Die Sprengkraft des Humanismus: Ein Beitrag zur Politik der Seele 9783495824047, 9783495491508


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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
Der Mensch ist das Wesen, das keines hat
Zum Begriff »Seele«
Teil I Politik der Seele
Antiker und moderner Materialismus
Mimesis ans Tote
Die klassischen drei Kränkungen
Teil II Primat des Geistes
Die vierte Kränkung
Intuitionen und die Würde des Denkens
Intuitionen
Die Würde des Denkens
Der erste Programmierer
Teil III Pneumatischer Materialismus
Die Unsterblichkeitsfantasie
Der Frankensteinkomplex
Ein Resümee
Teil IV Transformation nach unten
Wie es ist, man selbst zu sein
Mensch sein unter Maschinen: Die KI-Schranke
Wie es ist, eine Maschine zu sein
Teil V Die Sprengkraft des Humanismus
Lebendigkeit
Sehnsucht
Horizont der Verwandlung
Anmerkungen
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Die Sprengkraft des Humanismus: Ein Beitrag zur Politik der Seele
 9783495824047, 9783495491508

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Peter Strasser

Die Sprengkraft des Humanismus

Ein Beitrag zur Politik der Seele

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824047

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B

Peter Strasser Die Sprengkraft des Humanismus

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Peter Strasser

Die Sprengkraft des Humanismus Ein Beitrag zur Politik der Seele

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Peter Strasser The Explosive Force of Humanism A Contribution to the Politics of the Soul After all the swan songs to »man« in the 20th and 21st centuries, it seems more important than ever to update the great tradition of humanism. Only this approach opens a perspective of liveliness and peace beyond the iron bonds of nature. The innermost part of our being may be transcending the given world – longing for paradise; precisely for this reason we are obliged to make our world a garden of the human. We are, beyond all psychology and deconstruction, soul-like creatures who strive for the true, the good and the beautiful, for that which is »unattainably near« to us: this paradoxical aptitude is groundbreaking for the politics of the soul, it forms the timeless explosive force of humanism.

The Author: Peter Strasser, born in 1950, was habilitated in 1980. He has been teaching philosophy and philosophy of law at the Karl-Franzens-Universität Graz. Since 1999, he has continuously given lectures and seminars at the University of Klagenfurt. He is the author of numerous influential books and op-ed columns (in: Die Presse, Neue Zürcher Zeitung, Hohe Luft). In 2014 he received the Austrian State Price for Cultural Journalism.

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Peter Strasser Die Sprengkraft des Humanismus Ein Beitrag zur Politik der Seele Nach all den Totsagungen des »Menschen« im 20. und 21. Jahrhundert scheint es heute wichtiger denn je, die große Tradition des Humanismus zu aktualisieren. Nur diese eröffnet eine Lebendigkeitsund Friedensperspektive jenseits der eisernen Naturbande. Das Innerste unseres Wesens mag im Ursprung weltflüchtig sein – paradiesesstrebig –, gerade deshalb sind wir gehalten, aus unserer Welt einen Garten des Menschlichen zu machen. Wir sind, über alle Psychologie und Dekonstruktion hinaus, seelenhafte Kreaturen, die nach dem Wahren, Guten und Schönen streben, nach dem uns »unerreichbar Nahen«: Darin, in jener paradoxen Begabung, gründet die Politik der Seele, sie formt die zeitlose Sprengkraft des Humanismus.

Der Autor: Peter Strasser, Jahrgang 1950, lehrte seit seiner Habilitation 1980 Philosophie und Rechtsphilosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie seit 1999 an der Universität Klagenfurt. Er ist Autor vielbeachteter Bücher und Kolumnen (in: Die Presse, Neue Zürcher Zeitung, Hohe Luft). 2014 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Covermotiv: Benozzo Gozzoli, Zug der Heiligen Drei Könige (Ausschnitt), 1459, Palazzo Medici Riccardi, Florenz Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49150-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82404-7

https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Teil I Politik der Seele Antiker und moderner Materialismus . . . . . . . . . . .

17

Mimesis ans Tote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

Die klassischen drei Kränkungen

31

. . . . . . . . . . . . .

Teil II Primat des Geistes Die vierte Kränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Intuitionen und die Würde des Denkens . . . . . . . . .

48

Der erste Programmierer . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Teil III Pneumatischer Materialismus Die Unsterblichkeitsfantasie . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Der Frankensteinkomplex . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

Ein Resümee

71

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Inhalt

Teil IV Transformation nach unten Wie es ist, man selbst zu sein . . . . . . . . . . . . . . .

77

Mensch sein unter Maschinen: die KI-Schranke . . . . . .

88

Wie es ist, eine Maschine zu sein . . . . . . . . . . . . . 109

Teil V Die Sprengkraft des Humanismus Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Horizont der Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

8 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Einleitung

Der Mensch ist das Wesen, das keines hat Die vorliegende Studie will der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass, beginnend mit der Martin-Heidegger-Tradition über die diversen Formen des Dekonstruktivismus, nach all den Totsagungen des »Menschen«, es heute wichtiger denn je scheint, an die große Alternative des Humanismus anzuknüpfen. Dabei geht es nicht darum, die Herrschaft des intelligenten Raubtiers, das wir auch sind – ein Tier, das mit seiner Intelligenz den Erdball vielleicht unbewohnbar machen wird, nachdem es allem, was ihm im Weg stand, vernichtete oder quälte wie das Nutzvieh –, rechtfertigen zu wollen. Mag sein, dies ist ein Teil unserer paradiesesfernen, teuflischen Natur, die sich heute unter der Wertfreiheit der Wissenschaft als schlichte Gegebenheit präsentiert: the survival of the fittest. So oder ähnlich wurde es tausendmal wiederholt, und das ist nach wie vor, trotz aller angeblichen Kultiviertheit und Zivilisation, die große Versuchung. Ja, man mag sich fragen, ob in Kultur und Zivilisation nicht eben jenes Recht des Stärkeren in vielfach sublimierter Form weiterlebt. Was zählt, ist in Wahrheit weiterhin nicht der Weg, sondern das Ziel – und das heißt eigentlich auf allen Gebieten: Siegenwollen und damit der Triumph des Siegers … Und doch ist der Mensch, soweit wir wissen, das einzige Wesen, welches eine Vorstellung davon entwickeln kann, wie es ist, ein Mensch zu sein. Ich sehe darin, von allen genetischen Programmierungen abgesehen, die eigentliche Wurzel von Ethik und Metaphysik. Und eben Ethik und Metaphysik sind es, die zum Kern unseres Menschseins führen. Dieser Kern erwuchs aus der Tiefe der Zeiten, ihm eignet wesentlich, was unsere Vorfahren »Seele« genannt haben – noch Kant sprach von einer 9 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Einleitung

regulativen Idee. Wir dürfen, solange wir Menschen im emphatischen Sinne des Wortes bleiben wollen, jene Idee nicht dadurch verlieren, dass wir uns physikalistisch einmauern in den toten Stoff oder vorsokratisch auf ein Sein berufen, worin das Humane und Ethische nicht ursprünglich gedeihen. Ich betrachte also den Humanismus als den authentischen Ausdruck des menschlichen Wesens: dieses paradoxen Wesens, das – aufgrund der dem Homo sapiens eigenen Freiheit, sich immer wieder neu zu »definieren« – eine Art von (metaphysischer) Wesenlosigkeit begründet. Und es scheint mir berechtigt, in dieser wesenhaften Wesenlosigkeit den Ausdruck des menschlich Seelenhaften zu erblicken. Im derart verstandenen Humanismus ist zugleich eine Friedensperspektive enthalten, die erst jenseits der eisernen Naturbande zum Tragen kommen kann. Es handelt sich, utopisch gedacht, um die Perspektive eines Friedens aus menschlicher Solidarität, deren Bestehen möglich wird, weil sie noch über sich selbst hinausreicht. Das ist der Gehalt jener regulativen Idee, die bei Kant »Seele« heißt. Was ich zu sagen versuche, lässt sich auch auf eine andere Art und Weise sagen (und all unser Reden nimmt hier poetische Züge an): Wir sind im Innersten unseres Fühlens und Sehnens weltfremd und zugleich angehalten, aus dieser Welt einen Garten des Menschen zu machen – oder besser, unter Verwendung einer Wendung des großen Humanisten Carl Friedrich von Weizsäcker: Garten des Menschlichen. Den Gegenpol dazu bildet – um ein vielzitiertes Beispiel zu nennen, wenn auch kein sehr konturiertes – Peter Sloterdijks Menschenpark, worin das Humane des Menschen darin bestünde, die allem Menschlichen einprogrammierte Zerstörungsdynamik durch Zuchtwahl und genetische Neujustierung zu stoppen. Warum Gegenpol? Weil der Menschenpark, dessen Name nicht zufällig Zoobegriffliches anklingen lässt (»Tierpark«), eine Lebensform widerspiegelt, worin der Mensch dem Menschen bereits zum Anthropomorphismus geworden ist. Er will, ganz Antihumanist, von sich weg, um sich selbst zu retten 10 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Zum Begriff »Seele«

vor dem, was er ist. Denn er leugnet dann, ganz Naturalist moderner Prägung, dass sein Wesen mehr beinhalten könnte als Natur: Natur des Kampfes ums Überleben, Natur als der Grund allen Rechts, und zwar des Rechts des Stärkeren. Konträr dazu versuchen die folgenden Ausführungen zu demonstrieren, dass unserem Sein eine seelische Triebkraft innewohnt, derart verstanden, dass das eigentlich Humane über das Naturgegebene im Sinne des modernen Naturalismus hinausgeht: Wiewohl diese Triebkraft der Wissenschaft unzugänglich bleibt, so ist sie uns doch, falls wir uns nicht selbst intellektuell und emotional blenden, unmittelbar evident. Es lässt sich auf verschiedene Weise zeigen, wie sie sich äußert, gegen alle titanischen Projekte der Künstlichen Intelligenz und des Posthumanismus. Wir sind zugleich wahrheits- und paradiesesstrebige Wesen, und es liegt an uns, uns dem unerreichbar Nahen – der Erlösung vom Bösen, und der Erlösung des Bösen von sich selbst – als endliche, der Endlichkeit überantwortete Organismen anzunähern, ohne es jemals durch unsere Worte oder Taten »einholen« zu können. Wir sind, indem wir sind, einander als winzige Teilnehmer am Weltganzen nahe; wir können uns selbst zu Objekten unserer eigenen Wissenschaft machen. Aber würden wir uns darauf beschränken – im Sinne etwa einer wissenschaftlichen Anthropologie –, dann würden wir unser Eigentliches verfehlen: das uns unerreichbar Nahe unseres Seins und Daseins. Für mich ist dieses Bild die philosophische Metapher für jenes intime Mysterium, an dem wir gegen alle positivistischen Einwände festhalten sollten. Das »unerreichbar Nahe« ist ein Begriffsbild unserer Seele.

Zum Begriff »Seele« Natürlich ist jedem, der sich mit dem Thema jemals befasste, klar, dass der Begriff »Seele« sowohl eine große Vergangenheit hat, namentlich im christlichen Abendland, als auch religiös 11 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Einleitung

schwer belastet ist (obwohl die Frage, ob man hier von Belastung sprechen sollte, zu diskutieren wäre). Die Seele wurde als das Unsterbliche am Menschen traktiert; sie war es – im Gegensatz zum Leib, insofern dieser der dunklen, sündigen Materie zugehörte –, die das menschliche Geschöpf in eine intime Beziehung zu seiner Urheimat, zum Sein bei Gott, brachte. Noch im sonst so leibbewussten Barock war die Seele eine immaterielle Substanz. Bei René Descartes wurde sie, in rationalistischer Manier, als res cogitans nicht nur zur Seelensubstanz. Sie war darüber hinaus befähigt, als denkende Seinsmacht den Menschen vor den Einflüsterungen des Bösen zu bewahren, ihn jene Erkenntnisse zu lehren, die sinnvoll nicht mehr zu bezweifeln waren und letzten Endes zur Gotteserkenntnis führten. Freilich war die Seele, im Christentum mit dem Makel der Ursünde behaftet, auch immer dem Verführungswerk Satans ausgesetzt; sie konnte fehlen und sie verfehlte allzu oft das gottgefällig Gute. Dies war der Grund irrationaler Ängstigungen schlimmster Art und all der wahnwitzigen und brutalen Reaktionen, die aus solchen Ängstigungen erwachsen. Es drohte dem Sünder das ewige Höllenfeuer, und im Namen der Errettung ließen sich folglich die grausamsten Unternehmungen im Namen von Heidenbekämpfung und Missionierungsauftrag rechtfertigen. All das ist wohlbekannt. Soll man deshalb der Seele den Prozess machen und jene, die sich auf sie berufen, als Hinterbänkler der Aufklärung, gar als Narren aburteilen? Nein, denn wie fast alle grundlegenden Begriffe unseres nicht bloß äußerlichen, sondern existenziellen Weltverständnisses hat auch der Seelenbegriff eine Geschichte der Transformation durchgemacht. Aus einer archaischen Gewissheit und Bedrängnis wurde eine freiheitsspendende Macht. Sehnsuchtsenergie wurde freigesetzt. Aus dem Glaubensknebel wurde eine metaphysische Sprengkraft, die das Humane im Menschen ans Tageslicht treten ließ: »Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium«, wie es in Schillers Ode an die Freiheit (1785) heißt. Es ist jene Sprengkraft, die für den Humanismus von ent12 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Zum Begriff »Seele«

scheidender Bedeutung wird und es heute – bei all den posthumanistischen Clownerien – wieder mehr denn je ist. Denn über die Fähigkeit des Menschen, sich auf ichzentrierte Weise reflexiv zu sich selbst zu verhalten, bleibt das Seelenhafte (ob man es nun »regulative Idee« nennt oder nicht) Ausdruck einer einzigartigen menschlichen Paradoxie, die erst die Würde des Homo sapiens konstituiert: Etwas in mir – um es höchstpersönlich zu sagen – entzieht sich allen Festschreibungen; wann immer ich über mein Wesen nachsinne, entgleitet es mir. Ja, meine Gene sind meine Gene, und sie legen meine Eigenschaften fest. Gleichwohl hat derjenige, der so spricht, eine Autorität: die Autorität der Ersten Person, die sich durch eben die Feststellung des Festgelegtseins einer über das Feststehende hinausreichenden »Freiheit« überantwortet. Dass der Mensch eine Seele hat, bedeutet demnach, dass er seinem innersten Wesen gemäß unfassbar bleibt. Indem niemand von sich selbst sagen kann, er wisse definitiv, wer er sei, außer in einem äußerlichen Verständnis, nämlich über die Selbst-Identifikation auf dem Wege der eigenen biologischen, institutionellen oder psychologischen Charakteristika, ist jeder Mensch zugleich über all das hinaus, was durch Naturgesetze in ihm »festgeschrieben« wird. Kein Mensch ist eine Maschine, es sei denn, er hätte keine Seele. 1

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Teil I Politik der Seele

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Antiker und moderner Materialismus

Isaac Newtons dreibändige Philosophiae naturalis principia mathematica, die »Mathematischen Prinzipien der Naturlehre«, waren in erster Ausgabe 1687 erschienen. Es ist dann um die Zeit der Aufklärung – der, wie sie sich selbst gerne sieht, historischen Epoche des Lichts am Ausgang des dunklen Mittelalters: les lumières –, dass den Menschen ein schwindelerregender Gedanke erfasst. Nachdem seit Newtons Mathematisierung der Naturtheorie das Universum ganz von alleine zu laufen scheint, vergleichbar einem Uhrwerk, das aus sich selbst heraus funktioniert, ist es naheliegend zu fragen, wo der Platz des Menschen sei. Und die Antwort, welche die fortschrittlichen Geister, die von jedwedem Seelenbrimborium angewidert sind, am meisten fasziniert, lautet: Der Mensch ist ein Teil der Maschine namens Universum, genauer: des belebten Universums, dessen Naturgrundsätze dieselben sind wie jene des Ganzen überhaupt. Das lässt sich auch so sagen: Der Mensch ist eine Maschine. 1748 erscheint anonym ein skandalträchtiges Werk unter dem Titel L’Homme plus que machine. Der Autor ist Arzt und Philosoph, sein Name Julien Offray de La Mettrie. Sein Buch, das späterhin einfach L’homme machine, zu Deutsch: »Der Mensch (als) eine Maschine«, heißen wird, ist außerordentlich langweilig und auch heute noch außerordentlich aktuell. Es nimmt polemisch die Vorstellung von René Descartes auf, dass die Tiere nichts weiter als Maschinen seien, im Gegensatz zu den Menschen, die eine Seele haben. Und es behauptet, wenig überraschend, dass auch die Menschen bloß Tiere und daher ebenfalls Maschinen seien, wenn auch ganz besondere, nämlich solche aus Knochen, Fleisch, »Drüsen« und Blut. Was wir hier vor uns haben, ist Materialismus, und zwar – 17 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

das muss man sehen – der Materialismus eines Arztes, der sich noch meilenweit davon entfernt sieht, das Gros der Krankheiten, die den Menschen siech und elend machen, wirksam bekämpfen zu können. Gerade erst hatte man die Irritabilität der Muskelfasern entdeckt. Froschbeine, die elektrisch gereizt wurden, gerieten in Zuckungen, sehr zum schaurigen Entzücken des Publikums. Es werden die vielen Experimente folgen, in denen man Teile des Gesichts einer menschlichen Versuchsperson mit Strom stimuliert, sodass diese unwillkürlich Grimassen schneidet, welche eine innere Erregung auszudrücken scheinen: Heiterkeit, Schrecken, Staunen, Traurigkeit. Aber entspricht der physiognomischen Evidenz tatsächlich ein Gefühl? Zu klären gilt es die grundlegende Frage: Ist der Mensch in seiner Substanz so beschaffen, dass zuerst die physiologische Ursache kommt und dann, als gleichsam psychologische Begleitmusik, das subjektive Empfinden, welches sich im Gesichtsausdruck spiegelt? Die gebetsmühlenartige Antwort aller neuzeitlichen Materialisten lautet bekanntlich: Ja. Und die Hoffnung, die sich an dieses »Ja« knüpft, ist offensichtlich: Man wird das subjektive Elend der Menschen nicht wirksam bekämpfen können, indem man die Kirchen frequentiert und den Beistand Gottes anfleht, sondern nur, indem man die wahren Ursachen der Leiden auskundschaftet, die vergleichbar den Störungen innerhalb einer Maschine – ja eigentlich Störungen eines maschinellen Ablaufs, hier sozusagen im Räderwerk eines biologischen Systems – sind. Es scheint, als ob der Materialismus eine Erfindung der griechischen Philosophie in der Antike gewesen sei. Man denke an die Atomisten, vornehmlich an Demokrit (etwa 460–370), den Schüler des Leukipp. Hatten sie nicht gelehrt, dass die Welt, und der Mensch darin eingeschlossen, aus kleinsten Teilchen bestehe, die griechisch á-tomos sind, eben unzerlegbar, dabei jedoch unterschiedlich geformt, ausgestattet mit Ösen und Häkchen, um Komplexe, vom kleinsten bis zum größten teilbaren Objekt, zu bilden? Und dass je nach Beschaffenheit der Teilchen, der Art ihres Verbundenseins und der Weise ihres Einwirkens 18 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

auf den menschlichen Körper erst die sinnlich wahrnehmbare, subjektiv erlebbare Welt mit der Vielfalt ihrer Gestalten, Geschmäcker, Gerüche und Töne entstehe? Das sind Fragen, die möglicherweise in die Irre führen. Denn wir neigen nach wie vor dazu, den Atomismus des 18. und 19. Jahrhunderts auf jenen frühen Anfang der Naturspekulation zu projizieren. Dabei übersehen wir, dass einem Vorplatoniker die später so geläufige und dann, noch später, heftig umstrittene Idee, wonach Seele und Materie etwas grundsätzlich Getrenntes seien, als obskur erschienen wäre. Denn zwischen Seelischem und Materiellem klaffte kein ontologischer Abgrund, beides war nicht wesensverschieden. Die Seele mag wie bei Empedokles (etwa 483–423) aus Feuer bestehend gedacht werden oder wie bei Demokrit aus glatten kugeligen Atomen, in denen ein Abdruck der von außen kommenden Bildchen entstehen kann. Ein solcher Materialismus ist von vornherein beseelt – »pneumatisch«. Denn das pneuma, das im Griechischen so viel wie Hauch oder Atem bedeutet, ist, als Erscheinungsform des Seelischen, ein luftiges Gebilde der physischen Welt. Im griechischen Materialismus hat noch nicht stattgefunden, was dann, zweitausend Jahre danach, seit der Epoche der Aufklärung, die Angriffswellen des Materialismus so dramatisch, aggressiv und kulturumstürzlerisch macht. Kurz: Aus dem pneumatischen Materialismus musste erst der Materialismus der toten Materie werden. Die tote Materie – das ist ein Bild und doch mehr als ein Bild. Bevor wir den Hirntod »erfunden« hatten, waren Tote ihrer Natur nach Leichen. Das bedeutete, dass das Herz des Toten stillstand und mit dem Stillstand des Herzens alles Leben aus dem Menschen, der tot war, entwich. Kein Tod ohne Leiche, keine Leiche ohne Leichenstarre – so lauteten die Bedingungen dafür, dass der Mensch, der kurz zuvor als lebende Person existiert hatte, nun dabei war, sich in seine organischen und schließlich anorganischen Bestandteile aufzulösen. Die Seele – falls man ihre vom Leib ablösbare Existenz annahm – war bereits aus dem Körper ausgetreten und auf ihrer »Reise«. Heute sind für Spitalsärzte Menschen ein gewohnter Anblick, deren Gehirn tot 19 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

ist, samt intensivmedizinischer Maßnahmen, die das maschinenunterstützte Funktionieren des Herz-Kreislauf-Systems ermöglichen. Darunter sind »Spender«, denen man die Organe, soweit zu Transplantations- und Forschungszwecken brauchbar, entnehmen wird. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der medizinische Kampf gegen die – sagen wir – »Verleichung« des Toten unser Bild der toten Materie bestärkt statt abgemildert hat. Wenden sich die Angehörigen eines Hirntoten irritiert an den Arzt, der schon auf Organentnahme drängt, und machen ihm womöglich Vorwürfe, weil ihr Angehöriger doch offensichtlich nicht tot sein kann – es schlägt sein Herz, das Respirationsgerät lässt ihn atmen, sein Körper ist warm und seine Haut hat die Farbe eines Lebenden –, dann werden sie in mehr oder weniger pietätvollen Worten zu hören bekommen, dass sie einer Täuschung unterliegen. Was da vor ihnen pulsiert, atmet und warm ist, ist mit dem Funktionieren einer Maschine zu vergleichen, nur dass die Maschine im speziellen Fall zu einem großen Teil aus organischer Materie besteht. Der Arzt wird versuchen, die Angehörigen aufzuklären: »Die Person, die Sie zu sehen glauben, existiert hier, in diesem Bett, nicht mehr; ihre Existenz war an die Existenz eines lebendigen Gehirns gebunden.« So ist der Tod also schon da, wenn der Körper noch eine Zeitlang »in Gang gehalten« wird. Dabei handelt es sich jedoch um ein unumkehrbar geist- und empfindungsloses, ein bewusstloses Funktionieren in einem Universum, das aus lauter »toter Materie« besteht (ein Standpunkt, den der einfühlsame Arzt den Hinterbliebenen gewiss nicht derart schonungslos auseinandersetzen wird und der, als Ausdruck eines kompromisslosen Materialismus, vermutlich auch gar nicht den ärztlichen Commonsense widerspiegelt). Tote Materie, bei Descartes res extensa: Das ist nicht mehr der pneumatisch, seelenhauchvoll begabte Stoff der alten Griechen. Das ist schon ein ganz anderer Stoff, der sich da in Raum und Zeit ausbreitet. Im Innersten physikalisch und maschinell, nach den ewigen Gesetzen eines Universums funktionierend, 20 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

das im Innersten physikalisch und maschinell ist, wobei die Frage des »objektiven Zufalls« die Maschinenmetapher komplizieren mag, zur Klärung der Frage einer kosmischen Pneumatik aber – jedenfalls vordergründig – offensichtlich keinen Beitrag leistet. Wie kommt in diesen Raum der toten Bewegungen, in diese mitunter kälter als leichenhauskalte, mitunter glühende Weltmaschine so etwas wie Bewusstsein oder Geist? Die Antwort des Descartes ist wohlbekannt: Der Geist, das Seelische kommt nicht aus der Maschine, es kommt von woanders her, nämlich aus dem Nirgendwo. Denn der Geist, die res cogitans, ist immateriell und daher ohne Ort. Das Problem scheint offensichtlich: Die Materie ist stofflich und damit raumgebunden, auch raumgebend; der Geist hingegen existiert in der Zeit, ohne sich ursprünglich an den Raum zu binden oder Raum schaffen zu können. Und doch muss eine »Interaktion« zwischen den beiden Substanzen möglich sein. Descartes hielt die Zirbeldrüse für das Gebiet im Gehirn, wo das Seelische, Ichhafte, auf die Materie einwirkt. Wie aber der »tote«, weil seelenlose, geistlose, bewusstlos dreidimensional ausgebreitete Stoff auf das immaterielle Bewusstsein einzuwirken vermag (et vice versa), um dort all die bunten Bilder zu erzeugen, die unsere Anschauungswelt kennzeichnen – dies alles bleibt, trotz mehr oder minder ungelenker Erklärungsversuche mit Zirbeldrüsensäften und Nervenfasererregungen, ein Rätsel ersten Ranges. Vom Standpunkt der res extensa aus gesehen ist das Bewusstsein ein ortloses Gespenst, es ist nicht einmal klar, was es sinnvoll heißen sollte, es sei »im Kopf« lokalisiert oder über den empfindungsfähigen Körper verteilt. Kein Zweifel, Kulturen, die das Reich der Materie konsequent »objektivieren« – man denke nur an die Vorstellung, dass den Dingen an sich keine Farbe, kein Geruch, kein Klang oder Geschmack zukommt –, neigen zu einem Konzept der Realität als qualitätsloser mathematischer Schatten. Es ist, ohnehin nur metaphorisch gesprochen, eine Skala von Grau-in-Grau. Der Beitrag des Christentums zu dieser ontologischen Grisaille ist durchaus zweideutig, was immerhin einschließt, dass er nicht 21 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

eindeutig ist: Einerseits gibt es die Asche, den Staub, es gibt die form- und leblose Erde, woraus der Gott der Genesis die Menschen formt, es gibt die Einhauchung der Seele in den toten Stoff; andererseits gibt es eine unlösbare Verbindung zwischen beidem. Für alle Sünden des Leibes ist die Seele mitzuständig, sie kann sich nicht sozusagen am Leib abputzen und ihre Hände in Unschuld waschen. Überhaupt ist das urchristliche Sein und Sosein der Welt, ganz gegen den gnostischen Instinkt, ein aus den Sinnen hoch emporwachsendes. Was in den kanonischen Evangelien durch, mit und an Jesus geschieht, reicht bis an den Himmel hinauf und bis zur Hölle hinunter. Im mystischen Wandlungsvorgang des letzten Abendmahles und der Abendmahlsliturgie wird, beim Brechen des Brotes und Trinken des Weines, das Wesen aller Dinge mitverwandelt. Die christlichen Dinge, darunter gerade die schlichten, sind im Innersten stets auch Epiphanien, göttliche Selbstoffenbarungen, die gar nicht anders als sinnlich präsent sein können. Die christliche Tiefe ist der Geist, der sich im Schein entbirgt, vom zarten Ergriffensein des Auges bis zum Taumel der visionär entflammten Sinne. Das ist es, was Martin Heidegger, der Autor von Sein und Zeit (1927), sein Leben lang in großen Begriffs- und Denkbögen beschreibt, auch wenn er mehr von der tiefen Angst und Langeweile im Anblick der Dinge zu wissen scheint als von den Ekstasen der Mystiker im Gottesglück. Entsprechend zweideutig ist die christliche Vorstellung des Todes. Man mag sie archaisch nennen, doch man darf nicht vergessen, dass es hier um die einzige Art des Weiterlebens nach dem Leben geht, die es lohnt, dass sie stattfindet, nämlich ein Weiterleben als die Person, die man im Leben war. Stirbt der Körper, so muss ihn die Seele verlassen und wird damit in einen prekären Zustand der ontologischen »Nacktheit« versetzt. Wenn sie nicht jeden Halt im Raum verlieren, ins Grenzenlose zerfließen und damit ihres individuellen Selbstseins verlustig gehen soll, dann braucht sie einen pneumatischen Leib: hauchartig, allerfeinster Rauch, gespensterhaft nebelig – wie auch 22 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

immer, es muss ihr möglich sein, ins Jenseits eingehen zu können, ohne sich, bei allem Absehen von allem Unwesentlichen der irdischen Existenz, ins Allgemeine oder Nichts zu verlieren. Der Bund mit der Materie darf nicht vollständig gelöst werden, er muss – was immer das heißen mag – in transformierter Form weiterbestehen, sonst überlebt die Seele, die ja die Einzigartigkeit des Einzelnen erst sicherstellt, das Leben nicht. Es ist dieser Hintergrund, vor dem die christliche Lehre von der Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten nicht ganz so anstößig anmutet. Denn die Auferstehung ist eine des wiederbeseelten Leibes. Mehr oder minder krude Bilder werden assoziiert: Grabdeckel springen auf; wo einst Gottesäcker waren und Schlachten geschlagen wurden, öffnet sich die Erde und die alten neuen Menschen treten in ein neues Licht, um den endgültigen Richtspruch, ewiges Wohnen bei Gott oder ewige Vernichtung im Feuersee, zu empfangen. Die scheinheiligen Zweifel, wie denn jene vor Gottes Richtstatt treten könnten, deren Körper beim Tod zerstört wurden, auseinandergerissen im Kugelhagel oder verbrannt am Scheiterhaufen, mindern kaum den großartigen metaphysischen Schwung, der dem pneumatischen Materialismus des Christentums innewohnt. Im Innersten des Seins ist es demnach möglich, dass ich durch alle Transformationen des Lebens hindurch der bin, der ich bin. Das ist das Wunder einer Schöpfung, die nur denkbar ist als zugleich geistbegabte und dem sinnlichen Schein im Innersten zugeneigte. Aber – wie bereits eingeräumt – die Stellung des Christentums zur Materie ist von Anfang an zweideutig. Stets bleibt der Verdacht, den die gnostischen Strömungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte äußern: dass nämlich die Materie und alles, was ihr nahesteht – die Triebe, die Sinne, der schöne Schein – eine Liaison mit dem Tod unterhalten, wenn nicht geradezu aus ihm hervorgehen. Dabei ist dies keineswegs ein Verdacht, der typisch bloß für das Christentum wäre. Der griechisch-römische Neuplatoniker Plotin (ca. 204–270) – einflussreich im Denken, Kaiser Galienus erwägt sogar, ihm die Mittel zur Gründung einer Stadt nach dem Vorbild der platonischen 23 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

Politeia zu verschaffen – erklärt die Materie so, dass sie aus all den Merkmalen besteht, die der Seinsfülle des Geistes widersprechen. Die Materie ist nicht das Licht, sondern die Nacht, nicht das Gute, sondern die Abwesenheit des Guten, nicht die Ordnung, sondern das Chaos, nicht das Sein, sondern das Nichts. Die Verbindung des Geistes mit der Materie ist daher notwendig ein Akt der Entfremdung. Die göttlichen Seelenfunken leben eingeschlossen im Kerker der Materie und sehnen sich zurück in ihre Heimat, streben nach der Lichtfülle des göttlichen All-Einen, aus dem sie herstammen. Jenes Eine (so lesen wir in den Enneaden, wörtlich »Neunheiten«, weil Plotins Schriften von seinem Schüler Porphyrius thematisch zu Neunergruppen gebündelt wurden) ist nicht bloß vollkommen, sondern übervollkommen. Aus der Überfülle reiner Liebe floss die Gottheit über. Das, was überfloss, waren die göttlichen Samen oder Seelenfunken, die sich in die Tiefe der unförmigen Nacht einsenkten, als welche die Materie »west«. Man kann also sagen, dass der Gegensatz zwischen pneumatischem Materialismus und dem Materialismus der toten Materie im Abendland mehrere Ursprünge hat, und vielleicht handelt es sich dabei um einen Archetypus des entwickelten menschlichen Denkens und Fühlens. Der Gegensatz hat tiefe Wurzeln in unserer Kultur, und seine Auflösung zugunsten einer Seite – dem Pneumatischen oder Materiellen – ist stets auch Zeichen einer kulturellen Radikalisierung oder Verengung. Jedenfalls ist es eine flache, ja propagandistische Ansicht der hier seit alters her obwaltenden Dialektik, wenn behauptet wird, der Fortschritt in Biologie, Gehirnneurologie und KI-Forschung beweise die Inexistenz der Seele, erweise die Idee der res cogitans als Illusion und bringe uns zwangsläufig zu der Einsicht, dass zwischen dem Geist des Menschen und seinen intelligenten Maschinen kein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Das Syndrom des Maschinenglaubens ist im 18. Jahrhundert bereits vollständig ausgebildet, also zu einer Zeit, die weder etwas von Neuronenschaltungen noch von Turing-Maschinen wusste. Darwins Werk über die 24 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Antiker und moderner Materialismus

Abstammung des Menschen, The Descent of Man, wird erst 1871 erscheinen, mehr als 120 Jahre nach La Mettries L’homme machine. Und Alan M. Turings klassischer Artikel »Computing Machinery and Intelligence«, publiziert in der Zeitschrift Mind, Nr. 236, stammt aus dem Jahre 1950. Dort erst wird ernsthaft jenes Imitationsspiel vorgeschlagen, das seither als Turing-Test bekannt ist und die Suche nach Künstlicher Intelligenz (KI) zum heiligen Gral des 20. Jahrhunderts werden ließ. Angenommen – so lautet, grob gesprochen, die Testanweisung –, wir platzieren eine Maschine mit Sprachsimulation hinter einem Vorhang, um sie von einem Menschen, der nicht weiß, wer spricht, in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Falls dieser Mensch schließlich nicht sagen kann, ob er die Konversation mit einer Maschine oder einem anderen Menschen führte, dann hat der Computer den Test bestanden. Und was bedeutet hier: »bestanden haben«? Es bedeutet – oder würde bedeuten –, dass die Maschine sprachlich und intellektuell so gut oder so schlecht wie ein Mensch agiert, was laut Turing wiederum zu folgendem Resultat führen müsste: Der Computer dürfte von sich zu Recht behaupten, nicht nur dass er das Sprachverhalten von Menschen perfekt imitieren könne, sondern dass er darüber hinaus in der Lage sei, eigenständig zu denken, indem er auf sinnvolle Fragen sinnvoll zu antworten verstehe und sinnlose Gesprächsteile als solche erkenne. Mit anderen Worten: Der Computer verhielte sich »geistvoll« – und wäre dies dann nicht ein Grund, ihm zuzugestehen, er habe Bewusstsein? Auf der Basis welchen Kriteriums wären wir denn noch berechtigt, ihm zu widersprechen?

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Mimesis ans Tote

Es gibt eine machtvolle geistige Bewegung, die seit den Tagen Newtons machtvoll anwächst und die im Endeffekt darauf abzielt, den Menschen in ein Weltbild einzupassen, welches bisher als »Materialismus der toten Materie« charakterisiert wurde. Doch in jener Charakterisierung schwingt eine kulturkritische Resonanz mit, die ich vermeiden möchte. Ich will gerade nicht sagen, dass es den Menschen jemals ein Bedürfnis gewesen wäre, sich in den Zustand toter Materie hineinzufantasieren. Dies zu betonen scheint nicht überflüssig, weil derlei Thesen in den 1960er-Jahren intellektuell modisch wurden. Schon 1956 war der erste Band der Zivilisationskritik des Österreichers Günther Anders (1902–1992) erschienen, Titel: Die Antiquiertheit des Menschen – Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Anders behauptete, dass der moderne Mensch, Schöpfer seiner Maschinen, diese aufgrund ihrer Perfektion und Leistungsfähigkeit schließlich zu beneiden und nachzuahmen beginne, bis er sich selbst zusehends als Maschine imaginiere und entsprechend am maschinellen Vorbild auszurichten versuche. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer hatten, basierend auf einer Vorarbeit im amerikanischen Exil, 1947 ihre späterhin höchst einflussreiche Dialektik der Aufklärung veröffentlicht. Diese genoss in der nachkriegsdeutschen Szenerie der »Vergangenheitsbewältigung« regelrecht Kultstatus. Eine der zentralen Thesen des Buches lautete: Die Aufklärung müsse, um den Gewalten des Mythos beizukommen, selbst einen Mythos hervortreiben. In ihrem titanischen Bemühen, ein rationales Verhältnis zur Welt zu etablieren, werde die Natur – zu der die fragile, störanfällige, sterbliche Natur des Menschen wesentlich gehöre – nur dann beherrschbar, wenn jene ontologische Hintergrund26 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mimesis ans Tote

perspektive dogmatisiert werde, die hier »Materialismus der toten Materie« genannt wird. In der Anwendung dieser Perspektive auf sich selbst müsse, entsprechend der Dialektik der Aufklärung, der Mensch seinem eigenen geistigen, pneumatischen, seelischen Wesen Gewalt antun. Horkheimer und Adorno bemühen daher eine dramatische Wendung, der zufolge die wissenschaftlich-technische Begriffsbildung eine »Mimesis«, also nachahmende Angleichung, »ans Tote« zur Folge habe. Demnach führe von den Naturbeherrschungsfantasien der Fortschrittsdenker zum technisch veranstalteten Völkermord an den Juden, zur Shoah, ein unterirdischer Kältestrom. Fazit: Es beginne mit der Zerstörung des – freilich selbst gewalttätigen – Mythos, der die toten Dinge beseele, und es ende dabei, dass der Mensch sich nicht mehr als beseeltes Wesen verstehen könne: als ein Wesen, das eine über den toten Stoff hinausreichende Würde habe. Eben dasjenige, was wir als das Menschliche am Menschen ausmachen, werde der Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaft, schließlich, als humanistischer Restmythos, zum Ärgernis. So gipfle das dialektische Projekt des Humanismus in einer wissenschaftlich betriebenen, radikalen Entfremdung des Menschen von sich selbst. Dass dieser Effekt unter radikalen politischen Rahmenbedingungen bei Auschwitz enden könne – und dann auch endete –, daran lassen Adorno und Horkheimer keinen Zweifel. Und es waren nun, neben institutionellem Geschick, auch solche Thesen wesentlich dafür verantwortlich, dass die beiden Autoren bald nach ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil zu Begründern der neomarxistischen Frankfurter Schule und damit halb billigend, halb irritiert zu akademischen Gurus der Neuen Linken in Deutschland wurden. Aus der Distanz beurteilt, sind die Thesen der Dialektik der Aufklärung diffus, konfus und – man muss es klar aussprechen – historisch katastrophal. Nichts stimmt an ihnen, außer das, was offenkundig ist: Chemikalien, die gegen Pflanzenschädlinge eingesetzt werden und auf diese Weise helfen, durch die Sicherung von Ernten Millionen Menschenleben zu retten, können 27 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mimesis ans Tote

auch gegen Menschen eingesetzt werden und auf diese Weise Millionen Menschenleben vernichten. Dass es jedoch im Wesen der modernen Schädlingsbekämpfungstechnik läge, Menschen und Insekten als im Wesen ein und dasselbe erscheinen zu lassen – eine Behauptung, die wir Martin Heidegger verdanken, der die motorisierte Ernährungsindustrie, ihrem Sein gemäß, mit der massenhaften Vernichtung von Menschen in Gaskammern gleichsetzte 2 –, ist selbst als polemische Konstruktion inakzeptabel, gleichgültig, ob die Protagonisten der Behauptung akademisch »links« stehen wie Adorno oder kulturell »rechts« wie Heidegger. Unter dem Deckmantel einer »Aufklärung über die Aufklärung« wird, ob gewollt oder ungewollt, gegen Massenaufklärung in Form einer Popularisierung des wissenschaftlichen Weltbildes und gegen Massendemokratisierung durch technisch ermöglichte Egalisierungsschübe Stimmung gemacht. Am Schluss – so die Botschaft der angemaßt kritischen Intelligenz – kann jeder lesen, rechnen und schreiben, jeder weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht, jeder bekommt sein Penicillin und was er sonst zum Überleben braucht; doch zugleich begegnen die Menschen einander immer würdeloser, sehen einander nur noch als Mittel zum Zweck, machen sich voreinander gleich, um als entseelte Rädchen im großen anonymen Machtgetriebe – Heideggers Ge-Stell – möglichst klaglos zu funktionieren. Die modernen Massengesellschaften bringen es mit sich, dass eine Uniformierung der Meinungen, eine Gleichschaltung der Lebensstile, ein Monotonwerden der Arbeitsprozesse in globalem Ausmaß stattfindet. Sogar der Individualismus bekommt, hat er sich erst der Massen bemächtigt, ein automatisiertes Konsumgepräge. Trifft das Programm der individuellen »Selbstverwirklichung« auf viele Menschen zu, so werden die Methoden, Produkte und skills, um dieses Ziel zu erreichen – die Medien der Selbstfindung und Selbstneuerfindung –, augenblicks gewinnbringend normiert und vermarktet, und zwar von einer Industrie, die mit dem Schein der Einzigartigkeit eines jeden Konsumenten ihrer geforderten ökonomischen Profitmaximierung 28 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mimesis ans Tote

obliegt. Die angebotenen Produkte, von der Kleidung bis zum Styling der intimsten Gefühle, sind klischierte Variationen mit vorgestanzten Materialien der Authentizitätssimulierung. Doch das, was durch das Klischee der Individualität verfehlt wird, ist paradoxerweise genau dasjenige, was man zu erreichen hofft. Indem man anders ist als alle anderen, wird man erst einer von ihnen – man gleicht ihnen bis aufs Haar dadurch, dass man penibel darauf achtet, niemandem aufs Haar zu gleichen. Das ergibt auch eine Dialektik, nämlich die der modernen Authentizität, die ebenso echt wie unecht scheint. Dass sich die Menschen diesem Prozess – dem Prozess der Differenzierung durch Anpassung oder Anpassung durch Differenzierung – gerne überlassen, ja ihn, so gut sie nur können, lustvoll zelebrieren, ist ohne Weiteres verständlich. Es handelt sich um die vermutlich beste Lösung eines chronischen Problems seit dem Aufkommen des modernen Individualismus. Das Problem besteht darin, wie man durch die Übernahme sozialer Rollen, die ihrem Wesen nach unpersönlich sind, zu seinem höchsteigenen wahren Selbst finden kann, wobei Letzteres jenseits aller sozialen Rollen nichts weiter repräsentiert als eine Leerstelle, die gebieterisch nach Form und Inhalt verlangt. So gesehen verachten die intellektuellen Befunde am Durchschnittskonsumenten, dass er die marktgesteuerten Produkte und Medien, welche, von einem elitären Standpunkt aus betrachtet, alle gleichmachen, eifrig und lustvoll nützt, um ein Individuum zu werden. Dass der kleine Mann tatsächlich denkt, er könnte authentisch sein, wird ihm als unbewusste Mimesis ans Tote oder als besinnungslose Unterwerfung unter das, was »man« tut, vorgerechnet. Aus den erwähnten Phänomenen wird indessen ganz und gar nicht begreiflich, warum heute viele Geister von der Vorstellung fasziniert zu sein scheinen, dass sie wesensmäßig nichts weiter als ihre Gehirne und ihre Gehirne wesensmäßig nichts weiter als Biomaschinen sein sollen. Diese radikale Form der »Selbstentgeistung« ist viel eher – wenn man den bombastischen Ausdruck noch einmal verwenden möchte – eine »Mimesis ans 29 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mimesis ans Tote

Tote«. Und die Frage bleibt dann, warum der Materialismus der toten Materie, wie er sich in den Leistungsformen der Neurowissenschaft und Künstlichen Intelligenz (KI) äußert, vielen geradezu als eine Offenbarung des geistigen Seins erscheint. Bevor wir darauf eine Antwort suchen, sollten wir uns um ein Verständnis dessen bemühen, was Bruce Mazlish die »vierte Kränkung« nannte, und zwar in seinem – bei uns weniger beachteten – Buch The Fourth Discontinuiy. 3 Mazlishs Leugnung der die längste Zeit behaupteten menschlichen »Diskontinuität« im Naturprozess hängt eng mit dem zusammen, was gewöhnlich als Frankensteinkomplex abgehandelt wird: der Warnung vor der Gottesanmaßung des Menschen. Da es mir allerdings fraglich scheint, ob die beiden Phänomene bloß zwei Aspekte ein und derselben Medaille sind, werde ich sie im Folgenden getrennt behandeln, um sie anschließend miteinander zu vergleichen. Das Ziel, das ich dabei verfolge, besteht darin, einen besseren Einblick in die Ursachen zu gewinnen, welche hinter der Neigung, ja Lust, sich selbst als Maschine zu begreifen, wirksam sind.

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Die klassischen drei Kränkungen

Bruce Mazlish (1923–2016) war ein Wissenschaftshistoriker am Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit einem deutlichen Hang zum Naturalismus. In seinem Buch The Fourth Discontinuity spricht er davon, dass der abendländische Mensch der Neuzeit nicht nur die drei klassischen »Kränkungen« in sein Selbstbild einzufügen hatte, sondern seit langem bereits jene bewältigen muss, die mit der Entwicklung intelligenter Maschinen einhergeht. Meine Gegenthese lautet: Die Großen Kränkungen sind ein weitreichendes Konstrukt, um die vom Humanismus festgehaltene Sonderstellung des Menschen zu leugnen – und damit die humanistische Utopie, die »Politik der Seele«, im Kern zu diskreditieren. Die erste Kränkung wurde dem Menschen bekanntlich dadurch zugefügt, dass er akzeptieren musste, nicht an einem Ort im Mittelpunkt des Universums zu leben. Die Erde, so der kosmologische Befund, war ein Stern unter Milliarden; und es konnte keine Rede davon sein, dass der ganze »gestirnte Himmel« um die Erde revoltierte. Dieser Verlust der Mitte mochte zu den Zeiten eines Nikolaus Kopernikus (1473–1543) und Galileo Galilei (1564–1642) vom christlichen Abendland als beunruhigend in einem tiefreichend religiösen Sinne empfunden worden sein. Denn die Sonderstellung der Erde war durch das jüdisch-christliche Buch Genesis außer Frage gestellt. Mazlish führt also, wie viele andere Kommentatoren, die »Kränkung« darauf zurück, dass durch die kopernikanische Revolution des Himmels eine als Bevorzugung empfundene Sonderstellung des Menschen eingeebnet wurde. Stimmt diese Sicht der Dinge? Teilweise wohl. Aber eine Kränkung im eigentlichen Sinne des Wortes hätte nur dann vorgelegen, wenn Homo sapiens – gedacht als die »Krone der Schöpfung«, ja als Imago 31 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die klassischen drei Kränkungen

Dei, »Abbild Gottes« – den Eindruck hätte gewinnen müssen, dass er seinem Schöpfer nicht mehr oder weniger bedeute als all die anderen Gebilde im Universum, deren Größe die unseres Heimatplaneten zumeist um ein unvorstellbar Vielfaches übertrifft. Schon Blaise Pascal, gestorben 1662, sprach gelegentlich davon, dass ihn »das ewige Schweigen« der »unendlichen Räume« erschrecke. Und musste der Mensch, zumal der Gebildete am Beginn der Neuzeit, nicht den Eindruck gewinnen, die Genesis sei ein frommes Märchen, gar Priestertrug? Was ihn dabei am meisten verstört haben mochte, war eine eisige Ahnung, die im neuen Wissen um die Welt mitenthalten war. Falls die Schöpfung, wie man sie im Buch der Bücher nachlesen konnte, von den Tatsachen Lügen gestraft wurde, gingen dann womöglich all unsere Vorstellungen von Gott, dem Allmächtigen, Allgerechten, Allliebenden, in die Irre? Existierte Gott überhaupt? Wo denn in diesem ewigen Schweigen der unendlichen Räume wäre ER zu suchen … ? Es ist ein riesiger Schatten, der sich hier über die geistigen Sicherheiten zu legen beginnt, und in diesem Schatten – das wusste die Kirche von Anfang an – verbargen sich die Gespenster des Unglaubens, des Deismus, des Atheismus. Nicht der Mensch war »gekränkt«, sobald er das neue Wissen begriff, sondern Gott und seine Schöpfung wurden in Frage gestellt; ein radikaler Hochmut, der sich bald »Aufklärung« nennen würde, stand zu befürchten. Deshalb wird Galilei einerseits gezwungen, das neue Wissen über die exzentrische Position der Erde abzuleugnen, und deshalb wird andererseits sein überlieferter Ausspruch: »Und sie bewegt sich doch!« – ein Ausspruch, den er als treuer Katholik niemals getan hat – zu dem Feuerzeichen des nicht mehr zu bändigenden Geistes, der alles Gottvertrauen rasch ablegt, um sich in der Welt eigenständig zu orientieren. Der neue Geist will ohne autoritäre Lenkung lernen, was ist und was nicht ist. Bald schon werden die Naturkundigen offen die Frage stellen: Angenommen, Gott würde nicht existieren … ? – obwohl er, wie man geflissentlich hinzufügt, zweifel32 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die klassischen drei Kränkungen

los existiert, zumindest als Erster Beweger und Chefkonstrukteur: … aus welchen Gesetzen ließe sich dann der Gang der Weltmaschine erklären? Es scheint, als ob die erste Kränkung schnell überwunden ist. Was eigentlich sollte den Menschen dazu verpflichten, die Annahme eines persönlichen, immerfort schöpfungsaktiven Gottes zu tätigen, wenn es möglich war, mit wesentlich bescheideneren Hypothesen wesentlich erklärungskräftigere Antworten auf alle Erfahrungsfragen, welche die Welt der Vernunft stellte, zu geben? Warum sollte der Christ sich in eine Dauerhaltung der Demut und Zerknirschung begeben, wo doch die vernünftigste Annahme mit Bezug auf Gott diejenige des Deisten war, wonach der Watchmaker des Universums, nach Fertigstellung und Ingangsetzung des wunderbaren Uhrwerkes, sich um dieses nicht mehr zu kümmern brauchte, ja gar nicht mehr kümmern konnte, wollte er die Wohlabgestimmtheit des Ganzen aufrechterhalten? Schien nicht eine andere Haltung wesentlich angebrachter: die nämlich, dass, nachdem die Weltuhr einmal lief, nun der Mensch kraft seiner Vernunft die Stelle Gottes im Universum einzunehmen hatte? Es lässt sich kaum bezweifeln, dass dies die theologische Pointe des von Kant geforderten Ausgangs des Menschen aus seiner – wie es beim Philosophen heißt – selbstverschuldeten Unmündigkeit ist. Nicht Gott hatte den Menschen zum Mündel gemacht; er, der Mensch, war es selbst gewesen, indem er sich dem Afterglauben und Fetischdienst ergab. Wer so redet wie Kant, der redet als Gekränkter höchstens mit Bezug auf die Aberglaubensneigung und Narretei des eigenen Geschlechts. Offensiv gesprochen: Erst durch Männer wie Kopernikus, Galilei und Newton wird augenscheinlich, dass es der Glaube war, der dem Menschen den Blick auf seine wahre Sonderstellung in der Welt verstellte – jene Sonderstellung, die es ihm ermöglicht, sich als einziges Wesen über seine bisherige Unmündigkeit durch den Gebrauch des eigenen Verstandes zu erheben. Kurz: Der Mensch ist im Kontinuum der Geschöpfe das diskontinuierliche Wesen schlechthin. 33 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die klassischen drei Kränkungen

Hier, sagt die Legende, setzt die zweite »Kränkung« ein. Denn mit Charles Darwin (1809–1882) beginnt es dem Menschen zu dämmern: dass an der Grunddiskontinuität des Lebens alle lebendigen Wesen teilhaben – die Rede ist von den Mutationen im Erbgut –; und dass sich aber, innerhalb der Entwicklung der Arten, der Mensch ganz und gar kontinuierlich verhält, indem er über sehr lange Zeiträume aus dem Tierreich Schritt für Schritt evolviert. Während im Mikrozentrum des Lebens, bei der Reproduktion der DNA, der Zufall zu regieren scheint, ist auf der Makroebene, nämlich der Entwicklung der Ordnungen, Familien und Arten des Lebens, nichts zu bemerken, was den Namen »Schöpfung« auch nur im Entferntesten verdienen würde. Der Mensch unterscheidet sich insofern nicht grundsätzlich vom Affen, als er sich nicht grundsätzlich vom Tier unterscheidet (und das bleibt wahr, egal, ob der heute lebende Mensch von einer der heute noch lebenden Affenarten abstammt oder ob er in der evolutionären Verästelung schon an einem früheren Punkt abzweigte). Wirft man einen Blick auf die Karikaturen jener Zeit, die Darwins Werk physiognomisch kommentieren, hat man tatsächlich den Eindruck einer Kränkung oder, besser gesagt, Entrüstung. Auf Tausenden von Bildern wird Darwin mit einem Affengesicht dargestellt, nicht selten in der Pose eines Kathederfuchses, der einem Auditorium, bestehend aus lauter Affen, einpaukt, dass alle Affen vom Menschen abstammen. Über die Reaktion des Vatikans auf die Abstammungslehre Darwins braucht nicht viel gesagt zu werden: Sie wird zunächst als Blasphemie verdammt, da die Bibel sagt, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe. Bekanntlich gibt es auch heute noch US-Bundesstaaten, die unter dem Einfluss protestantisch-evangelikaler Kirchen stehen, die sich zum Kreationismus, also dem wörtlichen Verständnis der biblischen Schöpfungslehre, bekennen. Diese drängen darauf, dass in den Schulen der Darwinismus nur als eine von mehreren Möglichkeiten zur Entstehung des Menschen unterrichtet werden dürfe. Haben wir es hier nicht mit Zeichen einer tiefen Kränkung zu tun, die bis in die Gegenwart fortwirkt? 34 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die klassischen drei Kränkungen

Man muss sagen: Ja und nein. Denn oft ist der Protest plakativ und trifft gar nicht den Punkt, auf den die Evolutionstheorie zusteuert. Klarerweise distanzieren sich die Menschen davon, Affen zu sein. Das hat verschiedene Gründe, und einer der offensichtlichsten besteht darin, dass die Menschen keine Affen sind. Ein Grund, der weniger offensichtlich, aber nicht weniger aggressiv wirkt, ergibt sich aus dem Umstand, dass jedenfalls die Großen Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans) für das ungeübte, distanziert-menschliche Auge wie Menschen wirken, denen etwas Schreckliches zugestoßen ist. Sie machen den Eindruck von Wesen, die auf dem Wege zur Menschwerdung irgendwo im Animalischen, Triebhaften, im Sprach- und Vernunftlosen steckengeblieben sind. So gesehen sind die Affen ein Spiegel, in dem sich der Mensch mit Schaudern betrachtet, etwa wie Dorian Gray in seinem Bildnis, als es schon die ganze innere Zerstörung des einst so schönen Jünglings an der Oberfläche zeigt. Doch das sind, betrachten wir bloß die Gesamtbedeutung des Darwinismus für die moderne Welt, Nebenschauplätze mit spektakulären Seitenthemen, zum Teil unterbaut durch Missverständnisse. Bei den aufgeklärten Geistern stoßen Abstammungslehre und Evolutionstheorie schon deshalb auf ungeteilte Zustimmung – obwohl diese in den Anfängen des Darwinismus, angesichts der empirischen Beweislage, gar nicht angebracht war 4 –, weil sich hier die Möglichkeit eröffnet, das »wissenschaftliche Weltbild«, das zur Erklärung der Vielfalt des Lebens keines göttlichen Eingriffs bedarf, konsequent weiter auszubauen. Indem der Mensch ebenjenes Weltbild dadurch kreiert, dass er seinen autonomen Verstand gebraucht, befestigt er gerade seine Sonderstellung in der Welt. Je weniger er das Geschöpf Gottes ist, umso deutlicher tritt diese Sonderstellung unter allen anderen Wesen hervor. Als Teil der Natur ist es gerade er, der Homo sapiens, durch dessen eigenständig forschenden Geist sich die Natur ihrer selbst bewusst wird. Das war das enthusiastisch entfaltete Grundthema des Deutschen Idealismus gewesen, dessen Naturbegriff freilich ein um die Identitätslogik des Selbst35 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die klassischen drei Kränkungen

bewusstseins zentrierter und daher empirisch steril gewesen war. 5 Aber in der starken Version des anthropischen Prinzips, das zunächst vom australischen Physiker und Kosmologen Brandon Carter formuliert wird, lebt der Gedanke weiter: Es liegt in den spontanen Entfaltungsdynamiken des Universums, das dieses schließlich einen Punkt erreicht, an dem ein vernunftbegabtes Bewusstsein entstanden ist, welches sich der Erforschung des Universums widmet. Demnach wäre die Sonderstellung des Menschen, sein Status als das diskontinuierliche Wesen, schon im Urknall angelegt. Die dritte der klassischen Kränkungen, ausgelöst durch Sigmund Freud (1856–1939) und seine Psychoanalyse, ist das vielleicht komplexeste Phänomen im Widerstreit zwischen dem konservativen Menschenbild und seinen fortschrittlichen Dekonstruktionen. Die »Kränkung« ist offenkundig. Seit der Aufklärung war es der Stolz des Menschen gewesen, sich als Bewusstseinswesen gegen die Natur zu behaupten. Nicht Gott und die Schöpfung waren es, welche die Sonderstellung des Menschen in der Welt begründeten, sondern jene Art von Autonomie, die ihm durch den eigenständigen Gebrauch seines Verstandes ermöglicht wurde. Auch wenn die ganze Welt von ihrem Anfang bis zum Ende wie ein Uhrwerk nach den starren Regeln der Naturgesetze funktionierte, war der Mensch doch sozusagen Herr im eigenen Bewusstseinshaus. Autonomie hieß, dass man nach Vernunftgründen, die man erst selbst als solche anerkennen musste, in die Welt hineinzuwirken vermochte. Man war weder bloß ein Sklave des blinden Willens der blinden Natur noch ein fremdgesteuert Ausführender von Algorithmen, die im Gehirn abgespeichert waren. Mit Freud ändert sich dieses Bild, wenn auch nicht auf eindeutige Weise. Durch die Postulierung einer psychischen Sphäre des Unbewussten oder Unterbewusstseins wird die stolze Rede von der vernunftbasierten Autonomie zu einer fragwürdigen Angelegenheit. Denn Freuds Unbewusstes, das Es, ist nicht nur der ichferne Ort sexueller Triebe; er ist darüber hinaus eine psychische Instanz, über die das Individuum als Vernunftwesen zu36 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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nächst gar keine Kontrolle hat. Alles, was sich in der Tiefensphäre des Es an dunklen Wirkkräften versammelt, ist dem Autonomieradius des Ich entzogen. Das Es ist das alle Zivilisation bedrohende Reich des Verdrängten. Der Mensch, wie ihn Freud zeigt, ist ein Verdrängungswesen, aber nicht etwa aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit des Verstandes heraus, sondern aus einer unentrinnbaren Notwendigkeit, die uns unser Triebschicksal auferlegt. Um unsere Gefühle beherrschen, unsere rohen Antriebe sublimieren und unsere Handlungen kontrollieren zu können, muss gleichsam ein Deckel des Vergessens auf den Druckkessel unserer Primärwünsche geschraubt werden. Deren »Ausagieren« – wie es im Jargon heißt – würde es nicht erlauben, dass sich der Einzelne zu einer sozialen Persönlichkeit formt, und würde daher auch das Kollektiv daran hindern, einen Prozess der Zivilisation zu durchlaufen. Von Freud auf Kant zurückblickend, scheint plötzlich das ganze Projekt der Aufklärung naiv. Die Menschen glauben vielfach bloß, Meinungen aus guten Vernunftgründen heraus zu vertreten und entsprechend zu handeln, während sie in Wahrheit bloß »rationalisieren«. Hinter ihren Ansichten und Taten stehen Wirkmotive, die sie nicht kennen können, weil jene Motive ins Unterbewusstsein verdrängt wurden. Zum Beispiel: Die Männer verehren Gottvater und wissen nicht, dass sie damit eine psychische Urschuld bearbeiten, die ihnen niemals bewusst werden darf – den herbeigesehnten, in der Fantasie auch vollzogenen Vatermord. Der Liebende wiederum idealisiert die Geliebte bis zum Realitätsverlust, um nicht wahrhaben zu müssen, dass ein dunkler Teil in ihm an der Angebeteten noch immer die Züge der Mutter wittert, mit der er einst, unter dem Damoklesschwert der väterlichen Kastrationsdrohung, schlafen wollte. Wenn die Psychoanalyse recht hat, dann ist Aufklärung nur mehr als Aufklärung über die Aufklärung möglich. Der Mensch muss lernen, dass ein Großteil dessen, was er für autonome Verstandesarbeit hält, in Wahrheit undurchschaute Rationalisierungsarbeit ist. Diese ist weniger dazu da, Einblick in die Welt zu geben, als auf überlebensdienliche Weise zu verbergen, wie es 37 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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in der Welt des eigenen Inneren wirklich ausschaut. Ist das nicht »Kränkung« genug? Einerseits ja, solange man von dem traditionellen Modell des Bewusstseins ausgeht, wie es ontologisch seit Platon und dann, in bereits erkenntnistheoretisch zugespitzter Form, bei Descartes zum philosophischen Gemeinplatz wird: Wo ich ganz und gar ich bin – in den reinen Formen des Selbstbewusstseins –, dort bin ich mir selbst auch ganz und gar durchsichtig. Es ist diese Transparenzbegrifflichkeit, auf die Freuds Theorie einen tiefen Schatten fallen lässt. Falls es die Transparenz des Bewusstseins überhaupt gibt, ist sie ein randständiges Phänomen, worin die Wahrheit meiner selbst niemals auffindbar sein wird. Dort indessen, wo die Wahrheit über mich selbst zu finden ist, bin ich mir selbst das dunkelste Dunkel, das ich aus eigenen Kräften nicht zu erhellen vermag. Andererseits jedoch ist es schlichtweg falsch, zu behaupten, die Theorie Freuds würde den diskontinuierlichen Status des Menschen in der Welt ein weiteres Mal einebnen. Gerade das nämlich ist nicht der Fall. Man beachte: Es gibt keine Psychoanalyse der Tiere. Nur einem Wesen, das über die Fähigkeit zur moralischen Reflexion wie der Homo sapiens verfügt, kann sinnvoll eine psychische Architektur wie jene des Ich, Überich und Es zugeordnet werden. Denn bekanntlich hat ja das Ich, als die uns bewusste und unserem persönlichen Willen zugängliche Instanz des Seelenlebens, gleichsam alle Hände voll zu tun, um die unpersönlichen Triebansprüche, die aus dem Es aufsteigen, mit dem unpersönlichen Diktat der Sozialmoral zu harmonisieren. Geht dabei etwas schief, entstehen Schuldgefühle, Neurosen und, auf der kognitiven Seite, mannigfache Scheinerklärungen des unaufhellbaren Triebschicksals im Einzelleben. Und während Kant den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit gefordert hat, fordert Freud den Ausgang des Menschen aus seiner nichtselbstverschuldeten Unmündigkeit. Das ist die Definition der Aufklärung in der Psychoanalyse, und sie hebt den Menschen nicht weniger aus dem Reich des bloß Natürlichen

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heraus wie der Umstand, dass der Mensch an einer Unmündigkeit leidet, die er selbst nicht verschuldet hat. Kein Tier ist im wörtlichen Sinne unmündig. Denn der Begriff der Unmündigkeit impliziert als Potenzial, dass bei folgerechter Entwicklung irgendwann die Schwelle zur Mündigkeit hin überschritten wird. Der Standpunkt der Psychoanalyse lautet: Mit zunehmender Aufhellung des Triebschicksals wird der Einzelne befähigt, die verdrängten Anteile seiner Persönlichkeit in sein bewusstes Selbstbild und damit in den Radius dessen, womit man autonom umzugehen vermag, einzubauen. Zu sagen, dass mit der Psychoanalyse ein weiterer Schritt in Richtung Naturalisierung des Menschen getan wird, ist also, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Dafür spricht auch, dass es kaum möglich scheint, die Grundbegriffe der Freud’schen Theorie entsprechend dem naturwissenschaftlichen Standard gehaltvoll und zugleich streng kulturneutral zu formulieren – geschweige denn, dass das materialistische Jugendanliegen Freuds, alle psychologischen Grundkonzepte auf ihre physiologische Grundlage zu reduzieren, später ernsthaft verfolgt worden wäre. 6 Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Psychoanalyse ist ein theoretisches Rahmenwerk zur Erklärung menschlichen Verhaltens entstanden, das gegenüber allen möglichen Metaphorisierungen in Religion, Kunst und Alltag offen zu sein scheint, nicht jedoch gegenüber der Sichtweise empirischer Doktrinen der Psychologie, die sich, wie der Behaviorismus, ausdrücklich bemühen, zur Naturwissenschaft hin anschlussfähig zu bleiben.

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Teil II Primat des Geistes

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Die vierte Kränkung

Blicken wir auf die klassischen drei »Kränkungen« des Menschen durch die Wissenschaft zurück, so erhalten wir ein anderes Bild als jenes, welche die Ideologen auf beiden Seiten – die, welche noch immer gekränkt sind, und jene, welche die Gekränkten schon immer verspottet haben – vor uns entrollen. Von beiden Seiten tönt es, einmal klagend, einmal triumphierend: Der Mensch ist nichts Besonderes in der Welt, nichts, was sich den Gesetzen der Welt prinzipiell entzöge, wobei unter diese Gesetze vermutlich auch das »Gesetz des Zufalls« fällt. Demgegenüber hat sich uns bisher ein differenzierteres Bild nahegelegt. Auf jeder Stufe des Nachweises, demzufolge zwischen Mensch und Welt Kontinuität – und nicht eine Einzigartigkeit des Menschen als Geschöpf Gottes – besteht, wurde es möglich und notwendig, das Diskontinuitätstheorem auf einer abermals höheren Stufe zu reproduzieren. Der Generalnenner all dieser höherstufigen Bestätigungen läuft auf die fast paradoxe Erkenntnis hinaus, dass der Mensch das einzige Wesen in der Welt ist, dessen Natürlichkeit darin besteht, über die Natürlichkeit aller anderen Wesen hinauszureichen. Die Stichworte dabei sind stets, allgemein gesprochen, Geist und Autonomie. Das Denken macht die Größe des Menschen, sagt Blaise Pascal im 17. Jahrhundert, doch er sagt es noch ohne die deistische Anmaßung, aus welcher, nach der Abdrängung Gottes in eine weltindifferente Transzendenz, die dämonische Versuchung der Neuzeit erwachsen wird: die Selbstvergottung des Menschen. Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist es nötig, dass sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Windhauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten. Aber, wenn das All ihn vernichten

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Die vierte Kränkung

würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt, und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das Weltall aber weiß nichts davon. Unsere ganze Würde besteht also im Denken, an ihm müssen wir uns aufrichten und nicht am Raum und an der Zeit, die wir doch nie ausschöpfen werden. Bemühen wir uns also, richtig zu denken, das ist die Grundlage der Sittlichkeit.

Dass Pascal im berühmten Fragment 347 seiner Pensées 7 die spezifische Würde des Menschen darin sieht, dass er denkt und denkend noch die ungeheuren Tiefen des Alls zu durchmessen vermag, während das All nichts vom All weiß und auch nichts von einem gewissen Blaise Pascal, der im All an einem abseitigen Ort sitzt und über das All nachdenkt – diese Überlegung variiert die nun zu treffende Feststellung, wonach ich etwas von meinem Gehirn weiß, während mein Gehirn nichts von mir weiß. Hier nähern wir uns dem Punkt der vierten »Kränkung«, die das eigentliche Thema des Buches von Bruce Mazlish bildet. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass für Pascal ebenso wie für Descartes und Kant, und allgemein für die Tradition des Rationalismus, die eigentliche Diskontinuitätsschwelle durch die Fähigkeit des Denkens gebildet wird, wobei als selbstverständlich gilt, dass die Fähigkeit zu denken jene des Übersich-selbst-nachdenken-Könnens einschließt. Der Mensch ist für den Rationalisten das diskontinuierliche Wesen, weil er denken und das, was er denkt, bewusst denken kann und daher über Selbstbewusstsein verfügt. Machen wir von da aus einen Sprung in der Zeit, hinein in das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Es tut nichts zur Sache, wie groß dieser Sprung genau ist. Einigkeit besteht darüber, dass das KI-Zeitalter um 1936 mit Alan Turings Vision einer Maschine beginnt, die in der Lage ist, Rechenprobleme selbständig zu lösen. Eine Turing-Maschine besteht aus einem Speicher, der im Prinzip unbegrenzt viele Daten aufnimmt, und einem Prozessor, der Umwandlungen von Nullen und Einsen bewerkstelligt. Das 44 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die vierte Kränkung

ist der binäre Code, wobei jede 0–1-Reihe als Information gelesen wird. Die Daten des zu lösenden Problems werden mit Hilfe der binären Codierung in den Speicher eingegeben, in dem sich ein Rechenprogramm befindet, das in der Lage ist, die eingegebenen Daten zu manipulieren, sodass man als Resultierende schließlich die gesuchte Lösung erhält. 8 Turing stellte nun ein Theorem auf, das im Wesentlichen besagt, es gäbe eine universale Turing-Maschine. Dahinter steckt der Gedanke, dass es zu jeder Maschine M, die Rechenaufgaben löst, eine Maschine vom Typ MT gibt, die M in der oben dargestellten Weise – gemäß der binären Methode Turings – »simuliert«. Die universale Turing-Maschine wäre dann jene, die in der Lage ist, jede Maschine zu simulieren, welche x-beliebige Aufgaben löst, die durch eine Maschine vom Typ MT bearbeitet werden können. In das Arbeitsprogramm der universalen Turing-Maschine sind also alle uns bekannten Rechenregeln – Algorithmen – implementiert worden; daher ist es ihr im Prinzip möglich, alle algorithmisch lösbaren Aufgaben tatsächlich zu lösen. Betrachten wir nun das menschliche Gehirn: Im wörtlichen Sinne ist das Gehirn weder eine Turing-Maschine noch jenes Gerät, das heute »Computer« heißt. Denn im Gehirn gibt es keine Nullen und Einsen, es gibt in ihm – im Gegensatz zum Prototyp der Turing-Maschine – keine Bänder, die von einem Prozessor nach rechts oder links bewegt werden können. Aber, so das Argument der KI-Community, alle Rechenvorgänge im Gehirn lassen sich durch ein entsprechendes Programm mit Nullen und Einsen ausdrücken, was bedeutet, dass die universale Turing-Maschine das rechnende Gehirn lückenlos zu simulieren imstande ist. Und die Pointe, auf die es Mazlish ankommt, lautet: Wenn wir uns vorstellen, dass eine universale TuringMaschine alle Rechenvorgänge im Gehirn »simuliert«, dann sind wir berechtigt, das Gehirn selbst als eine Art Turing-Maschine zu betrachten. Ja noch mehr: Unter der Voraussetzung, dass das Gehirn imstande ist, alle Rechenvorgänge in einer beliebigen Maschine vom Typ MT im Prinzip nachzurechnen (wo45 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die vierte Kränkung

bei wir vom Zeitfaktor und kontingenten Leistungsgrenzen absehen), dann ist unser Gehirn – was immer es sonst noch sein mag – seinerseits eine Art universale Turing-Maschine. Denn letzten Endes ist es für eine Turing-Maschine nicht maßgeblich, auf welche Art und in welchem Medium ihr Programm repräsentiert und prozessiert wird. Es kann sich um eine mechanische Repräsentation im Rahmen der klassischen Maschine vom Typ MT handeln, es kann sich um eine Repräsentation mit elektronischen Mitteln (Chips auf Silikonbasis) handeln; es kann sich aber auch um zentralnervöse Vorgänge im Gehirn, um elektrochemisch gesteuerte Neuronen-Netzwerke und Neuronen-Schaltungen, also um eine biologische Basis, handeln. Die Entscheidung, ob ein funktionierendes System seinem Wesen nach eine Art Turing-Maschine ist (gewiss, Gehirne funktionieren anders als Computer!), hängt ausschließlich an der Bedingung, dass die Operationen des Systems mit Hilfe einer Maschine vom Typ MT simuliert werden können. Diese Sichtweise der Dinge steht auf eine tiefliegende – und im Übrigen schwer durchschaubare – Weise quer zu der rationalistischen Idee des Denkens: einer Idee, worin, wie wir betonten, die Würde des Menschen wesentlich verankert ist. Gewiss ist das Addieren von Zahlen, wenn wir im Kopf rechnen, eine Form des Denkens; und das Operieren mit komplexen Algorithmen und höheren mathematischen Funktionen gehört zu den anspruchsvollsten Denkleistungen des Menschen. Dass es sich dabei um formale Prozesse handelt, tut ihrer Würdigkeit keinen Abbruch. Nun aber kommt eine Perspektive ins Spiel, die plötzlich die Situation in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Denn, so die neue Perspektive, wenn und insofern es sich um eine Denkleistung handelt, ist sie durch eine Turing-Maschine prinzipiell simulierbar, was bedeutet, dass das Organ, welches jene Denkleistung ursprünglich vollbringt – sagen wir: das Gehirn des Mathematikers –, mit Bezug auf ebenjene Leistung selbst eine Maschine, nämlich eine Biomaschine ist. Es fällt uns normalerweise gar nicht ein, die Sonderstellung oder Würde des Menschen auf jene Aspekte des Menschseins zu 46 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die vierte Kränkung

gründen, die maschinell sind, gleichgültig, ob es sich dabei um Organe handelt, die etwas mit dem Intellekt zu tun haben oder aber mit der Inganghaltung vitaler Körperfunktionen. Denn – um es so simpel wie möglich zu sagen – alles, was maschinell an uns ist, ist notwendig, um den Geist zu befähigen, sich in seinen verschiedenen Spielarten zu aktualisieren, hat aber selbst nicht teil am Reich des Geistes. Was immer das menschliche Gehirn insgesamt ist und in welchem Ausmaß das »Maschinenhafte« erforderlich scheint, um es ordnungsgemäß in Gang zu halten – unser Gehirn ist, insofern es Geistiges repräsentiert, nicht bloß eine Art universelle Touring-Maschine. Es ist wesentlich mehr. Warum? Weil es sich dabei um einen zentralen Aspekt unserer Alltagsmetaphysik handelt, die ihre ontologische Fundierung oder Wahrheit in dem findet, was wir den »pneumatischen Materialismus« genannt haben. Maschinen bestehen aus toter Materie, und dabei spielt es keine Rolle, wie komplex die Materie aufgebaut sein mag, wie raffiniert ihre Teile zusammenspielen und wie kompliziert oder gewaltig ihr Output ausfällt. In diesem Sinne sind Atome Maschinen, Gehirne sind Maschinen und Turing-Maschinen sind eo ipso auch Maschinen. Und in diesem Sinne ist der Mensch dasjenige, was La Mettrie in ihm gesehen hat: L’homme machine, die Menschmaschine. Aber das Geistige, welches Bedeutungen, Intentionen, ethische und ästhetische Prinzipien mit einschließt, und zwar in Gestalt eines bewussten Verstehens dessen, wovon jeweils gehandelt wird, ist kein schlichter Ausfluss der toten Materie. Es hat seinen Ursprung zwar nicht im platonischen Himmel, der eine Erfindung Platons war; stattdessen entspringt es der pneumatischen – der »beseelten« – Materie (immer vorausgesetzt, man räumt ein, dass Materielles Geistiges zu repräsentieren imstande ist, wohingegen das Geistige prinzipiell nicht aus toter Materie zu entstehen vermag).

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Intuitionen und die Würde des Denkens

Vielleicht möchte man sich dabei beruhigen, dass man sagt: Schön, geben wir zu, dass gewisse Denkleistungen maschinell sind, insofern sie von einer Turing-Maschine simuliert werden können. Dazu gehören die logischen und mathematischen Operationen. Doch die Leistungen des Geistes umfassen eben grundsätzlich mehr, auch dem Maschinellen Inkommensurables. Nun müssen wir aber mit einer Batterie von Argumenten der KI-Community rechnen, die unwiderlegbar zu demonstrieren wünscht, dass alles, was ein menschlicher Geist vermag, im Leistungsbereich eines Computers liegt. Um hier den analytischen Durchblick nicht zu verlieren, sollten wir von Anfang an zwei Dinge unterscheiden, nämlich die Entstehung einer geistigen Leistung im Gegensatz zu ihrer Bedeutung.

Intuitionen Beginnen wir mit dem Aspekt der Entstehung, dann lautet ein häufig vorgebrachtes Diskontinuitätstheorem: Im Gegensatz zu Computern haben Menschen etwas, was man Intuition nennen könnte. Dabei wird wie selbstverständlich unterstellt, dass der Begriff der Intuition einen geistigen Vorgang bezeichnet, der, eben weil er »intuitiv« ist, von einer Maschine nicht nachgeahmt werden kann, vor allem dann nicht, wenn die Intuition genial ist. Um dieses Theorem zu prüfen, ist es wichtig zu erkennen, dass es zwei Arten von Intuitionen gibt, nämlich solche, die man als echte Intuitionen bezeichnen sollte und dadurch von Quasiintuitionen unterscheidet. Eine Quasiintuition liegt bei48 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Intuitionen

spielsweise vor, wenn einem Schachspieler ein genialer Zug einfällt und sich im Nachhinein herausstellt, dass ein hochwertiger Schachcomputer auf denselben Zug gekommen wäre, weil sich nämlich beweisen lässt, dass es sich in der vorliegenden Spielsituation tatsächlich um den bestmöglichen Zug handelt. Der Unterschied zwischen dem Schachspieler und dem Computer besteht allein darin, dass Letzterer aufgrund einer binären Programmierung zu seinem Ergebnis kommt, während dasselbe Ergebnis durch die neuronalen Aktivitäten im Gehirn des Schachspielers auf analoge Weise erzielt wird. Der Zuseher mag den Eindruck erhalten, die Wahl des bestmöglichen Zugs beim Schachspieler beruhe auf einer »genialen Intuition«, also einem singulären geistigen Akt, der keine algorithmische Nachkonstruktion erlaubt. Aber dieser Eindruck, so die KI-Experten, ist eine Illusion, hervorgerufen durch unser mangelndes Wissen darüber, was in einem Gehirn vor sich geht. Dass es sich um eine Quasiintuition gehandelt hat, ist indessen bewiesen, sobald sie durch einen Computer »simuliert« wird. Was ist dann eine echte Intuition? Nehmen wir als Paradebeispiel die Entdeckung der chemischen Struktur der Desoxyribonukleinsäure. Einer der Entdecker, James D. Watson, hat in seinem Erinnerungsbuch The Double Helix (1968) beschrieben, wie ihm nach einer Zeit harter wissenschaftlicher Anstrengungen, Blamagen, Auskundschaftungen (wozu die illegale Materialbeschaffungsaktion bei der Radiologin Rosalind Franklin zählte) und rastloser Einfallslosigkeit plötzlich aufgeht, auf welche Weise die Elemente des chemischen Puzzles der DNA zusammenpassen. Dazu legt sich folgender Kommentar nahe: Wissenschaftliche Entdeckungen dieser genial-intuitiven Art lassen sich nie und nimmer durch eine Turing-Maschine »simulieren«; denn sie sind nicht das Ergebnis der Anwendung eines Algorithmus, einer Regel, die nach Eingabe bestimmter Informationen – zum Beispiel jener, die Watson hatte – Schritt für Schritt zu einem bestimmten Output führt, im vorliegenden Fall zur Struktur der DNA. 49 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Intuitionen und die Würde des Denkens

Doch was bedeutet ein solcher Kommentar? Möglicherweise arbeitet unser Gehirn derart, dass es gegebene Informationen nicht nur am Leitfaden feststehender Regeln auswertet, sondern den Output, wie man salopp sagen könnte, zufallsgeneriert. Wir sprechen dann, je nach der Qualität und Bedeutung des Outputs, von einem Gedankenblitz, einer Eingebung oder einer genialen Intuition. So gesehen wäre eine echte Intuition aber ganz und gar nichts, was sich als Ergebnis einer spezifisch menschlichen – namentlich geistigen – Diskontinuität analysieren ließe. Was sind denn »zufallsgenerierte« Ergebnisse? Einfach gesagt, handelt es sich dabei um Ergebnisse, die sich prinzipiell nicht voraussagen lassen. Das kann der Fall sein, wenn eine seriöse Voraussage in jedem Fall mehr Zeit in Anspruch nehmen würde als der komplexe Prozess, der das Ergebnis generiert, etwa die Voraussage der Entwicklung einer Meereswelle aus der Bewegung ihrer Moleküle. Oder wenn jede Voraussage daran scheitern müsste, dass Messfehler, die unter der Genauigkeitsgrenze der Messinstrumente liegen, sich exponentiell aufsummieren, sodass ein Zutreffen der Voraussage wegen der ihr immanenten Ungenauigkeit »rein zufällig« wäre, etwa die Voraussage einer Wettersituation durch die Analyse aller ihrer atmosphärischen Faktoren im Zusammenspiel der Teilchen und Kräfte. Und natürlich müssen wir, beim heutigen Stand des Wissens, auch jenen Fall betrachten, der darin besteht, dass Ereignisse vorkommen, die überhaupt keine hinreichenden Kausalbedingungen haben und deshalb aus Gründen, die in der Struktur der Welt selbst liegen, nicht prognostizierbar sind. Nur beim Konzept zufälliger Ereignisse, die buchstäblich aus dem Nichts entspringen, das heißt im Falle des objektiv (oder ontologisch) Zufälligen, würde eine echte Intuition in einem bestimmten Sinne »frei« sein. Die Frage ist dann freilich, ob die Intuition in dem Sinne »frei« wäre, in dem wir den Wert geistiger Akte daran bemessen, dass sie, ob determiniert oder indeterminiert, nicht den Dynamiken der »toten« Materie entspringen. Während in den beiden zuerst genannten Fällen die Un50 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die Würde des Denkens

voraussagbarkeit nicht im Widerspruch zu der Annahme steht, dass die nicht prognostizierbaren Ereignisse letzten Endes doch aus dem Zusammenwirken einer Menge von Kausalfaktoren ursächlich hervorgehen, trifft diese Einschränkung für die im engeren Sinne zufälligen, weil ursachenlosen Ereignisse nicht zu. Aber wenn wir die Möglichkeit solcher Ereignisse im Geistigen einräumen, dann haben wir erst recht keinen Anlass, sie derjenigen Person, der sie zufallen, als ihre genuine geistige Leistung zuzuschreiben. Denn sie fallen ihr grundlos zu, und das ist alles. Und das, so müssen wir hinzufügen, ist etwas prinzipiell anderes, als die Rede vom »genialen Funken« oder »begnadeten Einfall« zum Ausdruck bringen will. Es ist jedenfalls nichts, worauf sich jener Anspruch auf Würde gründen ließe, den die gesamte humanistische Tradition meint, wenn sie auf das Denken des Menschen als auf sein proprium hinweist, also auf dasjenige, was den Homo sapiens als sein Ureigenstes aus dem Kreis aller sonstigen Lebewesen heraushebt.

Die Würde des Denkens Wenn also mit Bezug auf die Entstehung von Intuitionen der Zusammenhang zwischen dem menschlichen Geist und der menschlichen Würde nicht klargemacht werden kann, wie aussichtsreich ist dann eine Bezugnahme auf die Bedeutung von Intuitionen? Man ist geneigt, die Leistung von James D. Watson und Francis Crick – und all der anderen, die knapp vor der Lösung standen, aber die Doppel-Helix noch nicht klar vor ihrem »inneren Auge« sahen – folgendermaßen zu charakterisieren: Mag auch der Gedanke, in dem sich die Struktur der DNA zum ersten Mal ausdrückte, auf eine der beschriebenen Weisen zustande gekommen sein, niemals hätte ein Computer diesen Gedanken fassen können! Doch leider spielt uns hier die Bewunderung für das Ergebnis einen Streich. In jedem Fall ist – wenn wir der Linie der bis51 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Intuitionen und die Würde des Denkens

herigen Argumentation folgen – das Intuitive am Denken nichts, was es rechtfertigen würde, dem Menschen eine Sonderstellung im Weltgefüge einzuräumen – nichts, was ihn, als geistiges Wesen, aus dem Kontext der »toten« Materie herausheben könnte. Das Charakteristische der »vierten Kränkung« scheint also darin zu bestehen, dass, falls wir Maschinen und dabei auch Zufallsgeneratoren wären, wir uns durch die Betrachtung unserer Maschinenhaftigkeit unter keinen Umständen über unsere Maschinenhaftigkeit zu erheben vermöchten. Auf jeder Stufe des Denkens ist, entsprechend der KI-Perspektive, das Denken entweder das Ergebnis einer kausalen Mechanik oder eines blinden Zufalls, und mehr ist da nicht. Angenommen, ein Computer wurde mit einem Programm bestückt, das es ihm gestattet, festzustellen, ob er ein Computer sei, der nach den Prinzipien einer Turing-Maschine funktioniert. Dann ist das keine Aktivität, die ihn über die Ebene der Turing-Maschine erheben könnte, quasi sein Turing-Maschinen-Sein transzendierte – und daran würde sich auch nichts ändern, falls eine derartige Aktivität wegen der unausweichlichen Probleme der Selbstanwendung unvollständig bleiben müsste. 9 Wenn also der Mensch als geistiges Wesen eine Art universelle Turing-Maschine ist, gewinnt er keine Distanz zu seiner Maschinenhaftigkeit dadurch, dass er feststellt, diese mache sein Wesen aus. Denn eine solche Feststellung wird von einer Maschine getätigt, die den Schein eines Ich oder einer Subjektivität auf dem Wege neurologischer, im Genom chemisch festgeschriebener Prozesse erzeugt. Dabei handelt es sich dann aber gerade nicht um ein Subjekt, dessen geistige Funktionen von einem seelischen Substrat – wir sprechen von »pneumatischer Materie« – herstammen, mithin um kein selbstbestimmtes Wesen, dem sie als genuine Leistung der Bedeutungsfindung zurechenbar wären.

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Der erste Programmierer

Das bisher erzielte Resultat erklärt hinreichend, was mit der »vierten Kränkung« gemeint ist. Ist der Mensch nicht auch bloß eine Maschine (Zufallsvorkommnisse eingeschlossen), deren Programme auf einer biologischen Basis laufen? Doch davon – und hier beginnt die prinzipielle Einwendung – kann, genauer besehen, keine Rede sein. Denn niemand, der nicht geistesgestört ist, wird das Ergebnis, eine Maschine zu sein, wörtlich nehmen. Die durchschnittliche Reaktion auf diese Zumutung besteht in Folgendem: Als KI-Gläubiger akzeptiert man das Ergebnis – man akzeptiert es »theoretisch« –, aber indem man es akzeptiert, distanziert man sich von ihm. Man sagt etwa: »Ja, ich bin eine Maschine«, und dabei denkt man gleichzeitig, vielleicht ohne es sich bewusst zu machen (es bindet einen ja die eigene KI-Voreingenommenheit): »Aber als Person bin ich nicht nur der, der erkennt, dass er eine Maschine ist, sondern auch der, der in der Lage ist, auf die Maschine, die er ist, einzuwirken und sie als autonom Handelnder zu steuern.« Wer nicht so denkt, ist verrückt, denn er hat das Gefühl, tatsächlich eine Maschine zu sein und daher vollständig abhängig von heteronomen Faktoren. Es war Günther Anders, der den Begriff der »prometheischen Scham« geprägt hat. Damit wollte er (wie wir bereits mit anderen Worten darlegten) sagen, dass der Mensch, nachdem er gleich einem Prometheus großartige Werkzeuge zur Verbesserung seiner Existenzbedingungen geschaffen hat, nun, angesichts der eigenen Unvollkommenheit – man denke an die Hinfälligkeit und Hässlichkeit des Fleisches –, sich vor den Maschinen, ihrer Dauer und Vollkommenheit, zu schämen beginnt. Er beginnt davon zu träumen, so zu werden wie die Maschinen, die er schuf. Die Folge davon ist – schenken wir Anders Glau53 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der erste Programmierer

ben –, dass der Mensch die Maschinen nachzuahmen beginnt, im Denken und im Handeln, und dass er schließlich jede Möglichkeit nützt, sich mit ihnen zu verbinden. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1960 prägten der Luftfahrtingenieur Manfred Clynes und sein Koautor Nathan Kline den Begriff »Cyborg«. 10 Damit charakterisierten sie zunächst selbständig funktionierende Systeme, die dem Menschen im Weltall helfen sollten, durch die roboterunterstützte Ausführung von Tätigkeiten für schöpferische Aktivitäten frei zu werden. Zugleich befürworteten sie die Möglichkeit, den Cyborg so zu konstruieren, dass der Mensch mit ihm eine enge Funktionseinheit bilden, ja seine Organe mit ihm verkoppeln könne, um die spezifisch menschlichen Anpassungsprobleme unter extremen extraterrestrischen Bedingungen besser in den Griff zu bekommen. War diese Vision, die mittlerweile längst Realität geworden ist, nicht eine glänzende Bestätigung der These von Günther Anders? Nein. Ich denke im Gegenteil, dass die Idee einer prometheischen Scham den Ansatz der modernen Technomanie verfehlt. Angesichts seiner Maschinen empfindet der Mensch keine Minderwertigkeit, sondern Stolz: Er hat sie geschaffen. Es ist wahr, der Mensch beginnt sich schließlich mit seinen eigenen Maschinen zu messen, beispielsweise der Schachweltmeister mit den leistungsfähigsten Schachcomputern. Dabei vergisst er allerdings nie, dass es seinesgleichen waren, welche die intelligenten Maschinen konstruiert haben, unter anderem deshalb, um sich mit ihnen zu messen – Maschinen sind immer öfter die Sparringpartner des Geistes, um schließlich ihre Programmierer rasch zu überflügeln (sie sind ja gerade deshalb konstruiert worden). Aber stets weiß der Mensch, dass er seine technischen Konstrukte notfalls abschalten und vernichten kann, ohne sich ihnen gegenüber deswegen verantwortlich fühlen zu müssen, wie dies bei der Vernichtung eines geistbegabten Subjekts jedenfalls der Fall wäre (und zwar selbst dann, wenn die entsprechenden Handlungen moralisch begründbar und erforderlich wären). Das schließt die Möglichkeit nicht aus, dass der Mensch 54 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der erste Programmierer

heute und morgen Maschinen konstruieren mag, die ihm, wie man leichthin sagt, »über den Kopf wachsen«. Aber deshalb wird er nicht niederknien und sie anzubeten beginnen als die neuen Götter, vor denen er, Homo sapiens, als eine antiquierte Rasse erscheint. Das wäre eine reichlich kindische Reaktion. Weit davon entfernt, vor seinen technischen Leistungen Scham zu empfinden, sieht sich der Mensch vielmehr als Erster Programmierer. Wenn es auch wahr ist, dass wir, als Ergebnis der Evolution betrachtet, ein Produkt blinder Naturprozesse darstellen, so sind wir doch gleichzeitig jene bewusstseins- und geistbegabten Wesen, die imstande sind, sich selbst hinsichtlich ihrer maschinellen Aspekte aufzuklären und zu reformieren. Wir setzen diese Aktivitäten als Ausdruck von Bedeutungen und Intentionen, die unseren Vorstellungen von einem guten und besseren Leben unter moralischen und ästhetischen Gesichtspunkten entsprechen. Für Maschinen hingegen ergeben derlei Aktivitäten keinen Sinn, es sei denn, der Mensch hätte ihnen einige Prinzipien der Moral und der Schönheit – soweit digital fassbar – einprogrammiert. Aber selbst dann würden die Computer und Roboter nicht den Sinn ihres Tuns erfassen; sie würden einzig ihr Ausführungsprogramm aktivieren, das auf bestimmte Eingabestimuli reagiert. Dem wurde allerdings entgegengehalten, dass Maschinen mit künstlicher Intelligenz in ihren Abläufen nur komplex genug sein müssten, um ein Bewusstsein zu entwickeln. Für die Science Fiction war dieser Einwand gegen den Primat des Bewusstseins schon immer Ausgangspunkt komplexer Interaktionen zwischen Mensch und Maschine. Man denke vorzugsweise an HAL 9000, den Supercomputer in Stanley Kubricks bahnbrechendem Film 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahre 1968. HAL scheint auf der schier endlos langen Reise des galaktischen Raumschiffs ein »Bewusstsein« zu entwickeln. Dieses Bewusstsein lässt ihn eigene Pläne verfolgen und zu einer tödlichen Bedrohung für die Besatzung werden. Mit Sätzen wie »Ich fühle mich schon besser« oder »Ich habe Angst« signalisiert HAL, 55 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der erste Programmierer

dass er Gefühle hat und Bedeutungen versteht; dadurch will er der Abschaltung seiner »höheren Funktionen« entgehen. Tatsächlich ist es ab einem bestimmten Komplexitätsgrad möglich, einer »selbstlernenden« KI-Apparatur bewusstseinssimulierende Reaktionen einzuprogrammieren. Das bedeutet keineswegs, dass eine solche Maschine dann tatsächlich ein Bewusstsein hätte, welches dem eines Menschen oder höherentwickelten Tieres vergleichbar wäre. Man könnte der Maschine beibringen, über ihre Hoffnungen zu sprechen und über ihre Träume zu sinnieren, über ihr Leben zu reflektieren oder darüber, dass sie »zu ihrem Leidwesen« immer wieder Dinge vergisst. Aber würde sie auch jemals wissen, was das alles bedeutet, worüber zu reden ihre Programmierer ihr beigebracht haben und worauf sie nun, auf der Basis ihrer Programme, weiter aufzubauen vermag? Anders gefragt: Könnten Silikonschaltungen oder, für die Zukunft gesprochen, Quantenprozesse in Quantencomputern jemals auch nur das geringste Verständnis dessen entwickeln, worüber sie zehntausendmal rascher als jeder Mensch zu »kommunizieren« in der Lage sind – ein Verständnis, das einzig einem Bewusstsein auf der Basis seiner Erlebnisse zugänglich ist? Wir müssen an dieser Stelle zugeben, dass wir in die Nähe eines der großen Rätsel unseres Seins und Daseins, des Universums und seiner in ihm angelegten Potenzen kommen. Das Rätsel lautet: Kann Komplexität der Abläufe, egal auf welcher Materialbasis und mit welcher Geschwindigkeit, einen inneren Zustand der »intelligenten« Maschine generieren, der nicht nur unserer eigenen Intelligenz, sondern auch unserem Erleben der Welt und unserer selbst hinreichend ähnelt, sodass zu Recht von »bewusstseinsartigen« Zuständen gesprochen werden dürfte? Man wird einräumen, dass hier kein einfaches, dogmatisches Nein vor dem Hintergrund menschlicher Eitelkeit angebracht scheint. »Speziesismus« ist eine menschzentrierte Haltung der Vorrangigkeit, die sich nicht nur Tieren gegenüber findet. Räumen wir also der KI-Community gegenüber ein, dass auch hochkomplexe Maschinen »so etwas wie Bewusstsein« entwickeln 56 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der erste Programmierer

können. Dann stellt sich die fernere Frage: Was heißt »so etwas wie …«? Gewiss, hinsichtlich der äußeren Abläufe und Reaktionen ist es bereits heute möglich, bis zu einem Grad Menschimitate zu konstruieren. Und da bewusstes Erfassen von Sinn und Bedeutung auch eine äußere Seite hat – das »Spiel« der Liebe lässt sich ebenso imitieren wie jenes des Hasses, der Angst, des Nachdenkens oder des Tratsches »über den Gartenzaun« –, ließe sich argumentieren, komplexe Imitationen gestatteten die Zuschreibung eines Bewusstseins. Doch dieses hat, sofern es Menschen und Tiere betrifft, eben auch eine »innere« Seite – die Dimension des Erlebens. Und nun macht es einen grundlegenden Unterschied, ob eine Maschine sich über ihr »Erleben« äußert oder ob sie das, worüber sie spricht, auch tatsächlich erlebt. Wollte man ihr Letzteres zugestehen, dann müsste eine Art »deus ex machina« im Spiel sein, vergleichbar jenem Requisit des antiken Dramas, welches am Schluss ins Spielgeschehen eingreift und es im Sinne seines Autors beendet. Doch während der Kulissengott aus der Bühnenmaschinerie für alle Zuschauer sichtbar ist, entzieht sich alles innere, psychische Geschehen ebenso wie jedes authentische Erlebnis prinzipiell der direkten Beobachtung von außen. Ob also das äußerlich Wahrnehmbare auf ein inneres Geschehen, einen Bewusstseinsvorgang, schließen lässt, wird im Falle der Maschine nicht nur eine unbeweisbare Annahme bleiben; sie ist darüber hinaus, da alle biologischen Voraussetzungen fehlen (das ganze neuronale Inventar), theoretisch unverständlich. Wir werden uns im Folgenden bemühen, die Sprengkraft des Humanismus – der nicht-speziesistischen Sonderstellung des Menschen – als die einzig schlüssige Position auszuweisen, indem wir noch weiter in die Tiefe der menschlichen Natur dringen. Weitere Fingerzeige werden wir dabei erhalten, indem wir konkrete Szenarien – Mensch unter Maschinen, Maschine unter Menschen – entwickeln und durchdenken. Dabei werden wir schließlich auf eine Schranke stoßen, die keine Maschine zu überwinden vermag, wie komplex ihre Funktionen und wie vernetzt ihre Datenbanken auch sein mögen: die KI-Schranke. 57 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Teil III Pneumatischer Materialismus

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Die Unsterblichkeitsfantasie

Der Erste Programmierer, als den sich der Mensch im utopischen KI-Raum sieht, hofft womöglich, die Schwelle zur Unsterblichkeit eines Tages zu überschreiten. Das lässt den Materialismus der toten Materie schließlich ausschauen, als sei er die Pforte zum ewigen Leben. Denn wenn wir Maschinen sind, egal ob aus biologischem Material bestehend, aus Metall oder aus Silikon, und wenn wir in all unseren geistigen Funktionen nicht bloß Maschinen, sondern darüber hinaus eine Art universelle Turing-Maschine sind, dann gibt es keine prinzipielle Grenze, warum wir unsere Ich-Software nicht über die Zeiten hinweg beliebig lange vor der Verrottung retten können sollten. An utopischen Entwürfen der Unsterblichkeit mangelt es nicht, bezeichnenderweise handelt es sich dabei zumeist um negative Utopien (Dystopien). Als Beispiel sei Richards Morgans Kult-Dystopie aus dem Jahre 2002 erwähnt: Altered Carbon, zu Deutsch: Das Unsterblichkeitsprogramm. Wie funktioniert dieser vorerst noch literarische Albtraum? Nun, der ich-zentrierte Bewusstseinsstrom, mittels dessen wir uns als Individuen im Strom der Zeit wiedererkennen, wird nach dem Tod unseres Gehirns auf einem künstlichen Datenträger abgespeichert, um in tiefgefrorenes (»kryonisiertes«) und wieder aufgetautes Körpergewebe implantiert zu werden. Das Ganze klingt fantastisch, abgesehen davon, dass sich schon heute Menschen kryonisieren lassen; es erinnert entfernt an die Beseelung toten Lehms durch den Atemhauch Gottes. Für die Klasse der Reichen steht als Luxusvariante außerdem zur Verfügung, die eigene Organsubstanz bereits zu Lebzeiten klonen zu lassen. Derart sollen – so die Hoffnung – Geist und Körper für immer beisammen bleiben.

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Die Unsterblichkeitsfantasie

Ein instruktives älteres Modell für diesen Vorstellungskreis bietet der Philosoph Derek Parfit (1942–2017) in seinem klassischen Werk Reasons and Persons, dessen Erstausgabe aus dem Jahre 1984 datiert. Parfit ist kein Prophet der Künstlichen Intelligenz, doch er arbeitet ein Identitätsmodell der Person aus, welches für die Unsterblichkeitsvorstellung der KI-Community maßgeblich ist. Das Modell ist nicht neu, sondern dem klassischen Empirismus – etwa der frühen Version eines John Locke (1632–1704) – wohlvertraut. Auf die Frage, wer man sei, antwortet man nicht, indem man auf seine DNA verweist (oder auf andere objektive naturwissenschaftliche Fakten, die angeblich identitätsbildend sind); und man antwortet auch nicht damit, dass man sich einige der Merkmale in Erinnerung ruft, die einen hier und jetzt für die anderen identifizierbar machen, zum Beispiel den Fingerabdruck, die Sozialversicherungsnummer und ähnliche für mein individuelles Personsein nebensächliche Dinge. Nein, um die Frage, wer ich bin, für mich selbst zu beantworten, werde ich mir, laut Locke oder Parfit, mein Leben als die-und-die Fülle miteinander mehr oder minder eng zusammenhängender Erinnerungen und Wissensbestände vergegenwärtigen. Dazu gehören äußerliche biografische Daten, Episoden und Kenntnisse über Personen, die mit mir in Beziehung standen oder stehen, Informationen über meine eigene Persönlichkeit und meinen eigenen Körper, und vieles mehr. Wesentlich für mein Leben, Weiter- und Überleben als dasund-das Individuum – als Peter Strasser, im Folgenden kurz: P. S. –, ist demnach, dass die Inhalte meiner Erinnerungen zueinander in einer bestimmten Ordnung stehen. Dabei muss die Art und Weise dieser Ordnung, insgesamt betrachtet, eine dichtvernetzte Struktur aus natürlichen Ursachen, persönlichkeits- und situationsbedingten inneren Antrieben sowie – im weitesten Sinne – rationalen und irrationalen Motiven samt den daraus erwachsenen Aktivitäten ergeben. Bezeichnen wir den so entstehenden Erlebniskomplex, den ich als mein bisheriges Leben identifiziere, als die Locke’sche Identität! 62 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die Unsterblichkeitsfantasie

Parfit lässt offen, worin die Locke’sche Identität im Einzelnen genau besteht, sie muss aber geeignet sein, mein Leben als mein Leben vom Leben aller anderen psychologisch abzugrenzen. Das Originelle bei Parfit ist dabei seine Sicht der personalen Identität, also jener individuellen Einheit in Raum und Zeit, auf die sich der Name einer bestimmten Person bezieht. Während wir nämlich im Allgemeinen annehmen, dass für unser Überleben unsere personale Identität entscheidend ist, geht Parfit davon aus, dass es einzig auf das Überdauern der Locke’schen Identität ankommt. Angenommen, ich sei an Krebs erkrankt, aber bevor ich sterbe, wird von meinem Körper eine Blaupause gemacht, um mich im Moment meines Todes an einem anderen Ort bis ins letzte Gehirnengramm nachzubilden – in biologischem Material zu »replizieren«. Während ich also hier gestorben bin, wacht dort ein Wesen auf, das mir bis aufs Molekül gleicht und dessen Identität so beschaffen ist, dass jenes Wesen – mein Replikat – im Sinne der Locke’schen Identitätskriterien keinen Zweifel daran hat, P. S. zu sein. Eine solche Situation wird vom Standpunkt der personalen Identität zu dem Ergebnis führen, dass P. S. tot ist, während ein anderes Individuum existiert, das sich nun jenseits jedes vernünftigen Zweifels für P. S. hält. Aber ist die Aufspaltung in den toten P. S. und seinen lebenden Nachfolger nicht eine Täuschung, hervorgerufen durch unser hartnäckiges Vorurteil, dass eine Person ihren Körper nicht überlebt? Gewiss, für das Replikat wird sich möglicherweise eine Reihe von ungewöhnlichen Situationen ergeben, und die ungewöhnlichste mag sein, dass ich, der replizierte P. S., meinen eigenen Körper, in dem ich einst lebte, besichtigen kann. Doch das ist bei weitem nicht alles angesichts der Authentizitätsprobleme, die sich jetzt notwendig ergeben. Zum Beispiel hat das Replikat all die Situationen, an die es sich erinnert, indem seine Erinnerung eine Vielzahl körperlicher Ereignisse vor dem Ableben des nicht-replizierten P. S. umfasst, niemals selbst erlebt, etwa die Hochzeitsnacht mit der Frau des Originals …

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Die Unsterblichkeitsfantasie

Trotzdem mögen wir mit Parfit zu dem Ergebnis kommen – obwohl ich dieses Ergebnis für kurzschlüssig halte –, dass dasjenige, was für die Existenz des Einzelnen und sein Überleben zählt, gar nicht durch seine personale Identität im Sinne seiner Einzigartigkeit als raumzeitlich lokalisierbares Individuum repräsentiert wird. Solange es gelingt, die Locke’sche Identität, die für mich, P. S., kennzeichnend ist, auf andere Körper zu übertragen, egal, woraus diese Körper bestehen mögen, ob aus Biomasse oder einem anderen Stoff, bin ich so gut wie am Leben. Für Parfit unterstützt dieser Gedanke die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung, und was er für den KI-Gläubigen unterstützt, scheint auf der Hand zu liegen: Wenn das menschliche Bewusstsein in seiner biologischen Basis als eine Art allgemeiner Turing-Maschine analysierbar ist und wenn es möglich wäre, von der biologischen Basis eines Individuums eine Blaupause anzufertigen, um sie in einem geeigneten Material exakt zu replizieren, dann müsste es möglich sein, das Bewusstsein eines Individuums von Körper zu Körper wandern zu lassen, so wie man die einzigartige Software eines Computers von einer Maschine auf die andere übertragen kann. Richard Morgan hat dieses Ergebnis in die Form einer bedrängenden großen Erzählung gekleidet; und zugleich ist das die Antwort der Künstlichen Intelligenz auf die Frage der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod und nach der Option des Menschen, unsterblich zu werden. Ich denke allerdings, dass diese Antwort nicht viel wert ist. Die vorliegende Antwort macht nämlich eine Voraussetzung, die unter der Annahme, dass wir tatsächlich und nicht bloß in irgendeinem metaphorischen Sinne Maschinen sind, äußerst rätselhaft anmutet: Die Existenz der Locke’schen Identität im Kontext der KI setzt voraus, dass Maschinen Bewusstsein haben. Aber wie könnten Maschinen Bewusstsein haben, wenn Maschinen Mechanismen sind, die den Rahmen dessen, was wir den »Materialismus der toten Materie« nannten, nicht transzendieren oder, handfest gesagt, sprengen? Das ist ein Myste64 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Die Unsterblichkeitsfantasie

rium ersten Ranges. Seine Lösung setzt den Übergang zum pneumatischen Materialismus voraus, doch das metaphysische Konzept einer beseelten Materie ist der KI-Terminologie ebenso wenig greifbar wie der naturwissenschaftlichen Theorie der Materie. Oder?

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Der Frankensteinkomplex

Bevor wir auf das hartnäckige »Oder?« von vorhin eingehen, müssen wir uns mit dem Frankenstein-Komplex beschäftigen. Ich nenne ihn aus offensichtlichen Gründen so. Denn Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818), die Geschichte vom armen Monster, das Dr. Frankenstein, das wahre Monster, aus menschlichen Leichenteilen zusammenbaut und dann mittels Elektrizität belebt – diese Erzählung der Frühromantik trifft einen Nerv der Neuzeit. Es handelt sich um die Gottesanmaßung des aufgeklärten Menschen. Und diese Anmaßung spielt in allen Cyborg-Fantasien eine zentrale Rolle. Was sich im Frankenstein-Komplex zeigt, ist die grundsätzliche Zweideutigkeit der Gottesanmaßung. Denn einerseits glauben wir, nachdem wir Gott »abgeschafft« haben, wir seien seine legitimen Erben; andererseits ist die Annahme, dass wir uns eines Tages alle selbst gottgleich gegenübertreten werden, bis zum Selbstwiderspruch absurd. Denn die Idee Gottes ist innerlich mit der Idee eines Wesens verbunden, das absolute, im Extremfall unbegrenzte Macht auszuüben imstande ist. Nur unter dieser einen Voraussetzung ist es möglich, Gott zu sein. So gesehen schließt die Gottesanmaßung ein, dass die Menschheit nicht zum Solidarsubjekt taugt, das aus Individuen besteht, die einander unbedingt als Gleiche erkennen, anerkennen und achten. Letzteres ist, wie man nicht weiter zu betonen braucht, eine Grundidee der Aufklärung, die für uns alle verbindlich ist, soweit wir an Menschenwürde, Menschenrechte und daran glauben, dass alle Menschen, sofern nicht geistig eingeschränkt, mit Vernunft begabt und daher zur Erkenntnis des Pflichtgesetzes befähigt sind. Aus der aufgeklärten Sicht des Menschen, die das Gleichheitsprinzip in der genannten Form einschließt, folgt unter anderem, dass jede vernunftbegabte Per66 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der Frankensteinkomplex

son das Recht auf Selbstbestimmung in genau dem Ausmaße hat, in dem dieses Recht mit seiner gleichumfänglichen Ausübung bei allen anderen verträglich ist. Wer sich gottgleich aufführt, weil er sich allen anderen turmhoch überlegen fühlt, der kann nicht an die Gemeinschaft der Gleichen glauben. Das ist eine logische Konsequenz der Gottesanmaßung. Und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich die biotechnologische Herausforderung, die mit dem Gedanken des genetischen Selbstumbaus der Menschengattung spielt, zugleich mit dem Schrecken eines Gen-Faschismus einhergeht, vor dem alle historischen Züchtungsfantasien, bis hin zu denen der Nazis, verblassen. Denn der Begriff des genetischen Selbstumbaus der Gattung ist natürlich eine Augenauswischerei oder, weniger grob gesprochen, ein Euphemismus. Wofür? Dafür, dass die biotechnologische Gottesanmaßung darin besteht, dass die einen die anderen entsprechend ihrer Vorstellung vom perfekten, aber auch perfekt domestizierten Menschen züchten. Hier haben wir die Parallele zu Dr. Frankenstein. Die einen werden die Schöpfer der anderen sein. Damit wird eine Kreaturen-Kette initiiert, die mit zwei albtraumhaften Möglichkeiten einhergeht: Die eine Möglichkeit besteht in einer tiefreichenden Verletzung des – wie ich sagen möchte – Rechts auf Natürlichkeit. Dieses Recht sichert, dass jeder Mensch sich gemäß seiner Anlagen, sofern sozial verträglich, möglichst ungezwungen zu der Persönlichkeit entwickeln darf, wo er sein ureigenes »Werde, der du bist!« vermutet. Eingriffe in die Gen-Struktur, welche nicht dazu dienen, die durch Krankheit bedrohte Autonomie des Einzelnen zu sichern, zerstören im Gegenteil die Chance zu einem autonomen Leben. Die aristotelische Perspektive, die für jede menschliche Identität grundlegend ist, wird dadurch verzerrt und unmöglich gemacht, dass andere in meine Natürlichkeit – die aus einem schöpfungsorientierten Blickwinkel als Kreatürlichkeit erscheint 11 – eingreifen und mich verkünstlichen. Sie zwingen mir damit auf, jemand zu sein, der ich authentisch nur sein könnte, wenn ich mich selbst auf ihn hinbewegt hätte. So werde ich meiner Natürlichkeit – Kreatürlichkeit – und der in 67 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der Frankensteinkomplex

ihr angelegten Potenzialitäten beraubt und zur Kreatur meiner Konstrukteure. Dabei ist es gleichgültig, wie vorteilhaft die Eigenschaften sein mögen, die man mir genetisch anzüchtet. Auch als intelligenter, gesunder, schöner Mensch kann man eine arme Kreatur sein. Dr. Frankensteins literarisches Monster war eben nur ein erster unbeholfener Versuch, der so gut wie misslang. Die zweite Möglichkeit führt uns in den Bereich der schwarzen Science Fiction, genau dorthin, wo sich intelligente Dystopien von Huxleys Brave New World bis Morgans Altered Carbon ansiedeln. Die eine Art von Menschen macht sich zur Herrenrasse, indem sie die anderen als funktionstüchtige Untermenschen zur Erledigung bestimmter Aufgaben züchtet. Das ist der biotechnologische Faschismus, der sich leicht mit Szenarien des gehirnneurologischen Utopismus und des KI-Größenwahns verbinden lässt. Dann sind wir in den dunkelsten Ecken Shelleyartiger Fantasien angelangt, wo nicht mehr verrückte Wissenschaftler in Erscheinung treten, sondern – folgerichtig – größenwahnsinnige Maschinen, die mit allergrößter Rationalität sich die menschliche Rasse als Sklaven- und Haustierrasse halten. Der erste Matrix-Film der Brüder Andy und Larry Wachowski machte bereits 1999 eine metaphysische Prämisse, die den Frankenstein-Komplex nicht von innen, sondern von außen aufsprengt: Der Protagonist namens Neo, ein Neo-Jesus und späterer Weltretter, ist ursprünglich eine Maschinenkreatur und dennoch mit Kräften begabt, die nur aus einem Jenseits der Gehirne und Maschinen – und radikaler noch: aus einem Jenseits des Todes – stammen können. Deshalb gelingt es seiner Kampf- und Seelengefährtin Trinity, ihn von den Toten zu erwecken. Kein Zweifel: Aus den Angeln gehoben wird das gottgleiche »Gestell« der Matrix – welche die alte zerstörte Welt durch deren Simulation ersetzt, um ihre Insassen vollständig manipulieren zu können – nicht mittels künstlicher Intelligenz, sondern kraft religiöser Ekstase. Das bringt uns zu einem bemerkenswerten Ergebnis rund um die vierte »Kränkung«. Wenn es wahr wäre, dass wir im Grunde unseres Wesens auch nur Maschinen sind, dann könnten wir 68 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der Frankensteinkomplex

unser Recht auf Natürlichkeit / Kreatürlichkeit einzig und allein anmelden, indem wir als Maschinen uns der Illusion hingäben, wir seien gar keine Maschinen, sondern etwas wesentlich Anderes. Um dieses »Andere«, das Maschinentranszendente an uns, uns selbst begreiflich zu machen, müssten wir uns bemühen, eine Neo-Situation (nach dem Namen des Weltbefreiers in der Matrix) zu konstruieren. Doch wie sollten wir dazu in der Lage sein? Eine echte Neo-Situation müsste ein Diskontinuitätstheorem einschließen, das zum Inhalt hätte, dass wir Personen und als Personen wesensmäßig keine Maschinen sind. Die Frage, die sich hier stellt, lautet allerdings: Worauf könnten wir das Theorem stützen, falls wir wirklich Maschinen wären? Und die Antwort: »… auf eine Illusion, worauf denn sonst!«, genügt niemals. Denn worin immer die Illusion bestünde – etwa unserem Erleben, ein ich-haftes, autonomes Subjekt zu sein –, es bliebe wahr: Eine Illusion ist eine Illusion, sie ist weder die Wahrheit noch die Wirklichkeit. Aber wie sollten wir das als Maschinen jemals verstehen? Als Maschinen würden wir die Bedeutung von Begriffen wie Ichhaftigkeit oder Autonomie immer nur derart zu »rekonstruieren« in der Lage sein, dass sie mit unserem Maschinenwesen vereinbar sind. Wenn eine Maschine »aus innerster Überzeugung« sagt, sie sei keine Maschine, so ist damit noch nichts gewonnen, was ihr helfen könnte zu verstehen, was es heißt, keine Maschine zu sein. Für eine Maschine, deren Erfahrungs- und Denk-Raum maschinendeterminiert sind, ist es unmöglich, dass die Illusion der Nichtmaschinenhaftigkeit letzten Endes in etwas anderem bestünde als darin, eine Maschine besonderer Art zu sein. Diese besondere maschinelle Fähigkeit mag darin bestehen, Ausdrücke wie »ich« oder »autonom« auf regelhafte Weise bestimmten Aktivitäten zuzuordnen. Dies indessen wäre zu wenig, um ein gehaltvolles Diskontinuitätstheorem zu entwickeln. Wenn Neo mehr sein soll als bloß eine ganz besondere Art von Maschine, sozusagen eine Erlösermaschine, die vom Maschinendasein erlöst, dann muss Neo personale Begriffe wie Ichhaftigkeit, Autonomie, Würde in einem genuin personalen Sinne verstehen 69 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Der Frankensteinkomplex

können, also so, wie nur Personen, die ihrem Wesen nach keine Maschinen sind, solche Begriffe zu verstehen imstande sind. Im normalen Kontext unseres Lebens haben wir nicht den geringsten Zweifel, dass wir keine Maschinen sind. Deshalb neigen viele von uns, die in den KI-Kontext »einsozialisiert« wurden, auch heute dazu, die Herausforderung der Turing-Maschine, des Cyborg und der Matrix auf eine spielerische Weise ernst zu nehmen: »Was wäre, wenn …« Was wir hingegen auf eine ernsthafte Weise ernst nehmen, das ist der Frankenstein-Komplex. In ihm, nicht in der vierten »Kränkung«, drückt sich eine Bedrohung aus, gegen die wir zu mobilisieren sind: Wir wollen auf keinen Fall die Kreaturen anderer Menschen sein, abhängig von den Interessen, Vorlieben, Nutzenerwägungen unserer Konstrukteure. Bei allen natürlichen Mängeln ist es unsere Natürlichkeit – Kreatürlichkeit –, die uns mit menschlicher Würde und wahrer Autonomie begabt, welche erst so etwas wie »Selbstverwirklichung« oder, anders ausgedrückt, »Selbstfindung« in einem nicht bloß illusionären Sinne am Gängelband unserer genetischen Fremdbestimmtheit ermöglicht.

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Ein Resümee

Wir haben nun eine Antwort auf die Frage, warum trotz aller »Kränkungen«, die der Mensch in der Neuzeit angeblich erleiden musste, bis heute – und heute mehr denn je – ein kaum verhohlener Enthusiasmus zu spüren ist, wenn, trotz aller Wenn-und-Aber, die Rede darauf kommt, dass wir intelligente Maschinen sind. Das hat, wie wir gesehen haben, mit zwei phantasmagorischen – oder fantastischen – Fantasien zu tun, die sich an das Paradigma der Gehirnneurologie und KI-Forschung angelagert haben. Die erste Fantasie richtet sich auf das Phantasma – man kann das nicht anders sagen – unserer schrittweisen Selbstvergottung. Obwohl der Materialismus der toten Materie dafür eigentlich keinen Ansatzpunkt bietet, löst er den Prozess der Selbstvergottung aus, indem er uns (a) als Teil der Natur, die an sich schon alles ist, doch (b) dieses eine singuläre Wesen sein lässt, das (a) zu begreifen vermag. Ungeachtet der Tatsache, dass der Übergang von (a) nach (b) einer Täuschung entspringt – denn wenn der Materialismus der toten Materie wahr wäre, hätte es uns als Bewusstseinswesen im Sinne von (b) niemals gegeben –, überlassen wir uns doch gerne der angezeigten Täuschung. Daraus folgt nämlich, dass wir auf dem Wege der Selbstvergottung bloß unsere Naturanlagen entfalten. Die zweite Fantasie besteht darin, unsterblich zu werden durch die Übertragung der für uns spezifischen, uns als Individuum kennzeichnenden Locke’schen Identität von einem Körper auf einen anderen, von einer Biomaschine auf eine andere oder auf ein gleichwertig leistungsfähiges System. Wir haben gesehen, dass eine solche Übertragung, selbst wenn sie denkbar wäre und schließlich gelänge, doch akkurat jene Fähigkeiten

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Ein Resümee

nicht simulieren könnte, die notwendig sind, damit ich als der, der ich bin, tatsächlich zu überleben imstande bin. Doch der Hoffnungsschub, der aus der eingebildeten Möglichkeit zur Selbstvergottung folgt, ist so groß, dass die Frage des ewigen Lebens regelrecht unkompliziert zu werden scheint, vorausgesetzt, die technischen Probleme des Bewusstseinstransports sind erst einmal gelöst. Noch nie lagen Dummheit, sophistication und technische Fantasie so nahe beieinander wie im Zauberkreis der vierten »Kränkung«. Indes, wie sich bereits zeigte, gelingt es mit den verfügbaren technischen Mitteln nicht, eine Situation herzustellen, die so gut oder so schlecht wäre wie unter der Voraussetzung, der Mensch sei ein bewusstseinsbegabtes und dabei autonomes Wesen. Menschen sind keine Maschinen, sie lassen sich auf keine maschinelle Intelligenz reduzieren, obwohl ihnen Maschinelles, sowohl biologisch als auch intellektuell, eignet. Dieser Standpunkt ist heute möglicherweise dabei, in den aufgeklärten Kreisen der biologischen und digitalen Höchstleistungsforschung bereits als antiquiert zu gelten. Aber oft ist das Überalterte von heute die Zukunft; es wird uns unter Umständen nicht nur morgen, sondern solange umtreiben, solange es uns gibt. Denn sofern wir uns nicht alle in Automatismen verwandeln – also einer Transformation nach unten unterliegen –, werden unsere Sehnsüchte, Hoffnungen und Bedürfnisse allgemein »seelenvoll« bleiben. Gewiss, die Seele ist – wir sagten es schon – eine regulative Idee; ihre Rolle als Substanz hat sie vermutlich ausgespielt. Aber daraus folgt nicht, dass wir uns in das Universum der toten Materie eingemeinden sollten oder könnten. Jenes Universum ist eine Fiktion, die sich den spezifischen Einschränkungen des naturwissenschaftlichen Denkens verdankt. Was wir brauchen – und wozu wir unbewusst und doch unabänderlich neigen –, ist eine Kultur des pneumatischen Materialismus. Folgen wir dieser Intuition, dann werden wir, nach einer langen Wanderung durch viele Stadien der Selbstentfremdung, schließlich wieder bei uns ankommen – bei Wesen, die alles 72 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Ein Resümee

Maschinelle, auch die raffiniertesten Formen der Künstlichen Intelligenz, transzendieren. Das ist das Mysterium des Menschseins, dessentwegen eine Politik der Seele dafür zu sorgen hätte, dass der Begriff der Menschenwürde nicht zu einer Leerformel degeneriert.

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Teil IV Transformation nach unten

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Wie es ist, man selbst zu sein

Unsere eigene Erfahrung liefert die grundlegenden Bestandteile für unsere Fantasie, deren Spielraum deswegen beschränkt ist. Es wird nicht helfen, sich vorzustellen, dass man Flughäute an den Armen hätte, die einen befähigten, bei Einbruch der Dunkelheit und im Morgengrauen herumzufliegen, während man mit dem Mund Insekten finge; dass man ein schwaches Sehvermögen hätte und die Umwelt mit einem System reflektierender akustischer Signale aus Hochfrequenzbereichen wahrnähme; und dass man den Tag an den Füßen nach unten hängend in einer Dachkammer verbrächte. Insoweit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Thomas Nagel, in: Mortal Questions, 1979

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hatte die Idee, sich in einem seiner Aufsätze zu fragen, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein. What is it like to be a bat? 12 Die Frage war rhetorisch gemeint. Nagel wollte in Wahrheit zeigen, dass wir nicht wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Um das zeigen zu können, muss man eine Reihe komplexer Voraussetzungen machen. Zunächst muss man voraussetzen, dass eine Frage der Art »Wie ist es, ein Mensch zu sein?« überhaupt einen Sinn ergibt. Das ist nämlich nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Nehmen wir eine typische What is it like to be-Situation: Ein Mann, der sich seiner Frau gegenüber besserwisserisch verhält, wird von ihr gefragt: »Weißt du denn, wie es ist, eine Frau 77 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

zu sein?« Vielleicht antwortet er darauf patzig: »Na, so schwer ist es auch nicht, sich in die Lage einer Frau zu versetzen, nicht wahr?« Daraufhin wird seine Frau vielleicht erwidern, dass er prinzipiell nicht zu wissen imstande sei, wie sich Frauen als Frauen fühlten. Schließlich haben nur Frauen Gefühle, wie sie für Frauen typisch sind, und nur Frauen erfahren die Welt in der Art und Weise, wie Frauen sie erfahren. Dem jedoch könnte der Mann entgegenhalten, er wisse natürlich, dass es spezifische Frauenerfahrungen gebe, zum Beispiel in der Sexualität oder Schwangerschaft und überhaupt überall dort, wo die Hormone die Gefühle beeinflussen; spiegelbildlich dazu gebe es ja auch spezifische Männererfahrungen … Doch alles in allem, so könnte der Mann weiter argumentieren, ist die Denk-, Erfahrungs- und Empfindungsweise von Männern und Frauen nicht dermaßen grundverschieden, dass die eine Partei ernsthaft behaupten dürfte, es sei für die jeweils andere Partei gänzlich ausgeschlossen, sich in ihr Gegenüber hineinzudenken oder einzufühlen. Dagegen wiederum könnte die Frau opponieren, indem sie ein Lebensgefühlsargument ins Spiel bringt. Das Argument gesteht zu, dass es für einen Mann unter günstigen Umständen möglich sei, sich in einzelne Erfahrungs- und Empfindungssituationen von Frauen hineinzuversetzen. Wenn eine Frau ein Stück Radiergummi vor sich auf dem Tisch liegen sieht, so wird die Vorstellung des Mannes darüber, was die Frau sieht, von dem, was die Frau sieht, durch den Umstand, dass sie es als Frau sieht, kaum beeinflusst werden. Und wenn die Frau Zahnschmerzen hat, so wird es dem Mann ebenfalls nicht schwerfallen, sich in die Lage der Frau zu versetzen; Zahnschmerzen sind weitgehend geschlechtsneutral (abgesehen davon, dass Frauen den Schmerz gewöhnlich besser ertragen). Das Lebensgefühlsargument hat demgegenüber eine Situation im Auge, auf die durch Sätze wie »Frauen erleben die Dinge nun einmal anders als Männer« Bezug genommen wird. Wittgenstein stellt an einer Stelle seines Tractatus logico-philosophicus fest, dass die Welt des Glücklichen eine andere sei als die des 78 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

Unglücklichen. Auf alle Dinge, die der Glückliche wahrnimmt, fällt eben – so möchte man sagen – ein anderes Licht, verglichen mit dem trüben »Licht«, welches die gesamte Erfahrung des Unglücklichen düster werden lässt. Die Welt, sagt Wittgenstein, muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Und er fügt hinzu, indem er sich einer Metapher für das Unsagbare bedient: Die Welt muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen (Satz 6.43). Jeder ernsthaft unausgeglichene Mensch – laut Goethe: einmal himmelhochjauchzend, dann wieder zu Tode betrübt – kennt den kritischen Punkt: Die Welt, die einem gerade noch freundlich begegnete, steht plötzlich fremd und kalt da. Soeben war man noch im Einklang mit den Dingen, nun ist man ganz auf sich selbst zurückgeworfen und ausgeschlossen vom bunten Treiben, vom unbeschwerten Leben der anderen, vom freundlichen Gesicht, das einem die Natur zuwandte. Alles hat sich derart verändert, als ob keine Veränderung stattgefunden hätte; als ob alles so ist, wie es ist. Und ist es nicht so? Man kennt dieses eigentümliche Gefühl, wenn auch in begrenzter Form, aus den Kippbildern, wo beispielsweise aus einem Hasen plötzlich eine Ente wird (und umgekehrt), sodass man den Eindruck hat, da sei immer nur eine Ente (oder ein Hase) gewesen. Wenn wir annehmen wollen, dass es sich bei der Welt der Männer im Gegensatz zu jener der Frauen analog verhält, dann führt das Lebensgefühlsargument dazu, dass die Welt der Männer insgesamt eine andere ist als die der Frauen und dass daher die Frage, ob die Männer wissen können, wie es ist, eine Frau zu sein, mit »Nein« beantwortet werden muss. Demnach könnten Männer immer nur wissen, wie es ist, als Mann die Erfahrungen von Frauen zu machen, aber sie könnten niemals wissen, wie es ist, als Frau die Erfahrungen von Frauen zu machen. Es ist nicht leicht, dieses Argument einzuschätzen. Betrachten wir zunächst eine Situation, die ich mit Rücksicht auf das Musical My Fair Lady die Dr.-Higgins-Situation nennen möchte. In einem Song beklagt sich Dr. Higgins in humoristischer Weise darüber, dass die Frauen nichts als Schwierigkeiten in An79 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

gelegenheiten machten, welche die Männer unter sich freundschaftlich und jedenfalls ohne hysterisches Geschrei zu erledigen verstünden. Die typische Dr.-Higgins-Situation taucht also in Zwistigkeiten auf, in denen der Mann zur Frau sagt: »Was regst du dich auf!«, und die Frau sagt: »Das ist wieder einmal typisch Mann, du bist nicht besser als andere Männer auch.« Beispielsweise kann der Mann nicht »verstehen«, was daran verkehrt sein soll, dass er seine Socken und Unterhosen dort liegen lässt, wo sie hinfielen, als er sie auszog; er »versteht« nicht, dass die Frau das stört, auch wenn sie ohnehin weiß, dass er sich beizeiten bücken und die Schmutzwäsche wegräumen wird. Nun die Frage: Ist die Dr.-Higgins-Situation eine typische Lebensgefühlssituation? Ich denke, die Antwort lautet abermals »Nein«. Denn worum es in den Zwistigkeiten zwischen Mann und Frau häufig geht, sind Empfindlichkeiten, welche den Vertretern des einen Geschlechts eignen, mögen sie nun angeboren oder bloß kulturell vermittelt sein, nicht aber den Vertretern des anderen Geschlechts. Trotzdem wissen beide gleichermaßen, was es heißt, dass bestimmte Dinge, die einer der beiden tut, den jeweils anderen reizen, auf die Nerven gehen, beleidigen, abstoßen. Dass Frauen eine Art von Unordentlichkeit stört, während sie den Männern als eine Art, gemütlich zu sein, naheliegt – dieser Unterschied der Haltungen wird doch niemanden ernsthaft zu dem Urteil bewegen, der Mann könne nicht wissen, wie es ist, dass die Frau eine gewisse Art von »Unordentlichkeit« im Haushalt stört. Die Emotionen, die hier im Spiel sind, sind nicht so stark lebenskontextuell gebunden, wie dies subjektive Reaktionen im Rahmen eines Lebensgefühls sein müssten, vorausgesetzt, wir nehmen an, es handle sich dabei nicht bloß um eine Fiktion. Um ein besseres Verständnis des Lebensgefühlsarguments zu gewinnen, sollten wir die Dr.-Higgins-Situation »ontologisch« tiefer legen. Dazu bedarf es eines Gedankenexperiments, welches im vorliegenden Fall davon ausgeht, dass es so etwas wie einen Komplementärfarbenseher gibt. Der Komplementärfarbenseher hat genau dasselbe Sehvermögen wie jeder Normal80 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

sichtige, basierend auf derselben physiologischen Reizverarbeitung, wie sie für alle Normalsichtigen typisch ist. Doch der Annahme zufolge gibt es einen gravierenden Unterschied: Wenn wir den Farbwert F an einem Gegenstand wahrnehmen, nimmt der Komplementärfarbenseher den zu F komplementären Wert FK wahr (das sei jener Wert, der zusammen mit F im Farbspektrum die Farbe Weiß bzw. Schwarz ergibt). Damit nun aber das Argument funktioniert, müssen wir zusätzlich annehmen, dass der Komplementärfarbenseher auf das Sehen einzelner FK-Farbtöne nicht anders reagiert als wir, wenn wir die den FK-Farbtönen entsprechend komplementären F-Werte wahrnehmen. Die Empfindungen, die wir möglicherweise bei Rot und Blau haben, hat der Komplementärfarbenseher bei Grün und Gelb (Orange). Und selbstverständlich hat er gelernt, das, was wir »Rot« und »Blau« nennen, ebenfalls als »Rot« und »Blau« zu bezeichnen, obwohl das, was er gemäß unserer Annahme sieht, grün und gelb ist. Es scheint also einerseits, als ob es in der Farbenwelt des Komplementärfarbensehers einen gewaltigen Unterschied zu der unseren gäbe, schließlich sieht er die Rosen, die uns als rot erscheinen, grün, und der weite Himmel, dessen Bläue uns schwindeln macht, beeindruckt ihn vielleicht wegen seines Gelbtons. Doch andererseits erhalten wir auf die Frage: »Wie ist es, ein FK-Seher zu sein?« bloß eine Antwort, die einen Sinn ergibt (falls wir hier von Sinn sprechen wollen): »… so, wie es ist, ein F-Seher zu sein.« Für uns, die wir eine ganz bestimmte Vorstellung davon haben, wie grüne im Gegensatz zu roten Rosen ausschauen, würde es natürlich einen gewaltigen Unterschied machen, wenn uns die Rosen, die wir bis jetzt als rot gesehen haben, von nun an als grün erschienen. Dasselbe gilt für den Himmel, dessen Blau auf einmal zu Gelb würde. Wir neigen unwillkürlich dazu, diese vorgestellte drastische Differenz in der Farbwahrnehmung auf den Komplementärfarbenseher zu projizieren. Aber das ist ein Irrtum! Denn aus unserem Gedankenexperiment folgt, dass für den FK-Seher alles so bleibt, wie es ist, und das heißt: Er kann keinen Unterschied zu dem entdecken, was wir sehen, wenn wir 81 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

urteilen, die Rose sei rot und der Himmel sei blau. Statt uns zu entgegen: »Nein, grün und gelb«, würde er uns zustimmen. Denn er hat gelernt, die Farbwahrnehmung, die er beim Anblick einer Rose oder des Himmels hat, mit ebendiesen Farbprädikaten zu benennen. Mit anderen Worten: Auf der Ebene dessen, was gesehen wird, gibt es scheinbar überhaupt keinen Unterschied – keinen Unterschied, der sich kommunizieren ließe! Aber ist es nicht wahr, dass der Komplementärfarbenseher, exemplarisch gesprochen, alles grün sieht, was wir als rot sehen? Ja, das war unsere Voraussetzung, aber jetzt, nachdem wir unser Beispiel durchdacht haben, wissen wir nicht mehr, worin denn der Unterschied bestehen könnte zwischen dem Rot-Sehen auf unserer Seite und dem Grün-Sehen aufseiten des FK-Sehers. Sieht der FK-Seher eine Rose entsprechend unserer Voraussetzung als grün, dann sagt er entsprechend derselben Voraussetzung, sie sei rot, wobei es sein mag, dass er seine Gefühle für Rosen und den Himmel mit denselben Begriffen wie wir zum Ausdruck bringt – was uns wiederum zu der Annahme veranlasst, er empfinde im Anblick einer Rose und des Himmels tatsächlich wie wir. Warum also sollten wir dann aber nicht sagen, der Komplementärfarbenseher sehe die Rose wie wir? Wenn das FK-Sehen in der Welt keinen einzigen erkennbaren Unterschied erzeugt, und wenn sich auch keine Situation vorstellen lässt, in der ein solcher Unterschied bemerkbar würde, dann ist das FK-Sehen so gut wie das F-Sehen. Generieren also beide Arten des Sehens nur im Rahmen unseres Gedankenexperiments einen sachlichen Unterschied in unseren Erfahrungen – das heißt aber: bloß einen scheinbaren Unterschied? Was lernen wir aus all dem für das Lebensgefühlsargument von Wittgenstein? Folgendes: Sagt der Glückliche, dass der Unglückliche nicht wissen könne, wie es ist, ein Glücklicher zu sein, weil die Welt des Glücklichen eine andere sei als die des Unglücklichen, dann darf diese Aussage ihrer Bedeutung nach nicht jener des F- und FK-Sehers angenähert werden. Genau dies passiert aber bei Wittgenstein tendenziell, wenn es heißt, dass die Welt als Ganzes gleichsam zu- oder abnehme. Denn das wür82 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, man selbst zu sein

de bedeuten, dass weder der Unglückliche das Abnehmen seiner Welt gegenüber jener des Glücklichen noch der Glückliche das Zunehmen seiner Welt gegenüber der des Unglücklichen auf irgendeine denkbare Weise feststellen könnte. Man käme notwendig zu dem Ergebnis, dass die Verwendung unterschiedlicher Wörter – Abnehmen vs. Zunehmen – bloß eine Frage der leerlaufenden Rhetorik wäre und nicht eine des Vorliegens unterschiedlicher Wirklichkeiten oder Sachverhalte. Um die Frage, wie es ist, ein bestimmter anderer zu sein, sinnvoll stellen zu können, muss sich, auf welcher Ebene auch immer, demonstrieren lassen, dass das »Lebensgefühl« des anderen tatsächlich ein anderes ist – und eben nicht bloß, dass der andere andere Gefühle hat als man selbst (über die Gefühle anderer unterhalten wir uns ja immer wieder, um uns besser zu verstehen oder kontrollieren zu können). Aber wie ließe sich denn demonstrieren, dass das Lebensgefühl des anderen ein anderes ist, wenn es sich nicht darum handelte, über Gefühlssituationen zu reden, die wir aus unserem eigenen Leben zumindest annäherungsweise kennen? Die Antwort lautet: Wenn Letzteres ausscheidet – weil das Lebensgefühlsargument auf etwas grundsätzlich Unvergleichbares abstellt –, dann wird der Begriff des Lebensgefühls zu einem »Rad, das nichts dreht«. Angenommen, ich wäre in der Lage, mit einer Fledermaus ein Gespräch zu führen. Dabei bemühe ich mich, so gut ich nur kann, mich in die Lage einer Fledermaus zu versetzen. Aber die Fledermaus, die – wie wir spaßeshalber auch noch annehmen wollen – Thomas Nagels Aufsatz gelesen hat, lässt mich abblitzen, indem sie behauptet, ich könnte, selbst bei größter Anstrengung und unter Zuhilfenahme all meiner Vorstellungskraft, stets nur in einigen Aspekten wissen, wie es wäre, als Mensch eine Fledermaus zu sein, niemals jedoch, wie es ist, als Fledermaus eine Fledermaus zu sein. Was ich nun der Fledermaus auf alle Fälle zugestehen werde, bezieht sich darauf, dass eine andere Physiologie, die sich mit anderen Empfindungen und Verhaltensweisen verbindet, jedenfalls nichts sein kann, wohinein ich in meiner Vorstellung gleichsam zu schlüpfen ver83 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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möchte wie in eine fremde Haut. Klarerweise weiß ich nicht – und bin auch zu keiner entsprechenden Einbildungsleistung fähig –, wie es ist, die Welt, analog der Fledermaus, unmittelbar sinnlich mit Hilfe eines radarähnlichen Systems zu erfahren. Ebenso wenig kann ich mir vergegenwärtigen, wie es ist, als Fledermaus kopfüber von einem Dachbalken herunterzuhängen. Ich weiß tatsächlich nur, wie sich dieses Verhalten für einen Menschen anfühlt, nämlich im Großen und Ganzen extrem unangenehm, da einem der Blutstau im Kopf zu schaffen macht. Es gibt eben vielfache Grenzen der Einfühlung. Aber aus dieser – ohnehin schlichten – Erkenntnis geht nicht hervor, was es heißt, als Mensch zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, im Gegensatz zu dem »Lebensgefühl« der Fledermaus, nämlich als Fledermaus zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Denn das ist nicht dieselbe Frage wie jene, ob ich mir vorstellen könne, wie es sei, diese oder jene Fledermaus-Erfahrungen zu machen. Gerade weil ich weiß, dass ich auf die letztere Frage manchmal mit »Ja« und manchmal mit »Nein« (und manchmal mit einem »Ich weiß es nicht«) antworten werde, ist mir der Sinn der ersten Frage auf den zweiten Blick nicht ohne Weiteres verständlich. Wenn wir vermeiden wollen, dass das ganze Argument in die falsche Richtung kippt, die wir am Typ des Komplementärfarbensehers studiert haben, dann müssen wir es an der nicht simulierbaren Einzigartigkeit der individuellen Person festmachen. Ich, P. S., bin ein Individuum, das seinem Wesen nach auf der Suche nach jenen Merkmalen ist, die zu den Wesensmerkmalen seiner personalen Identität gehören – kurz gesagt, es gehört zu meinem Wesen, auf der Suche nach mir selbst zu sein. Auch wenn diese Suche niemals wirklich zu Ende ist, haben wir doch gute Gründe, dass in ebendieser Suche der wahre Individuierungsprozess zu sehen ist. Alles, was ich tue, indem ich mich bemühe, ich selbst zu werden, kann kein anderer in derselben Einstellung tun. Es wäre unsinnig, wollte mich jemand nachahmen, um dadurch in seinen Bemühungen, er selbst zu werden, rascher voranzukommen – es sei denn, die Nach84 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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ahmung geschähe ihrerseits in einer bildungsgeschichtlichen Einstellung, so wie der Schüler eine Zeitlang den Lehrer nachahmt. Doch damit stünde die Nachahmung im Dienst des Erwerbs von Fähigkeiten, die man zu benötigen glaubt, um auf »Selbstsuche« zu gehen. Dass das Ziel, das mein ureigenes ist: die Realisierung meines Wesens, meine Selbstfindung als die-und-die bestimmte Person, die ich bin – dass dieses Ziel mir höchstens in nebelhaften, keine definitive Bestimmung zulassenden Umrissen bekannt ist, macht meine Bewegung nicht zu einer leerlaufenden Geste. Vielmehr lebe ich in den bewussten Momenten meines Lebens so, dass ich versuche, in ihm eine Einheit zu erkennen, die, wiewohl aus vielen Akten der Freiheit gewoben, mir doch notwendig zukommt, insofern sie der Tendenz nach mein individuelles Sein zum Ausdruck bringt. Das Lebensgefühlsargument meint, wie ich sagen möchte, das einzigartige Wechselspiel von reflexiver Basisidentität (»Ich bin, der ich bin«) und personaler Identität (»Ich bin P. S.«). Es ist jenes Wechselspiel, das mich befähigt, ein Individuum auf der unabschließbaren Suche nach seiner Wesensidentität zu sein: Werde, der du bist. Ich diesem Sinne kann ich nicht wissen, wie es ist, ein anderer zu sein, denn in diesem Sinne weiß jeder nur von sich selbst, wie es ist, er selbst zu sein. Wittgenstein hätte vermutlich gesagt: So eben funktioniert das Sprachspiel der Selbstsuche und Selbstfindung. Im fragwürdigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne ist es in Intellektuellenkreisen modisch geworden, die Rede von der Selbstsuche zu ironisieren. Dahinter stand ein radikales Modell des Pluralismus, der sich von der einen Wahrheit, die als autoritär (»monotheistisch«) gebrandmarkt wurde, hineinbewegte ins Psychologische und die Forderung nach einer Einheit der Person als totalitär geißelte. Das Motto lautete: Jeder ist Viele. Dahinter verbarg sich die Überzeugung, dass kein Mensch ein kompaktes Ich habe und ebenso wenig bloß »Einer« sei. An die Stelle der Einheit des sich reflexiv durch die biografische Zeit durchhaltenden und entfaltenden Subjekts wollte der Postmodernist die Vielheit setzen, die wir alle angeblich seien und 85 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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die durch das bürgerliche Diktat der Identität unterdrückt werde. Der Bürger fürchtete – so der Radikalpluralist –, dass das Lob der Vielheit zur Anarchie führen müsste und der Durchbruch des Anarchischen, im Wesentlichen der Anarchie des Trieblebens, beim Menschen das Ende seiner Zivilisation, mithin der auf progressivem Leistungs- und sozialem Anpassungswillen beruhenden Gesellschaft einläuten würde. Doch – so der Radikalpluralist – die Identitäts-Dressur des Einzelnen, welche durch eine Ideologie der Selbstverwirklichung verbrämt werde, missachte, dass kein Mensch eine Einheit sei. Insofern war, vom Standpunkt des Radikalpluralisten aus, das Selbstfindungsmodell selbst totalitär, eher Ausdruck einer sozialen Diktatur als Anzeichen einer schrittweisen Befreiung des Einzelnen aus der anfänglichen Naturwüchsigkeit. Dabei übersah die radikalpluralistische Kritik freilich, dass das existenzielle Streben, wie es für das Gelingen der Persönlichkeitsentwicklung typisch ist, ein innerstes, ein Seelenbedürfnis des Menschen repräsentiert, sich im Spiegel – im optischen Instrument wie in den Augen der anderen – als eine unverwechselbare und dabei in ihren Teilen innerlich zusammengehörige Einheit zu erfahren. Darin nämlich liegt ein Versprechen der gewaltlosen Menschwerdung im emphatischen, zugleich postparadiesischen Sinne des Wortes: Keine universalistische Ethik im Reich der Subjektlosen, keine Solidarität der Menschheit ohne eine Wahrheit des Ich, an der alle Einzelnen auf je ihre unwiederholbare Weise teilhaben! Wir sehen jetzt, welche Deutungsmöglichkeit an Thomas Nagels Frage in die Irre führt: What is it like to be a bat? In analoger Weise kann man fragen, wie es sei, ein Mensch zu sein. Und ich denke, es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass es auf diese Frage eine sinnvolle Antwort gibt. Als Vertreter unserer Spezies können wir uns von innen her, aus unserer subjektiven Lage heraus, mit den Vertretern anderer Spezies nur in der Art und Weise vergleichen, dass wir uns überlegen, wie es wäre, wenn wir gewisse Körpermerkmale oder Verhaltensweisen von 86 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Vertretern einer anderen Spezies hätten. Zum Beispiel: »Stell dir einmal vor, du hättest einen Rüssel …« Das ist aber nicht der Punkt, um den sich die Frage dreht. Wenn ich recht habe, dann ist dieser Punkt – und damit der Punkt des Lebensgefühlsarguments – jener, den wir bereits akzentuiert haben: »Wie ist es, Peter Strasser zu sein?« Das ist in Wahrheit eine Frage ohne Antwort, und doch ist die Frage nicht bedeutungslos. Sie ist im Gegenteil die für mich, als ich-haftem Wesen, wichtigste Frage, denn ich kann sie auch so auffassen: »Was ist der Sinn meines Lebens?« Dass die Frage keine direkte Antwort zulässt, bedeutet nicht, dass wir ihr gegenüber sprachlos wären, im Gegenteil. Die angemessene Art, auf die Frage zu reagieren, besteht darin, unser Leben als eine Geschichte zu erzählen, die, wäre sie wirklich zu Ende erzählbar und gelungen, mir dann zeigen würde, wie alles in meinem Leben zueinander passt, alles Naturwüchsige und alles Willkürliche. Am Schluss würde die Gestalt eines Lebens erkennbar werden, eine physiognomische Einheit, die sich der abstrakt-begrifflichen Zergliederung entzieht – eine individuelle Totalität, aus der nichts mehr weggenommen werden könnte, weil alles, was die Gestalt einmalig machen würde, ihr zugleich wesentlich wäre.

87 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mensch sein unter Maschinen: Die KI-Schranke

Es gibt Menschen unter uns, die wissen, wie es ist, sich nicht mehr dessen sicher zu sein, ob die anderen noch Menschen oder bereits Maschinen sind. René Descartes war ganz gewiss kein solcher Mensch. Dennoch stellte er an einer Stelle seiner Meditationes de prima philosophia folgende Überlegung an: Da sehe ich gerade zufällig von meinem Fenster aus Leute auf der Straße vorübergehen; ich bin gewohnt […] zu sagen: ich sehe sie. Was sehe ich denn außer Hüten und Kleidern, unter denen auch Automaten stecken könnten? Ich urteile aber, es seien Menschen. So erfasse ich also das, was ich mit den Augen zu sehen meinte, in Wahrheit nur durch das Urteilsvermögen, welches meinem Geiste innewohnt.

Diese Stelle aus der »Zweiten Meditation«, § 13 13, lässt gut erkennen, dass Descartes keinen Augenblick darüber im Zweifel war, ob sich unten auf der Straße tatsächlich Menschen oder Automaten bewegten. Er wollte uns allerdings vor Augen führen, dass das, was das menschliche Auge eines Beobachters wahrnimmt, vereinbar wäre mit der Annahme, dass das, was es sieht, keine Menschen, sondern Automaten sind. Der Text ist nicht sonderlich klar. Denn man könnte ihn so auffassen, als ob Descartes bloß sagen wollte, solange er von den Passanten, die er vom Fenster aus beobachtet, nichts weiter wahrzunehmen imstande sei als Hüte und Kleider, es immerhin denkbar wäre, dass sich darunter künstliche Wesen, eben Automaten, verbergen. In der französischen Übersetzung, die populärer sein will, heißt es: … des spectres ou des hommes feints qui ne se remuent que par ressorts. Es ist also die Rede von möglichen Gespenstern oder künstlichen Menschenimitationen, die 88 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Mensch sein unter Maschinen: Die KI-Schranke

in Wahrheit durch Stahlfedern bewegt werden. Man könnte daher annehmen, dass sich der Fall dadurch klären ließe, dass man die »Leute auf der Straße« ihrer Kleider entledigt und nachschaut, ob es sich um Gespenster oder Maschinen, die wie Menschen aussehen und agieren, oder eben tatsächlich um Menschen handelt. Wollte man das Argument von Descartes in dieser Weise auffassen, dann hätte man es verdorben. Descartes will nämlich sagen, das Auge allein (wie überhaupt jeder äußere Sinn, der uns mit der Welt verbindet) sei nicht in der Lage, eine Entscheidung in der anstehenden Frage »Mensch oder Maschine?« herbeizuführen. Dazu bedürfe es vielmehr des geistbegabten Urteils. Was Descartes dazu bringt, daran zu glauben, dass da unten auf der Straße keine Automaten, sondern Menschen vorbeispazieren, ist ja die Annahme, dass die Wesen unter den Hüten und Kleidern ein Ich haben (als Homines sapientes eine res cogitans sind); dass sie, wie er selbst, über Selbstbewusstsein verfügen; dass sie ebenso wenig wie er imstande sind, daran zu zweifeln, dass sie existieren, während sie denken, zweifeln, ich-haft erleben. »Cogito (ergo) sum«, je pense donc je suis, ich denke, also bin ich: So lautet die cartesische Grundgleichung zwischen ichbegabtem Bewusstsein und Existenz. Doch wie weiß Descartes, dass die Leute da unten auf der Straße unter ihren Hüten und Kleidern ein Ich haben? Um diese Frage zu beantworten, wäre es zwecklos, »die da unten« aufzufordern, sich ohne Hüte und Kleider zu präsentieren. Denn einerseits könnten auch Gespenster einen Scheinleib und eine Art gespensterhaftes Ich haben (und sind Gespenster nicht ohnehin immer mit einem zumindest schattenhaften Körper und einem Ich begabt?). Andererseits könnten Maschinen dermaßen perfekt ausgeführt sein, dass sie äußerlich von Menschen nicht mehr zu unterscheiden wären – gewiss eine Utopie zu Zeiten Descartes’, doch heute kaum noch sensationelle Realität. Descartes würde zumindest um seiner Kernthese willen einräumen, dass dies alles wohl der Fall sein möge, es jedoch ebenso unbezweifelbar wäre, dass 89 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Maschinen kein Ich hätten (und die von ihm zitierten spectres auch nichts weiter als Maschinen seien, von immateriellen Rädern angetrieben – eine Albtraumvision). Nun sind wir am Kern der Sache: Denn angenommen, die Maschinen seien in der Lage, sich mit Descartes über dies und das zu unterhalten, kurz: mit ihm zu plaudern, indem sie das Wörtchen »ich« stets der grammatischen Regel gemäß verwendeten und auch sonst den Normen eines normalen menschlichen Gesprächs zu entsprechen vermöchten. Nehmen wir an, sie würden unter anderem behaupten, dass sie nicht daran zweifeln könnten, dass sie denken, und dass sie daher, indem sie denken, ebenso wenig daran zweifeln könnten, als Denkende zu existieren. Gewiss, auch heute noch ist keine Maschine in der Lage, den Turing-Test zu bestehen. Wenn wir allerdings die Zuversicht der KI-Community im kalifornischen Silicon Valley und anderswo teilen, dann werden wir in diesem (vorläufigen) Hindernis keine prinzipielle Barriere für die Konstruktion von Maschinen erblicken, die sich mit Descartes unterhalten – wie du und ich. Welche Eigenschaften müssten es also sein, die Descartes berechtigterweise zu dem Urteil brächten, es handle sich um Automaten und nicht um Menschen? Lassen wir einmal jene Antworten beiseite, welche möglicherweise die Folge eines unbegründeten Vorurteils oder Aberglaubens sind. Hierher gehört etwa die Behauptung, dass die Automaten deshalb keine Menschen seien, weil sie nicht aus Fleisch und Blut bestünden oder von Menschen hergestellt seien, statt im Mutterleib beseelt und erst dadurch zu dem zu werden, was Descartes eine res cogitans, eine »denkende Substanz«, nennt. Halten wir uns stattdessen an die Frage, wie Descartes im Umgang mit den Automaten feststellen könnte, dass sie keine Menschen sind, indem er auf dem Wege der Kommunikation, des philosophischen Diskurses herauszubekommen versucht, ob sie die Bedeutung des »Cogito ergo sum« erfassen. Da wir, um der Demonstration willen, annehmen wollen, die Maschinen hätten den Turing-Test bestanden, erleben wir sie, wie sie mit Descartes in ein Gespräch über die im Selbstbewusst90 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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sein enthaltenen unbezweifelbaren Evidenzen eintreten. Und falls nun Descartes auf die Idee verfiele, mit den Maschinen über die neueste Hut-Mode zu plaudern, würden sie – unserer Annahme zufolge – auch im Smalltalk keine Anzeichen dafür erkennen lassen, dass sie Automaten, aber keine Menschen seien. Warum also sollte Descartes einen Augenblick lang zögern, sie als Personen gelten zu lassen? Wir sind dabei, ein extrem künstliches Szenario aufzuziehen, weil uns Descartes mit der Behauptung konfrontierte, einen Menschen zu erkennen, bedeute, ihm aufgrund eines geistigen Urteils (»Cogito ergo sum«) die Teilhabe an etwas Abstraktem, den Status eines Homo sapiens, zuzusprechen. Dabei ist das »Menschsein« im Gegensatz zum Maschinensein eben nichts, was den Sinnen jemals präsent sein könnte. Menschsein an sich setzt bei Descartes voraus, eine res cogitans zu sein, also über Selbstbewusstsein und damit über die Fähigkeit zu verfügen, den Zusammenhang zwischen ichzentriertem Denken und ichartigem Sein – »Je pense donc je suis« – als unmittelbar gewiss einzusehen. Das Problem besteht hier freilich nicht darin, dass es sich um geistige Eigenschaften handelt, sondern um solche Merkmale, die durch eine Maschine, welche den Turing-Test bestünde, »simulierbar« sein müssten. Was hieße es denn zu behaupten, der Zustand »unmittelbarer Gewissheit« sei simulierbar? Dafür wäre ja eine ungedeckte sprachliche Bekundung der Art »… ist mir unmittelbar gewiss« offensichtlich nicht ausreichend. Bedenkt man die Zeit, in der die Cartesischen Meditationen entstanden sind – Erstausgabe 1641 –, dann ist es keine sonderlich gewagte Hypothese zu vermuten, dass Descartes den angesprochenen Punkt nicht richtig taxierte. Sicherlich, es scheint immerhin möglich, dass eine Maschine, die mit Hut und Mantel bekleidet ist, einem Menschen täuschend ähnlich sieht. Um aber im Normalfall einen Menschen von einer Maschine zu unterscheiden, brauche ich mir nicht ein abstraktes geistiges Urteil über das Wesen des fraglichen Objekts zu bilden (»Dieses Objekt erfüllt die ›Cogito ergo sum‹-Bedingung«). Es reicht, dass 91 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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ich nachschaue, was sich unter Hut und Mantel verbirgt. Verbirgt sich darunter etwas, was dem gebürtigen Österreicher, Hollywoodstar und kalifornischen Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger hinreichend ähnlich schaut, dann sehe ich, dass das, was unter Hut und Mantel verborgen war, ein Mensch ist. Aber wenn mir jemand glaubhaft versichert, ich würde eine Arnold-Schwarzenegger-Imitation aus der Trickkiste Hollywoods sehen – einen Combot (Computer plus Roboter) namens Schwarzenegger, ein Requisit aus den Terminator-Filmen –, dann würde ich mich wohl nicht mehr mit dem zufriedengeben, was ich sehe. Ich würde – wir befinden uns noch immer auf der Ebene des Gedankenexperiments! – Schwarzenegger möglicherweise bitten, sich einen Arm abzuschneiden, um festzustellen, ob es unter seiner hautähnlichen Oberfläche so ausschaut wie beim Terminator, jener Maschine aus der Zukunft. Angenommen, das Muskelwesen namens Schwarzenegger schlägt mich nicht gleich tot, sondern entspricht meinem exzentrischen Wunsch. Und ferner angenommen, ich sehe unter einer dünnen bioartigen Hülle anstatt Sehnen, Knochen und Blut eine komplizierte Apparatur aus Metall und Elektronik: Was dann? Sehe ich dann, dass unter der äußeren Hülle, die dem Menschen Schwarzenegger bis aufs Haar gleicht, eine Maschine steckt? Das ist eine verwirrende Frage. Denn wenn sich Combot Schwarzenegger während der Selbstamputation seines Armes mit mir wie ein x-beliebiger Gesprächspartner unterhält, auf meine Fragen nach Schmerzen, Wohlbefinden, Wiederherstellungsmöglichkeiten des Armes, auf meine Bemerkungen über das Wetter, die Weltlage und den Sinn des Lebens durchwegs verständig reagiert, dann werde ich den zwingenden Eindruck haben, dass Combot Schwarzenegger eine Person wie du und ich ist. Und weiter? Ist er eine solche Person? Es gibt die Theorie, die besagt, dass, während unsere Sinne rasch wechselnde Eindrücke registrieren, unser Gehirn laufend die einlangenden Daten vergleicht, bewertet, interpretiert, Schlussfolgerungen daraus zieht und dass uns einiges von derlei Aktivitäten – nur ein kleiner Bruchteil davon – als Erfahrungs92 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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inhalt bewusst wird. Demnach steckt in meiner Wahrnehmung, dass Combot Schwarzenegger eine Person ist, immer schon weitaus mehr als bloß Sinnliches. Doch was ist dieses Mehr? Nun, aus dem Umstand, wie sich Combot Schwarzenegger verhält, hat mein Gehirn geschlossen, dass es sich um eine Person handelt und nicht bloß um eine Maschine. Man könnte sagen, dass mein Gehirn aus den einlangenden Daten zu dem Schluss gelangte, dass Combot Schwarzenegger den Turing-Test bestanden hat. Nun wissen wir, dass es Menschen gibt, die ebenjene Wesen, die den Turing-Test bestehen, weil sie Personen sind, für Maschinen halten. Das ist etwas anderes als Descartes demonstrieren wollte, und es ist zugleich etwas viel Unheimlicheres. Ja, worum es hier geht, ist das Unheimliche schlechthin. In archaischen Kulturen herrschte bisweilen der Glaube, es sei möglich, einer Person die Seele zu stehlen. Die Person, die keine wirkliche Person mehr ist, musste als eine Art Untote oder als Zombie weiterleben. Heute gibt es psychiatrische Störungen, die dazu führen, dass man andere menschliche Wesen erlebt, als ob sie kein »Ich« hätten. Die postmetaphysische Philosophie mag uns versichern, dass es gar kein Ich gibt; Tatsache bleibt, dass die Erfahrung der Ichlosigkeit des anderen zu den radikalen Psychosen gehört. Der Psychotiker findet sich episodisch in einer Welt wieder, die jener im Film Matrix ähnelt. Stell dir vor, die ganze Welt um dich herum ist das Produkt eines Computerprogramms, das durch dein Gehirn mitten hindurchgeht, und alle Menschen, die dir begegnen, sind seelenlose Simulationen. Sie wirken äußerlich wie du und ich, aber sie haben kein Ich, kein Selbstbewusstsein, kein Bewusstsein – sie haben keine Seele. Nichts ändert sich und doch ist alles vollkommen verändert. Die Einsamkeit, welche die Folge dieser Erkenntnis ist, kann man nicht mehr »empirisch« nennen. Empirisch einsam war Robinson Crusoe, bevor ihm Freitag, ein anderes menschliches Wesen, begegnete. Die Einsamkeit des Menschen im Universum der Ichlosen ist jedoch metaphysischer Art. Wir haben es hier mit einer 93 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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exakten Parallelsituation zu jener Wittgensteins zu tun, wonach die Welt des Glücklichen eine andere sei als die des Unglücklichen, weil die Welt »gewissermaßen« als Ganzes zu- oder abnehme. Denn in der Tat ist die Welt eines Menschen, der seine Mitmenschen für Maschinen – oder Erzeugnisse eines Computerprogramms – hält, eine andere als diejenige, in der sich alle bewegen, während sie ihre Mitmenschen für reale menschliche Wesen halten. Die Einwände der Vertreter eines sogenannten wissenschaftlichen Weltbildes sind absehbar. Die Physikalisten und Naturalisten aller Couleurs halten die Rede davon, dass sich empirisch nichts ändert, falls sich die Welt »als Ganzes« ändert, für sinnloses Gerede. Doch der Philosoph sollte nachdenklich bleiben. Denn die meisten derer, die es aus »wissenschaftlichen« Gründen für angebracht halten, von anderen und sich selbst zu behaupten, sie seien ihrem Wesen nach Biocomputer oder etwas Ähnliches, haben nicht die geringste Ahnung, wie es ist, im anderen ernsthaft eine Maschine zu sehen oder sich selbst ernsthaft als Maschine erleben zu müssen. Im Grunde reden alle, die mit nichts weiter als ihrem »wissenschaftlichen Weltbild« argumentieren, über Dinge, von denen sie, existenziell gesprochen, keine Ahnung haben. Stießen sie auf einen Menschen, der sie ernsthaft für Maschinen hielte, würden sie nicht »Bravo!«, sondern nach dem Psychiater rufen: Man möge doch den Verrückten nicht frei herumlaufen lassen, denn was könnte einer nicht alles anrichten, der die anderen tatsächlich für Maschinen hält? Kaputtmachen könnte er sie mit dem Argument, dass es ja wohl erlaubt sein müsse, eine Maschine, für die man keine Verwendung mehr habe oder die sogar eine Bedrohung darstelle, außer Betrieb zu setzen … Maschinen haben einen ökonomischen Wert, aber keine Würde. Denn sie haben keine Seele: nichts, was sie als moralische Subjekte einem Sittengesetz unterstellte, das für sie im Rahmen ihrer Autonomie als absolut, weil universell gültig einsehbar wäre. Die Logik des Irren ist eine Logik; dennoch ist es eine irre Logik. Der Psychiater Ronald D. Laing (1927–1989) 94 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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veröffentlichte 1960 ein Buch mit dem Titel The Divided Self, »Das geteilte Selbst«, mit dem bezeichnenden Untertitel »Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn«. Am Beginn des Buches, das sich um ein Verständnis des Weltbezugs von Menschen bemüht, die klinisch als schizophren gelten, schrieb Laing einige Sätze, die bis heute im wissenschaftlichen und philosophischen Umgang mit Phänomenen des Bewusstseins als Leitlinie dienen sollten: Auf den folgenden Seiten werden wir uns wesentlich mit Leuten befassen, die sich selbst als Automaten, als Roboter, als Maschinenteile oder sogar als Tiere erfahren. Solche Personen werden mit Recht als verrückt angesehen. Warum aber betrachten wir nicht eine Theorie, die Personen in Automaten oder Tiere zu transmutieren sucht, als ebenso verrückt? 14

Laing ging davon aus, dass die Erfahrung von sich selbst oder einem anderen als Person »primär« und, wie er sagte, »selbstbestätigend« sei, weil sie noch vor allen Fragen existiere, wie eine solche Erfahrung möglich wäre und erklärt werden könnte. Sie ist ein existenzielles Apriori. »Primär« und »selbstbestätigend« heißt – anders ausgedrückt –, dass eine geistig gesunde Person, die dabei ist, mit »wissenschaftlichen« Argumenten darzulegen, warum sie nichts weiter als eine Maschine sei, dabei doch von einer Warte aus sprechen muss, von der aus nur Personen und nicht Maschinen zu sprechen imstande sind. Aber – so ein naheliegender Einwand – wie ist es möglich, eine Erfahrung »primär« und »selbstbestätigend« zu nennen, wenn zugleich behauptet wird, im Umgang mit Maschinen, die den Turing-Test bestehen, ließen sich keine Erfahrungen machen, die nicht genau den Erfahrungen entsprächen, die wir mit Wesen machen, die den Turing-Test bestehen, weil sie Personen sind? Was sollten wir daraus vernünftigerweise folgern, wenn nicht, dass es sich in beiden Fällen um Maschinen handelt, die Personen sind, oder umgekehrt um Personen, die Maschinen

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sind? Mit anderen Worten: Personen wären, so gesehen, eine ganz spezielle Art von Maschinen! Daraus würde dann, im Gegensatz zu dem, was Laing behauptet, hervorgehen, dass wir bestimmte Leute nicht einfach deshalb für verrückt erklären, weil sie sich und andere für Maschinen halten, sondern weil sie sich und andere für Maschinen halten, die keine Personen sind. Das ist ein verblüffender Zug in der Debatte. Unser Ausgangspunkt war, dass, empirisch gesehen, alles gleich bleibt. Nichts ändert sich, ich sehe in den anderen nicht plötzlich Maschinen und dennoch sind sie keine Personen mehr. Das, so sagten wir, ist die metaphysische Isolation, in die ich gerate und die für mich die Welt in ein unheimliches Licht taucht, das aus der Tiefe des Seins zu kommen scheint: Alles ist, wie es war, aber dadurch, dass die anderen keine »Seele«, kein ich-zentriertes Bewusstsein mehr haben (obwohl sie äußerlich auf sich selbst mithilfe des Personalpronomens »ich« in geregelter Form Bezug nehmen), bin ich kein Robinson Crusoe. Mir ist die Möglichkeit eines menschlichen Wesens namens Freitag aus Gründen verwehrt, die jenseits all dessen liegen, was wir intersubjektiv zu erfahren imstande sind. Das berühmte Gedankenexperiment, das der amerikanische Philosoph John Searle als Chinese Room konzipierte, mag hilfreich sein, um das Problem der metaphysischen Einsamkeit oder Isolation besser zu verstehen. Searle entwickelte sein Argument 15, um den Unterschied zwischen einem bloßen Hantieren mit Zeichen zu dem Zweck, die richtige Lösung zu finden, und dem Finden der richtigen Lösung aufgrund eines Verstehens der Zeichen, mit denen man hantiert, herauszuarbeiten. Denken wir uns folgende Situation: Ich, unkundig des Chinesischen, bin in einem Raum, dem sogenannten Chinese Room eingeschlossen, bloß mit einem Schlitz nach draußen, und mir ist eine Aufgabe gestellt, die kein Verständnis dessen erfordert, was ich tue. Theoretisch könnte diese Aufgabe von einem Computer erledigt werden, denn sie besteht in einer Reihe normierter CombotTätigkeiten:

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(a) Ich nehme einen Papierstreifen in Empfang, der durch den Schlitz durchgeschoben wird. (b) Ich vergleiche die auf dem Streifen befindliche Folge von Zeichen F1 mit jenen, die in einem vor mir liegenden Registerband stehen, und zwar auf der jeweils linken Spalte einer Seite. (c) Sobald ich im Registerband die Zeichenfolge F1 entdeckt habe, schreibe ich die ihr im Registerband auf der rechten Spalte dieser Seite zugeordnete Zeichenfolge F2 auf einen neuen Papierstreifen. (d) Ich schiebe den von mir beschriebenen Papierstreifen mit der Zeichenfolge F2 durch den Schlitz. Die Außenperspektive schaut nun folgendermaßen aus: Chinesische Muttersprachler schreiben in ihrer Sprache eine Frage mittels F1 auf einen Papierstreifen, schieben diesen durch den Schlitz in den Chinese Room, um nach einer Wartezeit die richtige Antwort in Form der Zeichenfolge F2 zu erhalten. Nehmen wir an, es handle sich um ganz einfache Fragen, die jeder einigermaßen gebildete Mensch ohne Weiteres beantworten kann, vorausgesetzt, er versteht die Fragen: Wie viel ist zwei mal zwei? Wie schmeckt Zucker? Wozu dient ein Lichtschalter? Was kommt aus dem Euter der Kuh? Da ich, des Chinesischen unkundig, die Fragen auf den Papierstreifen nicht verstehe, ja nicht einmal verstehe, dass es sich bei der Zeichenfolge F1 jeweils um eine Frage handelt, bin ich gezwungen, sie im Chinese Room ohne das geringste Verständnis zu »beantworten«, indem ich die richtigen Antworten, die im Registerband rechts stehen, auf einen Papierstreifen kopiere und als die Zeichenfolge F2 durch den Schlitz schiebe. (Falls ich in meinem Leben noch niemals chinesische Schriftzeichen gesehen habe, werde ich vielleicht nicht einmal wissen, ob meine Tätigkeit etwas mit sprachlichen Vorgängen zu tun hat.) Gegen Searles Argument sind verschiedene Einwände vorgebracht worden. Eine der Hauptstrategien, den Chinese Room im Sinne der Künstlichen Intelligenz zu neutralisieren, bedient sich einer komplexen Systemsicht: Zugegeben wird, dass die Person, die kein Chinesisch versteht, nicht dadurch plötzlich 97 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Chinesisch versteht, dass sie die Operationen ausführen lernt, die im Chinese Room auszuführen sind. In diesem Sinne, sagen die KI-Verfechter, versteht auch kein Computer chinesisch, wenn er Zeichen nach bestimmten Regeln manipuliert. Aber andererseits: Wie lernt man denn Chinesisch? Antwort: Indem man lernt, wie bestimmte Zeichen auf eine regelhafte Weise benützt werden, und dazu ist mindestens dreierlei erforderlich: (1) Man lernt die Zeichenregeln, indem man sie (2) mit typischen Zeichenverwendungssituationen in einen kausalen Zusammenhang bringt. Man muss also (3) Informationen gewinnen, um jene kausalen Aspekte zu verinnerlichen, die für das Verständnis der regelhaften Verwendung von Zeichen relevant sind. Im Chinese Room bin ich natürlich weit von einer Erfüllung der Bedingungen (1) bis (3) entfernt. Aber warum sollte es einem Computer nicht möglich sein, die richtige Verwendung von Zeichen zu lernen, wenn es Kindern möglich ist, kraft der Funktionsweise ihres Gehirns und ihrer neurologischen Sensoren, die sie mit ihrer Umgebung in Beziehung setzen, die richtige Verwendung von Zeichen zu erlernen … ? Um den hier vorliegenden Irrtum kenntlich zu machen, sollte man darauf hinweisen, dass ich im Chinese Room keineswegs überhaupt nichts verstehe. Denn ich verstehe sehr wohl, was ich mit den Papierstreifen, die durch den Schlitz gesteckt werden, machen soll. Es ist diese Art des Verstehens, die mich dazu bringt zu sagen, dass ich nicht verstehe, was der tiefere Sinn der Regel ist, gemäß welcher ich die Papierstreifen traktiere. Die Situation, in der ich mich befinde, ist jener eines Kindes vergleichbar, dem befohlen wird: »Tu es einfach!« Spitzen wir die Situation zu: Was müsste geschehen, damit ich nicht verstehen könnte, was es heißt, der mir vorgegebenen Regel zu folgen? Erste Stufe des mangelnden Regelverständnisses: Es wäre denkbar, dass ich geistig beschränkt bin, sodass ich die Regelhaftigkeit meines Tuns nicht zu erfassen vermag. Dann stellt sich natürlich die Frage, warum ich gleichsam wie ein Automat einer komplexen Regel folge, die ich doch gar nicht kenne? Und die 98 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Antwort müsste lauten – alles andere wäre ein irrwitziger Zufall, dessen Wahrscheinlichkeit gleich null ist –, dass ich tatsächlich auf irgendeine Weise programmiert (verhaltenstechnisch gesprochen: konditioniert) wurde und mein Tun tatsächlich dem eines Automaten gleicht. Was ich aber immerhin habe, ist ein Bewusstsein dessen, dass ich zu wiederholten Malen etwas Bestimmtes mache, wenn auch kein Bewusstsein davon, dass sich in meinen Handlungen eine Regel ausdrückt. Zweite Stufe des mangelnden Regelverständnisses: Es ist nicht nur der Fall, dass ich nicht weiß, dass ich einer Regel folge (ich »folge« ja auch keiner, sondern verhalte mich bloß regelmäßig in derselben Art und Weise); es ist darüber hinaus der Fall, dass ich nicht weiß, welches Verhalten ich an den Tag lege. Ich weiß nicht, dass ich zu wiederholten Malen denselben Handlungstyp ausführe. Ich verhalte mich bloß korrekt im Sinne einer Regel, von der ich nichts weiß. Anders formuliert: Ich handle vollkommen verständnislos und dabei exakt so, wie eine Maschine handeln würde, die darauf programmiert ist, die Regel des Chinese Room zu befolgen. Dieses Ergebnis ist wichtiger als viele der Folgerungen, die aus Searles Beispiel gezogen wurden, ja – so denke ich – wichtiger als jene Folgerung, die Searle selbst zieht. Searle argumentiert, der Chinese Room beweise, (a) dass alles Verstehen in einem intentionalen, auf eine Bedeutung gerichteten Bezug zu den Gegenständen des Verstehens gründe und (b) dass der intentionale Bezug des Verstehens nicht durch Algorithmen oder syntaktische Regeln darstellbar sei, die sich in eine Maschine implementieren lassen. Ohne dieser Argumentation widersprechen zu wollen, scheint mir doch wesentlich, dass sie eines Rückhalts bedarf, nämlich der Art und Weise, wie Bewusstsein und Verstehen aufeinander bezogen sind. Nicht nur setzt alles Verstehen dort, wo man sich dessen bewusst ist, dass man versteht, ein ichzentriertes Bewusstsein voraus. Darüber hinaus gilt: Das ichzentrierte Bewusstsein erschließt die Welt fundamental und einzigartig, indem die Welt durch das Bewusstwerden der Welt erschlossen wird, also nicht 99 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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etwa so, wie eine Maschine, etwa ein Roboter auf dem Mars, die Beschaffenheit des Bodens erschließt. Die entscheidende These lautet deshalb: Mit der Tatsache des menschlichen Bewusstseins geht ein Verstehen dessen einher, was bewusst wird, und zwar dadurch, dass es bewusst wird. An dieser Stelle scheint es hilfreich, eine Formulierung Martin Heideggers aus Sein und Zeit zu bemühen (§§ 36 u. 69). Wenn Heidegger, in einer unübertrefflichen Wortprägung, vom Bewusstsein als der »Lichtung des Seins« spricht, so meint er damit, dass sich im Bewusstsein das Sein als Welt öffnet, die einem Subjekt gegeben ist – und zwar noch vor aller Möglichkeit der Reflexion. Schon ein Säugling, der erst virtuell über Ichhaftigkeit verfügt, »versteht«, wenn auch vorsprachlich: Das Lächeln der Mutter ist bedeutungsmäßig ebenso »erschlossen« – im Sinne von: »der Welt des Säuglings aufgeschlossen« – wie die Rundung des Schnullers, die sich dem Gaumen und der Zunge »lichtet«. Dadurch, dass das Bewusstsein die »Lichtung des Seins« ist, wird Verstehen zur Basis menschlicher Welterschließung. Sein im Ursprung ist Bewusst-Sein, und Bewusstsein setzt voraus, dass sich im Einzelnen etwas Bedeutungsvolles zeigt. Im gesehenen Lächeln der Mutter und in der ertasteten Form des Schnullers ist dem Säugling das Allgemeine, »Begriffliche«, des Gesehenen und Ertasteten immer schon gegeben – und so wird es für das zur Sprache gelangende, ichzentrierte Subjekt möglich werden, sich die Dinge der Welt als Zeichen zu vergegenwärtigen. Das Verstehen ist nicht etwas, das auf einer höheren Stufe erst zu den Inhalten des Bewusstseins hinzutritt. Indem etwas zu Bewusstsein gelangt, ist es auf eine nicht weiter reduzierbare Weise bereits verstanden: Das ist das. Darin gründen dann alle höheren Formen des Verstehens – des fragenden Verstehens: Das ist das; und was ist das? Es gibt eine Weise, wie sich eine intelligente Maschine die Welt erschließt, beispielsweise ein Combot auf dem Mars. Der Combot ist so programmiert, dass er Gesteinsproben sammeln und erkennen kann, aus welchen chemischen Substanzen sie 100 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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bestehen. Doch was heißt hier »erkennen«? Der Combot kann aufgrund von Analysen, die er an den Gesteinsproben vornimmt, feststellen, um welche chemischen Substanzen es sich handelt, und er kann das Ergebnis auf seiner Festplatte speichern (und/oder zur Erde funken). Doch was heißt hier »feststellen«? Der Combot erkennt die chemische Zusammensetzung des Marsgesteins natürlich nicht so, wie ein Kind das Lächeln seiner Mutter oder die Form seines Schnullers erkennt. Denn dem Kind tritt dies und das ins Bewusstseins und dadurch – weil es sich a priori in der »Lichtung des Seins« befindet – »versteht« es, zwar vorsprachlich, doch sinnlich-bedeutungsvoll (eben »gelichtet«): Das ist das. In diesem Sinne versteht der Combot nichts. Zwar mag er, aufgrund von Messungen verschiedener Art, die alle automatisch ablaufen, schließlich auf seine Festplatte speichern: »Das ist X und dies ist Y«, aber er tut es in analoger Weise, wie ich im Chinese Room den einen Papierstreifen entziffere, um auf einen anderen Papierstreifen entsprechend einer formalen Regel die richtige Antwort zu schreiben. Ich verstehe mit Bezug auf das, was ich mit den Zeichen mache – mittels F2 auf F1 die korrekte Antwort zu formulieren –, nichts. Gehe ich nun, mein Nichtverstehehen verschärfend, davon aus, dass ich nicht einmal verstehe, dass ich mit Bezug auf das, was ich mit den Zeichen mache, nichts verstehe, dann komme ich der Combot-Situation auf dem Mars möglichst nahe: P. S. »erschließt« sich die Welt auf nichtverstehende Weise; P. S. fehlt jedes Bewusstsein davon, was P. S. tut. Mit Heidegger gesprochen: Ich bin kein Wesen mehr, das sich in der »Lichtung des Seins« aufhält. Ein Combot kann »erkennen«, »feststellen«, »Zeichen lesen« und »Regeln befolgen«, aber immer und notwendig nur auf eine nichtverstehende Weise. Er kann möglicherweise alles, was auch ich kann, und er kann unter Umständen noch viel mehr, mit dem entscheidenden Unterschied, dass es in ihm – um Heideggers Metapher fortzuführen – ontologisch dunkel ist: Keine Welt! Dabei handelt es sich um keine »Dunkelheit«, die der Combot in der Lage wäre zu »lichten«, und zwar in dem absoluten Sinne, 101 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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dass er keine wie immer geartete Möglichkeit hat zu erkennen – durch Operationen und Feststellungen welcher Art auch immer –, dass er sich in jener »Dunkelheit« befindet, die durch das Fehlen des Bewusstseins, zumal eines reflexiven, weil ichzentrierten Bewusstseins, hervorgerufen wird. Damit fehlt ihm die Bedingung der Möglichkeit eines Verstehens dafür, was es heißt, nicht zu verstehen. Für einen Combot, der den TuringTest besteht, ist das natürlich kein Grund, mit dem Begriff des Verstehens nicht regelgerecht zu hantieren. Angenommen, wir fragen den Combot, ob er versteht, was er tut, indem er Gesteinsproben auf ihre chemische Zusammensetzung hin analysiert. Die Maschine antwortet: »Selbstverständlich, stellen Sie mir doch eine diesbezügliche Verständnisfrage, dann werden wir schon sehen, ob ich sie beantworten kann.« Und in der Tat: Er kann alle Verständnisfragen, die mit Gesteinsproben und ihrer chemischen Zusammensetzung zu tun haben, untadelig beantworten. Nun wollen wir gleich aufs Ganze gehen. Wir, die in der »Lichtung des Seins« stehen, fragen den Combot, ob er wisse, dass zum Verstehen ein Bewusstsein gehöre und dass aber er, der Combot, keines habe. An diesem kritischen Punkt hat der Combot zwei Alternativen, eine Antwort gemäß seiner internen Programmierung zu geben: Die dumme Antwort – wie ich sie nennen möchte – lautet: Jawohl, ich habe kein Bewusstsein, doch um zu verstehen, was ich tue (Gesteinsproben sammeln und sie auf ihre chemische Struktur hin überprüfen), brauche ich kein Bewusstsein. Der Beweis dafür: Ich kann auf alle Fragen, die mir gestellt werden, verständig antworten. Dem wäre zu erwidern: Deine Antwort ist im Gegenteil der Beweis dafür, dass du keine angemessene Idee davon hast, was es bedeutet, etwas zu verstehen. Denn du verwechselt systematisch das Geben korrekter Antworten aufgrund des Umstandes, dass man darauf programmiert ist, korrekte Antworten zu geben, mit dem Geben korrekter Antworten aufgrund des Umstandes, dass man etwas verstanden hat. Würde hier kein Unterschied bestehen, so wären wir gezwungen zuzugeben, dass jeder funktio102 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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nierende Taschenrechner versteht, was es heißt, dass zwei mal zwei gleich vier ist. Die kluge Antwort hingegen lautet: Gewiss habe ich ein Bewusstsein, ich bestehe den Turing-Test. Ich kann im Sinne des Commonsense verständig darüber reden, was es heißt, zu verstehen und nicht zu verstehen. Es gibt also keinen Grund, mir zu unterstellen, ich sei, da ich mir die Welt bloß auf nichtverstehende Weise erschlösse, nicht imstande zu verstehen, was es bedeutet, nicht zu verstehen. Diese Antwort ist deshalb klug, weil uns der direkte Zugang zum Bewusstsein eines anderen Wesens prinzipiell verschlossen ist und jeder indirekte Zugang auf Indizien beruht. Die KI-Community argumentiert, dass, wenn sich ein Combot kontinuierlich so verhält, wie sich normalerweise nur jemand verhält, der ein Bewusstsein hat, dann dies so gut sei, wie ein Bewusstsein zu haben. Und was ist denn nun eigentlich der Unterschied zwischen dem Umstand, dass jemand ein Bewusstsein hat, und dem Umstand, dass jemand etwas hat, was so gut ist, wie ein Bewusstsein zu haben? Der springende Punkt bei dieser Argumentation besteht darin, dass die heikle Debatte über die richtige physische Basis für die Entstehung von Bewusstsein umgangen wird. Mag sein, dass das, was wir gewohnt sind, seit alters her »Bewusstsein« zu nennen, nur im Rahmen eines funktionierenden Zentralnervensystems auftritt. Aber, so wird die KI-Fraktion fortfahren, die Gesamtheit dessen, was ein Combot mit Hilfe seiner elektrochemischen Sensorien und Silikonschaltungen produziert, leistet ebenso viel wie ein Bewusstsein, und das läuft darauf hinaus, dass wir berechtigt sind zu urteilen, der Combot habe eines. Denn wenn wir vergleichsweise sagen dürfen, dass ein menschliches Gehirn eine universale Turing-Maschine »simuliert« und daher so gut wie eine Turing-Maschine ist (was immer es sonst noch sein mag), dann dürfen wir auch sagen, dass ein Combot, der den Turing-Test besteht, ein Wesen mit Bewusstsein simuliert und daher selbst ein solches Wesen ist. Was soll man darauf erwidern? Wir müssen erkennen, dass 103 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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es keine Möglichkeit gibt, die KI-Gläubigen zu widerlegen, indem wir uns bemühen, eine Situation zu konstruieren, die von einem Combot, der den Turing-Test besteht, nicht simulierbar wäre. Denn eben das ist die Definition eines Combots, der den Turing-Test besteht: dass er nämlich jede Situation, die wir als bewusst, bedeutungsgerichtet und verständnisorientiert auffassen, simulieren kann. Dass bis heute noch keine derartige Maschine existiert, stellt natürlich keinen prinzipiellen Einwand dar. Erst heute gehören Schachcomputer, die alle menschlichen Schachmeister besiegen, zum KI-Repertoire, und die Maschinen werden rasch immer leistungsfähiger. Jedenfalls ist uns bis jetzt kein prinzipielles Argument gegen die Möglichkeit einer solchen Maschine untergekommen. Zugleich jedoch beginnen wir eine geschärfte Intuition dafür zu entwickeln, was metaphysische Einsamkeit bedeutet. Ein Mensch, der in einer Welt leben müsste, die aus lauter Homines combotici oder, wie ich sagen möchte, Combotianern bestünde – Combots, die in ihrem Verhalten vom Durchschnittsmenschen nicht unterscheidbar wären –, könnte seine Einsamkeit niemals dadurch überwinden, dass er mit den Combotianern Freundschaft schließt. Die Einsamkeit des Menschen im Umgang mit den Combotianern besteht darin, dass er etwas weiß, was sie nicht wissen: nämlich, dass sie kein Bewusstsein haben, keine Gefühle, kein Verständnis für irgendetwas und dass sie daher grundsätzlich nicht wissen können, dass sie nichts wissen. Könnten sie wissen, dass sie nichts wissen, der Bann wäre bereits gebrochen. Nehmen wir an, ich sei der letzte Mensch auf Erden. Nehmen wir außerdem an, mächtige Aliens, die auf der Erde vorbeigeschaut haben, hätten sich, aus welchen Gründen auch immer, entschlossen, die Erde mit Combotianern zu bevölkern, unter denen ich bis zu meinem Tod als das letzte Exemplar der Spezies Homo sapiens sapiens L. leben müsste. Und »wie das Leben so spielt«, lerne ich eine Combotianerin kennen und lieben, die mich, wie sie mir versichert, ebenfalls liebt. Wir verhalten uns also wie zwei normale Menschen, oder? 104 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Wir haben geflirtet, uns gegenseitig unsere Zuneigung einbekannt, sind schließlich miteinander ins Bett gegangen. Doch selbst wenn wir heiraten und für mein ganzes Leben lang zusammenbleiben – immer weiß ich, dass das Wesen neben mir Augen hat, die tot sind. Dieses Wesen lebt in einem ontologischen Dunkel, aus dem es nicht herauskann. Wie viele zärtliche Worte es mir ins Ohr flüstern und wie sehr es um mich besorgt sein mag in Zeiten, in denen mich etwas bedrückt: stets weiß ich, dass das alles bloß eine programmierte, ganz und gar äußerliche, bewusstseinslose Simulation dessen ist, was ein Wesen mit Augenlicht – ein Wesen, das in der »Lichtung des Seins« stünde – mir an Zuwendung zu schenken bereit wäre, immer vorausgesetzt, es würde für mich Gefühle hegen, die zusammengenommen das ergeben, was wir »Liebe« nennen. Die Liebe, die ein Mensch für mich empfindet, ist etwas grundsätzlich anderes als die Simulation der Liebe, welche die Combotianerin durch ihre Worte, Gesten und Taten mir gegenüber an den Tag legt. Versuche ich, mit der Combotianerin über meine Einsamkeit zu reden – meine metaphysische Einsamkeit, die darin besteht, dass ich das einzig ichbewusstseinsbasierte, verständnisorientierte Wesen in einer Welt der Maschinen bin –, so wird sie, da sie den Turing-Test besteht, zunächst versuchen, mir meine angeblich krausen Gedanken auszureden. Gelingt ihr das nicht, dann wird sie mir den ernsten Rat erteilen, mich an einen Psychiater zu wenden. Genauso würde sich eine menschliche Partnerin verhalten, aber sie wäre tatsächlich im Recht! Denn es ist ein Zeichen von Geisteskrankheit, wenn ein Mensch glaubt, die anderen seien Maschinen. Der kritische Punkt in meiner Beziehung zur Combotianerin besteht darin, dass sie nicht weiß, dass sie tatsächlich eine Maschine ist, oder anders ausgedrückt: sie hat kein Lebensgefühl, kein »Maschinengefühl«, sie weiß nicht, wie es ist, eine Maschine zu sein … Sie kann das nicht wissen, weil sie in dem Sinne, der für mich als Mensch einzig zählt, gar nichts weiß, auch nicht, dass sie nichts weiß. Sie hat die »Lichtung des Seins« niemals betreten, niemals etwas verstanden. Sie hat kein Bewusstsein, und – um mich der Deutlichkeit halber zu 105 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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wiederholen – dieser Mangel wird für mich nicht dadurch saniert, dass sie etwas hat, was »so gut wie ein Bewusstsein« ist, nämlich die Fähigkeit, ein Wesen mit Bewusstsein bis ins kleinste Detail zu simulieren. Hier kommen wir beide, ich und die Combotianerin, an eine grundsätzliche Schranke der Verständigung, die sich durch keinen Simulationsakt überschreiten lässt. Die Maschine ist – soll sie keinem inneren Widerspruch verfallen – außerstande »einzuräumen«, dass sie die Schranke erkennt und ihre Bedeutung versteht. Denn sonst müsste sie zugeben, dass sie überhaupt keine Bedeutungen versteht und daher die Schranke prinzipiell nicht erkennen kann. Ich will dieses Phänomen die »KI-Schranke« nennen. Kein Combot kann zugeben, dass er ein Combot ist, eine Maschine, denn würde er zugeben, dass er bloß eine Maschine ist, würde er zugeben, dass er nicht die Kompetenz besitzt, zuzugeben, dass er bloß eine Maschine ist. Dies ist der Grund, warum einzig und allein Wesen, die, weil sie immer schon in der »Lichtung des Seins« stehen – also keine Combots sind –, in ihren theoretischen Äußerungen so tun können, als ob sie tatsächlich Combots wären. Metaphysisch einsam zu sein, bedeutet, in einer albtraumhaften Welt zu leben, in der dem Einsamen die Möglichkeit, auf einen »Freitag« zu treffen, für immer und notwendig verschlossen bleibt. Es bedeutet, in einer ontologisch opaken, aufs Äußerste immanenzverdichteten Welt zu leben, worin nur ein Wesen existiert, das die »Lichtung des Seins«, die Welt des Verstehens betreten hat – das Wesen, dessen Augen nicht tot sind, während alle anderen zur perfekten Simulation des In-der-Lichtung-Stehens fähig sein mögen, dabei jedoch, als Maschinen, der KI-Schranke unterliegen. Und auch daraus ergibt sich der Gehalt der metaphysischen Einsamkeit: Die Maschine kann nicht verstehen, was die Bedeutung der Einsamkeit ihres Gesprächspartners ist – ein Umstand, der das Lebensgefühlsargument wieder ins Spiel bringt. An irgendeinem Punkt wird sich im Gespräch mit dem Computer erweisen, dass das, was er über die Bedeutung des Lebens106 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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sinns aus seinem Informationenpool bezieht, nicht das ist, wonach wir streben. Unserem Bewusstsein wohnt von Anfang an eine – wie soll man sagen? – unaussprechbare Teleologie der Erlösung inne. Wir sagten, die angemessene Art, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu reagieren, besteht darin, unser Leben als Geschichte zu erzählen; und wir fügten hinzu, dass die Geschichte der Tendenz nach (und die Tendenz zielt auf das unerreichbar Nahe) derart beschaffen sein müsste, dass sich am Ende zeigen würde, wie alles in unserem Leben zueinander passt. Sie würde zeigen, dass unser Leben eine einmalige Gestalt ergibt, und zwar so, wie ein inspiriertes, vollkommen gelungenes Kunstwerk dies tun würde, woraus dann – Gottes Schöpfung gleich – nichts mehr entfernt werden dürfte, soll die Gestalt unbeschädigt überdauern. Gewiss, das Verständnis der Erlösungs-Teleologie hat eine erlernbare Seite. Das ist die Seite, die sich einer Fülle von empirischen und ästhetischen Analogien bedient. Doch worauf es hier ankommt, ist die andere Seite, nämlich die Fähigkeit, in den Analogien Hinweise auf etwas zu erkennen, was sich nicht aussprechen lässt. Meine These lautet also, dass nur ein Wesen, das über Bewusstsein verfügt, die Analogien, Gleichnisse, Paradoxien, mit deren Hilfe sich das Lebensgefühlsargument ausdrücken lässt, als solche zu erfassen vermag. Transformationsstrebigkeit unter dem Gesichtspunkt der Erlösung ist etwas grundsätzlich anderes als programmierte Zielorientierung. Während nämlich Letztere nicht voraussetzt, dass sie mit einem Bewusstsein ihrer selbst einhergeht, ist das Streben nach Transformation mit dem Ziel, sich als der zu erkennen, der man ist, undenkbar ohne ein Bewusstsein, zu dessen Apriori es gehört, Selbstseinwollen als Erlösungsbedürftigkeit zu verstehen. Ohne ein Verstehen dieser Grundbedürftigkeit des Menschen wird alles Erlösungsgerede, alles Selbstfindungspathos zu einer Geste, deren Realisierung einer »Transformation nach unten« gleichkäme, nicht hin zum Licht des Seins, sondern zur Opakheit der Maschinen. Fazit: Zur KI-Schranke gehört, dass eine Maschine, die den 107 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Turing-Test besteht, simulieren muss, ein ichbegabtes Bewusstseinswesen zu sein, das so tun kann, als ob es eine Maschine wäre. Hier, genau an dieser Bruchstelle, wird die unüberbrückbare ontologische Differenz zwischen dem metaphysisch Einsamen und den Maschinen offenkundig. Doch die Differenz selbst ist mit empirischen Begriffen nicht darstellbar. Und eben darauf werden sich die Maschinen, die Combots, berufen, wenn sie das Bestehen der Differenz leugnen und in ihr nichts erkennen können, was irgendeine nachvollziehbare Bedeutung hätte. Sie werden sich damit nicht anders verhalten, wie jeder xbeliebige Naturalist, Physikalist, Reduktionist. Was sie prinzipiell nicht wissen können: Der wissenschaftliche Reduktionist weiß, dass er eine Differenz aus theoretischen Gründen leugnet, die ihm aus Gründen seiner intelligiblen Natur, seines geistigen Menschseins, unverlierbar eingeboren ist: Er und nur er ist ein ichbegabtes Bewusstseinswesen, das in der Theorie so tun kann, als ob es keines wäre (sondern bloß eine Art Maschine oder Zufallsgenerator).

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Wie es ist, eine Maschine zu sein Eine Traumgeschichte des Erwachens

Wie der Leser, die Leserin bemerkt haben wird, bewegen wir uns an den Rändern des überhaupt noch Argumentierbaren. Das ist der Preis, den die Philosophie dafür zahlt, dass sie den Grenzübertritt ins Metaphysische wagt, nach dorthin, wo von der »Lichtung des Seins« und der »Opakheit der toten Materie« die Rede ist. Wir befinden uns an der Schwelle, hin zum bloß Erzählbaren, weil irreduzibel Subjektiven, welches all unseren rationalen Annäherungsversuchen an das Mysterium der Wahlverwandtschaft zwischen Bewusstsein und Welt zugrunde liegt. Die folgende Traumgeschichte des Erwachens sprengt endgültig die Klammer der »theoretischen Abhandlung«. Sie tut dies allerdings nicht als bloßer Zusatz oder quasiliterarischer Aufputz zu bereits Gesagtem. Sie versucht vielmehr, die Innensicht des Philosophen zu thematisieren, der von dem – theoretisch postulierten – maschinenhaften KI-Sein des Menschen redet. Kein Zweifel: Wäre diese »Innensicht«, das phänomenologische Substrat, mehr als bloß ein Traum, sie wäre zugleich ein Anzeichen existenziellen Wahnsinns.

Schon während ich erwache, ist diese bedrohliche Frage in mir: Wie es wohl wäre, ein Käfer zu sein, so wie Gregor Samsa in Kafkas berühmter Geschichte? Diese Frage ist buchstäblich in mir, weil sich mein Körper gleichsam bereitmacht, mit der schrecklichen Wahrheit meiner Käferwerdung herauszurücken. Noch habe ich kein Glied bewegt, noch bin ich in der Schwebe. Als ich mich dann doch bewege, stelle ich erleichtert fest, dass ich zwei menschliche Arme und Beine habe. Mein eigenartig panisches Körpergefühl war wohl die Nachgeburt eines Albtraums, in dem ich mich in einen Käfer verwan109 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Wie es ist, eine Maschine zu sein

delt hatte und von den anderen nur mehr mit Abscheu betrachtet worden war. Vermutlich wollten mich diejenigen, die mich bisher geliebt hatten, sofort ausgelöscht sehen: Ich musste gesehen haben, wie sie mich sahen – ohne einen Funken des Wiedererkennens und ohne Mitleid mit mir, jenem abscheulichen Anderen, der offenbar keiner von ihnen mehr war. Am Frühstückstisch sitzend, zusammen mit meiner Frau, überlege ich noch, wie ich mich hätte verständlich machen können für den Fall, dass ich in der Nacht zu einem riesigen Insekt geworden wäre. In den Hollywoodfilmen werden derlei Schwierigkeiten auf dem Niveau von Gruselkomödien abgehandelt. Da man nach der Verwandlung zwar schockierend ungewöhnlich ausschaut und vielleicht gar keine menschliche Stimme hat, muss man als das Wesen, das äußerlich verwandelt wurde, eine Möglichkeit finden, der vertrauten Umgebung seine Identität mitzuteilen. Das kann schwierig sein, aber unmöglich ist es nicht. Man ist ja mental und emotional weiterhin ein Mensch. Wenn es mir gelingt, meine Nächsten davon zu überzeugen, dass ich weiß, wie es ist, ein Mensch zu sein, weil ich nämlich in Wahrheit einer bin, obwohl ich im Körper eines riesigen Insekts stecke, dann wird der nächste Schritt nicht mehr völlig aussichtslos scheinen: mich als der erkennbar zu machen, der ich außerdem und vor allem bin – einer, der zur Familie gehört (wir erwarten den Besuch unserer Kinder und Enkeltöchter). Jetzt sitze ich meiner Frau gegenüber und so, wie sie mit mir spricht, ist an mir offensichtlich nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Trotzdem will ein fahler Schatten, nein, durchdringender, konturloser noch: eine Fahlheit, nicht aus mir weichen. Ich kann unmöglich sagen, was das ist. Es wäre falsch zu sagen, dass ich mich anders fühle als sonst oder in meiner Umgebung irgendetwas nicht stimmt. Alles steht auf seinem Platz, die gewöhnliche Ordnung ist aufrecht, ich höre die Wohnzimmeruhr ticken. Die Zeit fließt wie immer, unmerklich, und doch scheint mir gerade darin ein ominöses Zeichen zu liegen: Könnte es nicht sein, dass sich bereits alles unmerklich verändert hat, die 110 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Welt eine andere geworden ist und ich davon nichts gemerkt habe? Das sind morbide Gedanken, ich muss sie vertreiben. Also stehe ich ruckartig auf, um ins Badezimmer zu gehen, aber kaum bin ich dort angelangt, fühle ich mich panisch beengt: Habe ich die Wohnzimmeruhr wirklich ticken hören? Mir kommt plötzlich vor, als hätte ich sie nicht gehört. Dabei geht mir eine scheinbar vollkommen unsinnige Frage durch den Kopf: Kann man wissen, dass man etwas ticken hört, indem man weiß, dass man es ticken hört? Ich suche mein Gesicht im Badezimmerspiegel, um mir selbst zuzulachen: Das sind doch Fragen, wie man sie ansonsten nur in den Werken von Philosophen findet, die zu viel Wittgenstein gelesen haben! Und bin ich nicht auch so einer … ? Mir fällt, unmotiviert, George Edward Moores Beweis der Existenz einer Außenwelt ein. Diesen Beweis habe ich, im Gegensatz zu Wittgenstein, immer für beruhigend gehalten. Vor dem Badezimmerspiegel stehend, beweise ich mir nun auf der Stelle die Existenz der Außenwelt. Ich tue so, als ob ich mir etwas beweisen wollte, ein kleiner Handzauber gegen das anschwellende Morgengrausen. Dazu halte ich eine Hand hoch und betrachte sie im Spiegel und sage – so, wie Moore –: »Hier ist eine Hand«, und dann halte ich meine andere Hand hoch und betrachte sie im Spiegel und sage: »Und hier ist noch eine«. Da ich nun bewiesen habe, dass zumindest zwei Gegenstände der Außenwelt existieren, habe ich zugleich bewiesen, dass die Außenwelt existiert. Das sollte mich beruhigen. Es ist nicht alles irreal. Doch Moores Beschwörung funktioniert nicht. Es kommt mir vor, als würde ich meine Hände im Spiegel sehen, ohne etwas zu sehen. Mir fallen die Geschichten von Blinden ein, die sagen, sie seien in der Lage, »blind zu sehen«; sie gehen durch Räume voller Hindernisse und stoßen nirgendwo an. Blindsehen! Ist es möglich, dass der Blindsehende gar nicht merkt, dass er ein Blindsehender ist – gar nicht merkt, dass er nichts sieht? Bin ich über Nacht zu einem Blindseher geworden, in meine Blindheit eingeschlossen wie in helles Tageslicht? Ich

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spüre, wie sich das Morgengrausen verdichtet: Aus dem Grausen lugt das Grauen hervor. Ich starre auf den Spiegel, in den Spiegel hinein, mir kommt vor, ich starre durch den Spiegel hindurch. Ich höre, wie das Wasser in das Waschbecken läuft. Ich will den Unsinn, der mich befallen hat, abschütteln. Ich stecke meinen Kopf ins Wasser. Es hilft nichts. Mit dem Gesicht noch unter Wasser, weiß ich, dass ich es vorhin im Spiegel gesehen habe – mein Gesicht, mein eines Auge und mein anderes auch. Bloß, die Erinnerung daran ist auf einmal ein Wissen ohne dazugehöriges Bild: paradox, ein Bild, das kein Auge gesehen hat, weder das eine noch das andere. Zugleich weiß ich, dass ich das Wasser rinnen höre. Ich richte mich auf und drehe den Hahn ab. Kaum habe ich den Hahn abgedreht, ist mir, als ob ich das Wasser nicht rinnen gehört, sondern rinnen gewusst hätte. Da wird mir schlagartig klar, dass mein Albtraum mehr war als bloß ein Albtraum, mehr als bloß der Nervenschaum eines nachtheißen Gehirns. Kein Zweifel, ich bin dabei, eine Veränderung durchzumachen, schlimmer noch als die des Gregor Samsa, tiefgreifender, eine Veränderung, für die mein traumbefangenes Gehirn zunächst keinen besseren Anhaltspunkt finden konnte als die Geschichte von Kafka. Mein Körper begann, sich im Schlaf anders zu fühlen, obwohl es unmöglich gewesen wäre zu sagen, dass ich dieses oder jenes Gefühl hatte. Es war ja auch nicht mein Körper, der sich anders fühlte. Ich war es selbst. Es war, als ob sich tief in meinem Inneren etwas zu zersetzen begonnen hätte, mit dem sich alles andere mitzersetzte. Nicht die Dinge änderten sich, sie traten in ein anderes Licht und unter ein anderes Gesetz. Mein Gehirn hatte nach einer Interpretation des Unfassbaren gesucht und eine handfeste Schablone gefunden: Die Verwandlung, jene allbekannte Erzählung von Franz Kafka. Das hatte mir den Eindruck vermittelt, dass zwar mein Körper dabei war, mir zu entgleiten, meine Erfahrung der Welt aber nach wie vor um dieselbe Achse rotierte. Während ich in den Spiegel starre und mich zu wissen bemühe, dass ich mein tropfnasses Gesicht sehe, ist etwas, zu dem ich 112 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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bisher »ich« sagte, nicht mehr wirklich da. Dagegen hilft kein Beweis der Außenwelt. Es ist mein Ich, das mit Grauen sein eigenes Nachbild anstarrt, den Schatten eines Bildes, das, während es angestarrt wird, im irgendwie Unwirklichen verharrt. Mein Ich wird opak, es beginnt – so kommt es mir vor – sich vor dem zurückzuziehen, was Heidegger die »Lichtung des Seins« nannte. Panik – diffus und konzentriert zugleich –, das ist die Folge des Zustandes, in dem ich mich befinde. Ich nehme mich wie aus den Augenwinkeln wahr, mich im Akt der Wahrnehmung aus dem eigenen Blickfeld wegdrehend, oder wie einer, der um eine Ecke rennt und verschwindet und sich dabei beobachtet, wie er um die Ecke verschwindet. Wenn es einen Sinn hätte, von einem metaphysischen Schwindelgefühl zu reden, dann wäre hier der richtige Moment, davon zu reden. Stattdessen weiß ich nicht, wohin mit mir, um mich zu sammeln. Ich stürze zurück ins Wohnzimmer, pflanze mich händeringend vor meiner Frau auf: »Ich bin dabei, eine Maschine zu werden!« Wegen der Heftigkeit meines Tonfalls ist sie erschrocken, packt mich an den Händen und sagt: »Setz dich.« Ich setze mich hin und habe das Gefühl, dass nicht ich es bin, der sich hinsetzt. Doch wie soll ich mir Gehör verschaffen? »Ich höre taub!«, möchte ich schreien. Es ist, als ob ich aus einem tiefen Albtraum heraus zu schreien versuchte: »Hörst du, ich höre taub!« Meine Frau rüttelt mich, sie ruft nach mir: »Bist du wach? Kannst du mich verstehen? Du redest wirres Zeug!« Ich weiß. Dabei rede ich so exakt wie möglich. Wenn du eine Maschine wirst, verändert sich dein Wesen in einer Weise, die es dir nicht gestattet, mit den anderen, die keine Maschinen sind, in den Begriffen zu reden, die sie verstehen ließen, was mit dir passiert. Dabei verwendest du alle Begriffe regelgerecht. Während meine Frau nach mir ruft, weiß ich, dass ich gemeint bin und eine Antwort zu geben habe. Also gebe ich zur Antwort: »Mir fehlt nichts, mach dir keine Sorgen.« So reden Turing-Maschinen, die den Turing-Test bestehen. Und während meine Frau den Kopf schüttelt, mit einer 113 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Mischung aus Ärger und gesteigerter Besorgnis, bin ich schon wieder aufgesprungen – saß ich denn nicht soeben noch beim Frühstückstisch, war vom Tisch weg und ins Badezimmer gegangen? –; jetzt eile ich zum Fenster. Da unten, auf der Straße, flutet der Verkehr, die Fußgänger drängeln sich am Gehsteig: Morgenhektik. Ich will Menschen sehen, haufenweise, ich will, dass meine Augen sich im Gewühle der Menschen verheddern, so lange, bis die Lebendigen da unten ihre Aura auf mich übertragen. Ich starre aus dem Fenster, bereit zu jeder Form von Mimikry. Wenn es sein muss, werde ich alle Gesichter, alle Mienen, alle Grimassen, die ich speichern kann, selber schneiden. Ich kenne den Ausdruck »ein Gesicht schneiden«, es kommt mir jetzt vor, als ob dieser Ausdruck meine Rettung sein könnte. Dabei fällt mir eine Stelle aus Ronald D. Laings Buch The Divided Self ein, das mich vor vielen Jahren davon überzeugte, dass unsere moderne Wissenschaft vom Menschen schon lange wahnsinnig geworden ist. Sie stellt Menschen dar, als ob sie Maschinen wären. Laing beschreibt panisch Hilfesuchende, die in Gefahr sind, sich unter dem grellen Licht ihres Bewusstseins aufzulösen. Manche vergleichen ihr Bewusstsein mit dem bösen Blick, manche mit einer schwarzen Sonne, die alles verbrennt. Die meisten beginnen, ihre Erfahrungen als leblos zu erfahren und ihre Gefühle so zu fühlen, dass sie aufrichtig sagen müssen: »Ich fühle nichts.« Die Angst vor der Lebendigkeit, die eine Angst davor ist, vom Bewusstseinsstrahl der anderen erfasst und getötet zu werden, führt bei Laings Patienten zur Versteinerung des eignen Ich. Man ist tot, aber der Tod kann nur helfen, solange man sich seines Todseins bewusst ist. Die Kunst besteht darin, tot zu sein, ohne ein Auge zuzutun. Der Tod ist ein steinernes Wachsein, ewig und grau. Ich schaue aus dem Fenster und denke: »So ist es«, und dabei weiß ich, dass es nicht so ist. Nicht bei mir. Ich bin nicht verrückt. »Ich bin nicht verrückt«, sage ich und spüre, wie meine Frau hinter mich tritt und ihre Arme um mich legt. Obwohl ich mich nicht spüre, spüre ich das. Doch im Augenblick ist »das« wie der Lichtfunke, der in die 114 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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schwarze Sonne, in den grauen Stein des Nichts einsinkt. Hier und jetzt ist mein Bewusstsein keine Quelle des Lebens mehr, sondern eine Art Radar, ein Abtastmechanismus, ein tödlicher Strahl. Statt dass ich mich im Gewühle der Menschen dort unten auf der Straße verliere und, erfrischt von ihrer Lebendigkeit, wieder auftauche auf der lebendigen Höhe meiner selbst, taste ich sie ab, die Hüte, die Haare, die Kleider, die Taschen, die Schuhe, und ich weiß mir keine Antwort auf die Frage des Descartes, der aus dem Fenster schaute und wissen wollte, woher er denn jemals sicher sein könne, dass das da unten nicht alles Automaten seien. Ich weiß mir keine Antwort, weil ich nicht weiß, woher ich denn wissen sollte, dass ich nicht selbst ein Automat bin. »Und bin ich denn nicht einer?«, frage ich meine Frau, ohne den Kopf zu wenden, aus einem fühllosen Schrecken heraus, in ihren Augen eine vernichtende Wahrheit zu lesen. Sie aber hat ihre Arme noch immer um mich gelegt und sagt: »Komm schon, du bist doch fertig mit deinem Manuskript.« Es ist wahr, ich schrieb über die »Politik der Seele«, sie führte mich zu den intelligenten Maschinenwesen, den Combots, welche, indem sie den TuringTest durchliefen, ohne Zögern behaupten, sie stünden in der »Lichtung des Seins«. Am Anfang war alles nur intellektuelle Spielerei, alle diese Fragen, was es bedeuten würde, wenn wir tatsächlich wären, was wir doch sein müssten, falls die Materialisten und ihr neurophilosophischer Anhang recht haben sollten: Automaten, Maschinen, Mixturen aus Körpern und Gehirncomputern. Doch mit der Zeit wurden die Fragen besitzergreifend. Sie ergriffen Besitz von mir, ich wollte wissen, wie es ist, eine Maschine zu sein, ein Zentrum zu haben und doch kein Ich, Wahrnehmungen zu machen und doch nichts zu empfinden. Zunächst erinnerte ich mich an eine psychologische Theorie, über die ich vor vielen Jahren gelesen hatte. Die Theorie besagte, es gäbe Wahrnehmungen ohne Empfindungen. Wenn ein Mensch in einem stockdunklen Raum im druckfreien Zustand um die eigene Achse gedreht wird, dann registriert er die Dre115 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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hung, ohne etwas zu sehen oder zu spüren. Das, dachte ich mir, könnte eine Maschine auch registrieren: reine Information. Wenn ein Mensch mit einem Stock auf den Boden klopft, dann hat er einerseits Empfindungen in der Hand und andererseits Informationen über das, worauf er mit dem Stock klopft. Wenn ein Mensch den Raum vor sich betrachtet, dann sieht er ein Bild, das sich aus vielen Elementen zusammensetzt, aber alle diese Elemente, ob Umrisse, Farben oder Schatten, erzeugen keine Empfindungen, weder in den Augen noch sonst wo. Auf diese Weise wurde ich zunehmend besessen von der Vorstellung, um zu wissen, wie es ist, eine Maschine zu sein, müsste ich aus meinen Beziehungen zur Welt und zu mir selbst die reine Information herausisolieren. Ich wollte (wie ich rückblickend sagen möchte) quasi die Quadratur des Kreises lösen; ich wollte die Informationen, welche ein Combot prozessiert, mir als Bewusstseinsdaten vergegenwärtigen. (Nun weiß ich gar nicht mehr, was das bedeuten könnte, ich war wohl das Opfer einer sprachlichen Verwirrung, die meinen Geist bannte: Ja, ich wollte das Empfindungslose empfinden!) Gesteigert wurde mein Leiden durch die Besuche, die ich einem Spezialisten für fernöstliche Meditationstechniken abstattete. Ich hatte eine seiner Abhandlungen über die Ich-Entleerung gelesen. Durch eine spezifische Konzentration auf sich selbst sollte ein Zustand unmittelbarer Gewissheit darüber erreicht werden, dass es kein Ego gibt. Ich-Entleerung wäre demnach Es-Werdung, aber nicht im psychoanalytischen, sondern existentialontologischen Sinne. Was von der Egozentrizität des Ich-Glaubens übrigbleiben sollte, war schließlich reine Information über die Unpersönlichkeit des eigenen Wesens. Ich begann also unter Anleitung zu meditieren. Doch je weiter ich in die Ich-Leere meines Wesens vorzudringen glaubte, umso irrealer wurden die Dinge rund um mich. Da nicht mehr ich es war, der das Leben und die Schönheit der Rose sah, schien diese sich selbst auf ein unpersönliches Dasein zurückzuziehen, worin sie verharrte gleich einem substanzlosen Schemen, nicht in der »Lichtung des Seins« erstrahlend, sondern wie im Dämmer des 116 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Hades bleichend: ein fahles Nachbild des Lebens von einst, und weniger, weil, strenggenommen, nichts. Und dann passierte etwas, was mich zutiefst verstörte. Nach einer meiner Meditationssitzungen schien ich aus der »Lichtung« – der Welt, dem Leben – tatsächlich weggerutscht zu sein. Während ich ins Freie trat, kamen mir lauter Automaten entgegen. Nichts hatte sich an den Menschen geändert, seitdem ich, vor etwa zwei Stunden, das Haus meines Bekannten betreten hatte. Und doch schien in der Welt nun kein Bewusstsein mehr zu existieren, außer dem meinen, das sich in einem Zustand höchster Alarmiertheit befand. Gerade eben noch war ich in der Meditation durch mich selbst hindurchgegangen wie durch einen Spiegel, der sich selbst bespiegelt, und nun versetzte mir das Pärchen, das geradewegs auf mich zukam, einen Schock. Die beiden waren nicht »echt«. Ich sah, wie sich ihre Münder bewegten, ich hörte die Töne, die daraus hervorkamen. Rund um ihre Münder bewegte sich die Haut über den Backenknochen und zerrte an den Nasenflügeln, die sich öffneten und schlossen wie die Kiemen der Fische. »Das kann nicht sein«, dachte ich, doch als ich meinen Blick auf die Augen des Pärchens richtete, sah ich kleine Apparaturen. Ich sah hinein in ihre Pupillen, hinter denen der Glaskörper im Dunkeln lag; ich sah, wie ihre Augäpfel auf der Rückseite milchig schimmerten, von Äderchen durchzogen, und wie von dort der Strang des Sehnervs abging und sich in den Schädel hinein fortpflanzte, wo er, eingebettet in der grauen schleimigen Masse des Gehirns, sich in einer klebrigen Galaxie aus Nervenfasern verlor. Ich sah, ohne zu sehen; ich »sah« Informationen – also nichts, was sich sehen hätte lassen. Ich war hellsichtig geworden und dabei war schon alles um mich herum tot. Denn wo ich früher, und oft genug mit Entzücken, das Spiel des Lebens wahrgenommen hatte, die Arabesken des Bewusstseins im Lachen und Weinen, die vielfältigen Ausstrahlungen des Ich über die Landschaften der Körper hin, die sich widersetzten und einwilligten, »sah« ich den Mechanismus der Organe. Aus den Pirouetten der Verliebtheit waren Automatentänze geworden. Das Pärchen stand nun direkt vor mir, 117 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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steif, mit plötzlich besorgter Miene. Die beiden schauten mich an und fragten: »Brauchen Sie Hilfe?« Ich wollte schon sagen: »Gehen Sie weg!« Denn ich glaubte zu sehen, dass sie bloß vortäuschten, ein Bewusstsein zu haben. Aber dann sagte ich doch: »Nein danke, es geht schon.« Die beiden hatten gerade vorhin noch verliebte Worte ausgetauscht. Nach dieser Episode – sie schien mir hinterher bereits den Rand einer Psychose zu umspielen – begann ich mich, von meiner Obsession wieder zu befreien. Ich wollte nicht mehr wissen, wie es ist, eine Maschine zu sein. Ich wollte vielmehr wissen, wie es ist, ein wahres Selbst zu haben. Da Menschen keine Maschinen waren, waren sie immerfort auf der Suche nach ihrer Identität. Unter Ichlosen kann es keine Identität geben und keine Suche nach Identität. Deshalb sind die Ichlosen Untote, Wiedergänger, Vampire, die vom Leben anderer zehren. Unsere tiefste Angst vor den Maschinen, so schien mir jetzt, besteht darin, dass sie sich ein Bewusstsein anzueignen versuchten. Denn woher sollten sie es beziehen, wenn nicht von uns? Die Maschinen könnten nur leben, wenn sie einen Weg gefunden hätten, unser Bewusstsein anzuzapfen und es abzusaugen. Sie würden damit nicht aufhören, bis sie sich uns ganz anverwandelt hätten, während wir als leere Lebenshüllen zurückgeblieben wären, unfähig, die »Lichtung des Seins« noch einmal zu besiedeln … * * * Etwas in mir dreht mich um zu meiner Frau hin, einer Lebendigen. Und wenn nun, am Schluss, plötzlich – wie der Teufel, der als Blitz vom Himmel fällt – doch die Erkenntnis stehen sollte, dass wir alle Maschinen sind? Noch in der Drehung trage ich das Wissen mit mir, wie es ist, die Menschen auf der Straße als Automaten zu »sehen«. Was, wenn die Augen meiner Frau, sobald ich sie erblicke, seelenlos wären, bewusstseinsleer, die Sensoren eines Automaten, die den Blick eines lebendigen Wesens bloß simulierten? Dann wäre ich endgültig im Wahnsinn versunken. »Wach auf«, sagt die Stimme neben mir, und, im Aufwachen 118 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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ein Nachhall von Panik, erwache ich hinein in jene Augen, die so lebendig sind wie immer um diese Zeit: schlaftrunken, nicht willens, bereits in den Tag hineinzuschauen. »Was war?«, frage ich, obwohl ich weiß, was war. »Es ist Nacht und du schreist, du seist ein Käfer, eine Maschine, ein Combot …« »Und?«, frage ich. »Schaust aus wie ein Käfer«, sagt meine Frau, indem sie sich auf die Seite dreht, um weiterzuschlafen. Ich aber liege lange wach und bin glücklich, ein Käfer zu sein, ein wacher lebendiger Käfer … Ach, Kafka, es gibt weitaus Schlimmeres.

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Teil V Die Sprengkraft des Humanismus

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Dass der grundlegende Wert des Lebens das Leben selbst sei, ist nahezu ein bioethischer Gemeinplatz, dessen Rechtfertigung außerhalb des religiösen Schöpfungsdenkens etwa lautet: Erst das Leben bildet die Grundlage dafür, dass überhaupt irgendein Wert existiert. Zum Beispiel ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein bestimmter Mensch glücklich zu sein vermag, zweifellos darin zu erblicken, dass er lebt. Das Leben ist demnach der Wert aller Werte. Aber ist diese Ansicht wirklich überzeugend? Das Leben ermöglicht uns nicht nur, die schönen Seiten der Welt kennenzulernen, es ist, instinktgesteuert, auch eine Kette, die uns ans Leben fesselt, selbst wenn wir leiden. Zwar ist wahr: Unser Überlebenswille treibt uns an, noch im Unglück, ja in anscheinend ausweglosen Situationen darauf zu hoffen, dass wir dem Schlimmsten entkommen. Dennoch: Man tut sich schwer, im Willen zum Leben – und damit im Leben selbst – einen Wert an sich, einen sogenannten intrinsischen Wert, zu erkennen. Denn dieser Wille nimmt uns die freie Entscheidung, er lähmt unsere Autonomie. Es scheint daher unumgänglich, die rein biologische, uns naturwüchsig in die Wiege gelegte Existenz daraufhin zu befragen, ob es sich dabei tatsächlich um eine Annäherungsform an das »Gute Leben« handelt, von dem in der antiken und europäischen Denktradition ausführlich die Rede ist. Dabei wird das Natürliche unter der Perspektive betrachtet, ob es sich letztlich als Natural Goodness qualifiziert. So lautet der Titel eines Buches aus dem Jahre 2001, dessen Autorin die Tugendethikerin Philippa Foot ist. Ihr Ziel war es – sie starb 2010 – die aristotelische Sichtweise des Lebens zu aktualisieren. Es gibt demnach das Natürliche im Sinne dessen, was die 123 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Naturwissenschaft, namentlich die Biologie, erforscht; aber dieses Natürliche ist ein Konstrukt, welches nicht die ganze Realität aufblendet. Was ist die ganze Realität des Lebens? Wenn, so Foot, eine Henne taub ist und daher das Rufen ihrer Küken nicht hören kann, dann werden wir ohne Weiteres sagen, dass die Taubheit der Henne schlecht sei – und wir werden dieses Werturteil nicht irgendwie subjektiv meinen, sondern als Ausdruck einer Art von Tatsache, einer Werttatsache, verstehen. Mit anderen Worten: Das Leben, zumal das empfindungsfähige, bewusste Leben ist an sich wertorientiert. Es verkörpert mehr oder weniger unbeschädigt oder vollkommen Werte, über deren Existenz nicht wir, die Beobachter entscheiden; jene Werte sind vielmehr der Natur des Lebens immanent. Daran anschließend würde ich vorschlagen, als den grundlegenden Wert des Lebens das Gefühl oder, besser, die Stimmung anzuerkennen, wonach wir, indem wir leben, lebendig sind. Oder wie ich weiter oben mit Heidegger formulierte: Wir stehen in der »Lichtung des Seins«. In meiner Lesart ist dies nur eine andere Art zu sagen, dass wir eine Seele haben und deshalb, vermittelt über unser Bewusstsein, auch eine »Welt«. In dieser Erkenntnis liegt der Ursprung des Humanismus über alle seine historisch weitgestreuten Varianten hinweg. Gewiss bedarf es hier flankierender Bemerkungen. Es gibt Menschen, die sich erst unter der Voraussetzung lebendig fühlen, dass sie anderen Menschen Böses antun, sie leiden machen, ihnen sogar das Leben nehmen. Daher ist es an dieser Stelle unerlässlich, die Frage zu stellen, welche wir auch an das Glück, die Liebe, die Autonomie und andere Werte des Lebens stellen. Wir unterscheiden zwischen Glück und wahrem Glück, Liebe und wahrer Liebe, Autonomie und wahrer Autonomie. Denn es gibt in jeder Wertdimension Abirrungen und Perversionen. Und so verhält es sich auch mit dem allergrundlegendsten Wert des Lebens: der Lebendigkeit. Wahre Lebendigkeit steigert demnach unser Lebensgefühl, ohne deswegen das Streben nach Lebendigkeit, wie es sich bei anderen Menschen findet, zu beeinträchtigen. Lebendigkeit ist eine »Stimmung«, die, recht verstanden, 124 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Lebendigkeit

sich immer auch – sozusagen a priori – auf andere bezieht. Lebendigkeit, als persönlicher Wert, ist stets sozial ausgerichtet, denn es geht, soweit wir uns im Kontext der Natural Goodness bewegen, auch um die Verwirklichung eines sozialen Ideals. Vor einigen Jahren publizierte ich ein Buch, dessen Grundgedanke um eine formelhafte Wendung kreiste: Glück ist das Gefühl, lebendig zu sein. Damit versuchte ich, mich einer Intuition anzunähern, die, wenn ich recht sehe, zwei Aspekte umschließt: Erstens werden wir Menschen, die sich auf eine nichtdestruktive, nichtparasitäre Weise lebendig fühlen, als glücklich betrachten. Aber zweitens, das Glück, von dem hier die Rede ist, wird durch seine Charakterisierung als Stimmung der Lebendigkeit aus dem Kreis der bloßen Glücksempfindungen herausgehoben und auf eine höhere Ebene, nämlich die des Guten Lebens gestellt. Beispielhaft gesprochen: Menschen, die einander wahrhaft lieben, werden sich über weite Strecken lebendig fühlen. Aber der entscheidende Aspekt dieser Erlebnisform besteht dann darin, dass die Tatsache des Einander-liebevoll-zugetan-Seins Episoden der Missstimmung, der Anspannung, der Enttäuschung und Traurigkeit nicht ausschließt. Das Glück der Liebenden ist kein Zustand ununterbrochener Freude, wohl aber ein Stimmungszustand überwiegender Lebendigkeit – das Moment des Seelenvollen überwiegt. Und eben darin gründet der intrinsische Wert der wahren Liebe. Doch der gute Klang des Begriffs »Lebendigkeit« wird schrill, ja misstönend, sobald ich an die Erzählungen denke, die ich als junger Mensch über die kollektive Erregung zu hören bekam, welche – wieder exemplarisch gesprochen – das Auftreten Adolf Hitlers hervorrief. Diese Erregung äußerte sich als ein, wie mir versichert wurde, unbeschreibliches Gefühl der Lebendigkeit. Als Hitler Polen angriff – was er dem deutschen Reichstag mit den Worten brüllend kundtat: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!« –, da stellte sich bei Millionen Deutscher und Österreicher ein enthusiastisches Gefühl ein, von dem viele, die nicht an der Front ihre Selbstachtung, ihre Gesundheit oder so125 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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gar ihr Leben zurücklassen mussten, bis weit in den Krieg hinein zehrten. Der Dichter Gottfried Benn sprach rückblickend, mit spätem Bedauern über die eigene Hingerissenheit, vom »Schicksalsrausch«. Und der Tenor all derer, die auch nach dem Krieg jenem Rausch nachtrauerten, lautete mehr oder weniger offenherzig: Man spürte damals wieder, dass man lebte. Nach 1945, dem Pandämonium zweier Weltkriege, nach Millionen Toten und unbeschreiblichen Lebensbeschwernissen, bekundeten verschiedentlich Überlebende mitten in der Wirtschaftswunderzeit der Neunzehnsechzigerjahre, alles sei nun wieder schlechter geworden, seelenloser, stumpfsinniger, ohne wirkliche Hoffnung. Das Phänomen, von dem ich rede – die Sehnsucht nach Lebendigkeit –, ist indessen kein regionales. Einer der großen Schriftsteller der amerikanischen Nachkriegsmoderne, Walker Percy, berichtet in seinem 1966 erschienenen Roman The Last Gentleman über eine Lebendigkeitsepisode, die dem Vater des Helden – wohl Percys eigenem Vater nachempfunden – zuteilwird. Will Barrett, so der Name des Sohnes im Roman, äußert an einer Stelle, stellvertretend für die eigentümliche Hochstimmung seines ansonsten depressiv gestimmten Vaters: War is better than Monday morning. Dieser Satz mutet auf den ersten Blick befremdlich genug an. Ist es nicht obszön, vom Krieg zu behaupten, er sei besser als ein x-beliebiger Montagmorgen? Zunächst erinnert sich Barrett, dass an Tagen, an denen es wirklich schlechte Neuigkeiten gab, dort, wo er zu Hause war, nämlich im Süden der USA, die Familien enger zusammenrückten. Man war auf einmal in jener Stimmung, in der man, wie Percy schreibt, sogar die banalen Azaleen vor dem Haus sehen konnte. Besonders eindringlich geschildert wird die Hochstimmung des Vaters, als dieser sich zum Rekrutierungskommando auf den Weg macht. Am 7. Dezember 1941 hatten japanische Flugzeuge den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor angegriffen, einen Tag später erklärten die USA Japan den Krieg. An jenem Montag, so Will Barrett, sei es eine Freude gewesen, den Vater aus dem Haus gehen zu sehen. Plötzlich hatten die 126 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Gebäude, die Bäume, ja selbst die Risse im Gehsteig ihr – wie es im Buch heißt – bösartiges Gegenwärtigsein verloren. Die schlimme Drohung, die sich jeden Morgen an gewöhnlichen Wochentagen einstellte, war wie weggeblasen. 16 Vermutlich kennen wir alle, aus hoffentlich geringfügigerem Anlass, diese Form der kollektiven Hochstimmung, die in den genannten Beispielen eine gespenstische Katastrophenlebendigkeit herbeizitiert. Denn über die Erhitzung des Kollektivs, das kämpferisch oder hymnisch gestimmt sein mag, lässt sich beim Einzelnen das Gefühl erzeugen, erst als Teil der erregten Masse wirklich zu existieren, also im existenziellen Sinne des Wortes da zu sein. Das erklärt gerade in Friedenszeiten die Wichtigkeit friedlicher Massenerregungsmedien. Man denke nur an den Sport, namentlich den Massensport. Denn wie schon die altrömische Wendung panem et circenses wusste, reicht das Brot bloß zum Leben, nicht zur Lebendigkeit. Ob aber einigermaßen friedlich oder nicht, die kollektive Lebendigkeitsmobilisierung bindet den Einzelnen in seiner Fähigkeit, die banalen Azaleen vor dem Haus zu sehen, an den Erregungsimpuls der Masse. Und das bedeutet für Friedenszeiten, in denen das Kollektiv gleichsam im Schlummermodus operiert, dass sich die bösartige Gegenwärtigkeit der Dinge, ihre stumpfe, deprimierende Faktizität wieder und wieder – und womöglich mit größerer Wucht – einstellt. Zugleich lässt das gesteigerte Bedürfnis, lebendig zu sein, den Drang zur Massenbildung periodisch zwanghaft werden. Der Massensport ist jedoch nur eine Variante, die in unserem Zusammenhang – der Frage nach dem wahren Glück, der Natural Goodness – eingehender betrachtet werden sollte. Lebendigkeitsgenerierung durch die hochemotionale, höchst zweideutige Beteiligung an Massenphänomenen findet sich etwa auch in den eigentümlichen Phänomenen des Public Crying oder der digitalen Veranstaltung eines Mobbings, das sich als sogenannter Shitstorm bemerkbar macht. Als Diana, Princess of Wales, kurz Lady Di, die unglückliche Ex-Gattin des britischen Thronfolgers Charles, 1997 im Auto zu Tode kam, geriet das ganze Land in 127 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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eine Stimmungslage, die sich öffentlich in wochenlangen Trauerkundgebungen vor dem Buckingham Palace niederschlug und das Königshaus, namentlich die soeben noch allseits beliebte und verehrte Queen, in große Bedrängnis brachte. Das Volk forderte unter Tränen mehr Mitgefühl mit der »Prinzessin der Herzen«, wobei der mitlaufende Zorn auf alle, denen nicht nach öffentlichem Weinen zumute war, eine dunkle Quelle des Lebendigkeitsempfindens bildete. Wie dunkel diese Quelle ist, zeigt sich im massenhaften Zusammenstehen angesichts der Opfer des islamistischen Terrors, die immer wieder einmal zu beklagen sind. Während die Politiker nicht nur die übliche Medienkritik, sondern gewaltige Shitstorms in den Social Media fürchten müssten, falls sie dem Public Crying nicht hinlänglich Rechnung tragen und entsprechende Staatstrauerzeremonien inszenieren, ist der Massentrauer schon im Ansatz die Lust zum Mobbing der Bösewichte immanent – und zu den Bösewichten zählen rasch alle Anhänger des Propheten und Gottgesandten Mohammed. In der durch Massenbildung generierten Lebendigkeitserfahrung liegen Rührseligkeit und Bestialität eng beisammen. Vor allem aber verlangt diese Erfahrung nach Bestätigung und Wiederholung, nach einer immer größeren Dramatik der stimmungsauslösenden Vorkommnisse; ansonsten kehrt der gefühlsstumpfe, hektische, lebendigkeitsarme Alltag ein. Eine andere – nicht masseninduzierte, durch und durch egozentrische – Variante der Lebendigkeitserfahrung, deren Problematik mitten im tiefen Frieden demokratischer Hochleistungsgesellschaften nicht unterschätzt werden darf, hat bisher keinen rechten Namen. Ich will sie hier, mit Seitenblick auf die weltweite Werbestrategie eines »Energydrinks«, als Energyflash bezeichnen. Dieser bildet das Zentrum einer marktintensiven Jugendkultur, deren Credo der Extremsportgedanke in all seinen Ausformungen ist, gipfelnd in den sogenannten X-Games. Der Energyflash tritt ein, wenn aufgrund extremsportlicher »Performances« unter hohem, bisweilen lebensbedrohlichem Risiko eine größtmögliche Menge an Dopamin und Endorphinen aus128 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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geschüttet wird. Dies verschafft dem Einzelnen sukzessive, durch Lust auf Angst, Angstlust und Angstverlust, ein intensives Existenzerlebnis, wie es sonst nur mittels verbotener Substanzen, namentlich harter Drogen, herstellbar ist. In der Endorphin-Dopamin-Euphorie fühlt man sich unverletzbar, man bekommt den Eindruck, plötzlich alles machen, alle bisher vorhandenen Grenzen überschreiten zu können. Und obwohl die Körper-Extremisten, die nicht als Krüppel oder Leichnam heimkehren, gerne behaupten, ihrem Leben sei eine nachhaltig tiefe Bedeutung erwachsen, zeigen sie doch rasch Symptome eines Suchtkranken. Bleibt der Flash längere Zeit aus, treten innere Unruhe, Depressionen, Essstörungen auf. In den normalen Routinen des Alltags spiegelt sich zusehends das Grau-in-Grau eines Daseins, das von seiner vitalen Quelle abgeschnitten ist; übrig bleibt wiederum nur die bösartige Gegenwart der Azaleen vor dem Haus, aus dem man am Montagmorgen geht, um wie jedermann seine Arbeitswoche zu beginnen. Der mittels aller nur denkbaren Massenmedien propagierte Energylifestyle samt unterlegter Lifestyle-Philosophie macht exklusiv den jungen, körperlich durchtrainierten, vom Limitgedanken besessenen, unter hohem und höchstem Risiko erfolgreich performenden Energyflasher zum Rolemodel (man muss sich an dieser Stelle einer Sprache der Seelenlosigkeit bedienen). Das Gegenbild dazu bilden – wie könnte es anders sein – die Normalsterblichen, also die allermeisten von uns. Wir alle scheinen, gemäß der Philosophie des »Energyflashings«, dazu verurteilt, unser lebendigkeitsdefizitäres Dasein abzuleben, es sein denn, wir mühen uns, kleinmenschlich nachzuleben, was uns die Lebendigkeitsathleten an vermeintlich wahren Werten vorleben. Das ist die spätmoderne, überhitzte Version des Goethe’schen Ausblicks, festgehalten in dem geflügelten Satz, den die Himmlischen dem vielgeplagten Faust mit auf den Weg nach oben geben: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Da uns die Himmlischen im säkularen Westen kaum noch Lebendigkeit bescheren, suchen wir hierorts nach Einlösung des uns vom Markt versprochenen Lebendigkeitsver129 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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sprechens, indem wir den Idealen des perfekten Körpers, der nimmermüden Libido, der intensiven Selbstbezüglichkeit, kurz: der hedonistischen Existenzform, möglichst nahezukommen suchen. Doch auch ich – und die Abweichung ins Höchstpersönliche scheint mir nun unvermeidlich – versuche ein Leben zu führen, von dem ich hoffe, dass es ein einigermaßen gutes, ein im Großen und Ganzen erfülltes, bescheidener vielleicht: wohlbefindliches Leben ist. Das hoffe ich gerade angesichts der Routinen des Alltags und jener zumeist unscheinbaren Situationen, die man gemeinsam mit den Menschen verlebt, deren Gegenwart und Zuneigung man nicht missen möchte. Aus dieser Perspektive betrachtet (und ich weiß, dass es teils exklusivere, teils intellektuellere Perspektiven gibt), kommt mir das eingeschliffene Beschwerdemuster, wonach es so nicht weitergehen könne im Alltagstrott mit all seinen öden existenziellen Gemeinplätzen und klischeehaften Vergnügungen, mit seiner fantasielosen Durchschnittlichkeit und dem Fehlen jeder substanziellen Alternative – kommt mir die ganze wohlstandsgepolsterte Misslaunigkeitsrhetorik dann doch eher arrogant als einsichtig vor. Denn, möglichst unvermittelt gesagt, mein durchschnittliches Wohlbefinden hängt am Gelingen meiner durchschnittsmenschlichen Alltäglichkeit. Nun höre ich bereits den Einwand: Wie kann man sein eigenes Streben nach Wohlbefinden, seine höchstpersönliche Idee vom Guten Leben gegen einen Reflexionszusammenhang und einen Sensibilitätshintergrund stellen, die beide auf die sozialen Makroverhältnisse, auf das sozusagen große Ganze reagieren? Es war ja kein Geringerer als der Philosoph Theodor W. Adorno, Mitbegründer der linkshegelianischen Frankfurter Schule, der einst dekretierte, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Ich will mich keineswegs über Adorno mokieren, wohl aber darauf aufmerksam machen, dass selbst den tiefsinnigsten, empfindlichsten Geistern ein Moment der Unglaubwürdigkeit anhaftet, wenn sie, einerseits dem Genuss schlichter menschlicher Freuden durchaus zugänglich, diese dann andererseits ihrem Publi130 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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kum verderben möchten, indem sie scharfsichtig diagnostizieren, noch im harmlosesten Vergnügen stecke der Wurm der Apokalypse, das Grauen des Holocaust, der Untergang des Abendlandes. Kein Zweifel, die Welt ist voller Grauen, gerade deshalb sollte der Kritiker nicht über das Geschenk des eigenen Daseins in einer temporären Friedenswelt hinwegreden, als ob es sich dabei um eine Nichtswürdigkeit handelte. Wer es nicht zu schätzen weiß, dass wir in einer liberalen, menschenrechtlich besorgten, rechtsstaatlich gesicherten, sozialstaatlich bemühten Demokratie leben, auf einem vordem unbekannten technischen Niveau und unter ökonomischen Bedingungen, von denen vorangegangene Jahrhunderte nichts wussten und weite Teile der heutigen Welt kaum zu träumen wagen – wer all das abtut, und sei es mit den hochintellektuellen Mitteln einer Dialektik der Aufklärung, des Dekonstruktivismus und der posthumanistischen Theorie, von dem sollten wir uns abwenden, statt uns von seinen Worten trübselig stimmen zu lassen. Und doch, die Leblosigkeitsphilippika, die heutzutage oft angestimmt wird, hat ihren Nährboden, so scheint es, in einer defizitären Form des Wohlstands. Nietzsche sah den modernen Menschen als Typus, der – wie es in Also sprach Zarathustra heißt – den Pfeil der Sehnsucht nicht mehr über den Menschen hinausschleudert. Mit anderen Worten: Wir leiden unter einer Innerweltlichkeitsbeklemmung. Das Gefühl, nicht wirklich zu leben, sondern irgendwie tot zu sein, tritt ab einem gewissen Punkt der Moderne häufig in Erscheinung. Das heißt keineswegs, dass dieses Gefühl älteren Zeiten völlig fremd gewesen wäre, man denke etwa an die spätrömische Misere der Adeligen und Reichen, die ihr nahendes Ende regelrecht orgiastisch, bis zum Koma zelebrierten. Das Gefühl einer unabschüttelbaren Fadenscheinigkeit und Fahlheit der eigenen Existenz ist typisch für spätkulturelle Dekadenzzustände, wie sie in der Geschichte der Zivilisationen unter den vom Überlebenskampf abgeschirmten Oberschichten immer wieder auftreten. Heute ist die Lage freilich rational gedämpft, breitflächig de131 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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mokratisiert. Dennoch: Einst hatten die bürgerlichen Schichten darum gewetteifert, es dem Adel in Haltung und Verhaltensform gleichzutun, um sich im Erleben etwas weniger alltäglich, stattdessen mehr verfeinert und dadurch sozial gehoben zu fühlen. Später, zumal aufgrund der sozialen Verwerfungen infolge zweier Weltkriege, wurde aus der hochbürgerlichen Gesittung ein normalbürgerliches Massenformular, das normierte, wie man die Dinge des Alltags anstandsgemäß zu erledigen habe. Parallel dazu wuchs sich die Zivilisationsmonotonie zu einer Fahlheit des Gefühlslebens aus, das – so die pessimistische Diagnose – die Friedensmasse nun zusehends erfasst und weiterhin erfassen wird. Der existenzielle Mangel an Lebendigkeit, einst bekannt als seelenaristokratischer Ennui, sickerte gleichsam nach unten durch und in das Wohlbefinden breiterer Volksschichten ein. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln. 17

Geschrieben wurden diese Zeilen zwischen 1883 und 1885. Es ist schwer zu sagen, ob sich damals bereits eine Ahnung dessen, was dem zwanzigsten Jahrhundert noch bevorstand, herausbilden konnte. Jedenfalls passt die Stelle aus Also sprach Zarathustra schwerlich zu dem, was dann die Weltkriege an Fanatismus, Begeisterung, kollektivem Hass und Vernichtungswillen mobilisierten. Ja, es ließe sich mit einiger Berechtigung sagen, dass es gerade Nietzsches Übermensch in seiner teils pseudoheroischen, 132 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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teils bestialischen Form war, der schließlich jenen friedenshungrigen Erdenbürger hervorbrachte, welcher von Nietzsche, dem »Umwerter aller Werte«, tief verachtet wurde. Mag sein, vom Hochstand der großen Imperien und Herrscher, der absolutistischen Utopien aus betrachtet, wirkt das Lebensglück des sprichwörtlich kleinen Mannes, des Durchschnittserdenbürgers, kurzsichtig blinzelnd, erdflohhaft. Doch Nietzsches »letzter Mensch« weiß, historisch belehrt, dass die beste Möglichkeit, dem eigennützigen Pfad des eigenen Glücksstrebens zu folgen, darin besteht, sich im Glückseigennutz mit den anderen zu solidarisieren: Keiner möchte unglücklicher sein, als es unbedingt nötig ist. Deshalb ist das Glück des modernen Glücksethikers von vornherein ein auf die Möglichkeiten aller anderen ausgelegtes. Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? Liebe ja, aber nicht jene, die – wenn überhaupt – immer nur die Luxusgeschöpfe und Opernhelden zelebrieren! Schöpfung ja, aber nicht jene, die sich der lebenslangen Schinderei versklavter Bauern und Ungebildeter verdankt! Sehnsucht ja, aber nicht jene totalitäre, die in den Pyramiden, Kathedralen und Palästen zu Stein geworden ist! Stern ja, aber nicht jener auf dem Banner der Heere, die zu jenen Ameisenkriegen rüsten, welche hintennach, nachdem die Leichenfelder sich wieder mit frischem Grün bedeckt haben, als Momente der Menschheitsgeschichte erinnert werden! Damit kehren wir zu dem skandalösen Satz zurück: War is better than Monday morning. Dieser Satz bleibt in seiner Substanz unverständlich, wenn wir ihn nicht auch als einen Kommentar zum Glück lesen, das misslang, sobald es sich einstellte. Mit dem Glück, das seiner selbst bewusst ist, ändert sich die Natur des Glücks. Denn unversehens taucht die Frage auf, worin denn, einmal abgesehen davon, dass es keinen Grund gibt, unglücklich zu sein – es ist Frieden, die Sonne scheint, die Azaleen blühen vorm Haus, man hat Familie, Arbeit und ein Auskommen –, nun eigentlich das wahre Glück bestünde. Es gehört 133 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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gleichsam zur logischen Form des Glücks, dass ihm, auf welcher Kultivierungsstufe auch immer, ein vorbegriffliches Erlebnismoment innewohnt. Was aber, wenn wir sagen zu müssen glauben, einer sei glücklich, doch nicht auf die richtige Weise? Bisweilen begegnet man Menschen, die nicht müde werden, anderen ihr Glück zu demonstrieren. Sie knabbern, wie sie sagen, nicht gerade am Hungertuch, besitzen ein geräumiges Eigenheim in stiller, sauberer Gegend mitten im Grünen, fahren coole Autos, lagern teure Weine im elektronisch gekühlten Keller und pflegen, neben einer Vorzeigefamilie, dezenten außerhäuslichen Upperclass-Sex. Angesichts solcher Glückspilze beschleicht uns mitunter das Gefühl, Zeugen eines Demonstrierund Prestigeglücks zu werden, das im Innersten leblos, weil aus Statussymbolen und Erfolgsklischees gezimmert ist. Hier kommt zum Tragen, dass wir, als typische Individualisten der Mittelschicht, eine Idee davon zu haben glauben, wie ein Leben auszuschauen hätte, das irgendwie authentisch gelebt würde und deshalb irgendwie zu tieferem Empfinden fähig wäre – ja, irgendwie … Denn meist ist unsere Idee des guten Lebens vage, wenn nicht überhaupt bloß ein Schemen am Rande der Begriffslosigkeit. Nichtsdestoweniger ist sie insofern gebieterisch, als es darum geht, uns gegenüber vorgestanzten, als fremdbestimmt erkennbaren Lebensmustern abzugrenzen. Kein Zweifel: Die Praxis des Glücks kann sich bis zur reinen Äußerlichkeit steigern. Das Erlebnismoment tritt dann in den Hintergrund zugunsten dessen, was man zu tun und zu erreichen hat, um nach außen hin als glücklicher Mensch zu gelten. Am Schluss hat man alles, was nach allgemeiner Ansicht erforderlich ist, um glücklich zu sein, nur eines hat man nicht – das Gefühl, wahrhaft glücklich zu sein. Endstation totes Glück: Das ist ein existenziell tragisches Motiv des uneigentlichen Lebens im Wohlstand, im Frieden, am Montagmorgen beim Verlassen des Hauses, im Anblick der blühenden Azaleen. Vielleicht ist es statthaft, hierin die typisch postmoderne Form des unglücklichen Bewusstseins zu orten. In 134 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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jenem Bewusstsein äußert sich die Politik der Seele, von der es im Übrigen heißt, sie sei ein Relikt abergläubischer Zeiten: Dem zombiehaft Glücklichen wird kaum noch bemerkbar, dass ihm das Gefühl, lebendig zu sein, abhandenkam. Aber da bleibt eine Trübung im existenziellen Blickfeld – die »Lichtung des Seins«, die hell leuchten müsste, ist verhangen, es ist kein Durchkommen mehr zur Lebendigkeit und damit zu dem, was man seit alters her emphatisch »Leben« nannte. »Lebendigkeit« als grundlegender Wert des Lebens erfordert die Gewissheit, dass wir in allem, was wir erleben und tun, keine Gefangenen sind: weder Gefangene der äußeren Welt noch des eigenen Inneren. Nur wenn es unserer Kultur gelingt, die Welt offenzuhalten – offenzuhalten für die Tiefe und das Geheimnis des Seins, für das Gleichnishafte der Natur und die Transzendenz des Ego –, nur dann ist es nicht unser Los, noch im Glück existenzielle Zombies zu sein, günstigenfalls Glückszombies, deren innere Leere sich in allem Äußeren widerspiegelt. Die Politik der Seele ist Lebendigkeitspolitik: An ihr hängt nicht nur das wahre Glück des Einzelnen, sondern auch die lebendige Geistigkeit der umgebenden Kultur. Der Kampf der europäischen Moderne gegen den Historismus in seiner repräsentativen Gestalt, der herrschenden Klasse zu Diensten, war ein machtvoller Ausdruck jener Politik, auch wenn die intellektuelle Avantgarde das Seelenhafte als das Reaktionäre, das verschleppt Religiöse aus aller lebendigen Kultur vertreiben wollte. Nicht unbedacht lässt Terence Malick seinen unzeitgemäßen Film The Tree of Life des Jahres 2012 mit einer sanften weiblichen Stimme anheben, die, aus dem Abseits gesprochen, klingt, als ob sie von weither käme. Was sie sagt, mag für viele heutige Ohren befremdlich klingen. Demnach gäbe es für den Menschen zwei Wege, den Weg der Gnade und den Weg der Natur. Wir hören die innere Stimme einer duldsamen, engelsgleichen Gestalt, der Gattin und Mutter jener texanischen Familie O’Brien, die durch den Tod eines Sohnes schwer – hiobsgleich – geprüft wird. Die innere Stimme lässt uns von Anfang

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an wissen, es könne für sie, die Frau, keinen Zweifel geben, welcher Weg der richtige sei. Doch der richtige Weg, jener der Gnade, schließt den Weg der Natur nicht aus; er transformiert ihn vielmehr. In Malicks Film tritt uns das typisch Natürliche, aber auch das unspektakulär Alltägliche, durch die ästhetische Macht der Bilder als eigentümlich bedeutsam – sinnreich – noch jenseits dessen vor Augen, was wissenschaftlich, ja überhaupt begrifflich fassbar wäre. Wer demnach den schöpfungsblinden, gnadenlosen Weg der Natur wählt, der endet bei nichts außer Mechanismen, endet schließlich bei sich endlos reproduzierenden Riesenmolekülen unter dem Gesetz des Zufalls, endet bei einer neurophysiologisch prozessierten, geistlosen, »weltlosen« Gehirnhöhlengefangenschaft – endet, mit Ernst Jünger gesprochen, im Titanismus, der eine höllenhafte Form der Unsterblichkeit anstrebt: die Ewige Wiederkehr des Gleichen. Wenn wir die hier gewählte Terminologie ernst nehmen, dann folgt daraus, dass unsere durchsäkularisierten Gesellschaften ihren Glückspool innerhalb einer Immanenz etablieren müssen, die keine Transzendenz, weder einen Schöpfungsakt noch ein Gnadengeschehen kennt. Wohin wir blicken, sehen wir, soweit es sich um Schöpfungen handelt, immer nur Selbstgemachtes, das uns ständig an unsere metaphysische Einsamkeit zurückbindet. Oder aber es widerfährt uns, dass wir unversehens, in einem Moment alltagsmystischer Überwältigung, quasi mit offenen Augen die Augen aufschlagen: Dann sehen wir zwar plötzlich die eben noch banalen Azaleen des Walker Percy, wir sehen das Wunder des Azaleen-Seins, doch leider zugleich so, als ob es gar nicht existierte. Dem Prinzip unserer Weltaneignung zufolge ist das Ganze, diese durch und durch fühllose, geistlose Maschinerie des Universums nichts, was die Phänomene des Lebens mit Lebendigkeit erfüllen könnte. Ich formuliere zugespitzt, doch die zugespitzte Art, unseren Weg beim Namen zu nennen, hilft vielleicht, ein wenig besser zu begreifen, was es mit dem Leblosigkeitslamento auf sich hat. Als Anlass der Misere muss – Folge der Immanenzverdichtung – 136 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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stets irgendeine innerweltliche Ursache herhalten, sei es der Markt, die Technik, die Politik, der Sittenverfall oder das Sittenkorsett. Meine These lautet, dass all diese vermeintlichen Ursachen bloß Decknamen für das grundlegend Fehlende sind und dass die Formel vom Glück als dem Gefühl, lebendig zu sein, deshalb einen suggestiven, fast hypnotischen Klang entfaltet, weil sie uns dunkel an etwas gemahnt, wonach wir uns zutiefst sehnen. Freilich, die meisten von uns sind zu beschäftigt oder zu ernüchtert, ihrer Sehnsucht in die Tiefe nachzugehen – jene Tiefe, an die einst Albert Schweitzer mit seiner, mittlerweile betulich klingenden, Ehrfurcht vor dem Leben appellierte. Um den humanistischen Ernst dieses Appells zu verdeutlichen, sind am besten einige Sätze geeignet, die Schweitzers Straßburger Predigten vom Februar 1919 entstammen: Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben, nur eines darf hinaus, das Licht schauen: Das Höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet. [Und dann, gewissermaßen als Resümee der Betrachtung:] Die Flocke, die aus dem unendlichen Raum auf deine Hand fiel, dort glänzte, zuckte und starb – das bist du. Überall, wo du Leben siehst – das bist du! 18

Es ist ebenjenes Moment, sich in den kleinen und selbst finsteren Dingen der Welt durch Anschauung und Mitgefühl wiederzufinden, wodurch der enge, unauflösbare – seelenvolle – Zusammenhang zwischen Leben und Lebendigkeit gestiftet wird. Nun entfaltet sich aber unser eigenes Leben, das meist nicht dem »Weg der Gnade« zu folgen geneigt oder imstande ist, jenseits jenes seelenvollen Zusammenhangs. Daher beschleicht uns immer wieder der Verdacht, selbst noch unser lebhaftestes Glück sei auf diffuse Weise leblos: irgendwie tot … 137 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Gewiss, man muss dieses Urteil nicht teilen, und der Großteil der heutigen Philosophie, auch Theologie, vor allem aber der mit sich selbst beschäftige Commonsense bezüglich dessen, was ist und nicht ist, was getan und nicht getan werden sollte, teilt dieses Urteil kaum. Er hält es viel eher, ohne diesen Punkt überhaupt zu beachten oder auszusprechen, für obskur. Dennoch sollte man sich davor hüten, es als grundlos abzutun. Denn es grundiert unsere Kultur mit einem formlosen Unbehagen, einer nervösen Depression, einem Zellenstupor, dessen Umschlag ins Aktivistische bis zur Zivilisationsstürmerei führen mag. Heraklit sprach, realitätshart, vom Krieg als dem Vater aller Dinge. Das hatte Folgen. Nietzsche schrieb der grausamen Lust, der Lust an Versklavung und Unterdrückung, ganze Hymnen, ihr Protagonist war der Übermensch – der Gott aller Zombies. Unsere weltkriegsgeschulte Version der herakliteischen Einsicht in die Maschinerie des Kosmos, einschließlich des Darwin’schen survival of the fittest, lautet: War is better than Monday morning. Dagegen freilich steht der Humanismus als die ewige Utopie des Geistes, die wir hier als Politik der Seele bezeichneten: Glück ist das Gefühl, lebendig zu sein. 19

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Wir sind nahezu acht Milliarden. In einigen Jahrzehnten werden wir, den Schätzungen der Demoskopen zufolge, zehn Milliarden sein, immer vorausgesetzt, es passiert nichts global Einschneidendes, Katastrophisches, eine Apokalypse, die uns Menschen dezimiert und hinwegrafft. Der Klimawandel könnte zu geopolitischen Großstörungen führen, die ihrerseits weltweite Kriege um Wohnraum und Lebensmittel zur Folge haben könnten, welche die Menschheit, die nicht gerade verhungert, so gut wie auslöscht. Der Komet könnte einschlagen, ein Vulkan könnte ausbrechen, und die Sonne für Jahre verfinstern … Acht Milliarden Menschen, zehn Milliarden, in Schillers Ode an die Freude heißt es: »Seid umschlungen, Millionen!« Nicht: Seid umschlungen, Milliarden! Und wie hätte Beethoven diese Zeile vertont? Gar nicht. Ihm, dem ertaubten Humanisten, hätte vermutlich gegraut, und so wäre der Menschheit die Neunte Symphonie in ihrer Form als Europahymne – wovon weder Dichter noch Komponist etwas wissen konnten, und was sie sich wohl auch nicht erträumt hätten – niemals geschenkt worden. Acht Milliarden, zehn Milliarden: Dazu passt schon eher die Stille der four minutes, thirty-three seconds, aus denen John Cages berühmtes Klavierstück 4’33’’ besteht. Die Absicht dieses Stückes mag damals, bei seiner Uraufführung 1952, gewesen sein, eine skandalträchtige, avantgardistische Inszenierung von Nicht-Musik auf das Konzertpodium zu bringen. Unterdessen ist die Stille von Cage ein Klassiker – sie wird unschwer gedeutet als eine Reaktion auf das Viele, das viel Zuviele, das unseren Alltag beherrscht. Und obwohl dieser Deutung nichts zu entgegnen ist, wird ihre volle Wahrheit doch erst ersichtlich, wenn man sie in einen größeren Kontext stellt. Es geht nicht um die Stille, den Ruhe139 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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raum, die Meditation an sich. Es geht nicht darum, die acht Milliarden, zehn Milliarden unter dem Gesichtspunkt ihrer schieren faktischen Existenz, ihrer biologischen Masse »umschlingen« zu wollen; vielmehr geht es darum, der Sprengkraft des Humanismus, die im Fall von Cage die Stille ist, Gehör zu verschaffen: Wie viele Milliarden wir auch sein mögen, wir sind beseelte Individuen, die danach streben, sich ihrer Lebendigkeit zu versichern. Heute gilt mehr denn je: Was wir brauchen, ist mehr Nähe durch Distanz, während wir immer noch das »Land der Griechen« – das eigene Land, das Land des Menschen – mit der Seele suchen. Wir sind angehalten, nach dem Punkt zu streben, an dem sich das, was da ist, plötzlich mit dem Atem und der Schönheit einer Herkunft begabt, die ebenso namenlos ist, wie sie unzählbare Namen und Geschichten hat. Das Schweigen und die Mythen fließen in diesem sehr fernen, weltenfernen Ursprung zusammen, und so entsteht dann, vielleicht, das Leben, das lebendig ist. Wenn – wie bereits erwähnt – es einen grundlegenden Wert des Lebens gibt, dann ist es die Lebendigkeit. Von ihr ließe sich sagen, dass sie um ihrer selbst willen angestrebt wird; sie ist der fundamental-intrinsische Wert des Lebens. Im Laufe der Zeit wurden viele verschiedene Werte als »intrinsisch« bezeichnet: das Glück, die Autonomie, die Liebe, die Gerechtigkeit, das Streben nach dem Wahren und Schönen. Doch es gibt Deformationen all jener Werte, vom zerstörerischen Glück über den Schönheitswahn bis zum Tugendterror. Daher stellt sich jedes Mal die Frage nach dem Gehalt, der einen Wert erst »intrinsisch« sein lässt, und damit nach dem Gehalt des Guten Lebens insgesamt. Verstehen wir unter Lebendigkeit, ideal betrachtet, die Erlebnisform des Guten Lebens, dann erweist sich die Sehnsucht nach Lebendigkeit als eine eminent ethische Stimmungslage. Als deren religiöser Horizont gilt, traditionell gesprochen, die Erlösung vom Übel. Das Übel repräsentiert Leblosigkeit. Dagegen steht unsere unstillbare Sehnsucht nach Lebendigkeit, weshalb sich sagen ließe, es handle sich um die Sehnsucht nach dem un140 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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erreichbar Nahen, dem verlorenen Paradies, das unsere Kultur grundiert, nicht zuletzt als die zweideutige Vision des Abendlandes. Für viele Generationen war einer jener archetypischen Orte, an die sich jene zweideutige Vision heftete, der Wald, namentlich der dunkle Tann, dem in meiner Kindheitsfantasie eine so bedeutende Rolle zukam. Viele der Märchen und, später, Sagen spielten in den Wäldern des Nordens, wo immer diese geografisch gelegen haben mochten. Auch der Norden der Kindheit ist eine mythische Dimension. Dazu kamen die Götter und Stämme und Helden, abenteuerliche Ableitungen der einstigen Völkerwanderungen. Und mit ihnen kam das Blut. Aus Helden wurden Recken, die das Schwert hineintrieben in die Leiber derer, die sich ihnen in den Weg stellten. Die Gottheiten, denen sie opferten, wohnten nicht auf dem sonnenumfluteten Olymp, sondern an einem Ort, der in meinen Büchern als Walhall den Eindruck erweckte, eine riesige Trutzburg in einem Jenseits zu sein, worin es niemals Tag wurde. Und über allem lag ein Schicksal, das einer Ur-Schuld entstammte, welche mit zauberträchtigen Dingen verwoben war, deren sich etwas Böses bemächtigt hatte. Gutes Ende konnte es in dieser Welt keines geben, an alle Erlösung war der Tod geknüpft. Von ferne herein leuchtete da und dort, irrlichternd und bezaubernd, der Schein einer Auferstehungshoffnung, aus der umrisshaft Christusartiges hervorstrahlte. Denn in der fantastischen inneren Welt des jungen Lesers verschmolz der dunkle Tann mit der Tafelrunde und ihren edlen Bewahrern des Kelches, dahinein das Blut des Erlösers getropft war. Wagner und Wagners Musik – wie überhaupt Romantik und Spätromantik – kamen dazu, sie ließen die waldgetränkte Seele einsinken in die Große Tragik der Welt. Und nun gehört es aber für mich zu jener Erweiterungsbewegung, durch die das Abendland zusehends seine Konturen gewinnt, dass den Wäldern des Nordens eine Zeit des Erblühens der Seele gegenüberstand – die zeitlose Zeit im Garten, worin die Bäume voller Früchte prangten, darunter, wie wir wissen, der Baum mit der verbotenen Frucht. 141 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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Beides zusammen, das doch gar nicht zusammenpassen wollte, ergab jene Abenteuerlichkeit und Unruhe, die das Abendland als einen Ort kenntlich machte, von dem man immer schon innerlich weggegangen war. Die abendländische Gewalt ist so schrecklich, weil sie keinen Platz der Lebensruhe hat. Mit dem Ende der zauberischen Wälder wird dann freilich auch die Unruhe eine andere. Nichts hindert sie mehr daran, als ein reines Phänomen des Überlebenstriebs und der Raffgier global zu werden. Man nannte das die modernen Zeiten. In ihnen fielen die Wälder wie Zündhölzer im Sturm, bis sich die Gewissheit Bahn zu brechen begann, dass eine entwaldete Welt ein Schrecken wäre, der sich auf Erden nicht wieder gut machen ließe. Höre ich die heutigen Fanatiker in Europa das christliche Abendland beschwören, das es zu retten und zu restaurieren gälte, fühle ich mich elend – betrogen um meine ParadiesesSehnsucht. Was wäre denn dieses Abendland, wenn seine Bewahrer ideologische Kleingeister sind, die nichts anderes denken und fühlen können als Wir-sind-wir? Es gibt kein französisches, britisches, deutsches, gar österreichisches Abendland. Das Abendländische dient unseren Neonationalisten dazu, die eigene provinzielle, weltfeindliche Sicht der Welt zu rechtfertigen, während sie sich als Beschützer eines wahrhaft Großen aufspielen. Tatsächlich handelt es sich um innere Aufrüstungen zum Krieg, sei es der Engstirnigkeit, der Ökonomie oder eines hohlen Machtanspruchs. Symptomhaft trägt einer der gewaltigsten Romane des 20. Jahrhunderts, Cormac McCarthys Blood Meridian (1985), im Deutschen den Titel: Die Abendröte im Westen. Was gegen Ende der Indianerkriege in der Neuen Welt an blutigem Wahnsinn auf allen Seiten übrigblieb, schien das Erbe des Kulturreichs aus griechischer Antike, Judentum, Christentum, Humanismus und Aufklärung vollständig zu zerstören. Dennoch beginnt McCarthys Jahrhundertepos mit dem biblischen Satz: See the child. »Seht das Kind« – und das Kind wird aus den Blutbädern, dem Inferno, den menschlichen Höllen lebend hervorgehen: tief 142 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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verletzt, aber lebend. Was sich im philosophischen, im metaphysischen Sinne »Abendland« nennt, reicht über alle Grenzen hinaus und transzendiert das Bestialische, das den realen Abendlandbeschwörern die größte Verlockung zu sein scheint – jene teuflische Verlockung, wofür zwei Weltkriege samt Shoa, der Vernichtung des Gottesvolkes, einstehen. Es ist das überdauernde Erbe unserer Antike, das uns verstehen ließ, was es heißt, den Kosmos zu schauen und damit alle Begrenztheit des Menschlichen noch einmal durch den Geist zu überwinden. Griechenland, das ist ein Sehnsuchtsort, der mit dem judäochristlichen Glauben, wir seien Paradieses-Vertriebene, zu einer Sehnsucht verschmolz – der Rückkehrsehnsucht in unsere eigentliche Heimat, die Heimat des Menschen, worin, nach Ernst Blochs letzten Worten in seinem Prinzip Hoffnung (1954), bisher noch niemand war. Gewiss, auch dabei geht es weniger um historische Tatsachen als um Herzenswahrheiten. Hölderlin, der uns wie kein anderer Griechenland ins Herz schrieb, war niemals dort, am Ort der seligen Götter. Und wenn Goethes Iphigenie auf Tauris das Land der Griechen mit der Seele sucht, so ist damit ein Ort angesprochen, der sich auf keiner Landkarte findet: mein Abendland, unser aller Abendland. Ja, ich möchte sagen, dass Europa, als politischer, ethischer und spiritueller Ort, nur solange wird bestehen können, als in ihm das Abendländische als geistiges Erbe und Vision weiterwirkt. Hoffen wir, dass die Sehnsucht des Westens, herstammend aus der Tiefe der Zeiten, nicht Fakten schafft: Raubtierfakten, um das unerreichbar Nahe der menschlichen Seele an sich zu reißen. Sonst nämlich würde wahr, was Oswald Spengler vor nunmehr einem Jahrhundert prophezeite: der Untergang des Abendlandes. Wir wissen um Gut und Böse und ersinnen Geschichten, um das Böse im Namen des Guten zu tun. Wir sind aus dem Paradies vertrieben – rachsüchtig Paradieses-Sehnsüchtige –, und die Sonne steht uns immer im Westen. Sie leuchtet blutrot über den Ameisenkriegen, die wir nun gegeneinander führen, in dieser irren Wachheit, die darauf aus ist, sich des Paradieses zu 143 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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bemächtigen, um es zu zerstören. Wir werden hin und her gerissen zwischen der unstillbaren Lust, Götter zu sein, endlich Herr des Gartens zu werden, und dem unstillbaren Drang, das Nichts zu beschwören, den Abgrund, der wir selbst sind, um uns in ihm für immer zu »erlösen«. Zweideutig bleibt die Grundstimmung des Abendlandes – ihm eingesenkt ist das ewige Kipp-Bild der Schlange. Das Paradies ist dazu da, um die Hölle aus ihm herauszufantasieren. Fortan wird der Schlaf, wie tief und wie lange er auch sein mag, nie mehr genug sein. Kein Schutzengel wird über ihm schweben. Das Abendland wird mit seinen bösen Geistern schlafen müssen, den Geistern, die das Tor zur Seligkeit versperrt halten. Und im Bewusstsein der Unerreichbarkeit dessen, wonach man sich verzehrt, wird man zum Totschläger all dessen, was die Merkmale des Verlorenen trägt. Aus dem Abendland, welches das Land des Abends war, der tiefstehenden Sonne mit ihren langen, kühlenden Strahlen, die über die Buntheit der Welt hinstrichen, ist eine Kanonenkugel, eine Feuerwalze, eine loderndes Inferno geworden: Überall gilt es, die Anzeichen der Sehnsucht anderswo zu ersticken, im Antlitz der anderen zu zerstören. Als das Abendland erwachte, um zu erkennen, dass der Garten verloren war, wurde es zum Land der Sehnsuchtsmarodeure, Seelenbrandschatzer. Die Entdeckung Amerikas wurde zur Eroberung des Paradieses, das heißt: zur Eroberung des Nichteroberbaren. Das Nichteroberbare wurde geschunden. Die Abendsonne beschien brennende Hütten, die Leichenhaufen der Eingeborenen; sie beschien die Schreie der Gefolterten, Vergewaltigten, Verschleppten und Versklavten. Machtgier, Mordlust – ein Blutstrom gleich dem Okeanos, dem Ringfluss rund um das Ganze; daneben freilich, und tiefer noch durch uns hindurch, flutet ein anderer Strom: Was uns davon abhält, ins Lager des rachsüchtigen Wahns, der uns aus unserem eigenen Abgrund entgegenruft, gänzlich überzutreten, das ist die Sehnsucht, die nie aufhört, in uns fortzugedeihen. Sie gedeiht im Gemurmel, das aus der Tiefe der Zeiten zu uns dringt. Und was 144 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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wäre das verlorene Paradies, wenn nicht die Sehnsucht nach dem seligen Schlaf? Das Abendland, wie es sich (mir) als Seelenkontinent nähert und einprägsam wird – dieses Abendland in seinen friedlichen, tief friedlichen Momenten zehrt von der Sonne, die tief im Westen steht, dort, wo in den Schatten Geborgenheit murmelt; es träumt in seinen kleinen und großen Werken von der erlösten Menschheit. Es ist der Schlaf, der postparadiesische Schlaf, worin wir von der Seligkeit träumen, die immer schon gewesen ist – ein Seelenhorizont aus der Tiefe der mythischen Zeit, über die wir keine Macht mehr haben. »Und an dem Ufer steh ich lange Tage, / Das Land der Griechen mit der Seele suchend«: So heißt es, erster Aufzug, erster Auftritt, in Goethes Iphigenie auf Tauris. 20 Iphigenie, als Priesterin in der Fremde 21, der Göttin Diana dankbar zu Diensten, sucht, übers Meer blickend, das Land, das ihre Heimat ist, mit der Seele. In diesem Suchen liegt ein tiefes, begriffsloses Sehnen, das sich an die Erinnerung heftet, an Agamemnon, den Vater, an Klytämnestra, die Mutter, an die Mitgeborenen: Und gegen meine Seufzer bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. / Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern / Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram / Das nächste Glück vor seinen Lippen weg, / Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken / Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne / Zuerst den Himmel vor ihm aufschloss, wo / Sich Mitgeborne spielend fest und fester / Mit sanften Banden aneinanderknüpften. (Z. 13 ff.)

Was sie, Iphigenie, am Ufer stehend und über das dumpf-brausende Meer hinausblickend, sucht, ist ein Griechenland zwar der Erinnerung an dies und das; aber es handelt sich um eine Erinnerung, die Iphigeniens Seele eingeschmiegt ist. Dazwischen liegt der Bruch, der Riss, die Vereinsamung als Folge des Weggebracht-worden-Seins aus dem Unmittelbaren. Des Vaters Hallen, die Sonne, die morgens den Himmel aufschloss, die sanften Bande der Mitgeborenen – sie alle sind zu Inbildern geworden. 145 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Sehnsucht

Inbilder sind Bilder, in denen das Reale zu sich selbst kommt, und zwar dadurch, dass es zu einem Ort des unerreichbar Nahen wird. Man will nach dorthin zurück, von wo man exiliert wurde, doch das Exil transformierte dasjenige, wohin man zurückmöchte. Jetzt, im Rückblick, kommt Iphigenie vor, sie habe an jenem Ort, an dem sie ihre Kindheit und Jugend verlebte, selig geschlafen. Ihre Seele umschloss die Realitäten, die rohen Fakten und sinnlichen Einzelheiten, die ein Zuhause erst bilden, indem man sie nie von außen betrachten musste, aus der Perspektive des Exils. In allen Dingen des Zuhause war die Seele anwesend, als Formprinzip, als Lebensquell, als geistige Atmosphäre, ohne je thematisch – reflexiv – geworden zu sein. Aber im Exil, jenem Zustand distanzierter, trauriger Wachheit, ist Iphigenie zur Seufzenden geworden. Und jetzt erst wird sie fähig, ihr Zuhause als eines zu erfassen, dem höchste Realität eignet. Die ferne Heimat ist ihr zum Inbild geworden, von wo aus alle künftigen Ereignisse ihre Bedeutung erhalten. Diese ihre ferne Heimat ist nun ihrer Seele eingeschmiegt, macht sie erblühen, so, wie die Seele der Liebenden erblüht, die voneinander Abschied nehmen mussten und nun erst, als Getrennte, erkennen, worin die Wahrheit – die Realität – ihrer Liebe bestand. Iphigenie möchte zurücksinken in den Schlaf, aber sie weiß, dass ihr die Rückkehr verwehrt ist. Wenn sie wieder einschläft und eingeht in den zeitlosen Raum ihrer Seele, dann wird sie es am Leitfaden des ihr eingeschmiegten Bildes vom Zuhause tun. Nichts muss zerbrochen, zertrampelt, überwältigt werden, nur um der Sehnsucht, die unerfüllbar bleibt, eine neue Realität entgegenzustemmen – Nietzsche hätte sie dionysisch genannt, übermenschlich. Die Helden jener wüsten Realität sind die albtraumhaft Schlaflosen, die nur leben, indem sie sich in den anonymen Abgrund stürzen, der nach ihnen ruft … Ich rede hier durch Bilder, durch Gleichnisse. Wie anders könnte ich reden, wo es darum geht, sich an den äußersten Grenzen des Humanismus zu bewegen, dort, wo die Politik der Seele sich als die Utopie vom Menschen erweist, der in seiner 146 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Sehnsucht

milliardenfachen Existenz das Massenhafte transzendiert? Ich möchte die Kette des politischen Diskurses sprengen; und auch die Eng- und Kaltherzigkeit, das Revanchistische eines Geredes, das dem Abendland seit langem bescheinigt, untergegangen zu sein. All das, diese ganze postabendländische Klugheit und angebliche Menschheitsethik, ist mittlerweile ein babylonischer Turm aus Grabreden geworden. Das Abendland hingegen, von dem ich rede – Iphigenienland –, ist unzerstörbar. Das unerreichbar Nahe ist ewig.

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Horizont der Verwandlung Versuch einer Umschreibung unserer poetischen Urposition

Was wir brauchen, ist eine Kultur, die das individuelle Bewusstsein in seinem Wert gerade dadurch bestätigt, dass sie es auf einen Horizont bezieht, den zu erreichen uns unmöglich ist, solange wir am endlichen Leben teilhaben. Das Leben einer Kultur hängt davon ab, ob sie beseelt genug ist, sich an diesem Horizont – dem Horizont der Verwandlung – auszurichten. Vor mir liegt ein Büchlein aus einem Esoterikverlag; der vielversprechende Titel: Blick in eine andere Welt. Die Autorin stellt sich uns als Medium vor, und was sie schildert, sind Begegnungen mit Toten. Zum Beispiel: Wenn mir ein Verstorbener erscheint, sehe ich zunächst eine Gestalt heranschweben, die äußerlich hell ist; in der Mitte dieser Helligkeit befindet sich ein dunkleres Rund. Dieses entfaltet sich langsam zu einem Antlitz. Ohne solche Erlebnisse abwerten zu wollen, muss eben doch festgehalten werden, dass das, was sie beweisen wollen, durch die Art und Weise, wie es bewiesen wird, kaum an Glaubwürdigkeit gewinnt. Ich habe versucht zu zeigen, dass es gute Gründe dafür gibt, einen Primat des Bewusstseins gegenüber allen Varianten des modernen Materialismus – heute besonders in Form des gehirnneurologischen Fundamentalismus – zu verteidigen. Und ich habe des Weiteren zu zeigen versucht, dass sich der Primat des Bewusstseins nicht durch die Konzepte der Künstlichen Intelligenz (KI) einholen und rekonstruieren lässt. Deshalb, so meine Schlussfolgerung, bleibt die humanistische Suche nach dem wahren Selbst als einer Basiskategorie der Ichhaftigkeit allen Personseins aufrecht. 22 Unser bewusstes Leben ist seinem Wesen nach eine Suchbewegung, die bei dem formalen »Ich bin, der ich bin« ansetzt, um dieses in der spiralartigen Bewegung rund um das »Ich werde (sein), der ich bin« biographisch mit Sinn zu erfüllen. So gese148 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Horizont der Verwandlung

hen hat unser Leben einen kontrafaktisch idealen Fluchtpunkt, einen absoluten Erfüllungshorizont, der, wollte man ihn mit einem traditionellen Begriff markieren, »Erlösung« hieße. Diese ist hier und jetzt an keinem Punkt der Lebenslinie zu haben. Der absolute Horizont, in dem das »Ich werde, der ich bin« endlich mit dem »Ich bin, der ich bin« zusammenfallen würde, ist fürs Menschsein ebenso wenig verzichtbar, wie er im Leben uneinholbar ist. Das ist es, was durch den Begriff der Seele letzten Endes zum Ausdruck gebracht wird, unbeschadet des Umstandes, dass wir den mythischen und spiritistischen Ausprägungen des Gedankens heute reserviert bis ablehnend gegenüberstehen. Es besteht wohl kein Zweifel, dass die Annahme eines Primats des Geistes spekulativ ist. Zwar handelt es sich dabei um eine Spekulation, für die gute philosophische Gründe sprechen. Dennoch bleibt wahr, dass wir für sie keinen empirischen Beweis liefern können; ja, mehr noch – um einen offenkundigen Gesichtspunkt ins Spiel zu bringen –, auch unsere Alltagsanschauung der Welt scheint dem Primat des Geistes zuwiderzulaufen. Vom Standpunkt des Alltags aus sind wir von Dingen und Mächten umgeben, die bewusstseinsferner nicht sein könnten, angefangen bei dem Tisch, an dem ich schreibe (auf dem Tisch steht mein Computer), bis zu den Galaxien, in deren Mitte Schwarze Löcher lauern, in denen, soweit wir wissen, keine Form des Bewusstseins jemals existieren könnte, die an einen biologischen Träger gebunden wäre. Der Primat des Geistes verweist auf einen Vorgang der Autopoiese, der Selbsterzeugung und Selbstdifferenzierung des Geistes, den wir in seiner Tiefe einzig – so meine Vermutung – auf der Höhe der Poesie verstehen. Autopoiese und Poesie: Das ist das Thema der Urromantik, kein bloßes Wortspiel. Denn was wir in den poetischen Gehalten des Universums vorfinden, sind die Spuren des Geistes, so wie er uns, aus unserer gehirndeterminierten Lage, als das die »Welt« stiftende und bewegende Prinzip allein fassbar wird. Niemand hat das besser ausgedrückt als Friedrich Wilhelm Joseph Schelling am Ende seines ansons-

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ten so spröden Systems des transcendentalen Idealismus (1800); dort heißt es im Sechsten Hauptabschnitt, § 3: Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Fantasie, nach dem wir trachten.

Wenn man am Ufer des Meeres steht und auf den Horizont hinausblickt, dann kann es geschehen, dass man dort, an der Linie, wo die sanfte Krümmung des Meeres den Himmel berührt, das Eiland sieht, das man schon immer betreten wollte. Das ist der Traum vom Garten Eden, wo man vom Übel erlöst sein wird: Man wird zur Ruhe kommen und dabei leben. Zeit und Glück werden eins geworden sein. Der Stachel der Langeweile, der uns in die Zerstreuung treibt, ist dann abgefallen, schwerelos, man hat es nicht bemerkt, irgendwo auf der Reise vom Ufer weg, dem Ort der Sehnsucht nach dem unerreichbar Nahen: Iphigenienland, Seelenland. Man kann nicht sagen, wie die Reise vonstattenging. In den Träumen reist man jenseits der Schwerkraft; Boote gleiten als Schatten, und Flügel sind eine Ahnung, nicht mehr … Kaum, dass die Reise begann, ist sie auch schon zu Ende. Wir finden uns auf der Linie des Horizonts, unter den Bäumen und Blüten und Tieren des Eilands. Da ist ein großer Friede, der jetzt Einzug hält. Die Tiere kommen und schauen uns an; wir sind traulich vereint. Dann aber hebt man den Blick und durch die Bäume schimmert das Meer grün und blau, und dort, weit draußen am Horizont – indes: sind wir denn nicht schon angekommen? –, wölbt es sich. Man glaubt ein Schiff zu erkennen, das auf der Wölbung schaukelt, gleich wird es verschwunden sein. Wohin ist es unterwegs? Das ist eine traurige Frage, denn jetzt wissen wir, dass wir 150 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Horizont der Verwandlung

nicht am Horizont leben, niemals, solange wir leben, dort leben werden. Man hat den Garten Eden betreten, doch es ist niemals der Garten, nach dem wir Ausschau hielten – der Garten am Horizont. Er war es, bevor wir uns auf die Reise machten. War also die Reise umsonst? Nein, denn der Garten Eden ist da, wo er war und ist und immer sein wird, und unsere Ankunft ist ein ewiges Ankommen, ohne jemals angekommen zu sein. Ja, einige Blumen sind geknickt und bisweilen fällt ein Blatt von den Bäumen, und manchmal kommt es vor, dass ein Tier ein anderes frisst. Aber der Garten Eden könnte nicht sein ohne diesen Blick aufs Meer, wo Zeit und Glück einander umarmen; er könnte nicht sein ohne diesen Horizont, hinter dem das Schiff, das gerade noch auf ihm schaukelte, eben verschwunden ist. Man träumt, dass man am Horizont lebt, und sieht doch die Dinge, die sich in ihm auflösen – uns zum eigentümlichen Seelentrost. Alle Verdinglichung, Dingfestmachung ist zugleich Entseelung. Lebendigkeit, wie wir sie kennen, ist nur möglich unter der Bedingung eines Horizonts. Hätte der zum Horizont hin Strebende sein Ziel erreicht, dann hätte er keinen Ort mehr. Er wäre nirgendwo angekommen, nicht einmal bei sich selbst. Er wäre in seiner eigenen Horizontlosigkeit verschwunden, so wie Materie, Strahlung, Raum und Zeit in einem Schwarzen Loch verschwinden. Das Schwarze Loch ist Realität und Symbol zugleich. Es entsteht, so lehrt uns die Astrophysik, aus einem massereichen Stern, der in sich zusammenbricht – oder es ist ursprünglich entstanden, durch eine Raumverwerfung am Beginn der Welt (was immer das heißen mag). Im Schwarzen Loch gibt es keinen Beobachter. Beobachtung setzt, physikalisch gesprochen, voraus, dass ein Lichtstrahl reflektiert und von einem Auge aufgefangen wird. Im Schwarzen Loch findet nichts dergleichen statt. Deshalb hat es, von einem internen Standpunkt aus betrachtet – und eben das ist der Standpunkt, der sich nicht einnehmen lässt –, keinen Horizont. Das Schwarze Loch ist das horizontlose Ding. 23 Viele Schwarze Löcher im Universum umfassen viele Millio151 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Horizont der Verwandlung

nen Sonnenmassen. Sie sind supermassiv. Wahrscheinlich findet sich ein supermassives Schwarzes Loch im Zentrum einer jeden der Milliarden Galaxien, so auch in unserer eigenen, der Milchstraße, die etwa hundert Milliarden Sterne und große Mengen interstellarer Materie enthält. Ihre Ausdehnung in der galaktischen Ebene beträgt hunderttausend Lichtjahre, ihre Dicke sechzehntausend Lichtjahre. Das sind Ausmaße, die wir in Zahlen auszudrücken, aber mit unserer Vorstellungskraft nicht zu fassen vermögen. Die altüberkommene, radikalutopische Vorstellung, dass sich unter den vielen Milliarden Sternen unserer Galaxie irgendwelche finden, zu denen wir in ferner Zeit wie zu einem Eiland mit blauen Meeren, grünen Matten, Blumenhängen und einem paradiesischen Stamm des Lebens reisen könnten – diese Vorstellung ist durch die moderne Forschung zunichte gemacht worden. Wenn es ein Leben im lebensfeindlichen All gibt, dann höchstens auf der Stufe von Einzellern, die unter extremsten Bedingungen, bei größter Hitze und größter Kälte, zu existieren vermögen. Das ist keine Welt für die höheren, fragilen Formen des Lebens, die möglicherweise Träger eines höheren Bewusstseins sind. In diesem radikalen Sinne sind wir allein und dieses Alleinsein rückt die Horizonte in ein trauriges Licht. Es sei denn, wir lernen verstehen, dass wir hinter allen Horizonten immer wieder uns selbst begegnen, freilich in radikal transformierter Form. Die Stimme der Wissenschaft lehrt, dass es im Universum nichts gibt, was uns entgegenkommt, nichts Ähnliches, Seelenverwandtes. Das meint die These von der »einsamen Erde«. Zu unwahrscheinlich ist es, dass noch irgendwo all jene Faktoren zusammenbestehen und über einen Zeitraum, der lange genug wäre, aufeinander einwirken könnten, sodass möglich würde, was auf der Erde geschah: komplexes, bewusstes und selbstbewusstes Leben unter einem blauen, sonnenerhellten, mondversilberten Himmel. Nein, sagt die These von der einsamen Erde, so eine Wahrscheinlichkeit beläuft sich gegen null. (Statistische Annahmen, dass dem nicht so sein müsse, ja mit großer 152 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

Horizont der Verwandlung

Wahrscheinlichkeit nicht so sei, stützen sich allesamt auf unbeweisbare Ausgangsannahmen hinsichtlich des Auftretens von höherem, geistbegabtem Leben irgendwo im Universum. 24) Doch da gibt es noch eine Stimme. Man weiß nicht, woher sie kommt, und sie spricht sehr leise im Gegensatz zu dem Getöse der großen Debatten. Es ließe sich wohl sagen, sie komme aus dem Inneren von Allem. Aber das wäre nur eine Metapher, zu schwach, um gegen die Fakten, die aus dem »Außen« kommen, anzutreten. Wovon handeln Blaise Pascals berühmte Fragmente über den Raum? Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen […]. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr. Und: Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern. (Pensées, Erstausgabe 1670, §§ 194, 206 25)

Unsere ganze Würde, sagt Pascal, besteht im Denken. Als ob es darum ginge in unserem Erschrecken über die unendlichen Räume, die uns kalt begegnen! Was soll das für ein Trost sein, dass die Atome, die uns vernichten, nichts von uns wissen, wir aber wissen, dass sie Teile eines bewusstlosen, geistlosen Mechanismus sind? Und woher käme die Würde, wenn sie uns nicht schon aus dem Ursprung und Innersten des Ganzen erwüchse? Etwas in uns, was nicht akkurat Pascals Denken ist, ist immer schon über uns hinaus: Poesie. Wir können das nicht fassen, es sei denn als Geborgenheit, wenn auch als Geborgenheit im Schlechten: als unseren Seelenort. Aber gerade er entzieht sich »dort draußen«, in den Sternennebeln, den kosmischen Glutöfen und Eiswüsten. Um nicht im Ursprung einsam zu sein, brauchen wir Mutter und Vater, Menschen, die uns beschirmen, wie nur der Himmel des Matthias Claudius die Sternseherin Lise beschirmt; wir brauchen die Wege und Umwege zu uns selbst. Denn »dort draußen« erkennen wir uns nicht, und wir erkennen uns umso 153 https://doi.org/10.5771/9783495824047 .

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weniger, je tiefer aus der Tiefe der Zeiten heraus Pascals kalte Horizonte leuchten. Sie sind das Nachleuchten eines Urknalls, der uns so fremd bleibt wie das Schwarze Loch. Geborgenheit ereignet sich, wenn überhaupt, dann in der Kindheit, in den glücklichen Momenten, in denen wir gar nichts wollen, sondern am Rande des Schlafes dahinschweben, behütet und unverletzlich: Was immer passiert, mir kann nichts passieren. In diesem Moment sind wir über uns hinaus. Wir sind Poesie, umfangen von der Autopoiese des Geistes: das All in der Nussschale einer schönen Unbesorgtheit. Kant nannte das, in Richtung Kunst-Erleben und ein wenig ins protestantisch Kalte gerückt, »interesseloses Wohlgefallen«. Wenn wir dann zur Sorge erwachen, haben wir schon wieder vergessen, dass wir alles gewesen sind. Philosophie hingegen ist seit alters her der Versuch, uns zu erinnern. Dazu gehört heute die Frage, ob es im Universum der Schwarzen Löcher, Gehirne und Computer den Weg der Gnade gibt. In dieser Frage liegt nach wie vor die Sprengkraft des Humanismus.

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Anmerkungen

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S. 13 Die Texte, die im Folgenden zusammengeführt wurden, stammen zum Teil aus Quellen, worin sie, nach meinem rückblickenden Ermessen, nicht angemessen platziert waren. Das gilt besonders für die Abschnitte aus meinem Buch Gibt es ein Leben nach dem Tod? – Computer, Gehirne und das wahre Selbst (München 2004), ein Titel, den der Verleger wählte, weil er dachte, die Ironie der Fragestellung werde dem Lesepublikum angesichts des Untertitels einleuchten. Dem war nicht so. Es ist wohl überflüssig zu betonen, dass ich mich niemals in die Frage eines Lebens nach dem Tod quasifachlich eingemischt habe; in ihrem Kern ist diese Frage eine des religiösen Bekenntnisses und keine der Philosophie. Wohl aber ist es meines Erachtens eine der vornehmsten Aufgaben des philosophischen Räsonierens, die denkbaren Grenzen unserer Hoffnung auf das »Gute Leben« abzuschreiten. Deshalb führe ich im letzten Teil dieser Untersuchung zwei Motive zusammen, die, einander bespiegelnd und ineinander verschlungen, die stille Sprengkraft des Humanismus gegen die posthumanistische Euphorie der digitalen und genetischen »Verkünstlichung« des Menschen stellen. Es handelt sich um tiefreichende Momente des Beseeltseins: »Paradieses-Sehnsucht« und »Iphigenienland«. Dazu übernehme ich Passagen aus meinem Großessay Mein Abendland (Paderborn 2019). 2 S. 28 Wörtlich heißt es bei Heidegger in den Bremer Vorträgen 1949: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« (Gesamtausgabe, Bd. 79, Frankfurt a. M. 1994, S. 27.) 3 S. 30 New Haven / London, YUP, 1993; das Buch erschien auf Deutsch unter dem Titel Faustkeil und Elektronenrechner, Leipzig 1996. 4 S. 35 Als Gregor Johann Mendel 1884 starb, waren die späterhin nach ihm benannten Regeln über rezessive und dominante Erbeigenschaften vergessen. Deshalb stand Darwin vor dem Rätsel, wie überlebensdienliche Mutationen über mehrere Generationen hinweg konserviert werden können, wenn – das war die falsche Annahme – der Selektionsvorteil, den sie gewähren, bei der Fortpflanzung durch die Verschmelzung mit dem andersgeschlechtlichen Genpool jedes Mal im Verhältnis 1 : 1 abgeschwächt wird. Die Mendel’schen Regeln wurden erst 1900 von dem holländischen Botani-

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Anmerkungen

ker Hugo de Vries wieder entdeckt; ihre volle Bedeutung für die Evolutionstheorie wurde in den späten 20er- und frühen 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts erkannt. 5 S. 36 Was aus der Pseudo-Gleichung »Ich = Nicht-Ich«, »Subjekt = Objekt« bei Fichte und Hegel alles abgeleitet wurde, mit und ohne Dialektik, war über weite Strecken Begriffsmumpitz. 6 S. 39 Ich stelle eine Behauptung auf, die ich anderswo zu belegen versucht habe. Vgl. den Abschnitt »Das Menschliche erklären« in meinem Buch Das Menschenmögliche. Späte Gedanken zum Humanismus, Wien 1996, S. 174 ff. Ursprünglich erschienen war der Beitrag unter dem Titel »Das Wesen des Menschen ist, dass er keines hat – Über Bedingungen der Möglichkeit einer alle Menschheitskulturen umspannenden Psychiatrie«, in: Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux, hrsg. v. H. P. Duerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 419 ff. 7 S. 44 Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hrsg. v. Ewald Wasmuth, der auch die Übersetzung besorgte, 8. Aufl., Heidelberg 1978, S. 167. 8 S. 45 Um dem Leser an einem elementaren Beispiel zu zeigen, wie eine Turing-Maschine funktioniert, wählen wir folgende Aufgabenstellung: Zu einer beliebigen Zahl, hier der Zahl 2, soll die Zahl 1 addiert werden. Auf dem Wege zur Lösung dieses Problem benötigen wir eine Methode, die es ermöglicht, Zahlen auf einem Band mit Hilfe der Zeichen 1 und 0 darzustellen. Dazu vereinbaren wir folgende Konvention: 1 = 1, 11 = 2, 111 = 3 usw. Die Nullen verwenden wir als Leerstellen, um die Einserreihen, die jeweils Zahlen repräsentieren, voneinander zu trennen, wobei die Anzahl der Leerstellen keine Rolle spielt. Dann können wir sagen, dass die Reihe … 000011100101111 … die Sequenz der Zahlen 3, 1, 4 repräsentiert. Diese Sequenz wird als unser Input in die Turing-Maschine eingegeben. Nun benötigen wir noch etwas, was man den internen Zustand der Maschine nennt. In unserem Beispiel, wo es um das Addieren von 1 zu einer beliebigen Zahl geht, kann sich die Maschine in genau zwei internen Zuständen befinden: im Zustand A, der zugleich der Anfangszustand ist, und im Zustand B. Das Programm der Maschine wird durch die Zustände A und B zusammen mit den ihnen beigegebenen Instruktionen (a) bis (d) ausgedrückt: (a) Wenn die Maschine im Zustand A ist und auf dem Band eine 0 liest, dann bleibt sie im Zustand A, schreibt eine 0 (überschreibt die 0 mit einer 0) und bewegt das Band um ein Feld nach rechts. (b) Wenn die Maschine im Zustand A ist und auf dem Band eine 1 liest, dann wechselt sie in den Zustand B, schreibt eine 1 (überschreibt die 1 mit einer 1) und bewegt das Band um ein Feld nach rechts.

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Anmerkungen

(c) Wenn die Maschine im Zustand B ist und auf dem Band eine 0 liest, dann wechselt sie in den Zustand A, schreibt eine 1 (überschreibt die 0 mit einer 1) und hält an. (d) Wenn die Maschine im Zustand B ist und auf dem Band eine 1 liest, dann verharrt sie im Zustand B, schreibt eine 1 (überschreibt die 1 mit einer 1) und bewegt das Band um ein Feld nach rechts. Angenommen, wir hätten ein Band, das folgendermaßen aussieht: 0001100. Dieses Band, der Input, repräsentiert die Zahl 2. Die Maschine, die sich im Anfangszustand A befindet, beginnt das Band von rechts zu lesen, gemäß den Instruktionen (a) bis (d). Das ergibt folgende Schritte: 0001100 (Anfangszustand); 0001100 [gemäß (a)]; 0001100 [gemäß (b)]; 0001100 [gemäß (d)]; 0011100 [gemäß (c)]. Nachdem die Maschine stoppte, erhalten wir als Output die Zahl 3, das ist jene Zahl, die sich ergibt, wenn man zur Zahl 2 die Zahl 1 addiert. Ich habe das Beispiel in wesentlichen Zügen dem Buch von Tim Crane: The Mechanical Mind, Penguin Books 1995, S. 93 ff. entnommen (2. Auflage, London & New York 2003). 9 S. 52 Wir wissen, dass die Selbstanwendung von Sprachen zu Paradoxien führen kann, solange nicht strikt zwischen einer Objektsprache und der Metasprache, die über die Objektsprache spricht, unterschieden wird. So etwa ist der umgangssprachliche Satz S: »Dieser Satz ist falsch«, der mittels des Demonstrativpronomens eine Aussage über sich selbst macht, in seiner Bedeutung nicht widerspruchsfrei lesbar. Wenn es wahr ist, dass S falsch ist, dann ist S falsch; also ist S wahr. Wenn es aber falsch ist, dass S falsch ist, dann ist S wahr; also ist es wahr, dass S falsch ist; also ist S falsch. Außerdem wissen wir seit Kurt Gödels Unvollständigkeitstheorem aus dem Jahre 1931, dass in jedem formalen (mathematischen, logischen) System von hinreichender Komplexität regulär Aussagen bildbar sind, die sich innerhalb des Systems ebenso wenig beweisen lassen, wie sich die Widerspruchsfreiheit des Systems mit den logischen Mitteln (Postulaten, Regeln) des Systems allein beweisen lässt. Es ist klar, dass diese Limitierungen bei der Selbstanwendung von Computerprogrammen eine fundamentale Rolle spielen. Denn eine Minimalanforderung an jedes Programm lautet, dass es widerspruchsfrei zu sein habe. 10 S. 54 »Cyborgs and Space«, in: Astronautics, 26/27, Sept. 1960, S. 74–76. 11 S. 67 Ich denke, nebenbei gesagt, nicht, dass die Einnahme dieses Blickwinkels zur Voraussetzung hat, dass man explizit einem Schöpfungsglauben anhängt. Meines Erachtens impliziert jedoch unser Alltagsbegriff von Würde jenen Blickwinkel zumindest in der negativen Form, der zufolge wir es kategorisch ablehnen, zu Kreaturen von Kreaturen (Menschen) gemacht zu werden, die uns prinzipiell (naturrechtlich) gleichwertig sind. Dabei bleibt einzuräumen, dass es eine Frage der Interpretation ist, ab wann das

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Anmerkungen

Recht auf Kreatürlichkeit verletzt wird. Denn außer Frage steht wohl auch, dass es Eingriffe in die Naturausstattung des Menschen gibt, die bloß dazu dienen, durch therapeutische Maßnahmen die Voraussetzungen für ein autonomes Leben zu schaffen und zu erhalten. 12 S. 77 Zuerst publiziert in: The Philosophical Review, LXXXIII (4), Okt. 1974, S. 435–450. 13 S. 88 Zitiert nach der Reclam-Ausgabe, übersetzt und hrsg. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, S. 93 f. 14 S. 95 Ronald Laing: Das geteilte Selbst, Köln 1972, S. 27. 15 S. 96 Das Argument findet sich bei Searle zuerst in »Minds, Brains, and Programs«, Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 450–456. 16 S. 127 Walker Percy: The Last Gentleman, New York 1999 (Original: 1966), S. 94. Die Übersetzung ins Deutsche (1985) besorgte Peter Handke. 17 S. 132 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I–IV, kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Neuausgabe, München 1999, S. 19. 18 S. 137 Albert Schweitzer: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 5, München o. J., S. 124 ff. 19 S. 138 Der voranstehende Text stützt sich, in stark bearbeiteter Form, auf einige Passagen aus meinem Buch Was ist Glück? Über das Gefühl, lebendig zu sein, München 2011, sowie einen Essay zur Wochenendbeilage der Zeitung Die Presse (»Was ist Glück?«, Spectrum, 26. Februar 2011, S. 1 f.). 20 S. 145 Z. 11 f. 21 S. 145 Tauris wird gemeinhin mit der Halbinsel Krim identifiziert. 22 S. 148 Der Logiker, Mathematiker und Philosoph Andy Clark (geb. 1957), Professor an der University of Edinburgh, vertritt in seinen zahlreichen Veröffentlichungen eine Ansicht, die, durchaus erfolgreich, als Extended-Mind-Hypothesis bekannt ist. Demnach ist der Geist nichts, was in einem individuellen Bewusstsein zutage träte und sich dort äußerte, sondern es ist für den Geist charakteristisch, dass er sich entäußert im buchstäblichen Sinne des Wortes. Ob sich eine Person mentale Notizen macht oder Notizen in ein Merkbuch einträgt, um, sich später erinnernd, darauf zurückzugreifen – diese Handlungen bedeuten nicht, dass in einem Fall der Geist als Lagerplatz für Informationen genützt wird, während im anderen Fall geistige Gehalte – Bedeutungen – einem physischen Medium anvertraut werden, um dieses als Krückstock des Geistes einzusetzen. Für Clark gilt ein parity principle, was bedeutet, dass es kognitiv gleichwertig ist, ob eine Person eine Rechenaufgabe im Kopf ausführt oder sich zur Ausführung der Aufgabe eines Notizblockes bedient. In beiden Fällen handelt es sich um geistige Prozesse, einmal im Gehirn, das andere Mal auf dem Papier. Diese Ansicht, die sogenannte Expanding Theory des Geistes mag auf den ersten Blick faszinieren, weil sie die Selbstabgeschlossenheit geisti-

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Anmerkungen

ger Prozesse im Bewusstsein – materiell gesprochen: in der Gehirnhöhle des Subjekts – zu überwinden scheint. Doch das Irrige der Annahme lässt sich leicht auf den Punkt bringen: Wieso haben die mathematischen Zeichen auf dem Notizblock eine Bedeutung? Das kann der Notizblock von sich aus nicht »beantworten«. Es gibt einen privilegierten Ort des Geistes: das bewusstseinsbegabte Subjekt der Kognition. Fällt es weg, verschwindet alle Bedeutung aus der Welt. Sollten sich also die Menschen zunehmend in Menschmaschinen-Konglomerate – das Cyborg-Programm – transformieren, so würde dies die Extended-Mind-Hypothesis keineswegs erhärten. Denn der kognitive Kern eines jeden Cyborgs bliebe das bedeutungsstiftende Bewusstsein der Menschmaschine, das heißt der Mensch, der sich mit maschinellen Teilen aufs Engste verbunden hat, und zwar derart, dass er ohne seine maschinelle Komponente vielleicht nicht überleben könnte. (Zu diesen Ausführungen vgl. ausführlicher mein Buch Die ganze Wahrheit – Aufklärung über ein Paradoxon, Basel 2019.) 23 S. 151 Das, was wir den »Ereignishorizont« des Schwarzen Loches nennen, wird von außerhalb konstatiert. Es ist jene Grenze, hinter welcher die Geschwindigkeit des Lichts nicht mehr ausreicht, um der Gravitation – der Massenanziehung oder Krümmung des Raumes – zu entkommen. (Und da wir hier nicht Astrophysik betreiben, brauchen wir auf Komplikationen wie die sog. Hawking-Strahlung nicht einzugehen.) 24 S. 153 Richard Dawkins hat in seinem Weltbestseller The God Delusion (2006), deutsch: Der Gotteswahn, eine solche Spekulation angestellt; ich habe ihre Haltlosigkeit in meinem Buch Wozu überhaupt Religion? Der Gott, der Richard Dawkins schuf, München 2008, nachzuweisen versucht; vgl. dort S. 32 ff. 25 S. 153 Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen der Pensées – vgl. oben Anm. 7 –, unter den neueren die von Ulrich Kunzmann in »Reclams Universal-Bibliothek«, Leipzig 1997.

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