simple moda. Es todo un principio estético».219 Er selber habe schon damit begonnen, indigene Kunst zu sammeln, bevor sie in Mode gekommen ist.220 Ein weiteres Beispiel für die graphische Umsetzung eines im Geiste geformten Gedankens findet sich bei Réja. Er führt an, in der ‘primitiven’ Kunst werde dieselbe Person gleichzeitig in zwei verschiedenen Phasen ihrer Handlung dargestellt.221 Die Verbindung zum Simultaneitätskonzept der avantgardistischen Poetik deutet sich hier an. Ein interessanter Aspekt an Réjas Überlegungen ist, dass er die Rolle der Erinnerung als konstitutiv für die amimetische Darstellung

215 Ebda., S. 70. 216 «Amo el arte Negro, porque no es un arte de esclavos», Vicente Huidobro: El Arte Negro [1926]. In: ders.: Obras completas. Band I. Santiago de Chile 1976, S. 820–821, hier S. 820 f. 217 Ebda., S. 821. 218 Ebda., S. 820. 219 Ebda., S. 821. 220 Ebda. 221 Vgl. Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 85.

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ansieht, da oftmals etwas reproduziert wird, das nicht gesehen, aber durch die Erinnerung ‘gewusst’ wird.222 Damit wird die Verbindung zum poetischen Verfahren der Simultaneität besonders deutlich, denn in Apollinaires Lyrik ist es meist die Erinnerung, welche für die Simultaneität konstitutiv ist, indem sie das bereits Durchlebte in die Jetzt-Zeit holt und das Vergangene vergegenwärtigt.223 Wie das Kind bildet der ‘primitive’ Künstler nicht den rein visuellen Ist-Zustand ab, sondern sein Wissen über den Gegenstand ihrer Darstellung. Denis fasst zusammen: «Il préfère la réalité à l’apparence de la réalité. Plutôt que de se résigner aux déformations de la perspective qui n’intéressent pas son œil vierge, il conforme l’image des choses à la notion qu’il en a.»224 Mit ähnlichen Worten charakterisiert Apollinaire den Kubismus: Le ‘cubisme scientifique’ est l’une de ces tendances pures. C’est l’art de peindre des ensembles nouveaux avec des éléments empruntés, non à la réalité de vision, mais à la réalité de connaissance. Tout homme a le sentiment de cette réalité intérieure. Il n’est pas besoin d’être un homme cultivé pour concevoir, par exemple, une forme ronde.225

In Apollinaires Worten sind mehrere Ideen komprimiert: Die Zuschreibung des Kubismus zu einer der «tendances pures» und die Aussage, die Grundlage für die Malerei sei eine Realität, die bar jeglicher Gelehrsamkeit und Kultur für «tout homme» zugänglich sei, verweisen auf den Universalitätsanspruch der kubistischen Ästhetik. Diese ‘réalité intérieure de connaissance’ unterscheidet sich von der visuellen Realität und unterstreicht damit, dass die kubistische Kunst keine mimetische Kunst ist. Diese Beschreibung deckt sich wiederum mit der Analyse Denis’, der ‘Primitive’ bevorzuge in seiner künstlerischen Darstellung «la réalité à l’apparence de la réalité»226. Pascal Rousseau ist der Ansicht, Apollinaire habe diesen Gedanken aus Maurice Raynals Artikel ‘Conception et vision’ entlehnt, der am 29. August 1912 in Gil Blas erschienen ist.227 Raynal spricht darin von einem «réalisme de conception».228 Bei Carl Einstein finden

222 Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 12. 223 Vgl. Kapitel III.3.3.4 ‘Simultaneität’ der vorliegenden Arbeit. 224 Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs, S. 176. Hervorhebung im Original. 225 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 16. Zum cubisme scientifique zählt Apollinaire u. a. Picasso, Braque und Metzinger. 226 Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs, S. 176. 227 Pascal Rousseau: Le Portrait d’Apollinaire par Robert Delaunay. La dissection cubiste et l’esthétique de la fragmentation, S. 27. 228 Ebda., S. 28.

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sich im Zusammenhang mit der indigenen Kunst ähnliche Feststellungen. Er spricht von einem «Realismus des Formalen» der afrikanischen Plastik, «worunter nicht ein nachahmender Naturalismus verstanden wird».229 Diese spezifische Form des Realismus soll im kommenden Kapitel näher beleuchtet werden.

2.4 Abstraktion 2.4.1 Darstellung des Wesentlichen Aufgrund ihrer eigenen amimetischen Ästhetik wird die ‘primitive’ Kunst von den Künstlern nicht länger wegen ihrer «gaucherie»,230 der vermeintlichen Unfähigkeit zur naturgetreuen Darstellung, entwertet.231 Die ‘primitive’ Kunst wird aufgrund ihrer Kreativität und Originalität bewundert und von den Künstlern zum Modell für die von ihnen angestrebte abstrakte und amimetische Kunst erhoben. Paul Guillaume konstatiert: «L’art abstrait, presque ésotérique, des Noirs est le chiffre expressif le plus satisfaisant de la grande inquiétude contemporaine.»232 Das Konzept der Abstraktion beinhaltet für die Kubisten nicht nur eine Abkehr von einem mimetischen Kunstideal, sondern gleichermaßen den Anspruch, das Wesentliche – «l’essentiel» – auszudrücken.233 Diesen Grundzug ihrer Ästhe-

229 Carl Einstein: Negerplastik, S. XV, wobei er auch das Mimesis-Konzept der europäischen Kunst spezifiziert: «Der optische Naturalismus abendländischer Kunst ist nicht Nachahmen der Außennatur; die Natur, die hier passiv nachgeahmt wird, ist der Standpunkt des Beschauers. So versteht man das Genetische, ungemein Relative, das unserer meisten Kunst anhaftet. Diese paßte sich dem Beschauer an (Frontalität, Fernbild), und immer mehr wurde das Erzeugen der optischen Endform einem aktiv beteiligten Betrachter anvertraut.» Ebda., S. XIX. 230 Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs, S. 173: «Quoi qu’il en soit, l’idée de la gaucherie et celle de primitif sont tellement inséparables que lorsqu’un moderne dessine avec une vraie naïveté, lorsqu’il peint comme il sent, et s’écarte des formules admises, […] on l’accuse à la fois d’archaïsme et de gaucherie». 231 Réja sieht in dem Schematismus der Abstraktion die Hauptübereinstimmung zwischen kindlicher und indigener Kunst, ohne dies als Ausdruck von Schwäche oder Unfähigkeit zu werten. Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 100: «Ce schématisme, cette réduction dans l’abstrait géométrique, demeure donc la caractéristique générale de tout cet art. Il serait toutefois injuste de la considérer comme une preuve d’impuissance pure et simple.» 232 Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque, S. 75. Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 4. Vgl. auch Marius de Zayas: African negro art: its influence on modern art. New York: Modern Gallery 1916, S. 5. 233 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11.

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tik teilen sie mit der ‘primitiven’ Kunst. So postuliert Réja die These, die ‘primitive’ Kunst sehe von einer Mimesis ab, indem sie statt einer optischen Realität ‘Grundideen’ bzw. das Wesentliche wiedergebe.234 Dieses Prinzip bringt er wie Apollinaire durch seinen Begriff des Sublimen mit etwas Metaphysischem in Verbindung: «ni l’enfant, ni le sauvage ne cherchant [sic] à copier ou à traduire un modèle déterminé; leur but principal est de transcrire, d’enregistrer des notions générales, parfois métaphysiques. Leur art vit d’un idéalisme excessif».235 Die abstrahierende Darstellung eines Menschen beispielsweise diene der Evokation der Idee dieses Menschen. Daran knüpft sich das kubistische Bestreben, die Objekte nicht mehr in ihrer Erscheinung darzustellen, sondern aus ihnen das zu entnehmen, was «éternel et constant» und damit universell sei, wie beispielsweise die runde Form eines Glases.236 In diesem Sinne porträtiert der kubistische Künstler nicht, er zeichnet die äußere Realität nicht ab. Denis kommt in seinen Studien zu einem ähnlichen Ergebnis: Die ‘Primitiven’, wie Denis die Künstler «dans le temps de la naissance et de l’enfance des Arts» in Rückgriff auf die Vorstellung einer in ihnen wiederzufindenden Kindheit der Menschheit bezeichnet, zeichnen sich durch einen besonderen «sens des objets» aus.237 Damit spielt er darauf an, dass es den Künstlern nicht so sehr um die Erscheinungsform der Dinge, sondern um ihre Eigenschaften und ihre praktische Funktion gehe – das heißt, um die Bedeutung, welche die Gegenstände für das Subjekt haben. Réja zufolge bilden Kinder und ‘primitive’ Künstler das Wesentliche ab, weil sie nicht der sichtbaren Außenrealität dienen, sondern in ihrer Kunst «une conception ou un sentiment»,238 die sie mit diesem verbinden, ausdrücken. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt Réja durch die Beobachtung, dass das Kind das Modell seiner Zeichnung nicht mehr genau betrachtet, um es Stück für Stück auf das Papier zu ‘kopieren’. Stattdessen genüge es ihm, synthetisch zu erfassen, worum es sich bei seinem Modell handelt, z. B. um einen Menschen, und dann seine Kenntnis, seinen ‘Begriff’ des Menschen auszudrücken.239

234 «Mais tous deux se ressemblent par le mépris où ils tiennent la réalité. Ils ne cherchent pas à évoquer les formes mêmes, mais seulement leur idée.» Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 101. 235 Ebda., S. 84. 236 Pierre Reverdy: Sur le cubisme [1917]. In: ROCI, S. 457–461, hier S. 460. 237 Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs, S. 173. 238 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 85. 239 «Il [l’enfant] sait qu’il a devant lui un homme et il a synthétisé sa notion de l’homme dans une formule qui lui suffit: il trouve donc l’occasion excellente de la servir sans plus de cérémonie.» Ebda., S. 68.

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Das im Geiste vorhandene ‘Konzept’ enthält nur die für den Künstler wesentlichen Charakteristika, die unzähligen Details sind ausgespart. In der Vorstellung findet zugleich eine Reduktion und eine Erweiterung statt, denn nicht alle Details der Wirklichkeit sind in einem Gedankenbild vorhanden. Hingegen können andere, imaginative oder empfundene Charakteristika hinzugefügt werden. ‘Dieser’ Mensch erhält in der Kinderzeichnung unweigerlich die Eigenschaften des Menschen ‘an sich’ bzw. des allgemeinen Begriffs von Mensch, über den das Kind verfügt. Jedes Einzelding steht somit ebenfalls für das Allgemeine, wodurch es zu einer Verschränkung von Abstraktem und Konkretem kommt – ein Phänomen, das, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, ‘primitive’ Kunst, ‘primitives’ Denken und moderne Lyrik miteinander teilen. 2.4.2 Konkrete Abstraktion ‘La jolie rousse’ Adolphe Baslers Reflexion macht verständlich, dass die ‘primitiven’ Werke gleichermaßen sowohl konkret als auch abstrakt sind: L’imagination artistique exubérante de tous les insulaires de l’Océanie trouve son moyen d’expression le plus parfait dans la combinaison des éléments concrets et des éléments abstraits. […] Mais le géométrisme primitif et le naturalisme primitif découlent d’une source identique. Celui-ci reproduit la nature telle quelle ou en l’amplifiant – sinon en la déformant – par sa vision; celui-là réduit les représentations imitatives de la nature à des expressions plus ou moins fortes, plus ou moins subjectives.240

Konkretes kann abstrakte Züge annehmen, beispielsweise wenn der Künstler in einer menschlichen Skulptur für ihn unwesentliche Details ausspart, wesentliche Details hingegen übertrieben groß herausarbeitet und ihnen somit mehr Gewicht im Gesamtgefüge der Komposition verleiht.241 Dies lässt sich mit dem Zeichnen von Karikaturen vergleichen: Der Künstler übertreibt ein Detail und abstrahiert damit bereits von der Einzelerscheinung des Menschen. Dennoch drückt er damit einen wesentlichen und gleichzeitig individuellen Zug aus. Auf ähnliche Weise ist Cassirers Beschreibung der mythischen Logik zu verstehen: Im mythischen Denken gibt es strenggenommen keine abstrakten Dinge und keine allgemeinen Begriffe. Dennoch gibt es ein ‘Konzept’ von allgemeinen Dingen, nur nehmen diese die Form von konkreten Dingen an. Anders ausgedrückt: Das Konkrete kann im mythischen Denken die Funktion von Abstraktem annehmen und uni-

240 Adolphe Basler: Arts océaniens [1929]. In: PG, S. 135–143, hier S. 136 ff. 241 Vgl. Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 99.

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versale Qualitäten erlangen. So können allgemeine Begriffe konkret abgebildet werden – wie etwa in der Erscheinung einer Fruchtbarkeitsgöttin Fruchtbarkeit dargestellt wird. Einzeldinge werden nicht vom übergeordneten Ganzen unterschieden. Cassirer nennt gerne das Beispiel der Schwalbe, die im mythischen Denken tatsächlich den Sommer macht.242 Es handelt sich zwar um ein Einzelding, eine Schwalbe, aber sie nimmt gleichermaßen die – aus der Perspektive des ‘wissenschaftlichen Denkens’ gesprochen – Funktion des übergeordneten, allgemeineren Begriffs ‘Sommer’ ein. Abstraktes wird somit ‘lebendig’, eine Idee, welche sich in Apollinaires Poetik wiederfindet.243 Dichterisch hat Apollinaire diesen Gedanken in ‘La jolie rousse’ umgesetzt. Das im März 1918, also einige Monate vor seinem Tod, in der Zeitschrift L’Éventail veröffentlichte Gedicht liest sich als eine Art poetisches Manifest. Apollinaires Dichtung nimmt «la forme noble et douce» der schönen Rothaarigen an – so der Spitzname von Apollinaires Frau Jacqueline Kolb. Die dichterische Inspiration und der Schöpfungsprozess («le temps de la Raison ardente») wird von ihr verkörpert: O Soleil c’est le temps de la Raison ardente Et j’attends Pour la suivre toujours la forme noble et douce Qu’elle prend afin que je l’aime seulement Elle vient et m’attire ainsi qu’un fer l’aimant Elle a l’aspect charmant D’une adorable rousse Ses cheveux sont d’or on dirait Un bel éclair qui durerait Ou ces flammes qui se pavanent Dans les roses-thé qui se fanent244

Die Inkarnation der «forme noble et douce» in der schönen Rothaarigen scheint den alleinigen Zweck zu haben, dass das lyrische Ich sie lieben kann («afin que je l’aime seulement»), so wie ein Magnet Anziehungskraft auf Eisen ausübt («Elle vient et m’attire ainsi qu’un fer l’aimant»). Das Einzelne, d. h. die «jolie rousse», wird zum Sinnbild für die abstrakten poetischen Ideale der «raison» und der «forme noble» erkoren; die «Raison» als Abstraktum wird durch ihre Inkarnation in der «jolie rousse» vermenschlicht und damit zugänglich und begehrenswert gemacht. Die Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten, Menschlichen mündet in eine erotisch gefärbte Beschreibung der Frau. In ihrer Darstellung häufen

242 MD, S. 56. 243 Siehe das Kapitel III.2.1 ‘Bewegung und Lebendigkeit’ der vorliegenden Arbeit. 244 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 314.

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sich Farben und Elemente, die in den Bereich des Feuers fallen, wie «d’or», «rousse», «flammes» und «éclair», welche wie der Phönix für Apollinaire sinnbildlich für seine Dichtung stehen. Diese Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten, die sich auch in der Entwicklung des Gedichttitels niederschlägt, der ursprünglich ‘L’Ordre’ lautete, dann zugunsten von ‘L’Ordre et la Raison’ aufgegeben wurde, bis sich Apollinaire schließlich für den Titel ‘La jolie rousse’ entschied,245 ist gleichzeitig Ausdruck einer Poetik, die sich gegen ein erstarrtes «L’art pour l’art»-Prinzip richtet. Die Teerosen («Dans les roses-thé qui se fanent») können als eine Anspielung auf Gautier und insbesondere auf sein Gedicht ‘La rose-thé’246 gelesen werden, dessen Poesie nun ‘verwelkt’ ist und in den Flammen einer Poesie verschwindet, welche trotz eines autonomen Kunstverständnisses lebendig bleibt.247 ‘Cœur couronne et miroir’ Ein weiteres Beispiel für Apollinaires poetische Reflexion über die Verknüpfung von Individuellem und Abstraktem, aber auch von Innerlichkeit und zeitlosWesentlichem ist das Kalligramm ‘Cœur couronne et miroir’.248 Es behandelt die Frage, inwiefern die Individualität des Dichters in der Dichtung eine Rolle spielt und thematisiert das Problem des Verhältnisses von objektiver Realität und künstlerischem Schaffen. Zunächst soll das Augenmerk auf die besondere Form des Gedichtes gelegt werden, welche eine hieroglyphenartige Einheit von Sprache und Bild hervorbringt. Wie der Titel bereits andeutet, besteht das Kalligramm aus drei symbolartigen Elementen, weshalb die Komposition wie ein dreifaches Wappen wirkt.249 Apollinaire verwendet hier die ältere und traditionsbewusste Technik des Figurengedichts.250 Das Gedicht bildet ein Herz, eine Krone und einen Spiegel ab, deren Umrisse durch Worte, die das Dargestellte benennen, geformt sind. Was Réja über die Kunstwerke aus dem von Apollinaire geliebten Trocadéro-Museum

245 Claude Debon: Calligrammes dans tous ses états. Édition critique du recueil de Guillaume Apollinaire. Vanves: Calliopées 2008, S. 363 ff. 246 Vgl.: Théophile Gautier: ‘La rose-thé’. In: ders.: Émaux et Camées. Herausgegeben von Claudine Gothot-Mersch. Paris: Gallimard 1994, S. 109: «La plus délicate des roses/Est, à coup sûr, la rose-thé./Son bouton aux feuilles mi-closes/De carmin à peine est teinté.» 247 Vgl. Dazu das Kapitel II.2.6 ‘Natur’ der vorliegenden Arbeit. 248 Guillaume Apollinaire: ‘Cœur couronne et miroir’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 197. 249 Claude Debon: Calligrammes de Guillaume Apollinaire. Paris: Gallimard 2004, S. 44. 250 Jeremy Adler/Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1987, S. 247.

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Abbildung 1: G. Apollinaire: ‘Cœur couronne et miroir’.

bemerkt – diese «paraissent à nous trop plastiques pour une écriture et pas assez pour un dessin»251 – trifft aufgrund der Hybridität von Wort und Bild neben ‘Cœur couronne et miroir’ auch auf die anderen Kalligramme Apollinaires und auch auf große Teile der futuristischen ‘parole in libertà’ zu. Eine Inspiration der Kalligramme durch die indigene Kunst ist nicht auszuschlie-

251 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 97.

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ßen. So sind beispielsweise Gebrauchsgegenstände der Osterinseln mit ideographischer Schrift verziert.252 Auch aufgrund seiner Symbolhaftigkeit erinnert das Kalligramm an Réjas Beschreibung der indigenen und der kindlichen Kunst, die von den kindlichen Künstlern im Kopf vorhandenen und zu Papier gebrachten Ideen und Konzepte hätten einen Symbolcharakter, welcher im Alter von zehn Jahren von dem Versuch abgelöst würde, eine realistische Kopie der Natur anzufertigen.253 In ‘Cœur couronne et miroir’ ahmt die Anordnung der Worte das nach, was sie beschreiben. Wort und Bild interagieren miteinander. Die Kalligramme teilen mit der Kinderkunst damit auch das tautologische Verfahren, unter die gemalten Objekte deren Namen zu schreiben: D’ailleurs l’importance du dessin comme repère schématique de la connaissance acquise est affirmée par un fait très piquant. C’est l’habitude d’écrire à même la figure, la plupart du temps, le nom de l’objet qu’elle est censée représenter. C’est une tautologie; la même chose exprimée de deux façons différentes, l’une en concret, l’autre en abstrait.254

In ihrer Wechselwirkung zwischen Bild und Text lassen sich Kalligramme als solche konkreten Abstraktionen verstehen, indem sie das Gesagte ‘konkret’ nachzeichnen und anschaulich machen. Interessant ist dabei, dass sie dies auf eine verallgemeinernde und schematische Weise tun, so dass der Text wiederum das Bild konkretisiert. In ‘Cœur couronne et miroir’ formt die Aussage «Mon cœur pareil à une flamme renversée» ein Herz. In typographischer Hinsicht fallen bei diesem Element die größer gesetzten Buchstaben «M» und «C» auf, welche gleichzeitig die Initialen des Titels bilden. Dies könnte darauf hinweisen, dass das Herz symbolisch alle Elemente des Kalligramms vereint. Das Possessivpronomen «mon» verweist auf ein vorhandenes lyrisches Ich, welches sein Herz mit einer umgedrehten Flamme vergleicht. Der ‘lesende Betrachter’ wird durch diesen sprachlichen Vergleich dazu aufgefordert, das abgebildete Herz als eine Flamme zu erkennen, die sich nach unten zuspitzt, anstatt nach oben zu flackern. Das sprachliche Bild schreibt sich in ein konkretes, gegenständliches Bild ein. Die Anordnung des Herzens auf dem Papier verdeutlicht ebenfalls die enge Beziehung zwischen

252 Vgl. Adolphe Basler: Arts océaniens, S. 142. 253 «Peu à peu cependant, vers 10 ans ou plus tard, selon la précocité des enfants et l’assiduité de l’enseignement que l’on leur inculque, la monotonie du symbole est remplacée par la copie réaliste de la nature, l’enfant devient un dessinateur inexpérimenté.» Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 73. 254 Ebda., S. 71.

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Wort, Papier und Dargestelltem, da es sich wie auch beim Menschen auf der linken Seite befindet. Herz und Feuer sind auch symbolisch miteinander verknüpft. Das Herz ähnelt mit seiner schmalen Spitze nicht zufällig der geometrischen Form des Dreiecks, denn das Dreieck bildet den Urtyp der Herzform,255 ist aber auch die Versinnbildlichung des Feuers in der Alchimie.256 Das lyrische Ich verbindet zum Ausdruck seiner Gefühlswelt zwei konventionelle, zum Klischee gewordene Bilder: Das Herz, welches traditionell für die Liebe, aber auch für das pulsierende Leben steht, und die Flamme, die mit Leidenschaft und Energie assoziiert wird. Diese Klischees werden jedoch durch das Wort «renversée» gebrochen,257 welches das verbindende Element zwischen Herz und Flamme darstellt und damit der Gesamterscheinung erst Sinn verleiht. «Renversée» stellt die stereotypische Metaphorik von Liebe, die wie ein leidenschaftliches Feuer brennt, wörtlich ‘auf den Kopf’. «Renversée», in seiner zweiten Bedeutung von ‘spiegelbildlich’, setzt das Herz gleichzeitig in Beziehung zum Spiegel und unterstreicht damit wiederum die Ganzheitlichkeit des Gedichts. Unabhängig davon, ob man das flammende Herz als ein Zeichen von Liebeskummer des lyrischen Ichs sehen möchte oder eher als Ausdruck einer existenziellen inneren Krise, zeigt sich, wie auch bei der zum spielerischen Umgang verleitenden Form des Figurengedichts Introspektion möglich ist. Trotz der symbolischen Aufgeladenheit des Gedichts, die das lyrische Ich zunächst abstrakt erscheinen lässt, handelt es sich um sehr persönliche Aussagen. Damit entspricht Apollinaire der Erwartungshaltung des Lesers, der durch die symbolische Bedeutung des Herzens einen Einblick in die Gefühlswelt des lyrischen Ichs erwartet, ist doch das Herz nicht nur im christlichen Bereich ein Symbol für Introspektion: «Identifié au soleil, il [le cœur] rayonne sur le monde intérieur».258 Wie im Zusammenhang mit dem Feuervogel Phönix als Symbol des Sublimen bereits erwähnt, ist das Feuer auch in anderen Dichtungen ein bevorzugtes Bild Apollinaires. In Vitam impendere amori wird das Motiv der Flamme identisch zu ‘Cœur couronne

255 «Ce triangle inversé, incarnant le cœur universel, s’est progressivement arrondi et légèrement scindé par le haut pour manifester le cœur individuel.» Corinne Morel: Dictionnaire des symboles, mythes et croyances. Paris: Archipel 2004, S. 255, Stichwort ‘cœur’. 256 Vgl. Marianne Oesterreicher-Mollwo (Hg.): Lexikon der Symbole. Freiburg i.Br.: Herder 1990, S. 52, Stichwort ‘Feuer’. 257 Vgl. Anna Whiteside: Verbal icons and self-reference. In: Semiotica 69, 3–4 (1998), S. 315–330, hier S. 323. 258 Corinne Morel: Dictionnaire des symboles, mythes et croyances, S. 253, Stichwort ‘cœur’.

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et miroir’ verwendet: «La flamme est mon cœur renversé».259 Deutet man das Licht bzw. das Feuer als die Kraft der Inspiration und als dichterische Energie, so würde mit ihrer Verbindung zum Herzen deutlich gemacht, dass der Dichter die Poesie aus seinem Innersten, dem Zentrum seiner Empfindungen und seines Lebens, schöpft. Apollinaire stellt sich in ‘Cœur couronne et miroir’ als Dichter dar, der seine Poesie nicht von seinem Erleben trennt.260 Deutet zwar in der die Krone formenden Aussage «Les rois qui meurent tour à tour renaissent au cœur des poètes»261 grammatisch nichts auf die Präsenz des lyrischen Ichs hin, so besteht durch die Wiederaufnahme des Herzmotivs in «cœur des poètes» dennoch eine Verbindung zu dem linken Herzgebilde und somit auch zum lyrischen Ich, das, wie die Analyse des Spiegelmotivs noch ergeben wird, sich mit Guillaume Apollinaire identifiziert und daher auch Dichter ist. Die allgemeine Aussage kann demnach auf das lyrische Ich zurückbezogen werden: «[Cette phrase] hausse le moi et son cœur au niveau universel, c’est-à-dire ‘au cœur des poètes’ en général».262 Zum einen wird das lyrische Ich dadurch zu etwas Universell-Allgemeingültigem, zum anderen konkretisiert sich die Aussage im persönlichen Kontext. Die christliche Metaphorik, die sich durch das Motiv des flammenden Herzens aufgebaut hat, verdichtet sich hier in der Selbstdarstellung: Wie Christus ist der Dichter zugleich individuell, gleichzeitig aber von universeller Tragweite und Bedeutung. Das Thema der Innerlichkeit, angedeutet durch das Motiv des Herzens, ist im Bild des Spiegels, welches den größten Raum einnimmt, besonders evident. Seine symbolische Bedeutung ist eng an den Glauben angelehnt, das Spiegelbild reflektiere die Seele der Person, enthülle diese aber auch, weshalb der Spiegel als Mittel zur Selbsterkenntnis angesehen wird.263 Teil dieser Selbsterkenntnis ist eine Fremdheitserfahrung. Im Spiegelbild erkennt das Subjekt das ‘andere Ich’, also das eigene Ich als fremde Person, aber auch das ‘unwirkliche’ Ich, da die Spiegelbildperson nicht real ist wie das schauende Ich, welches zum Bewusstsein seiner eigenen Exis-

259 Guillaume Apollinaire: Vitam impendere amori [1917]. In: Po, S. 155–162, hier S. 161. 260 Was auch aus dem häufig zitierten Satz aus einem Brief Apollinaires an Henri Martineau vom 19. Juli 1913 hervorgeht: «chacun de mes poèmes est la commémoration d’un événement de ma vie». Guillaume Apollinaire: À Henri Martineau [1913]. In: ders.: Correspondance générale. Band I, S. 535. 261 Vgl. die erste Strophe aus ‘Vendémiaire’: Hommes de l’avenir souvenez-vous de moi/Je vivais à l’époque où finissaient les rois/Tour à tour ils mouraient silencieux et tristes/Et trois fois courageux devenaient trismégistes». ‘Vendémiaire’ [1912]. In: Guillaume Apollinaire: Alcools [1913]. In: Po, S. 149–154, hier S. 149. 262 Margaret Davies: ‘Non comme sont les reflets’. In: Que Vlo-ve? 2, 6–7 (1983), S. 1–12, hier S. 1. 263 Vgl. Corinne Morel: Dictionnaire des symboles, mythes et croyances, S. 604, Stichwort ‘miroir’.

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tenz gelangt. Doch um welche Identität handelt es sich, wenn der Satz des mandelförmigen Spiegels lautet «Dans ce miroir je suis enclos vivant et vrai comme on imagine les anges et non comme sont les reflets»? Im Zentrum des Spiegels steht der Name des Autors, mit dem sich das lyrische Ich identifiziert. Es handelt sich also um ein Autoporträt. Es wird nicht von dem Spiegel reflektiert, es betrachtet nicht sein ‘unwirkliches’ Ich, sondern ist in ihm gefangen: Sein Name «Guillaume Apollinaire» steht nicht spiegelverkehrt im Spiegel, wie für Spiegelbilder üblich, sondern ist – als Einziges in Groß- und Kleinschreibung verfasst – deutlich lesbar: «vrai». Wurde dem Leser vorher nur ein Teil des lyrischen Ichs offenbart, sein Herz, so erfasst der Spiegel es in seiner Gesamtheit. Nicht umsonst hat Apollinaire die Form des Spiegels in den späteren Fassungen des Gedichts verändert: In den frühen Versionen ist der Spiegel noch oval und ähnelt einem Gesicht,264 bis er schließlich die Form der Mandorla annimmt, welche in der religiösen Kunst traditionell die Gesamtfigur umrahmt.265 In seiner deiktischen Eigenschaft verweist «ce miroir» wiederum auf das ideogrammatische Gebilde. Es handelt sich offensichtlich nicht um ein einfaches Selbstporträt, sondern um die Darstellung einer dichterischen Identität, wie Peter Read deutlich macht: Ce qui se voit dans le miroir n’est pas le reflet du poète, n’est pas non plus un portrait figuratif, mais un nom, une signature. Voici un miroir qui ne capte pas l’apparence éphémère d’un visage humain: il cristallise et communique une identité littéraire, inaltérable.266

Damit deutet Read den Spiegel als Symbol für das dichterische Werk, welches das vollständigste Porträt des Autors bietet, da es die Möglichkeit gewährt, über die rein biographische Existenz hinauszugehen. Das künstlerische Werk kann sowohl das in der Realität als auch das in der Phantasie Erlebte, das Äußere wie das Innere, die Oberfläche wie die Tiefe ausdrücken: «À l’apparence de surface répond la vérité profonde de la création».267 Es ist in diesen Eigenschaften der symbolischen Bedeutung des Spiegels sehr ähnlich.268 Der Spiegel ist nicht nur ein Sinnbild der Selbsterkenntnis, sondern auch der Wahrheit. Diese Funktion des Spiegels wird durch seine mandelartige Form unterstrichen, da die Mandel 264 Claude Debon: Calligrammes dans tous ses états. Édition critique du recueil de Guillaume Apollinaire, S. 100. 265 Vgl. Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart: Kröner 1991, S. 456, Stichwort ‘Mandorla’. 266 Peter Read: Un ange dans le miroir: Reflets et vérité dans l’esthétique d’Apollinaire. In: Que Vlo-Ve? 3, 23 (1996), S. 70–74, hier S. 71. 267 Ebda., S. 72. 268 Ohne auf weitere mögliche Aspekte einer psychoanalytischen Deutung einzugehen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Spiegels außerdem der Form einer Vagina gleicht, was den Aspekt der Fruchtbarkeit und Kreation der künstlerischen Arbeit umso deutlicher hervorhebt.

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als Symbol dafür gilt, die äußerliche Erscheinung zu durchdringen, um an die Essenz zu gelangen:269 «Mandel, als süße Frucht in einer harten Schale Symbol des Wesentlichen, Geistigen, das hinter Äußerlichkeiten verborgen ist.»270 Dementsprechend stellt sich hier die Dichtung nicht einfach als ein Spiegelbild der Welt dar, sondern als ein Mittel des Dichters, aus sich selbst heraus einen Zugang zur Wahrheit und zum Wesen der Dinge zu finden. ‘Cœur couronne et miroir’ zeigt das innige Verhältnis auf, das zwischen Apollinaires poetologischem, nicht-mimetischem Selbstverständnis und seinem Selbstverständnis als gleichermaßen historischer Mensch und Dichter besteht. Bedenkt man den schöpferisch-künstlerischen Aspekt des Spiegels, der symbolisch die göttliche Intelligenz ‘widerspiegelt’,271 oder aber die Mandel als Symbol der Fruchtbarkeit,272 so lässt sich der Spiegel als Ausdruck für Apollinaires Poetik deuten. Der Dichter schöpft seine Kreativität aus seinem Inneren heraus, verewigt sich somit in seinem Werk («enclos»), ohne jedoch eine Kopie der Welt oder der eigenen Person zu erschaffen («non comme sont les reflets»). Apollinaire möchte die Welt in seiner Dichtung nicht nachahmen, sondern künstlerisch erschaffen. Würde er in seiner Poesie mimetisch arbeiten, dann wäre sein Werk nur ein «reflet», ein lebloses Abbild.273 Bereits Victor Hugo nutzt das Bild des Spiegels, sogar in Verbindung mit der Licht- bzw. Feuermetapher, in seiner Poetik, wenn er in der ‘Préface’ von Cromwell schreibt, dass das Kunstwerk «un miroir de concentration» sein sollte, «qui, loin de les affaiblir, ramasse et condense les rayons colorants, qui fasse d’une lueur une lumière, d’une lumière une flamme».274 Noch mehr als Hugo versteht Apollinaire die Realität als eine durch die Kunst herbeigeführte Größe.275 Die amimetische Haltung Apollinaires wendet sich gegen die traditionelle Dichtung. Davies sieht daher den Spiegel als Versuch, die ‘Spiegelungen’ und ‘Echos’ der alten Dichtung zu umgehen.276 In dieser Hinsicht ist es notwendig, nicht nur die positive Energie der «flamme», sondern auch ihre

269 Vgl. Corinne Morel: Dictionnaire des symboles, mythes et croyances, S. 47, Stichwort ‘amande’. 270 Marianne Oesterreicher-Mollwo (Hg.): Lexikon der Symbole, S. 107, Stichwort ‘Mandel’. 271 Vgl. ebda., S. 158, Stichwort ‘Spiegel’. 272 Ebda., S. 107, Stichwort ‘Mandel’. 273 Vgl. Peter Read: Un ange dans le miroir: Reflets et vérité dans l’esthétique d’Apollinaire, S. 71. 274 Victor Hugo: Théatre complet. Band I. Herausgegeben von J.-J. Thierry und Josette Mélèze. Paris: Gallimard 1963 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 436. 275 «C’est là un des fondements de son esthétique: l’art comme illusion est la seule réalité», Claude Debon: Calligrammes dans tous ses états. Édition critique du recueil de Guillaume Apollinaire, S. 103. 276 Vgl. Margaret Davies: ‘Non comme sont les reflets’, S. 5.

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zerstörerische Gewalt zu bedenken. Altes wird verbrannt, um Neues entstehen zu lassen: «seine [des Feuers] Zerstörungskraft wird oft als Mittel zur Neugeburt auf einer höheren Stufe gedeutet».277 Dem Feuer kommt eine erneuernde und reinigende Komponente zu, welche sich in die Konzeption einer poésie pure fügt, die Apollinaire auch in ‘Zone’ mit dem Bild des Feuervogels Phönix ausdrückt.278 Gelingt diese Auferstehung aus der Asche und gelingt es, der eigenen Zeit eine Stimme zu geben, so steht dem Dichter die Krone der Unsterblichkeit zu.279 Phönix, der sich wiederkehrend selbst verbrennt und aus seiner Asche neu aufersteht und Christus, der in seiner Auferstehung den Tod überwindet,280 verweisen auf den Triumph über den Tod. Wenn das lyrische Ich seinen Namen in den Spiegel einschreibt und sich darstellt, als sei es ewig in ihm gefangen («enclos»), so stellt es sich selbst als Poet dar, der davon ausgeht, sich durch sein Werk unsterblich zu machen und in ihm weiterzuleben («vivant»): «le poète […] s’inscrit textuellement dans le miroir de son poème, enclos à jamais dans sa forme presque parfaite».281 Wenn Apollinaire dem Gedicht durch das Herzmotiv und die Nennung seines Namens einen persönlich-intimen Charakter verleiht, handelt es sich nicht um eine Selbstdarstellung des Menschen Apollinaire, sondern vor allem um die Darstellung Apollinaires als Dichter. Auf diese Weise wird das Individuelle in der Kunst zur Allgemeinheit erhoben und somit unveränderlich. Dieser Aspekt des Sublimen tritt zudem in der Stilisierung des Dichters zum gottgleicher Schöpfer zutage, was die traditionell Christus zugeordneten Symbole wie Herz, Krone und die Positionierung des Selbstporträts in einer Mandorla verdeutlichen.282 Wie sich gezeigt hat, wird Abstraktion in Apollinaires ‘Cœur couronne et miroir’ auf verschiedene Weisen reflektiert: Apollinaire stellt sich als Einzelperson in das Zentrum des Spiegels, dafür steht sein individueller Name «Guillaume Apollinaire», doch ist er auch Dichter. In seiner Dichtung wird er universell, er gehört zur ‘Dichtung an sich’, sein Herz («mon cœur») ist das Herz («au cœur» steht im Singular!) «des poètes». Es ist individuell und privat, aber auch universell, indem es das Herz der Dichter ist. Sein Werk, das Gedicht, ist einerseits Spie277 Vgl. Marianne Oesterreicher-Mollwo (Hg.): Lexikon der Symbole, S. 51, Stichwort ‘Feuer’. 278 «Le phénix ce bûcher qui soi-même s’engendre», Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 41. 279 Marianne Oesterreicher-Mollwo (Hg.): Lexikon der Symbole, S. 95, Stichwort ‘Krone’. 280 Vgl. ebda., S. 126, Stichwort ‘Phönix’. 281 Margaret Davies: ‘Non comme sont les reflets’, S. 1. 282 «La représentation du miroir en forme de mandorle évoque le Christ en majesté, lui aussi porteur des deux symboles que sont le cœur et la couronne.» Claude Debon: Calligrammes de Guillaume Apollinaire, S. 45. Die Mandorla ist nur den göttlichen bzw. heiligen Figuren vorbehalten: «[Elle] délimite l’espace sacré et le sépare de l’espace profane. Elle forme ainsi une bulle protectrice, qui évite la contamination du pur par l’impur.» Corinne Morel: Dictionnaire des symboles, mythes et croyances, S. 574, Stichwort ‘mandorle’.

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gel seiner selbst – denn es entspringt seiner lebendigen Innerlichkeit, aber es erhebt sich auch zu einer universalen Wahrheit («vrai»),283 die sich nicht ändern wird («enclos»). Die Dichtung erscheint in ‘Cœur couronne et miroir’ als ein Mittel, das Individuelle und Lebendige mit dem Sublimen zu verbinden.284 Weil das Universell-Abstrakte mit dem Konkret-Individuellen vereint ist, handelt es sich wie bei ‘La jolie rousse’ nicht um eine ‘tote’ Abstraktion, sondern sie bleibt ‘lebendig’ («vivant»). Die Formen im Gedicht sind selbst Abstraktionen von konkreten Entitäten und ergeben erst Sinn, wenn sie im Zusammenhang mit den Aussagen gesehen werden. Erst der Text lässt die Form zu einem mit Leben erfüllten Gegenstand werden: Der Leser sieht nicht nur eine Mandelform, sondern einen Spiegel, nicht nur ein herzähnliches Gebilde, sondern Apollinaires Herz, das er mit einer Flamme vergleicht. Die ‘primitive’ Kunst zeigt der Malerei und Skulptur Alternativen zur naturalistischen Darstellung auf, die sowohl in Einklang mit abstrakten Ideen stehen als auch Ausdruck einer individuellen Sicht sind.285 Derselbe Abstraktionsbegriff liegt auch ‘Cœur couronne et miroir’ zugrunde. In der Dichtung wird der ‘inneren’ Realität und der Beziehung des Subjekts zu den Gegenständen der Außenwelt eine große Bedeutung beigemessen. Mit dem Rekurs auf die persönliche, durch ein inneres Wissen geleitete Wahrnehmung macht sich der Dichter von den Ansprüchen einer imitierenden Darstellung frei und verewigt sich damit selbst als Schöpfer.286 Ähnlich verhält es sich mit Reverdy. Bei ihm wird der Abstraktionsmoment mit dem Schaffensmoment noch deutlicher ineins gesetzt. Sich der Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks zu bedienen, bedeutet für ihn bereits, die Sprache nicht mehr in ihrer Repräsentationsfunktion zu verwenden. In seiner Dichtung zeigt sich deutlich, dass das Individuelle als Dichtung universell ist, weil es immer in der Funktion eines ästhetischen Ausdrucks steht. Stimmung in Reverdys Dichtung ist somit nie nur Ausdruck einer individuellen Gefühlslage, sondern als ästhetische Stimmung zu verstehen.

283 «Vrai» und «vivant» sind zwei Schlüsselbegriffe Apollinaires Ästhetik, wie Read betont, denn «la véracité lyrique est génératrice d’un art qui sera ‘non plus le simulacre de la vie mais sa représentation même.’» Peter Read: Un ange dans le miroir: Reflets et vérité dans l’esthétique d’Apollinaire, S. 72. 284 Vgl. «Apollinaire propose l’œuvre d’art, miroir vivant et vrai qui révèle à l’homme la part innée de divinité créatrice qui l’apparente aux anges.» Ebda., S. 73. 285 «Visibly, Primitive art offered an alternative to the naturalistic representation of the world and suggested new and imaginative ways of conceiving and organizing forms in accordance with abstract ideas.» Jack Flam: ‘Introduction’, S. 4. 286 Zu diesem Thema siehe Kapitel IV.1.2 ‘Schöpferische Bewältigung: Divinisierung’ der vorliegenden Arbeit.

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2.4.3 Abstrakte Stimmung bei Reverdy Die poetologische Reflexion in ‘Cœur couronne et miroir’ hat gezeigt, wie Innerlichkeit und Subjektivität in der Dichtung einen objektiven Status erlangen. Konkretes wird so zu Abstraktem, das Abstrakte bleibt jedoch immer im Konkreten verankert. Dasselbe ließe sich über Reverdys Lyrik sagen, die einen hohen Abstraktionsgrad aufweist, während Apollinaire über ihn schreibt: «Son art est intérieur.»287 Reverdys Lyrik bestimmen vor allem Evokationen von Licht und Schatten und nicht identifizierbare Stimmen des Stadtlebens – Realitäten, die jedoch nicht greifbar sind. «Voix mêlées» ist ein Beispiel für ein solches Gedicht: «Avec des lumières à travers la prairie étincelante; et des voix insignifiantes mais nombreuses – quelques unités soutenant l’ensemble – on a fait le paysage clair, la nature libre, les ombres fraîches, le pittoresque qui attire la foule hors des murs.»288 Das Ungreifbare zeigt sich auch in der Anonymität: So heißt es unbestimmt «une femme» oder «un homme est tombé», «quelqu’un» (aus ‘O’),289 oder «on entend» (‘P.O. Midi’).290 Aber wie Guaraldo feststellt – und hier wird wieder die Nähe zu Apollinaires ästhetischem Verständnis deutlich, das er in ‘Cœur couronne et miroir’ entwickelt – handelt es sich dabei nicht um tote Abstraktionen: Mais c’est une abstraction plongée dans l’existence, c’est une abstraction qui vit. Et dans la mesure où elle appartient à l’existence, elle déborde du phénomène auquel elle se réfère, et parce que l’existence bouscule le phénomène, l’imprègne mais de quelque façon le dépasse: flux d’énergie, flux créateur qui ne reste pas dans les limites du fragment à quoi il a donné vie.291

Reverdy möchte seine Texte insofern als abstrakt verstanden wissen, als sie mit der Repräsentationsfunktion der Sprache brechen. Die Worte erhalten erst «au moment où les mots se dégagent de leur signification littérale»292 einen poetischen Wert. Das stellt den Leser vor die Schwierigkeit, die Gedichte zu interpretieren, ohne nach einem inhaltlichen, ‘narrativen Sinn’ zu suchen, wie wir es traditionell gewohnt sind, denn, so Gumbrecht: «Genau weil wir solche Schwierigkeiten haben, Worte so stehen zu lassen, ‘wie sie sind’, kommen wir dazu,

287 Guillaume Apollinaire: Chronique des livres [1918]. In: PrII, S. 1409 ff., hier S. 1409. 288 Pierre Reverdy: ‘Voix mêlées’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 90. 289 Pierre Reverdy: ‘O’. In: ders.: Quelques poèmes [1916]. In: ROCI, S. 69 f. 290 Pierre Reverdy: ‘P.O. Midi’. In: ders.: Quelques poèmes [1916]. In: ROCI, S. 65. 291 Enrico Guaraldo: Topoi, essences, expérience vécue. In: Michel Collot/Jean-Claude Mathieu (Hg.): Reverdy aujourd’hui. Actes du colloque des 22, 23, 24 juin 1989. Paris: Presses de l’École normale supérieure 1991, S. 41–52, hier S. 47. 292 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 521.

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Texten auch dann Repräsentationsfunktionen zuzuschreiben, wenn sie […] diese Funktion niemals beansprucht haben.»293 Reverdys Sprache verweist zumindest noch auf ihre repräsentative Funktion, anders als dies in den spielerischen Gedichten des Dadaismus oder der futuristischen ‘parole libere’ noch der Fall ist, in denen die Konzentration stärker auf der Materialität der Sprache liegt. Auch in der Ablehnung einer vom Inhalt entleerten Sprache steht er Apollinaire sehr nahe. Reverdys Abstraktionsbegriff stützt sich hauptsächlich auf die Ablehnung des Narrativen. Nach seiner Auffassung dürfe der Dichter nicht von einem «fait» ausgehen, sondern «de l’idée que l’on a de la possession de ses moyens.»294 Dementsprechend definiert Reverdy Ästhetik als «l’ensemble des moyens dont un auteur dispose pour créer.»295 Analog dazu ist ihm zufolge das Ziel der kubistischen Kunst nicht mehr, Objekte darzustellen, sondern «sujets», worunter er das Kunstwerk selbst begreift: «Celui-ci est le résultat de l’emploi des moyens de création que l’on s’est acquis: c’est le tableau luimême.»296 Auf diese Weise bilde das Kunstwerk eine untrennbare Einheit von Sujet und Form, welche auch Apollinaires ‘Cœur couronne et miroir’ auszeichnet: «On part d’un champ général où l’on puise les matériaux pour l’œuvre qui une fois terminée constitue le sujet et forme un tout qui ne doit rien qu’à l’art et forme son couronnement.»297 Für Reverdy ist die Inspiration noch deutlicher als bei Apollinaire in einer rein dichterischen Innerlichkeit verankert. Der Dichter dürfe nicht von einem konkreten Erlebnis ausgehen und solle auch keines hervorrufen, es gehe um die rein ästhetische Emotion: «Si l’œuvre produit alors une émotion, c’est une émotion purement artistique et non pas du même ordre que celle qui nous agite si un accident violent survient dans la rue sous nos yeux.»298 Genau dieser Umstand, dass kein ‘Ereignis’ mehr erzählt wird, zeigt, auf welche Weise in seiner Dichtung das ästhetische Konzept der Abstraktion umgesetzt wird. Abstraktion ist eine Neuschöpfung auf der Basis der Natur. Dies wird besonders deutlich in den von Ungreifbarem dominierten Gedichten Reverdys, wie z. B. ‘La réalité immobile’ und ‘Le sang troublé’, in denen Situationen evoziert werden, ohne dass ihre Genese erklärt wird: Maintenant quelle voix m’appelle Quelle douce voix appelle derrière le mur de droite En riant

293 294 295 296 297 298

Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Berlin: Suhrkamp 2016. Pierre Reverdy: Essai d’esthétique littéraire [1917]. In: ROCI, S. 474–478, hier S. 477. Pierre Reverdy: Note [1918]. In: ROCI, S. 506. Pierre Reverdy: Sur le cubisme. In: ROCI, S. 460. Pierre Reverdy: Essai d’esthétique littéraire. In: ROCI, S. 477. Ebda.

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Les hommes sont là Endormis Et ce n’est pas la même bouche qui chante299 On entend venir quelqu’un qui ne se montre pas On entend parler On entend rire et on entend pleurer Une ombre passe Les mots qu’on dit derrière le volet sont une menace300

Ebensowenig wie ‘Cœur couronne et miroir’ als direktes Abbild einer emotionalen Verfassung gelesen werden kann, sondern die Innerlichkeit in der Dichtung gleichermaßen eingeschlossen wie auch aufgehoben ist, zeichnet sich Reverdys Lyrik durch die Abstraktheit der beschriebenen Situationen aus. Abstraktion bedeutet in Reverdys Lyrik die Schöpfung eines ästhetischen Zustandes, einer Stimmung. In Apollinaires und Reverdys Gedichten zeigt sich deutlich, wie die Lyrik der frühen Avantgarde mit der Überlagerung von Konkretion und Abstraktion, von individuellen Bedeutungen und universalen Ideen der dem mythischen Denken eigentümlichen Logik folgt, in der Konkretes die Funktion von Abstraktem einnimmt.

2.5 Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden Die Denkweise, nach der Konkretes die Funktion von Abstraktem einnimmt, ist ein Beispiel für das dem mythischen Denken eigentümliche ‘unhierarchische Hierarchisierungssystem’, welches sich mit der Sentenz ‘Alles kann aus allem werden’ charakterisieren lässt. Mit diesem Phänomen hängt das Zeitverständnis des mythischen Denkens zusammen, in dem die Zeit nicht als Sukzession konzipiert ist.301 In der Literatur tritt diese Konzeption unter anderem in der Darstellung von Simultaneität in Erscheinung.302 Weil sie nicht in Begriffe des «Früher» und «Später» aufgeteilt wird, bleibt die dynamische Ganzheit des Werdens durch die magische Identität des «Grundes» intakt.303 Das bedeutet, in der mythischen Denkweise muss die Verbindung zwischen zwei Dingen nicht ‘tatsächlich’ genea-

299 Pierre Reverdy: ‘La réalité immobile’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 86. 300 Pierre Reverdy: ‘Le sang troublé’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 85. 301 Ausführlicher zum Zeitverständnis im mythischen Denken siehe Kapitel III.3.3 ‘Der mythische Zeitbegriff und seine Figuration in der Lyrik’ der vorliegenden Arbeit. 302 Vgl. Kapitel III.3.3.4 ‘Simultaneität’ der vorliegenden Arbeit. 303 Vgl. MD, S. 66.

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logisch-sukzessiv gestiftet sein, damit ein Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen beiden besteht. Es genügt, dass sich zwei Phänomene örtlich oder zeitlich berühren, um einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen: «Man hat es geradezu als Prinzip der mythischen Kausalität […] bezeichnet, daß hier jede Berührung in Raum und Zeit unmittelbar als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung genommen wird.»304 Cassirer illustriert diesen Sachverhalt wieder mit dem Beispiel von Schwalbe und Sommer.305 Somit ist auch der Anfang auf eine gewisse Weise beliebig, denn es «stehen dem mythischen Denken auch dort, wo es die Ursprungsfrage als solche stellt, die ‘Ursachen’ selbst noch in völlig freier Auswahl zu Gebote. Hier kann noch alles aus allem werden, weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann.»306 Apollinaires ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’ wird von einer derartigen Logik strukturiert. Ausgangspunkt des Gedichts ist der Anblick der Trikolore in den Straßen von Paris. Apollinaire sieht die Ursache für das mit Fahnen geschmückte Paris nicht in großen Themen wie Demokratie, Ehre und Freiheit, sondern in einem ganz persönlichen Ereignis, der Hochzeit André Salmons. Damit entsteht eine private Kausalität, die es im wissenschaftlichen Denken nicht gibt: En voyant des drapeaux ce matin je ne me suis pas dit Voilà les riches vêtements des pauvres Ni la pudeur démocratique veut me voiler sa douleur Ni la liberté en honneur fait qu’on imite maintenant Les feuilles ô liberté végétale ô seule liberté terrestre Ni les maisons flambent parce qu’on partira pour ne plus revenir Ni ces mains agitées travailleront demain pour nous tous Ni même on a pendu ceux qui ne savaient pas profiter de la vie Ni même on renouvelle le monde en reprenant la Bastille Je sais que seuls le renouvellent ceux qui sont fondés en poésie On a pavoisé Paris parce que mon ami André Salmon s’y marie307

Dass die moderne Lyrik eigene Hierarchisierungsmuster verfolgt, zeigt sich außerdem in der Vorstellung davon, was die Ursache, der Ausgangspunkt für ein Gedicht sein kann. Wenn Einzeldinge nicht unter allgemeinen Begriffen stehen, bedeutet dies, dass sie in ihrer Wertigkeit ebenbürtig sind. Für Apollinaire ist

304 Ebda., S. 56. 305 Ebda. 306 Ebda., S. 58. 307 Guillaume Apollinaire: ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’ [1911]. In: Alcools [1913]. In:Po, S. 83 f., hier Po, S. 83.

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jedes kleine Detail für die Dichtung genauso wichtig wie die großen Begriffe. Dies macht er in L’esprit nouveau et les poètes deutlich: C’est pourquoi le poète d’aujourd’hui ne méprise aucun mouvement de la nature, et son esprit poursuit la découverte aussi bien dans les synthèses les plus vastes et les plus insaisissables: foules, nébuleuses, océans, nations, que dans les faits en apparence les plus simples: une main qui fouille une poche, une allumette qui s’allume par le frottement, des cris d’animaux, l’odeur des jardins après la pluie, une flamme qui naît dans un foyer.308

Für die Dichter wird die Aufmerksamkeit Details gegenüber zum wesentlichen Element ihrer Poetik. Die große Bedeutung, die Details zugemessen wird, erkennt Réja auch in der ‘primitiven’, kindlichen Kunst: «il [l’enfant] s’accroche toujours à un détail, susceptible d’accaparer pour lui l’importance.»309 Auf gleiche Weise bedarf es weder in Reverdys Stimmungs-Gedichten noch in Apollinaires Lyrik eines objektiv großen Ereignisses oder per se besonderen Augenblickes als schöpferischer Ausgangspunkt. Jede kleine oder große Begegnung kann unterschiedslos eine poetische Bedeutung haben. Es gibt nichts ‘an sich Lyrisches’, es sind nicht nur die großen Ideen politischer oder metaphysischer Art, die Anlass zur Dichtung werden können: Le moindre fait est pour le poète le postulat, le point de départ d’une immensité inconnue où flambent les feux de joie des significations multiples. Il n’est pas besoin pour partir à la découverte de choisir à grand renfort de règles, même édictées par le goût, un fait classé comme sublime. On peut partir d’un fait quotidien: un mouchoir qui tombe peut être pour le poète le levier avec lequel il soulèvera tout un univers.310

Apollinaire setzt diesen Gedanken merklich in ‘Cortège’ um. Hier stilisiert er sich als Dichter311, der über mehr Sinne verfügt als ein gewöhnlicher Mensch und aufgrund seiner geschärften Sinne über jede noch so kleine Sinneswahrnehmung zu einer tieferen Kenntnis der Welt gelangt. Die Wiederholung von «Il

308 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951. 309 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 79. 310 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951. 311 Dies lässt sich daraus schließen, dass das lyrische Ich sich genau wie seine Berufskollegen («mes confrères») der Feder bedient («la plume»). Die Erwähnung des Geschmacks von Lorbeer ist eine weitere symbolische Anspielung auf die Dichterrolle. Doch legt das Bild des Vogels, der in der literarischen Tradition, beispielsweise in Baudelaires ‘Albatros’ aus den Fleurs du Mal metaphorisch auf den Dichter verweist, bereits in der ersten Strophe implizit nahe, dass es sich bei dem lyrischen Ich um einen Dichter handelt. Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Herausgegeben von Y.-G. Le Dantec und Claude Pichois. Paris: Gallimard 1961 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 9 f.

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me suffit» betont seine außergewöhnliche Fähigkeit, aus jedem unscheinbar und unwichtig erscheinenden Detail praktisch alles ableiten zu können: Moi qui connais les autres Je les connais par les cinq sens et quelques autres Il me suffit de voir leur pieds pour pouvoir refaire ces gens à milliers De voir leurs pieds paniques un seul de leurs cheveux De voir leur langue quand il me plaît de faire le médecin Ou leurs enfants quand il me plaît de faire le prophète Les vaisseaux des armateurs la plume de mes confrères La monnaie des aveugles les mains des muets Ou bien encore à cause du vocabulaire et non de l’écriture Une lettre écrite par ceux qui ont plus de vingt ans Il me suffit de sentir l’odeur de leurs églises L’odeur des fleuves dans leurs villes Le parfum des fleurs dans les jardins publics O Corneille Agrippa l’odeur d’un petit chien m’eût suffi Pour décrire exactement tes concitoyens de Cologne Leurs rois-mages et la ribambelle ursuline Qui t’inspirait l’erreur touchant toutes les femmes Il me suffit de goûter la saveur de laurier qu’on cultive pour que j’aime ou que je bafoue Et de toucher les vêtements Pour ne pas douter si l’on est frileux ou non O gens que je connais Il me suffit d’entendre le bruit de leurs pas Pour pouvoir indiquer à jamais la direction qu’ils ont prise312

In diesem Gedanken steht Apollinaire den Symbolisten und Fin de Siècle-Autoren sehr nahe. Nicht umsonst erinnert die Passage «un petit chien m’eût suffi» an den ‘Chandos-Brief’ von Hofmannsthal: In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.313

Die in Baudelaires Schlüsselgedicht ‘Correspondances’ thematisierte Fähigkeit des Dichters, die Welt zu dechiffrieren, ist bei Apollinaire aber anders als bei den Symbolisten nicht mehr mit einer Sprachkrise verbunden. Stattdessen steht

312 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’ [1912]. In: ders.: Alcools [1913]. In:Po, S. 74–76, hier S. 74 f. 313 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XXXI. Herausgegeben von Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 45–55, hier S. 52.

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der Aspekt einer magischen Weltsicht im Vordergrund, wie die Anrufung Agrippas («O Corneille Agrippa») und die ironische Anspielung auf dessen Traktat De nobilitate et praecellentia femini sexus im Vers 38 f. («ribambelle ursuline/Qui t’inspirait l’erreur touchant toutes les femmes») nahelegt.314 Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Apollinaire mit Agrippa auseinandergesetzt hat315 und damit auch sein Werk De occulta philosophia, in dem er über die magische Wissenschaft schreibt, kannte. Agrippa bedient sich in De occulta philosophia einer Mischung aus einem neuplatonisch-heidnischen und christlichen Gottesbegriff. Ähnlich wie Spinoza spricht er von einem Gott, in dem alle Dinge enthalten sind. Umgekehrt ist auch Gott in allen Dingen der Welt enthalten. Agrippa vertritt somit einen Panpsychismus, wie im Kapitel 56 des zweiten Buches in De occulta philosophia deutlich wird.316 Der Gedanke, alles sei in allem enthalten, steht dem mythischen Denken, in dem sich Einzeldinge nicht aus einem übergeordneten allgemeinen Begriff ableiten, sehr nahe. Auf diese Weise kann ein Detail für das Ganze stehen, ebenso wie das Individuelle für das Abstrakte. Cassirer nennt beispielhaft verschiedene Schöpfungsmythen, in denen die Erde, die Meere, die Tiere und Pflanzen aus den Körperteilen von mythischen Wesen entstanden sind.317 Wie in den von Cassirer aufgeführten indigenen Kosmologien, so ist auch bei Agrippa die Materie beseelt. Agrippa ordnet auf ähnliche Weise wie das mythische Denken Glieder und Organe einzelnen Gestirnen zu.318 Die «yeux des astres»319 und die Fragmentierung des lyrischen Ichs verweisen auf eine Entsprechung zwischen Kosmos und Mensch, die auch einen Grundzug des mythischen Denkens bildet.320 Apollinaires poetologische und metapoetische Reflexionen über den Anlass der Dichtung verweisen auf das Anliegen der ‘poésie pure’, zum Ursprung der Poesie vorzudringen. Cendrars’ Reflexion deutet darauf hin, dass dieser Ursprung, trotz der mythischen, wilden Qualität der neuen Dichtung nicht in einer fernen,

314 Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 81: In dem Traktat wird «offenbar die Legende der Heiligen Ursula und ihrer Jungfrauen als Bestätigung der moralischen Überlegenheit der Frau angeführt». Vgl. auch Michel Décaudin: Le dossier d’Alcools. Genève: Librairie Droz 1996, S. 128. 315 Vgl. Michel Décaudin: Alcools de Guillaume Apollinaire. Paris: Gallimard 1993, S. 116. 316 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De occulta philosophia. Libri tres [1510/1531/ 1533]. Leiden: Brill 1992. 317 Vgl. MD, S. 67. 318 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De occulta philosophia. Libri tres, S. 128 f. 319 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. 320 Vgl. Kapitel III.3.2.2 ‘Mikro- und Makrokosmos: Megalomanie und Nichtigkeit’ der vorliegenden Arbeit.

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vergangenen mythischen Zeit zu finden ist, sondern im Leben selbst: «Toute vie n’est qu’un poème, un mouvement. Je ne suis qu’un mot, un verbe, une profondeur, dans le sens le plus sauvage, le plus mystique, le plus vivant.»321 Indem alles Ursache zum Dichten sein kann, hat der gegenwärtige Alltag das ‘magische’ Potenzial, ein dichterischer Schöpfungsmythos zu werden. Damit zeigt sich, dass die Dichtungskonzeption der Avantgarde trotz Abstraktions- und Autonomiebestrebung in der Lebenswirklichkeit verhaftet bleibt und es vor allem darauf ankommt, wie diese Realität wahrgenommen und wie mit ihr dichterisch umgegangen wird. Dieser Aspekt soll im folgenden Kapitel näher beleuchtet werden.

2.6 Natur In Anbetracht ihres amimetischen Kunst- und Literaturideals stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Natur im ästhetischen Selbstverständnis Apollinaires und seiner Dichterkollegen hat und ob sie nicht eine vollkommen abstrakte Kunst bevorzugen müssten. Genau diesen Schluss ziehen Apollinaire, Reverdy, Cendrars und Soffici jedoch nicht. Anders als sein Interesse für die moderne und für die indigene Kunst vermuten lässt, in denen das ‘dessin’ wichtiger ist als die naturalistische Repräsentation, räumt Apollinaire der Natur einen zentralen Platz in seiner Ästhetik ein. Mit Natur ist im weitesten Sinne ‘Leben’ gemeint: Apollinaires Ideal ist «une littérature, une beauté toute nouvelle et parfaitement conforme à la vie».322 Für Cendrars ist die Literatur im Leben verankert: «La littérature fait partie de la vie. Ce n’est pas quelque chose ‘à part’.»323 Dies verdeutlicht sein Gedicht ‘Contrastes’, in dem es heißt: «Les fenêtres de ma poésie sont grand’ouvertes sur les boulevards et dans ses vitrines».324 Wie sich zeigt, liegt Klaus Kiefers These, der Primitivismus sei «eine Fortsetzung des Ästhetizismus mit anderen (radikaleren) Mitteln»325 aufgrund seiner Abwendung von einem mimetischen Realismus und der Forderung nach einer Autonomie der Kunst zwar nahe, sie ist jedoch irreführend. Die Ästhetik Apol-

321 Blaise Cendrars: La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France [1913]. In: AH, S. 195. 322 Guillaume Apollinaire: Les poètes aujourd’hui. In: PrII, S. 914 f. 323 Blaise Cendrars: La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France. In: AH, S. 195. 324 Blaise Cendrars: ‘Contrastes’ [1914]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 70. 325 Vgl. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 181.

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linaires, Reverdys und Cendrars’ ist nicht dem Ästhetizismus zuzuordnen, da sie durch ihre Verankerung in der Natur, in ihrer Beziehung zur Lebenswelt auch immer eine der Gesellschaft zugewandte Dimension hat. Diese Dimension bewundert Apollinaire in der afrikanischen Skulptur. In ihrer Natürlichkeit und Einfachheit unterscheide sich die moderne Poesie vom Symbolismus und der Romantik: Ne croyez pas toutefois que cet esprit nouveau soit compliqué, languissant, factice et glacé. Suivant l’ordre même de la nature, le poète s’est débarrassé de tout propos ampoulé. Il n’y a plus de wagnérisme en nous et les jeunes auteurs ont rejeté loin d’eux toute la défroque enchantée du romantisme colossal de l’Allemagne et de Wagner, autant que les oripeaux agrestes de celui que nous avait valu Jean-Jacques Rousseau.326

Selbst für Reverdy, der die Autonomie der Kunst am stärksten betont, ist der Bezug zum Leben Grundlage der ‘poésie pure’: L’Art pour l’Art ne consisterait-il point au contraire, en puisant dans la vie les éléments nécessaires et dans notre expérience artistique les moyens, à créer l’œuvre d’art qui se dégagerait de toute autre chose et existerait par elle-même et pour ceux que l’Art intéresse assez pour n’avoir besoin d’y rien mêler?327

Auch Soffici macht deutlich, die neue Kunst dürfe nicht als ein zweiter Ästhetizismus verstanden werden, da sie sich durch ihre Rückbindung an die Realität von der dekorativen, ornamentalen Kunstform unterscheidet.328 Ebensowenig sind die afrikanischen Statuetten rein dekorativ, da sie im sozialen Leben fest verankert sind: Elles s’associent à la vie des peuplades bien plus que les statues des temples grecs n’étaient associées à la vie des nations hellènes, où elles jouaient avant tout un rôle décoratif. Les fétiches font partie de la vie sociale des nègres, au même titre que le cheval de Troie fait partie de la destinée de la ville où il entre.329

Apollinaire wendet sich dementsprechend in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ gegen eine Poesie «de l’esthétisme, des formules et de tout snobisme».330 Deutlich ist er auch im Interview mit Pérez-Jorba: «Nous autres, nous avons réagi précisément contre le naturalisme et contre le symbolisme, parce qu’il s’agissait de deux écoles qui se consacraient de préférence à la représentation de natures mortes.»331 Demgegenüber steht seine Ästhetik des Lebens: «L’art doit avoir pour fondement la sincérité de l’émotion et la spontanéité de l’expression; l’une

326 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 945. 327 Pierre Reverdy: Revue des revues [1917]. In: ROCI, S. 480. Hervorhebung K.R. 328 Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, S. 652 f. 329 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 596. 330 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 953. 331 Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 993.

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et l’autre sont en relation directe avec la vie, qu’elles s’efforcent de magnifier esthétiquement.»332 In ‘La jolie rousse’ spielt das Bild der verwelkenden Teerosen darauf an, das im Kontrast zur Lebendigkeit der schönen Rothaarigen steht.333 Sieht der Ästhetizismus die Kunst in der Künstlichkeit, bleibt für die Avantgarde die Natur ein Ausgangspunkt der Kunst – jedoch jenseits einer Nachahmung der Erscheinungen: «De fait les peintres nouveaux, s’ils étudient la nature avec acharnement, s’ils la copient même, ce sont entièrement dégagés du culte de ses apparences.»334 Apollinaire betont dies auch in den Méditations esthétiques mit Blick auf die Kubisten: «Ces peintres, s’ils observent encore la nature, ne l’imitent plus».335 Auf gleiche Weise wie Apollinaire sieht Soffici die Natur, ohne dass sie imitiert werden soll, als Grundlage der modernen Kunst an: Infatti se è vero (e mostrerò fra un momento come il cubismo dovrà svilupparsi in questo senso) che il principio della pura pittura dovrebbe logicamente condurre a un’espressione lirico-plastica sempre più e più libera dalla rappresentazione delle cose naturali, è altresì necessario che l’artista non abbandoni completamente lo studio delle forme sostanziali della realtà336

Dies gilt gleichermaßen für die bildenden Künstler und die Schriftsteller: «La nature est pour eux [les peintres] comme pour l’écrivain une source pure à laquelle on peut boire sans crainte de s’empoisonner. Elle est leur sauvegarde contre l’intellectualisme de décadence qui est le plus grand ennemi de l’art.»337 Soffici teilt mit Apollinaire die Ablehnung einer ‘sterilen’ und intellektuellen Kunst.338 Gerade in der Anbindung an die Natur unterscheide sich die lyrische Tätigkeit vom Philosophieren, denn die Natur übersteige in ihrer Mannigfaltigkeit und ihrem Variantenreichtum die menschliche Vorstellungskraft: «L’immaginazione umana non è capace che di un numero limitato di combinazioni di forme plastiche, e solo la natura, con la sua infinita varietà di aspetti può suggerire all’artista un numero ugualmente infinito di accordi e di rapporti».339 Obwohl sie keine naturalistischen Repräsentationen der Welt darstellen, sind die Gedichte der Avantgarde keine rein abstrakten Gedichte, ebensowenig wie die indigenen Skulpturen nur abstrakt sind. Das Resultat einer vollständigen Abstraktion wäre der Verlust der emotiven Bindung, mit anderen Worten,

332 333 334 335 336 337 338 339

Ebda., S. 992 f. Vgl. das Kapitel II.2.4.2 ‘Konkrete Abstraktion’ der vorliegenden Arbeit. Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 49. Ebda., S. 9. Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, S. 652. Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 49. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 692. Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, S. 652 f.

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der Verlust der Beziehung des Subjekts zur Welt: «Mais l’abstraction complète entraîne une perte du puissant intérêt émotif et intellectuel qui s’attache aux objets dans le monde de l’expérience».340 Im Rückbezug auf die Natur zeigt sich auch bei Soffici die Bedeutung, die der Beziehung des Ichs zur Welt gegeben wird: «L’attività lirica non può esser tutta interiore come quella filosofica: un’esaltazione per delle forme pittoresche astratte non è concepibile, e l’emozione feconda non può sgorgare se non nel contatto dello spirito artistico col mondo circostante.»341 Ist eine mimetische Kunst in einer Welt, in der es keine Referenzialität und nicht mehr die Wirklichkeit gibt, zwar unzeitgemäß geworden,342 so bleibt doch die Wichtigkeit der Beziehung des Ichs zu seiner Umwelt bestehen. An dem Begriff der Natur zeigt sich deutlich, wie sich in der Ästhetik der Avantgarde der Fokus weg von einer Referenzialität hin zu einer Beziehungsstruktur verschoben hat. Apollinaire interessiert Natur in ihrer Beziehung zum Subjekt, die es zu entdecken gilt, denn der Mensch ist unweigerlich Teil der Natur: Lorsque nous parlons de la nature, nous ne devons pas oublier que nous en faisons partie et que nous devons nous considérer avec autant de curiosité et de sincérité que lorsque nous étudions un arbre, un ciel ou une idée. Car il y a un rapport de nous au reste de l’univers, nous pouvons le découvrir et ensuite ne plus essayer de le dépasser.343

Anders als die ‘modernolatria’ und Fixierung auf die moderne Technik erwarten lässt, spielt die Beziehung zwischen Mensch und Natur in der futuristischen Lyrik ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle. Im Futurismus ist die Natur selbst längst Ausdruck der Beziehung des Menschen zu seiner Welt geworden. Soffici beschreibt beispielsweise den Einbruch der Technik in die Natur anhand des Lichts: «le foglie e i fiori bagnati nella luce elettrica che ne falsifica i colori, esagera con violenza i riflessi e le ombre.»344 Die Beziehung des Futuristen zur Natur ist durch die Technik geprägt, welche als Verstärker der Natur und Erweiterung des Menschen fungiert. Bei Marinetti zeigt sich die Kodierung der Technik mit der Natur in der Symbiose mit dem Automobil und in dem Bild der Wiedergeburt aus dem Industrieschlamm besonders deutlich: «Oh! Materno fossato, quasi pieno di un’acqua fangosa! Bel fossato d’officina!»345

340 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 92. 341 Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, S. 652 f. 342 Vgl. Winfried Wehle: Einführung: Lyrik der zweiten Moderne – Wandlungen einer dissidenten Sprachbewegung im 20. Jahrhundert, S. 13. 343 Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 103. 344 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 732. 345 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTA, S. 9.

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In der Beobachtung der Umwelt schärft der Künstler seinen Sinn für kollektive, universelle Wahrheiten,346 die noch nicht in das Bewusstsein gedrungen sind. Er habe «pour but de dégager de la nature, non des généralisations intellectuelles mais des formes et des couleurs collectives dont la perception n’est pas encore devenue notion», meint Apollinaire.347 Diese Fähigkeit ließe sich mit der magischen Begabung, die Zukunft vorauszusagen, vergleichen.

2.7 Prophetie: Beobachtung der ‘nature extérieure et intérieure’ ‘Sur les prophéties’ aus den Calligrammes ist eine poetische Reflexion über das ‘alltagsmagische’ Potenzial der Beobachtungsgabe. Der erste Teil des Gedichts führt in verschiedene Formen der Wahrsagerei ein. Dabei rekurriert Apollinaire auf magische und indigene Praktiken: J’ai connu quelques prophétesses Madame Salmajour avait appris en Océanie à tirer les cartes C’est là-bas qu’elle avait eu encore l’occasion de participer À une scène savoureuse d’anthropophagie Elle n’en parlait pas à tout le monde En ce qui concerne l’avenir elle ne se trompait jamais Une cartomancienne céretane Marguerite je ne sais plus quoi Est également habile Mais Madame Deroy est la mieux inspirée La plus précise Tout ce qu’elle m’a dit du passé était vrai et tout ce qu’elle M’a annoncé s’est vérifié dans le temps qu’elle indiquait J’ai connu un sciomancien mais je n’ai pas voulu qu’il interrogeât mon ombre Je connais un sourcier c’est le peintre norvégien Diriks348

Der Dichter erkennt zwar die Trefflichkeit dieser Prophezeiungen an («était vrai», «s’est vérifié»), hat aber keinen Glauben («je ne crois pas»). Er nimmt stattdessen seine Beziehung zu den Menschen («je lis assez bien dans la main») und zur Umwelt ernst und beschreibt die verschiedenen Modi der Wahrnehmung («je regarde et j’écoute»):

346 In dieser Hinsicht stimmt Apollinaire mit Delaunay überein, dessen ästhetische Ansichten er zitiert: «Le sujet est ‘éternel’ dans l’œuvre d’art […] et doit être l’expression pure de la nature humaine, l’éternel sujet est trouvé dans la nature même», Guillaume Apollinaire: Réalité. Peinture pure [1912]. In: PrII, S. 494 ff. hier S. 496. 347 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 48. 348 Guillaume Apollinaire: ‘Sur les prophéties’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 186 f. hier S. 186.

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Miroir brisé sel renversé ou pain qui tombe Puissent ces dieux sans figure m’épargner toujours Au demeurant je ne crois pas mais je regarde et j’écoute et notez Que je lis assez bien dans la main Car je ne crois pas mais je regarde et quand c’est possible j’écoute349

Magie und Wahrsagerei seien keine okkulten Praktiken, sondern würden nur von der Beobachtung der Natur abhängen: Tout le monde est prophète mon cher André Billy Mais il y a longtemps qu’on fait croire aux gens Qu’ils n’ont aucun avenir qu’ils sont ignorants à jamais Et idiots de naissance Qu’on en a pris son parti et que nul n’a même l’idée De se demander s’il connaît l’avenir ou non Il n’y a pas d’esprit religieux dans tout cela Ni dans les superstitions ni dans les prophéties Ni dans tout ce que l’on nomme occultisme Il y a avant tout une façon d’observer la nature Et d’interpréter la nature Qui est très légitime350

Die Dichter erscheinen prophetisch, denn sie beobachten die Welt und schöpfen aus der Relation zu ihr etwas, das übernatürlich erscheint, weil es über die bloße Erscheinung der Natur hinausgeht. Die mythische Weltsicht deckt sich in dieser Hinsicht mit der modernen poetischen Weltsicht Apollinaires. Dies trifft auch auf Reverdys Poetik zu. Er formuliert: «La réalité ne motive pas l’œuvre d’art. On part de la vie pour atteindre une autre réalité.»351 Die Natur bleibt auch für Reverdy der Ausgangspunkt, aber ihre Imitation ist nicht mehr der Endpunkt, das Ziel der Kunst. In diesem Zusammenhang steht auch Apollinaires Begriff des ‘surnaturalisme’, durch den deutlich wird, dass sich sein Naturbegriff nicht auf die Außenwelt beschränkt: «Orphisme ou surnaturalisme, c’est-à-dire un art qui n’est pas le naturalisme photographique uniquement et qui cependant soit la nature, même ce qu’on en voit et ce qu’elle contient, cette nature intérieure aux merveilles insoupçonnées, impondérables et joyeuses.»352 Ein Vorbild für einen derartigen ‘richtigen Gebrauch’ der Natur, der nicht mimetisch ist, sondern durch

349 Ebda. 350 Ebda., S. 187. 351 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 527. 352 Guillaume Apollinaire: Interviews. M. Guillaume Apollinaire et la nouvelle école littéraire. In: PrII, S. 989.

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die Imagination der Beziehung zur Welt Rechnung trägt, sind die indigenen Skulpturen: Cependant, ils [les artistes] peuvent demander à la nature plus que ces apparences immédiates et même imaginer, agrandir, diminuer des formes douées d’une puissante vie esthétique, mais dont la justification doit toujours se trouver dans la nature, ainsi firent les Assyriens, les Égyptiens, les sculpteurs nègres et océaniens.353

Wie für die Kunst, so sind auch für die Dichtung die Vorstellungskraft («imaginer») und die Interpretation der Natur («agrandir, diminuer») wesentliche Zutaten gegen einen mimetischen Literaturbegriff. Apollinaire wendet sich nicht von der Realität ab, vielmehr lehnt er einen ‘phänomenologischen’ Realismus ab: «Je suis, oui, partisan d’imiter la nature, mais seulement par l’imagination, pas du tout par la photographie.»354 Apollinaire sieht die Imagination nicht als Realitätsflucht, sondern als eine Möglichkeit, mit der Natur in Beziehung zu treten und gleichzeitig über sie hinauszugehen. Indem der Dichter nicht nur auf das Wissen aus seinen Beobachtungen, sondern auch auf seine Imagination rekurriert, kann er wie ein Prophet Entwicklungen voraussagen, welche die Geschichte erst viel später bestätigt. Dichtung und Mythos bilden somit keine Antagonismen zur modernen, gar zukünftigen Welt. Die poetische Vision verleiht «des vues nouvelles sur l’univers extérieur et intérieur qui ne soient point inférieures à celles que les savants de toutes catégories découvrent chaque jour et dont ils tirent des merveilles».355 Die Prophetie ist daher sogar die Aufgabe der modernen Dichter: «L’esprit nouveau exige qu’on se donne de ces tâches prophétiques. C’est pourquoi vous trouverez trace de prophétie dans la plupart des ouvrages conçus d’après l’esprit nouveau. Les jeux divins de la vie et de l’imagination donnent carrière à une activité toute nouvelle.»356 Insbesondere in ‘Les collines’ setzt Apollinaire diese Gedanken poetisch um. Das Motiv der Prophetie zieht sich durch das gesamte Gedicht: Sache que je parle aujourd’hui Pour annoncer au monde entier Qu’enfin est né l’art de prédire Certains hommes sont des collines Qui s’élèvent d’entre les hommes Et voient au loin tout l’avenir [..]

353 354 355 356

Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 49. Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 992. Ebda., S. 954. Ebda., S. 950.

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Habituez-vous comme moi A ces prodiges que j’annonce A la bonté qui va régner A la souffrance que j’endure Et vous connaîtrez l’avenir357

Diese «prodiges» können dem Zuhörer jedoch unglaubwürdig und lachhaft erscheinen. Die Dichter laufen mit dem Gebrauch ungewohnter, neuer Inhalte, Bilder und Laute Gefahr, sich «en butte aux railleries de leurs contemporains, des journalistes et des snobs»358 zu begeben. ‘La jolie rousse’ endet dementsprechend mit einem resignierten lyrischen Ich, das nach seinem discours über «Mille phantasmes impondérables» und «feux nouveaux des couleurs jamais vues»359 ausgelacht wird: Mais riez riez de moi Hommes de partout surtout gens d’ici Car il y a tant de choses que je n’ose vous dire Tant de choses que vous ne me laisseriez pas dire Ayez pitié de moi360

Der künstlerische Ausdruck entsteht für Apollinaire und Reverdy aus einem Prozess der Vermittlung zwischen der Subjektivität des Dichters und der Auseinandersetzung mit der Welt, das heißt zwischen objektiver und subjektiver Sphäre. Die Beobachtung der Natur und die Imagination sind beide Formen dieses Prozesses – Apollinaire zitiert Delaunay: «L’inventeur tient compte de ce qui est dans l’univers par essence, fréquence, imagination et simultanéité.»361 Die Ergebnisse dieses Prozesses ähneln prophetischen Wahrheiten.

2.8 Imagination Im Kapitel II.2.5 ‘Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien’ wurde bereits auf die Bedeutung der okkulten Lehre Agrippas von Nettesheim für die Interpretation von ‘Cortège’ eingegangen. Stand dort bei der Analyse die Beobachtung der Um-

357 Guillaume Apollinaire: ‘Les collines’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916). In: Po, S. 171–177. 358 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 948. 359 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 313. 360 Ebda., S. 314. 361 Guillaume Apollinaire: Réalité. Peinture pure. In: PrII, S. 496.

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welt anhand der fünf Sinne im Vordergrund, soll nun das Augenmerk auf die Imagination gelegt werden. Krenzel-Zingerle sieht bereits in dem Bild des nistenden Vogels eine metapoetische Aussage, welche sich auf die Imaginationskraft bezieht: Oiseau tranquille au vol inverse oiseau Qui nidifie en l’air A la limite où notre sol brille déjà Baisse ta deuxième paupière la terre t’éblouit Quand tu lèves la tête362

Den Vogel versteht sie als Alter Ego des Dichters, wobei sie das Nisten als Voraussetzung für das Brüten, d. h. für das Schreiben, interpretiert, und die Luft als Ort des Nistens darauf verweist, dass das Brüten/Schreiben «nicht im Bereich der materiell greifbaren Wirklichkeit, sondern im Bereich der Gedanken, der Phantasie» stattfindet.363 Deutlicher wird dieser Aspekt in der Erwähnung der anderen Sinne («Je les connais par les cinq sens et quelques autres»).364 Neben den fünf bekannten, physiologischen Sinnen spricht Agrippa in Anlehnung an die Lehre des Averroes von den vier inneren Sinnen: Gemeinsinn, Einbildungskraft, Phantasie und Gedächtnis.365 Mit der Anspielung auf Agrippas Sinnenlehre thematisiert ‘Cortège’, dass der Dichter nicht nur über ausgeprägte Sinneswahrnehmungen, sondern auch über Phantasie verfügen müsse. Dementsprechend erklärt Apollinaire in ‘L’esprit nouveaux et les poètes’, der Dichter solle sich sowohl dem Studium der «nature extérieure» als auch «intérieure» widmen.366 An diesen Gedanken knüpft Stamelmans Interpretation an, in ‘Cortège’ würde die dichterische Phantasie zunächst die Wahrnehmung der Außenwelt nachbilden, um dann etwas zu erschaffen, das kein Gegenstück in der Außenwelt besitzt, da es nur im Kopf des Poeten existiere.367 Die äußere Welt würde durch die dichterische Vorstellungskraft derart neu geordnet und transformiert, dass äußere und innere Realität ineinander aufgehen.368

362 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. 363 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 75. 364 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75. 365 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De occulta philosophia. Libri tres, S. 216 ff. 366 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 949. 367 Richard Howard Stamelman: The Drama of Self in Guillaume Apollinaire’s Alcools. Chapel Hill: University Press 1976, S. 49: «In the first instance, the poetic imagination recreates and reorders sensations of the external world; in the second, it creates pure creations that have no counterparts in the exterior world, since they exist only within the poet’s mind.» 368 Ebda.

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Die aus der Phantasie entsprungene Unterwasserwelt wirkt im Gegensatz zu der kosmischen Szenerie der ersten Strophen sehr geschlossen: Les géants couverts d’algues passaient dans leurs villes Sous-marines où les tours seules étaient des îles Et cette mer avec les clartés de ses profondeurs Coulait sang de mes veines et fait battre mon cœur Puis sur cette terre il venait mille peuplades blanches Dont chaque homme tenait une rose à la main Et le langage qu’ils inventaient en chemin Je l’appris de leur bouche et je le parle encore369

Mit Algen bedeckte Riesen wandeln durch Unterwasserstädte («sous-marines»), die aus Türmen geformte Inseln zieren. Sehr deutlich wird hier die Seefahrts-, Wasser- und Schiffsmotivik fortgeführt, die bereits im ersten Teil des langen Passus anklang («les vaisseaux», «fleuves»). Das Meer wird als eine Tiefe beschrieben, die sich durch «clartés» auszeichnet. Dieses Paradox erinnert an den Anfang des Gedichts: «m’illuminant au milieu d’ombres». Die Außenwelt als Inspirationsgrundlage scheint in der phantastischen Welt kaum mehr erkennbar. Mit der Unterwasserwelt demonstriert Apollinaire, dass er selbst zu den Dichtern gehört, «qui cherchent les joies nouvelles qui jalonnent les énormes espaces imaginatifs.»370 Die Aussage, das Meer bestünde aus seinem Blut («Coulait sang de mes veines») und ließe sein Herz schlagen («fait battre mon cœur»),371 verdeutlicht die Assoziation der Unterwasserstadt mit dem Innersten des lyrischen Ichs in Abgrenzung zur Außenwelt. Obwohl die sich nun weiter fortbewegenden Menschenmassen («mille peuplades») des Prozessionszuges an das fließende Blut der Venen und das Meer erinnern, signalisiert «Puis sur terre», dass die Unterwasserszenerie verlassen wird. Nicht nur in ‘Cortège’, sondern auch in zahlreichen anderen Gedichten sowie in seinen theoretischen Texten verweist Apollinaire immer wieder auf die Bedeutsamkeit der Imagination für die Dichtung und die Kunst. Insbesondere in den Kriegsgedichten wird die Rolle der Vorstellungskraft deutlich, da sie für den Soldaten Apollinaire eine Ausflucht aus dem Kriegsgeschehen bietet. In ‘Dans l’abricaverne’ spendet ihm die Vorstellung und die Erinnerung an die Schönheit der abwesenden Geliebten Trost:

369 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75. 370 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951. 371 Krenzel-Zingerle vermutet darin eine Beschreibung des Weltmeeres als Grund allen Lebens und damit eine Beeinflussung Apollinaires durch die vitalistischen Ideen Bergsons. Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 49.

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Les autres jours je me console de la solitude et de toutes les horreurs En imaginant ta beauté Pour l’élever au-dessus de l’univers extasié Puis je pense que je l’imagine en vain Je ne la connais par aucun sens Ni même par les mots Et mon goût de la beauté est-il donc aussi vain Existes-tu mon amour Ou n’es-tu qu’une entité que j’ai créée sans le vouloir Pour peupler la solitude Es-tu une de ces déesses comme celles que les Grecs avaient douées pour moins s’ennuyer Je t’adore ô ma déesse exquise même si tu n’es que dans mon imagination372

Das lyrische Ich alterniert zwischen dem Gefühl der Entzückung vor der imaginierten Gestalt und dem enttäuschenden Gedanken ihrer vermeintlichen Nichtexistenz. Da es sie sinnlich nicht erfahren kann, entsteht in ihm der Zweifel, ob es sich womöglich nur um eine nichtige Illusion handele. Es ist nicht in der Lage zu unterscheiden, ob es sich um eine Erinnerung oder um eine Erfindung, eine Schöpfung seines Geistes («Existes-tu mon amour/Ou n’est-tu qu’une entité que j’ai créée sans le vouloir») handelt. Das Problem löst sich am Schluss im Gedanken auf, wonach die Schöne existiert, wenn auch nur in seiner Imagination. Das Gedicht schließt somit mit dem Gedanken, dass die Schöpfungen eine eigene Existenz haben, die es ermöglicht, ‘reale’ Emotionen an sie zu binden. Geht sie auch über die Natur, das real Existierende hinaus, so ist die Imagination bei Apollinaire doch in der Natur verankert. Lentengre erklärt, dass ihr aus diesem Grund bei Apollinaire die Funktion zufalle, «d’assurer la réalité de son lyrisme».373 Eng an die Imagination ist daher das Thema der Schöpfung und die Frage nach ihrem ontologischen Status geknüpft. Indem sie äußere und innere Realität aneinanderkoppelt, ermöglicht die Imagination ein Fluktuieren zwischen Realität und Fiktion und lässt daraus eine neue Form der Realität entstehen.374 Selbstverständlich hat die Theorie der Imaginationskraft eine lange Tradition und spielte auch vor der ‘Entdeckung’ der indigenen Kunst eine Rolle. Dabei zeigt sich in Apollinaires Reflexion auch, was sich im Zusammenhang mit der Abstraktion und dem nicht-mimetischen Kunstideal bereits angedeutet hat:

372 Guillaume Apollinaire: ‘Dans l’abri-caverne’ [1915/1917]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 259 f. 373 Marie-Louise Lentengre: Apollinaire. Le Nouveau Lyrisme, S. 49. 374 Interessanterweise beschreibt Cassirer die Funktionsweise der künstlerischen Imagination auf eine ähnliche Weise: «Even the strongest and most powerful artistic imagination cannot create a new world – out of nothing. But when the artist approaches nature all its elements assume a new shape.» Ernst Cassirer: The Educational Value of Art, S. 215.

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L’abstraction y a toujours joué un grand rôle. Phidias ne sculptait pas à l’image des hommes, mais d’après l’idée qu’il se faisait des héros et des dieux. Il tirait les éléments de ses figures de sa propre intelligence, in ipsius mente disait Cicéron. Toute l’Antiquité s’efforça de créer de belles formes tirées non de la nature, mais issues de l’imagination: dieux de l’Égypte et tous les monstres mythologiques. Le Moyen Âge continua cet effort avec moins d’art: les anges, les démons. L’art occulte s’appuyait sur la magie pour faire naître les formes surnaturelles qui toutes cependant avaient quant à leurs différentes parties des répondants, des modèles dans la nature.375

Apollinaire erkennt bereits in der antiken Kunst die Imaginationskraft als ein Mittel zur Abstraktion von der Natur, dessen Ergebnis er als «formes surnaturelles» bezeichnet. Die afrikanischen Skulpturen stellt er in dieser Hinsicht jedoch auf eine höhere Stufe: Quelques sculpteurs cependant se sont efforcés de sortir de cette simple imitation des formes connues. Ce sont les nègres d’Afrique et de la Polynésie. […] Beaucoup de ces œuvres expressives ne doivent pas grand-chose à l’imitation de la nature. Et quelquefois l’imitation de la nature est remplacée par quelque chose qui est véritablement le contraire de la nature. Les creux sont rendus par des reliefs, une forme ronde devient plate ou réciproquement. Le résultat est presque toujours chez ces artistes une puissante réalité. Le réalisme étant rarement l’expression directe de nos sens trop imparfaits.376

Aufgrund ihrer großen Imaginationskraft sind die Werke der indigenen Künstler keine Kopien der Natur, sondern gehen über sie hinaus, sodass sie eine «puissante réalité» zu erzeugen vermögen. Auch für Cassirer stellt der Mythos keine Traumwelt dar, es handelt sich bei seinen Schöpfungen auch um Objektivierungen, «although its objectification is not a work of the intellect, but a work of the imagination.»377 Indem sie derart objektiv sind, können sie nicht zu Illusionen degradiert werden, sondern gelten als real und wahr. Im mythischen Denken ist die Imagination ein Mittel, einen Bezug zur Welt herzustellen und damit eine Form der Objektivierung.

2.9 Realismus der Dichtung, Realität des Kunstwerks Die ästhetische Theorie Apollinaires und das von Cassirer beschriebene mythische Denken stimmen darin überein, dass Immaterielles und Erdachtes ebenso eine Realität besitzen wie Fakten und materielle Gegenstände. Dies zeigt sich

375 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 595. 376 Ebda. 377 LAII, S. 175.

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besonders in den Worten, die Apollinaire zugunsten des mit ihm befreundeten Dichters André Salmon verfasst: Et cet André Salmon, dont l’avenir se souviendra, crache des constructions plus solides sur leurs bases mentales que les monuments de pierre. Ses paroles ont plus de réalité que les objets mêmes du sens qu’elles expriment. Son souffle anime des personnages dont la vérité corporelle est la conséquence de l’existence qu’il leur donne. Ceux qu’il imagine, on les a vus, la nuit, mêler leurs ombres déformées.378

Apollinaires Beschreibung erinnert in ihrer Idee an Réjas Auffassung, Kinder und ‘Primitive’ würden nicht zwischen Bild und Realität unterscheiden: «Il est bien vrai qu’à l’exemple du sauvage, l’enfant attribue d’abord une sorte d’existence mystérieuse aux figurations graphiques, comme cette petite fille qui n’osait toucher au portrait du Croque-Mitaine, de peur d’être mordue».379 Cassirers Charakterisierung der mythischen Denkform liefert einen gedanklichen Hintergrund für Réjas Beobachtung: «Wo wir ein Verhältnis der bloßen ‘Repräsentation’ sehen, da besteht für den Mythos […] vielmehr ein Verhältnis realer Identität. Das ‘Bild’ stellt die ‘Sache’ nicht dar – es ist die Sache».380 Das mythische Bewusstsein kennt keine «bestimmte[n] Trennungslinien» zwischen Fiktion und Wahrheit, Repräsentation und Wirklichkeit, Imagination und dem Wahrgenommenen: «Es fehlt hier vor allem jede feste Grenzscheide zwischen dem bloß ‘Vorgestellten’ und der ‘wirklichen’ Wahrnehmung, zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Bild und Sache.»381 Weil im mythischen Denken Vorgestelltes und Tatsächliches nicht voneinander getrennt sind, dehnt sich der Wirklichkeitsbegriff auf die Phantasie aus: Versucht man, das Primitive Denken kurz zu charakterisieren, so muß es als ein Denken gekennzeichnet werden, das sich vorwiegend an das Komplexe der Erscheinungen hält, ohne dieses zu zerlegen, [und das] die Realität des Gedankens nicht von der des Objekts zu unterscheiden gelernt hat. Denn es beachtet die kontrollierenden Vergleiche mit der Wirklichkeit nicht, und die Phantasie bleibt darum ohne Zügelung und Disziplin. Es ist konkret, aber nicht wirklichkeitstreu.382

378 Guillaume Apollinaire: André Salmon [1908]. In: PrII, S. 1007–1014, hier S. 1007. 379 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 84. 380 MD, S. 47. 381 MD, S. 44. Siehe auch: «Blickt man dagegen auf den Mythos selbst hin, auf das, was er ist und als was er selbst sich weiß, so erkennt man, daß gerade diese Trennung des Ideellen vom Reellen, diese Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung, dieser Gegensatz von ‘Bild’ und ‘Sache’, ihm fremd ist.» MD, S. 47. 382 Richard Thurnwald: Primitives Denken. In: Max Ebert (Hg.): Reallexikon der Vorgeschichte. Band X. Berlin: De Gruyter 1928, S. 294–317, hier S. 296.

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Während das rational-empirische Denken Original und Bild funktional voneinander trennt, werden beide im mythischen Denken ineins gesetzt. Im mythischen Denken gibt es demnach nur ‘Originale’, sodass das Vorgestellte denselben Status des Wirklichen hat wie die ‘faktische’ Wirklichkeit. Dass die Schöpfungen der Imagination nicht illusorisch sind, zeigt Apollinaire in seiner Lobpreisung Salmons und stimmt darin auch mit Carl Einstein überein. Die «Dichtung wird zum Ursprung des Realen»,383 so Einstein. Er sieht den Mythus als Generator der Wirklichkeit und damit als Instrument des Subjekts, eine Beziehung zur Welt zu finden: «Es gilt nun, Gedichten und Bildern wieder den Machtanspruch zu verleihen, das Wirkliche zu beeinflussen, und damit wird die Abspaltung [von Mensch und Umwelt] letzten Endes aufgehoben.»384 Auch Cassirer sieht den «Glauben […] an die objektive Kraft des Zeichens»385 als den Anfang des Mythos.386 Dieser Gedanke findet sich in der Vorstellung der ‘magischen’ Kraft der Worte wieder.387 Doch wie im mythischen Denken Imaginiertes nicht von der Wirklichkeit unterschieden wird, sind auch literarische Sätze für Cassirer keine Lügen oder Illusionen, sondern Wirklichkeit. Sie «geben einen realen Inhalt unserer Erfahrung wieder.»388 Der Wirklichkeitsgehalt des Bildes hängt weder in der Kunst noch im Mythos von der ‘substantiellen’ Wirklichkeit ab, doch geht die Kunst dabei einen Schritt über das mythische Denken hinaus: Die ästhetische Welt wird, gemessen an den Maßstäben der dinglichen, der ‘realistischen’ Ansicht, zu einer Welt des ‘Scheines’ – aber indem ebendieser Schein die Beziehung auf die unmittelbare Wirklichkeit, auf die Welt des Daseins und des Wirkens, in der auch die magisch-mythische Anschauung sich bewegt, hinter sich läßt, schließt er damit einen ganz neuen Schritt zur ‘Wahrheit’ in sich.389

Die Kreationen der Imagination werden weder in der Kunst noch im mythischen Denken als Illusionen angesehen: im Mythos, weil das Bild selbst mit der substantiellen Wirklichkeit identisch ist, da es keine Trennung von Bild und Original gibt, in der Kunst, weil die Frage nach einem Rückbezug zur Wirklichkeit hinfällig geworden ist, da das Bild von der substantiellen Wirklichkeit unabhängig geworden

383 Carl Einstein: Werke. Band III: 1929–1940. Herausgegeben von Marion Schmid und Liliane Meffre. Berlin: Medusa-Verlag 1985, S. 160. 384 Ebda., S. 319. 385 MD, S. 30. 386 Dass Einstein Cassirer rezipiert hat, ist nicht nachweisbar, aber beide fassen den Mythos als funktional auf. Vgl. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, S. 512. 387 Vgl. das Kapitel III.2.3.2 ‘Sprachmagie’ der vorliegenden Arbeit. 388 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 133. 389 MD, S. 32.

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ist und eine eigene Wirklichkeit nach eigenen Gesetzen produziert. In der Kunst bekennen sich die Bilder zum Schein, doch «dieser Schein hat seine eigene Wahrheit, weil er seine eigene Gesetzlichkeit besitzt.»390 Die Ästhetik der Avantgarde lässt sich deshalb als eine ‘Ästhetik des mythischen Denkens’ beschreiben, weil in ihr beide Momente reflektiert werden: In den Gedichten gehen eindeutig aus der Phantasie entsprungene Beschreibungen und lebensnahe, realistische Evokationen nahtlos ineinander über und bilden auf diese Weise eine Art neuen Realismus, einen surréalisme im Sinne Apollinaires.391 Aber es handelt sich dabei um das Erschaffen eines Kunstwerkes, das als autonom begriffen wird und eine eigene, unabhängige Realität besitzt. Reverdy macht diesen Punkt besonders deutlich: Il faut préférer un art qui ne demande à la vie que les éléments de réalité qui lui sont nécessaires et qui, à l’aide de ces éléments et de moyens nouveaux purement artistiques, arrive, en ne copiant rien, en n’imitant rien à créer une œuvre d’art pour elle-même. Cette œuvre devra avoir sa réalité propre, son utilité artistique, sa vie indépendante et n’évoquera rien autre chose qu’elle-même.392

In diesem Sinne schafft die Imagination neue Realitäten, da sie als Schöpfungen begriffen werden. Dies gilt sowohl für die Kunst als auch für die Dichtung: C’est cette création, dont je parlerai aussi plus tard à propos de poésie, qui marquera notre époque. Nous sommes à une époque de création artistique où l’on ne raconte plus des histoires plus ou moins agréablement mais où l’on crée des œuvres qui, en se détachant de la vie, y rentrent parce qu’elles ont une existence propre, en dehors de l’évocation ou de la reproduction des choses de la vie. Par là, l’Art d’aujourd’hui est un art de grande réalité.393

Die Aufgabe der neuen Dichter sei es, der Imagination, dieser «domaine le plus riche, le moins connu, celui dont l’étendue est infinie»394 durch die Dichtung eine Realität zu verleihen, wie Apollinaire in ‘La jolie rousse’ deutlich macht: Nous voulons vous donner de vastes et d’étranges domaines Où le mystère en fleurs s’offre à qui veut le cueillir Il y a là des feux nouveaux des couleurs jamais vues

390 Ebda., S. 306. Dass dies so ist, liegt an der «Einheit der Werke», die darin besteht, dass sich «ein autonomes Kunstwerk seine Regel selbst [gibt]». Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 133 f. 391 Vgl. das folgende Kapitel der vorliegenden Arbeit. 392 Pierre Reverdy: Essai d’esthétique littéraire. In: ROCI, S. 477. 393 Pierre Reverdy: Sur le cubisme. In: ROCI, S. 460. 394 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 950.

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Mille phantasmes impondérables Auxquels il faut donner de la réalité395

Auch im Spiegelmotiv von ‘Cœur couronne et miroir’ wird der Bedeutung der Realität als einer durch die Kunst geschaffenen Sphäre Rechnung getragen. Aus einem Brief an Madeleine Pagès, datiert vom 20. Oktober 1915, wird ebenfalls ersichtlich, dass Apollinaire die Realität wie Cassirer als etwas Geschaffenes auffasst. Er schreibt: «j’aime le réel. Je le rêve et je le crée, vrai et pur simple et sain».396 Indem die von der Realität inspirierte Imagination als schöpferische Kraft verstanden wird und die entstandenen Kunstwerke als Schöpfungen, die als solche wieder eine eigene Realität haben, wird deutlich, warum die Dichtung nie ein bloßes Abbild der Wirklichkeit darstellt, aber warum sie gleichzeitig dennoch real, wahr und Ausdruck der Wirklichkeit ist.

2.10 Schöpfung Die Verbindung zwischen Imaginationskraft und Erfindungsgabe als wesentliche Eigenschaften des schöpferischen Geistes stellt Apollinaire unter anderem in seinem Artikel ‘La sculpture aujourd’hui’ vor: L’imitation n’est plus la base unique des arts plastiques. Si Dieu avait créé l’homme au XXe siècle, il ne l’aurait pas créé à son image. Il l’aurait inventé de toutes pièces et je pense que nos facultés auraient été ainsi autrement puissantes qu’elles ne sont. Bras longs comme les rails, jambes vites, éclairs ou sons. Pensée visible, coagulée pour l’éternité, et se détruisant immédiatement.397

Dementsprechend fordert er die Bildhauer auf: «qu’ils méditent jusqu’à la folie, qu’ils inventent, qu’ils inventent»398. Nach Paul Guillaumes Auffassung ist es dieser Erfindungsreichtum, der die afrikanische Skulptur so interessant macht: «la sculpture nègre occupe une place spéciale en ce qui concerne la liberté et la facilité d’invention».399

395 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 314. 396 Guillaume Apollinaire: Tendre comme le souvenir. Paris: Gallimard 1952, S. 222. 397 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourdhui. In: PrII, S. 594. 398 Ebda., S. 598. 399 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 87. Dies zeigt sich auch in den Idealen, in denen modern und indigene Kunst laut Guillaume übereinstimmen: «Grâce de l’essentiel, harmonie de la forme et de l’esprit: issue naturelle de la passion mystique pure, source de l’art, dynamisme sourd, ne visant point à l’imitation, mais à l’invention selon les principes mêmes du grand art.» Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque, S. 74.

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In Les Mamelles de Tirésias wendet Apollinaire die in ‘La sculpture d’aujourd’hui’ entfalteten Gedanken auf seine eigene Poetik an – wieder in Verbindung mit dem Konzept des ‘surnaturalisme’, ein Begriff, den Apollinaire in der endgültigen Fassung seines Vorworts zu Les Mamelles de Tirésias mit dem berühmt gewordenen Terminus ‘surréalisme’ ersetzt: Et pour tenter, sinon une rénovation du théâtre, du moins un effort personnel, j’ai pensé qu’il fallait revenir à la nature même, mais sans l’imiter à la manière des photographes. Quand l’homme a voulu imiter la marche, il a créé la roue qui ne ressemble pas à une jambe. Il a fait ainsi du surréalisme sans le savoir.400

Die Ablehnung Apollinaires, die Natur zu imitieren, geht zwangsläufig mit dem Verständnis der Kunst als Schöpfung einher: «La création est par essence et par force le contraire de l’imitation».401 Apollinaire betont daher die Analogie von Poesie und Schöpfung: «C’est que poésie et création ne sont qu’une même chose; on ne doit appeler poète que celui qui invente, celui qui crée, dans la mesure où l’homme peut créer.»402 Für Reverdy ist ebenfalls nicht nur der Kubismus «un art de création et non de reproduction ou d’interprétation»,403 sondern auch für seine eigene Ästhetik ist der schöpferische Gedanke essentiell. In der Besprechung seiner eigenen Lyrik schreibt er: «L’art de M. Reverdy est un art simple de présentation, de création».404 Vicente Huidobros Creacionismo basiert wie Apollinaires Kunstverständnis auf dem schöpferischen Akt und ist somit ein weiteres Beispiel für die intensive Auseinandersetzung der avantgardistischen Literatur mit diesem Aspekt. ‘Cortège’ illustriert nicht nur sehr deutlich die Bedeutung der Phantasie, sondern auch das Verständnis des Dichters als Schöpfer. Auffällig ist, dass die dichterische Fähigkeit, aus der Beobachtung der Umwelt zu besonderen Kenntnissen zu gelangen, darin immer mit einem schöpferischen Akt verbunden ist. So heißt es «refaire ces gens», «décrire», «faire», «inspirait», «ressusciter». Der Dichter gibt nicht nur seine Sinneswahrnehmungen und die daraus gezogenen Wahrheiten wieder, er ist dank der «unlimited creative power of his imagination»405 auch Schöpfer, wobei der schöpferische Akt des «décrire» und «refaire»

400 Guillaume Apollinaire: Les mamelles de Tirésias. Drame surréaliste en deux actes et un prologue [1917].In: Po, S. 865–913. In: Po, S. 865–913, S. 865 f. 401 Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918, in: PrII, S. 992. 402 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 950. 403 Pierre Reverdy: Sur le cubisme. In: ROCI, S. 459. 404 Pierre Reverdy: Livres. In: ROCI, S. 505, Hervorhebung im Original. 405 Richard Howard Stamelman: The Drama of Self in Guillaume Apollinaire’s Alcools, S. 48.

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mit göttlichen Fähigkeiten in Verbindung gebracht wird («ressusciter», «indiquer la direction»). Das Konzept der Autonomie des Kunstwerks ergibt sich bei Apollinaire nicht aus einer simplen Ablehnung der Natur, sondern weil es, als Schöpfung gefasst, eine eigenständige Realität geworden ist. Auf diese Weise ist Apollinaire zu verstehen, wenn er in seinem Vorwort zu Mamelles de Tirésias das Bild der Erfindung des Rades wieder aufnimmt: «Au demeurant, le théâtre n’est pas plus la vie qu’il interprète que la roue n’est une jambe.»406 In seinem ‘Essai d’esthétique littéraire’ zeigt sich auch bei Reverdy, wie der Schöpfungsgedanke die Grundlage für die Autonomie der Literatur bildet, indem das Geschaffene als eigene Realität verstanden wird: «Créer l’œuvre d’art qui ait sa vie indépendante, sa réalité et qui soit son propre but, nous paraît plus élevé que n’importe quelle interprétation fantaisiste de la vie réelle […], uniquement parce qu’il serait impossible d’identifier l’art à la vie sans le perdre.»407 Reverdy räumt ein, die Symbolisten seien in ihrem Autonomiebestreben schon in eine ähnliche Richtung gegangen, doch wollten sie in ihrer Dichtung einen flüchtigen Moment zum Ausdruck bringen. Die neuen Dichter würden weitergehen, denn sie wollten etwas schaffen, das das Wesen aller Gefühle ausdrückt: «nous voulons avec la connaissance de tous les sentiments, comme éléments, créer une émotion neuve et purement poétique.»408

2.11 Wahrheit La verdad del arte empieza allí donde termina la verdad de la vida.409

«Mon esthétique, c’est avant tout être simple et être vrai.»410 – Wahrheit ist ein elementarer Begriff in Apollinaires Ästhetik. Poeten bezeichnet er als «les hommes du vrai» und als «seul dispensateur du beau et du vrai».411 Die neue Dichtung versteht er als «nouveau réalisme».412 Doch obwohl Apollinaire die Wahrheit als ein wesentliches Element seiner Dichtung sieht, schreibt er in seinem Artikel über Jean Royère: «Nous n’avons pas besoin de vérités; la nature et la science en ont assez qui nous portent malheur.»413 Dem setzt Apollinaire die Imagination und die aus

406 Guillaume Apollinaire: Les mamelles de Tirésias, S. 869. 407 Pierre Reverdy: Essai d’esthétique littéraire. In: ROCI, S. 475. 408 Ebda. 409 Vicente Huidobro: El Arte Negro, S. 821. 410 Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 992. 411 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951. 412 Ebda., S. 948. 413 Guillaume Apollinaire: Jean Royère [1908]. In: PrII, S. 1003–1006, hier S. 1006.

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ihr erwachsene Schöpfung entgegen, wofür er den Begriff «fausseté» verwendet: «Mais, triomphe de la fausseté, de l’erreur, de l’imagination, Dieu et le poète créent à l’envi.»414 Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass diese Aussagen keinen Widerspruch in seinem Denken darstellen. Es handelt sich nicht um eine einfache Gegenüberstellung von Künstlichkeit/Falschheit und Natur/Wahrheit. Vielmehr ist mit «vérité» hier die positivistische Wahrheit gemeint, auf welche sich die Wissenschaft beruft. Die Schöpfungen des Dichters, die «faussetés», gelten für Apollinaire gleichermaßen als wahr. Wenn Apollinaire die Dichter als «hommes du vrai» bezeichnet, wendet er sich gegen eine platonische Auffassung von Dichtung, die in der Kunst eine Scheinwelt sieht. Dies macht er in ‘L’esprit nouveaux et les poètes’ auch deutlich: Les poètes modernes sont donc des créateurs, des inventeurs et des prophètes; ils demandent qu’on examine ce qu’ils disent pour le plus grand bien de la collectivité à laquelle ils appartiennent. Ils se tournent vers Platon et le supplient, s’il les bannit de la République, d’au moins de les entendre auparavant.415

Der platonischen Ablehnung der Kunst als trügerisch liegt der Gedanke einer mimetischen Kunst zugrunde, deren Ziel es ist, die Welt abzubilden und zu imitieren. Cassirer macht deutlich, das Problem Platons mit der Kunst rühre daher, dass Kunst und Sprache für ihn nur Imitate der empirischen Realität der Dinge seien und er die Bilder selbst nicht als Originale begreife: «It is clear that in this case the copy of the world never can reach the perfection and truth of the original.»416 Das Problem ändert sich, sobald wir Realität nicht aus einem metaphysischen System heraus begreifen, wie es das platonische System der Ideen darstellt, sondern «in terms of a critical analysis of human knowledge.»417 Cassirer zielt dabei auf Kant ab. Er wendet Prinzipien der Kritik der Urteilskraft auf die Sprache an, so dass in der Konsequenz Sprache und Kunst nicht einfach eine Abbildfunktion besitzen, sondern «a condition of our concepts of things» und «a prerequisite of our representation of empirical objects» darstellen.418 Weder in der Kunst noch im Mythos tritt das Bild nach Cassirer als ‘Schein’ im Sinne von Unwirklichkeit auf. Ebenso betont Apollinaire, die Wahrheit sei auch in der Phantasie zu finden: «Explorer la vérité, la chercher, aussi bien dans le domaine ethnique, par exemple, que dans celui de l’imagination, voilà les principaux caractères de cet esprit nouveau.»419 Dieses Zitat lässt wieder unweiger-

414 415 416 417 418 419

Ebda. Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 952. LAI, S. 147. Ebda. Ebda., S. 148. Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 943.

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lich an die «vastes et […] étranges domaines» aus ‘La jolie rousse’ denken, die es zu erkunden («explorer») gilt.420 In der Phantasie erkundet der Poet, einem Entdecker gleich,421 unbekannte und ungewohnte Bereiche, in denen sich eine Wahrheit verbirgt, welche Überraschung oder gar einen Schockmoment auslösen kann: «Et de ces vérités il résulte le plus souvent la surprise, puisqu’elles vont contre l’opinion communément admise.»422 Wie Apollinaire am Beispiel des Mythos von Dädalus und Ikarus erläutert, können diese literarischen bzw. mythischen Wahrheiten später zu gewöhnlichen Wahrheiten werden: «j’exprime une vérité littéraire qui ne pourra être qualifiée de fable que hors de la littérature […] Tant que les avions ne peuplaient pas le ciel, la fable d’Icare n’était qu’une vérité supposée. Aujourd’hui ce n’est plus une fable.»423 Die Realität der Dichtung hat für Apollinaire genug Wirkmächtigkeit, um die Realität der Wissenschaft vorwegzunehmen.424 Das Flugzeug als moderne technische Entwicklung ist dem Dichter nichts Neues, es ist nur die technische Realisation eines bereits schon lange für wahr gehaltenen Gedankens. Das Neue steckt folglich in der Überraschung, nicht unbedingt im Fortschritt: Ce sont […] ces nouvelles œuvres de l’art de vie, que l’on appelle le progrès. […] Mais le nouveau existe bien, sans être un progrès. Il est tout dans la surprise. L’esprit nouveau est également dans la surprise. C’est ce qu’il y a en lui de plus vivant, de plus neuf.425

Weil laut Apollinaire auch in der Imagination Wahrheit ist, kann diese aufgrund der Unbegrenztheit der Phantasie niemals «une fois pour toutes»426 entdeckt werden. Sie kann immer in einem anderen Gewand erscheinen, immer ‘neu’ sein und ist dem abbildenden Realismus nicht verpflichtet. Diese «vérité toujours nouvelle» gehört zu den Grundkonzepten von Apollinaires Poetik: «Mon idéal d’art: mes sens et mon imagination, point d’idéal, mais la vérité toujours nouvelle. […] Vérité: authentiques faussetés, fantômes véritables.»427 Damit zeigt sich noch

420 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 313 f. 421 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 950: «On peut être poète dans tous les domaines: il suffit que l’on soit aventureux et que l’on aille à la découverte.» Vgl. auch ‘La jolie rousse’: «Nous qui quêtons partout l’aventure», Po, S. 313. 422 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 950. 423 Ebda. 424 Vgl. Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools. Paris: Presses Universitaires de France 1994, S. 23. 425 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 949. 426 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 8. 427 Guillaume Apollinaire: Réponse à une enquête. In: PrII, S. 984. Dementsprechend häufig taucht dieses Konzept in seinen Schriften auf. Vgl. ders.: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 8 und ders.: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 951.

3 Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild

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einmal deutlich, dass die «faussetés» für Apollinaire wahr sind und kein Widerspruch in seinem Denken vorliegt. Ebensowenig ist die «vérité toujours nouvelle» ein Gegensatz zu dem Universalitätsgedanken der ‘poésie pure’. Reverdy zitiert einen Artikel von Henri Matisse, in dem dieser schreibt, das Wesentliche und Elementare wäre zwar immer da, es werde aber neu erschaffen: Le rôle de l’artiste, comme celui du savant, se borne à saisir des vérités courantes qui lui ont été souvent redites, mais qui prendront pour lui une nouveauté, et qu’il fera siennes le jour où il aura pressenti leur sens profond. Si les aviateurs avaient à exposer leurs recherches, à nous expliquer comment ils ont pu quitter la terre et s’élancer dans l’espace, ils nous donneraient simplement la confirmation de principes de physique très élémentaires que les inventeurs moins heureux ont négligés.428

Dass auch hier die Erfindung des Flugzeugs als Vergleichsmoment für die ästhetischen Überlegungen zu Hilfe gezogen wird, dient bereits als Hinweis auf das Thema des folgenden Kapitels, das sich der Frage widmet, inwiefern sich hinter der Ästhetik des mythischen Denkens eine Abgrenzung zum wissenschaftlich-rationalen Denken verbirgt.

3 Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild und Befreiung von Institutionen Nasceva il movimento futurista antiscuola, anti-accademia, che doveva sgomberare l’Italia dal passatismo ruderomane, dal professoralismo pessimista, e preparare l’attuale rinascenza italiana.429

3.1 Gegen Intellektualisierung Indem Apollinaire mit seinem Konzept der «vérité toujours nouvelle» Dichtung und Imagination einen Wahrheitswert zuschreibt und in ihr den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Universalität verwirklicht sieht – beides Kategorien, welche die Wissenschaft für sich beansprucht –, stellt er sie in Konkurrenz zum wissenschaftlichen Weltverständnis. Die Erkenntnisse der neuen Dichtung «ne soient point inférieures à celles que les savants de toutes catégories découvrent

428 Pierre Reverdy: Vérités nouvelles [1917]. In: ROCI, S. 471. 429 Filippo Tommaso Marinetti: Introduzione a ‘I nuovi poeti futuristi’ [1925]. In: MTI, S. 184–195, hier S. 186.

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chaque jour et dont ils tirent des merveilles.»430 Um es mit den Worten des transavantgardistischen Künstlers Francesco Clemente zu sagen, steht dahinter der Gedanke, die Aufgabe eines Künstlers lieg[e] darin, wieder ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß […] rationale Dinge, rationale Entscheidungen, Fakten und Ereignisse nicht notwendiger sind als die Dinge der Imagination. Sie sind einfach nur substantieller. Nicht alle Gesellschaften haben den substantiellen Dingen solch eine Bedeutung beigemessen. Alles ist real und alles verändert sich, das ist die Grundidee.431

Diese Grundidee begleitet auch das Interesse für die indigenen Kulturen und andere Formen von Kultur und Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So beschreibt auch Cassirer in Das mythische Denken solche Gesellschaften, denen die Realität der Fakten nicht wichtiger ist als die Realität der Imagination.432 In der Ästhetik des mythischen Denkens zeigt sich eine Auseinandersetzung mit einer Welt, die sich immer mehr dem wissenschaftlich-positivistischen Denken verschrieben hat und in der das Transzendentale immer weniger Raum einnimmt, wie sich in ‘Zone’ deutlich zeigt: Si tu vivais dans l’ancien temps tu entrerais dans un monastère Vous avez honte quand vous vous surprenez à dire une prière Tu te moques de toi et comme le feu de l’Enfer ton rire pétille433

Im Interesse am ‘Primitiven’ offenbart sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Denkmodell, welche in etwa Max Webers Zeitdiagnose der «Entzauberung der Welt» entspricht, die er in einem Vortrag 1917 darlegt: Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge –

430 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 954. 431 Zitiert nach Magdalena Holzhey: Le molte verità. Alberto Savinio und die italienische Transavanguardia. In: Andrea Grewe (Hg.): Savinio europäisch. Berlin: Schmidt 2005,S. 103– 120, hier S. 112. 432 An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich die Gefahr der politischen Usurpation solchen Denkens. Durch die Erfahrung des Nationalsozialismus reflektiert Cassirer später, wie das mythische Denken politisch instrumentalisiert wurde. Ernst Cassirer: Judaism and the Modern Political Myths, S. 233–242 und ders.: The Technique of Our Modern Political Myths, S. 242–267, beide in: Donald Philip Verene (Hg.): Symbol, Myth and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945. New Haven: Yale University Press 1979. 433 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 41.

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im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.434

Dementsprechend äußert sich die Ablehnung vom logozentrischen, wissenschaftlichen und dogmatischen Denken in Apollinaires Abneigung von Systemen und von zu viel ‘Intellektualismus’435 und ‘Philosophie’ in Kunst und Poesie.436 Er gehört zu der anti-intellektualistischen Strömung um Gide, Fénéon und Remy de Gourmont: «Je suis partisan acharné d’exclure l’intervention de l’intelligence, c’est-à-dire de la philosophie et de la logique, dans les manifestations de l’art.»437 Sie erscheinen ihm als eine Art einengendes Korsett. Wissenschaftliche Gelehrsamkeit in der Literaturkritik lehnt er ebenso ab.438 Auch Reverdy hält die Gelehrsamkeit für hinderlich, da durch sie der kreative Prozess gebremst werde: «Un poète perd beaucoup à connaître trop de choses qui s’apprennent: il vaut mieux qu’il les devine et en invente. Qu’il les crée à son usage. Ainsi sa conception restera, sans affectation, originale.»439 Apollinaire sieht die Dichtung als den Erfindungen der Wissenschaft überlegen. Dies zeigte sich bereits an seiner Aussage, die Dichter hätten die Möglichkeit des Flugzeuges mit dem Ikarus-Mythos bereits vorhergesagt.440 Der Erfindungsreichtum der Dichter solle die modernen Erfindungen erblassen lassen: Ceux qui ont imaginé la fable d’Icare, si merveilleusement réalisée aujourd’hui, en trouveront d’autres. […] Et plus de merveilles que celles qui sont nées depuis la naissance des plus anciens d’entre nous, feront pâlir et paraître puériles les inventions contemporaines dont nous sommes si fiers.441

Wie sich hier zeigt, ist die Positionierung der Dichtung als Konkurrenz zur Wissenschaft nicht mit einer strikten Ablehnung von Technik und Wissenschaft oder einer Flucht in eine ‘natürliche’, romantische Welt gleichzusetzen. In Apol-

434 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: ders.: Schriften. 1894–1922. Herausgegeben Dirk Kaesler. Stuttgart: Kröner 2002, S. 474–511, hier S. 488. 435 «l’intellectualisme de décadence […] est le plus grand ennemi de l’art.» Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 49. 436 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 45 ff. 437 Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 992. 438 Vgl. PrII, 1690 ff. 439 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 521. 440 Vgl. auch das Kapitel II.2.7 ‘Prophetie: Beobachtung der ‘nature extérieure et intérieure’’ der vorliegenden Arbeit. 441 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 952.

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linaires Mahnung, die Dichtung solle in ihrem Erfindungsreichtum der Wissenschaft nicht hinterherhinken, zeigt sich zumindest eine Spur der Anerkennung: «Ces merveilles nous imposent le devoir de ne pas laisser l’imagination et la subtilité poétique derrière celle des artisans qui améliorent une machine. Déjà, la langue scientifique est en désaccord profond avec celle des poètes. C’est un état de choses insupportable.»442 Apollinaire grenzt sich nicht nur vom wissenschaftlichen Weltbild ab, er möchte es gleichzeitig überbieten – auch dies zeugt wiederum von einer Anerkennung für die Leistungen der modernen Technik. Soffici zeigt in seiner Lyrik ebenfalls deutlich anti-intellektualistische Tendenzen, wobei er offensichtlich stark von der futuristischen Strömung geprägt ist, heißt es ja bereits im Futuristischen Manifest: «vogliamo liberare questo paese dalla sua fetida cancrena di professori, d’archeologhi, di ciceroni e d’antiquari.»443 Er greift aber in seinen poetischen Überlegungen auch zu positiven Vergleichen zwischen Kunst und Wissenschaft, beispielsweise indem er die «fredda lucidezza» als wichtige Voraussetzung des Künstlers herausstellt.444 Einerseits schätzt er offensichtlich die kubistische Strömung und auch Maler wie Cézanne und Gauguin, weil sie an die «radice ancestrale della nostra sensibilità»445 appellieren, gleichzeitig wirft er ihnen vor, es handle sich letztendlich auch nur um eine andere Form des Intellektualismus sowie um eine Wiederholung ‘klassischer’ Kunstformen: «non si esce dalla ripetizione e in fondo dall’intellettualismo, ispirandosi ai primitivi dell’Egitto o del Congo meglio di quel che non si faccia ispirandosi […] ai nostri pittori del tre e del quattrocento.»446 Mit einigen Ausnahmen – Picasso, Braque, Delaunay und Léger – ist in Sofficis Augen daher nur die futuristische Kunst absolut modern und verdiene die Bezeichnung ‘Avantgarde’.447 In der Auseinandersetzung mit dem Thema lassen sich daher im Folgenden immer zwei Bewegungen beobachten: Zum einen eine Distanzierung vom wissenschaftlichen Denken, zum anderen eine Überbietung mit gleichzeitiger Inanspruchnahme der wissenschaftlichen Kategorien. So wird sich gegen konventionelle Regeln und Systeme ausgesprochen, aber auch betont, dass Kunstwerke und Dichtung eine innere Ordnung aufweisen. Einerseits wird das rationale Denken

442 Ebda., S. 954. 443 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 11. 444 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 694 ff. 445 Ardengo Soffici: Statue e fantocci. Scritti letterari. In: SOI, S. 674. 446 Ebda. 447 «Ma il gruppo di pittori e scultori che veramente ha messo al principio delle sue ricerche l’esclusione di ogni influenza arcaistica per creare lo stile dell’assoluta modernità è quello dei futuristi […] – ecco ciò che fa della pittura futurista la pittura d’avanguardia per eccellenza.» Ebda., S. 675.

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herabgemindert, andererseits wird der Instinkt wiederum als eine Form der Logik aufgefasst. Damit findet sich hier die Grundidee Cassirers, das mythische Denken als eigene Denkform mit einer eigenen Logik anzuerkennen, welche ebenfalls die Funktion der Welterschließung erfolgreich erfüllt – jedoch mit der bedeutenden Ausnahme, dass Cassirer die Vorrangstellung der Wissenschaft nicht aufgibt.

3.2 Gegen Wissenschaft voices to voices, lip to lip i swear (to noone everyone) constitutes undying; or whatever this and that petal confutes … to exist being a peculiar form of sleep what’s beyond logic happens beneath will; nor can these moments be translated: i say that even after April by God there is no excuse for May – bring forth your flowers and machinery: sculpture and prose flowers guess and miss machinery is the more accurate, yes it delivers the goods, Heaven knows (yet are we mindful, though not as yet awake, of ourselves which shout and cling, being for a little while and which easily break in spite of the best overseeing) i mean that the blond absence of any program except last and always and first to live makes unimportant what i and you believe; not for philosophy does this rose give a damn … bring on your fireworks, which are a mixed splendor of piston and pistil; very well provided an instant may be fixed so that it will not rub, like any other pastel. (While you and i have lips and voices which are for kissing and to sing with who cares if some oneeyed son of a bitch invents an instrument to measure Spring with? each dream nascitur, is not made … ) why then to Hell with that: the other; this, since the thing perhaps is to eat flowers and not to be afraid.448

448 E.E. Cummings: ‘voices to voices, lip to lip’. In: ders.: 100 Selected Poems by e.e. cummings. New York: Grove Press 1994.

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Dieses Gedicht von E. E. Cummings ist im Geiste mit dem verwandt, was den Reiz der Alternativen zur wissenschaftlichen Denkform für die frühe Avantgarde ausmacht – wahrscheinlich ist diese Verwandtschaft kein Zufall, denn Cummings hat in Paris nicht nur Picasso kennengelernt, seine späteren Bildgedichte sind auch von Apollinaires Kalligrammen beeinflusst. In kubistischer Manier zerlegt Cummings Wörter und fügt sie neu wieder zusammen. Das Verfahren, einen Gegenstand aus verschiedenen Perspektive zu sehen, hat er mit seiner Idee des «seeing-around» übernommen.449 Neben diesen Experimenten ist es jedoch das Poetische in der Welt, das nicht in messbare Daten übersetzt werden kann, das Cummings Lyrik charakterisiert und in ‘voices to voices’ besonders zum Ausdruck kommt. Es geht um das Wesentliche, nicht um ein bestimmtes Programm und nicht um einen dogmatischen Glauben oder um eine philosophische Systematik. Es wirkt fast wie ein Echo auf das Gedicht ‘A un amico filosofo’ von Ardengo Soffici. Auch dieses Gedicht ist ein Befreiungsschlag von systematischen und gelehrten Zwängen. Das lyrische Ich fordert seinen Freund, den Philosophen auf, das Argumentieren und systematische Ausfindigmachen von Widersprüchen und Paradoxien zu unterlassen: Perché mentre ti parlo, amico, Tu, simile al cacciatore indefesso, T’apposti, t’imboschi, t’acquatti Per fulminare a volo L’ampia contradizione e lo smagliante paradosso Ch’escon battendo l’ale dalla mia bocca ridente? Oh! Lascia al dottore tedesco Ed al leguleio britanno Il compassi e la stadera Per misurare e pesare l’Infinito e il Pensiero. Ad altri il garrulo sillogismo!450

Der «dottore tedesco» erscheint in ähnlicher Form auch in Cendrars’ ‘Crépitements’, in dem er sich auf zynische Weise gegen die mit Deutschland assoziierte Gelehrsamkeit richtet. Auffällig ist hierbei, dass Cendrars die Vernichtung des Intellektuellen durch indigene Praktiken vollziehen lässt:

449 Vgl. Jennifer Alison Rosenblitt: E. E. Cummings’ Modernism and the Classics: Each Imperishable Stanza. Corby: Oxford University Press 2016, S. 201 f. 450 Ardengo Soffici: ‘A un amico filosofo’. In: ders.: ‘Poesie giovanili (1901–1908)’. In: ders.: Marsia e Apollo [1938]. In: ders.: Opere. Band IV. Firenze: Vallecchi Editore 1961, S. 708. Band IV der Opere werden im Folgenden abgekürzt mit SOIV.

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Paris-Midi annonce qu’un professeur allemand a été mangé par les cannibales au Congo C’est bien fait L’Intransigeant ce soir publie des vers pour cartes postales C’est idiot quand tous les astrologues cambriolent les étoiles On n’y voit plus J’interroge le ciel L’institut Météorologique annonce du mauvais temps451

Die Sprache der neuen Lyrik ist für den Futuristen Soffici nicht die eines Gelehrten, sondern die der Verrückten: A noi fa mestieri una lingua Libera, generosa, profetica, amorosa: Una lingua da pazzi452

Der Gelehrsamkeit ist die Freiheit entgegengestellt. Derselbe Aspekt liegt auch ‘Uccidiamo il chiaro di luna’ zugrunde: Indem die Futuristen die «pazzi»453 als Verbündete auftreten lassen, zeigen sie deutlich ihre Wendung gegen die vorherrschende Logik. Auch die weiteren Verbündeten stehen für Irrationalität: Die wilden Tiere symbolisieren Instinkthaftigkeit, und die Kinder, denen alles erlaubt ist, stehen für Freiheit und Kreativität, da sie Phantasie und Realität nach ihrer Willkür mischen können und keine Verantwortung tragen müssen. Die Freiheit von gelehrten Zwängen symbolisiert sich demnach nicht nur in den indigenen Kulturen, sondern auch in den weiteren Diskursfiguren des ‘Primitiven’, den Geisteskranken und Kindern.454 Aus diesem Grund lehnt die futuristische Kunst Ernsthaftigkeit ab: «Per libertà, in ordine all’estetica, il Futurismo intende: negazione di ogni carattere di serietà nell’arte.»455 Ein Bruch mit der Ernsthaftigkeit vollzieht sich auch in der jugendlichen Ironie, für die neben Apollinaire auch Aldo Palazzeschi bekannt ist. Ironie wird von Soffici als das Ausdrucksmittel der Moderne par excellence beschrieben: «Ironia, ironia, urto convulso di riso per un confronto fra il nostro entusiasmo giovanile e la vanità finale del suo oggetto, tragedia e consolazione del nostro spirito moderno!»456 Den beiden Autoren widmet sich Soffici in Statue e fantocci. Scritti letterari. Palazzeschi stellt mit seinen Gedichten, die infantilen Liedern ähneln, ein Beispiel

451 Blaise Cendrars: ‘Crépitements’ [1916]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 79. 452 Ardengo Soffici: ‘A un amico filosofo’. In: SOIV, S. 709. 453 Filippo Tommaso Marinetti: Uccidiamo il chiaro di luna [1909]. In: MTI, S. 14–26, hier S. 19. 454 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 3. 455 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 703. 456 Ardengo Soffici: Statue e fantocci. Scritti letterari. In: SOI, S. 518.

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für die primitivistische Figur des Kindlichen dar – Soffici spricht von «canzone di bambini» und «visioni infantili».457 Dieses Interesse für Kinderlieder teilt Palazzeschi mit Apollinaire, der sich schon sehr früh dafür begeistert, wie aus seinen Notizheften ersichtlich ist, in denen die Texte deutscher ‘Händeklatschlieder’ und anderer kindlicher Reime notiert sind.458 Ein Beispiel für diese Gedichte ist Palazzeschis ‘Comare Coletta’, welches auch an die liedhaften Züge des volkstümlichen Rhénane-Zyklus aus den Alcools, aber auch an García Lorcas Romancero gitano erinnert. Eine Verwandtschaft der Figur des Kindes besteht zu der Figur des Gauklers, des «saltimbanque» bzw. «saltimbanco». Dieses Motiv findet sich nicht nur in der bildenden Kunst, etwa bei Picasso, sondern auch bei Apollinaire und Palazzeschi. Für diesen stellt der Gaukler eine dichterische Identifikationsfigur dar. Im Gedicht ‘Chi sono?’, lautet die Antwort auf die titelgebende Frage «Il saltimbanco dell’anima mia».459 Wie das Kindliche steht auch der «saltimbanco» für eine unkonventionelle, unvorgeprägte und daher offene, experimentelle Geisteshaltung. Soffici interpretiert Palazzeschis Gedicht dementsprechend als dichterisches Selbstverständnis: il saltimbanco della propria anima artistica, vuol dire in Palazzeschi un’apertura sterminata oltre ogni convenzione, ogni preoccupazione estralirica, ogni ridicolo preconcetto didattico, civico, umanistico, tendente a fare del poeta qualcosa di simile a un apostolo, illuminatore, consolatore e guidatore di popoli.460

Den Höhepunkt dieser «estetica da clown», welche Soffici in Abwandlung des gautierschen L’art pour l’art-Prinzips als «idea del divertimento per il divertimento»461 definiert, bildet das berühmte Gedicht ‘E lasciatemi divertire’ von Palazzeschi. Der Akrobat und Harlekin, der «saltimbanco», wird so zum Sinnbild für den Künstler, denn er interessiert sich in seinem Handeln weder für Religion noch für Philosophie, Moral oder Ästhetik. Er ist «disinteressato» und seine Darbietung damit eine «attività pura»,462 wie dies auch beim Kind der Fall ist. Diese Ideen von der Jugend als Katalysator der Kreativität, die in der italienischen Literatur durch Pascolis Konstruktion des ‘fanciullo’ vorgeprägt sind, findet sich in Ansätzen auch bei Apollinaire.463 Besonders deutlich wird dies

457 Ebda., S. 510. 458 Ms NAF 16301, Bibliothèque nationale de France. Siehe auch die Kapitel II.1.4 ‘Primitive Turn’ und III.3.3.1 ‘Nicht-sukzessives Zeitverständnis’ der vorliegenden Arbeit. 459 Aldo Palazzeschi: ‘Chi sono?’. In: Ardengo Soffici: Statue e fantocci. Scritti letterari. In: SOI, S. 518. 460 Ardengo Soffici: Statue e fantocci. Scritti letterari. In: SOI, S. 518. 461 Ebda., S. 520. 462 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 712. 463 Im Gedicht ‘Saltimbanques’ aus den Alcools Apollinaires wird auch eine Verbindung zu den Kindern gezogen: «Et les enfants s’en vont devant», Po, S. 90. Auch in ‘Un fantôme de

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thematisch in seinem nach Apollinaires Tod von Philippe Soupault wiedergefundenen und vermutlich um dieselbe Zeit wie ‘Ombre’ verfassten Gedicht «Je me souviens de mon enfance».464 Die Kindheit ist deutlich mit der mythischen Erfahrungswelt («métamorphoses» und «destinée») verbunden, wobei auch das bereits angesprochene poetologische Motiv der Prophetie zum Tragen kommt:465 Je me souviens de mon enfance Eau qui dormait dans un verre Avant les tempêtes l’espérance Je me souviens de mon enfance Je songe aux métamorphoses Qui s’épanouissent dans un verre Comme l’espoir et la tristesse Je songe aux métamorphoses C’est ma destinée que je lis Dans les reflets incertains Les jeux sont faits rien ne va plus C’est ma destinée que je lis466

Des semantischen Felds der Kindheit bedient sich Apollinaire auch, wenn er über die Künstler seiner Zeit schreibt. Er beschreibt Picasso als einen Neugeborenen, der sich seine Welt nach persönlichem Nutzen anordnet, womit gleichermaßen der freiheitliche und unkonventionelle Aspekt des kindlichen Motivs zur Geltung kommt: «C’est un nouveau-né qui met de l’ordre dans l’univers pour son usage personnel».467 Über Archipenko schreibt er, seine kindlichen Eindrücke hätten einen großen Einfluss auf seine Kunst ausgeübt.468 Die Kindheit wird hier als bestimmend für die kreative Entwicklung des Künstlers gesehen.

nuées’ aus den Calligrammes: «Le petit saltimbanque fit la roue / […] / Mais chaque spectateur cherchait en soi l’enfant miraculeux», in: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 195 f. Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 37. 464 Po, S. 1183. 465 Vgl. das Kapitel II.2.7 ‘Prophetie: Beobachtung der ‘nature extérieure et intérieure’’ der vorliegenden Arbeit. 466 Guillaume Apollinaire: ‘Je me souviens de mon enfance’ [?|1957]. In: Po, S. 1027. 467 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 24. 468 Guillaume Apollinaire: Le salon [1912]. In: PrII, S. 457: «Des images pieuses et naïves étaient sans doute un émerveillement pour ses yeux d’enfant qui les transfiguraient et les grandissaient. Je ne serais pas étonné s’il avait construit dans son enfance de petits autels de boîtes de savon et de papier en dentelle bleue et s’il avait mis là-dessus une figurine en plâtre doré de la Saint Vierge».

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Die Aspekte der Unkonventionalität und des Ordnens und Formens der Welt nach eigenen, nicht vorgefertigten Regeln wurden auch im Diskurs um die indigene Kunst angeführt. Wie sich zeigte, nimmt Apollinaire keine Gleichsetzung von ‘primitiver’ Kunst und kindlichem Stadium vor. Die Form der Wahrnehmung und der Modus, diese in ein Kunstwerk zu übersetzen, ist entscheidend für die Rezeption der indigenen Kunst, und nicht die Semantik des Unschuldigen, Zurückgebliebenen und Naiven. Die Referenzen auf indigene Kunst, Kindlichkeit und Verrücktheit haben keinen auf die Moral gerichteten oder zivilisatorischen Hintergrund, sondern betreffen ein ästhetisches und formales Interesse.

3.3 Gegen Regeln Der Wunsch nach Unkonventionalität, der sich in der Hinwendung zu ‘primitiven’ Denkformen äußert, zeigt sich auf poetologischer Ebene auch in der Ablehnung von Regeln und Doktrinen. Die Aussage in Sofficis ‘A un amico filosofo’, die ‘Rechtsverdreher’ und Syllogismen zurückzuweisen, erinnert auch an sein ‘Ragione poetica’, wo sich das lyrische Ich für die Freiheit der Verse ausspricht – was auch Sinn ergibt, da strenge lyrische Formen wie das Sonett schließlich von Juristen und Beamten am Hofe Friedrichs II. geprägt worden sind. Es ist, wie der Titel verspricht, ein poetologisches Gedicht, doch wird mit der Erwartung, «ragione» verweise auf eine vernünftig-regelhafte Dichtung, bereits im ersten Vers gebrochen: Non rima, né metro né legge vuole il mio nuovo canto Perché, qual legge costringe il nascer del grano fra le zolle violette, La voce volante del vento, Il turbinio delle incomprensibili stelle, Il travaglio delle bestie, Il dolore e l’amore E la vita e la morte dell’uomo?469

Diese Grunderfahrungen des Daseins sollen von den Worten des Dichters – der auch hier mit göttlichen Qualitäten versehen ist – frei von Doktrinen und Regeln in der Seele des Lesers evoziert und zum Leben erweckt werden: Che tutte le cose suscitate dalla Parola onnipossente Balzino, rivivano, s’intreccino, si muovano Nella tua anima, o fratello, Liberamente, senza rima, senza metro, senza legge470

469 Ardengo Soffici: ‘Ragione poetica’. In: ders.: ‘Poesie giovanili (1901–1908)’. In: ders.: Marsia e Apollo [1938]. In: SOIV, S. 707. 470 Ebda.

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Nicht Regeln geben die Dichtung vor, sondern das Geheimnis einer einzigen Zahl, welche imstande ist, die Essenz des Universums auszusprechen: Ma col numero solo che scande Il cuore dell’Universo471

Die neue Dichtung («nuovo canto») ist von den Zwängen einer Regelpoetik frei und nur einer ganz universalen Wahrheit, der Poesie der Dinge, verpflichtet. Deutlich tritt das Lebendige hervor – «rivivano», – was wieder den Bezug zur Natur hervorhebt, der trotz der Betonung abstrakter Formen und der Worte nicht übergangen werden soll. Der Titel «Ragione poetica» verweist bereits darauf, dass diese freie Poesie dennoch einer Logik folgt, welche jedoch anderer, ‘poetischer’ Natur ist. In Apollinaires ‘Les fiançailles’ wird die Distanz zur klassischen Regelpoetik durch Übertreibung hergestellt. Mit der Bitte des Dichters, ihn für seinen von den Effekten der Liebe beeinflussten Stil zu entschuldigen, ironisiert der Autor Petrarcas Eingangsgedicht zu seinem Canzoniere: del vario stile in ch’io piango et ragiono fra le vane speranze e ’l van dolore, ove sia chi per prova intenda amore, spero trovar pietà, nonché perdono472 Pardonnez-moi mon ignorance Pardonnez-moi de ne plus connaître l’ancien jeu des vers Je ne sais plus rien et j’aime uniquement473

Wenn Reverdy in Self defence schreibt: «Nous voulons tellement comprendre que nous ne savons plus aimer»,474 wirkt dies wie ein Echo auf ‘Les fiançailles’, denn in diesen Versen wird nicht nur von der Regelpoetik («ancien jeu des vers») Abstand genommen, sondern auch die Vorrangstellung der Liebe vor dem Wissen betont – ein Motiv, das nicht nur in ‘voices to voices, lip to lip’ eminent ist, sondern dessen sich E.E. Cummings in seinem lyrischen Werk generell noch oft bedienen wird.

471 Ebda. 472 Francesco Petrarca: ‘1. Voi ch’ascoltate in rime sparse’. In: ders.: Canzoniere. Herausgegeben von Marco Santagata. Milano: Mondadori 2001 (I Meridiani), S. 5. 473 Guillaume Apollinaire: ‘Les fiançailles’ [1908]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 128–136, hier S. 132. 474 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 525.

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3.4 Instinkt und Emotion Die neue Dichtung baut nicht auf bestimmte Regeln oder auf das Fortführen von Konventionen. Stattdessen wird eine Poetik gesucht, die auf Instinkt und Intuition basiert und damit ein Gegenmodell zum wissenschaftlichen Denken bildet: «l’art véritable naît uniquement sous l’impulsion de l’intuition et ne résulte pas, retenez-le bien, de la réflexion. Les artistes qui veulent suivre les philosophes condamnent leur art à l’impuissance.»475 Wie in Alberto Savinios Hermaphrodito zum Vorschein kommt, wo es heißt: «Su da’ i miei istinti, insufficientemente cauterizzati dalle teorie positiviste, sento rinascere le inquietudini primitive»,476 ist die Betonung des Instinkthaften eine Gegenbewegung zu den positivistischen Theorien, deren Erklärungsmechanismen zu kurz greifen und das menschliche Leben in seiner Fülle und Variation nur unzureichend zu beschreiben vermögen. Die Hervorhebung des Instinktbegriffs ist auf den ersten Blick – und insbesondere im Fall des Futurismus – ein Mittel, um sich vom Akademismus und klassizistischen Literaturmodellen befreien zu können und zu einer individuelleren, freieren und neue Möglichkeiten des Ausdrucks erkundenden Malerei und Dichtung zu gelangen.477 Neben Apollinaire sieht auch Soffici die Wichtigkeit der Autonomie der Kunst und ihrer Unabhängigkeit von jeglichen Systemen.478 Diese Unabhängigkeit wird in seinem Verständnis erreicht, indem der Künstler seiner inneren Stimme folge, ganz nach dem Vorbild der «primitivi artisti», welche gemalt, gesungen und getanzt haben «per dare sfogo alla piena traboccante dei loro sentimenti, per una propulsione istintiva del loro genio».479 Auch Apollinaire bewundert die Ausdruckskraft von Instinkt und Leidenschaft, die er hinter der indigenen Kunst sieht. Ihm zufolge kann die Auseinandersetzung mit afrikanischen Statuetten dem zeitgenössischen Künstler helfen, seinen persönlichen Stil zu entwickeln, insbesondere, da diese «proportionnées selon les passions qui les ont inspirées»480 seien. ‘Instinkt’ bezeichnet bei Apollinaire oft eine prälogische

475 Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 993. 476 Alberto Savinio: ‘La partenza dell’argonauta’. In: ders.: Hermaphrodito e altri romanzi. Milano: Adelphi 1995, S. 107–158, hier: S. 107 f. 477 In Valentine de Saint-Points Manifest der futuristischen Frau ist es gerade der Instinkt, der vor Sentimentalismus schützt und zu einer neuen Freiheit der Frau führt, die jenseits von feministischen Forderungen steht. Valentine de Saint-Point: Manifeste de la femme futuriste. Réponse à F. T. Marinetti. Milano: Direction du Mouvement futuriste 1912. 478 «questa estetica sia autonoma: che non possa cioè riferirsi e collegarsi ad alcun sistema, ma rampolli unicamente dal fatto artistico ed a quello unicamente si attenga e si riferisca.» Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 686. Hervorhebung im Original. 479 Ebda., S. 687. 480 Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 102.

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Emotion, die dem Unbewussten zuzurechnen ist.481 Apollinaire verwendet ihn auf diese Weise häufig im Zusammenhang mit dem Künstler Henri Matisse: «L’instinct était retrouvé. Vous soumettiez enfin votre conscience humaine à l’inconscience naturelle.»482 Auch hier steht der Instinkt ganz im Zeichen des ‘art pur’, der Besinnung auf Grundprinzipien: «Vous [Matisse] m’avez dit: ‘Je me suis efforcé de développer cette personnalité en comptant surtout sur mon instinct, en revenant souvent aux principes’». Der Instinkt scheint dem Künstler eine Rückkehr zu den künstlerischen Grundlagen zu ermöglichen. Matisse ist auch einer der Künstler, die Apollinaire zum ‘cubisme instinctif’ zählt, der eine Richtung des Kubismus darstellt und sich vom ‘cubisme scientifique’ unterscheidet. «Le ‘cubisme instinctif’», schreibt Apollinaire in seinen Méditations esthétiques, «art de peindre des ensembles nouveaux empruntés non à la réalité visuelle, mais à celle que suggèrent à l’artiste l’instinct et l’intuition, tend depuis longtemps à l’orphisme […] le cubisme instinctif comprend un très grand nombre d’artistes.»483 Wie bei Soffici ist auch in Apollinaires Gedanken der Instinkt damit ein Faktor, der eine autonome Kunst möglich macht. Weitere dem ‘cubisme instinctif’ zugehörige Künstler sind Derain, Dufy, Van Dongen, Severini und Boccioni. Die ‘emotionale Kraft’ als Mittel zur Welterschließung, als ein Berührungspunkt von kindlichem und mythischem Denken führt Cassirer als Gegenmodell zur objektiven Wahrheit des wissenschaftlichen Erkenntnismodells an: «The world of a child or a primitive man seems still, to a large degree, to consist of such emotional qualities […] Even the work of art is filled out, so to speak, impregnated and saturated with these qualities.»484 Laut Cassirer werden in Kunstwerken diese «emotional qualities» zum Ausdruck gebracht, erfahren aber durch die Objektivierung eine Transformation, denn im Kunstwerk sind sie «no longer the decisive feature; they are the material of the work of art, but they do not constitute its essence.»485 Diese Objektivierung durch die Kunst ist in Apollinaires und Reverdys Ästhetik reflektiert. Sie ist von zentraler Bedeutung, um Literatur als autonome Systeme zu verstehen. Zwar ist der Instinkt für Apollinaire ein wesentlicher Bestandteil des ‘art pur’,486 jedoch würde er Sofficis Verwendung des Instinktbegriffs, der trotz des

481 Hier zeichnet sich bereits Apollinaires Interesse für psychoanalytische Themen ab. Dazu Peter Read: Apollinaire et le docteur Vinchon: poésie, psychanalyse et les débuts du surréalisme. In: Laurence Campa (Hg.): Apollinaire en archipel. Revue des Sciences Humaines 307, 3 (2012), S. 35–59. 482 Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 101. 483 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 16. 484 Ernst Cassirer: The Educational Value of Art, S. 214. 485 Ebda. 486 «Considérer la pureté, c’est baptiser l’instinct, c’est humaniser l’art et diviniser la personnalité.» Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 6.

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Autonomiebestrebens stark an einen persönlich-sentimentalen Gefühlsausdruck angelehnt scheint, nicht zustimmen: Er kritisiert am Futurismus, er würde sich nur dem Subjekt widmen und dessen Seelenzustand abbilden wollen, ohne sich hingegen an der Natur zu orientieren und ohne sich plastische Fragen zu stellen.487 Bei Apollinaire scheint der Instinktbegriff auf einen rein ästhetischen Kontext bezogen zu sein – als Mittel, zu den Prinzipien der Kunst zu gelangen – und nicht auf persönliche Fragestellungen. Bei genauerer Betrachtung wird daher deutlich, warum die Begriffe ‘Instinkt’ und ‘Logik’ bei Apollinaire nur scheinbar als Dichotomien auftreten. Wenn Apollinaire die Kunst des primitivistischen Künstlers Henri Matisse beschreibt, bedient er sich gleichermaßen der semantischen Felder von Instinkt, Leidenschaft und Logik und verknüpft die als vermeintlich unvereinbar angesehenen Begriffe: «le propre de l’art de Matisse est d’être raisonnable. Que cette raison soit tour à tour passionnée ou tendre, elle s’exprime assez purement pour qu’on l’entende. […] Il doit sa nouveauté à son instinct ou connaissance de soi-même.»488 Die Logik scheint mit den Leidenschaften und Instinkten nicht im Konflikt zu stehen, sondern ihnen geradezu zu folgen.

3.5 Logik des Kunstwerks, Logik des mythischen Denkens Eine Form der Distanzierung vom wissenschaftlichen Denken bestand also nicht in der vollständigen Ablehnung ihrer Grundbegriffe, sondern in deren Aneignung und Umdefinierung. Dies zeigt sich besonders anhand der Begriffe ‘Logik’ und ‘Ordnung’. Nicht der Begriff ‘Logik’ wird abgelehnt, sondern das, was gemeinhin damit assoziiert wird: Ein Denkverfahren, das dem positivistischen, aufgeklärt wissenschaftlichen Weltbild dient. Als ‘logisch’ gilt nicht mehr ein ableitbares, argumentbasiertes mathematisches Theoriedenken – Logik und Ordnung werden zu kulturpragmatischen, ästhetischen Kategorien. Diese Umdefinierung zeigt sich in den Worten Picassos, die Apollinaire in ‘Propos de Picasso’ wiedergibt: Mes plus grandes émotions artistiques, je les ai ressenties lorsque m’apparut soudain la sublime beauté des sculptures exécutées par les artistes anonymes de l’Afrique. Ces

487 «Les futuristes, eux, n’ont presque pas de préoccupations plastiques. La nature ne les intéresse pas. Ils se préoccupent avant tout du sujet. Ils veulent peindre des états d’âme. C’est la peinture la plus dangereuse que l’on puisse imaginer.» Guillaume Apollinaire: Chroniques d’art. Les futuristes. In: PrII, S. 411. 488 Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 102.

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ouvrages d’un art religieux, passionné et rigoureusement logique sont ce que l’imagination humaine a produit de plus puissant et de plus beau.489

Es ist bemerkenswert, dass Picasso von einer «strengen Logik» im Zusammenhang mit Imagination und Leidenschaft spricht. Das Prinzip der Logik ist nicht nur wissenschaftlichen Abhandlungen vorbehalten, auch Kunstwerke verfügen über eine eigene Logik. Damit wird einmal mehr die Vorstellung, die Kunst wäre das Produkt eines unbewussten Geniestreichs, zurückgewiesen. ‘Instinkt’ hat hier also nicht die Bedeutung eines unkontrollierten Urtriebs, sondern wird im Gegenteil zu einer Instanz umdefiniert, die Ordnung konstituiert. Besonders bemerkenswert ist dies, weil Picasso von der ‘primitiven’ Kunst spricht. Es zeigt sich wieder, dass es in der Ästhetik des mythischen Denkens weder um einen Diskurs des ‘Wilden’ und ‘Unbeherrschten’ noch um ein exotistisches Interesse geht – Picasso fügt hinzu: «Je me hâte d’ajouter que, cependant, je déteste l’exotisme.»490 Die Logik des Kunstwerks ist nicht das Ergebnis vorgefertigter Regeln oder Doktrinen, sondern Ergebnis der künstlerischen Produktion. So lobt Apollinaire die Kunst Georges Braques, da sie nicht «le mysticisme des dévots, la psychologie des littérateurs, ni la logique démonstrative des savants»491 enthalte, und betont, dass es sich beim Kubismus um kein einschränkendes System handle, indem er ihn als «manifestation nouvelle et très élevée de l’art, mais non point un système contraignant les talents»492 charakterisiert. In Picassos Werk sieht Apollinaire diesen Anspruch verwirklicht. Am deutlichsten wird Apollinaires Position daher, wenn er über seinen von ihm hochgeschätzten Freund schreibt, dieser habe sich niemals dazu herabgelassen, seine künstlerischen Ansichten systematisch zu äußern: Avec moi qui suis, je crois, son meilleur ami, Picasso, dont les jugements artistiques et littéraires sont les plus justes qui soient, n’a jamais tenu un discours suivi sur l’art; et Dieu sait que nous avons souvent parlé d’art. Jamais il n’a exposé sa doctrine en phrases lapidaires, jamais il ne s’est vanté d’avoir un système493

Diese Ansicht vertritt auch Cendrars: «Aussi chez lui, nulle analyse scientifique, nulle théorie protestante, nul mensonge préconçu».494 Apollinaire fährt fort, es würde genügen, Picassos Werk zu betrachten, um die ‘innere Logik’ zu entschlüsseln: «et ceux qui ont eu l’occasion de voir les tableaux des différentes

489 Guillaume Apollinaire: Propos de Pablo Picasso [1918]. In: PrII, S. 875 ff., hier S. 876. 490 Ebda. 491 Guillaume Apollinaire: Georges Braque [1908]. In: PrII, S. 110 ff., hier S. 112. 492 Guillaume Apollinaire: ‘Préface’ [1911]. In: PrII, S. 358. 493 Guillaume Apollinaire: Propos de Pablo Picasso. In: PrII, S. 876. 494 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 66.

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époques de sa vie d’artiste ont pu se rendre un compte exact de la logique avec laquelle son œuvre entière s’est développée.»495 An dieser Stelle lässt sich erkennen, dass es der Avantgarde nicht um die Vernichtung der Logik an sich ging, sondern um den Gedanken, dass die Kunstwerke selbst eine Logik offenbaren und damit eine eigene Anleitung, sie zu verstehen, beinhalten. In Picassos Verweis auf die Logik der indigenen Kunst und in Apollinaires Betonung, Picassos Werk habe eine Logik, zeigt sich in doppelter Weise das Paradigma des beginnenden 20. Jahrhunderts, Alternativen zur wissenschaftlichen Logik zu erkunden: Nicht nur der Kunst wird eine eigene Logik und Ordnung zugestanden – sie wird damit als Erkenntnisinstrument neben die Wissenschaft gestellt –, sondern auch den Werken der bis dato als ungebildet und unzivilisiert angesehenen indigenen Kulturen. Dieses Paradigma zeigt sich auch in Cassirers Kulturtheorie, denn ebenso wie die Wissenschaft sind laut Cassirer auch die Kunst und das mythische Denken nicht willkürlich, sondern logisch: «And it is not only poetry that is bound to the words of our common language, but also all the other arts have a strictly objective side and, so to say, a logic of their own.»496 Die Auseinandersetzung mit indigenen Kulturen und die Untersuchung ihrer Welt und ihres Denkens, aber auch der Umstand, dass diese als gültig und vernünftig anerkannt werden, stehen in einem direkten Verhältnis zur ästhetischen Sphäre: Nicht nur der Kunstwerkstatus der indigenen Werke wird thematisiert, sondern auch der geistige Charakter der ‘primitiven’ Kunst betont, beispielsweise wenn Réja von einem «véritable travail cérébral de digestion, de synthèse»497 spricht. Es zeigt sich an dieser Stelle wieder, dass die Dichotomie von Logos und Mythos zu kurz greift.498 Das mythische Denken besitzt ein eigenes Prinzip, ist aber im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken nicht an eine bestimmte Regel gebunden.499 In diesem Sinne hat das mythische Denken zwar ein System, es handelt sich aber eher um ein ‘offenes’ System: «Ein offenes System ist eine organische Architektonik, die zum einen innerlich anwachsen, als potentiell unendlich differenziert werden kann und die zum anderen zu jedem Zeitpunkt revisionsfähig bleibt, weil ihr die absolute Verankerung in obersten Prinzipien fehlt.»500 Damit ist gemeint, dass es 495 Guillaume Apollinaire: Propos de Pablo Picasso. In: PrII, S. 876. 496 LAII, S. 190. 497 Marcel Réja: L’art chez les fous. Le dessin, la prose, la poésie, S. 101. 498 Eine Zusammenfassung dazu, dass die Begriffe ‘ratio’ und ‘logos’ als Gegenkategorie zum Mythos problematisch ist, bei Michael Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum myhischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 23 ff. 499 «If this thought is bound to any definite rule it is not a rule that may be compared with the rules of nature and of scientific thought.» LAII, S. 173. 500 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 36. Cassirers symbolische Formen sind laut Kreis als ein offenes System konzipiert.

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Zusammenhänge generiert, ohne den Elementen einen starren, festgelegten Platz zuzuweisen. In dieser Offenheit, die aber dennoch nicht willkürlich ist, besteht das große Identifikationspotential der Künstler und Schriftsteller mit den indigenen Denk- und Ausdrucksformen. Statt der Logik von kausalen Ableitungen herrscht hier eine eigene physiognomische Logik der Entsprechung und Ähnlichkeit. Diese durch Assoziation bewerkstelligte Kausalität des mythischen Denkens, in der sich objektive Wahrnehmungsmomente und subjektive Gefühlsmomente verschränken und vernetzen, ist charakteristisch für die Ästhetik der frühen Avantgarde.

3.6 Ordnung und Einheit des Kunstwerks Wie das mythische Denken ist die Kunst ‘frei’ und dennoch nicht ohne Prinzip. Sowohl Kunstwerke als auch die mythische Denkform besitzen eine eigene Logik und stellen sich darin als autonome Ordnungen dar. Die Ablehnung von Doktrinen und Regeln richtet sich bei Apollinaire und Reverdy nicht per se an ein Kunstverständnis, das den Kunstwerkbegriff abschafft und das Chaos walten lässt. Schöpfung heißt für Apollinaire, Ordnung in das Chaos zu bringen: «l’ordre […] est la plus divine des audaces puisque créer n’est rien autre qu’ordonner un chaos.»501 Die Ordnung ist das Ergebnis der Kunst, ohne sie würde sich alles in Chaos auflösen: Sans les poètes, sans les artistes les hommes s’ennuieraient vite de la monotonie naturelle. L’idée sublime qu’ils ont de l’univers retomberait avec une vitesse vertigineuse. L’ordre qui paraît dans la nature et qui n’est qu’un effet de l’art s’évanouirait aussitôt. Tout se déferait dans le chaos.502

Ordnung ist jedoch auch als spezifisch französische Eigenschaft ein wesentlicher Teil seiner Ästhetik und steht nicht im Konflikt mit dem Ideal der Freiheit: l’esprit nouveau se réclame avant tout de l’ordre et du devoir qui sont les grandes qualités classiques par quoi se manifeste le plus hautement l’esprit français, et il leur adjoint la liberté. Cette liberté et cet ordre qui se confondent dans l’esprit nouveau sont sa caractéristique et sa force.503

501 Guillaume Apollinaire: Les poètes d’aujourd’hui. In: PrII, S. 915. Apollinaire wiederholt dies an mehreren Stellen, vgl. auch in Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 24 und S. 27. Siehe auch: Les poèmes de l’année. In: PrII, S. 903. 502 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12 f. 503 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 946.

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In ‘La jolie rousse’ macht Apollinaire auf die Signifikanz dieser Dualität für die neue Dichtung aufmerksam und zeigt, dass in der neuen Lyrik Freiheit, symbolisiert durch «l’aventure», und Ordnung einander nicht ausschließen: Je juge cette longue querelle de la tradition et de l’invention De l’Ordre et de l’Aventure Vous dont la bouche est faite à l’image de celle de Dieu Bouche qui est l’ordre même Soyez indulgents quand vous nous comparez A ceux qui furent la perfection de l’ordre Nous qui quêtons partout l’aventure Nous ne sommes pas vos ennemis504

Dieses von Apollinaire als ‘französisch’ angesehene Ideal ist auch die Ursache für seine Distanzierung von dem stärker an Destruktion und Dissonanzen orientierten italienischen Futurismus: Mais généralement vous ne trouverez pas en France de ces ‘paroles en liberté’ jusqu’où ont été poussées les surenchères futuristes, italienne et russe, filles excessives de l’esprit nouveau, car la France répugne au désordre. On y revient volontiers aux principes, mais on a horreur du chaos.505

Ebenso wenig wie der Instinktbegriff der Logik entgegengesetzt ist, steht er im Gegensatz zum Ordnungsbegriff. Im Gegenteil wird ‘Instinkt’ bei Apollinaire zu einem Leitbegriff für Taktmaß, Proportionierung und Ordnung: «Ordonner un chaos, voilà la création. Et si le but de l’artiste est de créer, il faut un ordre dont l’instinct sera la mesure.»506 Die Logik des Kunstwerks besteht also in einer Ordnung, welche Reverdy als Struktur versteht: «La logique d’une œuvre d’art c’est sa structure. Du moment que cet ensemble s’équilibre et qu’il tient c’est qu’il est logique.»507 Das Augenmerk auf die Struktur ist ein Distinktionsmerkmal der neuen Kunst. Reverdy schreibt: «On assiste à notre époque à une transformation fondamentale de l’art. Au lieu d’un changement de sentiment il s’agit d’une nouvelle structure d’où résulte une fin toute neuve.»508 Die Neuartigkeit seiner Kunst sieht Reverdy nicht auf einer thematischen Ebene – also auch nicht darin, dass jetzt Automobile und das Großstadtleben Motive sind –, sondern in einer strukturellen

504 505 506 507 508

Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 313. Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 945. Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 101. Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 521. Ebda.

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Veränderung.509 Diese Veränderung betrifft auch die dichterische Sprache. Ein «moyen de création littéraire»510 ist für Reverdy die Syntax. Reverdy versteht darunter eine «disposition de mots»511, wobei sich die Dichter nicht nach vorgeprägten Modellen richten sollen: «Pour un art nouveau une syntaxe nouvelle était à prévoir; elle devait fatalement venir mettre dans le nouvel ordre les mots dont nous devions nous servir.»512 Dasselbe trifft auch auf die Interpunktion zu. Was Soffici in ‘Ragione poetica’ vor allem als ein Zeichen der Freiheit hervorgehoben hat, interpretiert Reverdy als Ordnung: den Wegfall der Zeichensetzung. Er schreibt: «Ce n’est donc pas une liberté c’est au contraire un ordre supérieur qui apporte une clarté nouvelle et ne peut se concilier qu’à des œuvres simples et d’une grande pureté.»513 An diesem Beispiel zeigt sich erneut die Umdefinierung von Begriffen, die bisher der Charakterisierung des wissenschaftlichen Denkens und Weltbildes vorbehalten waren. Die Fokussierung auf Strukturen und ihr Verständnis als alternative Formen von Logik und Ordnung sind typische Kennzeichen des PrimitivismusDiskurses, welche sich hier in der ästhetischen Sphäre, bei Cassirer im Verständnis des Mythos als Wahrnehmungs- und Denkstruktur äußern. Die Struktur des Kunstwerks bezeichnet Reverdy als «ensemble», welches zentral für sein Gelingen sei: «Une œuvre peut frapper par son ensemble une sensibilité faite pour l’admettre en bloc; pour d’autres quelques détails plus accessibles entraînent peu à peu à aimer l’ensemble.»514 Diese Einheit ist konstitutiv für die Autonomie des Werks und seinen Kunstwerkcharakter. Die Logik des Kunstwerks, ausgedrückt durch das «ensemble», ist eine Fortführung des HarmonieGedankens, da dieser Begriff aussagt, kein Teil des Kunstwerks könne entfernt werden, ohne das Gleichgewicht und damit das Kunstwerk selbst zu zerstören: «Œuvre indivisible dont on ne peut transporter l’anecdote nue d’un côté, les

509 Die ästhetische Theorie von der Autonomie des Kunstwerks des Cassirer-Experten Guido Kreis steht den ästhetischen Überlegungen der Avantgarde damit sehr nahe: «Kunstwerke, wie alle geistigen Gegenstände [sind] Ordnungszusammenhänge […]. Die ästhetische Ontologie des Kunstwerkes ist deshalb nicht die Theorie einer besonderen Substanz, sondern die Ontologie einer funktionalen Ordnung.» Guido Kreis: Kunstwerke als autonome Ordnungen. In: Jens Halfwassen/Markus Gabriel (Hg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 2008, S. 295–313, hier S. 301. 510 Pierre Reverdy: Syntaxe [1918]. In: ROCI, S. 500 f., hier S. 501. 511 Ebda. 512 Ebda., S. 500. 513 Pierre Reverdy: Ponctuation [1917]. In: ROCI, S. 487. 514 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 525. Auch hier zeigt sich die Nähe von Kreis’ Überlegungen zur Ästhetik der Avantgarde: «Man kann auch sagen: der Ordnungszusammenhang des Werkes stiftet allererst die Bedeutung seiner einzelnen Momente.» Guido Kreis: Kunstwerke als autonome Ordnungen, S. 302.

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idées d’un autre en laissant l’art ailleurs. Qu’on l’ait sous les yeux ou devant sa mémoire l’œuvre ne doit jamais se présenter que comme un ensemble qu’on ne peut dessouder.»515 Auch bei Apollinaire findet sich dieser Gedanke, wenn er schreibt, das Ergebnis des «cubisme orphique» seien «ensembles nouveaux», das heißt neue Gegenstände, die sich aber aus mehreren bekannten Elementen («éléments empruntés») zusammensetzen.516 Aus Bekanntem kann so Neues entstehen, welches dennoch eine Einheit mit eigenen Gesetzen bildet. Dies zeige sich in den Bildern von Georges Braque: «Ses toiles ont l’unité qui les rend nécessaires. Pour le peintre, pour le poète, pour les artistes (c’est ce qui les différencie des autres hommes, et surtout des savants), chaque œuvre devient un univers nouveau avec ses lois particulières.»517 Diese Einheit, diese Logik wird nun auch in der indigenen Kunst erkannt, wie Paul Guillaume verdeutlicht: on observe dans les meilleures œuvres un effet d’unité et d’harmonie contenues, tel que celui caractérisant toutes les œuvres d’art de l’ordre le plus haut. Chaque partie est reliée à chacune des autres, et il n’y a pas de fragments lâches, pas de notes discordantes ou de détails sans intérêt518

Damit drückt sich einmal mehr die Wertschätzung der afrikanischen Kunst aus sowie der Umstand, dass der Logikbegriff nicht mehr nur auf ein westlich-wissenschaftliches Denken angewandt wird.

3.7 Liberté d’esprit statt Schule und Tradition Obwohl der Futurismus in seinem Wunsch nach Unkonventionalität die Zerstörung der Logik fordert – «sozzura di logica»519 heißt es abwertend in ‘Uccidiamo il chiaro di luna’ –, erscheint das Vorgehen der Futuristen jedoch sehr systematisch. Als Strömung, die sich vor allem über Manifeste definiert, wirft Apollinaire dem Futurismus 1912 vor, er würde nur aus theoretischen Überlegungen bestehen, aber keine eigene Kunst hervorbringen. Er kritisiert: «les peintres futuristes ont eu jusqu’ici plus d’idées philosophiques et littéraires que d’idées plastiques.»520 Er wirft Marinetti vor, er habe nur Manifeste geschaffen.521 Gegen

515 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 529. 516 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 16. 517 Guillaume Apollinaire: Georges Braque. In: PrII, S. 112. 518 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 89 f. 519 Filippo Tommaso Marinetti: Uccidiamo il chiaro di luna. In: MTI, S. 19. 520 Guillaume Apollinaire: Chroniques d’art. Les futuristes. In: PrII, S. 409. 521 Guillaume Apollinaire: Futurisme italien [1916]. In: PrIII, 245.

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eine Literatur, in der man «trop de science élémentaire, trop de philosophie puérile» mit «ces théories misérables qui corrompent le goût en voulant le fixer» betreibe, stellt er die «liberté d’esprit».522 Die Befreiung von äußeren Zwängen ermöglicht den kreativen Schöpfungsprozess. Zwang und Einschränkungen werden mit Unproduktivität verbunden. Genauso wenig wie Apollinaire an bestehende Schulen anknüpfen möchte, will er selbst eine eigene Schule im kategorischen Sinne gründen523. So lobt er beispielsweise den Dichter Émile Cottinet, da er sich keiner Schule zugehörig fühle.524 Der Titel von Apollinaires eigenem, einem poetologischen Manifest am nächsten kommenden Text ‘L’esprit nouveau et les poètes’ zeigt auch hier, dass die Dichter sich in einem gemeinsamen ‘Geist’ sehen, aber dennoch nicht durch eine Bezeichnung festgelegt werden wollen: «Le groupe poétique dont je parle, Mesdames et Messieurs, n’a choisi aucune dénomination, l’histoire se chargera de lui en décerner une.»525 Der ‘esprit’-Begriff ermöglicht durch seine zum einen freiheitliche Konnotation, zum anderen aber verbindende Funktion, die Kunst jenseits von akademischen Zwängen zu entwickeln, ohne dabei Willkür herrschen zu lassen. Apollinaire betont: «l’esprit nouveau […] ne lutte point contre quelque école que ce soit, car il ne veut pas être une école, mais un des grands courants de la littérature englobant toutes les écoles, depuis le symbolisme et le naturisme.»526 Reverdy knüpft in Self defence (1919) an Apollinaires ‘L’esprit nouveau’ an. Statt davon, einer Schule oder einer bestimmten Bewegung anzugehören, spricht auch Reverdy von einem «esprit»: «C’est l’esprit qui fournit les moyens. Les moyens différencient les œuvres. L’esprit fait époque. […] Les auteurs d’aujourd’hui qui exercent une influence sont ceux qui apportent le nouvel esprit.»527 Auch ihm geht es nicht darum, ganz bestimmte lyrische Verfahren anzuwenden, die eine Schule konstituieren würden, sondern um eine geistige Verwandtschaft – die natürlich nicht als intellektuelle Kategorie, sondern eher als eine geistige Gestimmtheit verstanden werden soll.528 Der ‘esprit’-Begriff ist gerade bei Reverdy auch als ‘Zeitgeist’ zu fassen und betont daher auch die Nähe zum modernen Lebensgefühl.529 Nicht

522 Guillaume Apollinaire: Littérature féminine [1909]. In: PrII, S. 917–927, hier S. 923. 523 Dies gilt auch für Cendrars, vgl. Claude Leroy: Modernité chez Cendrars. L’amour des commencements, S. 102. 524 Guillaume Apollinaire: Les poèmes de l’année. In: PrII, S. 905. 525 Guillaume Apollinaire: Les poètes d’aujourdhui. In: PrII, S. 915. 526 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 953. 527 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 519. 528 Vgl. ebda. 529 Die alten Dichter, die sich dem neuen Geist anschließen, sind daher auch jung, weil sie mit der Zeit gehen und nicht in der Vergangenheit verhaftet sind: «Il est logique que les jeunes poètes qui apparaissent participent de l’esprit le plus nouveau de leur époque. Il n’est peut-

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zuletzt hatte auch Paul Guillaume von einem «esprit de l’époque», der durch die afrikanische Kunst beeinflusst ist und welcher der Literatur und Kunst der Avantgarde zugrunde liegt, gesprochen.530 Die Ablehnung der Zugehörigkeit zu einer Schule ist ebenfalls Ausdruck des Universalitätsanspruchs der neuen Dichtung. Ebensowenig wie Apollinaire möchte sich Soffici einer festen Zuordnung unterwerfen. Aus diesem Grund distanziert er sich in Primi principi di una estetica futurista (1920) ausdrücklich von Marinetti und seiner «dottrina del Movimento Futurista».531 Vor diesem Hintergrund sollen auch seine ästhetischen Ausführungen nicht als ein systematisches oder methodisches Werk verstanden werden, sondern als «semplici note ed appunti».532 Auch Apollinaire pflegt in seinen nicht-literarischen Texten einen essayistischen Stil. Laurence Campa betont deswegen, Apollinaires Denken «s’est toujours refusé à être systématique»,533 er habe «un goût très limité pour la démonstration et la logique.»534 Wegen dieses Mangels an konzeptueller und logischer Strenge und ihrer geringen Abstraktionsebene werden Apollinaires theoretische Schriften insbesondere von den Surrealisten kritisiert. Aufgrund seines diskursiven Stils wird ihm eine Schwäche seiner Reflexionsfähigkeit unterstellt. In Bretons ‘Manifeste du surréalisme’ (1924) heißt es: «Apollinaire n’ayant possédé, par contre, que la lettre, encore imparfaite, du surréalisme et s’étant montré impuissant à en donner un aperçu théorique qui nous retienne.»535 Neben anderen Kritikpunkten, etwa dass die späte Lyrik Apollinaires aufgrund seiner Kopfverletzung an Ausdruckskraft verloren habe, ist diese Darstellung Apollinaires durch Breton, die von der Literaturwissenschaft perpetuiert wird, vor allem dadurch motiviert, den Surrealismus und die eigene Person zu profilieren, wie von Lentengre und Campa ausführlich belegt worden ist.536 Campas Analyse ergibt, anders, als die Polemik Bretons suggeriert, dass Apollinaires ästhetische Texte nicht zusammenhangslos sind. Die Kohärenz in den Méditations esthétiques oder in ‘L’esprit nouveau’ entsteht weniger durch argumentative Strukturen. Stattdessen drückt sich Apollinaire

être pas moins logique que des poètes moins jeunes ayant déjà participé d’un autre esprit se rattachent à celui qu’ils voient se former au-devant d’eux mais là ils deviennent eux aussi des jeunes». Ebda., S. 520. 530 Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque. 531 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 681. 532 Ebda. 533 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 7. 534 Ebda., S. 11. 535 André Breton: Manifeste du surréalisme. In: ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2005, S. 7–60, hier S. 35. 536 Marie-Louise Lentengre: Apollinaire. Le Nouveau Lyrisme.

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bevorzugt metaphorisch aus, sodass auch seine ästhetischen Überlegungen oft die Form dessen annehmen, was sie beschreiben.537 Aus diesem Grund lässt sich nicht in dem Sinne von einer Ästhetik Apollinaires sprechen, dass er sie in einem grundlegenden dazu bestimmten Text dargelegt hätte. Seine ästhetischen Gedanken sind in verschiedenen Artikeln, Einleitungen, Konferenztexten, Briefen und in seinem eigenen literarischen Werk verstreut.

3.8 Dekanonisierung Die ‘primitiven’ Künstler unterscheidet von den kunstakademischen Malern der Wille, das Objekt wirklich zu erkennen, anstatt die Natur mit geschulten Augen vorgeprägt zu sehen, «c’est-à-dire d’après les conventions établies par les Maîtres, c’est-à-dire encore avec les yeux des autres.»538 Diese Passage aus Denis’ Artikel ‘De la gaucherie des primitifs’ macht deutlich, inwiefern die ‘primitiven’ Künstler ein Vorbild für eine unkonventionelle Kunst und für eine neue Malweise, welche sich auf Autonomie und Originalität des Künstlers stützt, werden konnten. Jeglicher Akademismus gilt als ein Antagonismus zur Originalität. Dass die afrikanischen Kunstwerke keiner (für sie) erkennbaren Schule angehören, ist den Dichtern sympathisch. Dieser Umstand erscheint als ein Beweis für die schöpferische Kraft der afrikanischen Kunst, da sie, frei von Gelehrsamkeit entstanden, nicht affektiert, sondern ursprünglich ist. Die «gaucherie des Primitifs», fährt Denis fort, sei ein Zeichen dafür, dass die Gegenstände nicht «d’après une idée préconçue de pittoresque ou d’esthétique», sondern «d’après la connaissance usuelle qu’ils [les primitifs] en ont»539 gemalt werden. Der ‘primitive’ Künstler gleicht in diesem Sinne wiederum einem Wissenschaftler, indem er nicht eine Mode oder einen bestimmten Moment in seiner Kunst einfangen will, sondern das Wesentliche, die Struktur: «c’est qu’il n’a jamais pensé peindre sous un jour d’exception, un instant unique d’un portrait, mais simplement l’idée objective qu’il s’en fait.»540 Auch dieser, im Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Arbeit behandelte Gedanke macht bereits deutlich, inwiefern der Primitivismus und das mythische Denken bei der Befreiung der Kunst von jeglichen vorgefertigten gesellschaftlichen oder ästhetischen Konzepten eine tragende

537 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 8 und S. 11. 538 Maurice Denis: De la gaucherie des primitifs, S. 174. 539 Ebda., S. 175. 540 Ebda. Hervorhebung im Original.

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Rolle gespielt haben. Die Gewichtung des Poetischen und das Wiedererkennen der ‘poésie’ in der indigenen Kunst richtet sich gegen den Akademismus541 und steht für eine neugewonnene Freiheit in der Kunst, die durch die Besinnung auf das Grundsätzliche gewonnen wird: «Oublions ces mots: collectionneur, amateur, historien, érudit, esthète. Il faut promener sa faim de bon aloi et saisir avec des mâchoires barbares. Loin des codes, des morales, des académismes. Lyrisme, tournez à gauche; prenez garde à la poésie … »542 Der ‘konventionelle’ Blick verhindert das Entdecken des Neuen und daher Modernen, wahrhaft Originellen, das Entdecken neuer ästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten. Darin zeigt sich ein weiterer Aspekt, wie sich das Interesse am ‘Primitiven’ gegen ein wissenschaftliches Weltbild und Gelehrsamkeit richtet und in der Konsequenz zur Ablehnung des bestehenden Kanons und der Bildung kanonischer Strukturen wie Schulen und Stilrichtungen beiträgt. Die Kunst der ‘Primitiven’ stellt somit eine Art ‘Geburtshelfer’ für eine neue Ästhetik dar, die sich als Avantgarde dezidiert «gegen bestehende Positionen»543 richtet. Dies äußert sich – zugegebenermaßen in unterschiedlichen Abstufungen und ideologischen Ausrichtungen – deutlich im Futurismus, der gegen den sogenannten ‘Passatismus’ vorgehen will, aber auch in der Absage von konventionellen Kunstformen durch die Dadaisten. Die «DEMOLIZIONE SISTEMATICA DEL PASSATISMO» wird als erste der «6 questioni fondamentali» des Futurismus angeführt.544 ‘Passatismo’ bezeichnet «il culto metodico e stupido del passato, l’immondo commercio delle nostalgie storiche.»545 Im Allgemeinen deckt sich dieser Begriff mit dem der Tradition, d. h. dem Gedanken, das Wissen der Vergangenheit konstituiere noch die Gegenwart und sei Basis und Vorbild der zeitgenössischen Kunst. Das futuristische Manifest richtet sich gegen die Unterordnung der modernen Kunst und setzt ihr eine selbstbewusste, ‘junge’ Ideologie der Behauptung und Befreiung entgegen: Ammirare un quadro antico equivale a versare la nostra sensibilità in un’urna funeraria, invece di proiettarla lontano, in violenti getti di creazione e di azione.

541 Vgl. Kapitel II.3 ‘Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild und Befreiung von Institutionen’ der vorliegenden Arbeit. 542 Paul Guillaume: Gratuitement. In: PG, S. 9–13, hier S. 7. Vgl. auch: Paul Guillaume: L’art des Noirs de l’Afrique, S. 25 f. 543 Winfried Wehle: Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma ‘moderner’ Literatur und Kunst, S. 10. Hervorhebung im Original. 544 Filippo Tommaso Marinetti: Gli sfruttatori del Futurismo [1914]. In: MTI, S. 108 ff., hier S. 108. 545 Filippo Tommaso Marinetti: Contro la Spagna passatista [1914]. In: MTI, S. 38–45, hier S. 44.

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Volete dunque sprecare tutte le vostre forze migliori, in questa eternale ed inutile ammirazione del passato, da cui uscite fatalmente esausti, diminuiti e calpesti? […] Per i moribondi, per gl’infermi, pei prigionieri, sia pure: – l’ammirabile passato è forse un balsamo ai loro mali, poiché per essi l’avvenire è sbarrato … Ma noi non vogliamo più saperne, del passato, noi, giovani e forti futuristi!546

Dass es sich um einen Aufbruch ins Unbekannte und Ungewisse handelt, gehört zum futuristischen Programm: «Diamoci in pasto all’Ignoto, non già per disperazione, ma soltanto per colmare i profondi pozzi dell’Assurdo!»547 Das «Ignoto» ist dem topischen Wissen der humanistischen Tradition der ‘Translatio studii’ diametral entgegengesetzt. Statt klassischer Kategorien wie Vernunft und Ordnung bilden Verrücktheit und Abenteuer die neuen Ideale: «Usciamo dalla saggezza come da un orribile guscio, e gettiamoci, come frutti pimentati d’orgoglio, entro la bocca immensa e tôrta del vento!».548 Der erste rein narrative Text der Gruppe, ‘Uccidiamo il chiaro di luna!’ (1909), thematisiert auf allegorische Weise ihre antipassatistische Haltung. Er erzählt von einer Schlacht der Futuristen, die verbündet mit den Verrückten und den aus ihren Käfigen befreiten Tieren gegen die passatistische Bevölkerung der Städte mit den sprechenden Namen Paralisi (= ‘Lähmung’) und Podagra (= ‘Gicht’) kämpfen. Paralisi und Podagra stehen sinnbildlich für die als morsch empfundene alte Ordnung und das als sentimental und passatistisch angesehene romantische Bewusstsein. Italien solle vor allem von seinem humanistischen und römischen Erbe befreit werden.549 In ‘Contro Roma passatista’ heißt es explizit, die «ruderi dell’antica Roma» seien schlimmer als Pest und Cholera.550 Analog dazu wenden sich Texte wie ‘Contro Venezia passatista’ (1910), ‘Contro la Spagna passatista’ (1911) gegen die «fedeli schiavi del passato».551 Der wiederholte Aufruf zur Zerstörung von Institutionen der Traditionswahrung552 richtet sich gegen alles Kanonische, von der Mona Lisa553 bis zum Baedeker.554 546 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 12. Hervorhebung im Original. 547 Ebda., S. 9. 548 Ebda. 549 Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: La Divina Commedia è un verminaio di glossatori [1915]. In: MTI, S. 266–268 und ders.: Trieste, la nostra bella polveriera [1915]. In: MTI, S. 289–290. 550 Filippo Tommaso Marinetti: Contro Roma passatista [1915]. In: MTI, S. 286 ff., hier S. 288. 551 Filippo Tommaso Marinetti: Contro Venezia passatista [1914]. In: MTI, S. 33–38, hier S. 36. 552 «date fuoco agli scaffali delle biblioteche! … Sviate il corso dei canali per inondare i musei! … » Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 13. 553 Ebda., S. 12. 554 Filippo Tommaso Marinetti: Contro la Spagna passatista. In: MTI, S. 45, ebenso in: ders.: Proclama futurista agli Spagnuoli [1915]. In: MTI, S. 272–280, hier S. 280.

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Aus einem avantgardistischen Ethos heraus markiert auch der Anfang von ‘Zone’, das womöglich einflussreichste Gedicht Guillaume Apollinaires, den Überdruss einer langen, vom antiken Erbe geprägten Tradition und bezeugt, dass die Avantgarde sich noch dazu genötigt sieht, sich in der lang andauernden ‘Querelle des anciens et des modernes’ zu positionieren: A la fin tu es las de ce monde ancien Bergère ô tour Eiffel le troupeau des ponts bêle ce matin Tu en as assez de vivre dans l’antiquité grecque et romaine555

Ein Endpunkt der ‘Querelle’ wird in dem Eröffnungsgedicht der Alcools jedoch noch nicht gesetzt. Der Einfluss der Antike reicht so weit, dass selbst das Symbol der Moderne, der Eiffelturm, in einem bukolischen Setting erscheint («Bergère ô tour Eiffel»). Sogar moderne Erfindungen wie das Auto wirken noch antik: «Ici même les automobiles ont l’air d’être anciennes».556 Damit spielt Apollinaire auf das beliebte Motiv der italienischen Futuristen an, die bereits 1909, drei Jahre vor dem Erscheinen von ‘Zone’, in der ‘Fondazione e Manifesto del Futurismo’ einen Schlussstrich unter die alte Welt ziehen. Bevor das futuristische Gründungsmanifest zu den einzelnen Forderungen kommt, endet die Erzählung mit einem Autounfall in einem Graben. Dieser wird jedoch nicht als problematisch, sondern lustvoll als Stärkung empfunden («di sotto la macchina capovolta, io mi sentii attraversare il cuore, deliziosamente, dal ferro arroventato della gioia!»557). Demgemäß ist das Auto im Futuristischen Manifest, anders als bei Apollinaire, der Inbegriff der Moderne und wird geradezu als Überbietung des antiken Schönheitsideals heranzitiert: «un automobile ruggente, che sembra correre sulla mitraglia, è più bello della Vittoria di Samotracia.»558 Obwohl die Eingangsverse von ‘Zone’ mit Marinettis Absage an die Antike übereinstimmen, bezeugen sie auch Apollinaires Distanz zur futuristischen Methode: Für Apollinaire bedeutet die Thematisierung moderner Technik keine grundsätzliche Innovation – Auto, Flugzeug und Eiffelturm ersetzen nur klassische durch neuere Motive und sind kein Garant für eine grundständige Erneuerung der Poesie –, auch deshalb, weil diese technischen Neuerungen irgendwann altmodisch geworden sein werden, wie Apollinaire in ‘La victoire’ reflektiert: «Songe que les

555 556 557 558

Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 39. Ebda. Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 9. Ebda., S. 10.

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chemins de fer/Seront démodés et abandonnés dans peu de temps».559 Helmut Meters Analyse der futuristischen Lyrik bestätigt dieses Auseinanderfallen des futuristischen Images, hinter dem sich letztlich wieder eine Naturalisierung alles Technischen verbirgt.560 Auch Apollinaire behauptet selbstbewusst, die neue Poesie stehe der alten in nichts nach, sie sei sogar weiter gegangen. In ‘Les poètes d’aujourd’hui’ (1909) macht er seinen Standpunkt deutlich: J’ai dit à plusieurs reprises et on l’a dit aussi avant moi: le XVIIe siècle et son classicisme pâliront sans doute à l’éclat qui sortira des lettres en ce XXe siècle. […] Aussi audacieux et peut-être plus que nos aînés, nous apportons à la langue des beautés toutes neuves par le renouvellement profond et très pur des images.561

Gleichzeitig sieht es Apollinaire nicht für notwendig an, die Tradition komplett abzustreifen. Das lyrische Ich aus ‘Les fiançailles’ entschuldigt sich dafür, dass es das «ancien jeu des vers»562 nicht mehr beherrsche. Der «esprit nouveau» situiert sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft: L’esprit nouveau qui s’annonce prétend avant tout hériter des classiques un solide bon sens, un esprit critique assuré, des vues d’ensemble sur l’univers et dans l’âme humaine, et le sens du devoir qui dépouille les sentiments et en limite ou plutôt en contient les manifestations. Il prétend encore hériter des romantiques une curiosité qui le pousse à explorer tous les domaines propres à fournir une matière littéraire qui permette d’exalter la vie sous quelque forme qu’elle se présente.563

So wird in ‘La jolie rousse’ das klassische Ideal der Ordnung mit der ins Unbekannte und Neue strebenden «aventure» verbunden. Die Spannung von «tradition» und «aventure», altem und neuem Zeitalter, traditioneller und moderner Poesie wird neben ‘La jolie rousse’ auch in Apollinaires Gedichten ‘La victoire’564 und ‘Les collines’565 thematisiert. Reverdy hat einen ganz ähnlichen Traditionsbegriff: Il s’agit de continuer et non de recommencer.

559 Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 312. 560 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus. Saarbrücken: Schäuble 1977, S. 27. 561 Guillaume Apollinaire: Les poètes d’aujourd’hui. In: PrII, S. 915. 562 Guillaume Apollinaire: ‘Les fiançailles’. In: Po, S. 132. 563 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 943. 564 Po, S. 309 ff. 565 Po, S. 171 ff.

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Imiter un art classique ou tout autre art classé, ce n’est pas rester dans la tradition, mais recommencer inutilement une chose déjà créée. […] Créer grâce à une sensibilité nouvelle, servie par des moyens nouveaux appropriés, des œuvres qui, par leur différence, sont un apport de plus au domaine de l’art c’est rester dans la tradition. C’est le seul effort qui soit utile. […] La tradition n’est pas un genre ou une forme particuliers mais un niveau déjà obtenu que certaines qualités – communes dans des circonstances données – nous permettent d’atteindre.566

In Reverdys Aussage zeigt sich, wie der Umgang mit der Tradition von der Avantgarde durch Aneignung und Umdefinierung und nicht durch Imitation geprägt ist. Dies gilt sogar für die Futuristen: Marinettis Aufruf zum Aufbruch («Andiamo, diss’io; andiamo, amici! Partiamo!»567), ist in ein mythisch anmutendes Narrativ eingebettet und mit topischen Bildern wie der Nachtwache, mythische Kreaturen wie Zentauren und den dantesken «tre belve» gespickt. Dass auch ‘Uccidiamo il chiaro di luna’, wie zahlreiche futuristische Werke, mythisch konfiguriert ist, wurde von der Forschung mehrfach thematisiert.568 Besonders hervorzuheben ist dabei, dass die Handlung anders, als zu erwarten wäre, nicht in einer geschichtlichen Zeit, d. h. auch nicht in der Zukunft verortet ist. Der Text, im ‘passato remoto’ verfasst, ähnelt in seiner archetypischen Raum-Zeit-Dimension apokalyptischen Texten und kosmogonischen Legenden. Trotz seiner anti-mythischen Bestrebungen fügt sich der Futurismus in den Diskurs des mythischen Denkens, da sich seine poetischen und künstlerischen Verfahren aus mythischen Elementen wie Metamorphose, Dynamik, Vermenschlichung, Verschmelzung von Subjekt und Materie, Tod und Wiedergeburt speisen.569 Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass in einer Zeit, in der sich künstlerische Tendenzen gegen die Vergangenheit und das kanonisch Gewordene richten, das Interesse für mythische und ‘primitive’ Formen, und damit für semantisch Zurückgewandtes, ausgeprägt ist. Unkonventionalität wird letztlich auch dadurch erreicht, indem sich auf das ganz Ursprüngliche, ahistorisch Wesentliche besonnen wird. Das zur Geschichte Gewordene wird durch das ersetzt, was keine Geschichte hat: In diesem Sinne ist auch für die Futuristen das Mythische relevant. Dies zeigt sich in ihrer Bejahung der ‘primitiven Instinkte’. So heißt es im Futuristischen Manifest, der Dichter müsse sich den ursprünglichen Elementen hingeben: «Bisogna che il poeta si prodighi, con ardore, sfarzo e munificenza, per aumentare l’entusiastico

566 Pierre Reverdy: Tradition [1918]. In: ROCI, S. 496 f. 567 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 8. 568 Tatiana Cescutti: Les origines du futurisme. Marinetti, poète symboliste (1902–1908). Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus. Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello. 569 Vgl. Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello. Auch Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus.

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fervore degli elementi primordiali.»570 Nur auf den ersten Blick scheint der Futurismus mit seiner vorwärtsgewandten Dynamik nichts mit dem Mythischen gemein zu haben, wenn er proklamiert, die Mythologien seien überwunden: «la mitologia e l’ideale mistico sono superati.»571 Damit ist indes die Mythologie der Gelehrten und Konservativen gemeint. Bei der Ablehnung der Vergangenheit durch die Futuristen handelt es sich hauptsächlich um ein Dekanonisierungsbestreben, das Abschaffen des Geschichtlichen als Institution: Sie wenden sich nicht gegen das Mythische, sondern das Mythologische. Aus diesem Grund ist die Zerstörung der eigenen Texte im Futurismus schon mitgedacht, nur so kann das futuristische Prinzip der Zerstörung und Erneuerung als Mythos überleben. Die Nachkommen werden die Futuristen nicht in den Bibliotheken auffinden – «non saremo là»572 –, stattdessen werden sie sie bei ihrer eigenen Bücherverbrennung antreffen. Marinetti beschreibt somit nicht die Zerstörung des Futurismus, sondern die Selbst-Dekanonisierung der eigenen Werke: «Essi ci troveranno alfine – una notte d’inverno – in aperta campagna, […] e ci vedranno accoccolati ai nostri aeroplani trepidanti e nell’atto di scaldarci le mani al fuocherello meschino che daranno i nostri libri d’oggi fiammeggiando sotto il volo delle nostre immagini.»573 Die Ablehnung alles Kanonischen, die Befürwortung des Unkonventionellen und die Suche nach dem ahistorisch Wesentlichen erklärt das Interesse an den mythischen Denkformen und der ‘primitiven’ Kunst. Zunächst steht sie als eine Alternative zu den Traditionen und akademischen Denkweisen zur Verfügung. Gerade bei der Diskussion um die Skulptur zeigt sich eindringlich der Wille, das Formprinzip der Antike zu überwinden, dem die Institutionen noch sehr verpflichtet sind: La critique académique répliqua que de pareils postulats étaient de pure fantaisie; disciplinés par les canons grecs qui régissent la beauté sculpturale, ses yeux se refusaient à voir en ces fétiches autre chose qu’un comique grotesque, repoussant ou, tout au plus, curieusement bizarre.574

Gleichzeitig werden durch die Operationen der Aneignung und Umdefinierung traditionell klassische Begriffe wie ‘Logik’ und ‘Ordnung’ auch auf die ‘primitive’ Kunst angewandt. Zum einen ist sie durch ihre vermeintliche Vorgeschichtlichkeit das Befreiungsinstrument der Künstler von allen Legitimationszwängen, gleichzeitig wird sie auch zur Legitimation herangezogen, indem das Mythische und das ‘Primitive’ – weil sie als zeitlos gefasst sind – zur Grundlage für die gesamte Ästhe-

570 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 10. 571 Ebda., S. 8. 572 Ebda., S. 13. 573 Ebda. 574 Paul Guillaume: Comment s’est développé le goût pour l’art africain, S. 10.

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tik und damit zu einer neuen Art von zeitloser ‘Klassik’ erkoren werden. In diesem Geist steht Apollinaires Aussage «le nouveau existe bien, sans être un progrès».575 Hinter der Denkfigur des ‘Primitiven’ verbirgt sich das Potential, von den Zwängen herkömmlicher Kategorien zurückzutreten. Den Hintergrund für die Ästhetik des mythischen Denkens bildet eine Auffassung von Kunst, die sich gegen eine rein positivistische Erklärbarkeit der Welt richtet. Den Dichtern der historischen Avantgarde geht es nicht um die Dekonstruktion jeglichen Sinnes und jeglicher Wahrheit, sondern um die Dekonstruktion des einen Sinnes und der einen Wahrheit, d. h. um eine Befreiung von den Ideologien des Logos und des Positivismus. Aus diesem Grund lehnen sie es auch ab, eine Schule zu bilden oder im Kanon verankert zu sein. Indem sie sich derselben Kategorien bedienen, diese jedoch umkodieren, wird deutlich, dass die Denkfigur des ‘Primitiven’ in den Gedanken einer Autonomie der Kunst mündet. Dies hat zur Konsequenz, dass die Kunst gleichberechtigt neben der Wissenschaft als Ausdruck von Wahrheit herausgestellt wird. Dieser Schritt ist auch in Cassirers Kulturtheorie angelegt.576

575 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 949. 576 Siehe Kapitel I.3 ‘Ernst Cassirer: Das mythische Denken’ der vorliegenden Arbeit.

III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung in der poetischen Praxis Nachdem in einem ersten Teil der primitivistische Diskurs und sein Einfluss auf die kunst- und literaturtheoretischen Betrachtungen untersucht worden ist, soll nun die poetische Praxis im Vordergrund stehen und gezeigt werden, wie der Diskurs in literarischen Werken sichtbar wird. Dazu werden Grundstrukturen des cassirerschen mythischen Denkens vorgestellt, und zwar schon mit Blick darauf, wie diese die Grundlage für die im Anschluss dargelegten poetischen Verfahren bilden. Dies dient zur Orientierung über die Funktionsweise des mythischen Denkens und soll das Verständnis für die folgenden Analysen erleichtern.

1 Grundstrukturen mythischen Denkens 1.1 Kausalität als Netzstruktur Das kausale Denken ist charakteristisch für das wissenschaftliche Denken. Die Kategorien von Ursache und Wirkung sind durchaus auch Grundbestand des mythischen Denkens.1 Wie das wissenschaftliche Denken nach Erkenntnis strebt, so ist es geradezu typisch für das mythische Denken, eine Erklärung für verschiedene Sachverhalte, für den Ursprung der Menschen und der Erde zu suchen: «Myth does not content itself with a description of what things are; it strives back to their origin, it wishes to know why they are. It contains a cosmology and a general anthropology.»2 Cassirer warnt, man möge nicht den Fehlschluss ziehen, dass es im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken im mythischen Denken keine Kausalität und keine Zusammenhänge gäbe. Denn das mythische Denken unterscheide sich nur in der «Form der kausalen Erklärung».3 Nur nach den Kriterien des empirischen Denkens ist das, was für den Mythos in eine kausale Beziehung gebracht wird und was als Ursprung etabliert wird, zufällig. Dabei kennt der Mythos den Zufall nicht, da alle Ereignisse in einem kausalen Netz verortet sind. Der Anfangspunkt aller kausalen Netze ist die «Anschauung des zweckhaften Wirkens – denn alle ‘Kräfte’ der Natur sind ihm [dem Mythos] nichts anderes als dämonische oder göttliche Willensäußerungen.»4 Cassirer bezeichnet diesen

1 2 3 4

Vgl. MD, S. 54. LAII, S. 187. MD, S. 60. Ebda., S. 61.

https://doi.org/10.1515/9783110736267-003

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Umstand, dass dem Mythos «gesetzlose Willkür» abgeht, sogar als eine «Art Hypertrophie des [...] kausalen Erklärungsbedürfnisses».5 Kausalität wird im mythischen Denken assoziativ hergestellt.6 Alles, was in einem unmittelbaren sinnlichen Eindruck zeitlich, örtlich oder auf andere Weise zusammentrifft, wird in ein kausales Verhältnis gebracht und als wesensgleich zusammengefasst. Im wissenschaftlichen Denken ist die Bewegung eine umgekehrte: Der sinnliche Eindruck wird in seine Bestandteile zerlegt und aus der Abfolge des Erscheinens entrissen, um die Bestandteile dann isoliert nach ihrem Wesen zu beurteilen und darauf aufbauend ihren kausalen Zusammenhang zueinander zu etablieren. Der Einzelvorgang wird durch eine analytische Handlung zu einem universalen Gesetz erhoben. Dieses der wissenschaftlichen Herangehensweise immanente ‘trennende’ Denken ist dem Mythos fremd. Hier wird der Einzelmoment nicht als Bedingung isoliert, sondern er bleibt in einem kausalen Netz bestehen: «Man hat es geradezu als Prinzip der mythischen Kausalität und der auf sie gegründeten ‘Physik’ bezeichnet, daß hier jede Berührung von Raum und Zeit unmittelbar als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung genommen wird.»7 Kausale Netze sind komplexe Vorstellungsweisen,8 in denen das Ganze als eine Einheit gefasst wird, die, in Einzelteile zerlegt, ihre Kraft und ihren Sinn verlieren würde. Der Sinn konstituiert sich also in der Ganzheit, nicht in der Summe der Einzelteile. Diese Vorstellungsweise des mythischen Denkens fasst Cassirer mit dem Begriff «polysynthetisch».9 Hierunter versteht er, «daß nur ein einziges ungeschiedenes Ganze[s] der Anschauung gegeben sei, in welchem noch keinerlei ‘Dissoziation’ der Einzelmomente, insbesondere auch der objektiven Wahrnehmungsmomente und der subjektiven Gefühlsmomente stattgefunden habe.»10 Diese Art des Denkens und Wahrnehmens ist daher präsentisch und kann die Form eines Augenblicksrauschs annehmen.11 Das Ganze lässt sich im mythischen Denken als dynamisches Prinzip des ‘Werdens’ verstehen. Das Werden verhindert ein Zerfallen in Einzelteile und bewahrt die Ganzheit. Im mythischen Denken gibt es keine Entfaltung des Ganzen in ein kettenartiges Nacheinander, stattdessen herrscht in ihm die Form des

5 Ebda., S. 59. 6 Vgl. ebda., S. 55. 7 Ebda., S. 56. 8 Vgl. ebda., S. 57. 9 Ebda. 10 Ebda. 11 Siehe das Kapitel III.3.3.3 ‘Präsenz und Augenblick’ der vorliegenden Arbeit.

1 Grundstrukturen mythischen Denkens

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«Ineinander».12 Diese Struktur äußert sich am deutlichsten in einem nicht-sukzessiven bzw. ahistorischen Zeitverständnis.13 Alle Teile werden derart zu einer Einheit zusammengefasst, dass sie wesensgleich, identisch werden: «Die Beziehungen, die er [der Mythos] setzt, sind so geartet, daß durch sie die Glieder, die in sie eingehen, nicht nur ein wechselseitiges ideelles Verhältnis eingehen, sondern daß sie geradezu miteinander identisch, daß sie ein und dasselbe Ding werden.»14 Diese dingliche Einheit der Relationsglieder nennt Cassirer «Koinzidenz» bzw. «Konkreszenz» und grenzt sie damit von der im wissenschaftlichen Denken vorherrschenden synthetischen Einheit ab.15 Für den Mythos gibt es daher «nur eine einzige ‘Seinsebene’», nämlich das unmittelbare Daseiende; es gibt nichts metaphysisch Nichtseiendes, keine «reinen ‘Formen’ der Anschauung und des Denkens»,16 die die Verbindungen zwischen den Dingen konstituieren. Daraus resultiert auch die Freiheit, unabhängig von den ontologischen und temporalen und örtlichen Ebenen im mythischen Denken alles miteinander in Beziehung setzen und verknüpfen zu können: Hier kann noch «alles aus allem werden, weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann.»17 Besonders in dem Interesse für Simultaneität und Ubiquität kommt diese Struktur in der Lyrik der Avantgarde zum Vorschein.18 Die Struktur des kausalen Netzes ist nicht nur für das Verständnis von Raum und Zeit von Bedeutung – denn im wissenschaftlichen Denken basiert Kausalität zumeist auf einer raum-zeitlichen Abfolge –, sondern auch für die Art und Weise, wie die Welt als ein Zusammenhängendes erfahren wird. In der Literatur äußert sich dies unter anderem in dem Motiv der Metamorphose und der Technik der Bildmetamorphosen.19

1.2 Nichtunterscheiden von Ideellem und Reellem Während das wissenschaftliche Denken versucht, Kausalität durch Beziehungsstrukturen herzustellen, führt das mythische Denken umgekehrt solche Struktu-

12 MD, S. 63. 13 Siehe das Kapitel III.3.3 ‘Der mythische Zeitbegriff und seine Figuration in der Lyrik’ der vorliegenden Arbeit. 14 MD, S. 77. 15 Vgl. ebda., S. 78. 16 Ebda. 17 Ebda., S. 58. 18 Siehe Kapitel III.2.3.2 ‘Ubiquität’ und III.3.3.4 ‘Simultaneität’ der vorliegenden Arbeit. 19 Siehe Kapitel III.2.2 ‘Metamorphosen und Polymorphien’ der vorliegenden Arbeit.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

ren auf Dingliches zurück, wie sich in Schöpfungsmythen zeigt, in denen metaphysische, spirituelle Inhalte als Körper gefasst werden: Während also das begrifflich-kausale Denken darauf ausgeht, alles Seiende in Beziehungen aufzulösen und aus ihnen zu verstehen, gelangt umgekehrt die mythische Ursprungsfrage erst dadurch zur Ruhe, daß sie selbst verwickelte Beziehungskomplexe – wie die Rhythmen einer Melodie oder die Gliederung der Kasten – auf ein zuvor gegebenes dingliches Dasein zurückführt. Auch alle bloßen Zuständlichkeiten oder Eigenschaften müssen dem Mythos, gemäß dieser seiner ursprünglichen Denkform, zuletzt zu Körpern werden.20

Geistige und transzendentale Erscheinungen verbleiben in der sinnlichen Form. Demzufolge müssen auch Eigenschaften im mythischen Denken als Substanzen gedacht werden.21 So wird beispielsweise Krankheit nicht als ein Prozess verstanden, sondern als ein Dämon, der von dem Körper Besitz genommen hat.22 Dynamik ist im Mythos also keinesfalls als ein geistiges Prinzip zu verstehen, das nach einer bestimmten Regel prozessual Veränderungen hervorruft. Dynamische Prozesse sind stattdessen materiell und substantialistisch zu begreifen, weshalb Cassirer diese substantialistische Dynamik «Übertragung» nennt.23 Dynamik bzw. Veränderung ist somit eine dinglich-substantielle Kraft, «ein eigenes stoffartiges Sein, das als solches von Ort zu Ort, von Subjekt zu Subjekt wandert.»24 In der Dichtung zeigt sich diese Struktur in der Inszenierung von Übergangsriten und Wiedergeburt.25 Aber auch in den Versuchen, Dynamik nicht durch die Illusion einer Fortbewegung, sondern beispielsweise durch Kontraste und andere sinnliche Wirkungen zu erzeugen, lassen sich Parallelen zu einem nicht-raumzeitlichen Verständnis von Dynamik ziehen.26 Den Mythos kennzeichnen zwei scheinbar entgegengesetzte Bewegungen: Die Anthropomorphisierung – dies macht, so Cassirer, die «mythische Phantasie»27 aus – und die Materialisierung von allem Geistigen, wodurch die mythische Denkform gekennzeichnet ist: Die mythische Phantasie dringt auf Belebung und Beseelung, auf durchgängige ‘Spiritualisierung’ des All; aber die mythische Denkform, die alle Qualitäten und Tätigkeiten, alle

20 MD, S. 68. 21 Vgl. ebda., S. 80. 22 Vgl. ebda., S. 72. 23 Vgl. ebda., S. 69 f. 24 Ebda., S. 71. 25 Siehe Kapitel III.3.3.2 ‘Bewegung, Kreislauf und Werden’ der vorliegenden Arbeit. 26 Siehe Kapitel III.2.1 ‘Bewegung und Lebendigkeit’ der vorliegenden Arbeit. 27 Ebda., S. 68.

1 Grundstrukturen mythischen Denkens

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Zustände und Beziehungen an ein festes Substrat bindet, führt immer wieder zum entgegengesetzten Extrem: zu einer Art Materialisierung geistiger Inhalte, zurück.28

Den Hintergrund für die beiden Tendenzen der Materialisation und Vergeistigung bildet ein Grundzug des mythischen Denkens, nach dem Ideelles und Reales nicht unterschieden werden. Der Gedanke eines Zeichens und eines Sinnbildes, das auf etwas (rück)verweist, ist dem mythischen Denken fremd. Stattdessen ist das Zeichen, analog der Struktur der Teil-Ganzes-Beziehung, das Ding selbst.29 Somit ist auch die Sprache – und gewissermaßen die Kunst – kein bloßes Sinnbild, sondern sie verfügt über reale Wirkkräfte: Überhaupt ist es ein allgemeines magisches Prinzip, daß man Dinge, auch ohne eine in unserem Sinne ‘zweckmäßige’ Handlung vorzunehmen, lediglich durch ihre mimische Darstellung in seinen Besitz bringen kann – weil es etwas bloß Mimisches, etwas lediglich Signifikatives auf dem Standpunkt des mythischen Bewußtseins nicht gibt.30

Daraus ergeben sich zwei für die Betrachtung von Dichtung relevante Konsequenzen: Zum einen erklärt sich daraus die Wortmagie, beziehungsweise die Vorstellung der realen Wirkmächtigkeit von Worten und Sprache31 und zum andern damit zusammenhängend das Bild eines mit magischen, übermenschlichen Fähigkeiten ausgestatteten Dichters.32 Weil im mythischen Denken «keine Scheidung prinzipiell verschiedener Wirkensfaktoren, noch keine Sonderung zwischen ‘Stofflichem’ und ‘Geistigem’»33 existiert, gibt es streng genommen keinen Anthropomorphismus. Objekte werden nicht belebt oder beseelt, da unbelebten Dingen seelische Eigenschaften nicht zugeschrieben werden, was eine Unterscheidung von Materie und Seelischem voraussetzen würde. Der Motor von allem Sein ist die «Wirksamkeit schlechthin», das «Mana», welches das «Machtvolle, Wirksame, Produktive» bedeutet.34 Dieses Mana kann ohne Unterscheidung sowohl auf Belebtes als auch Unbelebtes übertragen werden. Weil alles mit dieser Wirkkraft ausgestattet werden kann, erscheint der Mythos als eine Anschauungsform, in der alles belebt und bewegt ist – eine Eigenschaft der mythischen Welt, die, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, neben den dynamischen und belebenden

28 Ebda. 29 Ebda., S. 83. 30 Ebda., S. 83 f. 31 Siehe Kapitel III.2.3 ‘Sprache’ der vorliegenden Arbeit. 32 Siehe Kapitel IV.1.2 ‘Schöpferische Bewältigung: Divinisierung’ der vorliegenden Arbeit. 33 MD, S. 185. 34 Ebda.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Prozessen der Metamorphose und der Transformation35 sowie magischen Prinzipien bei den Dichtern große Resonanz gefunden hat.

2 Formen mythischen Denkens in der Dichtung 2.1 Bewegung und Lebendigkeit Noi vogliamo rientrare nella vita.36

2.1.1 Prozesshaftigkeit und Variabilität Während das wissenschaftliche Denken bestrebt ist, Konstanten, permanente Qualitäten und Relationen zwischen den Dingen zu finden, ist das mythische Denken von Fluktuation und Instabilität der Wahrnehmung geprägt. Kennzeichnend für den Mythos ist das Prinzip der Bewegung, welche im Mythos auch als Formänderung und Transformation erscheint.37 Diese Strukturen greift die Kunst und Literatur der Avantgarde auf. Ihr Anliegen ist, das moderne Leben in seiner Lebendigkeit, d. h. in seiner Bewegung und Fluktuation darzustellen. Winfried Wehle charakterisiert die Avantgarde dementsprechend: «ihr eigentliches Element ist die Bewegung; Stillstand ihr Untergang».38 Es ist nicht erstaunlich, dass gerade das Lebendige, Dynamische und Fließende ein wesentliches verbindendes Element von Mythos und Avantgarde bildet, denn eine Konzentration auf das Phänomen der Bewegung findet Anfang des 20. Jahrhunderts in allen Bereichen statt: Wissenschaft, Kunst und Literatur machen es sich zur Aufgabe, der Dynamik des Lebens Rechnung zu tragen. Nicht zuletzt zeigt die Philosophie des ‘élan vital’ des Lebensphilosophen Henri Bergson die starke Präsenz des Themas. Auch für Cassirers Projekt der symbolischen Formen spielt die Einsicht in die Prozesshaftigkeit des Lebens eine wesentliche Rolle: Life, reality, being, existence are nothing but different terms referring to one and the same fundamental fact. These terms do not describe a fixed, rigid, substantial thing. They are to be understood as names of a process. Man is the only being that is not only engaged

35 Siehe Kapitel III.2.2 ‘Metamorphosen und Transformationen’ der vorliegenden Arbeit. 36 Umberto Boccioni/Carlo Dalmazzo Carrà/Luigi Russolo/Gino Severini/Giacomo Balla: La pittura futurista. Manifesto tecnico. 37 Vgl. LAII, S. 174. 38 Winfried Wehle: Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma ‘moderner’ Literatur und Kunst, S. 12.

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in this process but who becomes conscious of it; myth, religion, art, science are nothing else than the different steps made by man in his consciousness in his reflective interpretation of life.39

Insbesondere anhand der Eigenschaften Dynamik und Lebendigkeit zieht Cassirer eine Verbindung zwischen Mythos und Kunst. Der Mythos beruht auf dynamischen Prinzipien und die Kunst ist besonders dazu geeignet, das Leben als einen dynamischen Prozess abzubilden: «Artistic experience is always a dynamic, not a static attitude – both in the artist himself and in the spectator.»40 Cassirer beruft sich dabei auf den 25. Brief aus den ‘Briefen über die ästhetische Erziehung’ von Schiller, in denen dieser deutlich macht, dass die Kunst sowohl unser Handeln als auch unseren Zustand beschreibt und damit beweist, dass nicht nur das Statische, sondern auch der Prozess in eine Form gebracht werden kann. In demselben Bewusstsein stehen auch Apollinaires berühmte Sätze aus den Méditations esthétiques: «Mais on ne découvrira jamais la réalité une fois pour toutes. La vérité sera toujours nouvelle.»41 Die Erkenntnis, dass das Leben ein Prozess ist, führt dazu, dass auch Wahrheit und Dichtung für die Avantgarde nicht mehr statische Konzepte sind – ohne jedoch ihren Ewigkeitsanspruch einzubüßen. Apollinaire greift in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ daher auf das mythische Modell der ‘ewigen Erneuerung’ zurück, in dem beides miteinander verknüpft ist: Les poètes enfin seront chargés de donner par les téléologies lyriques et les alchimies archilyriques un sens toujours plus pur à l’idée divine, qui est en nous si vivante et si vraie, qui est ce perpétuel renouvellement de nous-mêmes, cette création éternelle, cette poésie sans cesse renaissante dont nous vivons.42

Auch für Cendrars ist die Einsicht in die Wandelbarkeit des Lebens bei gleichzeitiger Einbettung in ein mythisches Ewigkeitsmodell zentral: «Ce changement est un fait essentiel de la vie. La vie est un perpétuel renouvellement.»43 In der betonten Lebendigkeit und Dynamik unterscheidet sich Apollinaires Lyrik von der Poesie des Symbolismus und des L’art pour l’art.44 Für ihn ist Bewegung gleichermaßen untrennbar mit dem Leben und seiner Veränderlichkeit sowie mit der Fähigkeit des Künstlers, zu schöpfen und in diesem Sinne, Leben zu erwecken und zur Darstellung zu bringen, verbunden. Campa betrachtet daher zu

39 LAII, S. 194. 40 Ernst Cassirer: The Educational Value of Art, S. 212. 41 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 8. 42 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 952. 43 Blaise Cendrars: Notes pour un article sur Odilon Redon [1907/08?]. In: AH, S. 175. 44 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 70.

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Recht insbesondere die Korrelation von Bewegung und Leben als wesentlich für die ästhetische Auseinandersetzung Apollinaires: Le mouvement est synonyme de vie: le discours esthétique d’Apollinaire s’interroge inlassablement sur l’expression de la vie, sur le mouvement du temps, partant, sur les rapports de la tradition et de la modernité, sur la figure du créateur, allié et organisateur du mouvement.45

Auch bei Soffici ist die Bewegung vitalistisch konfiguriert. In dem Gedicht ‘Aut aut’ sind Wissen und Gelehrsamkeit mit Tod und Stagnation assoziiert und werden dem Leben gegenübergestellt, das als fließend und immer in Bewegung seiend gefasst ist. Das lyrische Ich erklärt, es sei von dem «bel colle della saggezza solitaria» hinabgestiegen, habe den «candido foglio» und den «sapiente libro» beiseitegelassen, um sich seinem «desiderio» hinzugeben. Dieses steht ganz im Zeichen des Lebens, das mit dem Flüssigen, Fließenden assoziiert wird: «M’abbandono alla vita, fluisco verso il mio destino.» Selbst die Umgebung des lyrischen Ichs ist in Bewegung, welche als eine kreishafte gezeichnet wird, die sich unendlich und gleichförmig wiederholt: Sulla mia testa e sotto i miei piedi con rombo silente Rotolan mondi e mondi e mondi in infinite corone46

Das Begehren und der Fluss des Lebens bringen das lyrische Ich in einen ekstatischen, an Wahnsinn grenzenden Zustand, in dem gegensätzliche Empfindungen zusammenkommen: «E piango e rido, disperato e felice della mia follia».47 Dieser Zustand kann zweierlei bedeuten – und hier kommt der Titel ‘entwederoder’ zum Tragen: Entweder das lyrische Ich ist verrückt, nichtig und unbedeutend wie eine Laus oder hinter der Ekstase verbirgt sich ein genialer Geist. Perché: o io sono un tristo pidocchio che armeggia sul cranio Della terra, e bene perisce ovunque morte lo colga, O un armonioso genio, sono, cui giova toccare ogni abisso; E dal delirio a me verrà, allora, più gran musica e luce48

Das Oszillieren zwischen Selbsterniedrigung und Selbstüberhöhung ist ein Motiv, das sich auch in Apollinaires Gedichten sehr häufig findet.49 Diese Schwankungen verstärken den Eindruck von Dynamik und Lebendigkeit. 45 Ebda., S. 42. 46 Ardengo Soffici: ‘Aut aut’. In: ders.: ‘Poesie giovanili (1901–1908)’. In: ders.: Marsia e Apollo [1938]. In: SOIV, S. 710. 47 Ebda. 48 Ebda., S. 711. 49 Vgl. das Kapitel IV.1 ‘Das mythische und moderne Subjekt’ der vorliegenden Arbeit.

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Variabilität und Schwankungen sind ein häufiges Ausdrucksmittel für die Verknüpfung von Bewegung und Lebendigkeit in Apollinaires Werk. Paradigmatisch dafür ist der Vers «la vie est variable aussi bien que l’Euripe» aus dem Gedicht ‘Le voyageur’, das, wie der Titel bereits sagt, durch das Motiv der Reise das Thema der Bewegung aufgreift. Dabei wird hier in der Verknüpfung von Leben – Variabilität – Fluss das Thema des «éternel devenir des choses» aufgegriffen: Als Wandlung und Transformation gefasst, bildet die Bewegung keinen Bruch zum Gewesenen – ebenso wie eine Variable keinen Bruch darstellt. Aus demselben Grund, aus dem er Prozesshaftigkeit und Ewigkeit symbolisch vereint, ist der Phönix ein beliebtes Motiv in Apollinaires Dichtung.50 In ‘Le voyageur’ übernimmt diese Funktion das Flussmotiv: Die Erinnerung, zu der über die in verschiedenen Formen wiederholte Frage «Te souviens-tu» eine Verknüpfung hergestellt wird, wird von dem «bruit éternel d’un fleuve large et sombre» begleitet und lässt dabei an sein berühmtes Gedicht ‘Le Pont Mirabeau’ denken: Sous le pont Mirabeau coule la Seine Et nos amours Faut-il qu’il m’en souvienne La joie venait toujours après la peine Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont je demeure51

Ein Echo auf dieses Gedicht findet sich wiederum in ‘Marie’, das ebenfalls auf das Motiv des Flusses rekurriert («Le fleuve est pareil à ma peine») und die liedhaften Strukturen von ‘Le Pont Mirabeau’ rhythmisch, aber auch durch das Motiv des Tanzes aufgreift. Verse wie «Oui je veux vous aimer mais vous aimer à peine», «Les brebis s’en vont dans la neige» bilden einen Widerhall zu ‘Le pont Mirabeau’.52 Durch die Thematisierung der Zustandsänderungen von «joie» zu «peine» und von Liebe zu Trennung in ‘Le pont Mirabeau’ und die Charakterisierung des Herzens und der Liebe als wechselhaft in ‘Marie’ («Un cœur à moi ce cœur changeant/Changeant et puis encore que sais-je») ist in die Bewegung auch wieder das Thema der Veränderung und Variabilität eingeschrieben, das auch in ‘Le voyageur’ zentral war. Auch in Cendrars’ und Reverdys Lyrik wird Bewegung inhaltlich und formal vielfältig aufgegriffen. Die beiden Dichter eint mit Apollinaire die häufige Verwendung von Motiven der Bewegung wie Automobile, Züge, Flüsse, Tanz, Pro50 Siehe die Kapitel II.2.3.1 ‘Das Sublime’, II.2.4.2 ‘Konkrete Abstraktion’ und III.3.3.2 ‘Bewegung, Kreislauf und Werden’ der vorliegenden Arbeit. 51 Guillaume Apollinaire: ‘Le pont Mirabeau’ [1912]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 45. 52 Guillaume Apollinaire: ‘Marie’ [1912]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 81. Hervorhebungen K.R.

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zessionszüge sowie die Thematisierung von Reisen und die bevorzugte Verwendung von Verben der Fortbewegung. Das Motiv der Reise ist zentral für Cendrars, der, wie die Titel seiner Gedichtsammlungen Du monde entier und Au cœur du monde andeuten, mehrere Reisen in die ganze Welt, u. a. nach Italien, Spanien, Russland, China und Brasilien unternahm. Das Reisen steht besonders in Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France im Mittelpunkt: Je suis en route J’ai toujours été en route Je suis en route avec la petite Jehanne de France Le train fait un saut périlleux et retombe sur toutes ses roues Le train retombe sur ses roues Le train retombe toujours sur toutes ses roues53

Die Reise im Zug wird nicht nur motivisch eingesetzt, sondern schlägt sich im Falle der ‘Prose du Transsibérien’ in der künstlerischen Gestaltung des Gedichts durch Sonia Delaunay formal nieder. Das besondere Format des sich wie eine Strecke entfaltenden aufklappbaren ‘Simultanbuchs’ suggeriert dem Leser die Bewegung der Landschaft aus dem Zug, welche im Gedicht selbst beschrieben wird: «Le monde s’étire s’allonge et se retire comme un accordéon qu’une main sadique tourmente».54 Reverdys Lyrik der 1910er Jahre ist gefüllt mit Motiven der Bewegung: In vielen Gedichten ist das lyrische Subjekt auf der Reise oder wandert durch die Gegend. In ‘Trajet’ wird eine Busfahrt beschrieben, während der das lyrische Ich davon träumt, zu Fuß zu gehen.55 Die Verben «aller», «marcher» und «passer» sind bei Reverdy häufig anzutreffen, beispielsweise in ‘Départ’, ‘Dans le monde étranger’ und ‘Passant’, um nur einige Beispiele zu nennen. In ‘Encore marcher’ ist das lyrische Ich regelrecht rastlos. Der Weg, den es beschreitet, geht nie zu Ende – sogar die Mauern, die normalerweise Wege versperren und

53 Blaise Cendrars: Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France. In: PC, S. 17–37, hier S. 24. 54 Ebda., S. 25. Wie Leo Shtutin bemerkt, verbirgt sich dahinter auch eine Anspielung auf die Form des akkordeonartig gefalteten Gedichts selbst, das von der Hand des Lesers gehalten wird. Leo Shtutin: Spatiality and Subjecthood on Mallarmé, Apollinaire, Maeterlinck, and Jarry. Between Page and Stage. Oxford: Oxford University Press 2019, S. 135. 55 Pierre Reverdy: ‘Trajet’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ders.: Œuvres complètes. Band II. Herausgegeben von Etienne-Alain Hubert. Paris: Flammarion 2010, S. 412. Band II der Œuvres complètes wird im Folgenden abgekürzt mit ROCII.

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damit beenden, verschieben sich. Die beleuchteten Fenster laden nicht zum Anklopfen ein und bieten somit ebenfalls keinen Ort des Verweilens:56 Plusieurs heures de chemin dans un sentier où l’herbe ne vit plus. J’ai marché bien longtemps et je me suis perdu. Je n’osais plus revenir sur mes pas ni appeler. Et je sentais derrière moi ses yeux qui me cherchaient. Une faible lumière au loin s’allume entre les arbres. Une fenêtre où je ne pourrai pas frapper. Le feu où l’on refuse de me laisser réchauffer. Et je n’ai même pas le droit de m’arrêter. Un mur en face de moi s’est mis à reculer.57

Die Poesie Reverdys drücke aus, so Guaraldo, dass der Sinn der Dinge nicht in den Dingen selbst wohne, sondern «dans la vie qui les traverse.»58 Er sieht die Bewegung als ein wesentliches Element in Reverdys Ästhetik, da sich der Sinn nicht in den «cristallisations mais dans les mouvements, dans les ouvertures» finden lasse.59 Darin zeige sich bei Reverdy ein wesentlicher Unterschied zu den Kubisten, weil er das Leben nicht als statisch begreife. Er wolle das Wesen der Dinge nicht ‘erfassen’ und nicht fixieren: En face de la vision cubiste des significations, qui est une vision ponctualisante, Reverdy semble soutenir la thèse selon laquelle la signification peut se situer ailleurs, hors du phénomène, dans le mouvement de la vie. [...] L’erreur des Cubistes c’est d’avoir voulu représenter les phénomènes en les bloquant en des formes fixes, soustraites à la mobilité de la vie, quand toute réalité est toujours parcourue par la vie60

Guaraldos ansonsten sehr treffende Beschreibung ist an dieser letzten Stelle zu präzisieren, denn obwohl die Bewegung eine sehr wichtige Rolle spielt, erscheint zumindest das lyrische Ich in zahlreichen Gedichten Reverdys regelrecht statisch, als Beobachter seiner Umgebung. So ist das Thema der Bewegung in ‘En attendant’ deutlich mit dem Gefühl von Statik verbunden: Des lignes trop usées par les rigueurs du temps La flaque d’eau sous la gouttière Le reflet timide qui danse Et la nuit qui descend

56 Dies erinnert an die Legende vom ewigen Juden, die auch bei Apollinaire ein wichtiges Motiv ist. 57 Pierre Reverdy: ‘Encore marcher’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 91. 58 Enrico Guaraldo: Topoi, essences, expérience vécue, S. 50. 59 Ebda., S. 48. 60 Ebda., S. 47–49. Hervorhebung im Original.

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Aucun essor Aucun effort Pour détacher l’esprit de cette ritournelle Il faut marcher tout droit sans condition Vers la vie plus réelle Plus bas se contenter des plus maigres rayons Au passage émouvant d’une aile Tout s’évapore et sèche61

Reverdy vereint hier den Eindruck von Monotonie mit dem Fortgang des Lebens und thematisiert in dieser Form zugleich Ewigkeit und Prozesshaftigkeit des Lebens. Dabei zeigen sich Ähnlichkeiten zu Apollinaires Gedichten. Das zyklische Vergehen der Tage und das Ablösen des Tages durch die Nacht in ‘Passant’ etwa erinnert an ‘Le Pont Mirabeau’: Horizon du destin à force poursuivi Plus clair chaque matin le soir évanoui Allons toujours ailleurs Le soir pousse la nuit Et le jour en revient meilleur62

Dieses Thema greift auch ‘Comme chaque soir’ auf, wobei hier auch wieder die Variabilität des Lebens – und vor allem der Liebe – zur Geltung kommt: J’ai gagné ce matin la liberté Je vais pouvoir prendre ma pauvreté pour une grande fortune Jusqu’au nouveau désir qui nous rend malheureux63

Die Rastlosigkeit und das Nichtentkommen aus dieser immer sich wiederholenden Dynamik wird sowohl in Apollinaires ‘Le voyageur’ als auch in Reverdys ‘Comme chaque soir’ dadurch verstärkt, dass das lyrische Ich in beiden Gedichten an der Tür klopft, um vergeblich Linderung vom ständigen Umherwandern zu finden: J’irai frapper à votre porte Pour profiter avant qu’on sorte

61 Pierre Reverdy: ‘En attendant’. In: ders.: La guitare endormie [1919]. In: ROCI, S. 267. 62 Pierre Reverdy: ‘Passant’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 387. 63 Pierre Reverdy: ‘Comme chaque soir’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 411.

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De cette aumône J’ai refusé la bague que j’envie64 Ouvrez-moi cette porte où je frappe en pleurant65

Die Unmöglichkeit des Ankommens, symbolisiert durch ein vergebliches Anklopfen, ist auch Thema in ‘Encore marcher’.66 Das bei Reverdy vorherrschende Motiv der rastlosen Bewegung hält Cendrars für zentral in der modernen Kunst, deren Ziel er als eine «recherche du mouvement perpétuel»67 formuliert. In ‘Dialogue sur la sculpture’ wird der provokante Gedanke zur Diskussion gestellt, dass die Guillotine die ideale moderne Skulptur wäre, denn «son déclic crée le mouvement perpétuel.»68 Damit würde sie auch die futuristischen Ideale verkörpern: «La guillotine est le chef-d’œuvre de la plastique nouvelle ... Vous entendez bien, une machine, l’aboutissement de toutes les recherches dynamiques. En somme, ce que les futuristes veulent.»69 Diesen Gedanken verarbeitet Cendrars lyrisch in seinem Gedicht ‘La tête’ (1914): La guillotine est le chef-d’œuvre de l’art plastique Son déclic Crée le mouvement perpétuel Tout le monde connaît l’œuf de Christoph Colomb Qui était un œuf plat, un œuf fixe, l’œuf d’un inventeur La sculpture d’Archipenko est le premier œuf ovoïdal Maintenu en équilibre intense Comme une toupie immobile Sur sa pointe animée Vitesse Il se dépouille Des ondes multicolores Des zones de couleur Et tourne dans la profondeur Nu. Neuf. Total.70

64 Pierre Reverdy: ‘Comme chaque soir’. In: ROCII, S. 411. 65 Guillaume Apollinaire: ‘Le voyageur’ [1912]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 78 ff, hier S. 78. 66 Pierre Reverdy: ‘Encore marcher’. In: ROCI, S. 91. 67 Blaise Cendrars: Dialogue sur la sculpture [1914]. In: AH, S. 184–189, hier S. 186. 68 Ebda. 69 Ebda. 70 Blaise Cendrars: ‘La tête’ [1918]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 91.

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Das Bild des abgetrennten Kopfes, ein Leitmotiv Cendrars’,71 erinnert an Apollinaires ‘Zone’ (1913). Womöglich sind auch die «ondes multicolores» und «zones de couleur» eine Anspielung auf Apollinaires berühmtes Gedicht, in dem Stadteindrücke, Erinnerungen und Gedanken einander ablösen und sich wie die bunten Bilder eines Kreisels miteinander vermengen, bis sich der Rhythmus des Gedichts verlangsamt und das Gedicht mit dem Bild des abgetrennten Kopfes abbricht: Tu es seul le matin va venir Les laitiers font tinter leurs bidons dans les rues La nuit s’éloigne ainsi qu’une belle Métive C’est Ferdine la fausse ou Léa l’attentive Et tu bois cet alcool brûlant comme ta vie Ta vie que tu bois comme une eau-de-vie Tu marches vers Auteuil tu veux aller chez toi à pied Dormir parmi tes fétiches d’Océanie et de Guinée Ils sont des Christ d’une autre forme et d’une autre croyance Ce sont les Christ inférieurs des obscures espérances Adieu Adieu Soleil cou coupé72

Das Motiv der Sonne als abgetrennter Kopf ist bei Apollinaire auch in Le poète assassiné zu finden:73 C’était à Beausoleil, près de la frontière monégasque, dans cette prairie du Carnier appelée le Tonkin et presque entièrement habitée par des Piémontais. Un bourreau invisible ensanglantait l’après-midi. Deux hommes suaient et soufflaient en portant une civière. Ils se tournaient parfois vers le cou tranché du soleil et l’injuriaient, les yeux presque fermés.74

Auffällig ist, dass genau wie bei Cendrars auf eine Hinrichtung angespielt wird. ‘La tête’ wirkt wie eine Fortsetzung von ‘Zone’, da hier das Gedicht mit dem abgetrennten Kopf beginnt und damit als Motor das Gedicht gleichsam in Bewegung bringt, während sich bei Apollinaire damit der Fluss des Gedichts verlangsamt und an dieser Stelle scheinbar endet. Jedoch ist der Schluss von ‘Zone’ nicht als endgültig anzusehen und eine Fortsetzung durchaus mitgedacht: Das Bild beschreibt die aufgegangene Sonne, welche ein blutrotes Licht ausstrahlt. Sie kün-

71 Es ist fast identisch in seinen Gedichten Le panama ou les aventures de mes sept oncles [1918] und in ‘Pour Csaky’ zu finden. Vgl. PC, S. 359. 72 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 43 f. 73 Vgl. Eric Sellin: Soleil cou coupé. In: Romance Notes 14, 1 (1972), S. 13–16. 74 Guillaume Apollinaire: Le Poète assassiné. In: Œuvres en prose complètes. Band I. Herausgegeben von Michel Décaudin. Paris: Gallimard 1977 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 331.

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digt dem lyrischen Ich nach der durchwachten Nacht den Beginn eines neuen Tages an («Tu es seul le matin va venir», «La nuit s’éloigne»).75 Bereits der Titel ‘Zone’, welcher dem lat. ‘zona’, Gürtel, entlehnt ist,76 verweist auf eine nicht abbrechende kreishafte Bewegung. Diese Assoziation wird dadurch gestützt, dass das Gedicht mit dem Ende beginnt («A la fin tu es las de ce monde ancien») und mit dem Anfang, dem anbrechenden Tag aufhört.77 2.1.2 Lebendigwerden der Buchstaben: Dynamik in ‘La petite auto’ Von einer einen Neubeginn einleitenden Reise handelt Apollinaires ‘La petite auto’, schließlich lautet die Konklusion des Gedichts: Et quand après avoir passé l’après-midi Par Fontainebleau Nous arrivâmes à Paris Au moment où l’on affichait la mobilisation Nous comprîmes mon camarade et moi Que la petite auto nous avait conduits dans une époque Nouvelle Et bien qu’étant déjà tous deux des hommes mûrs Nous venions cependant de naître78

Die Bewegung ist nicht nur motivisch, sondern auch formal gestaltet. Das Gedicht ist in drei Teile gegliedert, wobei der mittlere Teil aus einem Kalligramm besteht. Wie auch die anderen Calligrammes Apollinaires weist ‘La petite auto’ in Richtung einer cinematographischen Verwendung von Buchstaben, wie es später in der Werbung und in Filmvorspännen, aber auch experimentalpoetischen Formen wie der Kinetic poetry der Fall sein wird.79 Tatsächlich interessiert sich Apollinaire sehr für das Kino und sieht darin die Zukunft der Poesie.80 Die Dichter

75 Vgl. Eric Sellin: Soleil cou coupé, S. 16: «Given the preceding night and the sense of the unknown, which functions – as in ‘La Jolie Rousse’ – less as a repellant than as a threshold, the last line gives us a sense of soaring even as it provides continuity». 76 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 95. 77 Dazu ausführlich Kapitel III.3.1.1 ‘Moderne Lebenswelt, mythische Wahrnehmung und andere Inspirationsquellen’ der vorliegenden Arbeit. 78 Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 207 f., hier S. 208. 79 Katarina Rempe: Poesia in movimento – Kinetic Poetry. In: Francesco Giusti/Damiano Frasca u. a. (Hg.): Poesia e nuovi media. Firenze: Franco Cesati 2018, S. 91–104. 80 Vgl. Francis M. Ramirez: Apollinaire et le désir de cinéma. In: Cahiers de l’Association internationale des études francaises 47 (1995), S. 371–389. Siehe auch Carole Aurouet: Le cinéma de Guillaume Apollinaire. Des manuscrits inédits pour un nouvel éclairage. Paris: Éditions de Grenelle 2018.

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veulent être les premiers à fournir un lyrisme tout neuf à ces nouveaux moyens d’expression qui ajoutent à l’art le mouvement et qui sont le phonographe et le cinéma. Ils n’en sont encore qu’à la période des incunables. Mais attendez, les prodiges parleront d’euxmêmes et l’esprit nouveau, qui gonfle de vie l’univers, se manifestera formidablement dans les lettres, dans les arts et dans toutes les choses que l’on connaisse.81

Im Kontext der Dynamik steht somit auch das ‘Lebendigwerden’ der Buchstaben in den Calligrammes und den typographischen Innovationen in den futuristischen ‘parole in libertà’. Soffici reflektiert diesen Umstand, indem er in Anlehnung an die byzantischen Mosaike die Typographie als figurative Kunst betrachtet und die Buchstaben nicht nur als reine Konvention, sondern als lebendige Form versteht.82 Die Dynamik der Buchstaben ließe sich schließlich auch im modernen Alltag an der Reklame sehen, welche durch Lichteffekte den Eindruck von Bewegung erzeugt: Più su ancora, al disopra dei tetti, isolate sullo sfondo misterioso del cielo, parole incandescenti ancora ardono come novissime costellazioni di sogno. CAFÉ CARVALHO appare e scompare, appare e scompare, nell’infinito. GALERIES LAFAYETTE, scintilla come una pennellata di aurora boreale tra le antenne telegrafiche e i comignoli.83

Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Cendrars, welcher ebenfalls auf einen Zusammenhang zwischen Poesie und Werbung hinweist: «Ce qui caractérise l’ensemble de la publicité mondiale est son lyrisme. Et ici la publicité touche à la poésie.»84 In ‘L’ABC du cinéma’ macht er deutlich, dass die Kunstform des Kinos der sich permanent im Wandel befindenden Gegenwart adäquat sei: «Tout change. Le change. Les mœurs et l’économie politique. Nouvelle civilisation. Nouvelle humanité. [...] Cent mondes, mille mouvements, un million de drames entrent simultanément dans le champ de cet œil dont le cinéma a doté l’homme.»85 Bewegung und Vitalität werden auch von ihm deutlich miteinander verknüpft: «Tout est rythme, parole, vie.»86 Dabei sieht Cendrars die Filmsprache als Endpunkt einer Entwicklung, die mit der piktoralen und ideographischen Wurzel der Schrift beginnt und über Kadmus reicht, welcher der Mythologie zufolge das phönizische Alphabet nach Griechenland gebracht hat. Das Bild hat für

81 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 954. 82 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 737. 83 Ebda., S. 738. 84 Blaise Cendrars: ‘Publicité = Poésie’ [1927]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 115–121, hier S. 118. 85 Blaise Cendrars: ‘L’ABC du cinéma’ [1919/1926]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 33– 40, hier S. 35. 86 Ebda., S. 36.

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Cendrars seit jeher eine emotive Kraft – «L’image est aux sources primitives de l’émotion»87 – und steht am Anfang von Sprache und Schrift: Vor Kadmus l’écriture mnémonique, idéographique ou phonétique, était toujours picturale; des hommes préhistoriques aux Égyptiens, des dessins qui ornent les parois des cavernes de l’âge de pierre aux hiéroglyphes hiératiques tracés sur des stèles de pierre ou démotiques peints sur les poteries, en passant par la pictographie des Esquimaux ou des sauvages d’Australie, les tatouages coloriés des Peaux-Rouges et les broderies des wampuns canadiens, les quipous décoratifs des anciens Mayas et les nœuds d’écorce des tribus forestières du centre de l’Afrique, les calligrammes tibétains, chinois, coréens, l’écriture, même l’écriture cunéiforme, est avant tout un aide-mémoire, un mémorial d’initiation sacrée, autocratique, individuelle.88

Während die piktorale Schrift im Individuellen verhaftet sei, habe Kadmus durch das phönizische Alphabet eine Demokratisierung und gemeinsame Nutzung der Schrift ermöglicht: «Survient le trafiquant Cadmus, le mage, le magicien, et aussitôt l’écriture devient une chose active, vivante, la nourriture démocratique par excellence et le langage commun de l’esprit.»89 Dies wiederum habe zu einer Kommerzialisierung durch den Buchdruck und einer Vervielfältigung von Schriftstücken geführt. Wie Soffici zieht Cendrars hier eine Verbindung zwischen Poesie und neuen kommerziellen Erscheinungen: «La conquête commerciale et la vie littéraire vont de pair.»90 Die Sprache des Kinos wäre in der Lage, all diese Momente zu vereinen und damit eine Synthese des menschlichen Geistes zu bilden.91 Cendrars’ Ausführungen belegen, wie das Phänomen der Kalligramme auf den primitivistischen Diskurs und gleichzeitig auf das moderne Anliegen, Bewegung und Lebendigkeit in Kunst und Dichtung zu reflektieren, zurückzuführen ist. Eingerahmt von traditionellen Gedichtstrophen erzeugt das Kalligramm in ‘La petite auto’92 den Eindruck, die Buchstaben würden zum Leben erweckt und in Bewegung gesetzt (Abb. 2). Bevor das Kalligramm gelesen wird, wirkt es als Bild. Der Betrachter wird zunächst wahrnehmen, dass die Bildmitte von zwei Linien, die von der linken Bildseite ausgehend aufeinander zulaufen, umschlossen ist. Die Bewegung der Linien verläuft dabei für europäische Sprachen gewohnt von links nach rechts, doch wird durch die Annäherung der beiden Linien der Eindruck eines Fluchtpunktes und damit einer gemeinsamen Zielrichtung erzeugt, was die beiden Linien als Straße, die zu etwas hinführt, erkennen lässt. Die beiden Räder des

87 Ebda., S. 38. 88 Ebda., S. 37. 89 Ebda. 90 Ebda., S. 38. 91 Ebda. 92 Abbildung in Po, S. 208.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Autos und das Lenkrad lassen sich durch die Anordnung der Worte zu einem Kreis leicht identifizieren. Die zwei in Majuskeln verfassten Zeilen bilden schematisch das Chassis des Autos. Durch die Verse 3–4 weiß der Leser bereits, dass sich in dem Auto drei Personen befinden: Dans la petite auto de Rouveyre Avec son chauffeur nous étions trois93

Dadurch sind die drei dreiecksförmigen Gebilde, die alle mit einem den Kopf darstellenden ‘O’ beginnen, als die drei Insassen des Autos zu erkennen. Die Tatsache, dass das Bild ohne den vorangehenden und anschließenden Text wohl kaum zu deuten wäre, führt zu dem Schluss, das gesamte Gedicht müsse als Teil des Kalligramms angesehen werden. Dafür spricht auch, dass durch die so entstandene Dreiteilung in das Gedicht eine Dynamik gebracht wird, die das Geschehen widerspiegelt: Im unteren Teil der Straße des Bildgedichts heißt es, die drei Insassen mussten dreimal anhalten, um einen Reifen zu wechseln: «et 3 fois nous nous arrêtâmes pour changer un pneu qui avait éclaté». Diese drei Pausen werden durch die Struktur des Gedichts rhythmisch aufgegriffen.

Abbildung 2: Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’ (Ausschnitt).

93 Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’. In: Po, S. 207.

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In seiner Bildlichkeit ist das Kalligramm nicht allein auf die Verwendung von sprachlichen Metaphern angewiesen, sondern wird auch durch die typographische Anordnung des Textes erzeugt. Es handelt sich aber nicht um eine Bildlichkeit, die im Sinne von Lessings Laokoons als statisch, d. h. als eine die Zeit anhaltende Momentaufnahme angesehen werden kann. Denn auch der Text des Bildteils lädt zum Lesen ein und bricht durch den somit entstandenen ‘Lesefluss’ die Statik des Bildes auf. Gleichzeitig kann die Lesebewegung durch die optisch ungewöhnliche Anordnung einem eigenwilligeren und freieren Rhythmus folgen, als es bei einer rein linearen Anordnung der Fall wäre. Die Abfolge der Lesebewegung wird in dem Kalligramm nicht mehr wie bei einem traditionellen Gedicht kontrolliert. Umgekehrt bringt das Kalligramm durch seine Bildlichkeit den Aspekt der Totalität, der sonst nur der bildenden Kunst vorbehalten ist, in die Dichtung: Das Gedicht kann nicht nur in seiner Sukzession, sondern auch als Ganzes erfasst werden. Die verschiedenen Elemente treten in ihrer Gleichzeitigkeit in Erscheinung und können damit in immer neue Beziehungen zueinander gesetzt werden. Das Kalligramm bietet für Apollinaire eine Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Simultaneität. 2.1.3 Dynamik als Beziehungsstruktur: Futuristische Deformation und Delaunays Farbkontraste Dynamik ist auch ein großes Thema des Futurismus und bezieht sich, wie den theoretischen Überlegungen Sofficis zu entnehmen ist, auf die Struktur der Beziehung. Soffici äußert sich an mehreren Stellen zur Theorie der Bewegung in der futuristischen Kunst, da er diese missverstanden sieht. Entgegen der geläufigen Meinung gehe es nicht darum, eine Illusion von Bewegung herzustellen, denn dies könne nur durch die Kinematografie erzeugt werden.94 Was anhand der Auseinandersetzung mit Bewegung und Dynamik anvisiert wird, ist, das Verhältnis des Objekts zu seiner Umgebung zur Darstellung zu bringen und nicht einfach nur Prozesse einer raumzeitlichen Veränderung darzulegen. Das Ziel sei, «rendere le cose visibili nella loro concretezza, ma anche nei loro rapporti dinamici d’influenza reciproca e con l’ambiente.»95 Damit vereine der Futurismus laut Soffici ästhetische Ziele des Impressionismus und des Kubismus: In die Malerei des Impressionismus wurde das Prinzip der Bewegung durch das Licht, welches das Dargestellte flimmern und vibrieren lässt, aber auch die Kon-

94 Vgl. Ardengo Soffici: Teoria del movimento nella plastica futurista [1913]. In: SOI, S. 335. 95 Ebda.

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turen verwischt und die Körper scheinbar deformiert, eingeführt.96 Der Kubismus deformiert die Gegenstände ebenfalls, geht aber im Gegenzug von der konkreten, absoluten und unveränderlichen Form aus, welche vollkommen unabhängig von den Lichtverhältnissen dargestellt wird.97 Der Kubismus betont die Kompaktheit und Konturenschärfe der Objekte.98 In seiner Ausrichtung auf die statische Form negiere der Kubismus die Bewegung: «il cubismo nega precisamente il movimento in favore della statica, come l’impressionismo aveva negato la compattezza dei corpi in favore della vibratilità.»99 Doch auch im Kubismus spielt das Mittel der Deformation eine wichtige Rolle, da der Künstler die Kompaktheit der Objekte darstellt, indem er sie in verschiedene Teile, Schichten und Linien zerlegt. Der Futurismus considera (al pari dell’impressionismo) i corpi come non aventi una lor forma assoluta, ma variabile secondo l’illuminazione e l’ambiente: li considera però altresì (come fa il cubismo) nella loro concretezza e palpabilità. Resulta da ciò la necessità: I. Della deformazione. II: Dello studio dei volumi.100

Beide Strömungen würden durch den Futurismus vereinigt und auf eigene Weise fortgeführt: Il pittore futurista concilia i due principî opposti, e basandosi sul principio comune alle due scuole opera una sintesi consistente nel raffigurare il movimento dei corpi non per via di vibrazioni, ma per mezzo di uno spostamento, intersecazione e compenetrazione dei piani della realtà.101

Die Bedeutung der Bewegung für den Futurismus definiert Soffici schließlich folgendermaßen: «Movimento di volumi e di piani intersecantisi gli uni gli altri in concorrenza vitale sintetica.»102 In anderen Worten: Die Bewegung der Körper wird nicht durch Vibrationen dargestellt, sondern durch eine Verschiebung, also eine gegenseitige Durchdringung und Verschränkung. Auf diese Weise solle man auch, so Soffici, die Worte des ersten futuristischen Manifests verstehen, die vor diesem Hintergrund nicht mehr albern, sondern vollkommen logisch erscheinen würden: «I nostri corpi entrano nei divani su cui ci sediamo, e i divani entrano in 96 «Si vede che il principio del movimento è dato, nell’impressionismo, unicamente dalla deformazione dei corpi per via della luce ambiente, e dalla vibratilità cromatica.» Ebda., S. 336. 97 «Per essa [la teoria cubista], infatti, un corpo ha una forma certa e precisa, una forma per così dire inalterabile, assoluta, indipendente da qualunque accidentalità d’illuminazione e condizione d’ambiente.» Ebda. 98 Vgl. Ardengo Soffici: Il dinamismo nella pittura futurista. In: SOI, S. 664–668, hier 666 f. 99 Ardengo Soffici: Teoria del movimento nella plastica futurista. In: SOI, S. 337. 100 Ebda. 101 Ardengo Soffici: Il dinamismo nella pittura futurista. In: SOI, S. 668, Hervorhebung K.R.. 102 Ardengo Soffici: Teoria del movimento nella plastica futurista. In: SOI, S. 337.

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noi, così come il tram che passa entra nelle case, le quali alla loro volta si scaraventano sul tram e con esso si amalgamano.»103 Dynamik findet selbst im Futurismus nicht nur durch den Aspekt der Technik und der durch sie ermöglichten Fortbewegungsmittel ihren Eingang in die Ästhetik. An dieser Stelle tritt wieder die Bedeutung zutage, die das Verhältnis von Subjekt zur Welt für die Ästhetik des frühen 20. Jahrhundert hat. Auch wird hier der Zusammenhang mit dem primitivistischen Diskurs deutlich, denn die futuristische Konzeption von Bewegung korrespondiert mit einem Grundzug des mythischen Denkens: Die Durchdringung und das Nicht-Abgrenzen unterschiedlicher Realitätsstufen, was bedeutet, dass es keine definitive Abgrenzung von Subjekt und Objekt gibt. Daraus erklärt sich auch, weshalb Bewegungen im Raum und Veränderungen in der Zeit als Transformationen gefasst werden und nicht nur als Flüchtigkeit oder Entschwinden der Zeit. Dies zeigt sich auch bei Cendrars, dessen dynamische Beschreibung des modernen Großstadtlebens Ähnlichkeiten zu futuristischen Ideen aufweist: Les cosmogonies revivent dans les marques de fabrique. Affiches extravagantes sur la ville multicolore, avec la bande, des trams qui grimpent l’avenue, singes hurleurs se tenant par la queue, et les orchidées incendiaires des architectures qui s’écroulent par-dessus et les tuent. Dans l’air, le cri vierge des trolleys! La matière est aussi bien dressée que l’étalon du chef indien. Elle obéit au moindre signe. [...] Ce carré d’étoffe est à mettre en musique et cette boîte de conserve est un poème d’ingénuité. Tout change de proportion, d’angle, d’aspect. Tout s’éloigne, se rapproche, cumule, manque, rit, s’affirme et s’exaspère. Les produits des cinq parties du monde figurent dans le même plat, sur la même robe. [...] Tout est artificiel et bien réel. [...] La tour Eiffel va et vient du sommet. Le soleil, un nuage, un rien suffit pour l’allonger, la raccourcir. [...] Un œil bleu s’ouvre. Le rouge se ferme. Tout n’est bientôt que couleurs. Compénétration. Disque. Rythme. Danse. Un orangé et un violet se mangent. [...] Dans mon rocking je suis comme un fétiche nègre, angulaire sous l’électricité héraldique. [...] Tu vis. Excentrique. Dans la solitude intégrale. Dans la communion anonyme. Avec tout ce qui est racine et cime, et qui palpite, jouit et s’extasie. Phénomènes de cette hallucination congénitale qu’est la vie dans toutes ses manifestations et l’activité continue de la conscience. Le moteur tourne en spirale. Le rythme parle. Chimisme. Tu es.104

Teile davon zitiert Cendrars wörtlich auch in der Rubrik ‘Poètes’, wodurch der Bezug zur Poesie deutlich wird.105 In den Beschreibungen der Gegenstände als lebendig («des trams qui grimpent l’avenue», «le cri vierge des trolley» etc.) und

103 Ebda., S. 338 und Ardengo Soffici: Il dinamismo nella pittura futurista. In: SOI, S. 668. Vgl. Umberto Boccioni/Carlo Dalmazzo Carrà/Luigi Russolo/Gino Severini/Giacomo Balla: La pittura futurista. Manifesto tecnico. 104 Blaise Cendrars: Profond aujourd’hui [1917]. In: AH, S. 11–14. Hervorhebung K.R. 105 Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 94.

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bewegt («qui palpite», «Le moteur tourne en spirale. Le rythme parle.») und der Materie als dem Subjekt gehorsam («La matière est aussi bien dressée [...] Elle obéit au moindre signe») treten die mythischen Ideen der gegenseitigen Beziehung bis hin zur Durchdringung von Ich und Welt («Compénétration», «communion anonyme») zum Vorschein. Wie im Futurismus werden Dynamik und Bewegung auch hier anhand von Deformationen beschrieben («Tout change de proportion, d’angle, d’aspect»). Eine Parallele zur ‘primitiven’ Welt zieht Cendrars explizit durch den Vergleich zwischen Werbestrategien und Welterklärungsmodellen («Les cosmogonies revivent dans les marques de fabrique») und der Beschreibung des Ichs als «fétiche nègre», der sich inmitten eines lebensbejahenden Rituals zu befinden scheint. Mit der Überschrift für diesen Text, Profond aujourd’hui, bezieht sich Cendrars auf den Begriff der ‘profondeur’, welche neben dem Studium des Raumes («L’étude des volumes») und der Zeit («L’étude des mesures») ein Anliegen des Kubismus gewesen sei.106 Diese Tiefenwirkung, von Cendrars identifiziert mit Lebendigkeit und Realität, ist im Kubismus zwar angelegt, aber nicht verwirklicht worden und gelangt nun durch den contraste simultané Delaunays, auf den hier mit den Farbwirkungen angespielt wird, zur Umsetzung.107 Damit zeigt sich eine weitere Parallele zum Futurismus, der ebenfalls, wie Sofficis Ausführungen darlegten, den Kubismus in ähnlicher Weise erweitern und überwinden wollte. Für Cendrars steht die Farbe für Vitalität und Realität, wobei Realität hier das von Apollinaire geprägte Konzept der ‘sur-realité’ meint, also einen Realitätsbegriff, welcher den Bezug des Menschen zu ihr mitdenkt: Car la jeunesse aujourd’hui met justement à l’honneur le point omis dans l’expérience cubiste: l’étude de la profondeur. La jeunesse d’aujourd’hui a le sens de la réalité. Elle a horreur du vide, de la destruction, elle ne raisonne pas le vertige. Elle est debout. Elle vit. Elle veut construire. Or, on ne construit que dans la profondeur. Et c’est la couleur qui est l’équilibre. La couleur est un élément sensuel. Les sens sont la réalité. C’est pourquoi le monde est coloré. Les sens construisent. Voilà l’esprit. Les couleurs chantent.108

Nicht nur seine theoretischen Reflexionen, sondern auch Cendrars’ Gedichte sind in besonderem Maße von der Kunst Robert und Sonia Delaunays – und damit dem Spiel von Farbe und Licht – inspiriert. Robert Delaunay möchte durch die Kontrastwirkung der Farben, d. h. durch den Wechselbezug zwischen

106 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 63. Hervorhebung im Original. 107 Ebda. 108 Ebda., S. 64 f.

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den Farben, Bewegung ins Bild bringen, wie er in einem Brief von 1912 an August Macke schreibt: «Mais où j’attache une grande importance, c’est à l’observation du mouvement des couleurs. C’est seulement ainsi que j’ai trouvé les lois des contrastes complémentaires et simultanés des couleurs qui nourrissent le rythme même de la vision.»109 In Cendrars’ Reflexionen wird deutlich, wie die Beziehungsstruktur malerisch im Verfahren des contraste simultané zur Entfaltung kommt: «Une couleur n’est pas couleur en soi. Elle n’est couleur qu’en contraste avec une ou plusieurs autres couleurs.»110 Die Kraft des contraste simultané ist aber nicht die Abgrenzung, sondern geradezu die Identifikation, denn der «contraste n’est pas un noir et blanc, un contraire, une dissemblance. Le contraste est une ressemblance. On voyage pour connaître, reconnaître les hommes, les choses, les animaux. Pour vivre avec. On s’en approche, on ne s’en éloigne pas.»111. Daraus erklärt sich, weshalb, ähnlich wie bei Soffici und Marinetti, auch bei Cendrars das Thema der Durchdringung des Subjekts mit der Welt einen wichtigen Aspekt darstellt, der in der Lyrik zur Sprache kommt. Obwohl sich Cendrars’ Gedanken in Auseinandersetzung mit der Malerei entwickeln, haben sie auch in Bezug auf die Poesie Gültigkeit. Der contraste simultané ist eine Technik, die im Geist poetisch ist: «Le ‘simultané’ est une technique. La technique travaille la matière première, matière universelle, monde. La poésie est l’esprit de cette matière.»112 Der Einfluss Delaunays auf Cendrars wird besonders deutlich im Gedicht ‘Aux 5 coins’, aber auch in ‘Tour’ und ‘Contrastes’. In ‘Contrastes’ (1913) und ‘Aux 5 coins’ (1914) spielen das Fenstermotiv, das einströmende Licht und Farbspiele eine zentrale Rolle. Diese Gedichte sind ein direkter Bezug auf die zwischen 1912 und 1913 entstandene Bilderserie Delaunays mit dem Titel ‘Les Fenêtres’: Les fenêtres de ma poésie sont grand’ouvertes sur les boulevards et dans ses vitrines Brillent Les pierreries de la lumière Écoute les violons des limousines et les xylophones des linotypes Le pocheur se lave dans l’essuie-main du ciel Tout est taches de couleur Et les chapeaux des femmes qui passent sont des comètes dans l’incendie du soir113

109 Zitiert aus: Pierre Francastel: R. Delaunay: Du cubisme à l’art abstrait. Documents inédits. Paris: S.E.V.P.E.N. 1957, S. 186. 110 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 71. 111 Ebda. 112 Ebda., S. 72. 113 Blaise Cendrars: ‘Contrastes’. In: PC, S. 70.

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Oser et faire du bruit Tout est couleur mouvement explosion lumière La vie fleurit aux fenêtres du soleil Qui se fond dans ma bouche Je suis mûr Et je tombe translucide dans la rue114

In den Gedichten vereinen sich Bewegung, Farbe, Licht, Vitalität und die von Soffici beschriebene Durchdringung des Subjekts mit der Welt, welche sich in den Metaphern der Einverleibung und der Durchsichtigkeit des lyrischen Ichs ausdrückt. Dies deckt sich mit Aklis Beschreibung der Malerei Delaunays, in der sie auch einen Rückbezug auf Formen mythischen Denkens sieht. Die Bilder verleihen eine «sensation de vivre au même rythme que le monde, sensation qui rappelle la conscience primitive où l’homme n’avait pas encore établi de distinctions entre lui et le monde extérieur.»115 Apollinaire, der sich ebenfalls für die Malerei Delaunays begeistert, ihr die Bezeichnung ‘orphisme’ verleiht und wie Cendrars freundschaftliche Beziehungen zu dem Künstler pflegt, greift diese Struktur auf. Mit seinem Gedicht ‘Les fenêtres’ schafft auch er eine Hommage an Delaunays gleichnamige Gemäldeserie, wobei die Bewegung nicht durch das Farbspiel, sondern durch Worte erzeugt wird. Die von Delaunay gemalten Farbkontraste übersetzt Apollinaire in semantische und syntaktische Kontraste.116 Das Gedicht besteht aus verschiedenen Stimmen, deren Ursprung nicht preisgegeben wird: Du rouge au vert tout le jaune se meut Quand chantent les aras dans les forêts natales Abatis de pihis Il y a un poème à faire sur l’oiseau qui n’a qu’une aile Nous l’enverrons en message téléphonique Traumatisme géant Il fait couler les yeux Voilà une jolie jeune fille parmi les jeunes Turinaises Le pauvre jeune homme se mouchait dans sa cravate blanche Tu soulèveras le rideau

114 Blaise Cendrars: ‘Aux 5 coins’ [1914]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 85. 115 Madalina Akli: Les mots et les couleurs en mouvement. Analyse du tableau ‘Les fenêtres simultanées sur la ville’ de Robert Delaunay et du poème ‘Les fenêtres’ de Guillaume Apollinaire. In: Paroles gelées 21 (2004), S. 14–22, hier S. 15 f. 116 Vgl. ebda., S. 19 ff.

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Et maintenant voilà que s’ouvre la fenêtre Araignées quand les mains tissaient la lumière Beauté pâleur insondables violets117

Ein Zusammenhang zwischen den Aussagen ist kaum erkenntlich, so dass das Gedicht wie eine Zusammenstellung verschiedener, miteinander kontrastierender Eindrücke wirkt. Mit dieser Aneinanderreihung wird die Vielfalt der Lebensrealitäten, die alle simultan existieren, zum Ausdruck gebracht und verdeutlicht, dass die Welt, wie sie sich dem Subjekt präsentiert, vor allem durch den eigenen Bezug und die eigene Wahrnehmung geprägt ist. Diese erhält, im Zusammenhang mit den anderen Lebensrealitäten betrachtet, eine ganz neue Dynamik, welche das Leben in seiner Lebendigkeit und Vielfalt ausmacht. Das Leben ist nicht nur variabel durch das Vergehen der Zeit, sondern auch durch die verschiedenen simultan existierenden Perspektiven, welche sprichwörtlich jeweils ein anderes Licht auf eine Situation werfen. Cendrars sieht in Delaunays Farbkontrasten die künstlerische Umsetzung dieses Gedankens: Les aspects, les contrastes de la vie moderne sont trop complexes. Ils ne laissent pas chiffrer scientifiquement, ni englober dans une technique, aussi intellectuelle soit-elle. La réalité du monde est avant tout une sensation. C’est pourquoi les nouveaux peintres sont des sensuels et la nouveauté qu’ils apportent c’est: la couleur! [...] Nous aurons enfin de la peinture, de la peinture personnelle, de la peinture à tempérament, et non plus de la peinture théorique, collective, anonyme.118

Ein ähnlich subjektiver Realitätsbegriff liegt auch dem Futurismus zugrunde. Soffici antwortet auf den Vorwurf, die futuristische Kunst würde die Realität nicht naturgetreu abbilden, damit, die Realität nehme je nach Auge des Betrachters andere Formen an.119 Es ist geradezu die Beziehung zu den Dingen, welche die Realität ausmacht, woraus sich ein besonders lebendiges und dynamisches Bild ergibt: «Il pittore vede nella realtà un tessuto vivente di forme, di colori e di linee.»120 Der futuristische Dynamismus soll die Bewegung des modernen Lebens darstellen,121 indem er die Beziehungen des Subjekts zu den Din117 Guillaume Apollinaire: ‘Les fenêtres’. [1913]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 168 f., hier S. 168. 118 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 60. 119 «Si crede inoltre che la realtà non abbia che un aspetto, uguale per tutti, senza tener conto che invece ognuno di noi vede nella cosidetta realtà quello che fa al caso suo, e che quindi ciascuno si forma di essa un’immagine totalmente differente da quella del vicino.» Ardengo Soffici: La pittura futurista. In: SOI, S. 657. 120 Ebda. 121 Ebda., S. 661: «uno stile plastico adeguato al movimento della vita moderna.» Hervorhebung im Original.

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gen und der Dinge untereinander verdeutlicht.122 Dieser Ausdruck der Beziehungen und Verbindungen, den die Objekte untereinander, aber auch mit der Umgebung haben, ist für Soffici, was die futuristische Dynamik kennzeichnet.123

2.2 Metamorphosen und Transformationen La poésie est à la vie ce qu’est le feu au bois. Elle en émane et la transforme.124

Das Prinzip der Verformung und der instabilen Realität ist kennzeichnend für das mythische Denken, da es Bewegung auch als Formänderung und Transformation versteht. Metamorphosen und Anthropomorphismen sind häufig auftretende Motive in der Lyrik. Cassirers Beschreibung der mythischen Anschauungsform deckt sich mit der Einsicht der Dichter in die Dynamik und Variabilität des Lebens: «Nothing has a definite and permanent shape; everything is liable to sudden transformations and transfigurations.»125 Wo das empirisch-kausale Denken von Veränderung spricht, kennt das mythische Denken nur die Metamorphose: «Die mythische ‘Metamorphose’ ist dagegen stets der Bericht über ein individuelles Geschehen – über den Fortgang von einer individuellen und konkreten Ding- und Daseinsform zu einer anderen.»126 Veränderungen werden im mythischen Denken somit nicht als Brüche in der Zeit wahrgenommen. Stattdessen wird die Kontinuität in der Veränderung betont. Dies resoniert in Apollinaires Lyrik, in der das Thema der Vergänglichkeit häufig problematisiert wird. In einem unveröffentlichten Text Apollinaires von 1909 erscheint die Metamorphose als Strategie gegen die Flüchtigkeit der Zeit: Il faudrait changer toujours pour être en accord avec le temps qui fut réellement [...]

122 Vgl. Ardengo Soffici: La pittura futurista. In: SOI, S. 662. 123 «La quale [la questione] per i futuristi, consiste in questo: rendere le cose visibili nella loro concretezza, ma anche nei loro rapporti dinamici d’influenza reciproca e con l’ambiente.» Ardengo Soffici: Il dinamismo nella pittura futurista. In: SOI, S. 665. 124 Pierre Reverdy: Le livre de mon bord 1930–36. In: ROCII, S. 643–803, hier S. 685. 125 LAII, S. 174. 126 MD, S. 58.

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Enrichissons le passé: toujours changer pour durer.127

Die Metamorphose spielt bei Apollinaire in ‘Vendémiaire’ eine Rolle, wo es über die Straße von Messina heißt:128 Le détroit tout à coup avait changé de face Visages de la chair de l’onde de tout Ce que l’on peut imaginer Vous n’êtes que des masques sur des faces masquées129

Die Veränderung wird hier mit dem Motiv des Gesichtswechsels und des Maskentragens assoziiert. Krenzel-Zingerle interpretiert diese Verse schlüssig als Reflexion auf das Problem, «daß das Beschriebene sich ständig entzieht, da die Welt sich permanent verändert».130 Die Masken entsprechen somit Apollinaires ästhetischem Grundsatz der vérité toujours nouvelle.131 Die Rhetorik der Masken erkennt Krenzel-Zingerle als Teil einer «Metamorphosentechnik», die Apollinaire in seiner Dichtung anwendet.132 Wie sich im Folgenden zeigen wird, erscheinen Masken und Polymorphien als Variation des mythischen Metamorphosengedankens umfangreich in der Lyrik der frühen Avantgarde. 2.2.1 Masken und Polymorphien In das Feld der Maskenrhetorik gehört im weiteren Sinne die Polymorphie, welche sich oft als Gesichtswechsel präsentiert und dabei die Problematik der Identität anschneidet.133 In Cendrars’ Gedicht ‘I. Portrait’ ändert das beschriebene Porträt seine Gesichter und erinnert dabei an Marinettis Definition der Poesie als «facoltà di colorare il mondo coi colori specialissimi del nostro io mutevole»

127 Zitiert nach: Michel Décaudin: Apollinaire inédit. Une préface pour l’Année Républicaine?. In: Studi di letteratura francese. Rivista Europea 21 (1996), S. 183–187, hier S. 185. 128 Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 209 f., J. Patrick Truhn: The Wave of Wine: Revolution and Revelation in Apollinaire’s Vendémiaire. In: Romanic Review 72, 1 (1981), S. 39–50, hier S. 43. 129 Guillaume Apollinaire: ‘Vendémiaire’. In: Po, S. 151. 130 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 210. 131 Vgl. ebda., S. 211. 132 Ebda. 133 Vgl. das Kapitel IV.1 ‘Das mythische und das moderne Subjekt’ der vorliegenden Arbeit.

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und seinen Anspruch, «tutte le vibrazioni del suo io» zur Darstellung zu bringen.134 In dieser Variabilität wirkt es wie eine Illustration von Cassirers Charakterisierung der mythischen Darstellung: Il peint avec ses cuisses Il a les yeux au cul Et c’est tout à coup votre portrait C’est toi lecteur C’est moi C’est lui C’est sa fiancée C’est l’épicier du coin La vachère La sage-femme135 Von dem, was niemals ist, sondern immer ‘wird’, von dem, was nicht, gleich den Gebilden der logischen und mathematischen Erkenntnis, in identischer Bestimmtheit verharrt, sondern von Moment zu Moment als ein anderes erscheint, kann es auch keine andere als eine mythische Darstellung geben136

Das Motiv des Gesichtswechsels nutzt Cendrars auch in Le panama ou les aventures de mes sept oncles, wo es heißt: «Je suis tous les visages».137 Die Themen der Identifikation mit dem Anderen und der verschiedenen Gesichter des eigenen Ichs vertieft er in ‘Journal’. Ausgangspunkt dafür ist zunächst die Feststellung der Wandelbarkeit des eigenen Lebens bei gleichzeitiger Erkenntnis, derselbe zu bleiben: Christ Voici plus d’un an que je n’ai plus pensé à Vous Depuis que j’ai écrit mon avant-dernier poème Pâques Ma vie a bien changé depuis Mais je suis toujours le même J’ai même voulu devenir peintre Voici les tableaux que j’ai faits et qui ce soir pendent aux murs Ils m’ouvrent d’étranges vues sur moi-même qui me font penser à Vous.138

134 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 70. 135 Blaise Cendrars: ‘I. Portrait’ [1914]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 72. 136 MD, S. 3. 137 Blaise Cendrars: Le panama ou les aventures de mes sept oncles. In: PC, S. 61. 138 Blaise Cendrars: ‘Journal’. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 65.

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Der Anblick der eigenen Bilder lässt das lyrische Subjekt an Christus denken. Obwohl sein Leben voller Veränderung ist – beispielsweise in dem Punkt, dass es, obwohl selbst ein Dichter, Maler werden wollte –, ist sich das lyrische Ich dennoch gleich geblieben. Dies wird durch das Gedicht als Zeugnis dafür, dass es die ursprüngliche Dichtertätigkeit wieder aufgenommen hat, performativ bestätigt. Derselbe zu sein bedeutet offenbar nicht, sich immer identisch zu sein, sondern es übersteht auch Veränderungen in der Zeit, welche neue Facetten des Ichs offenbaren. Zu dieser Erkenntnis gelangt das lyrische Ich über den Anblick der eigenen Bilder, welche verschiedene Perspektiven seines Selbst aufzeigen. Über diese Multiperspektivität zieht es eine Verbindung zu Christus, womöglich weil in der christlichen Forderung, der Mensch solle seinen Nächsten lieben, wie sich selbst,139 die Grenze von Ich und Fremden verschwindet. Die Voraussetzung dafür ist zum einen der Grundgedanke der Gleichheit der Menschen, was bedeutet, dass der Blick auf den Anderen immer auf das eigene Ich blicken lässt, wenn einmal erkannt wurde, dass der Andere einem selbst gleich ist. Zum anderen bedarf es der Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen – sich also in Gedanken in den Anderen zu ‘verwandeln’ – und sich mit ihm zu identifizieren. Das lyrische Ich beschreibt sich entsprechend als emotional sensibel und leidenschaftlich, Je suis trop passionné [...] Trop sensible140

und dem Nächsten zugewandt, J’ai passé une triste journée à penser à mes amis [...] Je suis l’autre141

Die finale Anspielung auf Rimbauds «Je est un autre» wird im Gedicht insofern vorgezeichnet, als das Subjekt über die Betrachtung der eigenen Bilder und damit durch eine bereits erfolgte Selbstentfremdung zur Introspektion gelangt – also nachdem es sich gewissermaßen selbst als Medium gesehen hat, wie es bei Rimbaud heißt: «Car Je est un autre. Si le cuivre s’éveille clairon, il n’y a rien de sa faute. Cela m’est évident: j’assiste à l’éclosion de ma pensée: je la regarde, je

139 3. Buch Mose, Kapitel 19, 18. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Wien: Österreichische Bibelgesellschaft 1976. 140 Blaise Cendrars: ‘Journal’. In: PC, S. 65 f. 141 Ebda.

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l’écoute».142 Nicht nur die Transformation des Ichs in einen Anderen, sondern auch die Introspektion ist eine poetologische Forderung Rimbauds. Selbsterkenntnis ist für ihn die Voraussetzung des Dichtens: «La première étude de l’homme qui veut être poète est sa propre connaissance, entière; il cherche son âme, il la tente, l’apprend. Dès qu’il la sait, il doit la cultiver».143 Das Gedicht thematisiert demnach zwei Formen der Selbsterkenntnis als Fremder: Zum einen die rimbaudsche Selbstbeobachtung und die Transformation des Ichs in Poesie. Zum anderen eine christlich konnotierte Identifikation mit dem Anderen. Letztere kulminiert in der Überblendung des Ichs mit Christus, was zu Beginn des Gedichts durch den Vergleich mit dem eigenen Bild angedeutet wurde und im Folgenden durch das Motiv der Zeitung weiter ausgebaut wird. Die aufgeschlagene Zeitung wird mit einem Kruzifix verglichen; die Haltung des Lesers, welcher die Zeitung mit ausgebreiteten Armen hält, mit der Haltung Christi am Kreuze. Das Leben des lyrischen Ichs scheint sich in das in der Zeitung Berichtete zu verwandeln: Vie crucifiée dans le journal grand ouvert que je tiens les bras tendus Envergures Fusées Ébullition Cris. On dirait un aéroplane qui tombe. C’est moi. Passion Feu Roman-feuilleton Journal On a beau ne pas vouloir parler de soi-même Il faut parfois crier Je suis l’autre Trop sensible144

Auf die rimbaudsche Forderung der Selbsterkenntnis durch die Selbstobjektivierung, um nicht in eine «poésie subjective [...] toujours horriblement fadasse»145 zu verfallen, antwortet Cendrars mit einer Transformation des Ichs in den Anderen.

142 Arthur Rimbaud: Lettre à Paul Demeny du 15 mai 1871. In: ders.: Œuvres complètes. Herausgegeben von Pierre Brunel. Paris: Librairie génerale française 1999, S. 242. 143 Ebda. 144 Blaise Cendrars: ‘Journal’. In: PC, S. 65 f. 145 Arthur Rimbaud: Lettre à Georges Izambard du 13 mai 1871. In: ders.: Œuvres complètes. Herausgegeben von Pierre Brunel. Paris: Librairie génerale française 1999, S. 237.

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Aus dem selbstobjektivierenden «Je est» wird subjektiv-identifikatorisch «Je suis». Zudem ist der Andere bei Cendrars nicht unbestimmt und fern «un autre». Hier wird durch den bestimmten Artikel («l’autre») Nähe und stärkere Identifikation aufgezeigt. Der Grund dafür mag in der übersteigerten Sensibilität liegen, «trop sensible», welche das Gegenstück zum «dérèglement de tous les sens»146 darstellt. Die Sensibilität des «Je suis l’autre» steht auch für die Sensibilität, sich in andere Kulturen hineinzuversetzen und sprichwörtlich die ‘Masken’ der Indigenen anzuprobieren, was dem Autor der Anthologie nègre bekanntermaßen ein Anliegen war.147 Der Titel einer Ausstellung, die von September 2018 bis Januar 2019 in den Terme di Diocleziano in Rom Skulpturen des 20. Jahrhunderts zeigte, welche in Auseinandersetzung mit der ‘primitiven’ Kunst entstanden waren, ist daher sicherlich mit Bedacht gewählt: «Je suis l’autre. Giacometti, Picasso e gli altri. Il primitivismo nella scultura del novecento». Cendrars’ Gedicht bietet jedoch selbst eine – anders geartete – Parallele zur Kunstwelt. Im Vergleich zu Rimbauds «dérèglement de tous les sens» und der damit verbundenen Entrückung findet hier eine stärkere Konzentration auf den ‘lyrisme’ des Alltags statt: Varianten des eigenen Ichs und lyrische Sujets sind überall zu finden, von den eigenen Gemälden über Christus bis hin zur Zeitung. Gemein haben sie, dass sie alle im Kontext des Lebens stehen: Die Gemälde als Zeichen für das Leben, das sich verändert hat («Ma vie a bien changé depuis/[...]/J’ai même voulu devenir peintre»148), die Zeitung, welche eine Mischung aus öffentlichem und privaten Leben darstellt («Vie crucifiée dans le journal grand ouvert»149) und Christus, der mit seiner Auferstehung den Tod überwindet. Die Öffnung zum Alltag durch das Motiv der Zeitung erinnert an die Technik der Kubisten, Zeitungsausschnitte in ihre Kunstwerke zu integrieren. So können Kunst und Poesie selbst alle ‘Gesichter’ annehmen. So ist das Motiv der Maske in zahlreichen Varianten in Gedichten der Avantgarde, beispielsweise ‘Masque’ von Soffici, sowohl kubistisch als auch mit der ‘primitiven’ Kunst assoziiert.150 Ein Denkmal hat Soffici Apollinaire und dessen «âme d’enfant mystique»151 mit seinem Gedicht ‘Thrène pour Guillaume Apollinaire’ gesetzt, in dem er ihn als wild tanzend umgeben von Masken beschreibt:

146 Ebda. Hervorhebung im Original. 147 Vgl. Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 92. 148 Blaise Cendrars: ‘Journal’. In: PC, S. 65. 149 Ebda. 150 SOIV, S. 822–823. Dabei ist anzumerken, dass in Gedichten, die im Kontext des ersten Weltkrieges stehen, dann spezifisch Gasmasken gemeint sind. 151 Ardengo Soffici: ‘Thrène pour Guillaume Apollinaire’ [1927]. In: SOIV, S. 827 ff., hier S. 827.

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Dans un atelier Près de Montparnasse, Mêlé aux masques, aux paillasses D’une fête de carnaval, Dansant comme un fou; Et sans en sourire.152

Besonders häufig findet sich das Motiv bei Reverdy, beispielsweise in ‘Masque’,153 ‘Dehors’154 und ‘Carnaval’155, aber insbesondere in ‘Carrés’,156 wo das Thema zusätzlich durch die Anordnung des Textes, die das Bild einer Maske erzeugt, reflektiert wird. Ähnlich wie bei Cendrars wird bei Reverdy das Thema des Gesichtswechsels auch jenseits des Maskenmotivs ausgeführt, wobei dies wie bei Apollinaire im Zusammenhang mit der Vergänglichkeit der Zeit geschieht. In Abwandlungen verwendet er dazu mehrfach das Bild des nicht wiederzuerkennenden Gesichts – in ‘Plus tard’ im Zusammenhang mit dem Problem der Selbsterkenntnis durch die Veränderung in der Zeit:157 Est-il possible que ce soit nous-même en vieillissant? Il y a quelques morceaux de ruines qui tombent. Ceux-là ne se relèveront plus. Il y a aussi quelques fenêtres qui s’éclairent. Et devant la porte un homme solide et doux qui connaît sa force et qui attend. Il ne reconnaîtrait pas lui-même son visage.158

Das Bild des vor einer Tür oder einem Fenster wartenden Mannes, des Reisenden, der keine Einkehr findet, erscheint bei Reverdy immer wieder,159 erinnert aber auch an Apollinaires ‘Le voyageur’. ‘Les vides du printemps’ hingegen

152 Ebda., S. 828. 153 Pierre Reverdy: ‘Masque’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 391 f. 154 Pierre Reverdy: ‘Dehors’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 404 f. 155 Pierre Reverdy: ‘Carnaval’. In: ders.: Poèmes en prose [1915]. In: ROCI, S. 20. 156 Pierre Reverdy: ‘Carrés’. In: ders.: Quelques poèmes [1916]. In: ROCI, S. 67 f. 157 Vgl. Andrew Rothwell: Textual Spaces. The Poetry of Pierre Reverdy, S. 53. Ähnlich, aber bezogen auf die sich ankündigende oder bereits vollzogene Trennung von der Geliebten, wird auch in ‘Dans le monde étranger’ Vergänglichkeit mit dem Motiv des nicht wiederzuerkennenden Gesichts verknüpft: «De loin je revois ton visage/Mais je ne l’ai pas retrouvé/Disparaissant à mon passage/De la fenêtre refermée//Nous ne marcherons plus ensemble.» ROCI, S. 153. Vgl. auch ‘Au saut du rêve’. In: Pierre Reverdy: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 413. 158 Pierre Reverdy: ‘Plus tard’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 132. 159 U. a. ‘Encore marcher’. In: ROCI, S. 91. ‘Les vides du printemps’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 80. ‘Nomade’. In: ders.: Les Ardoises du toit [1918]. In: ROCI, S. 188. ‘Rue’. In: ders.: Les Ardoises du toit [1918]. In: ROCI, S. 200. ‘Avant l’heure’. In: ders.: Les Ardoises du toit [1918]. In: ROCI, S. 233.

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endet aufbauender, denn hier erkennt sich das verlorene Ich am Ende einer langen, von Hindernissen gezeichneten Reise wieder:160 Autrefois j’avais regardé ce miroir vide et n’y avais rien vu Du visage oublié à présent reconnu161

Ein solches Ende ist jedoch die Ausnahme bei Reverdy. Zumeist bestimmen melancholische Töne seine Lyrik, wie im Falle von ‘La Peau du cœur’. In diesem kryptischen Gedicht vermengen sich mehrere Zeitebenen. Der Beginn wirkt wie eine Erinnerung an die Kindheit und Jugend, in der das lyrische Subjekt fröhliche Erkundungstouren unternahm und das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit genoss: On descendait à travers bois en riant Un mur dégradé longe la route Par instants On aperçoit du monde Des maisons ne sont pas bien loin Et on ne nous abandonnera pas En passant devant la maison trop basse et sans étages En allant au-devant de ceux qui revenaient On chantait Autre chose plus loin nous attendait162

Der Vers «Autre chose plus loin nous attendait» könnte ein Verweis auf die bevorstehende Abnabelung vom Elternhaus und auf die Verheißungen der Zukunft sein, der die Kinder entgegenlaufen. Il a fallu revenir souvent La porte était fermée Et cette figure triste et ridicule Qui nous faisait trembler J’ai laissé quelqu’un loin de moi Je suis resté tout seul au milieu d’inconnus Et je ne pouvais plus me rappeler pourquoi j’étais venu J’ai changé de visage et de voix Et ceux qui m’ont connu ne me reconnaîtraient pas Le soleil dans les flaques de pluie s’est délayé Une fenêtre que le vent brutal aura fermée

160 Vgl. Andrew Rothwell: Textual Spaces. The Poetry of Pierre Reverdy, S. 81 ff. 161 Pierre Reverdy: ‘Les Vides du printemps’. In: ROCI, S. 81. 162 Pierre Reverdy: ‘La Peau du cœur’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 148.

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Autrefois nous étions face à face Et peu à peu je sens mon ombre qui s’efface163

Das bei Reverdy rekurrierende Motiv der verschlossenen Tür und des geschlossenen Fensters erfüllt hier die Funktion der Begrenzung des Ortes,164 der metaphorisch der Erinnerungsort der Kindheit und seines früheren Seins ist. Dieser Ort ist nicht mehr zugänglich und somit auch seine frühere Identität («J’ai laissé quelqu’un loin de moi»). Der Wind, der bei Reverdy für Veränderung steht,165 verwehrt den Zutritt zu diesem Ort. Aus einer bekannten Umgebung ist eine fremde geworden. Auch das lyrische Ich ist ein Fremder geworden. Durch das Erwachsenwerden haben sich sein Gesicht und seine Stimme geändert. Die eigene Verbindung zu seinem früheren Ich scheint gekappt: Saßen sich Kind und Erwachsener noch von Angesicht zu Angesicht gegenüber («nous étions face à face»), schwindet nun der Schatten («ombre») der Vergangenheit – eine Metapher für sein kindliches Alter Ego. Die Metamorphose des Kindes zum Mann ist abgeschlossen, er ist nicht mehr wiederzuerkennen. Von einer Begegnung mit seinem früheren Selbst durch die Erinnerung an die Kindheit («un pays lointain et noir») handelt auch ‘Vue d’autrefois’: Un souvenir remue à peine Mon cœur s’arrête d’écouter Les voix qui parlent Depuis longtemps tout ce qui s’est passé Est-ce le même En passant qui m’a regardé Ce sont les mêmes yeux qui tournent Mais le portrait s’est effacé Les traits de ton visage s’écartent Un autre vient Le front vieilli qu’avait caché ta main Enfin la voix qui parle Un enfant qui courait ne te rappelle rien Et celui qui s’en va là-bas Tes lèvres tremblent Dans un pays lointain et noir Tu lui ressembles166

163 Ebda., S. 148 f. 164 Vgl. Patrick Vayrette: Les Lieux de Reverdy. Abgeschlossene Doktorarbeit an der Université Michel de Montaigne – Bordeaux III, 2012, S. 44. 165 Vgl. Hubert Juin: ‘Préface’. In: Pierre Reverdy: Plupart du temps. Poèmes 1915–1922. Paris: Gallimard 2007, S. 9–25, hier S. 13 und S. 19. 166 Pierre Reverdy: ‘Vue d’autrefois’. In: ders.: Les Ardoises du toit [1918]. In: ROCI, S. 219.

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Stand in ‘La peau du cœur’ die Änderung durch die Metamorphose im Vordergrund, tritt in ‘Vue d’autrefois’ das Paradox der Metamorphose zum Vorschein: Metamorphose bedeutet zwar eine Gestaltänderung – und damit die Werdung einer neuen Person («Un autre vient») – doch handelt es sich im Wesentlichen um dieselbe Person, auch wenn sie kaum wiederzuerkennen ist («Ce sont les mêmes yeux», «Tu lui ressembles»).167 Reverdy thematisiert damit anhand der Frage nach der eigenen Identität durch die Zeit hinweg das Grundprinzip des mythischen Denkens, das Veränderung als Transformation begreift, aber auch das Grundprinzip des Mythos selbst, der immer gleich bleibt und sich zugleich verändert.168 Dieses Grundprinzip offenbart sich nicht nur in der Metamorphose, sondern auch in verschiedenen Formen des mythischen Zeitverständnisses, wie Kapitel III.3.3 zeigen wird. 2.2.2 Anthropomorphisierung und Animalisierung De la couleur, de la couleur et des couleurs... [...] L’esprit s’anime soudain et s’habille à son tour comme les animaux et les plantes Prodigieusement Et voici La peinture devient cette chose énorme qui bouge La roue La vie

In Cendrars’ ‘Construction’ ist das Porträt, das am Ende des Gedichts entsteht, eine Art Anthropomorphisierung des ‘Lebensgeistes’, dieser «chose énorme qui bouge». In diesem Bild nimmt das Geistige belebte Formen an («L’esprit s’anime soudain et s’habille à son tour comme les animaux»).169 Die Belebung der Formen ist auch ein Anliegen des Futurismus, dessen Kunst nicht als erstarrte Materie erscheinen soll. Stattdessen zielt er auf die Belebung des Stils ab: «Invece di umanizzare animali, vegetali, minerali (sistema sorpassato) noi potremo animalizzare, vegetalizzare, mineralizzare, elettrizzare o liquefare lo stile, facendo vi-

167 Dieses Thema behandelt auch das Gedicht ‘Fausse porte ou portrait’. In: ders.: Les Ardoises du toit [1918]. In: ROCI, S. 206. 168 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 169 Dieser Gedanke findet sich bei Cendrars auch in ‘L’ABC du cinéma’: «Et pourquoi la matière est-elle imprégnée d’humanité? A un tel point! Quel potentiel! Est-ce une explosion ou un poème hindou? Les chimies se nouent et se dénouent. La moindre pulsation germe et se fructifie. Les cristallisations s’animent. Extase. Les animaux, les plantes, les minéraux sont des idées, des sentiments, des chiffres.» AH, S. 36.

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vere della stessa vita della materia.»170 Allerdings sieht der Futurismus in der Praxis nicht, wie Marinetti angibt, von einer Vermenschlichung ab. Dies zeigt Simona Micali in ihrer Studie, in der sie mythisches Material und Anzeichen einer mythischen Logik im Futurismus herausarbeitet.171 Zu den mythischen Strukturen, die sich der Futurismus aneignet, gehören auch «l’animismo e la personificazione degli elementi naturali e cosmici, nonché l’animalizzazione degli oggetti culturali».172 Paradigmatisch dafür ist die Stelle im futuristischen Manifest, in der die Figur des Zentauren symbolisch für die Symbiose des Menschen mit dem Automobil und der Engel für die Symbiose des Piloten mit seinem Flugzeug steht: «Noi stiamo per assistere alla nascita del Centauro e presto vedremo volare i primi Angeli!»173 Micali erwähnt weitere Beispiele der «animalizzazione» im Futuristischen Manifest, unter anderem die vielen Vergleiche von Zügen mit Pferden («le locomotive dall’ampio petto, che scalpitano sulle rotaie, come enormi cavalli d’acciaio»174) oder Schlangen («serpi che fumano»175). Besonders häufig sind im Futuristischen Gründungsmanifest die Animalisierungen des Automobils. Um nur einige Beispiele zu nennen: Ci avvicinammo alle tre belve sbuffanti, per palparne amorosamente i torridi petti. lo mi stesi sulla mia macchina come un cadavere nella bara, ma subito risuscitai sotto il volante, lama di ghigliottina che minacciava il mio stomaco. [...] Con cura paziente e meticolosa, quella gente dispose alte armature ed enormi reti di ferro per pescare il mio automobile, simile ad un gran pescecane arenato. La macchina emerse lentamente dal fosso, abbandonando nel fondo, come squame, la sua pesante carrozzeria di buon senso e le sue morbide imbottiture di comodità. Credevano che fosse morto, il mio bel pescecane, ma una mia carezza bastò a rianimarlo, ed eccolo risuscitato, eccolo in corsa, di nuovo, sulle sue pinne possenti! [...] un automobile da corsa col suo cofano adorno di grossi tubi simili a serpenti dall'alito esplosivo... un automobile ruggente176

In ‘L’uomo molteplicato e il Regno della macchina’ wird die Maschine zur Geliebten anthropomorphisiert und «l’amore per la macchina»177 ausgerufen: «Non avete 170 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 73. Hervorhebung im Original. 171 Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello, S. 37. 172 Ebda., S. 36. 173 Filippo Tommaso Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo. In: MTI, S. 8. 174 Ebda., S. 11. 175 Ebda. 176 Ebda., S. 8–10. 177 Filippo Tommaso Marinetti: L’uomo molteplicato e il Regno della macchina [1915]. In: MTI, S. 297–301, hier S. 298.

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mai osservato un macchinista quando lava amorevolmente il gran corpo possente della sua locomotiva? Sono le tenerezze minuziose e sapienti di un amante che accarezzi la sua donna adorata.»178 Umgekehrt wird der Mensch mechanisiert. Der Futurismus konzipiert den Menschen der Zukunft als eine Art Hybrid zwischen Mensch und Maschine: Noi crediamo alla possibilità di un numero incalcolabile di trasformazioni umane, e dichiariamo senza sorridere che nella carne dell’uomo dormono delle ali. Il giorno in cui sarà possibile all’uomo di esteriorizzare la sua volontà in modo che essa si prolunghi fuori di lui come un immenso braccio invisibile il Sogno e il Desiderio, che oggi sono vane parole, regneranno sovrani sullo Spazio e sul tempo domati.179

Micalis Untersuchung der Manifeste stimmt mit Meters Analyse der futuristischen Lyrik darin überein, dass technische Gegenstände durch Vergleiche aus dem Tier- oder Pflanzenreich oder durch Anthropomorphisierungen in ein natürliches Gefüge rückintegriert werden.180 In der zunehmenden Technisierung werden moderne Phänomene naturalisiert und animiert: Die neuen zivilisatorischen Objekte sind nur Bereicherungen eines Repertoires mit bekannten und geregelten Funktionen. Die Auflösung der Maschine in panchronischer Naturbildlichkeit und Harmonie zeigt, daß die zivilisatorische Entwicklung in festgefügte Lebensnormen nicht eingreift. Sie wird rein ästhetisch verformt und angepaßt.181

Das Phänomen der Vermenschlichung oder Animalisierung technischer Errungenschaften, teilweise mit Rückgriff auf topische Bildelemente der Bukolik, findet sich auch bei den anderen Autoren: In ‘Zone’ von Apollinaire wird der Eiffelturm als Schäferin wahrgenommen («Bergère ô tour Eiffel le troupeau des ponts bêle ce matin»)182 und das Flugzeug als Vogel («L’avion se pose enfin sans refermer les ailes»).183 Diesen Vergleich nimmt Apollinaire in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ wieder auf: «Les airs se peuplent d’oiseaux étrangement humains. Des machines, filles de l’homme et qui n’ont pas de mère, vivent une vie dont les passions et les sentiments sont absents».184 In seiner Beschreibung ist

178 Ebda. 179 Ebda., S. 299. 180 Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello, S. 37 und Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 27 f. 181 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 30. 182 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 39. 183 Ebda., S. 40. 184 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 949.

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das Flugzeug nicht nur ein vogelartiges Wesen, sondern erscheint auch menschlich185 – hier zeigen sich trotz der kritischen Einstellung Apollinaires Parallelen zum Futurismus. Vögel dienen auch als Vergleichsmotiv für die Telegraphie im Gedicht ‘Voyage’: «Télégraphie oiseau qui laisse tomber ses ailes partout».186 Meters Schluss, die Anthropomorphisierung mache deutlich, «daß die Technik [in den Gedichten] nur als Spielart einer mythisch-irrationalen Gesetzmäßigkeit betrachtet ist, die das Leben prädestiniert»,187 trifft auch auf Cendrars zu. In Prose du transsibérien et de la petite Jeanne de France werden Motorengeräusche mit dem Muhen von Stieren verglichen: «Les moteurs beuglent comme les taureaux d’or»188 In dieser Perspektive ist das Mythische hochmodern, gleichzeitig erscheint die Moderne dadurch weniger modern189 – «La modernità è lontana come il melodramma di Ramsete II» heißt es in dem mit ‘Noia’ betitelten Gedicht Sofficis: I tramways son rondini gialle Stridenti radendo le strade; I treni girellano per le campagne come seminari in fila; Le automobili sono burrasche primitive di vento e polvere; E i tauben, il nome stesso dice che sono colombe. Il cielo solo pare una crema impazzata; Ma anche i biglietti di banca Odoran di fiori di mandorlo.190

Das Bedürfnis, technische Erscheinungen der modernen Zivilisation in gewohnte Kontexte zurückzuführen, ist jedoch nicht die einzige Erklärung für das Phänomen. Auch in Bezug auf das Zweite Futuristische Manifest ‘Uccidiamo il chiaro di luna’, welches kaum technische Neuerungen zum Gegenstand hat, konstatiert Micali, dass Unbeseeltes vermenschlicht oder animalisiert wird: «L’animismo applicato agli elementi naturali e al mondo vegetale si estende qui praticamente a tutti

185 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 291: «Apollinaire humanisiert die Maschine, bei den futuristischen Lyrikern wird sie zu einem anthropomorphen Wesen.» 186 Guillaume Apollinaire: ‘Voyage’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 198 f. hier S. 199. 187 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 28. 188 Blaise Cendrars: Prose du transsibérien et de la petite Jeanne de France. In: PC, S. 33. 189 «Die mythische Verwurzelung nimmt der Zivilisationsperspektive das wirklich Neue. Die superlativische Ankündigung eines neuen Zeitalters bedarf des sakralen Prozesses.» Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 40. 190 Ardengo Soffici: ‘Noia’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 725 ff., hier S. 726.

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gli elementi nominati, che vengono dotati di una soggettività e di una volontà autonoma.»191 Anthropomorphisierungen treten nicht nur im Zusammenhang mit der Technik auf. Man denke beispielsweise an den Sonnenuntergang in ‘Zone’ («soleil cou coupé»192). So können auch Landschaften und andere Naturgegebenheiten menschliche Eigenschaften erhalten. In ‘La victoire’ erhält das Meer eine Stimme: Écoutez la mer La mer gémir au loin et crier toute seule Ma voix fidèle comme l’ombre Veut être enfin l’ombre de la vie Veut être ô mer infidèle comme toi La mer qui a trahi des matelots sans nombre193

Die Avantgarde findet auch aufgrund ihrer vitalistischen Tendenz einen Anknüpfungspunkt an die Anthropomorphisierung, welche, so Cassirer, die «mythische Phantasie»194 ausmacht. Wie Cassirer verdeutlicht, steht die Anthropomorphisierung im Zusammenhang mit der Neigung des mythischen Bewusstseins, alles mit Leben zu versehen und als lebendig wahrzunehmen: Everything in mythical thought assumes a special physiognomy. [...] The things that surround him [man] are not dead-stuff; they are filled and impregnated with emotions.195

Cassirer selbst sieht in der Lebendigkeit stiftenden Eigenschaft der Anthropomorphisierung eine Verbindung zwischen mythischem Denken und Dichtung: The poet – the true poet – does not live and cannot live in a world of dead things – of physical or material objects. He cannot approach nature without by the very manner of this approach constantly vivifying and animating nature. In this respect genuine poetry always preserves the fundamental structure of mythical feeling and mythical imagination. Myth and art are living in a personal world, not in a physical world.196

Die Tendenz des Mythos zur Anthropomorphisierung erklärt sich Cassirer daraus, dass der Mythos keine kausalen, sondern nur physiognomische Erklärungsmuster kenne:

191 192 193 194 195 196

Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello, S. 42. Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 44. Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 311. MD, S. 68. LAII, S. 173. Ebda., S. 188.

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All sorts of affections – fear, sorrow, anguish, excitement, joy, orgasm, exultation – have, so to speak, a shape and a face of their own. In this respect we may define myth not as a theoretical or causal interpretation of the universe but as a physiognomical interpretation.197

Die Verarbeitung von Emotionen durch die Anthropomorphisierung tritt besonders bei der Darstellung der Landschaft in den Kriegsgedichten zum Vorschein. Die Umgebung wird bei Apollinaire emotional eingefärbt, etwa wenn der Schützengraben sich in ein lebendiges Wesen verwandelt: Il me semble assister à un grand festin éclairé à giorno C’est un banquet que s’offre la terre Elle a faim et ouvre de longues bouches pâles La terre a faim et voici son festin de Balthasar cannibale198

Auch das Raketenfeuer in ‘Merveille de la guerre’ wird anthropomorphisiert und mit weiblichen Figuren verbunden: Que c’est beau ces fusées qui illuminent la nuit Elles montent sur leur propre cime et se penchent pour regarder Ce sont des dames qui dansent avec leurs regards pour yeux bras et cœurs199

In ‘Chant de l’honneur’ wird ebenfalls der Graben anthropomorphisiert und als Geliebte dargestellt – ein Thema, das wiederum in Apollinaires Theaterstück Couleur du Temps aufgenommen wird:200 LA TRANCHÉE O jeunes gens je m’offre à vous comme une épouse Mon amour est puissant j’aime jusqu’à la mort Tapie au fond du sol je vous guette jalouse Et mon corps n’est en tout qu’un long baiser qui mord201

Die Kugeln in ‘Chant de l’honneur’ nehmen die Gestalt von Bienen an: «De nos ruches d’acier sortons à tire-d’aile/Abeilles le butin qui sanglant emmielle».202 Es scheint, als würde die tödliche Munition durch den Vergleich eines kleinen,

197 Ebda., S. 173. 198 Guillaume Apollinaire: ‘Merveille de la guerre’ [1917]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916). In: Po, S. 271 f., hier S. 271. 199 Ebda. 200 Vgl. Guillaume Apollinaire: Couleur du temps. Drame en trois actes et en vers [1918]. In: Po, S. 915–962, hier S. 929. 201 Guillaume Apollinaire: ‘Chant de l’honneur’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 304–306, hier S. 305. 202 Ebda.

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zwar stechenden, aber im Grunde harmlosen Wesens marginalisiert. Auch die Anthropomorphiserungen der vorangehenden Beispiele könnten zu dem Schluss einer Verharmlosung oder gar Glorifizierung des Krieges verführen. Der Versuch, in der lebensbedrohlichen Lage seine Umgebung zu bevölkern und mit Leben zu versehen, wird in den Kriegsgedichten als eine Strategie genutzt, um in dieser Grenzerfahrung, welche sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht, Sinnstrukturen zu finden. Dass in den Kriegsgedichten die «physiognomical interpretation» einer «theoretical or causal interpretation of the universe» weicht, und somit mythische Motive und Strukturen verstärkt aufgegriffen werden, ist weniger als Verherrlichung oder Mythifizierung der Kriegserfahrung zu sehen, denn als Überlebensstrategie.203 2.2.3 Bildmetamorphosen und Bildketten: Die Beziehung zwischen den Dingen Als weitere ästhetische Umsetzung des Metamorphosengedankens lässt sich die von Apollinaire angewandte Technik der Bildketten und -metamorphosen anführen. Neben ‘Vendémiaire’ sind auch ‘Zone’, ‘La jolie rousse’, ‘Cortège’ und ‘Le brasier’ Beispiele dafür, wie durch freie Assoziationen ein Bild das andere ablöst.204 Meter charakterisiert auf ähnliche Weise Marinettis spätsymbolistische Sammlung Destruction als «eine endlose Bilderflut, die durch stetige Metamorphose eines Bildes in ein anderes zusammengehalten wird.»205 Ihren Höhepunkt findet die Technik der Bildmetamorphosen jedoch in Marinettis futuristischer Phase, wo sie unter dem Konzept der ‘parole in libertà’ ausgebaut und als adäquate Wahrnehmungsform der Welt präsentiert wird. Diese

203 Dass die Auffassung, bei Apollinaires Gedichten handle es sich um eine Verherrlichung des Krieges, eine Fehlinterpretation ist, macht u. a. auch Claude Debon deutlich. Claude Debon: Guillaume Apollinaire après Alcools. I Calligrammes: le poète et la guerre. Paris: Minard 1981. Zur Zusammenfassung der Kontroverse, vgl. Els Jongeneel: Les combats d’Orphée: la poésie de guerre de Guillaume Apollinaire. Relief 8 (2014), S. 1–14. 204 Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 211. Margaret Davies spricht ebenfalls von einer «chaîne de métamorphoses» im Zusammenhang mit Apollinaires ‘Les Fenêtres’ und ‘Un oiseau qui chante’. Margaret Davies: La Mandoline l’œillet et le bambou. Que Vlo-Ve? 1, 29–30 (1981), S. 1–13, hier S. 3. Didier Alexandre konstatiert die Technik der Bildketten in ‘Les fiançailles’. Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 55. Chevalier versteht das Gedicht Le Brasier in seiner Analyse als eine «métamorphose du Je». Das Gedicht sei ein niemals zu Ende gehender Wiederbeginn. JeanClaude Chevalier: Alcools d’Apollinaire: Essai d’analyse des formes poétiques. Paris: Minard 1970, S. 199. Vgl. auch Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 335. 205 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 67.

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neue Art der Wahrnehmung soll einer Welt gerecht werden, die als ein Zusammenspiel bewegter Kräfte gesehen wird: Le parole in libertà sono un nuovo modo di vedere l’universo, una valutazione essenziale dell’universo come somma di forze in moto che s’intersecano al traguardo cosciente del nostro io creatore e vengono simultaneamente notate con tutti i mezzi espressivi che sono a nostra disposizione.206

Die Bewegung der Objekte erzeuge Bildketten, «la catena delle analogie», sogar ganze Bildnetze, «reti d’immagini», welche zur Darstellung gebracht werden sollen.207 Nicht nur bei Marinetti, auch bei Cendrars erfüllt die Technik der Bildmetamorphose den Anspruch, die moderne Vision des Lebens in seiner Bewegung darzustellen. Cendrars stellt dabei einen Zusammenhang mit dem Wegfall der Perspektive her: Pourtant, nous avons appris à voir la beauté dans le mouvement du spectacle, en promenade, en tramway, en chemin de fer, en auto. Quand une image chassait l’autre, quand une image se reliait à l’autre, ou quand elles se confondaient momentanément. De même, la perspective ignore les objets mobiles.208

Ähnlich wie im von Cassirer beschriebenen mythischen Denken haben die Dinge für Cendrars nicht mehr eine «definite and permanent shape»:209 «Ce qui autrefois était un objet solide et figé est emporté dans un devenir qui déborde, en mille corrélations, en mille rapports, en mille remous.»210 Die Kompaktheit der Dinge wirkt derartig aufgelöst, dass auch die Bewegung nicht mehr als Verbindung einzelner, fixer Punkte konzipiert ist, sondern als ein kontinuierliches Ineinanderübergehen eines Bildes in das nächste erscheint: Ce qui est en mouvement doit cruellement se figer en un point. En vérité, nous ne voyons pas plus ce point que le mouvement ne se compose d’une somme continue de points d’arrêt. Ce que nous voyons plutôt, c’est une foule d’images pressées, se poussant les unes les autres.211

206 Filippo Tommaso Marinetti: La tecnica della nuova poesia [1937]. In: MTI, S. 210–213, hier S. 212. Hervorhebung im Original. 207 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista [1912]. In: MTI, S. 46–62, hier S. 49. Hervorhebungen in fett und kursiv im Original. 208 Blaise Cendrars: La perspective [1912]. In: AH, S. 180 ff., hier S. 180. 209 LAII, S. 174. 210 Blaise Cendrars: La perspective. In: AH, S. 180. 211 Ebda.

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Soffici illustriert diese Wahrnehmung von Bewegung in seinem Gedicht ‘Correnti’: Tavola degli anni, paesi e pensieri: Dalla bicicletta all’amore, segnalazioni interplanetari di cose e spirito. È tutta una chimica, e il mondo ubriaco fradicio oscilla fra un binario e l’altro. Non ci sono più stazioni.212

Die Welt wird hier ‘im Fluss’, d. h. als ein einziger großer Zusammenhang («Non ci sono più stazioni») wahrgenommen, sodass zwischen Liebe und Fahrrad direkte Verbindungen zu einem größeren Ganzen bestehen («segnalazioni interplanetari di cose e spirito»). Der Zusammenhang zwischen den Dingen in der Welt ähnelt chemischen Reaktionen («È tutta una chimica»), welche selbst eine Form der Transformation bzw. Metamorphose darstellen. In diesem Prozess wird Energie freigesetzt, die bei Soffici als Bewegung oder dynamisches Flimmern in Erscheinung tritt («oscilla fra un binario e l’altro»). Der Gedanke des Zusammenhangs zwischen den Dingen steht auch am Ende von ‘Aeroplano’: Conosco il simbolo, la cifra, il legame Elettrico, La simpatia delle cose lontane Ma ci vorrebbero delle frutta, delle luci e delle moltitudini Per tendere il festone miracolo di questa pasqua. Il giorno si sprofonda nella conca scarlatta dell’estate; E non ci sono più parole Per il ponte di fuoco e di gemme. Giovinezza, tu passerai come tutto finisce al teatro. Tant pis! Mi farò allora un vestito favoloso di vecchie affiches.213

Diese Ästhetik der ‘Affiches’ und der ‘Journals’, bei der scheinbar Disparates in einen Zusammenhang gebracht ist, findet auch bei den anderen Autoren Anklang.214 Wie eine Zeitung oder ein Werbeprospekt,215 wo die verschiedensten

212 Ardengo Soffici: ‘Correnti’ In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 734 ff., hier S. 734. 213 Ardengo Soffici: ‘Arcobaleno’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 717–720, hier S. 720. 214 Beispielsweise in Apollinaires ‘Zone’ und in Cendrars’ Gedichten ‘Titres’ und ‘Journal’. Siehe auch Reverdys ‘Départ’. Zu letzterem vgl. Klaus Dirscherl: Wirklichkeit und Kunstwirklichkeit. Reverdys Kubismustheorie als Programm für eine a-mimetische Lyrik. In: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. Fink: München 1982, S. 445–480. 215 Apollinaire stellt fest: «La publicité devient bien littéraire.» Guillaume Apollinaire: Publicité [1914]. In: PrIII, S. 207–211, hier S. 207. Ebenso Cendrars: «Ce qui caractérise l’ensemble de la publicité mondiale est son lyrisme» Blaise Cendrars: ‘Publicité = Poésie’ [1927]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 117.

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Bereiche des Lebens auf einer Seite abgedruckt sind, versuchen die Gedichte, mannigfaltige Sinneseindrücke und die Fülle der Welt in Beziehung zueinander zu setzen und in ihrer Gleichzeitigkeit abzubilden.216 In der «simpatia delle cose lontane» zeigt sich noch das Erbe von Baudelaires ‘Correspondances’, das auch Reverdys Dichtungsverständnis zugrunde zu liegen scheint. Der Gedanke einer universellen Analogie findet sich in seiner Bildtheorie: Le vrai poète (l’artiste aussi) est celui qui a, comme première force le sens de la réalité.... Or, plus le sens de la réalité s’élargit, se développe et grandit en force, plus l’intérêt étroit et particulier s’efface devant l’ensemble universel: ce n’est plus une chose isolée que l’on perçoit, mais ses rapports avec les autres choses, et ces rapports des choses entre elles et avec nous sont la trame extrêmement ténue et solide à la fois de l’immense, de la profonde, de la savoureuse réalité.217

Der Beziehung zwischen den Dingen in der Poesie sollte auch der Kritiker besonderes Augenmerk schenken: Comment tel poète crée ses images, par quelle association il rapproche des éléments lointains et divers, les rapports de ces éléments entre eux, les moyens d’expression propres à ce poète, pour quelles raisons (vocabulaire, syntaxe) il obtient tel résultat particulier voilà ce que le critique peut apprendre au public.218

Van den Heede konstatiert eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Paul Claudels Dichtungsverständnis.219 Auch Claudel sieht das Poetische in den Beziehungen zwischen den Dingen: partout où il y a silence, un certain silence, partout où il y a attention, et surtout partout où il y a rapport, ce rapport secret, étranger à la logique et prodigieusement fécond, entre les choses, les personnes et les idées qu’on appelle analogie et dont la rhétorique a fait la métaphore, il y a poésie220

216 Das Thema wird auch von Apollinaire in dem Eröffnungsgedicht der Calligrammes behandelt, ‘Liens’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 167. 217 Pierre Reverdy: Le Gant de crin [1927]. In: ROCII, S. 541–642, hier S. 567 f. Hervorhebung K. R. Ausführlich zur Funktion des Bildes bei Reverdy siehe Michel Murat: Le don des images. In: Littérature 183, 3 (2016), S. 10–22. 218 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 526. 219 Philippe van den Heede: Réalisme et vérité dans la littérature: Réponses catholiques: Léopold Levaux et Jacques Maritain. Fribourg: Academic Press 2006, S. 362. 220 Paul Claudel: La poésie est un art, zitiert aus: Philippe van den Heede: Réalisme et vérité dans la littérature: Réponses catholiques: Léopold Levaux et Jacques Maritain.

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Zwar ist Claudel nicht der Avantgarde zuzuordnen, doch zeigt seine Beschreibung, wie sich der Gedanke der Beziehung zwischen den Dingen in die Sprache der Dichtung, insbesondere in eine Bild- und Metapherntheorie, überträgt. Bei den Avantgarde-Dichtern – mit Ausnahme vielleicht von Reverdy, welcher sich um 1926 bewusst dem Katholizismus zuwendet – wird dieser Gedanke jedoch nicht mehr direkt wie bei Claudel mit dem christlichen Gedankengut verbunden. Auf eine indirekte Weise geschieht dies durch die Rezeption der italienischen Barockpoetik. Neben dem Verweis auf Baudelaire ist die «simpatia delle cose lontane», die Technik der Analogiebildung und des Zusammenführens entfernter Bereiche zu Metaphern Ausdruck der Sympathie der Avantgarde für die barocke Metapherntheorie der Concetti,221 nach der verschiedene, möglichst weit voneinander entfernte Sinn- und Seinsbereiche zusammengebracht werden sollen: Je weiter entfernt die in der Metapher zusammengebrachten Objekte sind, desto größer ist der gewünschte Effekt des Unerwarteten und Neuen.222 Es ist kein Zufall, dass Soffici den barocken Dichter Giambattista Marino als «pioniere della modernità» bezeichnet,223 denn dessen Technik, entfernte Elemente in Beziehung zu setzen, findet auch in den futuristischen Assoziationsketten Anwendung. Wie sehr die ‘immagini senza fili’ in der barocken Tradition stehen, alles durch Bilder ungebrochen miteinander in Beziehung zu setzen,224 wird besonders an einer Stelle deutlich, in der Soffici Originalität definiert: Originalità = prolungamento d’ipotesi artistiche. Approfondire la sensazione fino a stabilire una corrente emotiva fra le più lontane analogie. Ampliare sempre più l’immagine,

221 Apollinaire vergleicht Marino mit dem fast homonymen Marinetti mit Bezugnahme auf die Technik der Concetti: «Après les concetti du cavalier Marin, les concetti du cavalier Marinetti sont en train d’inonder la France.» Guillaume Apollinaire: Au Salon des Indépendants [1914]. In: PrII, S. 650 f., hier S. 651. 222 «quegli è più ingegnoso, che può conoscere & accoppiar circonstanze più lontane», und «Similmente, più ingegnosa & acuta è la Metafora, quando le notioni son tanto Lontane, che fia mestieri di scendere molti gradi in un’attamo, per arrivarvici.» Emanuele Tesauro: Il cannocchiale aristotelico, o sia, Idea dell’arguta et ingeniosa elocutione: che serve à tutta l’arte oratoria, lapidaria, et simbolica, esaminata co’ Principij del divino Aristotele. Torino: Bartolomeo Zauatta 1670, S. 82 u. 270. 223 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 696. Des Weiteren schreibt er «L’arte del seicento ha ora un suo nuovo momento di grande moda.» Ders.: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 728. 224 Dies zeigt sich auch in der Vorliebe der Barocklyrik für die ‘metafora continuata’ – welche im Gegensatz zur einfachen Metapher eine Art fortgesetzte Metapher bzw. ein Metaphernkomplex ist. Vgl. Rüdiger Zymner: Manierismus und Metapher. In: Benjamin Specht (Hg.): Epoche und Metapher: Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 145–157, hier S. 147.

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liberarla via via dagli impacci dell’ultimo logicismo, dell’ultimo buon senso, dell’ultima vigliaccheria. Condurla verso la sua pura funzione dinamica espressiva.225

Dabei erweist sich das, was der Barocklyrik seitens der Literaturkritik gern vorgeworfen wird – die Concetti seien übertriebene, weit hergeholte Vergleiche und deshalb lächerlich226 –, für Soffici nicht als Mangel, sondern als Ausdruck der künstlerischen Freiheit und Originalität. Damit folgt er der futuristischen Ästhetik, welche die Bildung von Analogien zwischen möglichst weit entfernten Bereichen fordert: V’è in ciò una gradazione di analogie sempre più vaste, vi sono dei rapporti sempre più profondi e solidi, quantunque lontanissimi. L’analogia non è altro che l’amore profondo che collega le cose distanti, apparentemente diverse ed ostili. [...] La poesia deve essere un seguiti ininterrotto d’immagini nuove, senza di che non è che anemia e clorosi. Quanto più le immagini contengono rapporti vasti, tanto più a lungo esse conservano la loro forza di stupefazione.227

Auch für Reverdy ist die Verbindung entfernter Bereiche ein Zeichen von poetischer Qualität und Ausdruckskraft: L’image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.228

Trotz der möglichst weit hergeholten Bildverbindungen sind die Bilderströme bei Soffici, ähnlich wie bei Apollinaire, nicht durchweg chaotisch, sondern lassen sich noch auf ein wahrnehmendes Subjekt zurückführen. Soffici führt dies selbst in ‘Cubismo e Futurismo’ aus: L’opera non è svolgimento di un soggetto, né l’espressione di una sensazione unica, e nemmeno di un gruppo di sensazioni presenti e attuali, ma un flusso, un tessuto di sensazioni diffuse concentricamente intorno al punto geniale espressivo – il creatore – connaturato alla causalità dell’attimo e del luogo in cui si opera l’atto creativo.229

225 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 699. 226 Hugo Friedrich sieht gerade in dieser Vorliebe für die Vereinigung entfernter Bilder, dass die Barocklyrik sich über diese Absurdität der Banalität hingibt. Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1964, S. 602. Auch S. 559 f. 227 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 72. Hervorhebung im Original. 228 Pierre Reverdy: L’image. In: ROCI, S. 495. 229 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. Hervorhebungen K.R.

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Die objektive Welt ist bei Soffici subjektiv ‘durchfärbt’ und auf dieses Subjekt zurückzuführen. Dies wird besonders deutlich in seinen lyrischen Farbverläufen, einer weiteren Form der Bildmetamorphose. In ‘Atelier’ beschreibt sich das lyrische Ich als jemand, der die Sinne wie Fenster aufreißt und alle Spektren des Lichts auf sich einströmen lässt: Io sono uno spalancatore di finestre E di sensi: Ogni colore Canta come un uccello, Uno strumento, Una passione: Blu, giallo, verde, cobalto, Vermiglio, nero e rosa tenero: I miei occhi magnetici attiran le luci E i ricordi Dai quattro punti del mondo; Addipano l’arcobaleno.230

Der Regenbogen ist ein Schlüsselmotiv bei Soffici. In ‘Aeroplano’ bezeichnet er seine Technik selbst als «transustanziazione dell’arcobaleno»,231 womit er wieder einen Bezug zur Denkfigur der Metamorphose herstellt. Wie ein Regenbogen, in dem eine Farbe in die nächste übergeht, verlieren die Gegenstände ihre harten Konturen, gehen ineinander über und verwandeln sich in etwas Anderes: Stringo il volante con mano d’aria, Premo la valvola con la scarpa di cielo; Frrrrrr frrrrrr frrrrrr, affogo nel turchino ghimè, Magio triangoli di turchino di mammola, Fette d’azzurro; Ingollo bocks di turchino cobalto, Celeste di lapislazzuli, Celeste blu, celeste chiaro, celeste lumiera; [...] Il cubo nero è il pensiero del ritorno, che cancello con la mia lingua accesa e lo sguardo di gioia Dal bianco quadrante dell’altimetro rotativo.

230 Ardengo Soffici: ‘Atelier’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 731 ff., hier S. 731. 231 Ardengo Soffici: ‘Aeroplano’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 739–742, hier S. 741.

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Impennamento erotico fra i pavoni reali delle nuvole; Capofitto nelle stelle più grandi, color di rosa;232

Die Farben sind dabei zugleich Träger von Emotionen233 («Il cubo nero ....», «Impennamento erotico ...»), sodass auch hier die materielle ‘objektive’ Welt individuelle Färbungen erhält und belebt wird, was Cassirer ebenfalls für das mythische Denken diagnostiziert.234 Dies lässt sich auch in weiteren Gedichten Sofficis feststellen, u. a. in ‘Specchio’ («Zona seconda a sinistra nel rosa profondo del muro rifranto/Lo sciaguattio dei paesaggi/Aperti odorosi terre e verdure che l’anima vorrebbe mangiare»235), ‘Noia’ («Colori in guerra di cioccolatini e di nastri»236) und ‘Arcobaleno’ («Ma anche l’urlo di una sirena/Che rimescola i colori del mattino/E dei sogni/Non si dimentica, né il profumo di certe notti affogate nelle ascelle di topazio»237).238 Die Synästhesien in ‘Arcobaleno’ erinnern an Rimbauds ‘Voyelles’. Auf ähnliche Weise verknüpft Soffici Farben mit verschiedenen Bildern und Emotionen in ‘Colori’: Verde: gioventù de’ tempi, acque chiare, Golfi di freschezza, occhi e gemme. Lampi glaciali ai cristalli delle città Notturne: brividi d’eternità Delle stelle e del mare. Rosso: giocondità de’ baccanali, Bandiere spiegate nel sole, Vino, canti e sangue di popoli Ne’ crepuscoli trionfali; Letti profondi d’amore. Celeste: tristezza di grandi pensieri.239

232 Ardengo Soffici: ‘Aeroplano’. In: SOIV, S. 740. 233 Vgl. Mila Milani: Soffici between Marinetti’s Futurism and Apollinaire. In: Selena Daly/ Monica Insinga (Hg.): The European avant-garde. Text and image. Newcastle upon Tyne: Cambridge scholars publishing 2012, S. 154–170, hier S. 164. 234 MD, S. 11. Vgl. auch das Kapitel III.2.2.2 ‘Anthropomorphisierung und Animalisierung’ der vorliegenden Arbeit. 235 Das am 15. November 1915 in La voce erschienene Gedicht wurde in keiner Soffici Edition aufgenommen. Text und Kommentar finden sich bei Antonio Pietropaoli: Poesie in libertà: Govoni, Palazzeschi, Soffici. Napoli: Guida 2003, S. 248 ff. 236 Ardengo Soffici: ‘Noia’. In: SOIV, S. 727. 237 Ardengo Soffici: ‘Arcobaleno’. In: SOIV, S. 718. 238 Vgl. Mila Milani: Soffici between Marinetti’s Futurism and Apollinaire, S. 164 f. 239 Ardengo Soffici: ‘Colori’. In: ‘Intermezzo’. In: Marsia e Apollo [1938]. In: SOIV, S. 766.

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Sind die Analogien hier noch synästhetisch nachvollziehbar, wird der Bezug bei Marinetti bis zur Unkenntlichkeit verknappt. Der Grund dafür liegt in seiner Forderung, der Dichter möge diese «immensi reti di analogie» mit größter Geschwindigkeit herstellen: «Egli darà così il fondo analogico della vita, telegraficamente, cioè con la stessa rapidità economica che il telegrafo impone ai reporters».240 Der Eindruck von rasanten Bildmetamorphosen wird erzeugt, indem bei Metaphern Vergleichspartikel wie ‘come’ bzw. ‘comme’ wegfallen und der Subjektbezug der Aussagen undeutlich ist. Laut der futuristischen Theorie der ‘immaginazione senza fili’ bzw. der ‘parole in libertà’ lautet die Aufgabe des Dichters dementsprechend: «l’immaginazione del poeta deve allacciare fra loro le cose lontane senza fili conduttori, per mezzo di parole essenziali in libertà.»241 Die verschiedenen Verbindungen sollen sich komprimiert durch ein Wort oder durch äußerst verknappte Vergleiche von möglichst weit auseinanderliegenden Bildern ausdrücken, welche aneinandergereiht werden: «La poesia deve essere un seguito ininterrotto d’immagini nuove, senza di che non è altro che anemia e clorosi. Quanto più le immagini contengono rapporti vasti, tanto più a lungo esse conservano la loro forza di stupefazione ...»242 Marinetti setzt diese Technik unter anderem in Zang Tumb Tumb um. Wie der Titel bereits anzeigt, werden hier lautmalerische Elemente eingesetzt. Diese verstärken den Eindruck, man würde sich in einem Strudel von Bildern und Geräuschen befinden. Zu Beginn dient passenderweise eine Zugfahrt als Hintergrund für den sich entfaltenden Strom von Sinneswahrnehmungen, deren Bedeutung das Gedicht einleitend noch erklärt: treno treno febbre del mio treno express-express-expressssssss press-press press-press- press-press- press-press- press-presspress-press-pressssssss punzechiato dal sale marino aromatizzato dagli aranci cercare mare mare mare balzare balzare rotaie rotttttaie balzare roooooottttaie roooooooottaie (GOLOSO SALATO PURPUREO FALOTICO INEVITABILE INCLINATO IMPONDERABILE FRAGILE DANZANTE CALAMITATO) spiegherò

240 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 70–71. 241 Ebda., S. 71. Hervorhebungen im Original. 242 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. In: MTI, S. 48.

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queste parole voglio dire che cielo mare montagne sono golosi salati purpurei ecc. e che io sono goloso salato purpureo ecc.243

Im weiteren Verlauf des Gedichts verlieren die Bildverbindungen immer mehr an erkennbarem Zusammenhang. Laut Marinetti ist der futuristische Dichter nur durch derartige Kompression von entfernten Analogien in der Lage, der polymorphen Welt gerecht zu werden: «Solo per mezzo di analogie vastissime uno stile orchestrale, ad un tempo policromo, polifonico e polimorfo, può abbracciare la vita della materia.»244 Auch Reverdy strebt an, den Vergleich so direkt wie möglich zu machen und ohne sich des Vergleichswortes «comme» zu bedienen: «J’ai préféré rapprocher plus directement encore les éléments divers par leurs amples rapports et me passer de tout intermédiaire pour obtenir l’image.»245 Die beiden Realitäten würden sich in einem Bild zu einer Einheit verbinden und so zu einem neuen Gegenstand werden, welcher «surprise» hervorrufe.246 Wie Hubert Juin betont, geht es Reverdy in der Verbindung der entfernten Gegenstände zu einem Bild nicht um eine Provokation mit dem Ziel der Verblüffung, sondern um die neue Realität, die durch das Bild selbst entsteht: Sa théorie de l’image est au contraire du stupéfiant-image dont les surréalistes firent, un temps, la pierre philosophale. Il s’agit de rapprocher deux termes non pas arbitrairement choisis, mais le plus lointainement accordés afin de drainer entre eux la plus grande part possible de réalité.247

Mit seiner Bildtheorie setzt Reverdy die Forderung nach einer nicht imitativen Kunst um, denn die Emotion wird nicht durch einen vorgefundenen Gegenstand hervorgerufen, nicht durch eine einfache Beobachtung, sondern durch die Verbindung zweier normalerweise entfernter Realitäten: «L’émotion ainsi provoquée est pure, poétiquement, parce qu’elle est née en dehors de toute imitation, de toute évocation, de toute comparaison.»248 243 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Zang Tumb Tumb’ [1914]. In: MTI, S. 643 f. Hervorhebungen im Original. 244 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. In: MTI, S. 48. 245 Pierre Reverdy: Self defence. In: ROCI, S. 529. 246 Vgl. Pierre Reverdy: L’image. In: ROCI, S. 496. Auch im Barock ist die verknappte Metapher ein Ideal. Die Zusammenführung zweier entfernter Gegenstände darf nicht durch Erklärungen oder zu eindeutige Bilder aufgelöst werden, da sie sonst ihre Prägnanz und damit ihre Schnelligkeit und Wirkkraft verlieren: «ne’ Detti troppo chiari l’Argutia perde il suo lume». Emanuele Tesauro: Il cannocchiale aristotelico, S. 17. 247 Hubert Juin: ‘Préface’, S. 17. Hervorhebung im Original. 248 Pierre Reverdy: L’image. In: ROCI, S. 495.

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Während Metaphern in der barocken Metapherntheorie Ausdruck einer höheren Logik sind, alle Verbindungen von Gott in der Natur bereits angelegt sind und diese durch die Metaphern erkennbar werden, sind die avantgardistischen Bildverbindungen von einem logisch vordefinierten Sinnzusammenhang befreit. Für Reverdy stehen sie ganz im Dienst einer künstlerischen, poetischen Realität. Dass die Bilder möglichst weit entfernte Bereiche miteinander verbinden sollen, erklärt sich aus Reverdys Poetik damit, dass dadurch der amimetische Charakter der Bilder betont wird. In Marinettis Poetik hat dies die Funktion, den Zugang zu einem logischen Zusammenhang zu verschließen. Er macht besonders deutlich, dass die Bilder keiner äußeren, imitativen ‘Logik’ folgen: La poesia ideale che io sogno, e che altro non sarebbe se non il seguirsi ininterrotto dei secondi termini delle analogie, non ha nulla a che fare con l’allegoria. L’allegoria, infatti, è il seguirsi dei secondi termini di parecchi analogie, tutte legate insieme logicamente.[...] Al contrario io aspiro a dare il seguirsi illogico, non più esplicativo, ma intuitivo, dei secondi termini di molte analogie tutte slegate e molto spesso opposte l’una all’altra.249

Die freien Bildbeziehungen sind somit auch eine Form, sich von Althergebrachtem und logizistischen Zwängen zu befreien und eine alternative Logik zur Darstellung zu bringen («liberarla via via dagli impacci dell’ultimo logicismo»). In dieser Freiheit, welche aber nicht mit Willkür gleichzusetzen ist, weil sie anderen, poetischen Gesetzen folgt, entspricht diese poetische Form der Bildbeziehung in den ‘parole in libertà’ der Logik des mythischen Denkens, denn der Mythos «löst alle Bestimmtheit des Geschehens in die Freiheit des Tuns auf».250 Auf diese Weise wird eine direkte Beziehung zwischen zwei Bildern hergestellt, ohne dass diese in eine Verhältnisstruktur gesetzt worden sind, die sie voneinander abgrenzen würde – «immagini [...] espresse con parole slegate e senza fili conduttori sintattici e senza alcuna punteggiatura.»251 Im mythischen Denken kann alles nach einer eigenen Logik in einer magischen Entsprechung miteinander verbunden werden, ohne Rücksicht, weder auf tatsächliche Verwandtschaftsbeziehungen noch auf verschiedene Seinsebenen, nehmen zu müssen: «so fließt im mythischen Denken das, was aufeinander bezogen, was wie durch ein magisches Band geeint gilt, in eine unterschiedslose Gestalt zusammen.»252 Während durch den geforderten Geschwindigkeitsrausch in Marinettis Dichtung die Bildverbindungen an Kohärenz, Abgrenzung und Definition verlieren, sind sie bei

249 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. In: MTI, S. 56 f. 250 MD, S. 61. 251 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 72. 252 MD, S. 212.

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Apollinaire zumeist noch situativ verankert: In ‘Zone’ beispielsweise erklärt sich der Bildwechsel teilweise durch die Ubiquität, welche durch situierende Angaben wie «Aujourd’hui tu marches dans Paris», «Maintenant tu es au bord de la Méditerranée», «Tu es dans le jardin d’une auberge aux environs de Prague» markiert wird.253 Nicht zuletzt sind die Bildketten eine Variation des Simultaneitätsgedankens, da sie Ausdruck dafür sind, dass alles miteinander in Verbindung steht. In Apollinaires sogenannten ‘Konversationsgedichten’,254 ‘Lundi rue Christine’ und ‘Les Fenêtres’, erscheinen die disparaten Themen und Gesprächsfetzen in ihrer Simultaneität durch das Gedicht wie durch ein magisches Band geeint.

2.3 Sprache 2.3.1 Bedeutungsreichtum der Sprache Das Interesse an der ‘primitiven’ Wahrnehmung und dem mythischen Denken schlägt sich auch auf der Ebene des primitivistischen Diskurses in Metapherntheorien nieder, in denen die Metapher als eine Ausdrucksform der primären Anschauung bestimmt wird.255 Cassirer selbst führt den Gedanken aus, die Sprache diene nicht nur als begrifflicher Zugang zur Welt, sondern sei gleichermaßen mit Bildern und Emotionen beladen, wobei diese bildhafte, metaphorische Sprache im mythischen Denken gegenüber der logisch-diskursiven Funktion der Sprache überwiege: «In early stages of human culture this poetical and metaphorical character of language seems decisively to prevail over its logical, its ‘discursive’ character.»256 Cassirer macht damit deutlich, dass die Bildhaftigkeit der Sprache im mythischen Denken verwurzelt und der künstlerische, bildhafte Gebrauch der Sprache im Mythos angelegt ist. Dies gilt in besonderem Maße für die lyrische Sprache. Er betont, metaphorisches Sprechen sei eng mit dem mythischen Denken verknüpft: «we cannot escape the use of metaphors. And this imaginative, this metaphorical speech seems closely related to the fundamental function of mythical thought.»257 Erst im Zuge der fortschreitenden Objektivierung sei die

253 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 41 f. 254 Zur Problematik dieses Begriffs, siehe Lucien Dällenbach: Das Bruchstück und der Reim. Zu Apollinaires Lundi rue Christine, einem angeblichen ‘Konversationsgedicht’. In: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: Wilhelm Fink Verlag 1982, S. 295–316. 255 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 6. 256 LAI, S. 153. 257 LAII, S. 177.

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imaginative und intuitive Tendenz der Sprache immer geringer geworden.258 Dieser Verlust kann durch die Kunst kompensiert werden, da auch in ihr ein intuitiver und direkter Zugang zur Welt, der im Mythos noch durch die Sprache möglich war, entstehen könne.259 Wie die mythische Sprache, so ist auch die poetische Sprache reich an Bildern und Emotionen: «poetical language is radically distinct from conceptual language. It contains the strongest emotional and intuitive elements. The symbolism of language is not a mere semantic, but it is at the same time an aesthetic symbolism.»260 Cassirers Diagnose eines Verlusts des intuitiven Weltbezugs durch die Sprache findet sich auch bei Cendrars. In ‘Les Poètes modernes dans l’ensemble de la vie contemporaine’ vergleicht er den modernen Dichter mit einem ‘Wilden’: «il s’est trouvé devant la complexité du monde moderne, pauvre et démuni comme un sauvage armé de pierres devant les bêtes de la brousse. Et il a souvent employé le langage du sauvage. C’était une nécessité.»261 Der Vergleich mit einem armen und mittellosen Wilden ist jedoch missverständlich, da Cendrars im Folgenden genau auf das Gegenteil hinaus möchte. Die Sprache der sogenannten ‘Wilden’ sei nämlich viel reichhaltiger als die ‘zivilisierte’ Sprache, welche, aufgrund immer größerer Abstraktion, reduziert und ‘arm’ sei. Die Sprache der Indigenen hingegen habe ein großes Vokabular und spezifische Namen für die Einzeldinge. «Le langage va du concret à l’abstrait, du mystique au rationnel. Les langues des sauvages abondent en catégories concrètes et particulières; celles des civilisés n’ont plus guère et de plus en plus que des catégories abstraites et générales.»262 Cendrars sieht in dieser Fülle offenbar ein Mittel, die Komplexität des modernen Lebens auszudrücken, für die der ‘zivilisierten’ Sprache die Ausdrucksmittel fehlen und gleichzeitig eine Möglichkeit, die Sprache wieder mit Bedeutung zu füllen. Cassirer erklärt die Bedeutsamkeit des Namens im mythischen Denken, der mehr als eine bloße Bezeichnung ist: Er spricht das Innere, Wesentliche des Menschen aus und ‘ist’ geradezu dieses Innere. Name und Persönlichkeit fließen hier in eins zusammen. Bei den Männerweihen und bei sonstigen Initiationsbräuchen empfängt der Mensch einen neuen Namen, weil es ein neues Selbst ist, das er hier erhält.263

258 LAI, S. 153. 259 «If this immediate intuitive approach to reality is to be preserved and to be regained, it needs a new activity and a new effort. It is not by language but by art that this task is to be performed.» LAI, S. 154. 260 LAII, S. 188 f. 261 Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 92. 262 Ebda. 263 MD, S. 50.

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In der Bevorzugung des Reichhaltigen und Konkreten unterscheidet sich die Sprache Cendrars’ von der Bild-‘Sprache’ der kubistischen Künstler, welche gerade das Element des Abstrakten aus den afrikanischen Kunstwerken rezipieren. Als Beispiel für seine Überlegungen gibt Cendrars zwei Texte an, die vor Eigennamen und Aufzählungen überquellen, zum einen einen Text von Charles-Albert Cingria und zum anderen ein von Cingria übersetztes Gedicht Walt Whitmans. Jeweils ein Ausschnitt beider Texte zeigt die Prävalenz von Aneinanderreihungen konkreter Dinge und Namen, die sich bevorzugt auf Erscheinungen der modernen Lebenswelt beziehen: 1900–1914 La plus vaste coopérative, celle qui engendre des vilebrequins et des axes titaniques et des tubes monstrueux de 32 pieds sur 90 centimètres d’alésage – usines à Brionsk et à Kansas City seulement – EXISTE du fait qu’il y a des producteurs, des bottins industriels et des clients et que le lundi, le mardi, le mercredi, le jeudi, le vendredi, le samedi, le dimanche, les cargos noir et rose de la Holland America ou de la Canadian Pacific ou de la Favre et Cie ou de la Nippon Yousen Kaïsha ou le P.M. et T.K.K. ou la White-Stare ou le New Zealand Ship (vous les entendez beugler, j’espère) ou le Lloyd Sebaudo, la Veloce, le Norddeutscher Lloyd ou le [...] Intercommunication du monde La force de la vapeur, les grandes lignes express, le gaz, le pétrole, Ce triomphe de notre époque, le fin câble de l’atlantique. Le chemin de fer du Pacifique, le canal de Suez, les tunnels du mont Cenis, du Saint-Gothard et de Hoosac, le pont de Brooklyn, Cette Terre toute bridée de rails de fer, de lignes de bateaux à vapeur qui parcourent toutes les mers, Les forges, les feux de forge dans les montagnes ou au bord des rivières264

Auch die futuristischen Sprachexperimente können als ein Versuch gewertet werden, die Sprache wieder mit Bedeutung anzureichern, damit sie in der Lage ist, die Fülle des modernen Lebens auszudrücken. Vergleicht man Marinettis Battaglia Peso + Odore mit Cendrars’ Illustration einer indigen inspirierten Sprache, so zeigen sich deutliche Übereinstimmungen in den fast inventarisch anmutenden Aufzählungen. Das bildliche Sprechen wird im Futurismus ins Extrem getrieben, wenn logische, diskursive Konnektoren nahezu vollständig wegfallen: Mezzogiorno ¾ flauti gemiti solleone tumbtumb allarme Gargaresch schiantarsi crepitazione marcia Tintinnìo zaini fucili zoccoli chiodi cannoni criniere ruote cassoni ebrei frittelle paniall’olio cantilene bottegucce zaffate lustreggìo cispa puzzo cannella

264 Beide Zitate: Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 92. Hervorhebung im Original.

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muffa flusso e riflusso pepe rissa sudiciume turbine aranci-in-fiore filigrana miseria dadi scacchi carte gelsomino + nocemoscata + rosa arabesco mosaico carogna pungiglioni acciabattìo265

Auch Apollinaire sieht die Etablierung einer neuen Sprache als Ziel der neuen Dichtung: «nous apportons à la langue des beautés toutes neuves par le renouvellement profond et très pur des images.»266 Diese Notwendigkeit thematisiert er besonders deutlich in ‘La victoire’:267 O bouches l’homme est à la recherche d’un nouveau langage Auquel le grammairien d’aucune langue n’aura rien à dire [...] Mais entêtons-nous à parler Remuons la langue Lançons des postillons On veut de nouveaux sons de nouveaux sons On veut des consonnes sans voyelles Des consonnes qui pètent sourdement Imitez le son de la toupie Laissez pétiller un son nasal et continu Faites claquer votre langue Servez-vous du bruit sourd de celui qui mange sans civilité Le raclement aspiré du crachement ferait aussi une belle consonne Les divers pets labiaux rendraient aussi vos discours claironnants Habituez-vous à roter à volonté Et quelle lettre grave comme un son de cloche A travers nos mémoires [...] Parlez avec les mains faites claquer vos doigts Tapez-vous sur la joue comme sur un tambour O paroles268

Apollinaire skizziert hier eine Dichtungssprache, bei der, ähnlich wie bei Marinetti, der diskursive, grammatische Aspekt der Sprache in den Hintergrund tritt.269 Statt in einer derartigen Logik gefangen zu sein, soll die Sprache denen ähneln, 265 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Battaglia Peso + Odore’ [1912]. In: MTI, S. 59 ff. Hervorhebung in fett im Original. 266 Guillaume Apollinaire: Les poètes d’aujourd’hui. In: PrII, S. 915. 267 Vgl. Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire, S. 459. 268 Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 310. 269 Im Hinblick auf das Streben nach Universalität in der avantgardistischen Ästhetik äußert Claude Debon eine interessante Idee: Sie sieht in den Versen eine Anspielung auf eine Bildsprache: «Ce langage nouveau auquel il est fait allusion ne pourrait-il pas être celui de l’image, délivrée du support des mots? [...] Comment concevoir le principe d’une langue universelle si ce n’est grâce à l’image?» Claude Tournadre [Debon]: À propos de ‘La victoire’, S. 178.

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die ‘unzivilisert’ sind. Dies geschieht zum einen, indem in der von Apollinaire anvisierten Sprache der sonore Aspekt der Sprache überwiegt, womit der Rückbezug des Sprachlichen zum Konkreten, zur materiellen und körperlichen Welt betont wird.270 Die Konzentration auf den ‘materiellen’ Aspekt der Sprache ist in ‘La victoire’ kein intellektuelles Spiel, sondern geht durch den menschlichen Körper («langue»), und bleibt gewissermaßen ‘verdaulich’ («manger», «roter»). Zum anderen soll die neue Sprache auch an die Natur angelehnt sein – was im Übrigen gegen die oft diskutierte These271 spricht, ‘La victoire’ als eine frühreife Propagierung dadaistischer Sprachexperimente zu lesen. Was für die ästhetische Forderung nach Abstraktion gilt – dass sie nicht zum Selbstzweck wird –, scheint auch für die Sprache zu gelten. Das Mittel gegen diese Gefahr ist auch hier die Natur als Bezugspunkt, worauf das Bild der Verschmelzung der Stimme des Dichters mit der Stimme des Meeres hinweist: Écoutez la mer La mer gémir au loin et crier toute seule Ma voix infidèle comme l’ombre Veut être enfin l’ombre de la vie Veut être ô mer vivante infidèle comme toi La mer qui a trahi des matelots sans nombre Engloutit mes grands cris comme des dieux noyés [...] La parole est soudaine et c’est un Dieu qui tremble [...] Quelle oasis de bras m’accueillera demain Connais-tu cette joie de voir des choses neuves O voix je parle le langage de la mer272

270 Vgl. Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire, S. 460 f. 271 Claude Debon macht in ihrem Aufsatz deutlich, dass Apollinaire die Zukunft der Dichtung nicht in dem um 1917 aufkommenden, von den Futuristen bereits vorbereiteten ‘bruitisme’ der Dadaisten sieht: «Il refuse la barbarie du bruit, mais garde l’humanité du cri. Il y a donc une antinomie fondamentale entre l’attitude éthique et esthétique de Dada et Apollinaire, qui ne préfigure ce mouvement que dans un sens si large que la notion devient inefficace. Une certaine forme d’humanisme, dont Dada veut se délivrer, est si bien ancrée en Apollinaire qu’il ne saurait s’en défaire sans se blesser mortellement.» Claude Tournadre [Debon]: À propos de ‘La victoire’, S. 176. Zum Bezug zu Dada in ‘La victoire’ siehe auch: Mario Richter: La crise du logos et la quête du mythe. Baudelaire – Rimbaud – Cendrars – Apollinaire. Lecture de ‘L’Albatros’, ‘Ma Bohème’, ‘Le Cœur supplicié’, ‘Aube’, ‘Les Pâques à New York’, ‘Le Musicien de Saint-Merry’ (‘les mordonnantes mériennes’), ‘La victoire’. Neuchâtel: Éditions de la Baconnière 1969, S. 120 ff. 272 Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 311.

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Neben der Besinnung auf die konkrete, körperbezogene Seite der Sprache und ihrer Verbindung zur Natur wird die Sprache des Dichters in ‘La victoire’ mit dem Göttlichen assoziiert («mes grands cris comme des dieux», «La parole est soudaine et c’est un Dieu qui tremble»).273 Hinter der Assoziation der göttlichen mit der dichterischen Sprache steckt die Phantasievorstellung einer wirksamen, bedeutungsvollen Sprache, die in Einklang mit der Existenz steht. 2.3.2 Sprachmagie In der göttlichen Sprache offenbart sich eine schöpferische Sprachmagie, denn was Gott ‘sagt’, das entsteht und das ist. Auf diese Weise ist die biblische Schöpfungsgeschichte eng mit der Wirksamkeit des göttlichen Wortes verbunden: «Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.»274 Die Phantasie einer ebenso wirksamen Sprache erscheint in ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’: «fondés en poésie nous avons des droits sur les paroles qui forment et défont l’univers».275 Während sich Apollinaire wie hier gerne als «maître des Paroles»276 inszeniert, scheint der Ausgangspunkt von ‘La victoire’ geradezu die Bedrohung dieser schöpferischen Kraft der Sprache zu sein – als drohe diese Einheit von Namen und Existenz der Dinge auseinanderzufallen. Die ‘alte’ Sprache ist der veränderten Welt nicht mehr adäquat und somit ‘tot’. Sie ist nicht mehr Ausdruck des Lebens («Et ces vieilles langues sont tellement près de mourir»).277 Renaud sieht das Thema des Gedichts als Ausdruck der Sorge «de ne pas être capable de nommer proprement un monde toujours nouveau qui est un défi à la poésie.»278 Der Dichter jedoch hat die Fähigkeit, der sich stetig verändernden Welt («Connais-tu cette joie de voir des choses neuves»)279 zu einer neuen Sprache verhelfen: La victoire avant tout sera De bien voir au loin De tout voir De près Et que tout ait un nom nouveau280

273 Vgl. Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire, S. 461. 274 1. Buch Mose, Kapitel 1, 3. Die Bibel. 275 Guillaume Apollinaire: ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’. In: Po, S. 83. 276 Claude Tournadre [Debon]: À propos de ‘La victoire’, S. 172. 277 Vgl. Mario Richter: La crise du logos et la quête du mythe, S. 126: «le poème devient une structure en mouvement, une ‘voix’ fidèle de la vie, et donc constamment changeante, ambiguë, qui se fait et se défait sans cesse comme les flots de la mer.» 278 Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire, S. 462. 279 Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 311. 280 Ebda., S. 312.

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Der titelgebende Sieg, «la victoire», ist der des Dichters, der die Gabe hat, die sonst nur Gott besessen hat: Der Sprache einen Sinn zu verleihen und sie als real wirksamen und existenzstiftenden (und nicht nur in der geistigen, theoretischen Sphäre angesiedelten) Teil der Welt zu setzen. Die Suche nach dem «nom nouveau» in Apollinaires ‘La victoire’ ist die Suche nach einem vitalen, existenzstiftenden Idiom, das Cendrars in der indigenen Sprache, in der alles einen eigenen Namen hat, zu finden glaubte. Blachère sieht darin die Inspiration, die Cendrars aus den indigenen Sprachen schöpft: Le langage du sauvage est celui qui nomme le monde et qui, en le nommant, lui confère une force nouvelle, le fait exister; le langage du sauvage est celui qui évoque les mystères qui dorment sous les choses; alors que le langage du civilisé réduit le monde, le bride, l’enferme et le dessèche, celui du primitif l’irrigue, l’irradie et le magnifie.281

Mit Sprachmagie und Wortzauber kann Macht über die Existenz ausgeübt werden. Den Glauben an das objektive Wirkungsvermögen der Sprache sieht Cassirer als einen Grundpfeiler des mythischen Denkens: Aller Anfang des Mythos, insbesondere alle magische Weltauffassung, ist von diesem Glauben an die objektive Wesenheit und an die objektive Kraft des Zeichens durchdrungen. Wortzauber, Bildzauber und Schriftzauber bilden den Grundbestand der magischen Betätigung und der magischen Weltansicht.282

Über die Sprache kann die Welt durch das Subjekt in Besitz genommen werden – in dieser Funktion fungiert sie auch im Ritual.283 Krenzel-Zingerle liest ‘Vendémiaire’ als eine bacchantische, rituelle Inszenierung und betont den «Formelcharakter» der Verse, der durch Wiederholung von Lauten und Wörtern entsteht, «so daß man hier tatsächlich von einer regelrechten Sprachmagie sprechen kann.»284 Das Gedicht zeichnet sich durch eine dichte Bildsprache aus, wobei, wie KrenzelZingerle feststellt, die Bilder keine Metaphern im üblichen Sinne sind: «Man kann hier nicht mehr von Metaphern im traditionellen Sinne reden, es finden keine ‘Übertragungen’ oder Vergleiche statt, keiner der Bildbereiche ist einem anderen untergeordnet, vielmehr stehen alle auf einer Ebene und werden miteinander vermischt.»285 Eine solche Vermengung verschiedener Ebenen findet sich strukturell

281 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 113. 282 MD, S. 30. 283 Ebda., S. 83. 284 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 172. Vgl. auch S. 189. 285 Ebda., S. 200.

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auch im mythischen Denken.286 Auch auf der inhaltlichen Ebene sieht KrenzelZingerle zahlreiche mythisch-christliche Bezüge und Anspielungen auf rituelle Themen wie Ekstase, Opferhandlungen, Reinigung, Wiedergeburt, mystische Vereinigung und Divinisierung.287 Die Ausgangssituation ist, parallel zu ‘Zone’,288 die Heimkehr des lyrischen Ichs («En rentrant à Auteuil»). Auf seinem Heimweg durch Paris vernimmt es Stimmen und Gesänge, welche sich als ein Dialog zwischen den Städten der Welt und Paris entpuppen. Diese fordert von jenen, sich ihr zu opfern: Un soir passant le long des quais déserts et sombres En rentrant à Auteuil j’entendis une voix Qui chantait gravement se taisant quelquefois Pour que parvînt aussi sur les bords de la Seine La plainte d’autres voix limpides et lointaines Et j’écoutai longtemps tous ces chants et ces cris Qu’éveillait dans la nuit la chanson de Paris J’ai soif villes de France et d’Europe et du monde Venez toutes couler dans ma gorge profonde Je vis alors que déjà ivre dans la vigne Paris Vendangeait le raisin le plus doux de la terre Ces grains miraculeux qui aux treilles chantèrent289

Im Fortlauf des Gedichts sprechen die einzelnen Städte und bieten sich Paris als Opfer dar. Während hier die Verse der Einverleibungsphantasie («J’ai soif villes de France et d’Europe et du monde/Venez toutes couler dans ma gorge profonde») auf Paris zu beziehen sind, so deutet mindestens das Wort «chanson» auf eine metapoetische Lesart hin. Auch im weiteren Verlauf des Gedichts lassen sich Bezüge zu Apollinaires poetologischen Ideen herstellen. So erinnern die «divines paroles»290 an die Forderung Apollinaires einer Divinisierung des Dichters und der Bezug auf den Ixion-Mythos291 verweist auf seine amimetische, schöpferische Kunstauffassung: 286 MD, S. 212. 287 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 172 ff. 288 Vgl. ebda., S. 170. 289 Guillaume Apollinaire: ‘Vendémiaire’. In: Po, S. 149. 290 Ebda., S. 151. 291 «Dressée, la cheminée inverse la relation au ciel: loin de recevoir d’en haut un don, l’homme, pareil à Ixion, féconde ces hauteurs. Que fait Ixion dans le mythe? Il défie la divinité, et crée des êtres fantastiques en s’unissant à une illusion – en aimant ce qui est faux. De la réalité perçue à travers ses sens, Apollinaire passe à un mythe personnel qui remodèle le mythe antique pour définir l’acte poétique.» Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 17. Siehe auch Veronika

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Et les villes du Nord répondirent gaiement Ô Paris nous voici boissons vivantes Les viriles cités où dégoisent et chantent Les métalliques saints de nos saintes usines Nos cheminées à ciel ouvert engrossent les nuées Comme fit autrefois l’Ixion mécanique Et nos mains innombrables Usines manufactures fabriques mains Où les ouvriers nus semblables à nos doigts Fabriquent du réel à tant par heure Nous te donnons tout cela292

Die Einverleibungsphantasie zu Beginn des Gedichts überträgt sich am Ende auf das lyrische Ich selbst, welches durch den autobiographischen Verweis auf den Wohnort Auteuil mit Apollinaire identifiziert werden kann. Der vernommene und wiedergegebene Gesang stammt aus dem Mund des Dichters selbst: Je suis ivre d’avoir bu tout l’univers Sur le quai d’ou je voyais l’onde couler et dormir les bélandres Écoutez-moi je suis le gosier de Paris Et je boirai encore s’il me plaît l’univers Écoutez mes chants d’universelle ivrognerie Et la nuit de septembre s’achevait lentement Les feux rouges des ponts s’éteignaient dans la Seine Les étoiles mouraient le jour naissait à peine293

‘Vendémiaire’ erscheint als rituelle Inszenierung, mit der ein ästhetischer Weltbezug zelebriert wird und im Zuge derer das Individuum eine mythische Einheit mit der Stadt Paris erfährt. Die Sprachmagie in ‘Vendémiaire’ stellt in diesem Sinne ein weiteres Beispiel für die Verflechtung von Innen- und Außenwelt dar, welche bereits in Baudelaires poetologischen Gedanken reflektiert wird,294 wenn

Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 191 und Madeleine Boisson: Apollinaire et les mythologies antiques, S. 549–565. Zur Bedeutung der ‘fausseté’ in Apollinaires Poetik siehe das Unterkapitel ‘Wahrheit’ der vorliegenden Arbeit. 292 Guillaume Apollinaire: ‘Vendémiaire’. In: Po, S. 150. 293 Ebda., S. 154. 294 «Nun hat bereits Baudelaire die enge Verflechtung von Außenwelt und schöpferischem Subjekt als einen Grundstein der Sprachmagie moderner Dichtung herausgestellt», Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 11.

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er von der Poesie als einer «magie suggestive contenant à la fois l’objet et le sujet, le monde extérieur à l’artiste et l’artiste lui-même»295 spricht. Dass durch den Wortzauber im mythischen Denken den Worten, also etwas nicht Konkret-Gegenständlichem, eine solche Bedeutung zugemessen wird, ist zunächst überraschend, da sich das mythische Bewusstsein hauptsächlich in der unmittelbar-sinnlichen Anschauung bewegt: Denn wenn [...] der Grundtrieb des Mythos ein Trieb zur Belebung, d. h. zur konkretanschaulichen Erfassung und Darstellung aller Daseinselemente sein soll: wie kommt es alsdann, daß dieser Trieb sich mit besonderer Intensität gerade auf das ‘Unwirklichste’ und Lebloseste richtet; daß das Schattenreich der Worte, der Bilder und Zeichen eine solche substantielle Gewalt über das mythische Bewußstsein gewinnt? Wie kommt es zu diesem Glauben an das ‘Abstrakte’, zu diesem Kult des Symbols, in einer Welt, in der der allgemeine Begriff nichts, die Empfindung, der unmittelbare Trieb, die sinnliche Wahrnehmung und Anschauung alles zu sein scheint?296

Die Antwort darauf liegt in der Einheit von Wort und Bedeutung: Der Glauben an die magische Kraft der Sprache setzt voraus, dass die Worte eine Bedeutung haben, die über ihre abstrakte Funktion als bloße Nomenklatur hinausgeht. Im mythischen Denken sind die Worte identisch mit dem, was sie bedeuten: Auch für die Sprache besteht zunächst kein scharfer Trennungsstrich, durch den das Wort und seine Bedeutung, der Sachgehalt der ‘Vorstellung’ und der Gehalt des bloßen Zeichens voneinander geschieden würden, sondern beides geht unmittelbar ineinander ein und ineinander über.297

Die Einheit von Sprache und ihrer Bedeutung zeigt sich besonders deutlich in Zauberformeln, also Worten, die eine reale Auswirkung haben. In ihrer beschwörerischen, durch Wiederholungen gekennzeichneten Form ähneln sie lyrischen Texten.298 Cendrars berichtet im Kapitel ‘Elections guyanaises’ in Rhum von der Macht der Flüche, auf Kreolisch «piayes»:299 Piaye, Piaye Choc en retour, Les maléfices et le mauvais œil Ce que tu vois en songe, tu le vois en vie,

295 Charles Baudelaire: L’art philosophique. In: ders.: Oeuvres complètes, S. 1099–1107, hier S. 1099. 296 MD, S. 30. 297 Ebda., S. 31. 298 Vgl. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 95. 299 Vgl. ebda.

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Les sucs noirs et l’enfant mort. Griffe, main morte300

So wie das Traumbild hier auf das reale Leben verweist, hat auch der in Worten ausgedrückte Fluch eine reale Bedeutung: «Für das mythische Denken [...] gilt für das gesehene Bild das gleiche wie für das ausgesprochene und gehörte Wort – es ist mit realen Kräften ausgestattet.»301 Ein ähnliches Phänomen, verlagert in den Prozess des Malens, beschreibt Cendrars in seinem Gedicht ‘I. Portrait’, in dem es um den Künstler Marc Chagall geht. Die Seinsbereiche der bildlichen Darstellung und der materiellen Welt werden hier aufgebrochen und unterschiedslos zusammengenommen: Il prend une église et peint avec une église Il prend une vache et peint avec une vache Avec une sardine Avec des têtes, des mains, des couteaux Il peint avec un nerf de bœuf302

Insofern sie auch eine reale Wirkung haben, sind Worte und Bilder auch im mythischen Denken nicht von der Materie, vom stofflichen Sein getrennt, da sie als mit der Sache identisch gedacht werden: Neben dem Bildzauber steht der Wort- und Namenzauber, der einen integrierenden Bestandteil der magischen Weltansicht ausmacht. Aber die entscheidende Voraussetzung liegt auch hier darin, daß das Wort und der Name keine bloße Darstellungsfunktion besitzen, sondern daß in beiden der Gegenstand selbst und seine realen Kräfte enthalten sind. Auch das Wort und der Name bezeichnen und bedeuten nicht, sondern sie sind und wirken.303

Auf eine ähnliche Weise ist das von Chagall gemalte Bild derartig von Lebendigkeit durchdrungen, dass es nicht wie ein Bild erscheint, sondern als Inkarnation der Dinge, die es inspirierten – dadurch entsteht eine Art Surrealität im apollinaireschen Sinne.304 Das Gedicht Cendrars’ über Chagall erinnert an Apollinaires Worte über seinen Dichterfreund André Salmon: «Ses paroles ont plus de réalité que les objets mêmes du sens qu’elles expriment.»305 Wie das dargestellte Bild ist

300 Blaise Cendrars: Rhum [1930]. In: ders.: Œuvres complètes. Band VI. Herausgegeben von Nino Frank. Paris: Le club français du livre 1969, S. 177–286, hier S. 272. 301 MD, S. 52. 302 Blaise Cendrars: ‘I. Portrait’. In: PC, S. 72. 303 MD, S. 49. 304 Vgl. Kapitel II.2.9 ‘Realismus der Dichtung, Realität des Kunstwerks’ und II.2.10 ‘Schöpfung’ der vorliegenden Arbeit. 305 Guillaume Apollinaire: André Salmon. In: PrII, S. 1007. Siehe Kapitel II.2.9 ‘Realismus der Dichtung, Realität des Kunstwerks’ der vorliegenden Arbeit.

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auch das sprachliche Bild kein Sinn- oder Abbild, sondern besitzt eine reale Kraft, es ist kein Symbol, sondern eher als eine ‘Inkarnation’ zu verstehen. Die Ungetrenntheit von Bild und Sache übersetzt sich in Cendrars’ und Apollinaires Ästhetik nicht in perfekte Imitationen der Realität. Dass die Worte durch die Poesie eine «reale Wirkung» erhalten, bedeutet, dass die Poesie eine eigene Realität erzeugt, in der sie dem Leben auf eine paradoxe Weise näherkommt als Abbilder und Imitationen. Dadurch wird ihnen eine Kraft zugeschrieben, welche wieder auf das Leben zurückwirkt – dies verdeutlicht Apollinaire anhand des Beispiels der erdichteten Mythen, wie des Ikarus-Mythos, die letztlich verwirklicht, d. h. Realität geworden sind.306 Auf diese Weise ist mit dem Motiv der Magie der von der Avantgarde angestrebte Bezug zum Leben auf eine unkonventionelle Art gegeben. In dem Thema der Magie äußert sich die Sehnsucht, mit der Dichtung nicht nur die Welt abzubilden, sondern auch wirksam zu formen, denn die «Magie ist durchsetzt von diesem Glauben an die reelle, an die realisierende Macht der menschlichen Wünsche, von dem Glauben an die ‘Allmacht des Gedankens’.»307 Des Weiteren findet sich der Gedanke einer mit magischen, bzw. realen Kräften ausgestatteten Sprache daher bei Apollinaire in der Stilisierung des Dichters als Magier mit übermenschlichen Fähigkeiten, wie etwa Unsterblichkeit, Prophetie, Sprachmagie und Ubiquität. Neben Orpheus und Hermes Trismegistos in Le Bestiaire und ‘Vendémiaire’ (Alcools) beschäftigt er sich besonders mit dem Zauberer Merlin, was sich vor allem in L’enchanteur pourrissant niederschlägt.308 Merlin tritt als Alter Ego des Dichters auch in ‘Merlin et la vieille femme’ auf. In ‘Aeroplano’ von Soffici brüstet sich das lyrische Ich mit seinen magischen Fähigkeiten, welche an alchimistische Operationen erinnern: Ho inventato tre sensi, la chimica della fantasia, la resurrezione di tutte le cose, La transustanziazione dell’arcobaleno309

Bereits im Titel seines Gedichtbandes BÏF§ZF + 18 Simultaneità e Chimismi lirici deutet sich sein Poesieverständnis an, die Dichtung als eine Form der Chemie 306 Siehe Kapitel II.2.11 ‘Wahrheit’ der vorliegenden Arbeit. 307 MD, S. 249. 308 Zur Poetologie des Wortzaubers und der Magie im Allgemeinen in L’enchanteur pourrissant siehe Catherine Moore: Apollinaire en 1908, la poétique de l’enchantement, une lecture d’Onirocritique. Paris: Lettres Modernes 1995. Der Orpheus-Mythos hat auch jenseits von Motivik eine poetologische Bedeutung für Apollinaire. Els Jongeneel sieht dies besonders in der Sehnsucht nach einem poetischen Weltbezug in seiner Kriegsliteratur: «Effectivement, le mythe d’Orphée y joue un rôle important [...] dans ce sens qu’elle est centrée sur le pouvoir magique de la poésie et sur le désir constant d’établir moyennant celle-ci un rapport mythique avec le monde.» Els Jongeneel: Les combats d’Orphée: la poésie de guerre de Guillaume Apollinaire, S. 5 f. 309 Ardengo Soffici: ‘Aeroplano’. In: SOIV, S. 741.

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bzw. Alchimie zu sehen. Der Begriff der Chemie steht bei ihm für die Wechselwirkung zwischen Kunst und Natur, Realität und Künstlichkeit, welche sich in der Poesie ausdrückt.310 Der alchimistische Traum, eine Welt künstlich zu erschaffen, entspricht der schöpferischen Ästhetik der Avantgarde.311 So fantasiert das lyrische Ich in ‘Noia’, durch seine Schöpfung der Langeweile der Welt zu entkommen: L’universo, oh, se sparisse ad un tratto, Fantasma fallito! Un’alchimia nuova creerebbe albe e tramonto Artificiali di magnesio, Stagioni di bengala e d’acetilene312

Auch Cassirer verweist auf den schöpferischen Charakter der Kunst und die Fähigkeit, die Sprache zu verändern, wenn er den Dichter mit einem Alchimisten vergleicht, der die gewöhnliche Sprache in die Sprache der Poesie verwandelt: «The work of every true poet may in a sense be compared with the work of an alchemist who tries to find the philosophers’ stone. The poet has, as it were, to transmute the baser metals of ordinary speech into the gold of poetry.»313 Der Künstler verändert das Medium seiner Schöpfung: «Every poet is a great creator, not only in the field of his art but also in the field of language.»314 Da der Dichter das Medium seiner Schöpfung verwandelt, sind Inhalt und Form in der Lyrik untrennbar miteinander verbunden.315 Cassirer nennt diese Fähigkeit, das Medium selbst zu verändern, Umwandlung («transmutation»).316 Wie der Alchimist, der aus unedlen Stoffen Gold herstellt, ist der Dichter in der Lage, durch seine Worte den Alltag in Schönheit, Poesie zu transformieren. Dieses Dichtungsverständnis sieht Jongeneel besonders in der Kriegslyrik verwirklicht: «la métamorphose y joue un rôle crucial: le poète-magicien est capable de tout assumer, même la réalité triviale, pour le transmuer en spectacle poétique».317 Ein Beispiel dafür ist das Gedicht ‘Merveille de la guerre’ von Apollinaire, in dem das furchterregende Kriegsgeschehen in ein ästhetisches Spektakel verwandelt wird. Doch ist die Transformation von Alltäglichem bzw. Unästhetischem in

310 Vgl. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 732. 311 Vgl. das Kapitel II.2.10 ‘Schöpfung’ der vorliegenden Arbeit. 312 Ardengo Soffici: ‘Noia‘. In: SOI, S. 727. 313 LAI, S. 162. 314 Ebda., S. 160. 315 «what we call the context of a poem cannot be separated from its form.» Ebda., S. 163. 316 Vgl. ebda., S. 162. 317 Els Jongeneel: Les combats d’Orphée: la poésie de guerre de Guillaume Apollinaire, S. 6.

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Poesie ein poetologischer Grundgedanke Apollinaires, der bereits in den Alcools zu finden ist und sich nicht auf seine Kriegslyrik beschränkt.318 2.3.3 Versatzstücke indigener Sprachen bei Cendrars: Sprache als Weltanschauung Die dichterische Sprache nimmt vielfältig Anleihen bei der ‘primitiven’ Sprache: Bei Cassirer liegt die Gewichtung auf dem emotiven, bilderreichen Element, bei Cendrars in der sprachlichen Fülle und der Besinnung auf das Konkrete, bei Apollinaire in dem direkten, existenziellen Zugang zur Welt und, wie auch bei Soffici, in dem Gedanken einer schöpferischen und transformierenden Sprache, bei Marinetti in der Verneinung der logischen, diskursiven Strukturen. In diesen verschiedenen Richtungen zeigt sich, dass es sich eher um Projektionen der eigenen ästhetischen Bestrebungen handelt als um fundiertes Wissen über die tatsächlichen Funktionsweisen von ‘primitiven’ Sprachen. Cendrars nimmt jedoch eine Sonderstellung in der Reihe der Dichter ein, die sich ‘primitiven’ Mustern zuwenden, da er als einziger einen direkten Bezug zu ‘primitiven’ Sprachformen herstellt. Er ist auch der einzige, der tatsächlich Kontakt zu indigenen Kulturen hat. Obwohl Cendrars’ Publikationen eine Auseinandersetzung mit der ‘schwarzen Poesie’ erst ab 1914 bezeugen, hat er sich schon weit vorher, in seiner Kindheit, mit der ‘primitiven Welt’ beschäftigt, wenn man seinen autobiographischen Äußerungen glaubt.319 Im Unterschied zu Apollinaire hat er durch seine vielen Reisen direkten Kontakt mit der schwarzen und indigenen Kultur. Seine Ausführungen sind somit ‘realitätsnäher’, da sie nicht auf bloßen Überlieferungen und Artefakten basieren, sondern auf eigenen Anschauungen.320 Dieser Umstand ist für die Untersuchung des primitivistischen Diskurses hier allerdings nicht von primärer Bedeutung, da dieser gerade die Vorstellung von einer Denk- und Lebensform bezeichnet und sich nicht zwangsläufig damit auseinandersetzt, ob diese wissenschaftlichen Tatsachen entspricht. Zudem herrscht ein berechtigter Zweifel, ob Cendrars die gesamte wissenschaftliche Literatur, die er in seiner Anthologie nègre angibt, tatsächlich gelesen hat.321 Es kann also davon ausgegangen werden, dass auch seine Darstellung der ‘primitiven’ Welt nicht allein auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und tatsächlich Erlebtem fußt. Darüber hinaus ist seine Auseinan-

318 Siehe dazu das Kapitel II.2.5 ‘Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden’ der vorliegenden Arbeit. 319 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 73 und 76. 320 Ebda., S. 73. 321 Ebda., S. 76 f.

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dersetzung mit diesen Sprachen rein literarischer und nicht linguistischer Art, da er von den indigenen Sprachen keine direkte Kenntnis hat und keine dieser Sprachen selbst beherrscht – hauptsächlich macht er sich anhand von Übersetzungen und Überlieferungen ein Bild von den Ausdrucksmöglichkeiten der afrikanischen Sprachen.322 Ein weiterer Punkt, in dem sich Cendrars von Apollinaire und Soffici unterscheidet, ist die untergeordnete Rolle, welche die indigene Kunst in seinen Schriften spielt. Stattdessen interessiere er sich Blachère zufolge vielmehr für die ‘primitive’ Spiritualität: «Cendrars ne s’intéresse en effet qu’à l’âme nègre, à la spiritualité de la race. Son primitivisme n’est pas celui d’un artiste qui rêve ou réfléchit devant des masques et des statues, et qui médite de s’en inspirer.»323 Dieser Behauptung ist nicht uneingeschränkt zuzustimmen, da zumindest das Gedicht ‘Les grands fétiches’ die Beschreibung indigener Kunst zum Thema hat. Dennoch tritt bei Cendrars eher die Sprache der Indigenen als Inspirationsgrundlage für sein Schreiben hervor. Hauptsächlich nähert er sich in seinem Prosawerk stilistisch an das an, was er über verschiedene afrikanische Sprachen in Erfahrung bringen kann.324 Allerdings inkorporiert er auch in seine Gedichte Wörter der indigenen Sprachen, beispielsweise in ‘Me too buggi’:325 Comme chez les Grecs on croit que tout homme bien élevé doit savoir pincer la lyre Donne-moi le fango-fango Que je l’applique à mon nez Un son doux et grave De la narine droite Il y a la description des paysages Le récit des événements passés Une relation des contrées lointaines

322 Ebda., S. 105 und 109. 323 Ebda., S. 86. Blachère schreibt: «Ainsi, jusqu’en 1940 au moins, le monde noir est resté présent dans les préoccupations de Cendrars: mais toujours rien sur l’art nègre.» Ebda., S. 78, vgl. auch S. 86. 324 Ebda., S. 105 und S. 110: «après la publication de l’Anthologie, le style de Cendrars acquiert un souffle qu’il n’avait pas: la phrase s’allonge en se gonflant de mots entassés, d’énumérations vertigineuses qui semblent vouloir épuiser toute la richesse du lexique français. [...] Mais il n’est pas interdit de penser que l’admiration de Cendrars pour ces langues africaines où il existe vingt façons de dire la même chose, où chaque chose aussi a son mot particulier, se soit muée en désir d’imiter ce foisonnement et cette richesse verbale que l’écrivain se plaisait à souligner dans la notice de l’Anthologie. Il n’est pas exclu que Cendrars, concevant quelque sympathie pour le nègre, sentant comme lui, ai voulu ‘parler’ comme lui.» 325 Vgl. ebda., S. 105. Für eine Erklärung der Begriffe und ihrer Herkunft, siehe Jean-Pierre Goldenstein: Blaise Cendrars sur les traces du capitaine Cook. In: Revue d’Histoire littéraire de la France 73, 1 (1973), S. 112–117.

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Bolotoo Papalangi Le poète entre autres choses fait la description des animaux Les maisons sont renversées par d’énormes oiseaux Les femmes sont trop habillées Rimes et mesures dépourvues Si l’on fait grâce à un peu d’exagération L’homme qui se coupa lui-même la jambe réussissait dans le genre simple et gai Mee low folla Mariwagi bat le tambour à l’entrée de sa maison326

Seine eigene dichterische Sprache verortet er im Kontext des Wilden, Rauen, wenn er sie mit einer wilden Katze vergleicht und einer Hauskatze gegenüberstellt: «Le chat domestique a le pelage soyeux; son échine est souple, électrique; ses pattes sont bien armées, ses griffes fortes; il saute sur la proie qu’il convoite. Mais le chat sauvage saute bien mieux: il ne manque jamais son coup. J’ai des chats sauvages plein la bouche.»327 Die verschiedenen Vergleiche zwischen den ‘Zivilisierten’ und ‘Wilden’ in Cendrars’ Sprachüberlegungen sind ein weiterer Hinweis auf die Nähe, die die Dichter zwischen ihrer Erfahrung der Moderne und dem mythischen Bewusstsein sehen. Für Cendrars ist die Sprache Ausdruck einer Weltanschauung: «Nous savons bien que la langue est le reflet de la conscience humaine, la poésie fait connaître l’image de l’esprit qui la conçoit.»328 Wenn Cendrars die ‘zivilisierte’ Sprache von der ‘wilden’ Sprache unterscheidet, betont er im gleichen Zug, die erste sei der zweiten nicht überlegen.329 Hierbei zeichnet sich erneut die mit dem primitivistischen Diskurs deutlich werdende Erkenntnis der Relativität der eigenen Kultur und die Gleichberechtigung aller Kulturen ab: C’est pourquoi nous n’avons pas le droit de considérer une langue rationnelle et abstraite, parce qu’elle est la nôtre, comme supérieure à une langue concrète et mystique. Il s’agit de deux mentalités différentes qui peuvent avoir chacune leur mérite. Aux yeux d’un habitant de Sirius, mentalité de civilisé est peut-être l’équivalent de dégénérescence.330

326 Blaise Cendrars: ‘Me too buggi’ [1914]. In: ders.: Dix-neuf poèmes élastiques [1919]. In: PC, S. 90. 327 Blaise Cendrars: La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France. In: AH, S. 196. 328 Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 91. 329 Vgl. Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 112. 330 Blaise Cendrars: ‘Poètes’. In: AH, S. 92. Siehe auch ders.: Le principe de l’utilité. In: AH, S. 43: «L’homme des cavernes qui emmanchait sa hache de pierre, qui en incurvait le manche pour l’avoir mieux en main, qui le polissait amoureusement, lui donnait une ligne agréable à

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Cendrars zieht eine Parallele zwischen der Komplexität der modernen Lebenswelt und der scheinbar ungeordneten, doch eigentlich nur anderen Gesetzen folgenden mythischen Weltwahrnehmung.331 Auf der Suche nach einer adäquaten Sprache, die das Erstaunen über diese ‘mythische moderne Welt’ ausdrückt, macht er sich Versatzstücke und Strukturen der indigenen Idiome zunutze, so Blachère: mais surtout on y trouve les principaux traits du style même de Cendrars, ceux qu’il a cru emprunter aux langues africaines: L’énumération, véritable inventaire du monde; l’émerveillement devant les réalisations les plus prosaïques du progrès, présentées ici comme les guinnés des contes nègres: tubes monstrueux, cargos noir et rose aux noms bizarres dont la litanie évoque quelque incantation magique.332

Mit der «incantation magique» meint Blachère den Wortzauber. Es scheint, als würde Cendrars in seinen Aufzählungen und auf der Suche nach einem möglichst spezifischen Wort ähnlich wie Francis Bacon, der «in Anlehnung an magische Traditionen, die Wiederherstellung des Paradieses mit der Wiederfindung des ursprünglichen Namens aller Dinge verbunden»333 hat, an den Glauben an die Magie der Sprache anknüpfen. Nur dass es hier, wie Apollinaire in ‘La victoire’ deutlich macht, nicht um die Suche nach dem ursprünglichen, sondern nach einem neuen Namen für die Dinge geht. Wenn dies gelingt, dann ist die Zeit der Magie zurückgekehrt: Voici le temps de la magie Il s’en revient attendez-vous À des milliards de prodiges Qui n’ont fait naître aucune fable Nul les ayant imaginés334

Magisch und göttlich ist die Sprache der Dichtung auch deshalb, weil sie Ubiquität und Simultaneität ermöglicht. Apollinaire verdeutlicht dies mit einer Anekdote, mit der er sich lobend über den Dichter Jean Royère äußert:

l’œil, obéissait au principe de l’utilité comme est régi par ce même principe l’ingénieur moderne qui incurve savamment la coque d’un transatlantique de quarante mille tonnes». 331 «Les cosmogonies revivent dans les marques de fabrique.» Blaise Cendrars: Profond aujourd’hui. In: AH, S. 11 und: «Dans mon rocking je suis comme un fétiche nègre, angulaire sous l’électricité héraldique.» Ebda., S. 14. 332 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 113. 333 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 45. 334 Guillaume Apollinaire: ‘Les collines’. In: Po, S. 172.

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Les mots et le poète peuvent être en même temps dans un lieu et ailleurs, comme un prêtre d’Halbarstadt [sic], nommé Jean et surnommé le Teutonique, qui en 1271, le jour de Noël, dit trois messes à minuit: l’une à Halbarstadt [sic], l’autre à Mayence et la troisième à Cologne. Les miracles lyriques sont quotidiens. Jean Royère connaît le passé, l’avenir et transforme le présent quand il le veut, paraissant posséder le pouvoir divin335

Apollinaire bezieht sich hier auf die Sage um den Zauberer und Dompfaffen Johannes Saxonicus, der auch Johann Teutsch genannt wurde und, so lässt sich im Sagenbuch des Preußischen Staats von Johann Grässe lesen, «ein gewaltiger Schwarzkünstler»336 war. Im folgenden Kapitel wird behandelt, auf welche Weise diese ‘magische’ Gabe, sich über herkömmliche Raum- und Zeitkonzepte hinwegzusetzen, in der Dichtung umgesetzt und reflektiert wird und inwiefern diese Phänomene der dichterischen Gestaltung von Raum und Zeit mit Konzepten einer mythischen Weltanschauung verbunden sind.

3 Mythische Weltanschauung in der dichterischen Gestaltung von Zeit und Raum M’illumino/d’immenso.337 It is the immensity of all things.338

3.1 Simultaneität und Ubiquität – Phänomene der Moderne? 3.1.1 Moderne Lebenswelt, mythische Wahrnehmung und andere Inspirationsquellen Die Frage nach den Möglichkeiten der Gestaltung von Zeit und Raum spielt eine große Rolle in den ästhetischen Überlegungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts: Dabei sind es insbesondere die Konzepte von Simultaneität und Ubiquität, welche das Denken und Dichten Apollinaires, Cendrars’, Reverdys sowie der Futuristen Marinetti und Soffici geprägt haben. Die Forschung verortet die Gründe

335 Guillaume Apollinaire: Jean Royère. In: PrII, S. 1003. 336 Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2. Band 1. Glogau: Flemming 1868, S. 401–402, hier S. 401. 337 Giuseppe Ungaretti: ‘Mattina’. In: ders.: Gedichte. Italienisch und deutsch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961, S. 6. 338 Max Weber: The fourth dimension from a plastic point of view. In: Camera work 31 (1910), S. 25.

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für das Interesse an der Simultaneität häufig in der Erfahrung der modernen Lebenswelt: Laut Winfried Wehle stellt das Phänomen geradezu die «Quintessenz modernen Lebens» dar.339 Nach seiner Auffassung bezeichnet das Modell der Simultaneität «den durch Technik herbeigeführten Wandel in den Vollzugsformen des Alltags, gewissermaßen die ‘Poetik’ dieser ‘modernen’ Lebenswelt.»340 Veronika Krenzel-Zingerle ist ähnlicher Auffassung: «Der Versuch, die Konzepte der Ubiquität und der Simultaneität im Text zu realisieren, spiegelt auch das [...] Bedürfnis wider, mit der Informationsfülle und Aktualität der modernen Medien und Kommunikationsmittel Schritt zu halten.»341 Ebenso sieht Laurence Campa in der Fülle des modernen Lebens den Ausgangspunkt für die Simultaneität: «Le constat de départ est banal: la vie est multiple, foisonnante; il faut donc tenter de la saisir dans sa diversité et parvenir à exprimer dans l’espace du tableau, du poème, la simultanéité temporelle et l’étendue spatiale, attendu qu’il n’y a pas de durée dans l’espace.»342 In Anbetracht der Technikbegeisterung in den Schriften Marinettis, einem der Vorreiter des Simultaneitätskonzepts, liegt es tatsächlich nahe, das moderne Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen technischen Erfindungen wie der Telegraphie, Telefonie und des Flugzeugs als Inspiration für Simultaneität und Ubiquität zu sehen. Dies bestätigt sich auch im dichterischem Diskurs. So weist beispielsweise Apollinaire in seinem poetologischen Essay ‘L’esprit nouveau et les poètes’ selbst darauf hin: Dans le domaine de l’inspiration, leur liberté ne peut pas être moins grande que celle d’un journal quotidien qui traite dans une seule feuille des matières les plus diverses, parcourt des pays les plus éloignés. On se demande pourquoi le poète n’aurait pas une liberté au moins égale et serait tenu, à une époque de téléphone, de télégraphie sans fil et d’aviation, à plus de circonspection vis-à-vis des espaces.343

Soffici erklärt des Weiteren, durch neue Transportmittel wie das Flugzeug oder das Automobil habe sich das Raum-Zeit-Gefühl fundamental verändert.344 Die

339 Winfried Wehle: Lyrik im Zeitalter der Avantgarde. Die Entstehung einer ganz neuen Ästhetik zu Jahrhundertbeginn. In Dieter Janik (Hg.): Die französische Lyrik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 408–480, hier S. 421. 340 Ebda., S. 419. 341 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 9. 342 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 58. 343 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 945. 344 «ed è un fatto che, per chi corre o vola fulmineamente in un’automobile o in aeroplano, la sua nozione delle distanze e della durata differisce molto da quella che potevano averne gli uomini del passato.» Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 729; «Si, la terra è più piccola per chi può fare in un giorno il tragitto che in altri tempi richiedeva

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Simultaneität sieht er als eine Folge dieser veränderten Wahrnehmung,345 denn durch die Beschleunigung würden sich die Ereignisse verdichten und sich auf unvorhergesehene Weise in der Erinnerung verbinden.346 In Sofficis Schriften wird deutlich, dass die technischen Innovationen für die Dichter nur insofern interessant sind, als sie die Wahrnehmung der Lebensrealität verändert haben. Er leitet von den Erscheinungen der modernen Welt eine neue Weltsicht – und damit eine neue Raum- und Zeitwahrnehmung – ab: l’elettricità, il vapore, i chimismi, con tutte le loro applicazioni, alla locomozione, alla illuminazione, alla grafica, alla navigazione, all’aviazione, e che so io ancora, hanno radicalmente alterato la faccia della terra, del mare e del cielo [...] – e, insieme, la nostra visione dell’universo. Cominciamo col dire che le misure stesse sulle quali si ordinano le sensazioni e i pensieri – lo spazio e il tempo – si trovano per noi considerevolmente alterate.347

Anders als die futuristischen Manifeste erwarten lassen, werden in den futuristischen Gedichten Simultaneität und Ubiquität selten mit einer Reflexion auf die technischen Möglichkeiten präsentiert. Wie Helmut Meters Analyse zeigt, liegt der Fokus auch hier viel umfassender auf der Gedanken- und Wahrnehmungsebene des lyrischen Subjekts.348 Raum und Zeit sind für die Dichtung nicht als objektive Koordinaten von Bedeutung, sondern vielmehr in der Frage, wie diese wahrgenommen werden. Dies schlägt sich, so Soffici, als «nuova sensibilità»349 auch in den künstlerischen Produkten nieder, wobei er sich exemplarisch auf Apollinaires ‘Zone’ bezieht.350 Betrachtet man nun ‘Zone’, welches aufgrund der dort inszenierten Ubiquität und Simultaneität als ein Schlüsselgedicht für die Gestaltung von Raum und Zeit in der Avantgarde-Lyrik gelten kann, so finden sich darin tatsächlich kaum Lobgesänge auf die moderne Technik. Stattdessen erscheint das Gedicht als Bewusstseinsstrom eines durch Paris spazierenden lyrischen Ichs, dessen plurale Erfahrungsfetzen gleichberechtigt nebeneinander stehen und dann mit dem fragmentarisch anmutenden Vers «Soleil cou coupé» abbrechen.

un viaggio di mesi; – né per costui le ore rappresentano lo stesso lasso di tempo che per i nostri padri.» Ebda., S. 730. 345 «Cioè la simultaneità di visione e di emozione.» Ebda., S. 731. 346 «spettacoli e fatti, vengono ravvicinati fra loro, stabilendo nella nostra memoria relazioni reciproche impreviste.» Ebda., S. 730. 347 Ebda., S. 729. 348 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus. 349 Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 527. 350 Ebda.

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Gerade weil der Fokus auf der Wahrnehmungsebene liegt, wird bei genauerer Betrachtung der Gedichte deutlich, dass sich die Inspirationsgrundlage für eine veränderte Raum- und Zeitdarstellung nicht in den technischen Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen des modernen Lebens erschöpft. Die letzten Verse von ‘Zone’ sind ein Hinweis darauf, wie sich die modernen ästhetischen Verfahren der Simultaneität und Ubiquität ebenso durch eine Auseinandersetzung mit alternativen Weltanschauungen sowie aus dem Bedürfnis nach Transzendenz entwickelt haben: Tu marches vers Auteuil tu veux aller chez toi à pied Dormir parmi tes fétiches d’Océanie et de Guinée Ils sont des Christ d’une autre forme et d’une autre croyance Ce sont les Christ inférieurs des obscures espérances Adieu Adieu Soleil cou coupé351

In diesen letzten Versen um die in der Wohnung des lyrischen Ichs wartenden «fétiches d’Océanie et de Guinée» finden sich zugleich zwei Anhaltspunkte, auf welchem Wege alternative Weltanschauungen Eingang in die ästhetischen Konzeptionen Apollinaires finden: Über das Interesse für die indigene Skulptur («fétiches») sowie das mit ihr verbundene Weltbild («d’une autre forme et d’une autre croyance»). Auf das Quartett folgt das rätselhafte Bild der aufgehenden Sonne, mit der der nächtliche Streifzug des lyrischen Ichs endet. Die Metapher der geköpften Sonne dient zum einen der zeitlichen Situierung des Geschehens. Während das Gedicht mit dem Ende beginnt – «A la fin tu es las de ce monde ancien» –, endet es mit dem Beginn eines neuen Tages.352 Der somit erzeugte mythisch-zyklische Charakter des Gedichts deutet sich bereits in der Titelgebung an: Der Titel ‘Zone’, mit seiner etymologischen Bedeutung als ‘Gürtel’,353 enthält, wie Décaudin darlegt, das Bild eines geschlossenen Kreises, in dem End- und Anfangspunkt zusammenfallen.354 Zum anderen weckt «Soleil cou coupé» aber auch Assoziationen mit einem Opferritual und stellt den Anbruch des neuen Tages und das zeitliche Geschehen in einen mythischen Kontext.355 Diese As-

351 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 44. 352 Siehe auch das Kapitel III.2.1.1 ‘Prozesshaftigkeit und Variabilität’ der vorliegenden Arbeit. 353 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 95. 354 Michel Décaudin: Le dossier d’Alcools, S. 85. 355 Vgl. Yves Vadé, der Ähnliches bemerkt: «Dans un autre type d’écriture, ce vers pourrait constituer la fin d’un mythe de naissance du soleil par décapitation (c’est ainsi que les éléments du paysage, dans la mythologie scandinave, proviennent du dépècement du géant pri-

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soziation wird durch die Beschreibung der Fetischskulpturen und ihrer religiösen Bedeutung im vorangehenden Quartett verstärkt. Der Abschlussvers von ‘Zone’ erinnert in dieser Gedankenverbindung an die Beschreibung einer der in Cendrars’ ‘Les grands fétiches’ beschriebenen Fetischskulpturen: VIII J’ai voulu fuir les femmes du chef J’ai eu la tête fracassée par la pierre du soleil Dans le sable Il ne reste plus que ma bouche Ouverte comme le vagin de ma mère Et qui crie

Die Beschreibung einer indigenen Skulptur, deren Kopf durch den ‘Stein der Sonne’ zertrümmert ist, zeigt die Kenntnis über die indigenen Kulturen Südamerikas, über die Cendrars verfügt: Der Sonnenstein ist ein für die mexikanische Kulturgeschichte wichtiges Relikt der aztekischen Kultur (Abb. 3). Er wurde 1790 in Mexico City wiederentdeckt und ist seitdem das Objekt großen kulturellen Interesses und vielfältiger wissenschaftlicher Studien. Er besteht aus einer wie eine Scheibe geformten Steinplatte und erinnert durch diese Erscheinung bereits an symbolische Abbildungen der Sonne. Im Zentrum mehrerer konzentrisch angeordneter Ringe befindet sich die Darstellung eines verstümmelten Antlitzes, vermutlich das des Sonnengottes Tonatiuh, der mit Symbolen ausgestattet ist, die auf eine Opfergabe hinweisen.356 Die Darstellung lässt auf eine Dekapitation schließen: «What is usually thought to be a string of beads below the face may be gouts of blood, rendered unevenly along a neckline, and could indicate that the Calendar Stone deity is shown as a sacrificial victim, decapitated and perhaps dismembered.»357 Die Azteken glaubten, die Sonne würde nicht aufgehen,

mordial Ymir.)» Yves Vadé: Du cristal à l’image-mythe. In: Pierre Cazier (Hg.): Mythe et création. Lille: Presses universitaires de Lille 1994, S. 67–80, hier S. 74. Ein ähnliches Motiv findet sich im Übrigen auch bei dem frühen Marinetti: «Et les Couchants alors, qui se métamorphosent,/ne sont que les blessures sanguinolentes que tu creuses,/à travers les temps, pour te venger, pour te venger! ...» Filippo Tommaso Marinetti: ‘Invocation à la mer toute-puissante’. In: ders.: Destruction. Paris: Librairie Léon Vanier 1904, S. 9–16, hier S. 12. 356 Khristaan D. Villela/Matthew H. Robb u. a. (Hg.): ‘Introduction’. In: Khristaan D. Villela/ Mary Ellen Miller (Hg.): The Aztec Calendar Stone. Los Angeles: Getty Publications 2010, S. 1–41, hier S. 1 f. 357 Ebda., S. 1.

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wenn dem Sonnengott kein Opfer dargebracht würde.358 Es wird angenommen, dass der Stein eine rituelle Funktion bei diesen Opfergaben einnahm.359 Interessant im Kontext von ‘Zone’ ist gerade die Funktion des Kultes, das zyklische Geschehen von Tag und Nacht zu bewahren.360 Es ist nicht nachzuweisen, dass Apollinaire bei seinen letzten Versen in ‘Zone’ an den Sonnenstein dachte. Er sind aber mehrere Gelegenheiten denkbar, durch die er Kenntnis von diesem Stein und seinem Aussehen hat erlangen können: Zunächst einmal durch die große Popularität des Steins selbst, der ein «must-see for every visitor to Mexico City» war, in mehreren Reisebeschreibungen auftauchte und dessen «mass of images» seit dem 19. Jahrhunderts bis heute seine Bekanntheit förderten – nicht zuletzt waren Kopien in den Expositions universelles von 1867 und 1889 in Paris ausgestellt.361 Er könnte natürlich von Cendrars selbst von diesem Stein erfahren haben. Eine andere Möglichkeit ist, dass er von dem Stein im Zusammenhang mit der bevorstehenden Reise seines Bruders erfährt, der am 20. Januar 1913, also kurz nach der Entstehung von ‘Zone’, nach Mexiko übersiedelt.362 Die Übereinstimmung zwischen einer rituell anmutenden Inszenierung des Tagesanbruchs in ‘Zone’ und der Anspielung auf den Stein der Sonne bei Cendrars mag Zufall sein – obgleich auch die Reduktion der Skulptur auf einen Schrei an den ursprünglichen Titel von ‘Zone’ erinnert: Das Gedicht trug zunächst den Titel ‘Cri’.363 Ebenso zufällig mag die Ähnlichkeit des aztekischen Steins (Abb. 3) zu verschiedenen Kunstwerken von Robert und Sonia Delaunay sein, insbesondere zu Robert Delaunays ‘Disque simultané’ (Abb. 4):

358 Eduardo Matos Moctezuma: The Aztec Calendar and Other Solar Monuments. In: Khristaan D. Villela/Mary Ellen Miller (Hg.): The Aztec Calendar Stone, S. 298–300, hier S. 298. 359 Ebda., S. 299. 360 «The symbol of [...] the Sun of Movement, in the middle of the sculpture, must be fed so as not to detain its movement.» Ebda., S. 298. 361 «At the Exposition universelle in Paris in 1889, Mexico represented itself in a Pre-columbian-inspired pavillon [...]. A medaillon that resembled the Calendar Stone, based on the socalled Humboldt Disk, greeted visitors above the main doorway and recalled a similar feature on the Mexican building at the Paris Exposition universelle of 1867. Inside was a special bronze Calendar Stone cast made from the Abadiano cast of 1871.» Khristaan D. Villela/Matthew H. Robb u. a.: ‘Introduction’, S. 29. Die Autoren bemerken, solche Kopien wären «an important vehicle for disseminating the image of the Aztec Calendar Stone internationally.» Ebda., S. 6. 362 Jean-Pierre Goldenstein: ANOMO/ANORA: Tu connaîtras un peu mieux les mayas – ‘Lettre-Océan’: mise au point et hypothèses. In: Que Vlo-Ve? 4, 11 (2000), S. 77–100, hier S. 78. 363 Michel Décaudin: Le dossier d’Alcools, S. 85.

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Abbildung 3: Sonnenstein der Azteken.

Abbildung 4: Robert Delaunay: ‘Disque simultané’.

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Abbildung 5: Guillaume Apollinaire: ‘Lettre-Océan’.

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Auch die kreisförmigen Gebilde in Apollinaires ‘Lettre-Océan’ (Abb. 5),364 das laut Jean-Pierre Goldenstein vom Vokabular her am meisten an ‘Zone’ erinnert,365 ähnelt der Darstellung. Es sind mehrere Inspirationsquellen für die Kreisformen dieses Kalligramms erforscht, u. a. die Bilder des Künstlers Carlo Carrà.366 Auch die Abbildung von Hertz-Wellen ist ein wahrscheinliches Vorbild, insbesondere weil das Kalligramm der Sektion ‘Ondes’ zugeordnet ist.367 Dennoch ist unbestreitbar, dass die beiden Kreisformen einer strahlenden Sonne gleichen und damit an den Sonnenstein denken lassen. Auch Willard Bohn sieht diese Parallele.368 In dem Gedicht gibt es auch direkte Anspielungen zur mexikanischen, auch der indigenen Kultur der Maya. Letzteres wird offensichtlich in den Versen «Tu ne connaîtras jamais bien les mayas» und «il appelait l’Indien Hijo de la Cingada»369 sowie in den Begriffen «Anomo» und «Anora», welche, wie Goldenstein vermutet, die Anrede ‘Bonjour’ jeweils für Mann und Frau in der Sprache der Maya sind.370 Auf die Azteken geht Apollinaire nicht explizit ein, jedoch stand die Stadt Chapultepec («Jeunes filles à Chapultepec») unter aztekischer Herrschaft. In Anbetracht der Tatsache, dass Apollinaire ‘Zone’ den Alcools als letztes hinzufügt371 und die Entstehungszeit des Gedichts somit mit der Entstehungszeit vieler Bilder der von ihm verehrten Delaunays, die kreisförmige sonnenähnliche Gebilde darstellen,372 übereinstimmt, kann zumindest in diesem Fall von

364 Guillaume Apollinaire: ‘Lettre-Océan’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 183 ff. 365 Jean-Pierre Goldenstein: ANOMO/ANORA: Tu connaîtras un peu mieux les mayas – ‘Lettre-Océan’: mise au point et hypothèses, S. 84. 366 Vgl. Willard Bohn: Circular Poem-Paintings by Apollinaire and Carrà. In: Comparative Literature 31, 3 (1979), S. 246–271. 367 Jean-Pierre Goldenstein: ANOMO/ANORA: Tu connaîtras un peu mieux les mayas – ‘Lettre-Océan’: mise au point et hypothèses, S. 78. 368 Willard Bohn: Reading Apollinaire’s Calligrammes, S. 105. Vgl. auch die Detail-Kommentierung der von Jörg Dünne verantworteten Internetseite der Arbeitsgruppe «Raum-Körper-Medium»: http://www.raumtheorie.lmu.de/apollinaire, letzter Zugriff: 9.4.2021. 369 Zur Bedeutung des Spanischen, vgl. Jean-Pierre Goldenstein: ANOMO/ANORA: Tu connaîtras un peu mieux les mayas – ‘Lettre-Océan’: mise au point et hypothèses, S. 86: «Littéralement, l’expression signifie ‘fils de pute’. Une ‘cingada’ était une Indienne violée par le conquérant espagnol». 370 Ebda., S. 95. 371 Michel Décaudin: Le dossier d’‘Alcools’, S. 85. 372 Beispielsweise auch ‘Formes circulaires, soleil No.1ʹ. Wie Walburga Hülk zeigt, steht diese Art der Darstellung in einem engen Zusammenhang mit dem Bestreben der Avantgarde, Bewegung und Dynamik formal umzusetzen. Ihrer Analyse zufolge ist es die Faszination für die Geschwindigkeit des Propellers, die sich in den kreisförmigen Bildern und Strukturen niederschlägt:

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einer tatsächlichen gegenseitigen Inspiration ausgegangen werden. Die Form des Kreises bei Delaunay und die zyklische Verfasstheit von ‘Zone’ sowie das Anliegen Delaunays, Simultaneität durch die Kontrastwirkung der verschiedenen Kreisschichten hervorzurufen und die parallel ablaufenden Ereignisse in ‘Zone’ unterstützen diese These. Nicht nur die mit den Fetischskulpturen verbundenen religiösen und mythischen Vorstellungen sind eine Inspirationsquelle für die alternativen Raum- und Zeitkonzeptionen, sondern auch Form und Ausdruck der Skulpturen selbst. Dies zeigt sich ebenfalls in Cendrars’ ‘Les grands fétiches’, denn er setzt die Formensprache der indigenen Kunst poetisch um, wenn er beispielsweise Deformationen und Überproportionierung bzw. das Fehlen bestimmter Körperteile thematisiert: IX Lui Chauve N’a qu’une bouche Un membre qui descend aux genoux Et les pieds coupés373

Die durch solche Deformationen erzeugten Raumwirkungen verbinden die Dichter und Künstler mit ihrem Interesse für die vierte Dimension, welche ihnen, wie das folgende Kapitel zeigt, einen theoretischen Hintergrund für ihr Simultaneitäts- und Ubiquitätsprinzip liefert. 3.1.2 Die vierte Dimension Apollinaire skizziert in den Méditations esthétiques. Les Peintres cubistes, dass die drei Dimensionen der euklidischen Geometrie den neuen Künstlern als Ausdrucksformen nicht mehr genügen: «Les peintres ont été amenés tout naturellement et, pour ainsi dire, par intuition, à se préoccuper de nouvelles mesures possibles de l’étendue»374. Die drei Dimensionen der Geometrie werden auch von Soffici als einengende Konvention beschrieben: «Avremo così la figura-

«Die Avantgarde-Künstler, nicht nur die amtlichen Futuristen, teilten dieses Staunen angesichts der Geschwindigkeit, und auch sie versuchten, der wirbelnden Bewegung eine Form zu geben. Und so entstand eine Fangemeinde, die immerzu Propeller, Spiralen, Kreise und Scheiben malte oder in Dichtungen die Helix rühmte.» Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Cendrars, der selbst ähnliche Bilder, u. a. ‘Voyage en aéro’, gemalt hat. Walburga Hülk: Bewegung als Mythologie der Moderne. Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry. Bielefeld: Transcript 2012, S. 183 ff. 373 Blaise Cendrars: ‘Les grands fétiches’. In: PC, S. 121. 374 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11.

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zione schematica geometrica astratta dei suoi limiti nello spazio. Figurazione piena, che soltanto per una convenzione d’ordine scientifico potremo considerare rappresentativa delle tre dimensioni del solido ritratto.»375 Beide beziehen sich in ihren Ausführungen auf die um 1910 populäre mathematische Theorie der ‘vierten Dimension»’, welche um dieselbe Zeit von mehreren Autoren rezipiert wird. Der dem Kubismus nahestehende Mathematiker Maurice Princet entwickelt daraus eine ästhetische Theorie und der Schriftsteller Gaston de Pawlowski veröffentlicht 1912 den Science-Fiction-Roman Voyage au pays de la quatrième dimension.376 Apollinaires Überlegungen zur vierten Dimension in den Méditations esthétiques erscheinen bereits 1912 in der Nummer 3 der Zeitschrift Soirées de Paris und werden von ihm in den Méditations esthétiques erneut aufgenommen. Apollinaire gehört somit zu den ersten, die das Konzept ästhetisch diskutieren. Es ist davon auszugehen, dass er den Begriff und das Konzept von dem ihm persönlich bekannten Maler Max Weber übernommen hat, von dessen 1910 erschienenem Artikel «The fourth dimension from a plastic point of view» er eine Übersetzung besaß.377 Womöglich war Soffici durch Apollinaires Einfluss mit dem Gedanken, die vierte Dimension drücke sich in der kubistischen Kunst aus, bekannt.378 In Übereinstimmung mit Weber379 definiert Apollinaire die vierte Dimension folgendermaßen: «elle figure l’immensité de l’espace s’éternisant dans toutes les directions à un moment déterminé. Elle est l’espace même, la dimension de l’infini; c’est elle qui doue de plasticité les objets».380 Die Raumvorstellung

375 Ardengo Soffici: Divagazioni sull’arte [1910]. In: SOI, S. 317–338, hier S. 328. 376 Gaston de Pawlowski: Voyage au pays de la quatrième dimension. Paris: Fasquelle 1913. 377 Vgl. Katia Samaltanos: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia, and Duchamp, S. 26: «Apollinaire’s definition of the fourth dimension is not his own. He borrowed it not from Princet, the mathematician who frequented the Cubists, but from Max Weber’s article on the fourth dimension published in Camera Work (July 1910); a manuscript translation of Weber’s article is included among Apollinaire’s personal papers bearing the title ‘La Quatrième Dimension au point de vue plastique.’ Apollinaire paraphrased and sometimes copied the translation of Weber’s text, selecting those passages which linked the fourth dimension with the notions of infinity and plasticity, what Weber called grandeur.» Siehe auch Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension. In: Que Vlo-Ve? 3, 19 (1995), S. 68–76. 378 Vgl. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 693: «È stato osservato che l’ipotesi delle quattro dimensioni potrebbe avere la sua corrispondenza estetica nella pittura cubista». 379 «In plastic art, I believe, there is a fourth dimension which may be described as the consciousness of a great and overwhelming sense of space-magnitude in all directions at one time, and is brought into existence through all three known measurements.» Max Weber: The fourth dimension from a plastic point of view, S. 25. 380 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11.

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basiert also nicht mehr auf einer fokalisierenden Perspektive («dans toutes les directions»), sondern dem Raum an sich als einer Totale («elle est l’espace même» und «l’immensité de l’espace») gilt nun das Interesse. Das neue Maß ist die Unendlichkeit des Universums («l’univers infini comme idéal»).381 Es liegt nahe, in dem Interesse an der vierten Dimension eine Affinität der Künstler zur modernen Wissenschaft zu sehen und es als ein Bestreben, physikalische und mathematische Theorien künstlerisch umzusetzen, zu interpretieren. Soffici sieht die Verwirklichung der vierten Dimension durch die Kunst jedoch als ein Beispiel für ein unhierarchisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst: alla scienza dovrebbe veramente eguagliare ogni arte che, resa alla sua purità, analizzasse e rivelasse sinteticamente gli aspetti segreti e sempre nuovi del mondo. È stato osservato che l’ipotesi delle quattro dimensioni potrebbe avere la sua corrispondenza estetica nella pittura cubista; perché non ammettere che ogni forma d’arte è l’ipotesi di una natura possibile?382

Zudem soll die neue räumliche Darstellung nicht den von der ‘Wissenschaft’ festgelegten Regeln folgen.383 Soffici gibt der persönlichen, individuellen Wahrnehmung Vorrang. Der abzubildende Gegenstand bestehe aus «una conoscenza personale, simpatica, per così dire» und der Künstler solle «questa visione particolare» in seinem Werk ausdrücken und sich dabei von dem «schema astratto generale della pura geometria» ablösen.384 Es sind nicht die mathematischen und naturwissenschaftlichen Gedankenexperimente, welche sich in der Raumund Zeitkonfiguration der Gedichte niederschlagen, sondern das veränderte Raum- und Zeitgefühl und die persönliche Wahrnehmung der Dimensionen. Dafür spricht auch, dass Weber nicht die mathematische Beweisbarkeit oder die physikalische Existenz der vierten Dimension als Beweis für ihre Wahrhaftigkeit sieht, sondern ihre Fühlbarkeit: «It is not a physical entity or a mathematical hypothesis, nor an optical illusion. It is real, and can be perceived and felt.»385 Auch bei Apollinaire beschreibt die vierte Dimension nicht nur die Unendlichkeit des Raums, sie wird darüber hinaus zu einer Metapher für die subjektive Färbung in der Raum- und Formdarstellung, die nun in die Konstruktion von Räumlichkeit einbezogen wird – das heißt, die Möglichkeit des «artiste-peintre de donner

381 382 383 384 385

Ebda. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 693. Ardengo Soffici: Divagazioni sull’arte. In: SOI, S. 328. Ebda., S. 329. Max Weber: The fourth dimension from a plastic point of view, S. 25.

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à l’objet des proportions conformes au degré de plasticité où il souhaite l’amener».386 Imagination und Emotion, die Darstellung einer subjektiven Perspektive, ermöglichen in der künstlerischen Darstellung das Überschreiten der von der traditionellen Kunst und newtonschen Physik gesetzten Grenzen.387 Wie sich im Folgenden zeigen wird, besteht gerade in dieser Subjektivität die Übereinstimmung mit der Plastizität der indigenen Skulptur sowie mit der mythischen Raum- und Zeitvorstellung. Der Mensch steht nun im Zentrum der Erkenntnis. Die äußere Realität ist der inneren Realität und der Intuition unterworfen, wie Apollinaire anhand der folgenden Anekdote verdeutlicht, die er aus Nietzsches Götzen-Dämmerung übernimmt:388 Nietzsche avait deviné la possibilité d’un tel art: ‘Ô Dionysos divin, pourquoi me tires-tu les oreilles? demande Ariane à son philosophique amant dans un de ces célèbres dialogues sur l’Île de Naxos. – Je trouve quelque chose d’agréable, de plaisant à tes oreilles, Ariane: pourquoi ne sont-elles pas plus longues encore?’389

Die Anekdote illustriert die Abwertung der objektiven Schönheit zugunsten eines subjektiven ästhetischen Empfindens, welches einen räumlich-proportionalen Ausdruck findet.390 Aus Apollinaires Ausführungen geht hervor, dass die Künstler in den ‘primitiven’ Skulpturen mit den ihnen eigentümlichen Proportionen ihre eigene alternative Raum- und Formvorstellung verwirklicht sehen. In Einklang mit Apollinaire bezeichnet Soffici die Technik der Deformation als eine der

386 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11. 387 Vgl. Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension, S. 73: «Elle [la perspective subjective, K.R.] visait à révolutionner l’art traditionnel en créant de nouvelles règles de composition aussi bien que de proportion. Il était essentiel que la réalité objective soit forcée à se rendre à une réalité personnelle et arbitraire.» 388 Bei Nietzsche klingt es so: «‘O Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?’ fragte Ariadne einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. ‘Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne: warum sind sie nicht noch länger?’», Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 2000, S. 79. 389 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12. Die langgezogenen Ohren erinnern an Skulpturen der Osterinseln, wie sie Adolphe Basler beschreibt: «ses bustes colossaux, aplatis par derrière, leurs face énigmatiques à longues oreilles», Adolphe Basler: Arts océaniens, S. 143. 390 Dieses Phänomen ist besonders deutlich in Reverdys Lyrik, wo sich die subjektive Weltsicht auch in der Darstellung der Perspektive äußert. Dazu ausführlich: Patrick Vayrette: La part d’ombre du monde de Reverdy. In: Françoise Buisson/Christelle Lacassain-Lagoin u. a. (Hg.): Perception, Perspective, Perspicacité. Perception, Perspective and Perspicacity. Paris: L’Harmattan 2014, S. 291–314.

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«virtù essenziali» der ‘primitiven’ Kunst und bespricht sie im Zusammenhang mit Picassos Malerei. Dem künstlerischen, subjektiven Gefühl folgend – «seguendo i propri moti della sua anima moderna»391 – breche der Künstler naturalistische Körperproportionen auf, etwa indem er den Kopf viel kleiner oder einen Arm viel größer als natürlich darstelle.392 Auf diese Weise entstehe ein Bild der emotionalen Wahrnehmung des Künstlers.393 Wie Apollinaire und Soffici betont auch Paul Guillaume die Individualität des künstlerischen Blickes, welche Eingang in das Kunstwerk findet, und zieht ebenfalls eine Verbindung zu den Übertreibungen und Deformationen in der Körperdarstellung, welche die zeitgenössischen Künstler von den afrikanischen Skulpturen übernehmen: Et partout où nous trouvons le dessin solidement développé, nous rencontrons également une distorsion plus ou moins prononcée des proportions physiques naturelles. Car la possibilité de répétitions rythmiques inaccoutumées et variées est augmentée immédiatement et d’une manière infinie dès qu’il est admis que l’artiste peut raccourcir, allonger, épaissir ou courber un membre pour que l’on puisse observer une similarité avec quelque autre partie de la figure; quand l’artiste peut librement transformer les proportions naturelles dans l’intérêt de la forme plastique.394

Die Deformation sei nicht als Verunstaltung zu verstehen, sondern als eine «recréation de l’imagination, dont la valeur et la beauté résident dans sa propre exactitude intime plutôt que dans une comparaison quelconque à un modèle humain.»395 In ähnlicher Weise verbindet auch Weber die vierte Dimension mit der Inspiration durch afrikanische Skulpturen, wenn er betont, dass die Raumwirkung unabhängig von der tatsächlichen Größe der Skulpturen und stattdessen ein Resultat der Imaginationsfähigkeit und Plastizität sei: «A Tanagara, Egyptian, or Congo statuette often gives the impression of a colossal statue, while a poor, mediocre piece of sculpture appears to be of the size of a pin-head, for it is devoid of this boundless sense of space or grandeur.»396 Aufgrund dieser unkonventionellen Raumwirkung werden die Skulpturen als Ausdruck der vierten Dimension interpretiert. Apollinaire unterstreicht den direkten Zusammenhang zwischen der ästhetischen Auseinandersetzung mit alternativen Raum-Zeit-Vorstellungen und den ‘primitiven’ Kunstwerken: «Ajoutons que cette imagination:

391 Ardengo Soffici: Picasso e Braque. In: SOI, S. 624. 392 Vgl. ebda., S. 625. 393 «O per meglio dire, egli [Picasso] scioglierà quelle cose nei loro elementi emotive – linee, scorci, sfumature di toni –, darà come la somma delle emozioni che ne avrà ricevute» Ardengo Soffici: Picasso e Braque. In: SOI, S. 628. 394 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 87. 395 Ebda., S. 92 f. 396 Max Weber: The fourth dimension from a plastic point of view, S. 25.

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la quatrième dimension, n’a été que la manifestation des aspirations, des inquiétudes d’un grand nombre de jeunes artistes regardant les sculptures égyptiennes, nègres et océaniennes».397 Auch Cendrars’ Erinnerung bestätigt, dass der Ursprung des Interesses für die mathematische Theorie der vierten Dimension in der Betrachtung der Darstellung von Raum und Plastizität in den indigenen Skulpturen liegt: On fit appel aux productions des sauvages et des peuples primitifs et aux vestiges esthétiques des hommes de la préhistoire. On s’occupait également beaucoup des dernières théories scientifiques d’électro-chimie, de biologie, de psychologie expérimentale et de physique appliquée. Deux hommes, qui n’étaient d’ailleurs pas peintres, eurent une influence énorme sur la première équipe des peintres cubistes, le mathématicien Princet, à qui l’on présentait les nouvelles productions plastiques et qui leur appliquait immédiatement une formule chiffrée, et l’érudit hellénisant Chausois, qui contrôlait toutes les théories émises à l’aide de citations tirées d’Aristote, d’Anaximandre et des philosophes présocratiques. Cette folle activité critique et créatrice fut appelée par Maurice Raynal ‘la Recherche de la Quatrième Dimension’.398

Ebenso wie die traditionelle von einer subjektiven Raum- und Formvorstellung abgelöst wird, verändert sich auch die Zeitvorstellung. Willard Bohn vertritt die Auffassung, Apollinaires Verständnis der vierten Dimension sei – im Gegensatz zu den Physikern, welche die vierte Dimension mit der Zeit assoziieren – allein auf den Raum bezogen.399 Dem ist entgegenzusetzen, dass eine zeitliche Komponente in Apollinaires Ausführungen durchaus mitgedacht ist, insofern er schreibt, der unendliche Raum verewige sich in einem Moment («l’espace s’éternisant dans toutes les directions à un moment déterminé»400). Bohn erklärt «à un moment» aber als einen Fehler Apollinaires bei seiner Übersetzung des Weberschen Artikels, wobei noch hinzukomme, dass auch Webers Muttersprache nicht Englisch, sondern Russisch war.401 Diese Deutung ist jedoch nicht zwingend, zumal die zeitliche Komponente sich auch im Verb verewigen («s’éternisant») ausdrückt. Bohn selbst sieht schließlich die Beschreibung der vierten Dimension durch Weber und Apollinaire als eine «excellente description avant la lettre du poème simultané».402 Auch Laurence Campa betrachtet das Konzept der vierten Dimension als eine Voraussetzung für die Darstellung sowohl von Ubiquität als auch von Si-

397 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 12. 398 Blaise Cendrars: ‘Peintres’ [1919]. In: ders.: Aujourd’hui [1931]. In: AH, S. 57–87, hier S. 77. 399 Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension, S. 68, und v. a. S. 72: «Pour Apollinaire comme pour Weber, donc, la quatrième dimension était un phénomène purement spatial.» 400 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11. 401 Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension, S. 72. 402 Ebda., S. 72 f.

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multaneität: «Cette simultanéité, cette ubiquité sont possibles en peinture grâce à la quatrième dimension».403 Wie sich gezeigt hat, wird die vierte Dimension trotz der wissenschaftlichen Verankerung von den Künstlern und Dichtern kaum von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus gedacht, im Gegenteil: Durch ihre Assoziation mit der ‘imagination’ und Subjektivität erscheint sie geradezu als Alternative zu dem herkömmlichen positivistisch-naturwissenschaftlichen Denken. Raum und Zeit werden von den Dichtern als mit Emotionen versehen und somit qualitativ konzipiert. Sie stellen keine quantitative, messbare Größe dar. Dies wiederum konvergiert mit der Raum- und Zeitvorstellung, welche Cassirer in Das mythische Denken beschreibt.

3.2 Der mythische Raumbegriff und seine Figuration in der Lyrik 3.2.1 Subjektive Raumanschauung In der Kunst wie in der Lyrik der Avantgarde werden Zeit und Raum nicht als geometrisch-naturwissenschaftliche, sondern als subjektive Größen gedacht, in denen sich die Wahrnehmung des Künstlers reflektiert. Auch Cassirer nimmt Anteil an diesem Diskurs, wenn er hervorhebt, das Verständnis des geometrischen, euklidischen Raums widerspreche der Erfahrung des Raums durch die Wahrnehmung.404 Im mythischen Raumbegriff hingegen sei der sinnliche Wahrnehmungsraum mit einbezogen: Um die Eigenart der mythischen Raumanschauung vorläufig und in allgemeinen Umrissen zu bezeichnen, kann man davon ausgehen, daß der mythische Raum eine eigenartige Mittelstellung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmungsraum und dem Raum der reinen Erkenntnis, dem Raum der geometrischen Anschauung einnimmt.405

Sowohl im mythischen Denken als auch in Apollinaires und Sofficis ästhetischer Konzeption stellt der Raum eine subjektive Kategorie dar, welche die Beziehung des Ichs zur Welt abbildet. Wie in den Gedichten ist die Raumanschauung hier vom wahrnehmenden Subjekt abhängig und drückt somit ein «Lebensgefühl» aus: «Was zunächst den mythischen Raum angeht, so entspringt er einerseits der charakteristischen mythischen ‘Denkform’, andererseits dem spezifischen ‘Lebensgefühl’, das allen Gebilden des Mythos innewohnt und ihnen ihre eigentümliche

403 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 52. 404 Vgl. MD, S. 98 f. 405 Ebda., S. 98.

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Tönung verleiht.»406 Der mythische Raum konstituiert sich vorrangig qualitativ, es sind bestimmte Merkmale wie Heiligkeit und Profanität, Fremdheit und Vertrautheit, Freude oder Gefahr, die verschiedene Orte voneinander abgrenzen.407 Die Innenwelt prägt in der mythischen Bewusstseinsform die Wahrnehmung der Außenwelt, und umgekehrt verweist das Äußere auch immer auf das Innere, denn zwischen diesen Bereichen gibt es keine Grenzziehung, «sondern beide reflektieren sich ineinander und erschließen erst in dieser wechselseitigen Spiegelung ihren eigenen Gehalt.»408 In Apollinaires Reflexionen zur Kunst findet sich diese Verschränkung von Innen- und Außenwelt, von Mikro- und Makrokosmos in dem Ideal, dass nicht mehr der Mensch allein, sondern die Verbindung von Kosmos und Mensch das neue Schönheitsideal sein soll: «Il faut aux nouveaux artistes une beauté idéale qui ne soit plus seulement l’expression orgueilleuse de l’espèce, mais l’expression de l’univers, dans la mesure où il s’est humanisé dans la lumière.»409 Laurence Campa erklärt diesen Satz, den Apollinaire mehrmals verwendet,410 folgendermaßen: Der Künstler hat aufgrund seiner Sensibilität Zugang zum Universum. Da es ihn aber durch das Medium seiner Sensibilität erreicht, wird es gleichzeitig zur Repräsentation des schöpfenden Künstlers selbst.411 Ganz ähnlich sieht Marie-Louise Lentengre in Apollinaires Poetik ein Wechselspiel zwischen der ‘äußeren’ und der ‘inneren’ Realität des Dichters. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrokosmos fest, denn die äußere Realität (Makrokosmos) verwirkliche sich immer im Gedicht (Mikrokosmos), gleichzeitig verleihe aber auch jeder Dichter der äußeren Realität eine ihm eigene Ordnung.412

406 Vgl. Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 485–500, hier S. 495. 407 «Jeder Ort steht hier in einer eigentümlichen Atmosphäre und bildet gewissermaßen einen magisch-mythischen Dunstkreis um sich her: denn er ist nur dadurch, daß an ihm bestimmte Wirkungen haften, daß Heil oder Unheil, göttliche oder dämonische Kräfte von ihm ausgehen.» Ebda., S. 495. 408 MD, S. 117. 409 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 17. 410 Auch in: À travers le Salon des Indépendants [1913]. In: PrII, S. 530. 411 «L’art nouveau en effet ne prend pas sa mesure dans l’homme mais dans l’univers infini; il y a décentrement. L’univers, par un mouvement centrifuge entre dans l’œuvre; l’artiste l’enregistre. Mais comme l’univers s’humanise dans la lumière, c’est-à-dire qu’il passe par la sensibilité de l’artiste, il se produit un mouvement centripète par lequel l’univers devient la nouvelle représentation de l’artiste créant sa propre réalité.» Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 51 f. 412 «Le refus des apparences vraies est le refus d’une vérité ancienne que l’artiste doit nécessairement abolir enfin d’élaborer, à travers les fausses apparences de son art, sa propre vérité. D’où l’éloge de la ‘fausseté enchanteresse’ et l’exaltation de la divinité de l’artiste; tout se

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Ein ähnliches Phänomen ist im mythischen Denken angelegt, denn dass Innenund Außenwelt hier einander entsprechen, hat seinen Ursprung in der Einteilung des Raums nach subjektbezogenen Kriterien: Der mythische Raum ist auf den Menschen bezogen und durch ihn hervorgebracht. Der Mythos geht «von einer räumlich-physischen Entsprechung zwischen der Welt und dem Menschen aus, um sodann von dieser Entsprechung auf die Einheit des Ursprungs zu schließen.»413 Der menschliche Körper bildet demnach den Ausgangspunkt für die Einteilung des Raums, was sich in verschiedenen Ursprungsmythen in der Strukturierung des Kosmos in Analogie zum menschlichen Körperaufbau zeigt, beispielsweise in der Überblendung der ‘Sonne’ mit dem menschlichen ‘Auge’.414 Aus dieser Struktur erklärt sich auch, weshalb der Mythos von einer Wirksamkeit der Planeten auf die Menschen, beispielsweise in der Astrologie, ausgeht. Auch der Schicksalsglaube ist eine Folge dieser Vorstellung.415 Außerhalb der Philosophie der symbolischen Formen widmet Cassirer dem Raum eine eigenständige Schrift, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. Darin zieht er Parallelen zwischen dem mythischen und dem ästhetischen Raum insofern, als beide, im Gegensatz zu jenem abstrakten Schema, das die Geometrie entwirft, durchaus ‘konkrete’ Weisen der Räumlichkeit sind. Auch der ästhetische Raum ist ein echter ‘Lebensraum’, der nicht, wie der theoretische, aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist.416

Trotz dieser Übereinstimmungen macht die Schrift auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam, der festgehalten werden muss: Der ästhetische Raum ist nicht von der Unmittelbarkeit der Affekte beherrscht, die von außen auf das Subjekt einwirken. Gefühl und Phantasie sind gewissermaßen auf einer höheren Ebene angesiedelt, insofern der ästhetische Raum ein bewusst gestalteter Raum ist: «Denn als Inhalt der künstlerischen Darstellung ist das Objekt in eine neue Distanz, in eine Ferne vom Ich gerückt – und in ihr erst hat es das ihm eigene selbständige Sein, hat es eine neue Form der Gegenständlichkeit gewonnen.»417 Diese Distanz gilt auch für das hier behandelte mythische Denken als ästhetischen Modus: Auch wenn sich die Künstler mythischer Anschauungsfor-

passe comme si la réalité se recréait en permanence dans l’œuvre d’art et comme si chaque artiste, donnant au monde son propre ordre et sa propre harmonie, multipliait le macrocosme à l’image du microcosme.» Marie-Louise Lentengre: Apollinaire. Le Nouveau Lyrisme, S. 94. 413 MD, S. 107. 414 Vgl. ebda., S. 107. 415 Vgl. ebda., S. 104 f. 416 Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 498. 417 Ebda.

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men bedienen, so weisen ihre Kunstwerke wiederum eine Distanz zu solchen Anschauungsformen auf, weil sie als ästhetische Umformungen, als ästhetisches Kalkül begriffen werden müssen. 3.2.2 Mikro- und Makrokosmos: Megalomanie und Nichtigkeit Je ne sais plus si je regarde un ciel étoilé à l’œil nu ou une goutte d’eau au microscope.418

Aus der Analogiebildung zwischen Mensch und Kosmos leitet sich der Gedanke an eine Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos ab, denn die «gesamte Raumwelt und mit ihr der Kosmos überhaupt erscheint nach einem bestimmten Modell gebaut, das sich bald in vergrößertem, bald in verkleinertem Maßstabe darstellen kann, das aber stets im Größten wie im Kleinsten dasselbe bleibt.»419 In ‘Cortège’ konnten im Kapitel II.2.5 «Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien» in den Anspielungen auf den Panpsychismus des Agrippa von Nettesheim bereits Bezüge zu solchen Gedanken in Apollinaires Werk hergestellt werden.420 Das Thema von Makrokosmos und Mikrokosmos setzt sich in ‘Cortège’ jedoch auch in dem Gedanken fort, dass sich das lyrische Ich selbst aus «tous les corps et les choses humaines» zusammensetze: Un jour je m’attendais moi-même Je me disais Guillaume il est temps que tu viennes [...] Le cortège passait et j’y cherchais mon corps Tous ceux qui survenaient et n’étaient pas moi-même Amenaient un à un les morceaux de moi-même On me bâtit peu à peu comme on élève une tour

418 Blaise Cendrars: Profond aujourd’hui. In: AH, S. 5. 419 MD, S. 104. 420 Vielleicht hat sich Apollinaire auch von der Lyrik Ronsards inspirieren lassen, von dem zumindest einige Werke in seiner Bibliothek zu finden sind. Vgl. Elisabeth Aragon: Ronsard poète renaissant dans Les Amours de 1552–1553: cosmos et microcosmos. In: Littératures 37 (1997), S. 37–65. Und vgl. Gilbert Boudar: Catalogue de la Bibliothèque de Guillaume Apollinaire. Band 1. Paris: Éditions du C.N.R.S. 1983. Apollinaires Beschäftigung mit solchen Denkweisen ist jedoch kein Einzelfall im frühen 20. Jahrhundert. Cassirer reflektiert in einer Fußnote mit einem Literaturhinweis, dass ähnliche Gedanken – mit denen er sich ja selber, wenn auch von einem anderen Standpunkt aus, beschäftigt – zu seiner Zeit höchst aktuell sind: «Daß selbst im modernen und modernsten Denken diese Denkweise ihren Reiz und ihre Bedeutung nicht verloren hat, zeigt übrigens das in dieser Hinsicht äußerst lehrreiche und merkwürdige Buch von Wilhelm Müller-Walbaum, Die Welt als Schuld und Gleichnis.» MD, S. 108.

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Les peuples s’entassaient et je parus moi-même Qu’ont formé tous les corps et les choses humaines421

Die Verschränkung von Mikro- und Makrokosmos ist wohl eins der wichtigsten poetischen Verfahren Apollinaires und findet sich in zahlreichen anderen Gedichten. Es beinhaltet zumeist auch die poetologische Bedeutung, dass das Gedicht sich selbst und die ganze Welt enthält. Besonders deutlich ist die poetologische Dimension in dem rätselhaften Monostiche ‘Chantre’ aus den Alcools. Er lautet: «Et l’unique cordeau des trompettes marines».422 Die Lösung des mysteriösen Verses um das Trumscheit («trompette marine»), ein altertümliches Streichinstrument, welches nur eine Saite («l’unique cordeau») besitzt, liefern zeitgleich zwei Interpretatoren, Antoine Fongaro und Marc Poupon.423 Sie beide verweisen auf eine Radierung aus dem 1617 erschienenen Werk Utriusque Cosmi Historia von Robert Fludd, welche ein Instrument abbildet, das dem von Apollinaire beschriebenen Monochord ähnelt. Das Bild stellt dar, wie das Instrument himmlische und irdische Welt mit dem Klang von einer einzigen Saite verbindet: La main de Dieu (sortant d’un nuage) fait vibrer la corde unique, dont l’extrémité inférieure est attachée à la Terre; sur la caisse de résonance figurent, dans l’ordre descendant, les intervalles entre les anges, les étoiles fixes, les trois planètes supérieures, le soleil, les trois planètes inférieures, les quatre éléments. [...] Le macrocosme étant organisée selon les lois de la musique, le microcosme, c’est-àdire l’homme, est lui aussi régi par les mêmes lois.424

Das Gedicht habe somit eine «portée cosmique», auf welche bereits der mit Apollinaire befreundete André Rouveyre zu sprechen kam.425 Apollinaire setzt die Verbindung zwischen Makro- und Mikrokosmos hier jedoch nicht nur thematisch um, sondern auch durch die von ihm gewählte Form: Die Aussage, dass alles nach dem Gesetz einer universellen Harmonie, verkörpert durch die Saite, miteinander in Verbindung steht, verdichtet sich in dem Einzeiler, womit 421 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74 f. Siehe auch die Kapitel III.3.2.3 ‘Ubiquität’ und III.3.3.3 ‘Präsenz und Augenblick’ der vorliegenden Arbeit. 422 Guillaume Apollinaire: ‘Chantre’. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 63. 423 Antoine Fongaro: Un vers univers, S. 109–118 und Marc Poupon: Un parangon de poésie apollinarienne. ‘Chantre’, S. 119–124, beide in: Guillaume Apollinaire 13 (1976). Für eine neue Interpretation, welche sich auf Fongaro und Poupon stützt, siehe Nicolaas van der Toom: Le monostique d’Apollinaire ou les contorsions d’un vers solitaire. In: Annelies Schulte Nordholt/ Paul J. Smith: Jeux de mots, enjeux littéraires, de François Rabelais à Richard Millet: Essais en hommage à Sjef Houppermans. Leiden: Brill 2018, S. 192–219. 424 Antoine Fongaro: Un vers univers, S. 114. 425 Ebda., S. 115.

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dieser selbst zum Ausdruck dieser Idee wird. Der einzige Vers wird selbst zu dem, was er beschreibt – damit ist das Gedicht in seiner Tautologie gewissermaßen ein ‘ursprüngliches’ Kalligramm, ein «calligramme pur» nach der Definition von Margaret Davies in Anlehnung an Jean-Pierre Goldenstein.426 Fongaro versteht das Gedicht dementsprechend als Konzentration des Universums, «macrocosme et microcosme, en un vers, selon la loi du calembour (qui est, il semble bien, une loi fondamentale de la création chez Apollinaire), grâce au monocorde (avec un nouveau calembour: le monocorde, c’est le monostiche, et le cordeau unique, c’est le vers unique).»427 ‘Chantre’ kann somit als Umsetzung der von Apollinaire anvisierten neuen Poesie gelten, denn in ‘L’esprit nouveau et les poètes’ spricht er von den neuen synthetischen Gedichten, welche das ganze Universum enthalten und damit auf der Höhe der modernen Entwicklung stehen: La rapidité et la simplicité avec lesquelles les esprits se sont accoutumés à désigner d’un seul mot des êtres aussi complexes qu’une foule, qu’une nation, que l’univers n’avaient pas leur pendant moderne dans la poésie. Les poètes comblent cette lacune et leurs poèmes synthétiques créent de nouvelles entités qui ont une valeur plastique aussi composée que des termes collectifs.428

In Apollinaires Vision der neuen Poesie sticht hervor, dass er die synthetisierende Kraft der neuen Dichtung mit einer «valeur plastique», also einem Ideal, das vorrangig im Zusammenhang mit der indigenen und kubistischen Skulptur diskutiert wird, in Verbindung bringt. Daraus lässt sich schließen, dass die Verschränkung von innerer und äußerer Welt in den Gedichten, von Mikro- und Makrokosmos, eine Art Äquivalent zur Plastizität der Skulpturen und damit der Gedankenfigur der vierten Dimension bildet. Dies bestätigt sich in der Konsequenz, welche die Vermengung von Mikro- und Makrokosmos für die räumliche Darstellung hat. Wenn das Ganze im Kleinen und das Einzelne im Ganzen enthalten ist und erfahren werden kann, bedeutet dies ein Aufbrechen herkömmlicher physikalischer Größenverhältnisse – wie im Vers «nous avons tant grandi que beaucoup pourraient confondre nos yeux et les étoiles»429 aus dem ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’, wo sich durch den Größenvergleich der Augen mit den Sternen ähnlich wie in ‘Chantre’ wieder eine kosmische Verbindung an-

426 427 428 429

Margaret Davies: La Mandoline l’œillet et le bambou, S. 1. Antoine Fongaro: Un vers univers, S. 114 f. Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 945. Guillaume Apollinaire: ‘Poème lu au mariage d’André Salmon’. In: Po, S. 84.

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deutet.430 Jean Burgos spricht von einer «gullivérisation des éléments cosmiques»431 und in der Umkehrung von «procédés de gigantisation qui donnent au poète tous pouvoirs pour s’emparer d’un monde dont il a pris les proportions.»432 Diese Beschreibung der Größenverschiebungen erinnert an die Raumwirkung, welche Weber in Zusammenhang mit der indigenen Skulptur und der vierten Dimension beschreibt: Unabhängig von der tatsächlichen Größe erscheint die Skulptur unverhältnismäßig groß oder klein.433 Das Thema von Mikro- und Makrokosmos bildet auch den Kern der vierten Strophe aus ‘La petite auto’: Les chiens aboyaient vers là-bas où étaient les frontières Je m’en allais portant en moi toutes ces armées qui se battaient Je les sentais monter en moi et s’étaler les contrées où elles serpentaient Avec les forêts les villages heureux de la Belgique Francorchamps avec l’Eau Rouge et les pouhons Région par où se font toujours les invasions Artères ferroviaires où ceux qui s’en allaient mourir Saluaient encore une fois la vie colorée Océans profonds où remuaient les monstres Dans les vieilles carcasses naufragées Hauteurs inimaginables où l’homme combat Plus haut que l’aigle ne plane L’homme y combat contre l’homme Et descend tout à coup comme une étoile filante Je sentais en moi des êtres neufs pleins de dextérité Bâtir et aussi agencer un univers nouveau Un marchand d’une opulence inouïe et d’une taille prodigieuse Disposait un étalage extraordinaire Et des bergers gigantesques menaient De grands troupeaux muets qui broutaient les paroles Et contre lesquels aboyaient tous les chiens sur la route434

430 Ein ähnliches Motiv ist auch in ‘L’ermite’ [1902] angedeutet: «et je vois de grands yeux/ S’ouvrir tragiquement O nuit je vois tes cieux/S’étoiler calmement de splendides pilules//Un squelette de reine innocente est pendu/A un long fil d’étoile en désespoir sévère». In: ders.: Alcools [1913]. Po, S. 100–103, hier S. 102. 431 Burgos nennt auch zahlreiche weitere Beispiele für dieses Phänomen. Jean Burgos: Apollinaire et le recours au mythe, S. 122. 432 Ebda., S. 123. 433 Vgl. das Kapitel III.3.1.2 ‘Die vierte Dimension’ der vorliegenden Arbeit. 434 Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’. In: Po, S. 207 f. Ausführlich zu diesem Gedicht vgl. Kapitel III.2.1.2 ‘Lebendigwerden der Buchstaben: Dynamik in ‘La petite auto’’ der vorliegenden Arbeit.

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Der Topos des Dichters als Seher ist hier als eine Art Vorschau auf die bevorstehende Kriegszeit, in die das Auto die Insassen führt, umgesetzt, wobei die Geschehnisse der Außenwelt in das Innere des lyrischen Ichs verlagert sind. Die Existenz des Makrokosmos im Mikrokosmos zeigt sich in der Kopräsenz all der aufgezählten Dinge («armées», «contrées», «forêts», «villages», «artères ferroviaires», «océans», «êtres neufs», «univers nouveau» etc.) im lyrischen Ich. Der Eindruck des Zusammenfallens des Äußeren und Inneren wird durch die körperliche Metapher «artères ferroviaires» noch verstärkt. Die Inkongruenz der Größenverhältnisse steigert sich im Verlauf der Strophe merklich: Waren zu Beginn «ces armées qui se battaient» im lyrischen Ich enthalten, so errichtet sich schließlich ein ganzes neues Universum im Subjekt («Bâtir et agencer un univers nouveau»). Diese Steigerung wird auch durch eine Häufung von Ausdrücken, die Größe markieren, deutlich («opulence», «taille prodigeuse», «extraordinaire», «gigantesque», «grands»). Hier deutet sich das Motiv der Megalomanie an, auf das die Ineinssetzung von Mikro- und Makrokosmos hinausläuft. Die Selbstinszenierung des lyrischen Ichs als Universumsinhaber findet im Motiv der Einverleibung einen besonders starken Ausdruck. In ‘Les fiançailles’ verleibt sich der Dichter die Sterne ein, welche sich an die Stelle seiner Worte setzen: Je buvais à pleins verres les étoiles [...] Je n’ai plus même pitié de moi Et ne puis exprimer mon tourment de silence Tous les mots que j’avais à dire se sont changés en étoiles435

Dass die Worte des Dichters sich in Sterne verwandeln, zeigt, wie die Megalomanie in einen poetologischen Kontext gestellt wird. Dies bestätigt sich in ‘L’esprit nouveau et les poètes’, wo Apollinaire das Große, Unendliche mit der dichterischen Vorstellungskraft und Erfindungsgabe assoziiert: «L’homme s’est familiarisé avec ces êtres formidables que sont les machines, il a exploré le domaine des infiniments petits, et de nouveaux domaines s’ouvrent à l’activité de son imagination: celui de l’infiniment grand et celui de la prophétie.»436 In ‘Vendémiaire’ steigert sich das Motiv zur Ingestion des gesamten Universums («Je suis ivre d’avoir bu tout l’univers»).437

435 Guillaume Apollinaire: ‘Les fiançailles’. In: Po, S. 129 f. 436 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 945. 437 Guillaume Apollinaire: ‘Vendémiaire’. In: Po, S. 152. Vgl. die Besprechung dieser Stelle im Kapitel III.2.3.2 ‘Sprachmagie’ der vorliegenden Arbeit.

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Das Bild der Einverleibung erscheint auch bei den anderen Dichtern der frühen Avantgarde. In ‘Aux 5 coins’ von Cendrars tritt das Motiv etwas subtiler auf – Jean Lacroix spricht von einer «capture du monde des essences, d’une appropriation sensitive de ses objets, de ses êtres, de ses lieux, de ses événements.»438 Das lyrische Ich nimmt die Welt («Tout») als eine bewegte Farb- und Lichtexplosion auf, indem es sie sich gewissermaßen auf der Zunge zergehen lässt: Oser et faire du bruit Tout est couleur mouvement explosion lumière La vie fleurit aux fenêtres du soleil Qui se fond dans ma bouche439

Doch bleibt es nicht bei der Aufnahme der Außenwelt: Derartig gesättigt fällt es wie eine reife Frucht («je suis mûr») auf die Straße. Damit wird es nach ihrer Invasion selbst Teil der Außenwelt, in die es sich auflöst («translucide»): Je suis mûr Et je tombe translucide dans la rue440

Weniger raffiniert ist das Motiv der größenwahnsinnigen Einverleibung der Welt bei Marinetti. In «Invocation à la mer toute-puissante pour qu’elle me délivre de l’idéal»441 wird ein kosmisches Gefüge aufgestellt, in dem die Sterne, aber auch andere Himmelserscheinungen, wie die Abenddämmerung, mit dem angerufenen Meer eine Verbindung eingehen. Das Meer steht für eine Unermesslichkeit, die «allen wissenschaftlichen Erklärungs- und Beherrschungsversuchen trotzt.»442 Zwar wird das Meer mehrfach mit einem riesigen Fluss verglichen («comme un grand fleuve» und «comme un fleuve dont les eaux ...»443), aber es ist die Grenzenlosigkeit, die nach Marinetti seine höhere Qualität ausmacht («Tu plonges dans l’infini, comme un fleuve sans bornes»444 und «Tu es infinie et divine, ô Mer»445). Es verkörpert die Bewe-

438 Jean Lacroix: Du flair: Cendrars ou le réalisme olfactif. In: Jacqueline Bernard (Hg.): Cendrars, l’aventurier du texte. Colloque organisé les 20 et 21 novembre 1987 par le Centre de recherche en didactique du texte et du livre. Grenoble: Presses Universitaires de Grenoble 1992, S. 129–164, hier S. 131. 439 Blaise Cendrars: ‘Aux 5 coins’. In: PC, S. 85. 440 Ebda. 441 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Invocation à la mer toute-puissante’, S. 9–16. 442 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 68: «Das Meer ist Inbegriff der Irrationalität und deshalb geeignetste Verdeutlichung des nur sinnlich aufgefaßten Lebens.» 443 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Invocation à la mer toute-puissante’, S. 12. 444 Ebda., S. 13. 445 Ebda., S. 11.

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gung eines scheinbar Unendlichen («Infinie et divine, tu voyages, ô Mer»446). Damit steht es nicht nur für die Unendlichkeit des Raums («quand tu plonges sans effort, en droite ligne, dans l’insondable profondeur des horizons! ...» und «O Mer, ô formidable épée à pourfendre les Astres!»447), sondern auch für die der Zeit: «Et les Couchants alors, qui se métamorphosent, ne sont que les blessures sanguinolentes que tu creuses, à travers les temps».448 Die vielen Fortsetzungspunkte («...») im Gedicht deuten zum einen die Sprachlosigkeit des lyrischen Ichs an, wenn der Ausdruck vor der raumzeitlichen Größe des Meeres versagt, verweisen aber zum andern auch auf die Unbegrenztheit von Raum und Zeit, welche das Gedicht thematisiert («ton désir éternel» und «Ô Veines radieuses de l’espace, O Sang pur de l’infini!»449). Das lyrische Ich platziert sich aber nur vorläufig als staunendes Subjekt in diesem Kosmos, bis es schließlich in sich das Meer vereint und es durch seine Adern fließen lässt: Oui! Oui!.. Enfin, je te sens dans mes veines, ô turbulente Mer, ô Mer aventureuse!.. Tu es en moi, comme je te désire!...450

Das zunächst von der unbegreiflichen Unendlichkeit des Meeres – die selbst die Wissenschaftler nicht ermessen können («Et d’ailleurs, quoi qu’ils disent, ils ont tort, les Savants.»451) – unterworfene Subjekt stilisiert sich nun als Beherrscher dieser Urgewalt und macht sie sich zu eigen.452 Nicht nur die Kritik an der Rationalität und Wissenschaft ist ein Element, das sich in seinen futuristischen Texten fortsetzt.453 Die Einverleibung des Meeres erfolgt hier wie bei Apollinaire und Cendrars über den Mund –«tenere in bocca tutto mare TONDO»454 – und verdeutlicht damit wieder die Durchbrechung der Größenverhältnisse. Die Symbiose mit der Außenwelt beschränkt sich jedoch nicht auf das Meer. Die Auf-

446 Ebda. 447 Ebda., S. 12. 448 Ebda. 449 Ebda., S. 13. 450 Ebda., S. 15. 451 Ebda., S. 12. 452 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 69: «Die scheinbare Undeutbarkeit des Meeres ist durch die intendierte kosmische Unterwerfung relativiert; in die Natur kann eingegriffen werden.» 453 Vgl. Kapitel II.3 ‘Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild und Befreiung von Institutionen’ der vorliegenden Arbeit. 454 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Zang Tumb Tumb’. In: MTI, S. 646.

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nahme der ganzen Welt in Synthese mit dem lyrischen Ich wird in ‘Zang Tumb Tumb’ zu einer Metapher für die poetische Potenz: tutto ciò fuori di me ma anche in me totalità simultaneità sintesi assoluta = superiorità della mia poesia su tutte le altre stop455

Somit verbirgt sich hier ein ähnliches Dichtungskonzept wie in Apollinaires ‘Chantre’, mit der Ausnahme, dass die dichterische Überlegenheit in diesem Gedicht ganz explizit zur Schau gestellt wird. Ähnliche Anzeichen der Megalomanie finden sich bei Soffici. Die imaginierte Einverleibung in ‘Specchio’ findet wieder durch den Akt des Essens statt: «Aperti odorosi terre e verdure che l’anima vorrebbe mangiare».456 In ‘Aeroplano’ hingegen ist die Verschmelzung des Ichs mit dem Universum stärker erotisch konnotiert: Il mio cuore meteora si spande come uno sperma nell’abisso fecondo di sangue. [...] Bacio la vulva del firmamento, senza rumore.457

Dagegen wirkt die Gigantisierung des lyrischen Ichs in ‘Mattutina’ fast traditionell: Traboccante di vita e di simpatia Il mio cuore si gonfia, si squaglia, si spande Misticamente con atto d’amore: Abbraccia in un’estasi singhiozzante La terra, il cielo, le piante, le bestie, i fiori, le zolle e tutte le cose;458

Im bekannten Kontext der Nahrungsaufnahme und dennoch ganz anders wird in Apollinaires ‘Merveille de la guerre’ die Einswerdung des lyrischen Ichs mit der Erde ausgearbeitet. Das Subjekt erscheint nicht als Akteur, sondern ist hier als ‘Opfer’ von der Vereinnahmung der Erde bedroht: C’est un banquet que s’offre la terre Elle a faim et ouvre de longues bouches pâles

455 Ebda., S. 644. Hervorhebung im Original. 456 Das am 15. November 1915 in La voce erschienene Gedicht wurde in keine Soffici-Edition aufgenommen. Text und Kommentar finden sich bei Antonio Pietropaoli: Poesie in libertà: Govoni, Palazzeschi, Soffici, S. 248 ff. 457 Ardengo Soffici: ‘Aeroplano’. In: SOIV, S. 740. 458 Ardengo Soffici: ‘Mattutina’. In: ders.: ‘Poesie giovanili (1901–1908)’. In: ders.: Marsia e Apollo [1938]. In: SOIV, S. 703.

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La terre a faim et voici son festin de Balthasar cannibale Qui aurait dit qu’on pût être à ce point anthropophage459

In ‘Merveille de la guerre’ deutet sich an, dass sich die Selbstüberhöhung zeitweilig auch in eine bedrohliche Auflösung des Ichs umkehren kann. Das lyrische Ich – das sich als Apollinaire selbst zu erkennen gibt – hat sich in der Erde eingegraben: Mais j’ai coulé dans la douceur de cette guerre avec toute ma compagnie au long des longs boyaux Quelques cris de flamme annoncent sans cesse ma présence J’ai creusé le lit où je coule en me ramifiant en mille petits fleuves qui vont partout Je suis dans la tranchée de première ligne et cependant je suis partout ou plutôt je commence à être partout460

Die Essensmetapher der vorangegangenen Strophe bleibt hier noch mit der Zweideutigkeit des Wortes «boyaux» erhalten, das sowohl ‘Schützengraben’, als auch ‘Gedärme’ bedeutet. Das lyrische Ich scheint sich aufzulösen – dies wird bereits durch den nurmehr indirekten Hinweis seiner Anwesenheit, die auf ihn abgezielten Schüsse («cris de flamme»), gedanklich vorbereitet. Es scheint seine fest umrissene, menschliche Gestalt verlassen zu haben, sich zu verflüssigen («je coule») und überall zu verteilen («je suis partout»). Statt der gewohnten größenwahnsinnigen Stilisierung als Beherrscher und Behälter der Welt endet das Gedicht mit der ernüchternden Erkenntnis, dass es nicht mehr Empfangsstation für das gesamte Universum ist: Car si je suis partout à cette heure il n’y a cependant que moi qui suis en moi461

Die Auflösung der Grenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos hat für das Subjekt in Apollinaires Lyrik die Konsequenz, dass es zwischen Größenwahn und Nichtigkeit schwankt und gleichzeitig alles und nichts ist. Wenn das Ich mit dem Ganzen verschmilzt, dann droht es auch zu verschwinden. Dieses Phänomen konstatiert bereits Reverdy, der in ‘L’esthétique et l’esprit’ schreibt: «Le poète est un géant qui passe sans effort par le trou d’une aiguille et, à la fois, un nain qui remplit l’univers.»462 Robert Greene sieht in dieser Äußerung einen Ausdruck dafür, dass Reverdys Poesie die Grenze zwischen innerem und äußerem Universum durchbrechen möchte.463 Auch in dessen Poetik entsprechen

459 Guillaume Apollinaire: ‘Merveille de la guerre’. In: Po, S. 271. 460 Ebda., S. 272. 461 Ebda. 462 Pierre Reverdy: Le Gant de crin. In: ROCII, S. 569. 463 Robert W. Greene: The poetic theory of Pierre Reverdy, S. 54.

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Mikro- und Makrokosmos einander – er schreibt: «Le drame universel et le drame humain tendent à s’égaler.»464 Diese Beobachtung zeigt, wie tief das Thema von Mikro- und Makrokosmos in die Poetik der Avantgarde eingeschrieben ist, da es sowohl die Bedürfnisse nach Universalität als auch die nach Partikularität reflektiert und miteinander verbindet. 3.2.3 Ubiquität In seiner kurzen Besprechung der Calligrammes macht Reverdy auf das Phänomen der Ubiquität in der Gedichtsammlung aufmerksam: «Il nous rappelle tout ce qu’est capable d’embrasser le lyrisme de son auteur qui sut être partout comme il le dit lui-même. Comme tous les vrais poètes Apollinaire a le don d’ubiquité, sa poésie aussi, naturellement.»465 Reverdy zitiert hier indirekt ‘Merveille de la guerre’. Die im vorigen Kapitel besprochenen Verse, insbesondere die Wiederholung der Formel «je suis partout», haben die Allgegenwart bereits als ein zentrales Motiv des Gedichts aufgeworfen. Auf die Gabe der Ubiquität, über die das lyrische Ich, Guillaume Apollinaire, verfügt, wird noch deutlicher in den darauffolgenden Versen eingegangen: Je lègue à l’avenir l’histoire de Guillaume Apollinaire Qui fut à la guerre et sut être partout Dans les villes heureuses de l’arrière Dans tout le reste de l’univers Dans ceux qui meurent en piétinant dans le barbelé Dans les femmes dans les canons dans les chevaux Au zénith au nadir aux 4 points cardinaux Et dans l’unique ardeur de cette veillée d’armes466

Das lyrische Ich ist in «toutes ces choses»467 enthalten. Analog zur mythischen Anschauung werden durch das Zusammenfallen von Mikrokosmos und Makrokosmos gleichzeitig räumliche Grenzen überwunden: «Das Fernste rückt mit dem Nächsten zusammen, sofern es sich in ihm irgendwie ‘abbilden’ läßt.»468 Das Gedicht ist ein Beispiel dafür, wie die Verschränkung von Mikro- und Makrokosmos, das Verschmelzen von Ich und Welt mit der Gabe der Ubiquität verbunden sind.469

464 Pierre Reverdy: Le Gant de crin. In: ROCII, S. 559. 465 Pierre Reverdy: Livres. In: ROCI, S. 504. 466 Guillaume Apollinaire: ‘Merveille de la guerre’. In: Po, S. 272. 467 Ebda. 468 MD, S. 108. 469 Vgl. Georges Dupeyron: Espace et temps dans la poésie de Guillaume Apollinaire. In: Europe 1 (1966), S. 193–201, hier S. 196 f.

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Bohn sieht mit der Ubiquität in Apollinaires Gedichten die Idee der vierten Dimension literarisch verwirklicht. In ihr zeigt sich zum einen die Abwendung von einer naturwissenschaftlichen Welterfahrung zugunsten einer persönlichen Realität, zum anderen drückt sich in ihr eine «nostalgie de l’infini, qui se caractérise par l’omniscience et l’ubiquité en dehors du temps» aus.470 Die Aufhebung des Ortes zugunsten eines unendlichen, alles umfassenden Raumverständnisses geht Hand in Hand mit der Aufhebung der Zeit zugunsten einer alles umfassenden Ewigkeit. Folglich ist Ubiquität auch als eine Folge bzw. Begleiterscheinung der Simultaneität anzusehen. Dies zeigt sich daran, dass die Gleichzeitigkeit in den Gedichten zumeist räumlich erfahren wird, so wie in ‘Zone’, wo sich das lyrische Ich an mehreren Orten gleichzeitig wahrnimmt. Es befindet sich gleichzeitig in Paris, Prag, Marseille, Koblenz, Rom und Amsterdam: Te voici à Marseille au milieu des pastèques Te voici à Coblence à l'hôtel du Géant Te voici à Rome assis sous un néflier du Japon Te voici à Amsterdam avec une jeune fille que tu trouves belle et qui est laide [...] Tu es à Paris chez le juge d'instruction.471

Der Eindruck von Ubiquität wird hier durch die Aneinanderreihung von Namen weit voneinander entfernter Orte erzeugt, ohne Hinweise auf ihre Verbindung anzugeben.472 Das lyrische Ich bewegt sich zwar durch Paris, ist aber in dieser Bewegung nicht an den Ort Paris gebunden473 – Raum, Zeit und Bewegung fallen auseinander. Der Zusammenhang wird im Falle von ‘Les fenêtres’ noch weiter verknappt, wo Ubiquität in einer bloßen Aneinanderreihung von Städtenamen erzeugt wird: Du rouge au vert tout le jaune se meurt Paris Vancouver Hyères Maintenon New-York et les Antilles

470 Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension, S. 73. 471 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 42. 472 «Comme il le fait souvent, Apollinaire suggère l’ubiquité par la juxtaposition des noms de villes, indépendamment des distances réelles.» Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 106. 473 Ubiquität und «passage» sind keine Widersprüche, sondern ergänzen sich: «Le passage, le déplacement d’une part et l’ubiquité d’autre part ne sont pas forcément contradictoires. Ils sont complémentaires dans le sens où ils assurent, soutenus par l’unité du moi et de la création, la simultanéité, la mobilité, la multiplication et le grandissement sans céder à la dispersion, à la disparition. C’est d’ailleurs une des caractéristiques propres à Apollinaire que de réunir les contraires, non pour parvenir à une annulation, ou à un dépassement dialectique, mais pour conserver leur antagonisme fécond.» Ebda.

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La fenêtre s’ouvre comme une orange Le beau fruit de la lumière474

Wenn Apollinaire in Lettre-Océan schreibt: «Ta voix me parvient malgré l’énorme distance»,475 spricht er damit natürlich die ubiquitäre Präsenz der ‘Stimme’, der persönlichen Worte, an, welche durch die moderne Technik möglich geworden ist.476 Doch lässt sich dieser Satz auch auf das Gedicht selbst übertragen, das es noch heute möglich macht, die Stimme des Dichters in seiner Dichtung wahrzunehmen – unabhängig davon, wo und ob er noch lebt. Weil die Ubiquität, wie Gott, eine Allgegenwart zu einem bestimmten Zeitpunkt ermöglicht und damit gleichermaßen das zeitliche Gefüge außer Kraft setzt, steht sie im Zusammenhang mit der von Apollinaire geforderten Selbstdivinisierung («Mais le peintre doit avant tout se donner le spectacle de sa propre divinité [...] Il faut pour cela embrasser d’un coup d’œil: le passé, le présent et l’avenir.»477) und Prophetie («L’esprit nouveau exige qu’on se donne de ces tâches prophétiques»478). Ubiquität und Simultaneität sind Zeichen für die Selbststilisierung des Dichters als gottähnlich, die wir häufig in Apollinaires Gedichten finden, meint auch Campa: «Le créateur, tel qu’il [Apollinaire] le conçoit, annulant la durée, fait l’expérience de la simultanéité et de l’ubiquité. L’omniprésence temporelle et spatiale rend l’artsite [sic] égal aux dieux.»479 Die in den Gedichten dargestellte Ubiquität enthält daher zumeist auch eine metapoetische Aussage. Deutlich ist dies in ‘Cortège’: Krenzel-Zingerle sieht aufgrund der unbegrenzten Wahrnehmungsfähigkeit und der Allwissenheitsphantasie des lyrischen Ichs («Je les connais par les cinq sens et quelques autres»480) sowie des teilweise unvermittelten Gebrauchs des Präsens das Simultaneitätsund Ubiquitätskonzept realisiert. Die Unbegrenztheit des lyrischen Ichs lässt Innen- und Außenwelt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmelzen:481

474 Guillaume Apollinaire: ‘Les fenêtres’. In: Po, S. 168. 475 Guillaume Apollinaire: ‘Lettre-Océan’. In: Po, S. 183. 476 ‘Stimme’ ist hier im übertragenen Sinne für die schnelle Übertragung persönlicher Nachrichten per Telegraphie und nicht als Beschreibung der Telephonie gemeint. Vgl. Claude Debon: Calligrammes dans tous ses états. Édition critique du recueil de Guillaume Apollinaire, S. 81. 477 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 7. 478 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 950. 479 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 43. 480 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75. Siehe das Kapitel II.2.8 ‘Imagination’ der vorliegenden Arbeit. 481 Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 88 ff.

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Les peuples s’entassaient et je parus moi-même Qu’ont formé tous les corps et les choses humaines Temps passés Trépassés Les dieux qui me formâtes Je ne vis que passant ainsi que vous passâtes Et détournant mes yeux de ce vide avenir En moi-même je vois tout le passé grandir Rien n’est mort que ce qui n’existe pas encore Près du passé luisant demain est incolore Il est informe aussi près de ce qui parfait Présente tout ensemble et l’effort et l’effet482

Laut Krenzel-Zingerles Interpretation illustriert ‘Cortège’ die Forderung Apollinaires, der Dichter müsse sich zu einem Gott machen, um das Simultanitäts- und Ubiquitätsprinzip zu verwirklichen, indem es selbst einen allumfassenden Blick («tout ensemble») verkündet und sich als eine «Zusammenschau von Ursache und Wirkung» («l’effort et l’effet») versteht.483 Das Gedicht «präsentiert selbst ebenfalls tout ensemble et l’effort et l’effet, denn es thematisiert den Schreibprozeß und präsentiert zugleich dessen Ergebnis, das Gedicht selbst.»484 Wie sich in Reverdys Worten zu Beginn dieses Kapitels bereits andeutete, ist die Gabe der Ubiquität eng mit dem Dichtertum selbst verbunden. Sie ist in der Dichtung ein Zeichen für die Vereinigung von Mikro- und Makrokosmos, Außen- und Innenwelt – und als solches eine Metapher für die Dichtung selbst. 3.2.4 Einteilung des Raums und Perspektive Wenn Cendrars in ‘La Prose du Transsibérien’ schreibt: «Le monde s’étire s’allonge et se retire comme un accordéon qu’une main sadique tourmente»,485 dann drückt er damit eine veränderte Raum-Zeit-Wahrnehmung aus, welche mit den herkömmlichen physikalischen Koordinaten von Raum und Zeit nicht fassbar ist, sich aber in der Idee der vierten Dimension widerspiegelt. Cendrars spricht von einem veränderten «état de conscience», in dem sich die Perspektive auflöst und die Welt deformiert und verzerrt wahrgenommen wird: Dans cet état de conscience, si la vie intérieure s’impose, la discipline perspective de l’ordre spatial est complètement anéantie. Je marche dans la rue. Tout se meut autour de

482 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 76. Siehe die Kapitel III.3.2.2 ‘Mikro- und Makrokosmos: Megalomanie und Nichtigkeit’ und III.3.3.3 ‘Präsenz und Augenblick’ der vorliegenden Arbeit. 483 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 93. 484 Ebda. Hervorhebung im Original. 485 Blaise Cendrars: La Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France. In: PC, S. 25.

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moi. Les maisons s’évident ou s’arc-boutent. Parfois passe une figure dans une fenêtre oblique, des lumières dansent, passent. Les murs s’inclinent très loin au-dessus de la rue ... [...] Un exemple: la maison d’en face. Je pense dans cet état de conscience: comment s’allonge-t-elle?486

Die Ästhetisierung des subjektiven Standpunkts («la vie intérieure s’impose») entspricht in der bildenden Kunst der Deperspektivierung im Kubismus, wie Bohn verdeutlicht: En abolissant les règles traditionnelles de la perspective, les cubistes avaient découvert qu’ils étaient libres de combiner des perspectives multiples d’un objet vu d’angles différents. Ils avaient découvert aussi que les dimensions d’un objet ne dépendaient plus de sa distance du spectateur mais de critères purement subjectifs.487

Das Aufbrechen der traditionellen Perspektive in der Malerei zeigt sich in der Multiperspektive, welche auch in der indigenen Skulptur angelegt ist: «De plus, elle rend possible la présentation d’un dessin différent de chaque point de vue puisqu’en tournant autour de la statue, on observe constamment de nouvelles redispositions des masses constitutives.»488 Eine solche Multiplikation der Blickrichtungen entsteht in Apollinaires Gedichten durch die Tilgung der Satzzeichen und die freie Anordnung der Buchstaben und Wörter in den Kalligrammen. Ähnlich wie im Kubismus das Aufbrechen der Perspektive verschiedene Standpunkte und neue Bildrelationen erlaubt, lässt Apollinaire dadurch eine Polyvalenz entstehen – Laurence Campa sieht die verstärkte Relationalität zwischen den Elementen ebenfalls als Konsequenz des Wegfalls der Perspektive: «ce n’est plus la perspective qui assure la profondeur du tableau mais le rapport entre ses éléments.»489 In der freien Anordnung der Wörter auf dem Papier in den Kaligrammen und dem Aufsprengen der herkömmlichen Text-Optik lässt Apollinaire in noch höherem Maße multiple Perspektiven auf das Geschriebene zu: Was Anfang und was Ende ist, ist nicht zwingend vorgegeben. Ein weiterer Gegenentwurf zur Perspektive ist neben der subjektiven Wahrnehmung für Apollinaire das Flüssige, Bewegte. Er schreibt in seinen ‘Méditations esthétiques’ über den Maler Fernand Léger: Encore un petit effort pour se débarrasser de la perspective, du truc misérable de la perspective, de cette quatrième dimension à rebours, la perspective, de ce moyen de tout rapetisser inévitablement. Mais, cette peinture est liquide, la mer, le sang, les fleuves, la

486 487 488 489

Blaise Cendrars: La perspective. In: AH, S. 180 f. Willard Bohn: Apollinaire et la quatrième dimension, S. 73. Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 89. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 59.

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pluie, un verre d’eau et aussi nos larmes, avec la sueur des grands efforts et des longues fatigues, l’humidité des baisers.490

Bewegung, Vitalität und das Fließen sind Kennzeichen der mythischen Wahrnehmung.491 Einen ähnlichen Bezug zwischen der Auflösung der Perspektive und Fließendem bemerkt Cendrars in Bezug auf die räumliche Darstellung in den Künsten: Cela n’est pas par hasard que la perspective s’imposa quand la tendance mystico-religieuse de l’esprit fut remplacée par une tendance mécanico-rationnelle. Et cela n’est pas par hasard que la perspective soit justement survaincue quand, même dans l’esprit, l’être rigide se fond en devenir, quand on voudrait liquéfier même les plus solides concepts, quand la pensée entoure de plus en plus la vie.492

Interessanterweise weist Cendrars selbst darauf hin, dass die moderne Wahrnehmung der mythischen Wahrnehmung ähnele («la tendance mystico-religieuse»493), insofern sie beide die Perspektive der «tendance mécanico-rationelle» nicht wahrnähmen.494 Das geometrische räumliche Vorstellungsvermögen, das von einer hierarchischen Anordnung im Raum ausgeht, lässt sich nicht auf das mythische Raumkonzept anwenden. Cassirer spricht von einer «Auflösung des räumlichen Beisammen», da die mythische Weltanschauung «diese Sonderung in Teilbedingungen, deren jede nur einen bestimmten relativen Wert im Ganzen des Wirkungszusammenhangs besitzt», nicht vornimmt.495 In diesem Raumverständnis spiegelt sich die dem mythischen Denken eigentümliche Teil-Ganzes-Relation wider, denn «hier herrscht noch eine wirkliche Ungeschiedenheit, eine gedankliche und reale ‘Indifferenz’ des Ganzen und der Teile. Das Ganze ‘hat’ nicht Teile und zerfällt nicht in sie; sondern der Teil ist hier unmittelbar das Ganze und wirkt und fungiert als solches.»496 Das Fehlen einer Teil-Ganzes-Relation im mythischen Denken führt dazu, dass kein Teil den anderen objektiv dominiert: «Auch hier bleibt es also bei der Anschauung eines einfachen Beisammens dinglicher Stücke, ohne daß es zu einer Über- und Unterordnung von Funktionen kommt, deren jede nach ihren besonderen Bedingungen unterschieden wird.»497

490 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 44. 491 Vgl. Kapitel III.2.1 ‘Bewegung und Lebendigkeit’ der vorliegenden Arbeit. 492 Blaise Cendrars: La perspective. In: AH, S. 179 f. 493 Ebda., S. 179. 494 Ebda., S. 180. 495 MD, S. 66. 496 Ebda., S. 62. Siehe das Kapitel III.1 ‘Grundstrukturen mythischen Denkens’ der vorliegenden Arbeit. 497 Ebda., S. 65.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Cassirers Charakterisierung eines Grundzuges des mythischen Denkens erscheint wie eine Beschreibung kubistischer Malerei, denn dem «Bilde der Realität, das auf diese Weise entsteht, fehlt somit gleichsam die Tiefendimension – die Trennung von Vordergrund und Hintergrund».498 Guaraldo konstatiert eine derartige Deperspektivierung in der Lyrik Reverdys: Les Cubistes s’opposaient à la perspective, et l’écriture de Reverdy est intimement contre la perspective: il ne crée pas de distances à l’intérieur de la scène, il ne construit pas de fonds, et n’énumère pas non plus les phénomènes, comme le fait Apollinaire dans les ‘poèmes événements’: ses tableaux ne sont pas des polyptyques. [...] dans sa rapidité infinie toute chose apparaîtra sèche et propre, comme si la culture n’avait pas encore été inventée.499

Diese Beobachtung Guaraldos ist bemerkenswert, weil er die fehlenden Perspektive bei Reverdy mit dem Gedanken an eine vorkulturelle, ‘primitive’ Realität verknüpft. Wie bei den Kubisten, aber auch wie im mythischen Denken gibt es keinen Hintergrund («fonds»), keine Aufzählung von Ereignissen («il n’énumère pas»). Mit dem Ausbrechen aus dem quantitativen zugunsten eines subjektiven Raum- und Zeitverständnisses geht einher, dass Zeit- und Raumerfahrungen in ihrer Wertigkeit nicht objektiv differenzierbar sind.500 Der Verlust von objektiven Zusammenhängen, der sprachlich in den futuristischen ‘parole in libertà’ einen Niederschlag findet,501 äußert sich in Apollinaires Konversationsgedichten ‘Lundi Rue Christine’ und ‘Les Fenêtres’ in der Unzuordbarkeit und in der unauflösbaren Unordnung der Aussagen, was diese untereinander gleichwertig erscheinen lässt.502 In Apollinaires ‘Cortège’ zeigt sich diese Deperspektivierung als Orientierungslosigkeit im Raum, welche symbolisch mit der instabilen Identität des Subjekts verknüpft ist. Dass Raum und Zeit als objektive Koordinaten nicht greifen, zeigt sich bereits in den ersten Versen des Gedichts, das aufgrund seiner stilistischen und formalen Disparatheit fragmentarisch wirkt. Das Gedicht beginnt mit der Anrede an einen Vogel, der rückwärts fliegt und in der Luft nistet:

498 Ebda., S. 44. 499 Enrico Guaraldo: Topoi, essences, expérience vécue, S. 46. 500 Vgl. Kapitel III.3.2.1 ‘Subjektive Raumanschauung’ der vorliegenden Arbeit. 501 Siehe Kapitel III.2.2.3 ‘Bildmetamorphosen und Bildketten: Die Beziehung zwischen den Dingen’ der vorliegenden Arbeit. 502 Vgl. Timothy Mathews: Reading Apollinaire. Theories of poetic language, S. 132 ff.

3 Mythische Weltanschauung in der dichterischen Gestaltung von Zeit und Raum

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Oiseau tranquille au vol inverse oiseau Qui nidifie en l’air503

Das Nest ist semantisch mit der Wiege und dem Heim verwandt und symbolisiert Stabilität und Heimat. In der Regel bildet das Heim eine feste Koordinate im Leben, von der aus man sich wegbewegt und zu der man zurückkehrt. Hier scheint das Nest trägerlos in der Luft zu schweben, ohne Anhaltspunkte im Raum, die eine Verortung und Orientierung ermöglichen würden. Überträgt man die Situation des Vogels auf das lyrische Ich, wie der Vergleich «et moi aussi» nahelegt, so scheint es sich in der Schwebe zu befinden und ohne festen Bezugspunkt zu sein: Et moi aussi de près je suis sombre et terne Une brume qui vient d’obscurcir les lanternes504

Die innere Situation des lyrischen Ichs korreliert sowohl mit der Orientierungslosigkeit und Normabweichung des rückwärts fliegenden Vogels als auch mit dem gesamten räumlichen Gefüge der Verse 1–18, das vollkommen verdreht dargestellt wird. So soll der Vogel sein Lid senken, da ihn sonst die Erde blendet:505 Baisse ta deuxième paupière la terre t’éblouit Quand tu lèves la tête506

Entweder haben Erde und Sonne ihre Plätze getauscht oder die Sonne ist gar mit der Erde zusammengefallen.507 Die Orientierungskoordinaten oben/unten, Sonne/Erde sind vertauscht. Die Heimatlosigkeit war ein erster Hinweis auf eine Identitätskrise des lyrischen Subjekts, welche sich in der Eigenbeschreibung als «sombre» – es empfindet sich selbst von nahem betrachtet als dunkel und undurchdringlich – weiter bestätigt. In den den zweiten Teil des Gedichts einleitenden Versen

503 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. Zu ‘Cortège’ siehe auch die Kapitel II.2.5 ‘Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden’, II.2.8 ‘Imagination’, II.2.10 ‘Schöpfung’, III.3.2.2 ‘Mikro- und Makrokosmos: Megalomanie und Nichtigkeit’ und III.3.2.3 ‘Ubiquität’ der vorliegenden Arbeit. 504 Ebda. 505 Décaudin weist im Zusammenhang mit diesem Vers auf eine Stelle des Enchanteur pourrissant hin, die dem Vers ähnelt: «Les aigles [...]/Croyant voir, sur le sol, un soleil écrasé,/Éblouis, ont baissé leur seconde paupière». Michel Décaudin: Le dossier d’‘Alcools’, S. 128. 506 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. 507 Vgl. Richard Howard Stamelman: The Drama of Self in Guillaume Apollinaire’s Alcools, S. 42.

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Un jour je m’attendais moi-même Je me disais Guillaume il est temps que tu viennes508

wird die Identitätskrise explizit und zeigt sich in der Aufspaltung in verschiedene Sprechersubjekte («Je», «tu», «Guillaume», «celui-là»). Deutlich wird sie auch in dem Motiv der Zerstückelung des Körpers im weiteren Verlauf des Gedichts («morceaux de moi-même»). Raum- und Lichterfahrung gehören für viele Menschen zu den Grunderfahrungen und bilden die Basis für ihre Identitätskonstitution, indem sich durch sie das Gefühl herausbildet, wie, was und wo man ist. Denn trotz der Verankerung im Gefühl und in der Imagination schließt sich die Raumbetrachtung im mythischen Denken auch an objektiv-physikalische Tatsachen an, wie den Grundgegensatz von Tag und Nacht, Licht und Dunkel.509 Das Licht strukturiert die Zeiterfahrung, wenn beispielsweise jeder neue Tagesanbruch als Neuanfang betrachtet wird. Der Gegensatz von Licht und Dunkel bildet auch das Hauptmotiv verschiedener Mythen, die den Aufbau des Kosmos beschreiben sowie verschiedener Schöpfungsgeschichten, in denen die Schöpfung mit der Lichtwerdung assoziiert wird.510 Eine solche Neuschöpfung des Ichs in Verbindung mit Lichtwerdung wird in ‘Cortège’ inszeniert: Et je m’éloignerai m’illuminant au milieu d’ombres Et d’alignements d’yeux des astres bien-aimés511

Fällt der objektive Rahmen als Bezugsgröße weg, bildet das Subjekt selber den Rahmen. Damit wird die Subjektivität des Standpunktes, von der jegliche Wertigkeit abhängt, umso wichtiger. In der bildenden Kunst zeigt sich dies, indem das Wesentliche beispielsweise groß dargestellt oder in den Vordergrund gerückt wird, obwohl das nicht den ‘Tatsachen’ entspricht. Das neue Ideal ist ein Subjekt, das selbst eigene Bedeutungsperspektiven schöpft, wie Apollinaire in der von ihm kolportierten Anekdote aus Nietzsches Götzen-Dämmerung beschreibt. In ‘Cortège’ äußert sich dieses Ideal in der Suche nach einem Ich, welches in der Lage ist, eigene Koordinaten aus sich selbst hervorzubringen. Die Antwort auf diese Suche ist, wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat, wiederum mythisch, da sie in der Überblendung von Innen- und Außenwelt bzw. von Teil und Ganzem besteht. Das Ich ist somit nicht mehr der ‘Unordnung’ der Welt ausgeliefert, sondern in Einheit mit ihr.

508 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. 509 Vgl. MD, S. 113. 510 «Der Sieg des Lichts wird zum Ursprung der Welt und der Weltordnung.» Ebda. 511 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74.

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3.3 Der mythische Zeitbegriff und seine Figuration in der Lyrik 3.3.1 Nicht-sukzessives Zeitverständnis Die Abwendung von naturwissenschaftlich-objektiven Ordnungen äußert sich nicht nur in der Raum- sondern auch in der Zeitwahrnehmung. Ebenso wenig wie der Raum in der bildenden Kunst einer Perspektive unterworfen wird, in der alle Linien auf einen Fluchtpunkt hinweisen und auf diese Weise die Anordnung der Objekte bestimmen, erscheint die Zeit in den Gedichten als eine Größe, welche die Ereignisse auf einem chronologischen Zeitstrahl anordnet. Dieses nichtsukzessive Zeitverständnis, das mythisches Denken und die Poesie der Avantgarde miteinander teilen, äußert sich in verschiedenen Phänomenen, die hier kurz umrissen, in den folgenden Kapiteln aber noch näher beleuchtet werden. Die Distanzierung von einer zeitlichen Orientierung zeigt sich in den modernen Gedichten häufig durch ein Erstarken der Dimension des Raums. Auf einer noch symbolischen Ebene äußert sich dies in den Bewegungen des Vogels zu Beginn von ‘Cortège’, welche für Bewegungen in der Zeit stehen. Aufgrund der erwähnten Erinnerung («A la limite où brille déjà ma mémoire») liegt es nahe, den «vol inverse» des Vogels als Rückwärtsbewegung, als eine durch die Erinnerung vorgenommene Reise in die Vergangenheit zu deuten.512 Diese symbolische Verräumlichung der Zeit konkretisiert sich in den Konversationsgedichten und den Kalligrammen, bei denen die zeitliche Struktur von der räumlichen Strukturierung im Gedicht getrieben ist. Ähnliche Beobachtungen mögen auch der Grund für Joseph Franks These sein, die modernen Dichter bewegten sich generell weg von einer zeitlichen Abfolge hin zu einer räumlichen Form. Er konstatiert: «the reader is intended to apprehend their work spatially, in a moment of time, rather than as a sequence.»513 Damit meint Frank, in den Gedichten würde die Zeit nicht als sinnstiftendes Element eingesetzt – analog dazu weisen die einzelnen Verse keinen konsekutiven Zusammenhang auf. «A moment of time» als ein Gegenmodell zur Sukzessivität verweist auf die Struktur des Augenblicks, auf welcher die zeitliche Gestaltung vieler Gedichte beruht – bis hin zu ihrer Kulmination in der Ästhetik der Simultaneität. Die Gedichte bieten erst nach vollständiger Lektüre einen Zusammenhang der Teile, der auf einer inneren Logik aufbaut: «modern poetry asks its readers to suspend the process of individual reference temporarily until the entire pattern of internal references can be apprehended as

512 Vgl. Krenzel-Zingerles Analyse, die zeigt, dass es in ‘Cortège’ «mehrere Übertragungen von Bewegungen in der Zeit in Bewegungen im Raum» gibt, Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 90. 513 Joseph Frank: Spatial Form in Modern Literature: An Essay in Two Parts. In: The Sewanee Review 53, 2 (1945), S. 221–240, hier S. 225.

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a unity.»514 Diese Beobachtung trifft in besonderem Maß auf die Kalligramme zu, in denen die spezifisch räumliche Anordnung der Worte den Bildverbindungen eine weitere Dimension hinzufügt. Apollinaire schafft die Zeit als Strukturelement in seinen Gedichten jedoch nicht einfach ab, denn dies würde Chaos bedeuten.515 Stattdessen transzendiert er die Chronologie, indem er, wie Champigny es ausdrückt, die ‘prosaische’ Zeit in eine ‘poetische’ Zeit umwandelt.516 Champigny erklärt, die poetische Zeit sei von ganz anderer Natur als die chronologische, denn sie sei nicht der Beziehung des «cause à effet» unterworfen und beziehe die persönliche Welt der Imagination und des Möglichen mit ein. Apollinaire «évitera assez facilement les relations entre perçu et imaginé, cause et effet, réel et possible.»517 Die Verwischung dieser Ebenen und damit eine Multiplikation der Bedeutungsebenen erreicht Apollinaire, indem er die Über- oder Unterordnung der Satzglieder inklusive der Interpunktion aufhebt.518 Diese Technik ist besonders in seinen Konversationsgedichten, aber auch in ‘Zone’, auffällig. Es entsteht der Eindruck, die Gedichte bestünden aus verschiedensten miteinander verwobenen Elementen, welche in einem prosaischen Zeitplan auf verschiedenen Ebenen stehen würden oder gar unvereinbar miteinander wären.519 Auf diese Weise stellt Apollinaire der prosaischen Zeit, welche Champigny mit einer chronologisch–biographischen Identität verbindet – «Le passé des rôles qu’autrui nous a fait jouer, ce passé chronologique, cet album de photographies, c’est ce que nous appellerions passé prosaïque»520 – eine dynamische, im Wandel existierende Identität entgegen. Dementsprechend drückt sich auch in der Zeitgestaltung die Prozesshaftigkeit und Variabilität des Lebens aus, so wie es in ‘Cortège’ heißt: «Je ne vis que passant».521 Die Logik eines Gedichts basiert nicht mehr auf einer linearen Zeitfolge, sondern auf der inneren Beziehung, dem ‘Netz’, das die einzelnen Teile mitein-

514 Ebda., S. 230. 515 Und dies würde seiner Grundthese widersprechen: «Ordonner un chaos, voilà la création». Guillaume Apollinaire: Henri Matisse. In: PrII, S. 101. 516 «Il ne s’agit pas tant d’ignorer la chronologie que de la surmonter.» Robert Champigny: Le temps chez Apollinaire. In: PMLA 67, 2 (1952), S. 3–14, hier S. 4. 517 Ebda., S. 13. 518 Ebda. 519 Vgl. ebda.: «Les éléments qui composent un état poétique sont liés en une même révélation qui échappe à l’ordre du temps prosaïque. En effet, on ne saurait établir entre ces éléments aucune relation de cause à effet, de réel à possible, de perçu à imaginé, d’antécédent à subséquent.» 520 Ebda., S. 7. 521 Ebda.

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ander knüpfen und zu einem Gesamtwerk machen. Die Zeit dient nicht mehr der Sinnstiftung, ihr Verständnis führt zu keiner Erklärung von Ursachen und Folgen, sie hat keine Ordnungsfunktion. Sie steht ganz im Dienste der poetischen Wahrnehmung.522 Ein solches nicht-sukzessives Zeitverständnis, diese poetische Zeit, die Champigny anhand der Gedichte Apollinaires beschreibt und welche wohl am deutlichsten in der Technik der Simultaneität ihren Ausdruck finden, kennzeichnet auch das mythische Denken. Auch hier äußert sich das Fehlen von objektiven Anhaltspunkten für eine Gliederung der Zeit in einem nicht-sukzessiven Zeitkonzept. Cassirer macht deutlich, dass die mythische Vorstellung von Zeit nicht direkt an eine Kausalität gekoppelt ist: Fällt aber dieser mittelbare Maßstab fort, geht alles Sein, alle ‘Wahrheit’ und Wirklichkeit in die bloße Präsenz des Inhalts auf, so drängt sich damit notwendig alles überhaupt Erscheinende in eine einzige Ebene zusammen. Es gibt hier keine verschiedenen Realitätsstufen, keine gegeneinander abgegrenzten Grade objektiver Gewißheit. Dem Bilde der Realität, das auf diese Weise entsteht, fehlt somit gleichsam die Tiefendimension – die Trennung von Vordergrund und Hintergrund, wie sie sich im empirisch-wissenschaftlichen Begriff, in der Scheidung des ‘Grundes’ vom ‘Begründeten’, in so charakteristischer Weise vollzieht.523

Im wissenschaftlichen Denken ist es nicht nur das Ding an sich, das eine Veränderung hervorruft, sondern es verursacht eine Veränderung zu einem bestimmten Augenblick – einem Zeitmoment t1 folgen andere Momente t2, t3 usw. Im mythischen Denken hingegen gibt es keine derartigen Kausalketten. Die Zeit wird im mythischen Denken nicht als zeitliche Abfolge eines Nacheinander verstanden, sondern sie erhält erst durch die Sonderung bestimmter Momente eine Bedeutung. Es findet weder eine Einteilung in Wirkungsmomente noch eine Einteilung in Raum- und Zeitmomente statt, die einen «relativen Wert im Ganzen des Wirkungszusammenhangs»524 besitzen. Weil der Mythos die kausale Denkform nicht kennt, ersetzt er «Aus- und Nebeneinander» durch ein «Ineinander».525 Analog dazu sind die Bilder in vielen Gedichten nicht chronologisch oder kausal miteinander verbunden, sondern erscheinen als ein ‘Gewebe’. Meter spricht im Zusammenhang mit Marinetti von einem «Bildernetz» und in Bezug

522 Die daraus resultierende Hinwendung zum Präsentischen bei Ablehnung eines ‘prosaischen Erzählens’ beobachtet Robert Champigny bereits bei Mallarmé, aber auch bei Éluard: «Les poètes modernes évitent en général d’introduire de prosaïques relations chronologiques entre les éléments du poème. Étant donné que tout phénomène de conscience est présent, ils adoptent continûment le présent comme temps de verbe.» Ebda., S. 4. 523 MD, S. 43 f. 524 Ebda., S. 66. 525 Ebda., S. 64.

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auf Apollinaire und Soffici von einem «Bildernexus».526 Soffici selbst bedient sich der Metapher des Netzes in seiner Beschreibung der Calligrammes Apollinaires als Versuch, mehrere Sinne auf einmal anzuregen: «La ricerca di quella sintesi realistico-lirico-tipografica che doveva, nella sua metalogica espressiva, stimolare più sensi in una volta creando nello spirito come un’interferenza, una rete vibrante di sensazioni multiple e simultanee, n’è evidente.»527 Wie wir bereits im Kapitel «Bildmetamorphosen und Bildketten» gezeigt haben, wird in den Gedichten die wahrgenommene Welt von solchen Bildernetzen zusammengehalten und zerfällt nicht gänzlich in Einzelphänomene – ohne jedoch einer Chronologie zu folgen.528 Die Zeit ist nicht teleologisch, sondern die Zeitabschnitte sind in einem Beziehungsgefüge miteinander verschmolzen. Die Grundform eines nicht-teleologischen Zeitverständnisses bildet das Modell des Kreislaufs und des ewigen Werdens. 3.3.2 Bewegung, Kreislauf und Werden Ahistorisches Zeitverständnis Bezeichnungen wie ‘Avantgarde’ und ‘Futurismus’ suggerieren eine die Zukunft bejahende Einstellung. Diesem Weltverständnis würde ein chronologisches, auf die Zukunft gerichtetes Zeitgefühl entsprechen, in dem das Neue das Alte und Vergangene ablöst.529 Meter kommt in seiner Monographie Apollinaire und der Futurismus zu dem Ergebnis, dass sich die futuristischen Dichter in ihrer Dichtung, anders als sie behaupten, selten als zukunftsgewandt erweisen und der modernen Technik skeptisch gegenüberstehen. Er findet in den Gedichten kein modernes Zivilisationsverständnis vor. Stattdessen würden die Autoren versuchen, die Phänomene der modernen Welt in ein Naturverständnis zurückzuführen. Soffici erkläre auf diese Weise das Neue mit dem Alten. Die modernen Erscheinungen, wie Elektrizität, Straßenbahnen etc. seien in Sofficis Lyrik Nachbildungen der Naturerscheinungen und bildeten somit keinen Gegenpol zur Natur.530 Statt einer Reflexion des Neuen finden wir Motive der Wiederholung

526 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 67, S. 85 und S. 105 f. 527 Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 536. 528 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 85: «Das Erstellen eines Bildernexus, der die Vergangenheit im Rückblick wiederbelebt, ist noch ein Mittel, die Einheitlichkeit der dargelegten Welt zu demonstrieren.» 529 Zu einer differenzierten Betrachtung des futuristischen Geschichts- und Zukunftsverständnisses siehe Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus. Berlin/New York: De Gruyter 1985. 530 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 90.

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und des Kreislaufs: «Das Leben erscheint – auf großer wie kleiner Zeitebene – nur als eine Wiederholung des immer Gleichen».531 Die Bewegung der Zeit wird nicht teleologisch verstanden, sondern als ein Kreislauf des ewigen Werdens. Auch Apollinaires Zeitkonzeption trägt diese mythischen Züge, indem er sie in ihrer Kontinuität als ein Werden auffasst, ohne Brüche mit der Vergangenheit. So stellt Neumann fest, die Vergangenheit sei in Apollinaires Erzählung ‘Le Passant de Prague’ ungebrochen und behaupte sich in der Gegenwart: «Sie braucht nicht rekonstruiert zu werden, sondern sie ist intakt.»532 Dasselbe Phänomen lässt sich auch in seiner Lyrik antreffen, beispielsweise in ‘L’Émigrant de Landor Road’, wo es in der Beschreibung der Erinnerung als ‘Gewebe’ zum Ausdruck kommt: Et l’on tissait dans sa mémoire Une tapisserie sans fin Qui figurait son histoire533

Das Bild verdeutlicht, dass die Vergangenheit nichts Abgeschlossenes, chronologisch ‘Früheres’ ist. In der Erinnerung wird eine Geschichte gewebt, die jedoch unendlich ist. Die Erinnerung schreibt die Geschichte des lyrischen Ichs fort und überführt sie in das Jetzt. Es handelt sich hierbei um eine Art ‘umgekehrte Zeitreise’, denn nicht das Subjekt begibt sich in die Vergangenheit und Zukunft, sondern sie ‘kommen’ zu ihm. Auf diese Weise fallen in seiner Erinnerung, die immer im Jetzt stattfindet, sowohl die identitätsstiftende Vergangenheit («son histoire»), als auch die Zukunft («sans fin») ineins. Dieses ‘Ineinander’ verschiedener Zeit- und Realitätsebenen entspricht der mythischen Denkform. Das mythische Jetzt «ist keineswegs bloßes Jetzt, ist kein einfacher und abgesonderter Gegenwartspunkt, sondern [...] es enthält das Vergangene in sich und geht mit der Zukunft schwanger.»534 Cassirer erklärt: Weil der Mythos und die Magie diese Sonderung in Teilbedingungen, deren jede nur einen bestimmten relativen Wert im Ganzen des Wirkungszusammenhangs besitzt, nirgends vornehmen, darum gibt es für sie im Grunde ebensowenig bestimmte Schranken, die die Momente der Zeit auseinanderhalten, als es derartige Schranken für die Teile eines räumlichen Ganzen gibt.535

531 Ebda. 532 Volker Neumann: Die Zeit bei Guillaume Apollinaire. München: Wilhelm Fink Verlag 1972, S. 61. 533 Guillaume Apollinaire: ‘L’Émigrant de Landor Road’ [1905]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 105 f., hier S. 106. 534 MD, S. 131. Hervorhebung im Original. 535 Ebda., S. 66.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Statt einer objektiven Zergliederung der Zeit «gehen auch die Grenzen des ‘Vor’ und ‘Nach’, des ‘Früher’ und ‘Später’ ineinander über.»536 Sie ist keine «rein ideelle Ordnungsform», kein «Bezugs- und Stellensystem, sondern sie ist die Grundmacht des Werdens selber, die mit göttlichen und dämonischen, mit schöpferischen und zerstörenden Kräften begabt ist.»537 Die Zeit ist subjektiv und kann mit verschiedenen Akzenten versehen werden. Die mythische Zeit konstituiert sich in einem Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Augenblick, zwischen dem Kreislauf des Werdens und der Sonderung bestimmter Momente aus dem Ganzen des Werdens. Es handelt sich also nicht um eine Aufhebung der Zeit an sich, sondern um eine Aufhebung der Zeit als eine chronologische Bezugsgröße. Die Modernität Apollinaires wird oftmals mit dem Zitat «on ne peut transporter partout avec soi le cadavre de son père»538 aus den Méditations esthétiques belegt und als ein Bruch mit der Vergangenheit und den literarischen Traditionen verstanden. Laurence Campa gibt zu Recht zu bedenken, dass auch die Passage nach dem viel zitierten Satz berücksichtigt werden sollte – «Et l’on s’en souvient» heißt es im Anschluss –, denn «Apollinaire refuse de faire table rase du passé, auquel il est très attaché.»539 Der Gedanke einer Erneuerung ohne Bruch mit der Vergangenheit inspiriert ihn. Bekanntermaßen beinhalten seine Gedichte oftmals in Form eines melancholischen ‘souvenir’ eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.540 Gleichzeitig ist ihm aber der Aspekt des ‘Neuen’ sehr wichtig. Er verwendet fast nie den Begriff ‘modern’, sondern immer ‘nouveau’, was sich nicht zuletzt im Titel seiner poetologischen Schrift ‘L’esprit nouveau et les poètes’ ablesen lässt. Das Adjektiv ‘nouveau’ «évoque pour le poète le surgissement, l’événement, l’audace, la surprise (ce que nous appellerions ‘moderne’) [...]. Par conséquent, l’audace n’est pas consubstantielle de la modernité; elle appartient plutôt à la nouveauté et fait partie de la tradition.»541 Auf Apollinaires Ästhetik bezogen sollte man eher von ‘nouveau’, denn von ‘moderne’ sprechen. Diese Spannung, die in der Rückgebundenheit an Vergangenes, aber auch in der Lust am Neuen besteht, lassen sich in dem in ‘La jolie rousse’ aufgemach-

536 Ebda. 537 Ebda., S. 139. 538 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 6. 539 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 37. 540 Vgl. Steinmetz: «Il semblerait qu’Apollinaire par son tempérament même ne puisse être ‘absolument moderne’.» Jean-Luc Steinmetz: En relisant Apollinaire. In: Littératures 35 (1996), S. 125–135, hier S. 126. 541 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 68.

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ten Begriffspaar ‘aventure – tradition’ fassen.542 Die Gegenwart und die modernen Erscheinungen stehen somit immer im Kontext der Tradition, sie erscheinen nicht als ein Bruch mit der Vergangenheit, sondern sind in das immer schon Dagewesene eingebettet.543 Bei Apollinaire gibt es nichts, das nicht wiederholbar wäre, ohne dass es jedoch gleich bliebe. Auch die Erinnerung ist letztlich eine innerliche Wiederholung des Erlebten.544 Burgos sieht dementsprechend in Apollinaires Lyrik geradezu einen Kult der Erinnerung: Or, dans une perspective mythique, se souvenir c’est toujours réitérer l’événement premier, faire effort pour retrouver le temps primordial, par là même s’insérer dans un monde qui ne s’use pas et donc partager la table des dieux: telle est bien d’ailleurs la 545 signification de tout rituel.

Wie ‘L’Émigrant de Landor Road’ gezeigt hat, dient die Erinnerung jedoch nicht nur dazu, in Gedanken zu einer ursprünglichen Zeit («temps primordial») zurückzukehren. Sie ist eher als eine die Geschichte fortschreibende – und damit erneuernde – Wiederholung konfiguriert. Das Neue erscheint dementsprechend bei Apollinaire oft als eine Wiedergeburt bereits vorhandener Ideen. So ist das Flugzeug in ‘Zone’ eine Wiedergeburt antiker Ideen, wie der des Ikarus: Icare Enoch Elie Appolonius de Thyane Flottent autour du premier aéroplane546

aber auch christlicher, wie der der Auferstehung Christi: C’est le Christ qui monte au ciel mieux que les aviateurs [...] Et changé en oiseau ce siècle comme Jésus monte dans l’air547

Auch Soffici bedient sich des Motivs des «Cristo aviatore» in ‘Aeroplano’.548 Meter erkennt darin ein ahistorisches Weltverständnis:

542 Vgl. Jean-Luc Steinmetz: En relisant Apollinaire, S. 133. 543 Vgl. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 61: «Apollinaire refuse les innovations qui renient la tradition.» Ebda., S. 69: «la modernité, en valorisant le présent, se constitue contre le passé, alors qu’Apollinaire lui reste fidèle. Le nouveau apollinarien contient le passé; c’est aussi ce qui lui confère une dimension éternelle». 544 Vgl. auch Volker Neumann in Bezug auf ‘La maison des morts’: «hier wird das wesentlich Unwiederholbare wiederholbar, wird das Leben in seiner flüchtigsten Form noch einmal genossen.» Volker Neumann: Die Zeit bei Guillaume Apollinaire, S. 48. 545 Jean Burgos: Apollinaire et le recours au mythe, S. 124. 546 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 40. 547 Ebda. 548 Ardengo Soffici: ‘Aeroplano’. In: SOIV, S. 740.

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III Formen mythischen Denkens und mythischer Weltanschauung

Durch die Manifestierung des Fliegens in Mythologie, Religion, Natur und Zivilisation ist ein metaphorischer Rahmen gegeben für ein Weltverständnis, das mehr nach gemeinsamen Substraten als nach Unterschieden in der Außenwelt sucht. Das historisch Besondere wird einem ahistorischen Prinzip untergeordnet549

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Campa. Apollinaire, so Campa, konzentriere sich nicht auf Zukunft oder Vergangenheit – stattdessen interessiere er sich für die ungeteilte Bewegung der Zeit: Apollinaire plus que tout autre à son époque est sensible à la fugacité. Mais plutôt que de la déplorer, de se tourner uniquement vers le passé ou vers le futur, il tente d’épouser le mouvement du temps. A cette condition seulement, il peut l’abolir, le dominer et non le subir. Se dégageant du présent fugace pour mieux l’appréhender dans son devenir et ses métamorphoses, il s’installe dans un présent atemporel, dans un éternel présent.550

Symbolisch für diesen Gedanken steht das Semikolon, das Apollinaire in dem Titel der Komposition Disques solaires simultané forme; au grand constructeur Blériot (1913–1914) von Delaunay besonders auffällt: «Le point-virgule joue sans doute ici un rôle important; le point comme but, la virgule comme fil d’Ariane à travers tous ces labyrinthes d’un futurisme tournoyant.»551 Das Semikolon bietet die Möglichkeit, einen Zeitpunkt zu markieren, ohne die Zeit anzuhalten.552 Die Kontinuität, dieser ‘Ariadnefaden’, ermöglicht Wahrnehmungen und Erinnerungen miteinander zu verweben, und überwindet aufgrund dieser Verbindung die Abgrenzungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Kontinuität als Wiederkehr Dans le ruisseau il y a une chanson qui coule553

Ewigkeit versteht Apollinaire als Kontinuität.554 In seiner Lyrik dominiert die Suche nach Kontinuität, nicht der Bruch mit dem Alten. Diese Tendenz zeigt sich in seinen Gedichten auch in den zahlreichen Bezügen zu mythologischen

549 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 100. 550 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 70. 551 Guillaume Apollinaire: Au salon des indépendants. In: PrII, S. 650. 552 Vgl. «il marque un temps fort sans marquer un coup d’arrêt: contrairement au point, le point-virgule ne clôt pas la phrase. La continuité du mouvement est sauve.» Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 91 f. 553 Pierre Reverdy: ‘Surprise d’en haut’. In: ders.: La Lucarne ovale [1916]. In: ROCI, S. 118. 554 Vgl. Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 48 f.

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und historischen Stoffen.555 In der Veröffentlichung seiner Rede zur Konferenz La phalange nouvelle heißt es: «Quelle serait la caractéristique d’une tradition sinon la continuité? [...] la tradition est ininterrompue.»556 Auch in seinen kunsttheoretischen Schriften zieht er gerne Verbindungen zwischen neuen und alten Künstlern, beispielsweise in seinem Artikel ‘De Michel-Ange à Picasso’.557 In ‘Le Pont Mirabeau’ offenbart sich sein zyklisches, mythisch anmutendes Zeitverständnis in der Thematisierung von Kontinuität und Vergänglichkeit: Sous le pont Mirabeau coule la Seine Et nos amours Faut-il qu’il m’en souvienne La joie venait toujours après la peine Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont je demeure Les mains dans les mains restons face à face Tandis que sous Le pont de nos bras passe Des éternels regards l'onde si lasse Vienne la nuit sonne l'heure Les jours s’en vont je demeure L’amour s’en va comme cette eau courante L'amour s’en va Comme la vie est lente Et comme l’Espérance est violente Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont je demeure Passent les jours et passent les semaines Ni temps passé Ni les amours reviennent Sous le pont Mirabeau coule la Seine

555 «Apollinaire mißt mit dem Mittel der Mythologie. Historische Erscheinungen sind demnach erklärbar aus einem Fundus gedanklich-dichterischer Tradition.» Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 106. 556 Guillaume Apollinaire: La phalange nouvelle [1908]. In: PrII, S. 883–900, hier S. 887. 557 Vgl. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 72: «Sans cesse, il jette des ponts entre les artistes anciens et les nouveaux, montrant que les anciens sont toujours nouveaux, et que les nouveaux, tout en s’inscrivant dans la tradition, dépassent les anciens.» Und: «Il affirme la continuité de l’art».

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Vienne la nuit sonne l’heure Les jours s’en vont je demeure558

Wie der Vergleich mit der Seine nahelegt, wird die Zeit in ‘Le Pont Mirabeau’ auf den ersten Blick in ihrer Vergänglichkeit als ein entschwindendes Dahinfließen gezeichnet. Doch durch die refrainartige Wiederholung der Verse «Vienne la nuit sonne l’heure/Les jours s’en vont je demeure» entsteht eine besondere Dynamik:559 Die dadurch erzeugte Zirkelbewegung erweckt den Eindruck, es handle sich um eine immer wiederkehrende Fließbewegung. Ebenso wird auf inhaltlicher Ebene nicht nur die Vergänglichkeit, sondern auch die Beständigkeit thematisiert: Die Zeit vergeht («coule la Seine»), aber bleibt gewissermaßen gleich, denn für das lyrische Ich ändert sich nichts – es steht still («je demeure»). Die fließende Bewegung der Seine steht nicht im Zeichen eines Fortkommens durch die Zeit. Die Bewegung der dahinfließenden Seine zergliedert die Zeit in ‘Le Pont Mirabeau’ nicht. Kreislauf bedeutet hier Kontinuität und ständige Bewegung, aber ohne sich vom Vergangenen endgültig loszulösen560 oder den Ort wirklich zu verlassen. Der Kreislauf beschreibt somit das im Fluss symbolisch gefasste Paradox der Erneuerung, ohne indes neu zu sein. Die vergangene Zeit kehrt in ‘Le Pont Mirabeau’ nicht zurück, auch nicht die verlorene Liebe («Ni les amours reviennent»). Das lyrische Ich bleibt und ist dem Zyklus der Vergänglichkeit und des Verlusts immer wieder ausgesetzt. Wenngleich diese einzelne Liebesbeziehung unwiederbringlich zerbrochen ist, wird es sich wieder verlieben und auch diese Liebe wieder verlieren: Es hat diese Erfahrungen schon gemacht und kommt immer wieder an denselben Punkt, so dass es sich erinnern kann, dass nach dem Schmerz die Freude kommt («Faut-il qu’il m’en souvienne/La joie venait toujours après la peine»). Der Kreislauf von Freude und Schmerz fängt immer wieder neu an und ist dennoch derselbe. Trotz der im Dahinfließen der Seine materialisierten Vergänglichkeit bekommt der Leser somit nicht den Eindruck, das Vergangene wäre eine einmalige Erfahrung, die es loszulassen gilt. Die Wiederholung und Wiederholbarkeit der Erfahrung – «nos amours» deutet auf mehrere gleichwertige Erfahrungen hin – spiegelt sich im Stillstand des lyrischen Ichs wider. Sowohl Stillstand als auch ewiges Wiederholen setzen den normalen Lauf der Zeit, welche Vergänglichkeit und Entwicklung mit sich bringt, außer Kraft.

558 Guillaume Apollinaire: ‘Le pont Mirabeau’. In: Po, S. 45. 559 Die Wiederholung ist ein von Apollinaire gern angewandtes stilistisches Mittel. Vgl. Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 61 ff. 560 Vgl. Jean-Luc Steinmetz: En relisant Apollinaire, S. 134: «Le passé demeure (souvenonsnous du Pont Mirabeau), préservé».

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Zirkularität und Statik Im Gedicht ‘Le Pont Mirabeau’ ist die Wiederholung das poetische Verfahren, das zum Ausdruck der Zeit eingesetzt wird. Die chronologische Zeit wird von einem zirkulären Zeitmuster abgelöst: «Au temps calendaire se substitue une temporalité répétitive».561 Die im Gedicht thematisierten Antithesen zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit, Leben und Tod, Bewegung und Statik spiegeln sich auf struktureller Ebene im Wechselspiel von Einzelstrophen und Refrain wider.562 Durch die Wiederholbarkeit und Zirkularität bekommt der Leser letzten Endes nicht das Gefühl, die Zeit würde vergehen, sondern den Eindruck eines absoluten Stillstandes: Auf diese Weise kann Zirkularität, diese immer wiederkehrende Bewegung, als melancholische Statik erscheinen. Der Titel ‘Passant’ verspricht zunächst in Erinnerung an Baudelaires ‘À une passante’ die Beschreibung eines flüchtigen Augenblicks und das Thema der Vergänglichkeit der Zeit. Doch schlägt bereits die erste Strophe dieses Gedichts von Pierre Reverdy eine andere Richtung ein: Horizon du destin à force poursuivi Plus clair chaque matin le soir évanoui Allons toujours ailleurs Le soir pousse la nuit Et le jour en revient meilleur563

Das Vergänglichkeitsmotiv des vorübergegangenen Abends («Le soir évanoui») wird in ein zyklisches Geschehen eingebettet. Das Dahinschwindende führt zu Erneuerung («le jour en revient»). Dieser Prozess wiederholt sich «chaque matin». Ähnlich wie in ‘Le Pont Mirabeau’ bedeutet die Bewegung kein endgültiges Zurücklassen. Etwas ein für allemal hinter sich zu lassen würde bedeuten, woanders anzukommen, doch das lyrische Ich fordert, immer weiterzugehen («Allons toujours ailleurs»). Das Wesen des Gehens liegt hier in seiner verbindenden Bewegung und nicht im Zurücklassen, Verlassen. Wie ein Band verbindet der Weg die verschiedenen Landschaften:

561 Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 90. 562 Siehe Madeleine Boisson: L’hermétisme dans Alcools. In: Jean-Yves Debreuille (Hg.): Alcools, en corps. Lectures et situation du recueil d’Apollinaire. Grenoble: Université StendhalGrenoble 3 1998, S. 5–38, hier S. 28: «L’opposition entre strophes changeantes et refrain identique recoupe l’antithèse travaillée tout au long du poème entre mouvement et immobilité, temps qui passe et durée, sinon éternité, principe de vie et principe de mort.» 563 Pierre Reverdy: ‘Passant’. In: ROCII, S. 387.

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Un long ruban de camelote lie les paysages embrouillés Sur l’un ou l’autre que je saute Mon Dieu mes souliers sont percés564

Das titelgebende Verb ‘passer’ bedeutet hier kein Zurücklassen. Es ist somit kein vergangenes ‘passé’, sondern, als Gerundium ‘passant’, eine dauernde, verbindende Bewegung. Es markiert in diesem Sinne kein Fortkommen, sondern beschreibt wie in Apollinaires ‘Le Pont Mirabeau’ eine Bewegung, die zu nichts Neuem führt. Dementsprechend wird der Weg mit den kreisförmigen Bewegungen des Rollens und Drehens assoziiert: Mais le chemin qui se déroule comme une bande de papier C’est un tapis roulant qui tourne donnant le vertige à mes pieds565

Ebenso wenig wie in ‘Le Pont Mirabeau’ ist es das lyrische Ich, das sich bewegt, sondern der Weg – das Symbol für die Zeit, das in ‘Le Pont Mirabeau’ die Seine verkörperte. Als würde es auf einem Laufband («tapis roulant») stehen, springt das lyrische Ich («saute») von Landschaft zu Landschaft, um nicht herunterzufallen – als müsste es mit der Geschwindigkeit der Welt mithalten. Eine derartige Statik in der Bewegung zeichnet Reverdy auch in ‘O’, wobei bereits der mit seinem Kreismotiv auf das Thema einer kontinuierlichen Wiederholung hindeutet. Auf verschiedenen Bildebenen thematisiert das Gedicht das Vergehen der Zeit, bis das lyrische Ich melancholisch feststellt: «Le temps est passé/Je n’ai rien fait».566 Auch die mythische Zeit, obwohl sie vom ewigen Werden charakterisiert ist, erzeugt durch ihre Totalität und Unmessbarkeit den Eindruck eines Stillstands. In seinem überzeugenden Artikel zur Kreisform in den Calligrammes arbeitet Rehage verschiedene Bedeutungskomplexe des Kreissymbols heraus.567 Eine typische Zeitform, die er aus der Kreisform ableitet, ist die stagnierende, durch die Abwesenheit von Anfang und Ende gekennzeichnete Zeit. Sie erscheint

564 Ebda. 565 Ebda. 566 Pierre Reverdy: ‘O’. In: ROCI, S. 69. 567 Vor Philipp Rehage weist bereits Margaret Davies auf die symbolische Bedeutung der Kreisform für die Raum- und Zeitkonzepten bei Apollinaire hin: «la forme circulaire se prête assez bien à cet effort pour transcender l’espace et le temps.» Margaret Davies : Apollinaire, la peinture et l’image. In: Que Vlo-Ve? 1, 21–22 (1979), S. 1–20, hier S. 15. Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes. In: Que Vlo-Ve? 3, 26 (1997), S. 49–60.

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als ein Kreis, d. h. ohne Markierungen. Damit wird symbolisiert, dass die Zeit ohne Anhaltspunkt durchfließen kann, doch wird sie dadurch auch als stagnierend erfahren: «c’est alors que le temps s’écoule indifféremment, sans commencement ni fin, qu’il donne même l’impression de s’arrêter, d’être immobile.»568 Diese Form der Zirkularität erinnert an die melancholische Statik in ‘Le Pont Mirabeau’, obwohl Philipp Rehage diese Zeitform insbesondere in der Kriegslyrik Apollinaires bemerkt. Dies bringt er mit der Situation der Soldaten in Verbindung, für die der Krieg Warten bedeutete – ein Warten auf einen Befehl, ein Warten auf das Kriegsende, ein Warten auf einen Angriff. Eine gewisse Statik und Gleichförmigkeit im Zusammenhang mit dem Kreislauf der Zeit drückt sich auch in Sofficis ‘Noia’ aus. Einem «prisma dei tempi e dei sentimenti» ist der graue «calendario» entgegengesetzt. Aus dem sich gleichförmig wiederholenden Alltag hebt sich kein schillernder Augenblick heraus: Tutto si ripete e ricalca le vie di ogni giorno. L’orologio che non batte le ore Che ogni sessanta minuti precisi, E non si riposa mai, Né fa lo scherzo di mettersi a girare all’indietro, È il simbolo legalizzato di questa vita Che ci annoia.569

Mit Champigny könnte man sagen, die Langeweile in ‘Noia’ hat ihre Ursache darin, dass die prosaische Zeit nicht von der poetischen Zeit abgelöst wird. Das Leben ist nur der Chronologie unterworfen, es enthält nichts Besonderes: La vita non è più che un fatto diverso Diffuso nel tempo dai cronisti dei grandi quotidiani570

Ebenso schwierig scheint es, die Erlebnisse des Krieges in eine poetische Zeit zu verwandeln. Um sich die Langeweile zu vertreiben, bastelten die Soldaten Ringe aus Granatenüberbleibseln, weshalb der Ring ein Motiv ist, das bei Apollinaire in der Kriegslyrik, wie in ‘Les collines’ oder ‘Les Saisons’ häufig anzutreffen ist.571 Der Ring symbolisiert Ewigkeit, Abwesenheit von Anfang und Ende, die angehaltene Zeit: «Le symbole de la bague renforce donc [...] cette impression d’un temps qui s’arrête, impression qu’ont eue les soldats du front dans leur état d’attente infinie. Dans la monotonie de leur vie, ils ne perçoivent plus la différence entre

568 Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 49. 569 Ardengo Soffici: ‘Noia’. In: SOIV, S. 726. 570 Ebda. 571 Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 55 ff.

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sommeil et veille, repos et travail».572 Das lyrische Ich sehnt sich in den Kriegsgedichten nach einem Ereignis, das es aus der stagnierenden Zeit reißt. Wenn ein Granatenfeuer als «merveille» herbeigesehnt wird, ist diese traurige Augenblickssehnsucht in Apollinaires Lyrik durchaus ironisch zu verstehen. Daran schließt sich Rehages Einschätzung an: «Tandis que dans Alcools, le poète voulait arrêter la fuite du temps [...], il désire maintenant que le temps qui stagne se remette en branle.»573 Doch ist zu ergänzen, dass das Ingangsetzen des Zeitlaufs durch die herbeigesehnten Augenblicke nicht gelingen kann. Der Augenblick soll aus der Monotonie erwecken, sich aus der Zeitlosigkeit erheben, doch kann der Augenblick selbst nur als zeitlos erfahren werden. Er bringt die Zeit nicht in ‘Gang’, weshalb auch in den Calligrammes der Zeiterfahrung etwas Melancholisches anhaftet. ‘Gelungene Augenblicke’ finden sich daher vorrangig in den Alcools, in denen der Augenblick als ein Anhalten der Zeit, als ein Festhalten des Erlebten bzw. ein Wiedererleben durch die Erinnerung herbeigesehnt wurde.574 Weitere zirkuläre Strukturen und Formen Das Thema der Zirkularität schlägt sich auch strukturell und formal in den Gedichten nieder. Dies zeigte sich bereits im Wechselspiel von Strophe und Refrain in ‘Le Pont Mirabeau’. In einer seltenen Tonaufnahme trägt Apollinaire sein eigenes Gedicht vor. Durch seine sonore Vortragsweise kommt der Liedcharakter des Gedichts zur Geltung.575 In seiner umfassenden Analyse des Kreismo572 Ebda., S. 56. 573 Ebda. 574 Vgl. ebda. 575 Apollinaires Interesse an folkloristischen Liedstrukturen lässt sich in einem seiner Notizhefte (Ms NAF 16301, Bibliothèque nationale de France) ablesen, in dem er deutsche Lieder, Kinderreime und typische ‘Händeklatschlieder’ notiert hat. Beispielsweise, neben vielen anderen: Thüringen, chansonette de danse Blaukohl Blaukohl, das sind die schönsten Pflanzen, wenn das Mädchen ge[ge]ssen hat, fängt sie an zu tanzen. Tanz, Liebchen, tanz! Die Schuhe sind noch ganz. Sind sie dann zerrissen, So tanz ich auf den Füssen. Sind sie dann zerbrochen, So tanz ich auf den Knochen. Tanz, Liebchen, tanz, Wie schön steht dir der Kranz! Soll er dir noch schöner stehn Liebchen will zum Tanze gehn,

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tivs für die Bedeutung der Zeit bei Apollinaire macht Philipp Rehage deutlich, dass Lied und Tanz durch Rhythmus, Gleichklang und Bewegung mit der Kreisform verwandt sind – «le chant obéit à un mouvement cyclique».576 So erinnert ihn die folkloristisch-liedartige Wiederholungsstruktur von ‘Les saisons’ an kindliche Gesänge und ‘mythische’ Zeiten – und weist damit indirekt auf primitivistische Strukturen hin, welche sich in den Gedichten zeigen.577 Auf eine andere Art weist auch ‘Zone’ eine zirkuläre Struktur auf, da der Anfang das Ende (es beginnt mit «À la fin») und das Ende den Anfang (das Gedicht endet mit dem Tagesanbruch) aufgreifen.578 In anderen Gedichten, insbesondere in den Kalligrammen, wird die zirkuläre Struktur optisch hervorgehoben – beispielsweise durch die häufige Verwendung des Vokals ‘o’ in ‘L’avenir’ oder durch die Form einiger Kalligramme selbst.579 Das wohl bekannteste kreisförmige Gedicht stellt Lettre-Océan dar, das vermutlich in einem Dialog mit Carlo Carràs Bild Festa patriottica entstanden ist.580 Die Vorliebe der Avantgarde für das Kreismotiv zeigt sich auch in den verschiedenen Beschreibungen der Sonne als Scheibe. Die Häufung dieser Metapher in der Dichtung ist sicherlich dem Einfluss von Delaunays Bildern der ‘disques solaires’ zuzuschreiben.581 So beispielsweise in Reverdys ‘Ligne déserte’:

Tanz, Liebchen, Tanz! Ebenso: Ringel, ringel, reihe, wir sind der Kinder dreihe Wir sitzen im Holunderbusch und rufen alle: husch, husch, husch Siehe auch die Kapitel II.1.4 ‘Primitive Turn’ und II.3.2 ‘Gegen Wissenschaft’ der vorliegenden Arbeit. 576 Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 57. 577 Philipp Rehage über das Gedicht ‘Les Saisons’: «La formule ‘C’était un temps béni’ au début de chaque strophe donne un aspect religieux à ce temps mythique. L’impression d’un passé fabuleux est renforcée par le refrain, qui fait allusion à une chanson enfantine», ebda., S. 54. 578 Siehe auch die Kapitel III.2.1.1 ‘Prozesshaftigkeit und Variabilität’ und III.3.1.1 ‘Moderne Lebenswelt, mythische Wahrnehmung und andere Inspirationsquellen’ der vorliegenden Arbeit. 579 Vgl. Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 57. 580 Willard Bohn: Circular Poem-Paintings by Apollinaire and Carrà. 581 Siehe Kapitel III.3.1.1 ‘Moderne Lebenswelt, mythische Wahrnehmung und andere Inspirationsquellen’ der vorliegenden Arbeit.

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Le disque remonte Changeant de couleur pour dire à la morte son autre douleur582

Sonne und Mond sind hier durch Scheiben symbolisiert, die sich farblich unterscheiden. Der Kreislauf eines Tages, das Wechselspiel von Sonne und Mond, ist hier explizit mit der Kreisform in Verbindung gebracht. Auch Reverdys ‘ParisNoël’ greift diese Idee auf – zunächst in der Beschreibung des Mondes als rundes Gesicht: «La lune forme la tête/Ronde comme ta figure», aber auch als Nachklang in der Beschreibung der untergehenden Sonne, welche sich auf den ‘Kopf’ des Mondes stützt: «Un homme monte tête nue/Le soleil s’appuie sur sa tête».583 Die motivische Verbindung von Sonne und Kopf, um den Kreislauf von Tag und Nacht zu verbildlichen, erinnert wiederum an den Vers «Soleil cou coupé» aus ‘Zone’.584 Zirkuläre Strukturen sind neben dem Wechsel von Tag und Nacht insbesondere an die Vorstellung des Kreislaufs von Leben und Tod gebunden. Abgesehen von der Bedeutung einer ungegliederten, stagnierenden Zeit identifiziert Rehage das Kreismotiv zum einen als ein Symbol für den Gang vom Leben zum Tod, zum anderen, im Sinne einer Wiedergeburt, vom Tod zum Leben. Diese beiden Kreisformen sind durch einen Punkt gekennzeichnet, der ein Ende, einen Anfang, bzw. einen Übertritt markiert – wie etwa 12 Uhr auf dem Ziffernblatt der Uhr. Beispielhaft führt er Apollinaires Kalligramm ‘Paysage’ an, in dem die Stationen von der Geburt zum Tode durchlaufen werden. In ‘La Cravate et la montre’, so Rehage, wird dieser Zyklus zusätzlich durch die Uhr und ihr Zifferblatt symbolisiert, das 5 vor Mitternacht, also kurz vor Beendigung des Kreises, in anderen Worten: kurz vor dem Tod steht.585 Aus dieser Vorstellung des Lebensablaufs nicht als Linie, sondern als Kreis, in dem Anfangs- und Endpunkt zusammenfallen, erwächst, ebenfalls typisch für das mythische Denken, der Gedanke der Wiedergeburt, oder, in abgewandelter Form, der Wiederauferstehung. Übergangsriten und Wiedergeburt Leben und Tod sind in einen mythischen Kreislauf eingebettet. Diese Zeitabschnitte sind keine objektiven Zeitmomente, sondern sie entstehen, weil sie ein bestimmtes, ihnen eigentümliches Wesen besitzen, das sie von den anderen

582 583 584 585

Pierre Reverdy: ‘Ligne déserte’. In: ders.: Cale sèche. 1913–1914–1915. In: ROCII, S. 390. Pierre Reverdy: ‘Paris-Noël’. In: ders.: Quelques poèmes [1916]. In: ROCI, S. 63 f. Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 44. Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 49 ff.

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trennt. Cassirer erklärt dieses Phänomen anhand des Ritus, mit dessen Hilfe der gleichförmige Verlauf der Zeit unterbrochen wird. Durch das Ritual werden bestimmte Momente religiös abgesondert und werden somit zu etwas Besonderem. Auf einer späteren Stufe des mythischen Denkens führt die Trennung von heiligen und profanen Räumen und Zeiten dazu, dass Raum und Zeit nicht mehr nur Inhalte bilden, die wahrgenommen, sondern auch zu Ordnungsformen werden. Die Heraushebung eines Augenblicks oder eines Ortes durch das Gefühl des Besonderen strukturiert und charakterisiert Raum und Zeit. Das Heilige ist eine Abgrenzungsform eines Raumes zum Raumganzen, was sich, so Cassirer, an dem Begriff ‘Tempel’ nachvollziehen lässt, der seinen Ursprung in dem griechischen Wort für ‘schneiden’ hat und daher das ‘Ausgeschnittene, Begrenzte’ bezeichnet.586 Daraus wird ersichtlich, dass sich religiöse Anschauungen, sakrale Ordnungen auf die mythische Auffassung des Raumes zurückbeziehen: «Ein eigenes mythisch-religiöses Urgefühl knüpft sich an die Tatsache der räumlichen ‘Schwelle’».587 Aus diesem Schwellenbewusstsein ergeben sich verschiedene Übergangsriten.588 Dasselbe gilt für die Zeit – der Begriff ‘tempus’ geht auf ‘templum’ zurück. Bezog sich ‘templum’ zunächst auf den geteilten, bzw. abgetrennten Raum, so wurde der Begriff gleichermaßen für die Scheidung der Zeit in einzelne Phasen verwendet. Nicht nur bestimmte Orte, sondern auch Zeiten können demnach die Eigenschaft des Heiligen besitzen.589 Auf diese Weise wird der Übergang in neue Lebensabschnitte rituell eingeführt, wobei diese Einschnitte teilweise so scharf sind, dass der Lebensfluss als durchbrochen angesehen wird. Der Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt wird dann als Neugeburt zu einem anderen Ich gesehen.590 Die mythische Zeit steht immer im Zusammenhang mit den menschlichen Lebensvorgängen. Daraus ergibt sich eine Verflechtung von kosmischer und biologischer Zeit, woraus sich das Phänomen von magischen Wechselwirkungen erklärt: Bestimmte Jahresabschnitte haben durch einen Analogiezauber bestimmte Wirkungen auf das menschliche Leben, weshalb diese, wie beispielsweise die Sonnenwende, durch bestimmte Riten gefeiert werden.591 Auch in Apollinaires Gedichten finden sich häufig Motive des Übergangs, etwa in der Thematisierung von Übergangszeiten wie denen vom Tag zur Nacht (‘Clotilde’, ‘Les fenêtres’, ‘Les collines’, ‘Vendémiaire’), beispielsweise der Abend-

586 MD, S. 117. 587 Ebda., S. 121. 588 Vgl. ebda., S. 122. 589 Ebda., S. 142. 590 Vgl. ebda., S. 129. 591 Vgl. ebda., S. 129 f.

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dämmerung (‘Crépuscule’), oder anderen Schwellenzeiten, wie Frühling und Herbst (‘Les colchiques’, ‘L’Adieu’).592 Ganz deutlich ist dies im Vers «Je ne vis que passant ainsi que vous passâtes» aus ‘Cortège’.593 In ‘La petite auto’ wird der Tag der Mobilmachung als ein mythischer Übergangsritus inszeniert, dessen ‘kosmische’ Bedeutung auf die Einzelschicksale der Insassen des kleinen Autos einwirkt. Mit Europa werden auch sie neugeboren: Au moment où l’on affichait la mobilisation Nous comprîmes mon camarade et moi Que la petite auto nous avait conduits dans une époque Nouvelle Et bien qu’étant déjà tous deux des hommes mûrs Nous venions cependant de naître594

Aber auch in anderen Gedichten werden Schwellenräume und Räume des Übergangs privilegiert.595 So beschreibt der Titel ‘Zone’ in seiner etymologischen Bedeutung des ‘Gürtels’ zwar einen abgegrenzten Bereich, der aber gleichzeitig einen durchlässigen und Bewegung fördernden Raum darstellt.596 Der Gedanke der Wiedergeburt und Wiederauferstehung ist in Apollinaires Gedichten sehr häufig anzutreffen. Besonders deutlich wird dies in ‘Le brasier’, wo das lyrische Ich wie der Feuervogel Phönix in den Flammen aufersteht: Je flambe dans le brasier à l’ardeur adorable [...] Je suffis pour l’éternité à entretenir le feu de mes délices [...]

592 Vgl. Philipp Rehage: Le cercle comme image du temps dans Calligrammes, S. 51 f. 593 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 76. 594 Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’. In: Po, S. 208. Näher wurde auf dieses Gedicht bereits im Kapitel III.2.1.2 ‘Lebendigwerden der Buchstaben: Dynamik in ‘La petite auto’’ der vorliegenden Arbeit eingegangen. 595 Beispielsweise die Tür in ‘La porte’ (1912) und in ‘Le voyageur’ (1912). In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 87 und S. 78 ff. 596 Vgl. Robert Fajen: Depression, Rausch, Verwandlung. Imaginäre Außenzonen der Belle Époque. In: Thomas Bauer-Friedrich/Robert Fajen u. a. (Hg.): Die schöne Zeit. Zur kulturellen Produktivität von Frankreichs Belle Époque. Transcript: Bielefeld 2018, S. 91–113. Der Text ‘Zone’ «steht am Rand, auf der Schwelle, er bezeichnet einen Übergang und beansprucht damit eine programmatische Funkion.» Vgl. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 95: «c’est-à-dire où l’on peut faire l’expérience du temps. Le passage est parmi les motifs les plus importants pour le poète. Ses comptes rendus de salons regorgent de mots comme ‘à travers’, ‘parmi’, ‘passons’. La zone, espace qu’affectionne le poète, a cette particularité d’être un lieu délimité (au sens étymologique ‘ceinture’) mais ouvert, qui favorise le déplacement.»

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Voici ma vie renouvelée De grands vaisseaux passent et repassent Je trempe une fois encore mes mains dans l’Océan Voici le paquebot et ma vie renouvelée Ses flammes sont immenses Il n’y a plus rien de commun entre moi Et ceux qui craignent les brûlures597

Das Thema der Wiedergeburt ist immer metapoetisch zu lesen, da es, wie die Dichtung, für die Ewigkeit steht, aber auch für die Erneuerung – beides wesentliche Aspekte seiner Poetik.598 Dichtung erscheint als eine Art reinigendes Ritual, durch das Apollinaire zu einer neuen, poetischen Identität gelangt, in welcher er sich häufig als ewig und gottgleich darstellt.599 «L’homme se divinisera/Plus pur plus vif et plus savant» heißt es in ‘Les collines’, wo das lyrische Ich wohl aus diesem Grund keine Angst mehr vor dem Tod zu haben scheint: «Je peux mourir en souriant». In ‘Les collines’ wird die Wiedergeburt zwar nicht so explizit wie in ‘Le brasier’ thematisiert, ergibt sich aber aus dem Kontext. Das Thema des Gedichts ist die prophetische Gabe der Dichter, die aufgrund ihrer Weitsicht mit emporragenden Hügeln verglichen werden: Certains hommes sont des collines Qui s’élèvent d’entre les hommes Et voient au loin tout l’avenir Mieux que s’il était le présent Plus net que s’il était passé600

Margaret Davies’ Erklärung der Verse, die Dichter könnten in die Zukunft schauen, «comme s’il s’était déjà réalisé pour eux»,601 gibt einen Hinweis darauf, dass die Zukunftsvision deshalb möglich ist, weil sie auf eine Weise eine Wiedergeburt ist. Obwohl das Gedicht thematisch auf die Zukunft gerichtet scheint, sind auch hier die Verweise auf ein zyklisches Zeitverständnis zahlreich. Zunächst zeichnet sich 597 Guillaume Apollinaire: ‘Le brasier’ [1908]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 108 ff., hier S. 109. 598 Vgl. Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 48 f. 599 Vgl. «la deuxième partie du ‘Brasier’ représente le mouvement ascendant de la transcendance, où les flammes de la poésie en embrasant et purifiant sa vie rendent le poète divin» Margaret Davies: L’avenir dans l’œuvre poétique d’Apollinaire. In: Michel Décaudin (Hg.): Apollinaires inventeur de langages. Actes du Colloque de Stavelot 1970. Paris: Lettres modernes Minard 1973, S. 141–165, hier S. 146. Mehr zu diesem Thema im Kapitel IV.1.2 ‘Schöpferische Bewältigung: Divinisierung’ der vorliegenden Arbeit. 600 Guillaume Apollinaire: ‘Les collines’. In: Po, S. 172. 601 Margaret Davies: L’avenir dans l’œuvre poétique d’Apollinaire, S. 159.

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dies im Motiv des Feuers ab, das, wie ‘Le brasier’ zeigt, bei Apollinaire semantisch mit Wiedergeburt und Erneuerung verbunden ist. Explizit wird die zyklische Zeitvorstellung in den Versen Ornement des temps et des routes Passe et dure sans t’arrêter602

und Depuis les temps qui nous rejoignent Rien n’y finit n’y commence Regarde la bague à ton doigt603

Auf diese Weise wird auch der rätselhafte Beginn des Gedichts verständlich, in dem sich die Zeitebenen der Vergangenheit und der Zukunft, verbildlicht durch zwei Flugzeuge, bekämpfen: Au-dessus de Paris un jour Combattaient deux grands avions L’un était rouge et l’autre noir Tandis qu’au zénith flamboyait L’éternel avion solaire L’un était toute ma jeunesse Et l’autre c’était l’avenir Ils se combattaient avec rage Ainsi fit contre Lucifer L’Archange aux ailes radieuses Ainsi le calcul au problème Ainsi la nuit contre le jour604

Der Streit wird nicht einfach als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien beschrieben, sondern als ein Kampf von zwei trotz ihrer Gegensätzlichkeit zusammengehörigen und sich gegenseitig bedingenden Entitäten – so wie Luzifer und der Erzengel ursprünglich zusammengehören und so wie Tag und Nacht sich gegenseitig bedingen und nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. In ihrer Abhängigkeit voneinander wird der Kampf beider in einen infiniten Regress und damit ad absurdum geführt.

602 Guillaume Apollinaire: ‘Les collines’. In: Po, S. 172. 603 Ebda., S. 173. 604 Ebda., S. 172.

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Über diesem Kampf steht am Zenit – also hoch oben, wie die Dichter – das «éternel avion solaire». Wie in ‘Le brasier’ stehen Wiedergeburt und Ewigkeit auch hier in einem metapoetischen Kontext, der auch hier durch das Motiv der Sonne mit dem Motiv des Feuers symbolisch verbunden ist. Der Dichter kann in die Zukunft schauen, weil er durch die Beständigkeit des schöpferischen Geistes die Zeit transzendiert, den Tod überwindet und damit die Kontingenzen aufhebt und zu einer sinnhaften Einheit zusammenführt: Mais ce sont de petits secrets Il en est d’autres plus profonds Qui se dévoileront bientôt Et feront de vous cents morceaux A la pensée toujours unique605

Diesseits und Jenseits als Spiegelwelten Eine weitere Vorstellung des zyklischen Zeitverständnisses ist die Übereinstimmung von Jenseits und Diesseits. Im mythischen Denken sind Seele und Person untrennbar miteinander verbunden, da psychische und leibliche Funktionen nicht voneinander differenziert werden. So sind beispielsweise abgeschnittene Haare oder Nägel, sogar der Schatten einer Person Seelenträger. Auch der Tod bedeutet nicht das Aushauchen der Seele und des Lebens, sondern er wird als «Übergang in eine andere Daseinsform» verstanden.606 Aus diesem Grund nimmt das Jenseits die Form eines Duplikats des Diesseits an, als wären beides «verschiedene Seiten ein und derselben in sich homogenen sinnlichen Existenzform».607 Die Toten werden als Lebende einer anderen Welt imaginiert, sie tun dasselbe, was sie im Leben taten. Diese Vorstellung findet sich vor allem bei den alten Ägyptern, aber auch bei Ovid, wie Cassirer erläutert: Aber auch Ovid beschreibt an einer bekannten Stelle die Schatten, wie sie blutlos, körperlos, knochenlos dahinwandern: Einige versammeln sich auf dem Forum, andere gehen ihren Geschäften nach, ein jeglicher die frühere Form seines Lebens nachahmend.608

In Apollinaires ‘La maison des morts’ wird ein solches vormodernes Verständnis des Todes vorgeführt (vgl. «Comme avant Galilée»). Das lyrische Ich befindet sich im Leichenschauhaus auf einem Münchner Friedhof, als die Toten in einer apokalyptischen Szenerie zum Leben erwachen:

605 606 607 608

Ebda., S. 177. MD, S. 186. Hervorhebung im Original. Ebda., S. 188. Ebda., S. 189. Er bezieht sich auf Buch 4 der Metamorphosen.

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Soudain Rapide comme ma mémoire Les yeux se rallumèrent De cellule vitrée en cellule vitrée Le ciel se peupla d’une apocalypse Vivace Et la terre plate à l’infini Comme avant Galilée Se couvrit de mille mythologies immobiles Un ange en diamant brisa toutes les vitrines Et les morts m’accostèrent Avec des mines de l’autre monde Mais leurs visages et leurs attitudes Devinrent bientôt moins funèbres Le ciel et la terre perdirent Leur aspect fantasmagorique609

Die Begegnung mit den Toten hat in ‘La maison des morts’ nichts Unheimliches. Das lyrische Ich geht mit den Toten spazieren und vergnügt sich mit ihnen auf einem ländlichen Tanzball: Plus tard dans un bal champêtre Les couples mains sur les épaules Dansèrent au son aigre des cithares Ils n’avaient pas oublié la danse Ces morts et ces mortes On buvait aussi Et de temps à autre une cloche Annonçait qu’un nouveau tonneau Allait être mis en perce610

Das Jenseits erscheint nur als eine andere Seite des Lebens, «man tanzt und trinkt, ja man liebt sogar, als gäbe es den Tod nicht, oder als wäre er nur eine Fortsetzung des Lebens».611 Durchbricht der Gedanke der Ewigkeit in ‘Le brasier’ durch die Wiedergeburt den normalen Lauf der Zeit, so geschieht dies in ‘La maison des morts’ dadurch, dass der Tod als nicht endgültig, sondern als Spiegelwelt des Lebens modelliert ist. Damit illustriert das Gedicht auf erstaunlich äquivalente Weise, was Cassirer über das Todesverständnis im mythischen Denken sagt:

609 Guillaume Apollinaire: ‘La maison des morts’ [1907/1913]. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 66–72, hier 66 f. 610 Ebda., S. 68. 611 Volker Neumann: Die Zeit bei Guillaume Apollinaire, S. 45.

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Und sowenig wie einen festen Unterschied zwischen Traum und Wachen, sowenig gibt es für das mythische Denken einen scharfen Schnitt, der die Sphäre des Lebens von der des Todes abtrennt. Beide verhalten sich nicht wie Sein und Nichtsein, sondern wie gleichartige, homogene Teile ein und desselben Seins. [...] Wie es die Geburt als Wiederkehr denkt, so denkt es den Tod als Fortdauer.612

Apollinaire thematisiert auf einer symbolischen Ebene auch hier das Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart. Die Toten, die «ombres», stehen für die Erinnerung. Darauf verweist bereits der Vergleich, die Toten würden so schnell wie die Erinnerung des lyrischen Ichs zum Leben erweckt («Rapide comme ma mémoire»). Der Schluss verdichtet diese symbolische Bedeutung: Die Erinnerung, das Vergangene, das ‘Tote’, kann so ‘lebendig’ sein, dass die «glaciers de la mémoire» schmelzen und in die Gegenwart überführt werden und sie ununterscheidbar von der Gegenwart, dem ‘Leben’, ist. 3.3.3 Präsenz und Augenblick Weil das mythische Denken keine ‘logische’ Sukzessivität kennt, sondert es Zeitmomente nicht im Sinne eines Früher oder Später voneinander ab. Es gibt keine Chronologie verschiedener Zeitstufen, kein Zeitsystem ‘objektiver’ Momente, keine eindeutige «Abfolge der einzelnen Zeitmomente».613 Stattdessen wachsen die verschiedenen Momente zusammen, fließen nach der Regel der Konkreszenz ineinander.614 Weil dem Mythos das Sukzessive, Relationale der Zeit fremd ist, erscheint das mythische Bewusstsein als ein zeitloses Bewusstsein.615 Die Einheit der Zeit ist nicht monoton, denn auch im mythischen Denken finden wir eine Heraushebung bestimmter Momente und besonderer Augenblicke. Solche Augenblicke durchbrechen zwar den ‘alltäglichen’ Lauf der Zeit, aber sie fließen wieder in die Ganzheit der Zeit zurück. Die Augenblicke zerteilen die Einheit der Zeit nicht. Im Gegenteil, der Augenblick ist als Moment zu verstehen, aus dem alles Werden entspringt und zu dem es zurückkehrt. Jeder beliebige Augenblick kann zum Dreh- und Angelpunkt erwählt werden, aus dem sich die Gesamtheit des Daseins ableitet. Die Zeit kristallisiert sich in solchen Augenblicken, in denen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in eins fallen. In diesem Sinne schließt der Augenblick die Ewigkeit ein. Mit ganz ähnlichen Worten beschreibt Guaraldo die Zeitlichkeit in Reverdys Poesie. Bei ihm findet sich statt einer zeitlichen Sukzession des Früher und Später eine totale Präsenz. In diesem Sinne lassen sich die Erfahrungen in den

612 613 614 615

MD, S. 45. Ebda., S. 130. Vgl. ebda., S. 131. Vgl. MD, S. 125.

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Gedichten auf keinem Zeitstrahl, der sich aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammensetzt, anordnen: La présence totale de chaque élément ne permet pas non plus de s’imaginer une succession articulée d’‘avant’ et d’‘après’. Tout coexiste dans le cercle de la vision: fragment de temps précaire qui assume une compacité d’éternité.616

Die Zeitebenen verschmelzen in einer Präsenzerfahrung, welche den Eindruck von Ewigkeit vermittelt. In diesen Gedanken fügt sich Apollinaires Beschreibung der vierten Dimension ein: «l’espace s’éternisant dans toutes les directions à un moment déterminé»617 bedeutet auch, das Ewige, das sich fortwährend ausbreitet, in einem Augenblick aufgehoben zu wissen. In den Gedichten ist der poetische Augenblick mehr als ein Zeitpunkt auf einem Zeitstrahl. Er gleicht einem Prisma, in dem sich alles Geschehen, alle Zeitebenen sowohl bündeln – und damit den Eindruck von Ewigkeit erzeugen – als auch spektral auffächern, was sich an den gezeichneten Simultaneitätserfahrungen nachvollziehen lässt. Der Augenblick erscheint daher in zwei verschiedenen Ausprägungen: Zum einen als ein Zeit und Raum außer Kraft setzender Wahrnehmungsstrom, der oft mit einer Instabilität bzw. Multiplikation des Subjekts einhergeht. Zum anderen als eine durch die schöpferische Bewältigung des Subjekts erreichte gottähnliche Schau, in der ebenfalls verschiedene Zeitebenen zusammenkommen. Sinnlichkeitsströme und Augenblicksrausch Die Augenblicksaffinität äußert sich in der futuristischen Poetik in der Betonung des Präsentisch-Sinnlichen. Für die futuristische Lyrik gilt: Der «Rausch des Augenblicks beinhaltet alles».618 Die sukzessive Zeitlichkeit tritt vor diesem rauschähnlichen Bewusstseinsstrom in den Hintergrund. Soffici «trifft keine Auswahl innerhalb der hereinströmenden Reizfülle. Eine totale und motivisch nicht umgrenzte Verarbeitung von Phänomenen liegt vor.»619 Statt einer ‘futuristischen’ Reflexion überwiegt hier das absolut Gegenwärtige in der Lyrik. Auch Micali sieht im Futurismus eine «poetica della presenza e dell’abbondanza».620 Die Erlebnisse gewinnen so an Gewicht und Intensität, sie werden als einmalig erfahren.

616 Enrico Guaraldo: Topoi, essences, expérience vécue, S. 46. 617 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 11. 618 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 84. 619 Ebda., S. 93. 620 Simona Micali: Miti e riti del moderno. Marinetti, Bontempelli, Pirandello, S. 32.

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Cassirers Beschreibung stimmt mit der Gestaltung des Augenblicks in den futuristischen Gedichten als Rauscherfahrung, in der ein Bild nach dem anderen auf das Subjekt einstürzt, überein. In einem frühen Stadium des mythischen Denkens wird der Augenblick noch als absolute Präsenz erfahren. Eine qualitative Unterscheidung, die ihn zu etwas Besonderem erhebt, findet noch nicht statt: Der Mythos hält sich ausschließlich in der Gegenwart seines Objekts – in der Intensität, mit der es in einem bestimmten Augenblick das Bewußtsein ergreift und von ihm Besitz nimmt. Ihm fehlt daher jede Möglichkeit, den Augenblick über sich selbst zu erweitern, über ihn voraus- und hinter ihn zurückzuschauen, ihn als einen besonderen auf das Ganze der Wirklichkeitselemente zu beziehen.621

In dieser Stufe wird das Bewusstsein vom Gegenstand «überwältigt», «besessen» und von seiner «Gewalt» ergriffen.622 Der Augenblick versteht sich als eine «Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige Präsenz».623 Das mythische Bewusstsein ist hier in besonderem Maße sinnlich. In Sofficis Prosagedicht ‘Giro’ wird der hohe Stellenwert des Sinnlichen deutlich: Sparire in quanto organismo, corpo, intelletto, et stemperarsi, sensibilità autonoma, nella impassibilità del fenomeno, mera musica e luce. Unica saggezza e gioia matura: aderire alla logica della terra, dell’erba muta, di quest’acqua corrente, torta, zebrata d’azzurro. Più delicato del giglio, ricevere le stimmate del vento, i geroglifici della canzone. In quanto alla volontà, non è più che una memoria ironica; troppo contenti se le gambe consentono di compiere il giro del panorama, il circolo delle meraviglie. La funzione è dei sensi come nelle età prime; nel bagno dei colori, dei suoni, dei profumi, e l’amore elementare delle bibbie.624

Das Subjekt löst sich in der Sinnlichkeit seiner Erfahrung auf, es scheint nurmehr als Empfangsstation zu existieren («ricevere»). Die Präsenz der Dinge kann ungefiltert in das Subjekt hineinströmen, der Wille («la volontà») – und damit die Kontrollinstanz – spielt kaum eine Rolle mehr. Soffici vergleicht die Funktion der Sinne hier mit den «età prime» und fügt die futuristische sensibilità damit in den primitivistischen Diskurs ein. Die Auflösung des Ichs als einer Kontrollinstanz – ein scheinbares Paradox, wenn man den in den futuristischen Manifesten inszenierten Größenwahn bedenkt – ist bereits im ‘Manifesto tecnico della letteratura futurista’ verankert, das die Abschaffung des Ichs unter anderem durch die Ver-

621 MD, S. 43. 622 Vgl. ebda., S. 88. 623 Ebda., S. 43. 624 Ardengo Soffici: ‘Giro’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOI, S. 743.

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wendung von Infinitiven fordert: «Si deve usare il verbo all’infinitivo, perché si adatti elasticamente al sostantivo e non lo sottoponga all’io dello scrittore che osserva o immagina. Il verbo all’infinito può, solo, dare il senso della continuità della vita e l’elasticità dell’intuizione che la percepisce.»625 Dennoch handelt es sich hier nicht um eine objektive Poesie, auch wenn das Ich durch die «materia, di cui si deve afferrare l’essenza a colpi d’intuizione»626 ersetzt werden soll. Denn schließlich steht auch hier noch ein wahrnehmendes Bewusstsein («percepisce») hinter der Erfahrung, welche jedoch möglichst unkontrolliert – ganz im Einklang mit der Forderung einer Befreiung «da ogni sozzura di logica»627 – auf dieses einwirken soll. Das Ich wird im eigentlichen Sinne nicht gestrichen, sondern geht eine «Kommunion mit der Materie»628 ein: «Essa [la materia] appartiene intera al poeta divinatore [...]. Solo il poeta asintattico e dalle parole slegate potrà penetrare l’essenza della materia e distruggere la sorda ostilità che la separa da noi.»629 In Marinettis ‘Battaglia Peso + Odore’ und ‘Zang Tumb Tumb’ werden die auf diese Weise erzeugten Sinnlichkeitsströme sehr deutlich.630 Im frühen Stadium des mythischen Bewusstseins ist es noch zu keinem Subjektverständnis gekommen, das Subjekt begreift sich noch nicht als vom Objekt verschieden. Zeichnet sich in ‘Giro’ zwar die Phantasie einer Ich-Auflösung ab – was womöglich der späten Entstehungszeit und damit einem möglichen surrealistischen Einfluss zuzurechnen ist –, so findet sich bei Marinetti, Soffici und Apollinaire grundsätzlich noch ein lyrisches Ich als Empfänger dieser Präsenzmomente.631 Statt einer Auflösung kommt es besonders bei Apollinaire zu einer Fragmentierung des lyrischen Subjekts, beispielsweise wenn sich, wie in ‘Cortège’ und ‘Zone’, eine Vielzahl sinnlicher Wahrnehmungen entfaltet. Der Augenblick gestaltet sich in ‘Zone’ als eine Entfremdungserfahrung, die ihren Ausdruck in der Aufspaltung des lyrischen Ichs in verschiedene Sprecher-

625 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. In: MTI, S. 46. Hervorhebungen in fett und kursiv im Original. 626 Ebda., S. 50. 627 Filippo Tommaso Marinetti: Uccidiamo il chiaro di luna. In: MTI, S. 19. 628 Winfried Wehle: Entgrenzung ins Transhumane. Über mythische Leere und mediale Fülle in futuristischer Kunst. In: Yasmin Hoffmann/Walburga Hülk u. a. (Hg.): Alte Mythen, neue Medien. Heidelberg: Winter 2005, S. 89–109, hier S. 96. 629 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. In: MTI, S. 52. 630 Filippo Tommaso Marinetti: ‘Battaglia Peso + Odore’. In: MTI, S. 59 ff. Und: Lo stile parolibero. In: MTI, S. 921 ff. Vgl. das Kapitel III.2.2.3 ‘Bildmetamorphosen und Bildketten: Die Beziehung zwischen den Dingen’ der vorliegenden Arbeit. 631 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 93: «Aber wiederum bleibt ein IchRelikt als zentraler Ordnungsfaktor des Verschmelzungsvorgangs von Farben, Tönen, Gefühlen, Erinnerungen.»

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instanzen («je», «tu», «vous» usw.) findet. Eine ähnliche Identitätsproblematik thematisiert ‘Cortège’. Das lyrische Ich verliert sich in den Einzelwahrnehmungen und ist nicht in der Lage, sich selbst zu erkennen, wie sich in der Sehnsucht nach Selbsterkenntnis («Pour que je sache enfin celui-là que je suis») zeigt. In ‘Cortège’ sind die Einzelerfahrungen von solcher Präsenz, dass sie in ihrer Fülle zwar ausreichen, um aus wenigem vieles ableiten zu können, wie durch die ständige Wiederholung von «il me suffit» betont wird – z. B. «O Corneille Agrippa l’odeur d’un petit chien m’eût suffi/Pour décrire exactement tes concitoyens de Cologne»632 – aber diese Einzelerfahrungen werden nicht synästhetisch zu einem Ganzen zusammengefügt. Krenzel-Zingerle schließt: «Die Aufzählung geht mit einer Dekomposition der Wirklichkeitswahrnehmung des Sprechers in einzelne Sinneswahrnehmungen sowie mit einer Dekomposition der Wirklichkeit selbst in isolierte Bruchstücke einher.»633 Die fragmentierte Wahrnehmung des lyrischen Subjekts, die scheinbar willkürliche Aneinanderreihung verschiedener Erinnerungen, Gedanken und Sinneseindrücke, scheint das Einnehmen einer einzigen Perspektive unmöglich zu machen. Die Stabilisierung durch einen Augenblick, der als Epiphanie-Erfahrung eine alles erhellende Funktion hätte, entpuppt sich in ‘Zone’ als nicht mehr erreichbar: Der Glaube an eine einzige Wahrheit, die dem lyrischen Ich eine Perspektive und feste Form verleihen könnte, wie z. B. die Religion, stellt sich als hinfällig heraus. Das lyrische Ich schämt sich seiner religiösen Anwandlungen – wie im Vers «Vous avez honte quand vous vous surprenez à dire une prière»634 ersichtlich wird, vermag auch der christliche Glaube keinen Halt mehr zu geben. Der poetische Augenblick Das Kunstwerk ist Ausdruck eines schöpferischen Augenblicks, da der Künstler in ihm Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Einheit aufzuheben weiß: Il faut pour cela embrasser d’un coup d’œil: le passé, le présent et l’avenir.635

Diese Einheit ist es, die laut Apollinaire einen Rausch auslöst: La toile doit présenter cette unité essentielle qui seule provoque l’extase.636

632 633 634 635 636

Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 81. Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 41. Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 7. Ebda.

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Weil er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint, sieht Campa im ‘cortège’ – ein von Apollinaire häufig verwendetes Motiv,637 das auch in Reverdys Gedichten anzutreffen ist638 – ein grundlegendes Bild für Apollinaires Ästhetik: La force du cortège est d’être un rassemblement ordonné: ce n’est pas une foule; il rend impossible la division: de Michel-Ange à Picasso, aucune rupture. Le cortège permet aussi de concentrer tous les temps. Le passé n’est pas rejeté hors de la procession mais participe pleinement, en queue du cortège, à la pérégrination de l’ensemble; le futur est déjà là, puisque le cortège avance et que de nouveaux membres viennent sans cesse s’y ajouter. Le mouvement perpétuel du cortège capture le présent. [...]. En un mot, la seule théorie tangible de l’esthétique d’Apollinaire est le cortège...639

Der Wunschtraum, das fragmentierte Ich in Totalität zu erfassen, realisiert sich in ‘Cortège’ in den Versen, in denen viele Völker das lyrische Ich zu einer Einheit zusammenfügen: «On me bâtit peu à peu comme on élève une tour».640 Sowohl die Errichtung des lyrischen Ichs wie einen Turm als auch das Motiv des Spracherwerbs erinnern an den alttestamentarischen Mythos des Turmbaus zu Babel, wie Stierle in seinem Aufsatz ‘Babel und Pfingsten’641 darlegt. Das Bild des Turms lässt wiederholt an die Sehnsucht nach einer unbegrenzten Sicht, einer Art ‘göttlichen Perspektive’ denken: «Die Sehnsucht nach einer Perspektive, die mit einem Blick alles umfaßt ist die der allumfassenden Erkenntnis, es ist die Perspektive Gottes.»642 Dabei wird in der Idee, der Dichter müsse einen allumfassenden Blick («tout ensemble») besitzen und eine Zusammenschau von Ursache und Wirkung («l’effort et l’effet») in seinem Werk ausdrücken, erneut die Notwendigkeit deutlich, dass der Dichter sich zu einem Gott macht, um das Simultaneitäts- und Ubiquitätsprinzip zu verwirklichen. Im mythischen Denken erhebt der kairotische Augenblick einen Gegenstand aus der Gleichförmigkeit und verleiht ihm die Aura des Heiligen: «Jeder noch so alltägliche Daseinsinhalt kann den auszeichnenden Charakter der Heiligkeit gewinnen, sobald er nur in die spezifische mythisch-religiöse Blickrichtung

637 Z.B. Die Verse «Déjà le cortège s’avance» aus Vitam impendere amori. In: Po, S. 159. Und «Cortèges ô cortèges» aus ‘Le musicien de Saint-Merry’ Merry’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 188–191, hier S. 190. 638 Pierre Reverdy: ‘Cortège’. In: ROCI, S. 224. Ders.: ‘Cortège’. In: ROCII, S. 40. 639 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 93 f. 640 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75 f. Siehe auch die Kapitel III.3.2.3 ‘Ubiquität’ und III.3.2.2 ‘Mikro- und Makrokosmos’ der vorliegenden Arbeit. 641 Karlheinz Stierle: Babel und Pfingsten. Zur immanenten Poetik von Apollinaires Alcools. In: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: Fink 1982, S. 61–112. 642 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 88. Hervorhebung K.R.

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fällt».643 Die lyrischen Augenblicke644 sind in den Gedichten der Avantgarde oft alltägliche Begebenheiten und haben ihren Ursprung in alltäglichen Szenarien. Die Dichter erheben sie durch ihre schöpferischen Fähigkeiten zu besonderen Augenblicken. Bei Apollinaire ist die Stelle «un petit chien m’eût suffi» aus ‘Cortège’ paradigmatisch: Hier reicht der banale Geruch eines Hundes aus, um die Phantasie des Dichters zu nähren.645 Cassirer sieht eine Verwandtschaft zwischen mythischem Bewusstsein und dem künstlerischen Schaffen, da beide Atmosphären herstellen. Alle literarischen Werke haben «their peculiar sound, their characteristic rhythm, their inimitable and unforgettable melody. Each of them is, so to speak, wrapped in its special poetical atmosphere.»646 Diese Ausführungen zur Literatur erinnern an seine Beschreibung des mythischen Augenblicks, in dem die Objekte «gleichsam in einer individuellen Atmosphäre»647 leben und zusammengenommen ein eigenes Reich bilden – «sie besitzen gewissermaßen eine gemeinsame Tönung, vermöge deren sie sich aus der Reihe des Alltäglichen und Gewöhnlichen, des gemeinen empirischen Daseins herausheben.»648 Weniger selbstbewusst als bei Apollinaire gibt sich hingegen das lyrische Ich in Sofficis ‘L’ora’. ‘Warten auf einen lyrischen Augenblick’ könnte dieses Gedicht auch heißen. Es wird darin beschrieben, wie das lyrische Ich in den Momenten des Alltags, die, wie die Beschreibung «Mentre spio le stelle, o miro la luna naufragar come una barchetta di foglio dorato»649 vermuten lässt, durchaus poetische Qualität hätten, eine besondere Stunde erwartet. Dabei hat das lyrische Ich keine bestimmte Vorstellung, wie das Erwartete sein wird, aber es weiß, dass es ein «avvenimento» sein wird:

643 MD, S. 89. Hervorhebung im Original. 644 Milan Herold sieht den lyrischen Augenblick gar als paradigmatisch für die Moderne. Milan Herold: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins. Kant, Schlegel, Leopardi, Baudelaire, Rilke. Göttingen: V&R unipress/Bonn University Press 2017. 645 Vgl. das Kapitel II.2.5 ‘Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden’ der vorliegenden Arbeit. 646 LAI, S. 162. 647 MD, S. 88. 648 Ebda. Diese Beschreibungen, gemeinsam mit der Fähigkeit des Dichters, normale Sprache in die Sprache der Dichtung zu verwandeln und Alltägliches zu etwas Besonderem zu erheben, erinnern an das Konzept der Atmosphären von Gernot Böhme: «Die neue Ästhetik ist also auf seiten der Produzenten eine allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit. Diese wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären. Auf seiten der Rezipienten ist sie eine Theorie der Wahrnehmung im unverkürzten Sinne. Dabei wird Wahrnehmung verstanden als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen.» Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 25. 649 Ardengo Soffici: ‘L’ora’. In: ders.: ‘Poesie giovanili (1901–1908)’. In: ders.: Marsia e Apollo [1938]. In: SOIV, S. 712.

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Ma so che un’ora deve venire Recando nel variopinto ordito dei suoi minuti Un qualche solenne avvenimento alla mia vita.650

In der Beschreibung des «variopinto ordito» wird die mythische Vorstellung der Zeit als Gewebe, in dem nur der Augenblick eine Sonderung der Zeit erlaubt, aufgegriffen. 3.3.4 Simultaneität On se dit merde de tous les coins de l’univers651

‘L’ora’ erscheint, verglichen mit der scheinbar ungeordneten Bilderflut und der Betonung präsentischer Sinneswahrnehmungen in den futuristischen Gedichten, minimalistisch. Dennoch drückt es ebenso deutlich den Gedanken der Zeit als einer subjektiven Größe aus. Mögen zwar die schönen Ereignisse objektiv ein «avvenimento» darstellen, das lyrische Ich fühlt es nicht: Es scheint vergeblich («E vedo che non è ancor giunta l’ora») auf eine poetische Zündung zu warten, die die Erlebnisse zu einem bedeutsamen Augenblick machen. In den von Bilderströmen charakterisierten Gedichten bündelt das lyrische Ich die persönlichen Wahrnehmungen und die Erfahrungen nach einem eigenen Zeitempfinden, wodurch sich ganz neue zeitliche Verbindungen wie die Simultaneität ergeben. Simultaneität erreicht der Künstler laut Soffici, wenn er sich als bewegten Mittelpunkt betrachtet und dadurch die objektive Zeit- und Raumperspektive fallen lässt: «Posto l’artista come centro mobile dell’universo vivente, tutte le sensazioni ed emozioni, senza prospettiva di spazio o di tempo, attirate e fuse in un atto creativo poetico.»652 Der Fokus auf die «sensazioni» supprimiert die chronologische Zeit und legt den Fokus auf eine Art sinnlicher ‘Polyphonie’. Interessanterweise verwendet Soffici selbst zur Beschreibung der Simultaneität die musikalische Metapher der Polyphonie: «dissonanze e polifonia».653 In Enretiens avec Michel Manoll beschreibt Cendrars seine Schreibweise mit ähnlichen Worten, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sein an die Kompositionsweise von Fugen erinnernder Rhythmus ein Resultat dieser Zeitkonzeption ist:654

650 Ebda. 651 Blaise Cendrars: ‘Crépitements’. In: PC, S. 79. 652 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. 653 Ebda. 654 Zum Rhythmus siehe Yves-Alain Favre: «La phrase de Cendrars: Rythmes et sonorités». In: Jacqueline Bernard (Hg.): Cendrars, l’aventurier du texte. Colloque organisé les 20 et 21 novembre 1987 par le Centre de recherche en didactique du texte et du livre. Grenoble: Presses Universitaires de Grenoble 1992, S. 19–28.

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Je crois qu’au point de vue écriture, je suis allé assez loin dans mon écriture à moi, et au point de vue composition et exécution, j’ai surtout voulu supprimer la notion du temps, ce qui m’a fait dire que dans la composition je tenais compte de la relativité d’Einstein et dans l’exécution de la technique de Jean-Sébastien Bach.655

Der Versuch, auf diese Weise die Zeit abzuschaffen, kann durchaus kompensatorische Hintergründe haben, so Meter: «Die Entbehrungen der Vergangenheit sollen vergessen gemacht werden in einem sinnlichen Sog, der alles unterschiedslos an sich reißt.»656 Weil sie auf diese Weise der Zeit ‘enthoben’ sind, eröffnen diese Präsenzerfahrungen Möglichkeiten, sich der Chronologie zu entziehen. Was in den Gedichten als präsentisch erfahren und formuliert wird, muss seinen Ursprung jedoch nicht in der Gegenwart haben. Erinnerungen und Vergangenes können im Augenblick als gegenwärtig erscheinen.657 Weil durch sie mehrere Zeitebenen in einem einzigen Moment zusammenkommen, erscheint die Simultaneität als eine moderne Spielart des Augenblicks. Simultaneität durch Erinnerung Simultaneität ist die deutlichste Ausdrucksform eines nicht-linearen Zeitverständnisses. Durch sie wird auch die Kategorie des Raums überwunden, der sich, wie es in Sofficis ‘Arcobaleno’ heißt, wie ein Wurm zusammenkrümmen würde: Non c’è più tempo: Lo spazio E un verme crepuscolare che si raggricchia in una goccia di fosforo: Ogni cosa è presente: Come nel 1902 tu sei a Parigi in una soffitta, Coperto da 35 centimetri quadri di cielo Liquefatto nel vetro dell’abbaino; La Ville t’offre ancora ogni mattina Il bouquet fiorito dello Square de Cluny; Dal boulevard Saint-Germain, scoppiante di trams e d’autobus, Arriva, la sera, a queste campagne, la voce briaca della giornalaia Di rue de la Harpe: ‘Paris-cûrses’, ‘l’Intransigeant’, ‘la Presse’.658

655 Zitiert nach: Ebda., S. 19. 656 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 68. 657 Vgl. ebda., S. 86: «Die Tatsache, daß Grundkategorien wie Zeit und Raum aufgehoben sind, ist bisher nur auf die Außenwelt angewendete Kausalerkenntnis; die lyrische Wiedergabe unterscheidet im Gegenteil dazu die von der Erinnerung getragene Erlebnisabfolge als bestimmtes und einmaliges Geschehen». 658 Ardengo Soffici: ‘Arcobaleno’. In: SOIV, S. 718.

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Dieser Ausschnitt reflektiert den Gedanken, die Aufhebung der Zeit – damit ist die Aufhebung der chronologischen Zeit gemeint – würde auch den Raum zusammenschrumpfen lassen. Die dadurch erzeugte Präsenz aller Dinge erstreckt sich auch auf Vergangenes: Darauf lässt die Parallelität der Situation zu einer bereits erlebten Erfahrung von 1902 schließen. In dieser präsentischen Evokation von bereits Vergangenem wirkt die Passage fast wie eine Erläuterung zu Apollinaires ‘Zone’. Auch aufgrund der Beschreibung einer Straßenszene der Stadt Paris erinnert es an Apollinaires berühmtes Gedicht: Tu lis les prospectus les catalogues les affiches qui chantent tout haut Voilà la poésie ce matin et pour la prose il y a les journaux Il y a les livraisons à 25 centimes pleines d’aventures policières Portraits des grands hommes et mille titres divers J’ai vu ce matin une jolie rue dont j’ai oublié le nom Neuve et propre du soleil elle était le clairon Les directeurs les ouvriers et les belles sténo-dactylographes Du lundi matin au samedi soir quatre fois par jour y passent Le matin par trois fois la sirène y gémit [...] Maintenant tu marches dans Paris tout seul parmi la foule Des troupeaux d’autobus mugissants près de toi roulent659

In ‘Zone’ ist die Verankerung des Subjekts in einer physikalischen Ordnung von Ort und Zeit aufgehoben – somit kann es sich plötzlich in Marseille, dann aber wieder in Koblenz befinden.660 Die Vergangenheit ist hier nicht als ein zeitlich Vergangenes konzipiert, als eine Etappe, die vor der Gegenwart stattgefunden hat und in sich abgeschlossen ist, sondern als eine Erfahrung, die präsent ist – so beispielsweise deutlich in den Versen Voilà la jeune rue et tu n’es encore qu’un petit enfant Ta mère ne t’habille que de bleu et de blanc Tu es très pieux et avec les plus ancien de tes camarades René Dalize661

Vergangene Erlebnisse werden hier durch die Erinnerung präsentisch und überlagern sich ‘simultan’ mit der Jetztzeit, welche durch deiktische Marker wie «voilà» und «voici» sowie durch die Verwendung des Präsens markiert ist. Simultaneität wird bei Apollinaire vor allem durch die Erinnerung erzeugt: Denn

659 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 39 ff. 660 Siehe das Kapitel III.3.2.3. ‘Ubiquität’ der vorliegenden Arbeit. 661 Guillaume Apollinaire: ‘Zone’. In: Po, S. 40.

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durch die Erinnerung aktualisiert sich das Vergangene im Jetzt. Wie in ‘Zone’, wo es wiederholt heißt «Tu es», «Te voici» und «Maintenant tu», wird die Simultaneität auch in anderen Gedichten Apollinaires häufig durch Wiederholungen bzw. Anaphern poetisch umgesetzt. Die Wiederholungsstruktur und auch die Tatsache, dass das Gedicht mit dem Ende, nämlich mit dem Vers «A la fin tu es las de ce monde ancien» beginnt, verweisen wiederum auf das bereits besprochene zirkuläre Muster, durch das die simultane Zeiterfahrung in einer totalen, ungeteilten Zeit aufgehoben scheint.662 Soffici kategorisiert ‘Zone’ als ein Simultangedicht. Er nennt es eine «sintesi simultanea», in der parallelamente alle ricerche futuristiche di puro lirismo, una libertà di concezione e di espressione si afferma con tutta l’intensità e i brividi di una corrente d’analogie modernissime, come conviene, prodotto e stimolante di quella nuova sensibilità che anima tutta la poesia dei nostri giorni ch’essa crea e sviluppa.663

Der Rhythmus der «corrente d’analogie», in der Soffici sicherlich eine Form der futuristischen «immaginazione senza fili» erkennt, bei der die Bilder ohne Unterbrechung bewusstseinsstromartig präsentiert werden, ähnelt demjenigen in Cendrars’ ‘Les Pâques à New York’, ein Gedicht das, wie die Forschung immer wieder thematisiert, ebenfalls stark an ‘Zone’ erinnert.664 Auch hier spaziert ein lyrisches Ich Tag und Nacht durch eine Metropole, hier New York: Je descends à grands pas vers le bas de la ville Le dos voûté, le cœur ridé, l’esprit fébrile. Votre flanc grand-ouvert est comme un grand soleil Et vos mains tout autour palpitent d’étincelles Les vitres des maisons sont toutes pleines de sang Et les femmes, derrières, sont comme des fleurs de sang, [...] Je suis assis au bord de l’océan Et je me remémore un cantique allemand,

662 Vgl. Madeleine Boisson: L’hermétisme dans Alcools, S. 22: «En permettant la simultanéité, la répétition apparaît comme le moyen paradoxal de se libérer du passé et de prendre de la hauteur. Dérive et régression mises en œuvre dans le poème sont traversées et surmontées par la structure verticale des anaphores qui entraîne renversement et circularité.» 663 Ardengo Soffici: Guillaume Apollinaire. In: SOI, S. 527. 664 Zur Kontroverse über ein mögliches Plagiat von Apollinaire bzw. einer gegenseitigen Beeinflussung siehe Marc Poupon: Apollinaire et Cendrars. Paris: Lettres Modernes 1969.

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[...] Dans une église, à Sienne, dans un caveau, J’ai vu la même Face, au mur, sous un rideau. [...] Seigneur, la foule des pauvres pour qui vous fîtes le Sacrifice Est ici, parquée, tassée, comme du bétail, dans les hospices.665

Wie in ‘Zone’ lässt das lyrische Ich den Leser scheinbar ungefiltert und nicht hierarchisiert an all seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen teilhaben. Was sich in ‘Les Pâques à New York’ nur andeutet, sich aber in ‘Zone’ deutlich zeigt, ist die Konstitution der Simultaneität im Wesentlichen durch die Erinnerung. Soffici reflektiert diesen Gedanken in seinen theoretischen Schriften. Er erklärt: «Simultaneità di stati d’animo polarizzati per vie analogiche di ricordi di pensieri remoti, d’impressioni d’altri luoghi e d’altri tempi, come luci d’astri erranti concentrati in uno specchio.»666 Auch in der bildenden Kunst bestehe die futuristische Simultaneität nicht nur in einem panoramaartigen Überblick über zeitgleich ablaufende Handlungen oder Ansichten eines Objekts, sondern auch in der Integration von räumlich entfernten und zeitlich bereits vergangenen Momenten und den mit ihnen verbundenen Emotionen: I futuristi proclamano che una sintesi pittorica può esser formata non dei soli aspetti della realtà contenuti nel campo visivo di chi guarda un motivo naturale, ma che in essa possono entrare come elementi integranti di suggestione tutti gli aspetti circostanti o lontanissimi nel tempo e nello spazio. Quando lo spettatore volgare crede che si tratti di una specie di veduta panoramica fatta di ritagli di cartoline illustrate, noi pittori vogliamo fargli sentire che una larga zona di vita commossa può esser riflessa, concentrata plasticamente, sur uno spazio limitato.667

Eine Gesamtschau, das Zusammenspiel verschiedener Aspekte in einem Moment wiederzugeben, ist laut Soffici wesentlich für den Kubismus.668 In diesem Totalitätsbestreben gleicht der kubistische Ausdruck nicht nur den Phantasien von Selbstdivinisierung und göttlicher Schau in Apollinaires Gedichten, sondern evoziert auch in der Darstellung einer «realtà visibile multipla a un tempo ed una»669 eine Simultaneitätserfahrung. Apollinaire selbst zieht Verbindungen

665 666 667 668 669

Blaise Cendrars: ‘Les Pâques à New York’ [1912]. In: PC, S. 1–13, hier S. 6 f. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. Ardengo Soffici: La pittura futurista. In: SOI, S. 663. «Il pittore cubista vede tutte codeste cose come un insieme omogeneo». Ebda., S. 642. Ardengo Soffici: Cubismo e oltre. In: SOI, 645. Hervorhebung K.R.

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zwischen dem Bruch mit der linearen Perspektive und mit dem linearen Zeitverständnis in seinem Artikel ‘Simultanisme-Librettisme’: L’idée de simultanéité préoccupe depuis longtemps les artistes; en 1907 déjà, elle préoccupait un Picasso, un Braque, qui s’efforçaient de représenter des figures et des objets sous plusieurs faces à la fois. Elle a préoccupé ensuite tous les cubistes et vous pouvez demander à Léger quelle volupté il éprouvait à fixer un visage vu à la fois de face et de profil. Cependant, les futuristes étendirent le domaine de la simultanéité et en parlèrent nettement mettant le mot lui-même dans la préface de leur catalogue.670

Simultanisme-Librettisme Apollinaire zeichnet in diesem Artikel die groben Entwicklungslinien der Simultaneität in Kunst und Literatur auch deshalb, weil sich zwischen ihm und dem Dichter Henri-Martin Barzun ein Streit um das Urheberrecht des SimultaneitätsKonzepts entzündet hatte. In ‘Simultanisme-Librettisme’ wendet sich Apollinaire gegen Barzun, der ihm ein Plagiat vorwirft: «M. Barzun [...] se donnât la peine de m’excommunier de son simultanisme, duquel je n’ai jamais fait partie.»671 Apollinaire wehrt den Urheberrechtsanspruch auf das Wort Simultaneität, den Barzun für sich geltend machen will, ab und schreibt, Simultaneität habe gewissermaßen in der Luft gelegen: «Le mot simultané est dans le dictionnaire, l’idée au point de vue artistique était dans l’air».672 Dieser Streit, über den sich Apollinaire neben ‘Simultanisme-Librettisme’ auch in ‘À propos de la poésie nouvelle’ äußert, verdeutlicht, wie groß die Bedeutung der Simultaneität für Poesie, Theater, Malerei und Plastik in dieser Zeit ist. Dieses Konzept ist auch ein Ausdruck des Spannungsverhältnisses von Universalität und Individualität, das symptomatisch für den primitivistischen Diskurs ist.673 Bevor sich der Streit um das Wort Simultaneität entfacht, spricht Apollinaire wohlwollend über Barzuns Buch L’ère du drame und sieht den «dramatisme» als den Ausdruck für seine «époque où l’universel et l’individuel se répondent, conflit permanent et admirable».674 Um diesen Punkt zu verdeutlichen, zitiert er sogar aus Barzuns Buch: «Transformation du chant monodique en chant polyphonique, où des voix, présences, volontés, forces essentielles,

670 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme [1914]. In: PrII, S. 974–979, hier S. 977. 671 Ebda., S. 975. 672 Guillaume Apollinaire: À propos de la poésie nouvelle [1914]. In: PrII, S. 979–982, hier S. 981. 673 Vgl. Kapitel II.2.1 ‘Beziehung des Ichs zur Welt und Universalität’ der vorliegenden Arbeit. 674 Guillaume Apollinaire: Lettre de Paris. In: PrII, S. 966.

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expriment et manifestent les ordres psychologiques du drame permanent de la vie et de l’univers.»675 Die Artikel, die Apollinaire in Antwort auf den Urheberrechtsanspruch des Dichters Barzun verfasst hat, sind nicht nur aufgrund der Einsichten in die Genese des Simultaneitätsprinzips von Bedeutung, sie geben darüber hinaus auch Aufschluss über Apollinaires Verständnis von Simultaneität. In seinen Ausführungen unterscheidet er zwischen verschiedenen Formen. Er spricht von einer dramatischen, theatralen bzw. szenischen Simultaneität, die verwandt ist mit einer symphonischen, polyphonen, auf die Verwendung des Phonographen gestützten Simultaneität. Weitere Kategorien bilden die typographisch orientierte Simultaneität, welche sich auf die futuristische Technik der parole in libertà stützt, und eine auf die «impression» gestützte Simultaneität, welche sich in den poèmes-conversations verwirklicht. Zudem macht er noch die figurative Simultaneität aus, wie sie sich in dem Projekt La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France von Blaise Cendrars und Sonia Delaunay äußere.676 In diesem Buch gehen Farbe, durch die Malerei Sonia Delaunays, und der Text von Cendrars eine intime Verbindung ein. Auch das an ein Poster erinnernde Format, ein etwa 200 cm langes, sich ziehharmonikaartig entfaltendes Papier,677 soll es erlauben, die Elemente des Buchs in einem Blick zu erfassen.678 Apollinaire vergleicht die Simultanwirkung auf den Leser mit der eines Dirigenten, der alle Stimmen in seiner Partitur im Blick hat: Blaise Cendrars et Mme Delaunay-Terck on fait une première tentative de simultanéité écrite où des contrastes de couleurs habituaient l’œil à lire d’un seul regard l’ensemble d’un poème, comme un chef d’orchestre lit d’un seul coup les notes superposées dans la partition, comme on voit d’un seul coup les éléments plastiques et imprimés d’une affiche.679

Die Formulierung, Mannigfaltiges «d’un seul coup» wahrzunehmen, verdeutlicht wieder die Verwandtschaft zwischen Simultaneitätserleben und Augenblick. In Nos amis les futuristes zeigt Apollinaire ein deutliches Interesse an den durch die Erfindung des Phonographen ermöglichten «poèmes symphoniques». Er prophezeit: «À la poésie horizontale que l’on n’abandonnera point pour cela, s’ajoutera une poésie verticale, ou polyphonique, dont on peut attendre des

675 Ebda., S. 967. 676 Vgl. Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 978 f. 677 Christine Le Quellec Cottier/Natalia Granero (Hg.): Blaise Cendrars et Sonia Delaunay: la prose du Transsibérien: Fondation Jan Michalski pour l’écriture et la littérature, Montricher, 26.10–30.12 2017. Montricher: Fondation Jan Michalski 2017, S. 82. 678 Vgl. das Kapitel III.2.1.1 ‘Prozesshaftigkeit und Variabilität’ der vorliegenden Arbeit. 679 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 976.

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œuvres fortes et imprévues.»680 Er selbst hatte mit dem Gedanken gespielt, Gedichte aufzunehmen und als «disque poétique» zu veröffentlichen.681 Doch in der Polemik um die Anklage von Barzun wird deutlich, dass das Gewicht bei Formen der Simultaneität liegt, bei denen nichts szenisch vorgetragen oder phonographisch aufgenommen werden muss, sondern die auch in gedruckter Form funktionieren. Es gilt somit das Problem zu lösen, trotz der Sukzessivität der gedruckten Worte den Eindruck von Simultaneität zu erzeugen. In Apollinaires Augen bleibt die ‘dramatische’ Poesie von Barzun daher der Sukzessivität verhaftet. Ihm gelinge nicht, die Sukzessivität der Sprache zu durchbrechen, da seine Gedichte, um wahrhaft simultan zu sein, zu mehreren Stimmen vorgetragen werden müssten: Le simultanisme poétique de M. Barzun ne peut s’exprimer qu’au moyen de plusieurs voix combinées. C’est du théâtre. Dans le livre à un lecteur ces voix ne peuvent être que successives, donc si M. Barzun veut une poésie effectivement simultanée, il faut qu’il fasse appel à plusieurs récitants ou qu’il se serve du phonographe, mais tant qu’il se servira d’accolades et des lignes typographiques habituelles, sa poésie restera successive.682

Damit stellt sich Apollinaire in eine Reihe mit den Ideen des von ihm sehr geschätzten Künstlers Delaunay,683 der die Simultaneität der Sukzessivität gegenüberstellte – «ce fut alors Delaunay qui s’en déclara le champion, qui en fit la base de son esthétique. Il opposa le simultané au successif et y vit le nouvel élément de tous les arts modernes: plastique, littérature musique, etc.»684 Ausgehend von Delaunays Gedanken zur Simultaneität, die Apollinaire in ‘Réalité. Peinture pure’685 und ‘À travers le salon des indépendants’686 darlegt, identifiziert Apollinaire mit Simultaneität das Leben: La lumière n’est pas un procédé. Elle nous vient de la sensibilité (l’œil). Sans la sensibilité, aucun mouvement. Nos yeux sont la sensibilité essentielle entre la nature et notre âme. Notre âme maintient sa vie dans l’harmonie. L’harmonie ne s’engendre que de la simultanéité où les mesures et proportions de la lumière arrivent à l’âme, sens suprême de

680 Guillaume Apollinaire: Nos amis les futuristes. In: PrII, S. 971. 681 Vgl. Einen 5. Juli 1913 in Paris-Midi publizierten Brief von Apollinaire: «Il est vrai que depuis un an j’ai souvent parlé du disque poétique, ajoutant que c’était la forme par laquelle je voudrais publier mes poèmes.» PrII, S. 1701. 682 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 975. 683 Vgl. Apollinaires Lobrede auf Delaunay in: À travers le salon des indépendants. In: PrII, S. 537. 684 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 977. 685 Guillaume Apollinaire: Réalité. Peinture pure. In: PrII, S. 494–496. 686 Guillaume Apollinaire: À travers le salon des indépendants. In: PrII, S. 529–539.

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nos yeux. Cette simultanéité seule est la création; le reste n’étant qu’énumération, contemplation, étude. Cette simultanéité est la vie même.687

Diese Konzentration auf Lebensnähe fehlt ihm in den futuristischen parole in libertà, die für ihn zu sehr im Abstrakten bleiben.688 Für Apollinaire gilt es, Innen- und Außenwelt («nature» und «âme») mittels der «sensibilité», welche er mit dem Licht gleichsetzt, in ein Verhältnis zu setzen.689 Die Konversationsgedichte Eine geglückte Umsetzung der Simultaneität in der Dichtung sieht Apollinaire in der Simultaneität vom Typ der «impression nouvelle».690 Es gehe bei dieser Form darum, verschiedene Sinneseindrücke gleichzeitig entstehen zu lassen, wie es bei einer typischen Szene aus dem Alltagsleben auch der Fall sei («d’habituer l’esprit à concevoir un poème simultanément comme une scène de la vie»691). Apollinaire gibt an, eine solche «simultanéité impressive» in den von ihm als «poèmes-conversation»692 bezeichneten Gedichten angestrebt zu haben:693 On a donné ici des poèmes où cette simultanéité existait dans l’esprit et dans la lettre même puisqu’il est impossible de les lire sans concevoir immédiatement la simultanéité de ce qu’ils expriment, poèmes-conversations où le poète au centre de la vie enregistre en quelque sorte le lyrisme ambiant.694

Zu diesen Gedichten gehören ‘Vendémiaire’, ‘Les Fenêtres’, ‘Lundi rue Christine’, ‘Le Musicien de Saint-Merry’ und ‘Rotsoge’.695 Die Konversationsgedichte Apollinaires erreichen den Übergang von der Linearität zur Simultaneität durch die Polyphonie verschiedener Gesprächsfetzen, die in keinem sukzessiv-logischen Zusammenhang stehen.696 Sie folgen aufeinander, ohne aufeinander auf-

687 Ebda., S. 530. Apollinaire greift hier die Gedanken aus seinem Artikel ‘Réalité. Peinture pure’ auf. In: PrII, S. 494 f. Hervorhebungen im Original. 688 «mais tout de même éloignement de la nature, car les gens ne parlent point au moyen de mots en liberté.» Guillaume Apollinaire: Nos amis les futuristes. In: PrII, S. 971. 689 Vgl. Guillaume Apollinaire: Réalité. Peinture pure. In: PrII, S. 495: «Nous ne pouvons rien sans la sensibilité, donc sans lumière.» 690 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 977. 691 Ebda., S. 976. 692 Ebda. 693 Außerdem auch in der Beschreibung einer Nacht in L’Enchanteur pourrissant. Vgl. ebda., S. 976 und S. 981. 694 Ebda., S. 976. 695 Vgl. ebda. 696 Vgl. die Analyse von ‘Les fenêtres’ im Kapitel III.2.1.3 ‘Dynamik als Beziehungsstruktur: Futuristische Deformation und Delaunays Farbkontraste’ der vorliegenden Arbeit. Vgl. Renaud,

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zubauen. Mit Laurence Campa gesprochen, will Apollinaire die Simultaneität nicht imitieren, sondern sie auf diese Weise evozieren: «Apollinaire préconise non pas de mimer la simultanéité, mais de la suggérer par une poétique efficace qui la produise dans la linéarité même du texte. Il tente ainsi de concilier la durée inhérente à la lecture et la simultanéité des phénomènes décrits.»697 So erscheint das Stadtgedicht ‘Lundi rue Christine’ wie ein Stream of consciousness, wobei nicht klar ist, zu wem die jeweiligen fragmentarisch wirkenden Bewusstseinsströme gehören.698 Ihr fragmentarischer Charakter macht die Zuordnung zu einer «quasi-authorial voice that reads the poem in our head and that the writer strives to incarnate on the page» unmöglich:699 La mère de la concierge et la concierge laisseront tout passer Si tu es un hommes tu m’accompagneras ce soir Il suffirait qu’un type maintînt la porte cochère Pendant que l’autre monterait Trois becs de gaz allumés La patronne est poitrinaire Quand tu auras fini nous jouerons une partie de jacquet Un chef d’orchestre qui a mal à la gorge Quand tu viendras à Tunis je te ferai fumer du kief Ça a l’air de rimer Des piles de soucoupes des fleurs un calendrier Pim pam pim Je dois fiche près de 300 francs à ma probloque Je préférerais me couper le parfaitement que de les lui donner700

Wie in ‘Les fenêtres’ ist auch hier nicht erkennbar, ob es sich um Beobachtungen, Erinnerungs-, Gedanken- oder Gesprächsfetzen handelt. In dieser Verwischung der Perspektiven, «der Grenzen zwischen innen und außen»,701 von Nah und Fern sowie Gegenwart und Vergangenheit zeigt sich wieder das sich in der zeigt, die Veränderung der Reihenfolge in ‘Les fenêtres’ habe keinen Einfluss auf das Verständnis. Philippe Renaud: Lecture d’Apollinaire, S. 354 f. 697 Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 60. 698 Vgl. Lucien Dällenbach: Das Bruchstück und der Reim. Zu Apollinaires Lundi rue Christine, einem angeblichen ‘Konversationsgedicht’. 699 Timothy Mathews: Reading Apollinaire. Theories of poetic language, S. 127. 700 Guillaume Apollinaire: ‘Lundi rue Christine’ [1913]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 180 ff, hier S. 180. 701 Lucien Dällenbach: Das Bruchstück und der Reim. Zu Apollinaires Lundi rue Christine, einem angeblichen ‘Konversationsgedicht’, S. 299.

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der Simultaneität ausdrückende ungeordnete Raum- und Zeitverständnis, das dem mythischen Denken so nahe kommt und in der Vermittlung von Innenund Außenwelt erkennbar ist. Die Überlagerung verschiedener Gedanken- oder Gesprächsausschnitte in ‘Lundi rue Christine’ ist auch ein Beispiel dafür, dass neben der Simultaneität durch Erinnerung auch die Erfahrung einer ‘rein gegenwärtigen’ Simultaneität in Apollinaires Gedichten präsentiert wird. Die Konversationsgedichte sind ein Versuch, die Linearität der Sprache, die symbolisch für eine chronologische Sukzession der Zeit steht, zu umgehen. Für Bohn stellt daher das Kalligramm eine Weiterentwicklung von Apollinaires Konversationsgedichten dar: «The change in emphasis from the mind to the eye, from simultaneous conception to simultaneous perception, was a rather large step.»702 Inhalt und Form sind in den ideogrammatischen Gedichten derart miteinander verschmolzen, dass es unmöglich ist, bei der Änderung der Wortanordnung den Sinn der Mitteilung aufrechtzuerhalten – das Gedicht muss in seiner Totalität verstanden werden. Der Betrachter ist dazu gezwungen, sowohl das Lesals auch das Sichtbare zu erfassen. Das Gedicht kann, trotz der der Sprache inhärenten Sukzessivität, nicht linear erfasst werden.703 Damit ist das Kalligramm auch eine Weiterentwicklung der von den Futuristen in den ‘parole in libertà’ eingeführten anti-diskursiven Strukturen.704 Die typographischen Experimente haben bereits bei Marinetti ihr Vorbild in der bildenden Kunst, denn mit seinem «lirismo multilineo», möchte er «quella simultaneità lirica» erreichen, welche bereits die «pittori futuristi» vehement anstrebten.705 Simultaneität und futuristischer Geschwindigkeitsrausch Apollinaire erkennt die bedeutende Rolle, die die Futuristen in der Entwicklung des Simultaneitäts-Gedankens einnehmen, an. Wie er in der Polemik um ihr Ur-

702 Willard Bohn: Circular Poem-Paintings by Apollinaire and Carrà, S. 257, Hervorhebungen im Original. Dieser Auffassung ist auch Laurence Campa: «les calligrammes comportent une dimension supplémentaire, le son. Ils articulent l’espace et le temps: espace de la page, du dessin; temps de la lecture, de l’observation de la figure; présent de la tentative, avenir de la recherche. Ils sont une tentative de simultanéité.» Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 60. 703 «But the poems are not seen to the exclusion of being read, and their readings undermines their immediate visual impact. It is a uniquely expressive form of reading, non-linear, but accompanied by the sense of linearity produced by continuity itself; it has no contours, but it has the ‘form’ of the words themselves and their visual presence.» Timothy Mathews: Reading Apollinaire. Theories of poetic language, S. 164. 704 Vgl. ebda., S. 168. 705 Filippo Tommaso Marinetti: Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà. In: MTI, S. 78. Hervorhebung im Original.

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heberrecht deutlich macht, wurde die Technik der Simultaneität weitreichend von Marinetti und dem Futurismus geprägt: «Marinetti, lequel, d’ailleurs, dans un de ces manifestes, a indiqué, en tout cas, avant M. Barzun, la possibilité de la simultanéité impressive.»706 Apollinaire könnte damit auch das Vorwort des Katalogs zu der futuristischen Ausstellung vom 5. Februar 1912 meinen, das er in einem weiteren Artikel um den Streit zitiert: «La simultanéité des états d’âme dans l’œuvre d’art, voilà le but enivrant de notre art.»707 In ‘La tecnica della nuova poesia’ macht Marinetti deutlich, mit den tavole parolibere solle die narrative, chronologische Ordnung der Zeit durchbrochen werden: «Le nostre tavole parolibere, invece, [...] non contengono più la successione narrativa ma la poliespressione simultanea del mondo.»708 An das nicht-sukzessive Zeitverständnis des mythischen Denkens erinnert auch Sofficis Beschreibung von Simultaneität, in der er sich des semantischen Felds des ‘Netzes’ bedient. So spricht er von Bildern, die in einem «nesso sintetico, metalogico» zusammenkommen, und von einer «intersecazione asintattica di membri lirici».709 Das Werk beschreibt er als ein Gewebe von Empfindungen, deren Knotenpunkt der Künstler sei.710 Sein eigenes dichterisches Konzept, die «Chimismi lirici», beschreibt Soffici als ein Netz, als «una rete d’emozioni multiple nello spirito, di scientifismi, cromatismi, musicalità discordi, nostalgiche, prosaicismi, e illuminazioni metafisiche.»711 Alles sei miteinander verbunden und stehe in Beziehung zueinander: «Tutto ciò legato con intuitiva magia in un’atmosfera unica fantastica; come tutte le cose dell’universo sono immerse nello spazio e nella durata, eterni.»712 Als ein solches Gewebe, in dem sich alle Zeiten und Orte kreuzen, beschreibt Soffici in seinem Gedicht ‘Firenze’ die Stadt Florenz und stellt sie als Herberge für die Poesie dar: A Firenze per tutte le vie, A tutte le ore S’incrociano le avventure del mondo: Il ‘Messaggero’ di Roma arrivato ora Ed il vento Che batte l’occhio giallo dell’orologio della stazione,

706 Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme. In: PrII, S. 977. 707 Guillaume Apollinaire: À propos de la poésie nouvelle. In: PrII, S. 980. 708 Filippo Tommaso Marinetti: La tecnica della nuova poesia. In: MTI, S. 212. 709 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. 710 Zur Struktur des Netzes siehe auch die Kapitel III.1.1 ‘Kausalität als Netzstruktur’, III.2.2.3 Bildmetamorphosen und Bildketten: Die Beziehung zwischen den Dingen und III.3.3.1 ‘Nichtsukzessives Zeitverständnis’ der vorliegenden Arbeit. 711 Ebda., S. 735. 712 Ebda.

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Entrano dalle persiane aperte E gonfiano tutti gli hangars multicolori Della poesia.713

Auch die Charakterisierung des simultanen Kunstwerks als «flusso di sensazioni, [...] senza quadro»714 erinnert an Cassirers Charakterisierung des mythischen Denkens, nach der es keine Ordnung in einen Vorder- und Hintergrund gebe, sondern alles ineinanderläuft. Neumann bewertet die Simultaneitätserfahrungen in der futuristischen Lyrik als Ausdruck eines Geschwindigkeitsrausches: Die Schnelligkeit, mit der sie etwa durch die drahtlose Telegraphie fernste Punkte der Erde erreichten, gab ihnen das Gefühl, gleichzeitig an verschiedenen Punkten anwesend sein zu können. Sie wurde idealisiert zu einer absoluten Größe, die Raum und Zeit aufhob. Verschiedene Gemütszustände, Wahrnehmungen, Perspektiven wurden, statt in geordneter Folge, simultan dargestellt.715

Im Gegensatz zu Apollinaire stehe die Simultaneitätserfahrung der Futuristen nicht im Zeichen einer metaphysischen Suche: «Die Reise selbst hat bei ihnen [den Futuristen] den Charakter der Suche verloren, sie birgt das Ziel bereits in sich.»716 In ähnlicher Weise sieht auch Campa eine Distanz Apollinaires in Hinblick auf das futuristischem Bestreben nach Geschwindigkeit, trotz eines gemeinsamen Interesses an der Simultaneität.717 Neumann und Campa scheinen dabei Apollinaires eigene Auffassung zu übernehmen, denn tatsächlich sieht Apollinaire die ‘parole in libertà’ als Ausdruck eines knappen, telegraphischen Stils, der, bis auf die erhöhte Geschwindigkeit, nicht viel ändern würde und zudem sehr unnatürlich wäre, wie er in ‘Nos amis les futuristes’ schreibt: Les mots en liberté, eux, peuvent bouleverser les syntaxes, les rendre plus solubles, plus brèves; ils peuvent généraliser l’emploi du style télégraphique. Mais quant à l’esprit même, au sens intime et moderne et sublime de la poésie, rien de changé, sinon qu’il y a plus de rapidité, plus de facettes descriptibles et décrites.718

Bezieht man die Ausführungen des Futuristen Soffici mit ein, ergibt sich jedoch ein komplexeres Bild der futuristischen Simultaneität. Angesichts von Sofficis Rhetorik 713 Ardengo Soffici: ‘Firenze’. In: ders.: BÏF§ZF + 18. Simultaneità e Chimismi lirici [1915]. In: SOIV, S. 721–724, hier S. 724. 714 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. 715 Volker Neumann: Die Zeit bei Guillaume Apollinaire, S. 149. 716 Ebda., S. 151. 717 Vgl. Laurence Campa: L’esthétique d’Apollinaire, S. 97 f. 718 Guillaume Apollinaire: Nos amis les futuristes. In: PrII, S. 971.

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der ‘metaphysischen Erleuchtungen’ ist Neumanns Gegenüberstellung der futuristischen und der apollinaireschen Simultaneität nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Auch wenn sie bei den Futuristen stärker mit einer Reflexion über Möglichkeiten der neuen Technik einhergeht und dieser Aspekt von Neumann als «vordergründigere Erfahrung» gewertet wird, sieht er durchaus Überschneidungen und eine «Synthese» der Simultaneitätskonzepte.719 Den futuristischen und den apollinaireschen Simultaneitätserfahrungen sei gemein, dass es sich um eine rauschartige Erfahrung, um eine ekstatische «Vereinigung des Menschen mit dem Universum» handelt, die bei Neumann, aber auch bei Meter als eine Augenblickserfahrung dargestellt wird.720 Jedoch verkennt Neumann in seiner Gegenüberstellung von Apollinaires Simultaneität mit der futuristischen, dass sich auch in diesem Wunsch nach Ekstase letztlich ein metaphysischer Wunsch nach einer Erfahrung ausdrückt, in der alle disparaten Wirklichkeitsfragmente in einem Moment in ihrer Gleichzeitigkeit vom Individuum gebündelt erfahren werden – dafür spricht zumindest Sofficis Forderung, der Dichter müsse sich für die Simultaneitätserfahrung als «centro mobile dell’universo»721 setzen. Auch Meter präzisiert, die Simultaneität gestalte sich bei Soffici als eine metaphysische Augenblickserfahrung, die als ein ungeordneter, synthetischer Bilderstrom erscheint, der «diachronisch wirksam und in erster Linie dazu geeignet [ist], einem präzisen Ich-Subjekt zur vollen Bewußtwerdung seiner selbst zu verhelfen.»722 Er kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, die Simultaneität in der futuristischen Lyrik sowie bei Apollinaire stelle sich als eine solche Epiphanieerfahrung dar und sei aus diesem Grund nicht zeitlich-zivilisationsgeschichtlich, sondern qualitativ zu verstehen.723 Damit ist die Simultaneität weniger eine zeitgeschichtliche Reflexion auf das moderne Zeitalter, als gemeinhin angenommen wird.

719 Volker Neumann: Die Zeit bei Guillaume Apollinaire, S. 150. 720 Ebda., Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 99 und S. 107. 721 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 734. 722 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 85 ff. 723 Ebda., S. 84.

IV Mythos und Moderne In diesem letzten Kapitel gilt es, sich einem Thema zuzuwenden, das sich zuvor immer wieder angedeutet hat: der Frage nach der Subjektkonzeption im mythischen Denken und in den lyrischen Texten. Dabei bietet sich auch die Gelegenheit, über die Funktion der Poetik des mythischen Denkens Bilanz zu ziehen, denn in der Subjektgestaltung verbirgt sich eine metapoetische Aussage über die eigene Rolle als Dichter. In dieser Selbstreflexivität der Gedichte zeigt sich auch deutlich, dass das mythische Denken von den Dichtern als Modus gebraucht wird und sie keine wahrhaft mythischen Subjekte sind. Die Selbstreflexivität ist die deutlichste Schranke, welche die Dichter vom mythischen Denken trennt und durch die ihre Gedichte ihre unwiderrufliche Modernität offenbaren. Sie führt zu der abschließenden Frage, inwiefern die Ästhetik des mythischen Denkens eine Gegenreaktion auf das moderne Leben ist.

1 Das mythische und das moderne Subjekt 1.1 Subjektkonstitution, Identitätssuche und mythisches Einheitsgefühl Es zeigte sich, dass die Wirklichkeit für Apollinaire als ständig im Wandel begriffen und daher schwer zu fassen ist.1 Auch in der daraus resultierenden instabilen IchKonstitution zeichnet sich eine Übereinstimmung im mythischen Denken ab: Die Seele ist im mythischen Bewusstsein nicht als Substanz zu verstehen, die eine unveränderlich gegebene Größe darstellt. Hingegen ist sie «ein flüssiges und bildsames, ein wandlungsfähiges und gestaltungsfähiges Element» und damit das Gegenteil der geläufigen Vorstellung von Ewigkeit, Gleichförmigkeit und Immaterialität.2 Der Mythos hat noch keinen Begriff von einem stabilen, gleichbleibenden Selbst, das Ich fungiert noch nicht als funktionelle Einheit. So ist in indigenen Kulturen die Vorstellung verbreitet, dass die Person bei einem Übertritt von einer Lebenszeit zur nächsten oder durch ein bestimmtes Ereignis eine neue Seele, ein neues Ich erhält.3 Außerdem ist es möglich, dass eine Person mehrere Seelen besitzt, oder dass eine Seele, in der Art eines Dämons, an verschiedenen Personen teilhat.4

1 2 3 4

Vgl. das Kapitel III.2.1.1 ‘Prozesshaftigkeit und Variabilität’ der vorliegenden Arbeit. MD, S. 182. Vgl. ebda., S. 193. Vgl. ebda., S. 191 und S. 194.

https://doi.org/10.1515/9783110736267-004

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In verschiedene ‘Seelen’ gespalten und instabil erscheint das lyrische Ich häufig in Apollinaires Gedichten, was sich am deutlichsten in der Aufspaltung des lyrischen Subjekts in mehrere Sprecherinstanzen äußert.5 Vor allem die besprochenen Gedichte ‘Zone’ und ‘Cortège’ gelten als paradigmatische Beispiele.6 Der Sprecherwechsel korreliert mit einem Bruch in der Linearität der Erzählzeit. Diese verschiedenen Sprecherinstanzen verweisen auf die verschiedenen Identitäten des Ichs zu verschiedenen Zeitpunkten in Vergangenheit und Gegenwart, die nun alle simultan auf einer Ebene erscheinen. Das lyrische Ich ist sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst – gleichzeitig begleiten es auch die vergangenen Identitäten bis in die Gegenwart.7 Zwar kann Apollinaire, wie Meter es in Anlehnung an kubistische Verfahren ausdrückt, «sein lyrisches Ich unter vielfältigen Blickwinkeln» erfassen,8 doch verweist der Sprecherwechsel gerade auf die Schwierigkeit, sich selbst als Ganzes in seiner Totalität zu erfassen. Nur eine ewige Gegenwart würde die Beständigkeit des Ichs gewähren, denn das vergehende Leben «se résume à une continuelle dissociation de soi avec soi, une quête impossible de l’identité.»9 Auch Apollinaires Gedichte ‘Merveille de guerre’ und ‘Les fenêtres’ reflektieren das Problem der vollständigen Selbsterkenntnis und ihrer Darstellung in einem Selbstbildnis. Das Subjekt erfährt sich selbst immer vielfältiger, als darstellbar ist, und vereint die verschiedenen Versionen des Selbst aus der Vergangenheit und die möglichen Selbstentwürfe der Zukunft.10 Anders als im mythischen Denken erscheint die Variabilität und Instabilität der eigenen Identität bei Apollinaire oft problematisch und fördert eine Identitätskrise zutage, welche in den Gedichten, die als Autoporträt angelegt sind, besonders

5 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 10. Dazu u. a. auch Anna Whiteside: Moi, toi, and Apollinaire. In: Romanic Review 77, 2 (1986), S. 131–140, KarlAlfred Blüher: Das ‘lyrische Du’ in der Dichtung der Moderne. Modellanalysen zu Baudelaire, Apollinaire und Éluard. In: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: Wilhelm Fink Verlag 1982, S. 113–143. Und: Saul Scott: A Zone is a Zone is a Zone. The Repeated Unsettlement of Guillaume Apollinaire. In: Stamos Metzidakis (Hg.): Understanding French poetry: essays for a new millennium. New York [u. a.]: Garland 1994, S. 155–176. 6 Siehe das Kapitel ‘III.3.3.3 Präsenz und Augenblick’ der vorliegenden Arbeit. 7 Z.B. in ‘Zone’: «C’est toujours près de toi cette image qui passe». In: Po, S. 42. 8 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 249. 9 Michel Décaudin: Alcools de Guillaume Apollinaire, S. 83. 10 Vgl. Catherine Moore/Anna Saint-Léger Lucas: Questions de perspectives dans Merveille de la guerre et Les fenêtres. In: Michel Décaudin (Hg.): Apollinaire et le portrait. Paris/Caen: Minard 2001, S. 175–191, hier S. 176.

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deutlich in einen metapoetischen Kontext gestellt wird. Das Bestreben, sich in seiner Lyrik festzuhalten, deutet sich in ‘Merveille de la guerre’ an: Je lègue à l’avenir l’histoire de Guillaume Apollinaire Qui fut à la guerre et sut être partout11

Die Vorstellung des eigenen Daseins als Geschichte kommt einer Selbstobjektivierung gleich, die an ‘Cortège’ erinnert, wo sich das lyrische Ich mit seinem eigenen Namen «Guillaume» und mit dem Personalpronomen «tu» anredet. Diese Selbstobjektivierung dient nicht zuletzt als Mittel einer Selbstsuche. So steht die Frage, wer er sei, im Mittelpunkt des Gedichts: Un jour je m’attendais moi-même Je me disais Guillaume il est temps que tu viennes Pour que je sache enfin celui-là que je suis12

Will das Ich sich selbst erkennen, also in sich hineinschauen, so muss es sich paradoxerweise immer zum Objekt machen, indem es von außen auf sich selber schaut.13 Eine Außensicht auf sich selbst macht eine Selbstobjektivierung notwendig, «in einem gewissen Ausmaß auch Selbstverleugnung».14 Ähnliches lässt sich auch am Gedicht ‘A la Santé’ beobachten, wo die Instanz des «nous» hinzukommt: Avant d’entrer dans ma cellule Il a fallu me mettre nu Et quelle voix sinistre ulule Guillaume qu’es-tu devenu [...] Nous sommes seuls dans ma cellule Belle clarté Chère raison15

Auch hier steht die Selbstobjektivierung im Zusammenhang mit der Frage nach der eigenen Identität («qu’es-tu devenu»). Auf ähnliche Weise erkennt sich das

11 Guillaume Apollinaire ‘Merveille de la guerre’. In: Po, S. 272. 12 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 74. Siehe das Kapitel ‘III.3.3.3 Präsenz und Augenblick’ der vorliegenden Arbeit. 13 Vgl. Richard Howard Stamelman: The Drama of Self in Guillaume Apollinaire’s Alcools, S. 46. 14 Helmut Meter: Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire. Zum Verhältnis von «je», «tu» und «il» in ausgewählten Gedichten. In: Simona Bartoli Kucher/Dorothea Böhme u. a. (Hg.): Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima. Tübingen: Francke Verlag 2011, S. 203–220, hier S. 214. 15 Guillaume Apollinaire: ‘A la Santé’. In: ders.: Alcools [1913]. In: Po, S. 140–145, hier S. 140 und S. 145.

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lyrische Ich in Reverdys ‘Au saut du rêve’ nicht wieder. Selbstobjektivierend betrachtet es sich bei seiner eigenen Beerdigung: De mes doigts morts je cherche les contours de ton visage Qu’as-tu fait de tes yeux de ton front blanc sous tes cheveux Je ne peux plus reconstituer ton image16

Im Kapitel III.2.2.1 ‘Masken und Polymorphien’ konnte ähnliches auch im Zusammenhang mit weiteren Gedichten von Cendrars und Reverdy festgestellt werden. In der Forschung wird diese Suche nach sich selbst als ein zentrales Thema in Apollinaires Lyrik herausgearbeitet. Décaudin erklärt, Alcools baue thematisch «autour de l’interrogation sur soi et sur l’identité»17 auf. Helmut Meter schließt sich dieser Erkenntnis an: «So finden wir insgesamt [bei Apollinaire] ein Ich, das von sich selbst abrückt, sich im Zuge dessen dann aber wieder sucht und zumeist auch findet.»18 Stamelman widmet diesem Thema eine Monographie, denn auch er ist der Auffassung, dass [t]he search for self and identity is the major concern of Guillaume Apollinaire’s poetry in Alcools (1913) and in Calligrammes (1918). Throughout these collections Apollinaire strives first to find, then to identify and, finally, to know his elusive, multiple, and protean self.19

Peter Read bezeichnet die «incertitude concernant sa propre identité»20 als einen fundamentalen Aspekt von Apollinaires Lyrik. Die Identitätssuche wird dabei nicht selten als ein Symptom der Moderne gewertet, das mit dem Verschwimmen der Grenzen durch den technischen Fortschritt und das Infragestellen von Traditionen und Werten des christlichen Glaubens einhergeht, wie das Gedicht ‘Zone’ exemplarisch demonstriert.21 Es mögen auch biographische Besonderheiten Apollinaires, wie seine ‘unklare’ Herkunft und sein kosmopolitischer Blick, den er sich bei vielen Reisen durch Europa aneignete, weitere Gründe für die dichterische Auseinandersetzung mit der Situation des modernen, in seiner Identität bedrohten Subjekts liefern.22 16 Pierre Reverdy: ‘Au saut du rêve’. In: ROCII, S. 413. 17 Michel Décaudin: Alcools de Guillaume Apollinaire, S. 94. 18 Helmut Meter: Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire. Zum Verhältnis von «je», «tu» und «il» in ausgewählten Gedichten, S. 214. 19 Richard Howard Stamelman: The Drama of Self in Guillaume Apollinaire’s Alcools, S. 13. 20 Peter Read: Un ange dans le miroir: Reflets et vérité dans l’esthétique d’Apollinaire, S. 70. 21 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 8 f. 22 Vgl. Willard Bohn: Reading Apollinaire’s Alcools. Newark: University of Delaware Press 2017, S. 156 und Laurent Fourcaut: Alcools de Guillaume Apollinaire. Je est plein d’autres, remembrement et polyphonie. Paris: Calliopées 2015, S. 36 ff.

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Wesentlich ist jedoch, dass die Identitätsproblematik immer in einem metapoetischen Kontext steht. Das Thema des Selbstporträts trat auch bei der Analyse von ‘Cœur couronne et miroir’ deutlich hervor («Dans ce miroir je suis enclos vivant»).23 Ein ausformuliertes Selbstbildnis findet sich in ‘La jolie rousse’, wo sich Apollinaire selbst beschreibt und damit ein Bild von sich selbst und seine «histoire» festhält: Me voici devant tous un homme plein de sens Connaissant de la vie et de la mort ce qu’un vivant peut connaître Ayant éprouvé les douleurs et les joies de l’amour Ayant su quelquefois imposer ses idées Connaissant plusieurs langages Ayant pas mal voyagé Ayant vu la guerre dans l’Artillerie et l’Infanterie Blessé à la tête trépané sous le chloroforme Ayant perdu ses meilleurs amis dans l’effroyable lutte Je sais d’ancien et de nouveau autant qu’un homme seul pourrait des deux savoir24

Die selbstdefinitorische Bewegung steht hier im Zusammenhang mit mehreren Abgrenzungsmomenten. So präsentiert sich Apollinaire «devant tous», anstatt sich «parmi tous» zu befinden. Die scharfe Grenze zwischen sich selbst und den Anderen äußert sich auch am Ende des Gedichts in der Sorge, ausgelacht zu werden, und in dem Gefühl, nicht alles sagen zu können.25 Ein Selbst kann sich erst durch eine Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt herausbilden. So wie bei allen symbolischen Formen stellt auch die Leistung des Mythos die Vermittlung von Innen- und Außenwelt, von Ich und Wirklichkeit dar, deren Grenzen nicht festgelegt, sondern erst durch die symbolische Form selbst gesetzt werden.26 Im Mythos hat das Subjekt zur Objektwelt in erster Stufe zunächst eine affektive Beziehung, die Außenwelt ‘wirkt’ auf es ein. Das Bewusstsein ist in diesem Stadium komplett augenblicksgebunden: Wo dieses Bewußtsein noch ganz im Augenblick gebunden und von ihm ausschließlich beherrscht ist, wo es jeder momentanen Regung und Erregung schlechthin unterliegt und sich ihr gefangen gibt – da sind auch die Götter in dieser bloß sinnlichen Gegenwart, in dieser einen Dimension des Augenblicks beschlossen.27

23 24 25 26 27

Vgl. das Kapitel II.2.4 ‘Abstraktion’ der vorliegenden Arbeit. Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 313. Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 314. MD, S. 182. Ebda., S. 255.

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Diesen Prozess der affektiven Objektivierung beschreibt Cassirer damit, dass sich aus «dieser Unbestimmtheit des Gefühls […] nur einzelne Eindrücke heraus [lösen], die sich durch ihre besondere Intensität, durch ihre Stärke und Eindringlichkeit von dem gemeinsamen Hintergrund abheben.»28 Auch hier macht Cassirer die Augenblicksstruktur deutlich, indem er diese «Gebilde» als Resultate einer «einmaligen, vielleicht niemals gleichartig wiederkehrenden Bewußtseinslage, aus einer momentanen Spannung oder Entspannung des Bewußtseins»29 beschreibt. In diesen Momenten werden sogenannte «Augenblicksgötter» geschaffen, die Ausdruck für die unbestimmbare und elementare Gewalt des Sinneseindrucks sind.30 Wie sich im Kapitel III.3.3.3 ‘Präsenz und Augenblick’ zeigte, gibt es auch hier eine Übereinstimmung zwischen der Konstitution des Subjekts im mythischen Denken und der Dichtung der frühen Avantgarde. Besonders der futuristische Augenblicksrausch, die «facoltà rarissima di inebbriarsi della vita e di inebbriarla di noi stessi»31 entspricht in einigen Teilen dem ‘frühen’ Stadium der Subjektentwicklung, bei der es noch zu keiner funktionellen Trennung von Subjekt und Objektwelt gekommen ist. Der futuristische Dichter ist mit einer Allmacht ausgestattet und betrachtet die Wirklichkeit wie im magisch-mythischen Bewusstsein aus der Herrschaft des eigenen Ichs. Der Mensch wird ins Zentrum gesetzt: In der Kunst ins Zentrum des Bildes – Noi porremo lo spettatore nel centro del quadro.32 – in der Lyrik ist er das Zentrum der Wahrnehmung: Le parole in libertà sono un nuovo modo di vedere l’universo, una valutazione essenziale dell’universo come somma di forze in moto che s’intersecano al traguardo cosciente del nostro io creatore, e vengono simultaneamente notate con tutti i mezzi espressivi che sono a nostra disposizione.33

Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von einem «gesteigertem Selbstgefühl» und einer «Hypertrophie des Wirkens», die jedoch nur Zeichen dafür sind, «daß es zu einem eigentlichen Selbst hier noch nicht gekommen ist», denn das «Ich gelangt erst dadurch zu sich selbst, daß es diese Grenze für sich setzt, daß es somit die unbedingte Kausalität, die es sich anfangs gegenüber der Welt der

28 Ebda., S. 236. 29 Ebda. 30 Ebda. 31 Filippo Tommaso Marinetti: Introduzione a ‘I nuovi poeti futuristi’. In: MTI, S. 188. 32 Umberto Boccioni/Carlo Dalmazzo Carrà/Luigi Russolo/Gino Severini/Giacomo Balla: La pittura futurista. Manifesto tecnico. 33 Filippo Tommaso Marinetti: Introduzione a ‘I nuovi poeti futuristi’. In: MTI, S. 187 f.

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Dinge zuschrieb, sukzessiv einschränkt.»34 Eine solche Hypertrophie des Ichs scheint Marinetti vorzuschweben, wenn er das lyrische Ich abschaffen möchte: Il giorno in cui sarà possibile all’uomo di esteriorizzare la sua volontà in modo che essa si prolunghi fuori di lui come un immenso braccio invisibile il Sogno e il Desiderio, che oggi sono vane parole, regneranno sovrani sullo Spazio e sul tempo domati.35

Während Marinetti das lyrische Ich eliminieren möchte, bleibt dieses bei Apollinaire und Soffici hartnäckig bestehen36 – wie sich nicht zuletzt in ‘La jolie rousse’ deutlich abzeichnet. Auch ‘Merveille de la guerre’ endet mit der Betonung der eigenen Identität trotz der Fähigkeit zur Ubiquität: «Car si je suis partout à cette heure il n’y a cependant que moi qui suis en moi».37 Wenn Verschmelzungen und Transformationen bei Soffici ähnlich wie bei Apollinaire von einem zeitweilig instabilen, sich immerzu wechselnden Ich zeugen, so ist damit nicht gesagt, «daß keine Einheit der Person mehr besteht oder daß sich diese nur nach Maßgabe materieller Faktoren der Außenwelt definiert. Der volto sempre nuovo entspricht dem Teilstück einer Summe und kann nicht jeweils absolut begriffen werden.»38 Es gibt noch ein einheitliches ‘ordnendes’ Subjekt, auch wenn es instabil ist. Hier zeichnet sich auch ein Bruch mit dem mythischen Erlebnisrausch ab: Selbst dann, wenn das Ich sich in seiner Sinnlichkeit und Variabilität erfährt, bedeutet dies für Apollinaire keine vollständige Auflösung in den mythisch-sinnlichen Augenblick. Eine solche würde, wie in der Mystik, zu einer Auflösung des Subjekts führen, es würde sich als ganz in Einheit mit der Welt erfahren können. Diese vollständige Einheit ist ihm in ‘Merveille de la guerre’ versagt: Et ce serait sans doute bien plus beau Si je pouvais supposer que toutes ces choses dans lesquelles je suis partout Pouvaient m’occuper aussi Mais dans ce sens il n’y a rien de fait Car si je suis partout à cette heure il n’y a cependant que moi qui suis en moi39

Ebenso scheitert die Symbiose mit den Anderen, das lyrische Ich wird in ‘La jolie rousse’ ausgelacht, während es sein Innerstes mit seinen Zuhörern bzw. Lesern teilt.

34 MD, S. 184. 35 Filippo Tommaso Marinetti: L’uomo moltiplicato e il Regno della macchina. In: MTI, S. 299. 36 Vgl. Mila Milani: Soffici & Apollinaire: Chimismi, Alcools, Simultaneità and Calligrammes between Futurism and Orphism. In: Bevin Doyle/Brigitte Le Juez (Hg.): Proceedings of the 1st International Postgraduate Symposium. Dublin City University 2008, S. 6–18, hier S. 13. 37 Guillaume Apollinaire: ‘Merveille de la guerre’. In: Po, S. 272. 38 Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 95. 39 Guillaume Apollinaire: ‘Merveille de la guerre’. In: Po, S. 272.

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1.2 Schöpferische Bewältigung: Divinisierung Auf einer späteren Stufe versucht auch der Mythos wie das empirische Denken «die Isolierung des unmittelbar Gegebenen zu überwinden – zu begreifen, wie alles Einzelne und Besondere sich ‘zum Ganzen webt’.»40 Das mythische Bewusstsein ist dem sinnlichen Eindruck nicht unmittelbar ausgeliefert, sondern in der Lage, den Dingen, die zuvor in einer singulären unmittelbaren Erfahrung wahrgenommen wurden, eine Form zu geben. Zunächst geschieht dies dadurch, dass bestimmten Sachverhalten ein besonderer Akzent verliehen wird: «Durch diesen Akzent wird die Gesamtheit des Seins und Geschehens in eine mythisch bedeutsame und eine mythisch irrelevante Sphäre, in das, was das mythische Interesse erregt und fesselt und in das, was dieses Interesse relativ gleichgültig läßt, zerlegt.»41 Dadurch vollzieht sich laut Cassirer eine «Ur-Teilung» in das Heilige und das Profane.42 Der Mythos geht durch die Formung des Heiligen über die bloße sinnliche Erregung hinaus; «indem auf diese Weise die sinnliche Erregung zum erstenmal einen Ausweg und einen Ausdruck sucht, steht der Mensch damit an der Schwelle einer neuen Geistigkeit.»43 In einer zweiten Stufe gelangt das mythische Bewusstsein aus dem Zustand der Reaktion in den Zustand der Aktion. Das bedeutet, dass es «sein Verhältnis zur Natur nicht mehr durch das Medium des bloßen Eindrucks, sondern durch das Medium des eigenen Tuns sieht.»44 In dieser Stufe werden bestimmte Handlungen mit der Schaffung von «Tätigkeitsgöttern» vergöttlicht.45 Der Mythos geht hier vom Zustand des Naturmythos zu dem des Kulturmythos über, bei dem es nicht mehr um den Ursprung der Welt geht, sondern um den Ursprung menschlicher Kulturgüter wie bestimmter Werkzeuge oder des Feuers. Dieser Tätigkeitsgott vermittelt zwischen dem Ich und der Welt. Erst durch die Vermittlung können Objekt und Subjekt einen eigenen Wert entwickeln. Wo dieser noch fehlt, sind sie, kaum unterscheidbar, ein einziger Wirkungskreis. Wenn sich dieser Tätigkeitsgott zu einem persönlichen Gott entwickelt, erreicht der Mensch eine noch höhere Stufe der Subjektivität, denn «das Ich, das eigentliche ‘Selbst’ des Menschen findet sich erst auf dem Umweg über das göttliche Ich.»46 Der Kult scheint wie die anderen symbolischen Formen zum Prozess der Identitätsbildung beizutragen, wie alle anderen geistigen

40 MD, S. 94 f. 41 Ebda., S. 92. 42 Vgl. ebda., S. 94. 43 Ebda., S. 93. Hervorhebung im Original. 44 Ebda., S. 237. 45 Vgl. ebda., S. 238 f. 46 Ebda., S. 241.

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Ausdrucksformen findet das Ich durch seine Entäußerung, durch seine Projektion nach außen zu sich selbst.47 Wie sich zeigte, stellt sich das lyrische Subjekt analog dazu trotz der erfahrenen Augenblicksfülle nicht nur als Empfangsstation dar. Trotz seiner brüchigen Identität gestaltet sich das lyrische Ich bei Apollinaire als proaktive, gottähnliche Einheit: Autour de lui il dispose son univers, à travers les autres, que ce soit des personnages, ses personæ ou des choses, il se constitue démiurge. […] En lui seul se réunissent tous les lieux, tous les temps, le singulier du poète ici présent et le pluriel de ses autres moi, ceux qu’il représente partout ailleurs dans le temps et l’espace.48

So wie ‘Cœur couronne et miroir’ Reminiszenzen einer christlichen Ikonographie enthält, finden sich auch in ‘Cortège’ zahlreiche Motive, die Apollinaire als Gott und Propheten inszenieren: Il me suffit de voir leurs pieds pour pouvoir refaire ces gens à milliers De voir leurs pieds paniques un seul de leurs cheveux Ou leur langue quand il me plaît de faire le médecin Ou leurs enfants quand il me plaît de faire le prophète Les vaisseaux des armateurs la plume de mes confrères La monnaie des aveugles les mains des muets Ou bien encore à cause du vocabulaire et non de l’écriture Une lettre écrite par ceux qui ont plus de vingt ans Il me suffit de sentir l’odeur de leurs églises L’odeur des fleuves dans leurs villes Le parfum des fleurs dans les jardins publics O Corneille Agrippa l’odeur d’un petit chien m’eût suffi Pour décrire exactement tes concitoyens de Cologne Leurs roi-mages et la ribambelle ursuline49

Als könne es die Zukunft prophezeien, schaut sich das lyrische Ich «Guillaume» die Kinder an, um eine Aussage über die kommende Generation treffen zu können. Zudem spricht das lyrische Ich über die Stummen, sodass für den Vers, in dem das lyrische Ich wie ein Arzt die Zungen untersucht, die Deutung naheliegt, dass es sich um eine Anspielung auf Christus handelt, der die Stummen geheilt haben soll.50 Die Verbindung von Wasser und Kirche durch den Geruchssinn

47 Vgl. ebda., S. 260. 48 Catherine Moore/Anna Saint-Léger Lucas: Questions de perspectives dans Merveille de la guerre et Les fenêtres, S. 181. 49 Guillaume Apollinaire: ‘Cortège’. In: Po, S. 75. Siehe auch das Kapitel II.2.5 ‘Unhierarchische Hierarchisierungsstrategien: Alles kann aus allem werden’ der vorliegenden Arbeit. 50 Matthäus 15, 30–31, Die Bibel.

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ließe sich als eine Anspielung auf die Taufe verstehen. Nicht umsonst verbirgt sich in dem Wort «église» auch der Begriff «vaisseau» im Sinne eines ‘Kirchenschiffes’.51 Die Flüsse und die öffentlichen Gärten stellen eine Art modernen Garten Eden dar. Die religiös bedeutende Stadt Köln dient dabei als Verbindungsglied dieser Motive. So gilt der Namenszwilling von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, Marcus Vipsanius Agrippa, neben Marsilius, der römischen Kaiserin Agrippina sowie den Heiligen drei Königen als Patron der Stadt Köln. Auf Kölns Stadtwappen sind die drei Kronen der Heiligen drei Könige und die elf Flammen der Ursula von Köln und ihrer Gefährtinnen, die in Köln den Märtyrertod erlitten haben sollen, dargestellt. Ein ikonografisches Attribut der heiligen Ursula ist passenderweise das Schiff.52 Schließlich gibt sich das lyrische Ich selbst die göttliche Macht, die Anderen auferstehen zu lassen («Il me suffit de tous ceux-là pour me croire le droit/De ressusciter les autres») und erwartet seine eigene Auferstehung («Un jour je m’attendais moi-même/Je me disais Guillaume il est temps que tu viennes»). Die Motive der Auferstehung, die panischen Schritte und die Erwähnung des Propheten lassen sich als Metaphern einer apokalyptischen Stimmung lesen: Apollinaire «inszeniert […] nun sehr deutlich ein eschatologisches Ereignis».53 Krenzel-Zingerle formuliert zu Recht die These, «daß hier der dichterische Akt als apokalyptisches Heilsereignis gefeiert wird.»54 Die religiöse Motivik in ‘Cortège’ steht im Dienste der Ästhetik, die unter dem Motto «se donner le spectacle de sa propre divinité»55 steht. Tatsächlich illustriert das Gedicht, dass die Kunst an die Stelle der Religion getreten ist: Ce qui peut équivaloir aujourd’hui à l’esprit religieux, c’est l’esprit esthétique même, c’est le sentiment de la réalité, c’est-à-dire de la beauté qui se définit elle-même et s’exprime par ces divers éléments dont est composée l’œuvre en dehors de toute imitation de la nature et de la délectation sexuelle qui fut si longtemps avec le sentiment religieux un des fondements de l’esthétique.56

51 Das Motiv des Schiffs ist ebenfalls mit der Dichtung verbunden. Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 82. 52 Heiko Steuer: Das Stadtwappen der Stadt Köln. Köln: Greven Verlag 1981. 53 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 82. 54 Ebda. 55 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 7. 56 Guillaume Apollinaire: La sculpture aujourd’hui. In: PrII, S. 598.

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Das lyrische Subjekt ist den Phänomenen nicht passiv ausgeliefert, sondern bewältigt sie schöpferisch und wird auch selbst als Schöpfer inszeniert.57 Auch Jongeneel beobachtet die Inszenierung einer schöpferischen und über die Welt verfügenden Kraft in Apollinaires Dichtung: «à l’encontre d’autres poètes avantgardistes (tel Marinetti), Apollinaire n’abandonne pas le ‘je lyrique’; il aime se présenter en tant que magicien-poète omniprésent, maître du cosmos.»58 Indem der schöpferische Akt des Dichters mit dem eines Schöpfer-Gottes überblendet wird, der überall und über jede Zeit erhaben gegenwärtig ist, verwandelt Apollinaire in seinen Texten die eigene brüchige, biographische Identität in eine poetische Identität, die allmächtig und zeitlos erscheint. Die Selbstporträts sind somit nicht nur Ausdruck der schöpferischen Bewältigung der eigenen fragilen Identität, sondern gleichzeitig Selbstporträts der Dichtung. Die verschiedenen Sprecherinstanzen verstehen sich als Versionen des einen, dichterischen Ichs, welches sich in der Dichtung und durch die Dichtung konstituiert. Indem er in der Lyrik die Möglichkeit einer reinen, unaufhörlichen Gegenwart verwirklicht sieht, setzt Apollinaire zu der in seiner Dichtung prävalenten Thematik der Vergänglichkeit einen Kontrapunkt.59 Eindeutiger als in den stark verdichteten Gedichten in Alcools und Calligrammes erklärt Apollinaire in einem erstmals 1912 publizierten Gedicht, eine ‘magische’ Eigenschaft der Dichtung sei, dass sie den Dichter unsterblich mache und er damit der Variabilität des Lebens entrinnen könne: Immortalité O mon très cher amour, toi, mon œuvre, et que j’aime, A jamais j’allumai le feu de ton regard, Je t’aime comme j’aime une belle œuvre d’art, Une noble statue, un magique poème. Tu seras, mon aimée, un témoin de moi-même; Je te crée à jamais pour qu’après mon départ Tu transmettes mon nom aux hommes en retard, Toi, la vie et l’amour, ma gloire et mon emblème;

57 Vgl. Helmut Meter: Apollinaire und der Futurismus, S. 94: «Die Modernität wird als künstlerisch zu bewältigen angesehen; der individuelle Schaffensprozess verfügt über die Welt und ist ihr nicht ausgeliefert.» 58 Els Jongeneel: Les combats d’Orphée: la poésie de guerre de Guillaume Apollinaire, S. 6. Vgl. auch Claude Debon: Guillaume Apollinaire après Alcools. I Calligrammes: le poète et la guerre, S. 49. 59 Didier Alexandre sieht darin einen Unterschied zu Baudelaires Moderneverständnis, denn Apollinaire interessiert sich nicht für das Kontingente, Flüchtige: «sa modernité est faite de permanence et d’identité en soi.» Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 23.

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Et je suis soucieux de ta grande beauté Bien plus que tu ne peux toi-même en être fière: C’est moi qui l’ai conçue et faite tout entière. Ainsi, belle œuvre d’art, nos amours ont été Et seront l’ornement du ciel et de la terre, O toi, ma créature et ma divinité!60

In diesem Sonett treten weitere Grundideen aus den Calligrammes hervor. So erinnert die Identifizierung seines Werks mit einer schönen Frau an ‘La jolie rousse’: Et j’attends Pour la suivre toujours la forme noble et douce Qu’elle prend afin que je l’aime seulement Elle vient et m’attire ainsi qu’un fer l’aimant Elle a l’aspect charmant D’une adorable rousse61

Ebenso wird die Idee, das Werk sei ein Zeuge des eigenen Lebens in ‘La jolie rousse’, aber auch in ‘Merveille de la guerre’ bearbeitet. Als ein ‘Emblem’, das den Dichter als unsterblich festhält, ist ‘Cœur couronne et miroir’ gestaltet.62 Apollinaire äußert sich in einem Brief vom 4. August 1916 an Jeanne-Yves Blanc zu seinem Verlangen nach Beständigkeit. Die Dichtung scheint für ihn eine Art Stabilisator in einer als flüchtig empfundenen Zeit zu sein: Je n’ai jamais désiré de quitter pour ma part le lieu où je vivais et j’ai toujours désiré que le présent quel qu’il fût perdurât. Rien ne détermine plus de mélancolie chez moi que cette fuite du temps. Elle est en désaccord si formel avec mon sentiment, mon identité, qu’elle est la source même de ma poésie.63

Wäre es möglich, der Vergänglichkeit der Zeit zu entgehen und in einer ewigen Gegenwart zu existieren, dann würde sich die Identitätsproblematik nicht stellen. Die einzige Chance, der Vergänglichkeit der Zeit zu entkommen, wäre «son abolition dans un éternel présent».64 Häufig gibt es in seinen Selbstinszenierungen daher im-

60 Guillaume Apollinaire: ‘Immortalité’. In: Arthénice: revue mensuelle artistique et littéraire 2, 3 (1912), S. 45. 61 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 314. 62 Siehe das Kapitel II.2.4.2 ‘Konkrete Abstraktionen’ der vorliegenden Arbeit. 63 Guillaume Apollinaire: ‘À Jeanne-Yves Blanc’. In: ders.: Correspondance générale. Band III: 1916–1918. Herausgegeben von Victor Martin-Schmets. Paris: Honoré Champion Éditeur 2015, S. 174. 64 Michel Décaudin: Alcools de Guillaume Apollinaire, S. 86.

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plizite und explizite Anspielungen auf Figuren, die dem Tod entrinnen und unsterblich sind.65 Neben ‘Cortège’ ist ‘Cœur couronne et miroir’ ein weiteres Beispiel dafür, wie die Divinisierungstendenzen des lyrischen Ichs in Apollinaires Dichtung mit der Thematisierung der schöpferischen Fähigkeit des Dichters verzahnt sind. Kunst und Dichtung erscheinen als eine Art Mittel und Ausdruck der eigenen Göttlichkeit. Dies steht im Einklang mit Apollinaires Auffassung, Kunst zu schaffen bedeute, sich seiner eigenen Göttlichkeit hinzugeben. In einer Schlüsselstelle aus den Méditations esthétiques schreibt er: Mais le peintre doit avant tout se donner le spectacle de sa propre divinité et les tableaux qu’il offre à l’admiration des hommes leur conféreront la gloire d’exercer aussi et momentanément leur propre divinité.66

Die Dichtung erscheint als eine Art kultische Handlung, durch die die eigene Göttlichkeit performativ vollzogen und die Instabilität des Selbst aufgehoben wird. In dem Akt einer Gottwerdung lässt sich eine weitere Übereinstimmung mit dem mythischen Bewusstsein feststellen, jedoch, wie sich im Folgenden zeigen wird, auch hier mit Einschränkungen. Zunächst besteht eine Ähnlichkeit darin, von sich selbst ein Porträt mit göttlichen Attributen zu schaffen, wie unter anderem in ‘Cœur couronne et miroir’. Cassirer konstatiert, dass «der Mensch sein eigenes Sein nur soweit erfaßt und erkennt, als er es sich im Bilde seiner Götter sichtbar zu machen vermag».67 Die Dinge und die Götter werden für das Ich zu einer Projektionsfläche, in der es sich selbst als gegenständlich erscheint und anhand derer es sich erkennen kann: Hier gilt nicht sowohl, daß das Ich sich in den Dingen, daß der Mikrokosmos sich im Makrokosmos spiegelt, sondern hier schafft das Ich sich in seinen eigenen Produkten eine Art von ‘Gegenüber’, das ihm als durchaus objektiv, als rein gegenständlich erscheint. Nur in dieser Art der ‘Projektion’ vermag es sich selbst anzuschauen. In diesem Sinne bedeuten auch die Göttergestalten des Mythos nichts anderes als die sukzessiven Selbstoffenbarungen des mythischen Bewußtseins.68

65 Allein in ‘Zone’ findet man mehrere solcher Figuren: Jesus bei seiner Auferstehung («Jésus monte dans l’air») und die biblischen Gestalten «Enoch Elie», die, so sagt man, nie gestorben sind. In: Po, S. 40. Apollinaire war auch von den Sagen um König Artus und Ludwig II. inspiriert, welche der Legende nach in ihr Königreich zurückkehren werden. Es gibt eine Umschreibung Ludwigs II. in ‘La Chanson du Mal-Aimé’ [1909]. In: Guillaume Apollinaire: Alcools [1913]. In: Po, S. 46–59, hier S. 59. Im ‘Musicien de Saint-Merry’ finden sich Anspielungen auf die Figur des Orpheus, der ohne zu sterben in die Unterwelt hinabsteigen durfte. Vgl. Claude Debon: Guillaume Apollinaire après Alcools. I Calligrammes: le poète et la guerre, S. 60. 66 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 7. 67 MD, S. 257. 68 Ebda., S. 255.

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Auch hier gründet der Selbstwerdungsprozess in der gleichzeitigen Bewegung einer Scheidung von Ich und Welt – die Hypertrophie der eigenen Wirkmächtigkeit ist hier schon eingeschränkt und wird einer anderen, vom Individuum unterschiedenen Macht zugeschrieben. Kult, Ritus und Opferungen dienen der Vermittlung zwischen Individuum und Gott.69 Cassirer sieht sie als identitätsstiftende Handlungen. Dabei besteht die Vermittlung vor allem in ‘primitiveren’ Stufen in der Einswerdung, in der Identität, bzw. der «Kommunion», einer Gemeinschaft mit Gott.70 In den Kulthandlungen wird das Individuum in einer szenischen Darstellung zu Gott: «In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubtantiation – eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.»71 Analog erscheint das Gedicht als eine Art Gebet oder Kult, mittels derer sich das poetische Subjekt als göttliches inszeniert und die Brüchigkeit und Vergänglichkeit der eigenen Existenz überwindet.72 Gerade das Oszillieren zwischen einer Identitätskrise und Selbstüberhöhung des Ichs in Apollinaires Dichtungen ist auffällig, beide Bewegungen scheinen sich zu bedingen. Der instabilen Subjektlage sind häufig Divinisierungstendenzen entgegengesetzt, bzw. es wird versucht, die Instabilität mit einer Divinisierung des Subjekts aufzulösen. Die Fragmentierungen des Subjekts, die «kurzzeitig eine ernsthafte Bedrohung seiner Identität signalisieren»73 können, finden ihre Gegenbewegung in der Inszenierung einer göttlichen Perspektive bzw. einer Allgegenwart des lyrischen Ichs.74 Krenzel-Zingerle beobachtet diese beiden Bewegungen auch anhand von ‘Vendémiaire’ und kommt zu dem Schluss, dass die künstlerische Inszenierung eines quasi-göttlichen Ichs ebenso zum schöpferischen Umgang mit der Problematik des modernen Subjekts [gehört] wie die künstlerische Gestaltung der Fragmentierung, der Disparatheit, des Sinnverlusts und der Selbstentfremdung.75

69 Ebda., S. 266. 70 Vgl. ebda., S. 267 f. 71 Ebda., S. 47. 72 Der Gedanke des Gedichts als Gebet oder «Anrufung» findet sich auch in der aktuellen Lyriktheorie, die Heinz Schlaffer vertritt. Schlaffer sieht eine genetische Verwandtschaft der Lyrik zum Gebet sowie anderen magischen Sprechakten. Vgl. Heinz Schlaffer: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica 40 (2008), S. 21–42 und ders.: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München: Carl Hanser Verlag 2012. 73 Helmut Meter: Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire. Zum Verhältnis von «je», «tu» und «il» in ausgewählten Gedichten, S. 217. 74 Vgl. Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 9. 75 Ebda., S. 170.

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Auch im Christentum ist das Ziel des Gebets die «direkte Vereinigung und Verschmelzung des Menschen mit Gott».76 Das Gebet ist eine Art Opferhandlung, in der sich Gott allerdings nicht über etwas Materielles genähert wird, sondern über die Kraft des Wortes. Es hat mit der «Zauberkraft des Wortes» magischen Ursprung.77 Zwar wird durch das Gebet und das Opfer versucht, zwischen Mensch und Gott zu vermitteln, doch eigentlich wird die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen dadurch noch tiefer: «Es bringt den Gegensatz zwischen Gott und Mensch zu immer schärferer Ausprägung, um eben darin die Mittel zu seiner Überwindung zu finden.»78 Das Schwanken des lyrischen Ichs zwischen Megalomanie und Nichtigkeit,79 zwischen Vergänglichkeit und göttlicher Allgegenwärtigkeit wäre als Reflexion auf diese Kluft zu verstehen, das Gedicht als Versuch ihrer Überwindung.

2 Mythischer Bruch 2.1 Mythos als Kompensation für die Moderne? Die Analogie zwischen der Funktion des Gebets im mythischen Denken und des Gedichts als Stabilisator für das brüchige moderne Subjekt wirft die Frage auf, inwiefern die Ästhetik des mythischen Denkens als eine Zuflucht vor der Problematik des modernen Subjekts, das in einer säkularisierten und positivistischen Welt mit einem Sinn- und Identitätsverlust konfrontiert ist, zu deuten ist. Ein Indikator für eine Kompensation der modernen Lebenserfahrung liegt in der Abwendung vom wissenschaftlichen Denken in der Lyrik der Avantgarde.80 Die Divinisierung könnte als eine Abwendung vom «Realismus der Wahrscheinlichkeit» und damit als ein Symptom des von den Künstlern erlebten Konflikts zwischen der wissenschaftlichen, historisierten Weltwahrnehmung und dem poetischen Blick, der von einer disparaten und emotionalen Erfahrung der Welt geprägt ist, verstanden werden. Der «Realismus der Wahrscheinlichkeit» wird laut Blumenberg als eine Verlusterfahrung von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit erlebt, denn: «Es ist unwahrscheinlich, daß in der Wirklichkeit als dem Resultat physischer Prozesse Sinnhaftes auftritt. Deshalb werden ausgeprägte Formen von Unwahrscheinlichkeit zu Indika-

76 MD, S. 270. 77 Ebda. 78 Ebda., S. 271. 79 Dieses Phänomen zeigte sich auch bei Soffici, im Gedicht ‘Aut aut’, vgl. das Kapitel III.2.1.1 ‘Prozesshaftigkeit und Variabilität’ der vorliegenden Arbeit. 80 Siehe das Kapitel II.3 ‘Dekanonisierung: Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild und Befreiung von Institutionen’ der vorliegenden Arbeit.

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tionen auf Sinnhaftigkeit.»81 Die Motive des Turmbaus zu Babel und der vielen Sprachen in ‘Cortège’ sind neben ihrer Deutung als Ausdruck der «Vielfalt der Erfahrungen» und «der Vielfalt dichterischer Sprachen»82 auch ein Bild für den mit der Entzweiung in der Weltwahrnehmung korrelierenden Sinnverlust. Die Rekonstruktion des lyrischen Ichs am Ende von ‘Cortège’ sieht Stierle, wie schon erwähnt, als eine Anspielung auf den Pfingstmythos und damit als ein Bild für die Rekonstruktion von Sinnhaftigkeit, die er trotz aller Modernität als konstitutiv für Apollinaires Werk ansieht: Alles Moderne, was in Zone erscheint, steht im Licht mythischer Perspektiven. Diese aber haben ihre verborgene Achse im Mythos des Turmbaus von Babel als dem Urmythos der Entfremdung und dem Pfingstmythos als dem Mythos der Aufhebung der Entfremdung. [...] Das Ich, das sich in Zone zur Darstellung bringt, ist jenes Ich, das in Cortège gleichsam selbst als ein von Generationen erbauter Turm von Babel erscheint.83

Für Stierle bietet der Mythos bzw. bieten mythische Verfahren somit ein Modell, um den von Blumenberg dargelegten Konflikt ästhetisch zu bewältigen: «Wie zum ästhetischen Gegenstand gehört zu der Bestimmung der Bedeutsamkeit das Heraustreten aus dem diffusen Umfeld der Wahrscheinlichkeiten.»84 Ein weiteres Beispiel dafür, dass sich das wissenschaftliche Denken negativ auf das Erleben von Identität und Sinnhaftigkeit auswirkt, ist der Bruch zwischen der Gegenwartserfahrung im mythischen Denken und der Gegenwartserfahrung des wissenschaftlichen Denkens. Zeit und Raum im physikalischen Sinne sind numerische Werte zugeordnet, wodurch die Besonderheit und Individualität der Orte und Zeitpunkte eliminiert wird. Dadurch werden sie austauschbar und verlieren ihre identitätsstiftende Kraft.85 Man könnte in Abwandlung von Max Webers Formel von der «Entzauberung der Welt» von einer ‘Entzauberung der Zeit’ sprechen. Dagegen ist die Gegenwarts- bzw. Augenblickserfahrung im mythischen Denken reich, denn die Zeit wird hier erfahren und empfunden. Simultaneität und Augenblicksrausch schützen vor der Ernüchterung einer absoluten Moderne, wie sie sich beispielhaft am Ende von Houellebecqs Extension du domaine de la lutte zeigt: Et je ne sais même plus où sont les sources; tout, à présent, se ressemble. [...] Je suis au centre du gouffre. Je ressens ma peau comme une frontière, et le monde extérieur comme un écrasement. L’impression de séparation est totale; je suis désormais prisonnier en moi-

81 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 84 f. 82 Karlheinz Stierle: Babel und Pfingsten. Zur immanenten Poetik von Apollinaires Alcools, S. 71. 83 Ebda., S. 98. 84 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 78. 85 Vgl. MD, S. 140.

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même. Elle n’aura pas lieu, la fusion sublime; le but de la vie est manqué. Il est deux heures de l’après-midi.86

Die Zeit kann von dem namenlosen Protagonisten nicht mehr qualitativ erfahren werden. Sie ist zu einer reinen Ordnungsform, zu einer nüchternen Zeitangabe geworden. Das Subjekt erfährt sich nicht in Einheit mit der Welt, sondern erlebt sich als wurzellos, sein Leben als sinnlos. Die «fusion sublime», die hier ausbleibt, ist bei Apollinaire mit der Divinisierung als Gegenpol für die brüchige Identität noch als Möglichkeit gestaltet. Krenzel-Zingerle sieht sie daher zu Recht als eine «kompensatorische Antwort auf die Problematik des modernen Subjekts».87 Der Schluss liegt nahe, die Ablehnung kanonischer Traditionen und wissenschaftlichen Denkens mit gleichzeitigem Interesse für die ‘primitive’ Kunst und mythische Denkformen als Nostalgie nach einer einfachen, ursprünglichen Lebensweise und Kunst zu werten, ganz besonders, wenn man sich die in der Einleitung angeschnittene Problematik vor Augen führt: Den Hintergrund für den Primitivismus bildet die rassistische Mythologie, welche sich auch in den ethnologischen und anthropologischen Arbeiten der Zeit niederschlägt.88 Insbesondere evolutionistische Theorien, die auf einem Stufenmodell der Menschheit und damit einer Hierarchisierung des entwickelten ‘Weißen’ gegenüber dem noch in einem Kindheitsstadium der Menschheit sich befindenden ‘Schwarzen’ fußten, fanden eine weite Verbreitung und blieben als Topos bestehen, wenn sie auch nach und nach aus der Wissenschaft verschwanden.89 Viele der Arbeiten, die die Leistungen der afrikanischen Kunst positiv hervorheben, sind von der Idee des evolutionistischen Schemas begleitet, d. h. von der Annahme, diese Kunst sei Ausdruck eines kindlichen mentalen Stadiums. Der Topos der mythischen Anfänge und der Kindheit der Menschheit, die in den indigenen Völker noch zu finden sei, setzt sich bewusst oder unterschwellig in der Zeit der ‘mélanomanie’ fort. Carl Einstein bemerkt scharfsinnig: «Man hoffte im Neger so etwas von Beginn zu fassen, einen Zustand, der aus dem Anfangen nie herausgelange.»90 Verbirgt sich hinter der Poetik des mythischen Denkens auch nur die Sehnsucht, zu einem Kindheitsstadium der Menschheit zurückzukehren? Laut Blachère hat sich der literarische Primitivismus von diesen Theorien insofern inspirieren lassen, als er von der «simplicité des cultures archaïques»

86 Michel Houellebecq: Extension du domaine de la lutte. Paris: Éditions J’ai lu 1994, S. 156. 87 Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, S. 8. 88 Für eine ausführliche Darstellung dieser Punkte siehe Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara. 89 Vgl. ebda., S. 15. 90 Carl Einstein: Negerplastik, S. V.

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ausgehe und diese als ein «signe de bonheur»91 werte. Diese Einschätzung trifft jedoch nicht uneingeschränkt zu: Es ist richtig, dass Apollinaire und die Dichter und Künstler in seinem Kreis von der Einfachheit der ‘primitiven’ Kunst inspiriert sind. Nicht von der Hand zu weisen ist auch Wehles Einschätzung, dass das Bestreben, die traditionellen kulturellen und ästhetischen Muster zu zerschlagen, auch ein Versuch ist, «jenseits der lebensweltlichen Deformationen den Anfang einer mythischen Erzählung zu finden, die eine ganz andere, unvorgreifliche Kultur beschwört.»92 Dennoch ist die Faszination für das ‘Primitive’ nicht mit einer sehnsüchtigen Rückwärtsgewandtheit nach einem ‘paradiesischen’ Anfangsstadium gleichzusetzen. Einstein sieht wie andere Künstler in dieser Vorstellung ein Missverständnis der kulturellen und intellektuellen Leistung der indigenen Völker und wertet sie als Ausdruck der westlichen Überheblichkeit.93 Wie das Kapitel II.1 zeigte, sieht auch Apollinaire die indigene Kunst nicht als unterentwickelt an. Noch geht es den Dichtern darum, ‘wahrhaft primitiv’ zu sein oder einen ursprünglichen, paradiesischen Zustand wieder zu leben, wie es Katia Samaltanos missversteht: «Along with widespread admiration of primitive works coexisted a romantic idealization of primitive life. A few artists and writers began to believe that civilized man has lost what primitive man enjoys to the highest degree: a oneness with nature.»94 Samaltanos verweist auf Apollinaires Artikel über Matisse. Darin spricht er jedoch nicht von einer «oneness with nature», sondern lediglich davon, dass der Mensch Teil der Natur sei und somit natürlicherweise einen Bezug zur Natur habe. Wie das Kapitel II.2.6 zeigte, lässt Apollinaires Formulierung keinen Zweifel an seiner Position, die nicht besagt, der Mensch solle zu einem Naturzustand zurückkehren, sondern dass die Natur eine wesentliche Inspirationsgrundlage für die Kunst sei, die es nicht zu vergessen gilt. Ähnlich wie Samaltanos und Blachère sieht auch Michael Bell im Phänomen des Primitivismus ein Begehren nach den ‘reinen’ und ‘natürlichen’ Dingen, «the desire of the privileged party to in some way imitate or return to what was perceived as the ‘purer’ or more ‘natural’ state of the exploited.»95 Obwohl die Dichter durchaus eine ‘reine’ Kunst anstreben, suchen sie nicht nach einem moralisch-zivilisatorischen Stadium der Unschuld und Natürlichkeit. In dem auf den ersten Blick als Ursprungssehnsucht erscheinenden Interesse an mythischen Denk- und Wahrneh-

91 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 15. 92 Winfried Wehle: Entgrenzung ins Transhumane. Über mythische Leere und mediale Fülle in futuristischer Kunst, S. 89. 93 Carl Einstein: Negerplastik. 94 Jack Flam: ‘Introduction’, S. 5. 95 Ebda., S. 9.

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mungsformen und in der Suche nach einer ‘poésie pure’ verbirgt sich vor allem ein künstlerischer Absolutheitsanspruch: Durch das Anknüpfen an die Anfänge soll nicht das kulturell Depravierte an der Natur gesunden, sondern das Wesentliche der Kunst gefunden werden.96 Viel mehr als dafür, das Kindliche zu finden, steht das Attribut in ‘poésie pure’ für eine Suche nach den Grundlagen der Kunst. So mag die folgende Feststellung zwar als generalisierende Beschreibung zutreffen: «During this period, writers frequently compare Primitive art to children’s art. Primitive peoples are still conceived of largely as peoples without history, and analogies are frequently made between primitive cultures and the ‘childhood of mankind’.»97 Doch muss ein Unterschied gemacht werden, ob der Fokus des Interesses in der Idee eines Kindheitsstadiums der Menschheit und der Kunst liegt, oder eher in einer Zeitlosigkeit. Weil sich in einer Welt, die scheinbar reicher, voller geworden ist und sich in einer größeren Geschwindigkeit zu bewegen und erweitern scheint, die Frage aufdrängt, was Bestand hat, lobt Apollinaire den Künstler Léger, da seiner Kunst die Idee der Universalität zugrunde liege: Quand je vois un tableau de Léger, je suis bien content. [...] Non, il ne s’agit point avec Léger d’un de ces hommes qui croient que l’humanité d’un siècle est différente de celle d’un autre siècle et qui confondent Dieu avec un costumier, en attendant de confondre leur costume avec leur âme.98

Diese Aussage Apollinaires zeigt, wie wichtig es ist, eine Differenzierung in Hinblick auf das evolutionistische Stufenmodell für die Ästhetik der Avantgarde vorzunehmen. Wie Apollinaire deutlich macht, suchen die neuen Dichter nach etwas Universellem, nach einer überzeitlich und auch international gültigen Kunst: maintenant sur des pensers nouveaux les poètes revenus aux principes les plus antiques y retrempent la pureté de leur inspiration. Et le monde entier s’étonnera de la nouveauté de cet effort. Car, de même que la langue française, de même que les idées de la France, la poésie française est avant tout internationale.99

Dabei handelt es sich hier offensichtlich nicht um eine nostalgische und zukunftskritische Hoffnung, die Zeit zurückzudrehen – die «nouveauté» ist schließlich ein wichtiger Punkt des Programms. «La poésie date d’aujourd’hui» heißt es auch in

96 Vgl. das Kapitel II.2.4.1 ‘Darstellung des Wesentlichen’ der vorliegenden Arbeit. 97 Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 25. 98 Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 42. 99 Guillaume Apollinaire: Les poèmes de l’année. In: PrII, S. 904. Auch in: Les poètes aujourd’hui. In: PrII, S. 916.

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Cendrars’ Gedicht Le Panama ou les aventures de mes sept oncles.100 Die neue Poetik soll die Veränderung der Zeit einfangen, aber gleichzeitig Bestand haben. Die Besinnung auf die Ursprünge bedeutet nicht, in einem herbeigesehnten, vermeintlichen Urstadium zu verbleiben, sondern zu den Prinzipien zurückzukehren, um von dort aus Neues schaffen zu können. Dies ist ganz im Sinne des Futuristen Cavacchioli, der in seinem Gedicht ‘Canto della via aperta’ die Erneuerung durch die Vereinfachung besingt: Ma più là! […] Ritroverete tutto, ma in una vita più triste e più soave, che rinnoviamo dalle origini per semplificarla, purchè si proceda sempre più avanti, dietro a un condottiero poeta che unisce le stelle alla terra e il divino all’umano101

Das Interesse für ‘ursprüngliche’ Sichtweisen und für die ‘primitive’ Kunst stellt einen Versuch dar, den Ballast abzustreifen, der einen direkten Zugang zur Kunst verhindert, wie Apollinaire verdeutlicht: «En s’intéressant à l’art des fétiches, les amateurs et les peintres se passionnent pour les principes mêmes de nos arts, ils y retrempent leur goût.»102 Von diesen Prinzipien ausgehend, kann die Kunst erneuert werden: «il s’agit de renouveler les sujets et les formes en ramenant l’observation artistique aux principes mêmes du grand art.»103 Wenn die Dichter und Künstler zu den Prinzipien gelangen wollen, dann auch, weil sie keiner vorgegebenen Ordnung folgen wollen, womit wieder die Abneigung gegenüber dem Systematischen deutlich wird: Au demeurant, le cubisme n’est nullement un système, mais il forme bien une école, et les peintres qui la composent veulent renouveler leur art en revenant aux principes pour ce qui concerne le dessin et l’inspiration, de même que les fauves – et beaucoup de cubistes ont fait partie de cette école – étaient revenus aux principes, en ce qui concerne la couleur et la composition.104

Die Verknüpfung der Bedeutungsebenen von ‘Anfang’ und ‘Grundlage’ ist im Begriff «principe» etymologisch angelegt. Das lateinische ‘prīncipium’ umfasst beide Bedeutungen. Das Verb «renouveler» zeigt an, dass die Suche nach den Prinzipien, das heißt nach universellen Strukturen, nicht als eine Rückkehr zu

100 Blaise Cendrars: Le panama ou les aventures de mes sept oncles. In: PC, S. 60. 101 Enrico Cavacchioli: ‘Canto della via aperta’. In: ders.: Cavalcando il sole. Milano: Edizioni futuriste di Poesia 1914, S. 146. 102 Guillaume Apollinaire: Sculptures d’Afrique et d’Océanie. In: PrII, S. 1416. 103 Ebda. 104 Guillaume Apollinaire: Le salon d’automne. In: PrII, S. 372.

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einem früheren, einfachen Stadium der Menschheit verstanden wird, sondern als ein Rückbezug, ohne dass aber der Standpunkt der Moderne verlassen wird. In dem Rückbezug wird eine Stoßrichtung nach vorn ausgeübt: Deklariertes Ziel ist die Erneuerung der Kunst von Grund auf. In einem Brief an Breton vom 12. März 1916 greift Apollinaire diesen Gedanken auf: «La vérité est, je crois, qu’en tout, pour atteindre loin il faut d’abord retourner aux principes.»105 Die Suche nach dem Prinzip ist eine Suche nach einer Wahrheit, um jenseits von Geschichte zu dem zu gelangen, das unumstößlich bleibt. Was Andrea Grewe in ihrer Monographie zu dem mit Apollinaire und Soffici bekannten Alberto Savinio schreibt, lässt sich auf die Funktion des ‘Primitiven’ bei Apollinaire übertragen: Analog zur Welt der kindlichen Phantasie und des kindlichen Spiels, analog zum Traum des erwachsenen Individuums wird der Mythos, in dem sich die Vorstellungswelt einer archaischen Kultur artikuliert, jetzt als eine Ausdrucksform betrachtet, in der sich eine tiefere, überzeitlich gültige Wahrheit enthüllt, welche die Universalien des menschlichen Seins ausdrückt. Wie das Kind die ‘Wahrheit’ des Erwachsenen enthält, so der Primitive die ‘Wahrheit’ des Menschen schlechthin.106

Auch wenn das Kindliche eine ähnliche Funktion einnimmt, ist damit nicht ausgesagt, dass die Autoren die ‘primitive’ Kunst als kindlich auffassen. Apollinaire betrachtet wie Einstein die ‘primitiven’ Völker und ihre Kunst nicht als ‘zurückgeblieben’. Öhlschlägers Zeitdiagnose trifft auch auf Apollinaire zu: «Der Rückgriff auf die Kunst der ‘Primitiven’ wurde nicht als Regression aufgefasst, sondern als Möglichkeit, zu einer ‘tieferen Wahrheit’, zum Ursprung der Kunst, vorzudringen.»107 Die Wahrheit, die gesucht wird, wohnt in der Kunst und nicht in einem zivilisatorischen Phantasieraum. Es ist die Wahrheit des Kunstwerkes. Auf diese Weise gebraucht auch Reverdy den Topos der Kindheit: «Une œuvre d’art ne peut se contenter d’être une représentation, elle doit être une présentation. On présente un enfant qui naît, il ne représente rien.»108 Reverdys Geschichtslosigkeit und sein Minimalismus, der auf die Prinzipien der Kunst verweist, finden ein Gegenüber in der indigenen Kunst, die ebenso den Charakter des Einfachen und Direkten hat und deren Geschichte noch un-

105 Guillaume Apollinaire: Correspondance générale. Band III: 1916–1918, S. 120. 106 Andrea Grewe: Melancholie der Moderne. Studien zur Poetik Alberto Savinios. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2001, S. 119. 107 Claudia Öhlschläger: Abstraktion im Licht der Faszination. Wilhelm Worringer am Ort des Primitivismus, S. 60. 108 Pierre Reverdy: Certains avantages d’être seul [1918]. In: ROCI, S. 540 ff., hier S. 541. ‘Présentation’ ist ein Schlüsselbegriff in Reverdys Ästhetik, den er in Abgrenzung zu einer mimetischen Ästhetik verwendet. Ausführlich zu diesem Begriff bei Reverdy siehe Olivier Gallet: La présentation poétique. In: Littérature 183, 3 (2016), S. 23–39.

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bekannt war.109 Auch den mit ihm befreundeten Braque fasziniert an den ‘Primitiven’ ihre vermeintliche Geschichtslosigkeit und ihre Losgelöstheit von der europäischen Tradition.110 Diese Eigenschaften sind auch Ziele der ‘poésie pure’ bzw. des ‘art pur’, weshalb auch die indigene Kunst selbstverständlich als solche betrachtet wird.111 Dabei wird auch deutlich, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit der ‘primitiven’ Kunst um eine europäische Perspektive handelt, die, wenn sie auch nicht von einer Überlegenheit der weißen Kunst ausgeht, von eigenen Vorurteilen und uninformierten Vorstellungen durchsetzt ist, wie Deutch und Flam hervorheben: «writers, such as Guillaume Apollinaire, proselytized for the universal aesthetic values that they saw in Primitive art and played down the circumstances in which the art was produced.»112 In der Ästhetik des ‘Primitiven’ und der Poetik des mythischen Denkens äußert sich daher weniger ein Sich-zurück-Sehnen in die Vergangenheit, sondern das Bedürfnis nach etwas Transzendentalem und Ewigem in der Kunst, das als Ursprüngliches zeitlos ist: «Because primitive art was held to have had no history, it appeared to confirm widely held beliefs about the immutability and universality of great art.»113 Anders als Blachère ihn versteht, ist der Primitivismus hier kein «acte de foi dans le passé de l’humanité, un acte de défiance à l’égard du progrès»,114 sondern ein Glaube in die Universalität, die, darin ist Blachère wieder zuzustimmen, jenseits eines wissenschaftlichen Systems gesucht wird.115 Da zeitlos, ist der Ursprung jederzeit auffindbar, wie es in Cendrars’ Le Panama ou les aventures de mes sept oncles heißt: «Ce matin est le premier jour du monde» – jeder Tag, also auch dieser Tag, ist der erste Tag.116 Die angestrebte Einfachheit ist, gefasst als das Wesentliche, auch die Basis für alles Zukünftige. Das Wesentliche der ‘poésie pure’ ist daher nicht an ein verlorenes Paradies gekoppelt, sondern potenziell immer auffindbar und daher auch modern und «nouveau»:

109 Jack Flam: ‘Introduction’, S. 4: «the history of Primitive art was unknown and its main subject appeared to be simple and direct». 110 «Braque, Reverdy et l’ensemble des cubistes ne revendiquent qu’un héritage, celui des peintres ‘primitifs’ antérieurs à la Renaissance ou en dehors de la tradition occidentale.» Françoise Nicol: Braque et Reverdy. La genèse des Pensées de 1917, S. 51. 111 Vgl. Kapitel II.2.2 ‘L’art pur’ der vorliegenden Arbeit. 112 Miriam Deutch/Jack Flam (Hg.): Primitivism and Twentieth-century Art. A documentary history, S. 25. 113 Jack Flam: ‘Introduction’, S. 4. 114 Jean-Claude Blachère: Le modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle chez Apollinaire, Cendrars, Tzara, S. 10. 115 «Il est évident que le primitivisme ainsi défini est une attitude d’esprit non-scientifique». Ebda. 116 Blaise Cendrars: Le panama ou les aventures de mes sept oncles. In: PC, S. 60.

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car nous n’avons tendu qu’à cela, poètes, prosateurs et peintres: exprimer avec simplicité des idées neuves et humaines, créer un humanisme nouveau qui, fondé sur la connaissance du passé, accordât les lettres et les arts avec le progrès que l’on remarque dans les sciences et les moyens nouveaux que l’homme a à sa disposition. [...] Le présent doit être le fruit de la connaissance du passé et la vision de l’avenir.117

Das Konzept der universalen Kunst ist ein wichtiger Aspekt, um zu verstehen, dass die Erscheinungsformen der Poetik des mythischen Denkens kein Auswuchs einer exotistischen und in die Vergangenheit gerichteten Kunstströmung ist, denn die Suche nach den Prinzipien der Kunst hebt die Kunst aus einem historischen Zeitkreislauf gerade heraus. Das Zeitlose ist damit unweigerlich neu. In dieser Perspektive stehen moderne Welt und mythisches Denken nicht im Widerspruch und der literarische Primitivismus ist nicht Ausdruck einer Gegenwartsflucht. In ihrer Suche nach einer überzeitlichen Kunst drücken die Künstler das aus, was Gumbrecht für die Moderne konstatiert: die breite Gegenwart und das Ende des historischen Zeitalters.118 Es wäre falsch, in den Gedichten mit ihren mythisch-primitivistischen Strukturen nicht allein die Suche nach einer kompensatorischen Antwort zu erkennen, sondern sie verabsolutierend als Kompensation für die Probleme des modernen Subjekts zu werten. Wie sich zeigte, ist die Faszination für das ‘Primitive’ nicht mit einer Flucht in vormoderne Zustände verbunden. Auch die Divinisierung bietet sich in den Gedichten nur auf den ersten Blick als eine Lösung dar. Bei genauerem Hinschauen zeigen sich Brüche. Wenn Cassirer schreibt: «The greatest modern artists still feel a continual longing for the mythical world; and they mourn for it as a lost paradise.»119, dann spricht er nicht nur die Sehnsucht der modernen Dichter nach einer mythischen Welt an, sondern stellt diese auch als vergebens heraus. Das Verb «mourn» betont eher den Bruch mit der mythischen Welt als ihre Wirk>samkeit. Diese Problematik verdeutlicht Bell, der im Primitivismus eine Projektion des invertierten Selbst sieht, in der sich Brüche und Spannungen zeigen. Primitivismus is born of the interplay of the civilized self and the desire to reject or transform it. […] Primitivism, we might say, is the projection by the civilized sensibility of an inverted image of the self. Its characteristic focus is the gap or tension that subsists between these two selves and its most characteristic resultant is impasse.120

Im Folgenden wird gezeigt, wie sich diese Brüche in den Gedichten manifestieren.

117 Guillaume Apollinaire: Les tendances nouvelles [1916]. In: PrII, S. 985 ff., hier S. 986. 118 Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2010. 119 LAII, S. 188. 120 Michael Bell: Primitivism, S. 80.

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2.2 Selbstreflexivität: Eine Poetik des ‘Machens’ Besonders die Analyse der Subjektkonstitution zeigte, dass die Überschneidungen zwischen der Lyrik der Avantgarde und den Inhalten und Funktionsweisen des mythischen Bewusstseins nicht restlos aufgehen und sich Brüche bilden. Die Brüche werden besonders da offensichtlich, wo die Transformation von einem vergänglichem zu einem allmächtigem Subjekt scheitert und Risse hinterlässt.121 Dies zeichnet sich in den Momenten ab, in denen trotz der Allmachtsphantasie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit durchscheint, in denen sich Schwäche und Zweifel an den eigenen dichterischen Fähigkeiten zeigen. Dies äußert sich insbesondere in den Leerstellen, den ‘silences’, wo das poetische Wort seine Grenzen erfährt und der Dichter an den Grenzen seiner ‘Göttlichkeit’ steht. In ‘La jolie rousse’ wird die Schwierigkeit, Dichter zu sein, dargestellt und damit die Idee einer Dichtung als Geniestreich negiert: Mais riez riez de moi Hommes de partout surtout gens d’ici Car il y a tant de choses que je n’ose vous dire Tant de choses que vous ne me laisseriez pas dire Ayez pitié de moi122

Auch in ‘La victoire’ entpuppt sich die Divinisierung als ein Modus Operandi. Das dichterische Wort ist zwar gottähnlich und bringt Neues hervor: La parole est soudaine et c’est un Dieu qui tremble [...] Connais-tu cette joie de voir des choses neuves123

Doch bedarf es einer aktiven Suche, einer Entscheidung, die schwierige Suche auf sich zu nehmen: Et ces vieilles langues sont tellement près de mourir Que c’est vraiment par habitude et manque d’audace Qu’on les fait encore servir à la poésie

121 Sullivan sieht dies als eine grundsätzliche Struktur der Subjektkonstitution Apollinaires: «The problem of […] the subject lies […] in the necessity of Apollinaire’s adding, whenever and however he expresses this original integrity of the subject, […] that this integrity is marked by a lack». Dennis G. Sullivan: On Time and Poetry: A Reading of Apollinaire. In: MLN 88, 4 (1973), S. 811–837, hier 817. 122 Guillaume Apollinaire: ‘La jolie rousse’. In: Po, S. 314. Siehe auch das Kapitel II.2.7 ‘Prophetie: Beobachtung der ‘nature extérieure et intérieure’’ der vorliegenden Arbeit. 123 Guillaume Apollinaire: ‘La victoire’. In: Po, S. 311.

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Mais elles sont comme des malades sans volonté Ma foi les gens s’habitueraient vite au mutisme La mimique suffit bien au cinéma Mais entêtons-nous à parler124

Der Dichter muss, wie Cendrars in ‘Prose du Transsibérien’ schreibt, bis zum Ende gehen: «Pourtant, j’étais fort mauvais poète./Je ne savais pas aller jusqu’au bout.»125 Diese Aufgabe gestaltet sich schwierig angesichts der Fülle der Welt: «Car l’univers me déborde».126 An diesen Stellen reflektieren die Gedichte die Möglichkeit ihres eigenen Scheiterns mit. Sie thematisieren so ihre eigene Gemachtheit und offenbaren somit ihren selbstreflexiven Charakter. Bereits der Umstand, dass das lyrische Ich sich als Schöpfer und die Gedichte als seine Schöpfungen darstellt, verweist auf die Gemachtheit der Gedichte selbst. Wehle spricht folgerichtig von einer «Poetik des Machens» der Avantgarde.127 Auch damit offenbart sich die Poetik der Gedichte als Modus und nicht als ontologische Wahrheit. Was sich ebenfalls in der Überblendung des Künstlers mit einem gottgleichen Schöpfer zeigt, ist, dass für Apollinaire Kunstschaffen ein aktiver Prozess ist. Bei ihm kommt trotz der Vergöttlichung keine Genieästhetik zum Tragen, da der schöpferische Prozess für ihn ein bewusster ist und Arbeit beinhaltet.128 Auch Soffici ist der Auffassung, dass er Arbeit und Kritik bedarf. Nur durch das kritische Urteil erhebt sich ein spontaner Ausdruck zum Kunstwerk: «Il fatto arte non ha la sua origine vera nell’istinto creativo, ma nel giudizio che si porta sull’espressione spontanea e sopra i suoi modi. Il fatto arte

124 Ebda., S. 310. 125 Blaise Cendrars: Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France. In: PC, S. 19. 126 Ebda., S. 30. 127 Dazu Winfried Wehle: Orpheus’ zerbrochene Leier. Zur ‘Poetik des Machens’ in avantgardistischer Lyrik (Apollinaire). In: Rainer Warning und Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: Fink 1982, S. 381–420. 128 Vgl. Guillaume Apollinaire: Méditations esthétiques. Les peintres cubistes. In: PrII, S. 23: «Il y a des poètes auxquels une muse dicte leurs œuvres, il y a des artistes dont la main est dirigée par un être inconnu qui se sert d’eux comme d’un instrument. Pour eux, point de fatigue, car ils ne travaillent point et peuvent beaucoup produire, à toute heure, tous les jours, en tout pays et en toute saison, ce ne sont point des hommes, mais des instruments poétiques ou artistiques. […] Ils ne sont point divins», und ebda., S. 25: «Il me suffit, à moi, de voir le travail, il faut qu’on voie le travail, c’est par la quantité de travail fournie par l’artiste que l’on mesure la valeur d’une œuvre d’art.»

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comincia con la critica.»129 Die Dichter sind sich der Gemachtheit ihrer Werke und des Umstandes, dass diese bestimmten, wenn auch selbstgesetzten Regeln folgen, demnach durchaus bewusst. Eine Aneignung primitivistischer Kunstprinzipien erfolgt nur im vollen Bewusstsein der eigenen Prinzipien und muss als Kalkül verstanden werden. Apollinaire selbst nennt neben der Suche nach Wahrheit die Selbstreflexivität als Hauptmerkmal des ‘esprit nouveau’, durch die er sich von der früheren Dichtung unterscheidet: Explorer la vérité, la chercher, aussi bien dans le domaine ethnique, par exemple, que dans celui de l’imagination, voilà les principaux caractères de cet esprit nouveau. Cette tendance du reste a toujours eu ses représentants audacieux qui l’ignoraient; il y a longtemps qu’elle se forme, qu’elle est en marche. Cependant, c’est la première fois qu’elle se présente consciente d’elle-même. C’est que, jusqu’à maintenant, le domaine littéraire était circonscrit dans d’étroites limites.130

Die Divinisierung des Subjekts stellt durch den Topos der Schöpfung eine Schnittstelle zu Apollinaires Poetik dar. Die Kehrseite der Göttlichkeit ist somit immer die Ernüchterung, dass es sich bei der eigenen Göttlichkeit auch immer um einen Kunstgriff handelt. Letztlich hat alles Mythische in der Avantgardedichtung eine metapoetische Funktion – beispielsweise ist die mythische Raumerfahrung eine Chiffre für die Grenzenlosigkeit der Dichtung. Gerade aufgrund ihrer metapoetischen Funktion erfüllt sich in den Gedichten keine Rückkehrphantasie. Jede ‘kompensatorische’ Antwort ist ein Hilfskonstrukt, etwas Gemachtes und damit auch wieder fragil. Aus diesem Grund erweist sich die Göttlichkeit des lyrischen Ichs als Alter Ego des Dichters als instabil. Der mythische Bruch zeigt sich in der schmerzhaften Erkenntnis, dass, anders als das mythische Bewusstsein, nurmehr in der Welt des Uneigentlichen gelebt werden kann. Nur das mythische Subjekt wird in der rituellen Inszenierung wahrhaft zum Gott: «Es ist kein bloßes Schaustück und Schauspiel, das der Tänzer, der in einem mythischen Drama mitwirkt, aufführt; sondern der Tänzer ist der Gott, wird zum Gott.»131 Das lyrische Ich hingegen ist ein inszeniertes Ich und weiß, dass es sich in dem performativen Akt der Dichtung zum Gott macht. Das Gedicht ist nicht einfach ein Mittel zur Selbstkonstruktion, sondern es ist als solches gemacht und inszeniert.

129 Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 688. Hervorhebung im Original. 130 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 943. 131 MD, S. 48.

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Nach Soffici gibt es ohne den Willen keine Kunst:132 «La volontà e l’arbitrio sono condizioni necessarie all’esistenza del fatto artistico.»133 Der «arbitrio» bedeutet für Soffici nicht Chaos, Anarchie oder Kontrollverlust, sondern ist im Kontext eines freien Willens in der künstlerischen Gestaltung angesiedelt.134 Obwohl Soffici Parallelen zwischen den zeitgenössischen und den ‘primitiven’ Künstlern zieht, sieht er im bewussten und freiwilligen künstlerischen Akt einen entscheidenden Unterschied, den er bei den Dichtern und Künstlern «delle prime epoche del mondo» noch nicht in dieser Deutlichkeit sieht: «non è ancora trasformata in pura creazione cosciente e volontaria.»135 Erst durch dieses künstlerische Bewusstsein entstehe die Kunst: «Ora, è con la coscienza artistica che comincia il fatto arte.»136 Anhand des Vergleichs mit dem Akrobaten erörtert Soffici auch, dass er das technische Können für das Kunstschaffen als wesentlich erachtet. Dass daraus aber kein ‘kaltes’ Virtuosentum wird, liege daran, dass der Künstler sein «calcolo» lebe.137 Sowohl Sofficis Gewichtung des Bewusstseins im künstlerischen Prozess als auch Apollinaires ‘Poetik des Machens’ verdeutlichen, dass in der Poetik des mythischen Denkens das Mythische nicht substantialistisch als primordiales ‘Substrat’ zu verstehen ist, welches in den Kunstwerken aufscheint. Die Selbstreflexivität der Moderne kann nicht rückgängig gemacht werden. Im Unterschied zum mythischen Denken kann die Moderne das Nicht-Denken nur denken. Allein schon deshalb kann das Mythische in den Gedichten nicht als substantiell verstanden werden. Zwar haben Mythos und Kunst gemein, dass ihnen die «Struktur des begrifflichen Wissens fehlt» und dadurch «stets unerschöpflich mehr erfahren [wird], als sich denken lässt; aber alles, was wir davon wissen, wissen wir nur, insofern wir es denken können.»138 Dieser selbstreflexive Standpunkt ist in Cassirers Kulturphilosophie systematisch angelegt. Cassirer verwendet den Begriff des Mythos nicht substantialistisch, sondern funktional. Das von ihm beschriebene mythische Denken wird zwar in der vormodernen Gesellschaft verortet, jedoch ist diese Zuweisung nicht als Moment zu verstehen, den man wieder einholen könnte. Guido Kreis betont, dass das von Cassirer beschriebene mythische Denken kein ursprüngliches

132 Der Volkskunst und damit auch der ‘originär’ mythischen Kunst mangelt es gerade an diesem Bewusstsein und dem Willen. Ardengo Soffici: Primi principi di una estetica futurista. In: SOI, S. 689. 133 Vgl. ebda., S. 690. Hervorhebung im Original. 134 Vgl. ebda., S. 692. 135 Ebda., S. 687 f. 136 Ebda. 137 «L’artista ed il saltimbanco vivono il loro calcolo spietato», ebda., S. 714. 138 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 188.

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IV Mythos und Moderne

mythisches Denken ist, sondern immer in Differenz zum wissenschaftlichen Denken gesehen wird: Was mythische, ästhetische und nicht-gedankliche sprachliche Erfahrung ist und was man in ihr erfährt, wissen Mythos, Kunst und Sprache nicht, weil sie diese Erfahrung vollziehen, ohne sie explizit reflektieren zu können. Deshalb kann eine Theorie des Mythos nicht vom Standpunkt des Mythos und eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nicht in der Weise der ästhetischen Erfahrung geschrieben werden.139

Kreis’ Überlegung ließe sich hinzufügen, dass eine Theorie der ästhetischen Erfahrung insofern in der Weise der ästhetischen Erfahrung geschrieben werden kann, als Gedichte auch metapoetische Aussagen enthalten. Dennoch bleibt es richtig, dass der nicht-propositionale Gehalt eines Kunstwerkes nicht ohne Verlust propositional übersetzt werden kann, wobei freilich auch dieser Umstand im Kunstwerk reflektiert werden kann. Dieser Grad an Selbstreflexion zeichnet viele avantgardistische Texte aus. Aus den poetologischen Aussagen lässt sich ein großes Bewusstsein für selbstreflexives und bewusstes Schaffen ablesen. Der Surrealismus versucht mit der ‘écriture automatique’ zu einer Form des Nicht-Denkens zu gelangen und damit unbewusste und ungesteuerte Vorgänge ästhetisch produktiv werden zu lassen. Apollinaires Dichtung unterscheidet sich in diesem Punkt wesentlich von der surrealistischen Praxis ‘primitiven’ Schreibens.140 In seiner Dichtungskonzeption ist das Nicht-Denken unmöglich, wie die wichtige Stellung, die die «raison» in seiner Poetik einnimmt, anzeigt. Das Strenge, Rationale schätzt er auch an der afrikanischen Kunst.141 Die Surrealisten hingegen kritisieren deren Rationalität und sind eher an dem ‘Unbewussten’ und an der ‘Spiritualität’ als Element der indigenen Kunst interessiert.142 Dieses Augenmerk auf das Spirituelle in den ‘primitiven’ Gesellschaften wurde durch das Erscheinen von Lucien Lévy-Bruhls La Mentalité primitive (1922) noch befördert.143 Apollinaire sieht die ‘primitive Kunst’ nicht mehr nur als ein Produkt ‘wilden’ Schaffens. Für ihn sind das ‘primitive’ Denken und die ‘primitive’ Kunst nicht

139 Ebda., S. 186. 140 Vgl. Mario Richter: La crise du logos et la quête du mythe, S. 153. 141 Siehe auch die Kapitel II.3.4 ‘Instinkt und Emotion’ und II.3.5. ‘Logik des Kunstwerks, Logik des mythischen Denkens’ der vorliegenden Arbeit. 142 «the Surrealists, who were much more interested in the invisible forces contained within Primitive art than they were in its formal innovations, expressed a clear preference for Oceanic and American Indian art, which they felt was in deeper communion with the unconscious. Among the Surrealists, African art was criticized as being too ‘rational’ and too ‘naturalistic’.» Jack Flam: ‘Introduction’, S. 14. 143 Ebda.

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«sauvage», sondern eine Form der Kultur.144 Indem sie ihren eigenen Anspruch auf die indigenen Kunstwerke übertragen, zeigt sich einmal mehr, wie wenig ein vermeintlicher ‘Naturzustand’ für das Interesse der frühen Avantgarde am ‘Primitiven’ eine Rolle spielt. Besonders deutlich wendet sich Paul Guillaume gegen die Annahme, die indigenen Künstler wüssten nicht, was sie tun, und würden nur einem spontanen Impuls oder glücklichen Zufall folgen: L’artiste nègre savait ce qu’il était en train de faire à chaque pas, même alors qu’il n’aurait pas pu expliquer en termes abstraits toutes les raisons motivant ses préférences. Les anthropologistes distingués, d’ailleurs, s’écartent rapidement de la théorie suivant laquelle le Nègre est inférieur en intelligence générale, et démontrent […] que sa conduite, bien que différente de la nôtre, est à beaucoup de points de vue au moins aussi raisonnable.145

Hier äußert sich deutlich der bei Cassirer vorherrschende Gedanke, es handle sich um eine andere Art des Denkens und des Ausdrucks, die aber nicht weniger rational sei. Im Festhalten am Rationalen mag letztlich der Grund für die Prävalenz von Melancholie und Ironie in Apollinaires Dichtung liegen. Seine Gedichte reflektieren, dass das Subjekt nur noch in einer uneigentlichen Welt leben kann, deshalb ist es ihm auch peinlich, wenn es sich wie in ‘Zone’ bei einem Gebet erwischt. Die Kunst bildet keine Ausnahme, auch sie kann keine unmittelbare Abbildung und Erfahrung der Welt (mehr) sein. Daher seine Verteidigung der «fausseté», für die der Ixion-Mythos146 bei ihm steht und der der Inbegriff der Schöpfung aus dem Uneigentlichen ist. Der Wunsch nach einer Heimat im Mythos bleibt immer ein solcher Wunsch, d. h. ein gewolltes Unterfangen. Daraus resultiert die Brüchigkeit des mythischen Denkens in der Dichtung. Die mythischen Denkmuster sind zu ästhetischen Verfahren geworden. Die Unmöglichkeit der Absorption des Menschen durch den Mythos, aber das stete Verlangen danach, welches die Poesie zu befrieden sucht, ist wie eine mythische Wunde. Sie gleicht der Wunde des Prometheus – ein Beispiel aus dem Bereich der Mythen sei an dieser Stelle erlaubt –, die, nachdem sie sich geschlossen hat, sogleich wieder aufgerissen wird.

144 Vgl. Apollinaire im Interview mit Pérez-Jorba in La publicidad, 24. Juli 1918. In: PrII, S. 992. 145 Paul Guillaume: La sculpture nègre et l’art moderne, S. 91. 146 Vgl. Apollinaires Gedicht ‘Vendémiaire’. Siehe die Kapitel II.2.11 ‘Wahrheit’ und III.2.3.2 ‘Sprachmagie’ der vorliegenden Arbeit.

V Schlussbemerkung: Auch die moderne Welt ist eine Welt voller Magie L’intelligence de l’homme (ou de la femme) moderne doit être nègre.1 La fantaisie apollinarienne se fonde sur un regard magique posé sur la réalité.2

Unbewusstes und Rationales spielen in den verschiedenen Avantgarden ganz unterschiedliche Rollen. Daher ist es wichtig, dass die Literaturwissenschaft, wenn sie das Mythische bei den frühen Avantgarden analysiert, nicht dieselben Maßstäbe anlegt wie an den Surrealismus, der sich der Psychoanalyse bedient hat. Für die Betrachtung der dichterischen Werke ist es wesentlich, die Phänomene mythischen Denkens in der Dichtung als ästhetische Konstruktionen zu verstehen und nicht als urmythisches Restresiduum zu sehen, welches in der Kunst aufscheint. Das mythische Denken ist ein Konstrukt, das mit dem primitivistischen Diskurs entstanden ist. Es entspricht dem Modus, den die Autoren wählen, um die Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit in poetisches Material zu verwandeln. Die Werke der Avantgarde, die hier im Kontext der Ästhetik des mythischen Denkens behandelt wurden, sollten daher als Teil eines Diskurses verstanden werden, so wie Gess ihn definiert: «Von einem literarischen Primitivismus lässt sich also insofern sprechen, als die Literatur am Diskurs des ‘primitiven’ Denkens partizipierte, dieses Denken auch vorführte und zugleich umfassend reflektierte und dafür besser als andere Künste geeignet war.»3 Die Dichter machen sich in Auseinandersetzung mit der afrikanischen Skulptur und den indigenen Kulturen eine eigene Vorstellung von dem, was ‘primitiv’ ist, und nutzen diese künstlerisch. Anders als in Blachères Arbeit wurde in Hinblick auf die Funktion des Mythischen und ‘Primitiven’ für die Ästhetik der Avantgarde nicht von einem «modèle» ausgegangen. Ein Modell hat eine Vorbildfunktion, dient als Vorlage und wird in dieser Eigenschaft kopiert. Doch handelt es sich bei dem Phänomen des Primitivismus nicht um ein feststehendes Bündel von Eigenschaften, die von der afrikanischen Kunst auf die europäische Kunst und Dichtung unterschiedslos übertragen werden, sondern um einen Modus für die Wahrnehmung und Konstruktion von Welt sowie dessen Umsetzung in der Ästhetik. Damit wird auch deutlich, weshalb die Ästhetik des mythischen Denkens und des ‘Primitiven’ nicht allein kompensatorisch zur Moderne gesehen

1 Paul Guillaume: L’art nègre et l’esprit de l’époque, S. 74. 2 Didier Alexandre: Guillaume Apollinaire. Alcools, S. 31. 3 Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs, S. 3. https://doi.org/10.1515/9783110736267-005

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V Schlussbemerkung: Auch die moderne Welt ist eine Welt voller Magie

werden kann. Mit ihr lässt sich auch das moderne Bewusstsein adäquat beschreiben. Die Dichter der Avantgarde haben im ‘Primitiven’ und Mythischen kein sie in die Vergangenheit katapultierendes Gegenmodell gesucht, sondern nutzen es als eine Möglichkeit, den Jetzt-Zustand zu beschreiben – schließlich schreibt Apollinaire: «L’esprit nouveau est celui du temps même où nous vivons.»4 Es gibt zwei Lesarten der Avantgarde: Eine, die ihre Ästhetik als Ausdruck der modernen Lebenswelt auffasst, und eine, die ihre mythische Verbundenheit und den Versuch einer mythischen Rekompensation der modernen Lebenswelt aufzeigt. Diese Arbeit bevorzugt weder die eine noch die andere Lesart, sondern möchte beide miteinander verknüpfen: Der Diskurs des ‘Primitiven’ steht nicht für eine Rückkehr in das Mythische, denn die Subjekte sind keine mythischen Subjekte mehr. Doch ähnelt die Moderne dem Mythos in ihrer Modernität. So gehören magisch Geglaubtes, mythische Raum- und Zeitwahrnehmung und poetisch Erdachtes nicht mehr nur in das Reich der Phantastik, sondern werden durch die moderne Technik in die Lebensrealität gebracht und real erfahrbar gemacht. Die Moderne nähert sich den Erscheinungsformen des mythischen Denkens an und verwirklicht die Legenden und Sagen, in denen der Mensch fliegen und gleichzeitig an mehreren Orten anwesend sein kann. Ebenso wird die indigene Kultur nicht als rückwärtsgewandt rezipiert, sondern sie entspricht der modernen Lebenswelt. So berichtet Apollinaire in seinem Artikel ‘Radiotélégraphie indigène’, wie sich Neuigkeiten bei den indigenen Völkern in Afrika schneller verbreiten als mit Hilfe von Briefen und Telegrammen: «Pendant les campagnes de l’Est africain il y eut de nombreux exemples merveilleux de cette transmission magique. Les détails des actions d’une colonne et les nouvelles des batailles avaient atteint les villages indigènes presque instantanément.»5 Die Begeisterung für die moderne Technik beruht daher nicht auf einer Fortschrittsgläubigkeit, zu der die Begeisterung für ‘primitive’ Kulturen und mythisches Denken einen Widerspruch darstellen würde. Statt auf einen nostalgischen Sehnsuchtsort verweist die Hinwendung zum Mythischen und ‘Primitiven’ auf den Gedanken der Verwirklichung dieser immer vorhandenen – so gesehen ursprünglichen, weil als anthropologische Konstanten verstandenen – metaphysischen Wahrheiten. Es geht sowohl darum, die moderne Lebenswelt durch moderne und neue poetische Verfahren widerzuspiegeln, als auch darum zu zeigen, dass der moderne Alltag voller Magie steckt. Die Antwort auf die moderne Lebenswelt fällt daher durchaus positiv auf: Sie ist für Apollinaire, Cendrars, Reverdy und Soffici nicht per se entzaubert, sondern enthält das Potential von Magie und Poesie. In dieser Perspektive finden sie in der ‘primitiven’ Weltsicht eine Verwandtschaft zu sich selbst. 4 Guillaume Apollinaire: L’esprit nouveau et les poètes. In: PrII, S. 954. 5 Guillaume Apollinaire: Radiotélégraphie indigène [1918]. In: PrIII, S. 549.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1

Abbildung 2 Abbildung 3

Abbildung 4

Abbildung 5

Guillaume Apollinaire: ‘Cœur couronne et miroir’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 197 82 Guillaume Apollinaire: ‘La petite auto’. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916). In: Po, S. 208 164 Sonnenstein der Azteken. In: Ancheta Wis: Sonnenstein, Rekonstruktion. Wikimedia Commons, lizensiert unter CC BY-SA 2.5, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stein_der_Sonne#/media/Datei: Aztec_Sun_Stone_Replica_cropped.jpg, letzter Zugriff: 9.4.2021 221 Robert Delaunay: ‘Disque simultané’, URL: https://commons.wikime dia.org/wiki/File:Delaunay_Disque_simultané.jpg?uselang=de, letzter Zugriff: 9.4.2021 221 Guillaume Apollinaire: ‘Lettre-Océan’ [1914]. In: ders.: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) [1918]. In: Po, S. 183 ff 222

https://doi.org/10.1515/9783110736267-007

Register Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 95–96, 104–105, 233, 277, 303–304 Agrippa, Marcus Vipsanius 304 Agrippina, Iulia 304 Anaximander 229 Aragon, Louis 2–3 Archipenko, Alexander 125, 159 Aristoteles 229 Auric, Georges 49 Averroes 105 Bacon, Francis 214 Baker, Josephine 54 Ball, Hugo 3 Balla, Giacomo 1, 152, 167, 300 Barnes, Albert C. 46 Barzun, Henri-Martin 285–287, 291 Basler, Adolphe 79, 83, 227 Baudelaire, Charles 94–95, 190–191, 206–207, 261, 305 Bergson, Henri 106, 152 Blumenberg, Hans 181, 214, 309–310 Boas, Franz 6 Boccioni, Umberto 1, 129, 152, 167, 300 Böhme, Gernot 279 Braque, Georges 11, 38–39, 55, 57, 63, 76, 120, 131, 136, 285, 316 Breton, André 2, 138, 315 Brummer, Joseph 37 Butler, Judith 15 Cage, John 3 Carrà, Carlo Dalmazzo 1, 152, 167, 223, 265, 300 Cassirer, Ernst 4–5, 6, 7, 8, 9, 16, 23–33, 50, 63–65, 70, 79–80, 93, 96, 108–110, 112, 115, 118, 121, 129, 132, 135, 146–150, 152–153, 172, 174, 185, 188, 194, 198–199, 204, 210–211, 230, 232, 247–248, 253, 255, 267, 271–272, 275, 279, 292, 300, 302, 307–308, 317, 321, 323

https://doi.org/10.1515/9783110736267-008

Cavacchioli, Enrico 314 Cendrars, Blaise 2, 5, 14–15, 30, 35, 47–49, 63–64, 66, 70, 96–98, 122, 131, 153, 155–156, 159–160, 162–163, 167–171, 173–174, 176–178, 181, 184, 188, 199–200, 204, 207–209, 211–215, 219–220, 224, 229, 238–239, 245, 247, 280, 283, 286, 298, 314, 316, 319, 326 Cézanne, Paul 39, 120 Chagall, Marc 208 Cicero, Marcus Tullius 108 Cingria, Charles-Albert 200 Claudel, Paul 190–191 Clemente, Francesco 118 Cocteau, Jean 49, 54 Cottinet, Émile 137 Cummings, E. E. 122, 127 Degas, Edgar 39 Delaunay, Robert 56, 101, 104, 120, 165, 168–171, 220, 223–224, 258, 265, 287 Delaunay, Sonia 156, 168, 220, 223, 286 Denis, Maurice 20, 74, 76, 78, 139 Derain, André 35–37, 129 Dezarrois, André 46 Diaghilev, Sergei Pawlowitsch 49 Duchamp, Marcel 56, 62 Dufy, Raoul 129 Einstein, Albert 281 Einstein, Carl 22, 45–46, 51, 76, 110, 311–312, 315 Fénéon, Félix 119 Flaubert, Gustave 17 Fludd, Robert 234 Frazer, James George 6 Galilei, Galileo 272 García Lorca, Federico 9, 51, 124 Gauguin, Paul 39, 60, 120 Gautier, Théophile 81, 124 Giacometti, Alberto 177

348

Register

Gide, André 119 Golberg, Mécislas 19 Goldwater, Robert 9 Gourmont, Remy de 119 Guillaume, Paul 37–38, 40, 44–50, 52–53, 65, 67, 77, 112, 136, 138, 228, 323 Gumbrecht, Hans Ulrich 90, 317 Hofmannsthal, Hugo von 95 Honneger, Arthur 49 Houellebecq, Michel 310 Huelsenbeck, Richard 54 Hugo, Victor 87 Huidobro, Vicente 69, 75, 113–114 Jacob, Max 49 Jeanneret, Pierre 49 Kahnweiler, Daniel-Henry 38 Kandinsky, Wassilij 21 Kant, Immanuel 24, 27, 115 Kolb, Jacqueline 80 Kristeva, Julia 15 Kühn, Herbert 22 Lamartine, Alphonse de 17 Léger, Fernand 56, 120, 246, 285, 313 Level, André 47 Lévy-Bruhl, Lucien 6, 322 Ludwig II. 307 Macke, August 169 Marinetti, Filippo Tommaso 1, 3, 5, 15, 35, 62–63, 66, 100, 120, 123, 136, 138, 140–142, 144–145, 169, 173, 182, 184, 187–188, 195–197, 200–201, 211, 215–216, 238, 253, 276, 290–291, 300–301, 305 Marino, Giambattista 191 Martineau, Henri 85 Matisse, Henri 27, 36–37, 39, 60, 117, 129–130, 252, 312 Metzinger, Jean 76 Milhaud, Darius 49 Montaigne, Michel de 17 Montesquieu 17

Nerval, Gérard de 17 Nietzsche, Friedrich 227, 250 Ovid 271 Pagès, Madeleine 112 Palazzeschi, Aldo 2, 123–124 Pascoli, Giovanni 124 Pawlowski, Gaston de 225 Perret, Auguste 49 Petrarca, Francesco 127 Picabia, Francis 56, 61 Picasso, Pablo 11, 36–40, 43, 55–57, 60–61, 74, 76, 120, 122, 125, 130–132, 177, 228, 259, 278, 285 Poulenc, Francis 49, 54 Pound, Ezra 3 Princet, Maurice 225, 229 Raynal, Maurice 76, 229 Réja, Marcel 19, 74–75, 77–78, 81, 83, 94, 109, 132 Reverdy, Pierre 2, 5, 11, 14, 30, 35, 49, 55, 57–59, 61–63, 68–71, 78, 89–92, 94, 97–98, 102, 104, 111, 113–114, 117, 119, 127, 129, 133–135, 137, 143–144, 155–159, 172, 178–181, 190–192, 196–197, 215, 227, 241–242, 245, 248, 261–262, 265–266, 273, 278, 298, 315, 326 Rimbaud, Arthur 175–177, 194 Rousseau, Henri 39, 67 Rousseau, Jean-Jacques 17, 98 Rouveyre, André 164, 234 Royère, Jean 114, 214 Rubin, William 9 Russolo, Luigi 1, 152, 167, 300 Saint-Point, Valentine de 128 Salmon, André 93, 109–110, 203, 208, 235 Satie, Eric 49, 54 Savinio, Alberto 128, 315 Schlaffer, Heinz 308 Severini, Gino 1, 129, 152, 167, 300 Soffici, Ardengo 1, 3, 5–6, 11, 35, 39, 51, 58, 62, 68–70, 97–100, 120, 122–124, 126,

Register

128–129, 135, 138, 154, 162–163, 165–166, 168–172, 177, 184, 189, 191–194, 209, 211–212, 215–217, 224–228, 230, 240, 254, 257, 263, 274–276, 279–281, 283–284, 291–293, 301, 315, 319, 321, 326 Soupault, Philippe 125 Spinoza, Baruch de 96 Stravinsky, Igor 49 Tailleferre, Germaine 49 Taine, Hippolyte 20 Tesauro, Emanuele 191, 196 Töpffer, Rodolphe 20 Tylor, Edward B. 6 Tzara, Tristan 2, 54

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Ungaretti, Giuseppe 215 Ursula von Köln, heilige 304 Van Dongen, Kees 129 Verwey, Albert 58 Vlaminck, Maurice de 35–37 Wagner, Richard 98 Weber, Max (Maler) 225–226, 228–229, 236 Weber, Max 71, 118, 310 Whitman, Walt 200 Worringer, Wilhelm 20, 22 Zayas, Marius de 46