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German Pages 444 Year 1996
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER
Band 276
JOHANNES KABATEK
Die Sprecher als Linguisten Interferenz- und Sprachwandelphänomene dargestellt am Galicischen der Gegenwart
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996
Para os meus pais
D 21 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Zeitschrift für romanische Philologie
/Beihefte]
Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift für romanische Philologie NE: HST Bd. 276. Kabatek, Johannes: Die Sprecher als Linguisten. - 1996 Kabatek, Johannes: Die Sprecher als Linguisten : Interferenz- und Sprachwandelphänomene dargestellt am Galicischen der Gegenwart / Johannes Kabatek. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie ; Bd. 276) ISBN 3-484-52276-3 ISSN 0084-5396 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Ich möchte meinen aufrichtigen Dank aussprechen an alle Personen und Institutionen, die mir bei den Arbeiten zur vorliegenden Untersuchung behilflich waren, an erster Stelle all jenen, die mir freundlicherweise als Informantinnen und Informanten für den empirischen Teil zur Verfügung standen. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Brigitte Schlieben-Lange für ihre zahlreichen Hinweise und für viele fruchtbare Gespräche. Herrn Prof. Dr. Eugenio Coseriu verdanke ich viele wichtige Anregungen und wesentliche Impulse. Außerdem danke ich für ihre Hilfe Herrn Prof. Dr. Xose Luis Regueira, Herrn Prof. Dr. Manuel Gonzalez, Frau Prof. Dr. Jutta Langenbacher-Liebgott und Herrn Prof. Dr. Francisco J. Oroz. Dank für ihre Unterstützung gebühren auch dem Instituto da Lingua Galega und der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Maria Xesus Bello Rivas danke ich für viel Geduld, für ihre Hilfe bei den Korrekturen und für zahlreiche Informationen. Schließlich möchte ich Herrn Prof. Dr. Kurt Baldinger und Herrn Prof. Dr. Max Pfister für die Möglichkeit einer Veröffentlichung in dieser Reihe herzlich danken sowie Frau Dr. Anja Hrbek für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.1.1. 1.4.1.2. 1.4.1.3. 1.4.1.4. 1.4.1.5. 1.5. 1.6. 1.6.1. 1.6.2. 1.6.3. 1.7. 1.8. 1.8.1. 1.8.2. 1.8.3. 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3.
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Theoretische Einführung Konzeptionen von Sprache und sprachliche Ebenen Das sprachliche Zeichen Die Historische Sprache Sprachliche Kreation Die sprachliche Interferenz Sprachliche Interferenz: Definition Interferenz, System, Norm und Rede «Positive» und «negative» Interferenz Interferenz und Hyperkorrektheit Interferenz und Text Neuerung und Wandel Interferenz, Schrift und Schriftlichkeit Phonie und Graphie und die Frage nach «schriftinduzierter» Interferenz und Wandel Gesprochene Sprache und geschriebene Sprache Schriftlichkeit und Mündlichkeit in den romanischen Sprachen Exkurs: Sprachliche Interferenz und «sprachliches Kontinuum» Die Sprecher als Linguisten Primärsprache und Metasprache Metasprache und Sprechhandlung Die Untersuchung des Verhältnisses von Metasprache, Sprechen und Sprache
4 4 5 9 11 12 12 14 16 18 20 22 25 26 28 29 31 37 38 42 43
Zur Fragestellung und Methode Das Untersuchungsobjekt: sprachliche Kreationsprozesse im Gegenwartsgalicischen Das Galicische: Sprache des spanischen Nordwestens Die heutige Sprachsituation Der Ausgangspunkt: Intuition und Fragestellung Der Weg der Untersuchung Der erste Schritt: Analyse von Texten aus Parlament und Radio... Der zweite Schritt: Erste Interviewserie. Biographie, Metasprache, Sprache Der dritte Schritt: Zweite Interviewserie. Biographie, Metasprache, Sprache
45 45 45 53 57 60 60 61 64
VII
2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.6.
Ethische Fragen Erweiterung des Ansatzes: Ist die Vorgehensweise übertragbar? Das Galicische im 19. Jahrhundert Das Galicische im Mittelalter Leistung und Grenzen der Methode
Empirischer Teil. Die Sprache der Informanten und ihre metasprachlichen Urteile 3.1. Die sprachlichen Modelle der Informanten und ihre metasprachlichen Aussagen darüber 3.1.1. Sprecherbiographie und Sprachenwechsel 3.1.2. Neofalantes 3.1.3. Charakterisierung sprachlicher Varietäten 3.1.4. Die Standardsprache 3.1.5. Die Rolle der Kastilianismen 3.1.6. Die Sprache in Radio und Fernsehen 3.1.7. Die Finalität der Varietäten- und Variantenwahl 3.2. Lautlicher Bereich 3.2.1. Vokalismus: System 3.2.2. Vokalismus: Norm 3.2.3. Konsonantismus 3.2.3.1. Sibilanten 3.2.3.2. Velares Nasalphonem/r)/ 3.2.3.3. «Gheada» 3.2.3.4. «Yeismo» 3.2.3.5. Konsonantengruppen der Kultismen 3.3. Verbalsystem: Einzelbeispiele 3.3.1. Este ano ten chovido moito 3.3.2. Antes desa viaxe, nunca tina estado no Peru. 3.3.3. Vou facer, hei facer, farei und A nosa situation ha de mellorar para evita-la crise 3.3.4. Temolo que facer para irmos adiante 3.3.5. Vou sentar na mesa / voume sentar na mesa 3.4. Pronomina: Einzelbeispiele 3.4.1. Teno que ο dicir / teno que dicilo / tenoo que dicir und Ainda estou aqui, pero xa me vou / xa vou / xa voume 3.4.2. Eche unha mifioca 3.5. Artikel: Einzelbeispiele 3.5.1. A casa de meus pais / a casa dos meus pais 3.5.2. A veces / äs veces 3.5.3. Come-lo caldo / comer ο caldo 3.5.4. De todas maneiras / de todalas maneiras 3.6. Wortschatz: Einzelbeispiele 3.6.1. Intre 3.6.2. Meirande
66 67 68 70 71
3.
VIII
73 73 73 78 78 82 82 85 88 89 89 94 109 110 113 117 121 121 125 129 130 132 137 139 140 140 146 148 148 150 151 152 153 154 157
3.6.3. 3.6.4. 3.6.5. 3.6.6. 3.6.7. 3.6.8. 3.6.9. 3.6.10. 3.6.11 3.6.12. 3.6.13. 3.6.14. 3.6.15. 3.6.16.
Mercar Nembargantes De xeito que Co gallo de Coido que Atopar / encontrar Ollar/ ver Xanela Ata/asta Vostede / Uste Ο medico fixome unha proba de mexo Carreteira Teno que acada-lo autobus Ε un curruncho bonito
159 161 163 164 166 167 168 169 170 172 173 175 177 180
4.
Zusammenfassung
181
5. 5.1. 5.2. 5.3.
Literaturverzeichnis Bibliographische Abkürzungen Verwendete Wörterbücher Sekundärliteratur
191 191 192 192
I.
Schema für die metasprachlichen Fragen
201
II.
Fragebogen zur Sprecherbiographie
203
III.
Lesetexte
205
IV.
Transkriptionskriterien
207
V.
Transkriptionen der Interviews
209
Anhang
N° 1 N° 2 N° 3 N° 4 N° 5 N° 6 N° 7 N° 8 N°9 N° 10 N° 11 N° 12 N° 13 N° 14
209 227 239 246 255 262 270 277 283 290 296 304 305 306 IX
N° N° N° N° N° N° N° N° N° N° N° N° N°
15-16 17-18-19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
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318 334 354 359 364 372 379 388 395 405 413 420 429
Einleitung
Das Gegenwartsgalicische, das den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bildet, ist für die Sprachwissenschaft in verschiedener Hinsicht interessant. Zum einen für die Dialektologie, da in den Dialekten des Nordwestens der Iberischen Halbinsel vor allem zahlreiche vergleichsweise archaische, aber auch innovative Züge festzustellen sind, zum anderen für die Soziolinguistik, da die politischen und sozialen Umbrüche der letzten Jahrzehnte eine Reihe von Prozessen ausgelöst haben, die zwar mit denen in anderen Regionen Spaniens vergleichbar sind, in Galicien aber zu einigen eigentümlichen Auswirkungen geführt haben. Als nämlich durch die spanische Verfassung von 1978 neben dem Kastilischen den sogenannten «anderen spanischen Sprachen», also dem Baskischen, Katalanischen und Galicischen, die Kooffizialität in den jeweiligen autonomen Regionen zugesprochen wurde, konnte das Galicische im Gegensatz zum Katalanischen weder auf eine kodifizierte Norm, noch auf eine wirklich gemeinsprachliche Tradition, noch auf ein sprachliches Zentrum oder ein tragendes Bürgertum zählen, und im Gegensatz zum Baskischen konnte das Galicische zwar höhere Sprecherquoten aufweisen, doch wurde gleichzeitig aufgrund der nahen Verwandtschaft zur Kontaktsprache Spanisch und des traditionellen Prestigeverhältnisses deren Einfluß in besonderem Maße zum prägenden Faktor. Durch die veränderte legale und soziale Situation drang das Galicische sehr rasch in neue gesellschaftliche Bereiche vor, wurde Sprache der autonomen Verwaltung, der autonomen Medien, der Politik und des Unterrichts. Doch fehlten nicht nur autochthone sprachliche Modelle für die neuen Texte, es fehlte auch eine ausreichende tragende autochthone Gruppe für die Veränderungen. So kam es, daß paradoxerweise ein beachtlicher Teil der Sprecher, die diese neuen Texte und Texttraditionen schaffen mußten, entweder aus dem Urbanen spanischsprachigen Bürgertum hervorging und Galicisch quasi als Fremdsprache lernen mußte, oder aus solchen Gesellschaftsbereichen stammte, in denen das Galicische zwar präsent war, aber nur noch von den älteren Generationen oder in bestimmten Situationen gesprochen wurde. Zur Vereinheitlichung dieser neuen galicischen Gemeinsprache wurde von galicischen Sprachplanern ein schriftlicher Standard geschaffen, der teilweise auch den mündlichen Gebrauch normiert und durch normative Lehr- und Nachschlagewerke sowie durch Sprachberater, sogenannte «asesores lingüisticos», in den Verlagen, im Radio, im Fernsehen und in sonstigen Institutionen durchgesetzt werden soll. Die Reaktionen der Bevölkerung auf das «neue Galicisch» sind unterschiedlich, sie reichen von der völligen Ablehnung als
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«unauthentisches Galicisch» bis hin zur Bewunderung der «guten Sprache», zeichnen sich aber im allgemeinen durch eine geringe Identifikation mit der Sprache der neuen Texte aus. Es lag nahe, gerade diese neuen Texte und ihre Sprecher zu untersuchen, die an der Schaffung und Verbreitung der neuen galicischen Gemeinsprache in besonderem Maße beteiligt sind, also Radio- oder Fernsehsprecher, an der Sprachplanung beteiligte Linguisten, Studierende der galicischen Philologie und Sprachlehrer. Im Zentrum der Arbeit steht ein (im Anhang transkribiertes) Textkorpus, das auf dreißig Intensivinterviews basiert, die zwischen Sommer 1993 und Frühjahr 1994 in Galicien mit Sprechern des o.g. Typs durchgeführt wurden. Daraus sollte vor allem hervorgehen, welche Kriterien und Strategien die Sprecher anwenden, welche sprachlichen Modelle ihnen dabei zur Verfügung stehen und welche Rolle die Sprachplanung und insbesondere die Kontaktsprache Spanisch spielt. Die Untersuchung der verschiedenen Arten von Interferenzen, auch negativer Interferenzen (Coseriu 1977) und sogenannter hyperkorrekter Formen, geschieht auf der Basis der Beschreibung der Interviewtexte und einer phonetischen Vergleichsanalyse von Leseproben. Da gewisse Interferenzphänomene fast ausschließlich introspektiv zu untersuchen sind (Coseriu 1977, 98) und außerdem die Einstellungen der Sprecher gegenüber den verschiedenen Sprachformen und ihren Sprechern bzw. gegenüber einzelnen «stereotypisierten» Formen (Labov 1972) deren sprachliches Verhalten beeinflussen, wurden in jeweils einem Teil der Interviews die Reaktionen der Sprecher auf verschiedene Sprachbeispiele getestet; grundsätzlich war der Inhalt der Interviews das Sprechen über Sprache. Die Einstellungen der «Sprecher als Linguisten» (Coseriu 1978, 19) und das Verhältnis zwischen metasprachlicher Reflexion und sprachlichem Handeln werden im Hauptteil an phonetischen, grammatischen und lexikalischen Beispielen beschrieben. Bei den untersuchten Phänomenen handelt es sich um Beispiele sprachlicher Kreation, um Erscheinungen der Rede, die aber, da sie zum Teil nicht isoliert auftreten und innerhalb umfassender Konvergenz- und Divergenzprozesse ablaufen, zum Sprachwandel in Bezug gesetzt bzw. von ihm abgegrenzt werden. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil führt auf die theoretische Fragestellung hin und soll außerdem eine allgemeine Beschreibung der für die anderen Teile wichtigen Termini liefern. Es wird versucht, das Verhältnis von Sprachwandel und Interferenz und die Frage der Bedeutung metasprachlicher Reflexion bzw. metasprachlicher Diskurse zu erhellen und in einen sprachtheoretischen Gesamtzusammenhang zu stellen. Dies geschieht vor allem mit Bezug auf die Sprachtheorie Eugenio Coserius, wo die Fragen der sprachlichen Variation und des sprachlichen Wandels einen zentralen Platz einnehmen. Im zweiten Teil, der relativ knapp gehalten ist, wird versucht, auf der Basis der Konzepte des ersten Teils methodische Vorgehensweisen zu entwickeln, auf denen die empirische Untersuchung des dritten Teils basiert. Theorie, Methode und Empirie sind die drei Pfeiler wissenschaftlichen Arbeitens. Sie bedingen sich gegenseitig, und keine Theorie ist möglich ohne empirische Erfahrung, keine Empirie hat einen Sinn ohne theoretische Grund2
läge und eine daraus resultierende Methode. Nun ist es nicht notwendig, in einer wissenschaftlichen Arbeit alle drei Bereiche explizit darzustellen. Es würde genügen, eine empirische Untersuchung anzubieten, die implizit auf einer Theorie fußt oder umgekehrt. Wenn hier alle drei Schritte ausdrücklich ausgeführt werden, so hat dies den besonderen Grund, daß sich die Teile in diesem Falle gegenseitig beleuchten und zu ihrem gegenseitigen Verständnis beitragen können. Zum zweiten und dritten Teil sei noch einiges angemerkt. Es ist in vielerlei Hinsicht begründbar, weshalb ich als empirisches Beispiel das Gegenwartsgalicische gewählt habe. Der erste und wichtigste Grund ist der meiner persönlichen Erfahrung in Galicien und der Beobachtung der hier untersuchten Phänomene über einen längeren Zeitraum hinweg. Jede wissenschaftliche Arbeit beruht letztlich auf einer Intuition, die aus empirischer Erfahrung gewonnen wird. Der Intuition, die in diesem Falle auch aus der Selbstbeobachtung verschiedener Interferenzprozesse resultierte, folgten theoretische und methodische Überlegungen, welche die Situation des Gegenwartsgalicischen als sehr gut geeigneten Fall für die Untersuchung sprachlicher Dynamik erscheinen ließen. Denn erstens entsprechen aufgrund der engen Verwandtschaft der Kontaktsprachen die Interferenzen häufig den Möglichkeiten der jeweiligen Kontaktsysteme und lassen die Beobachtung der Katalysatorfunktion des Sprachkontaktes auf die jeweilige Entwicklung zu. Zweitens kann im Falle Galiciens die Rolle der institutionalisierten Sprachplanung mit in die Untersuchung einbezogen werden, die seit den siebziger- und vermehrt seit den achtziger Jahren in Sprachkorpus und Sprachstatus eingreift. Drittens - und dies hängt eng mit dem eben Gesagten zusammen - hat in Galicien gegenwärtig metasprachliche Kommunikation einen besonders hohen Stellenwert, das Sprechen über die Sprachen und über einzelne Elemente derselben gehört in der in Sprachfragen hochsensiblen galicischen Gesellschaft in besonderem Maße zum Alltag und ist somit besser untersuchbar als in sprachlich und metasprachlich weniger dynamischen Regionen. Viertens befindet sich die galicische Sprache derzeit in einer Phase der «Akzeleration» (Schlieben-Lange 1983, 37) sprachlicher Entwicklung, fünftens erlaubt es die erst langsam sich durchsetzende Kodifikation, einige Beobachtungen zum Verhältnis von Sprache und Schrift und von Mündlichkeit und Schriftlichkeit anzustellen. Und schließlich ist das Galicische in Hinblick auf die hier präsentierte Untersuchung ein noch unbearbeitetes Feld.
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1. Theoretische Einführung
Die folgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, den Inhalt des Hauptteils (Untersuchung individueller Texte im Spannungsfeld der sprachlichen Varietäten, sprachliche Interferenz, Bezug zwischen Interferenz, Schriftlichkeit und Mündlichkeit) in einen allgemeinen sprachtheoretischen Zusammenhang einordnen zu können.
1.1. Konzeptionen von Sprache und sprachliche Ebenen Eine klare Einordnung der einzelnen sprachlichen Erscheinungen ist nur auf der Basis einer klaren Abgrenzung des Begriffes «Sprache» möglich, auch wenn diesem Begriff intuitiv eine klare Vorstellung entspricht. So beziehen sich die drei Aussagen «Die Sprache des Menschen ist anders als die der Bienen», «Deutsch ist eine schwere Sprache» und «Meine Sprache ist etwas nachlässig» alle zweifelsohne auf das Phänomen Sprache, doch hebt jede der Aussagen einen anderen Aspekt hervor, und dem muß bei der wissenschaftlichen Betrachtung Rechnung getragen werden. Wenn Sprache als etwas Naturgegebenes bezeichnet wird1, dann bezieht sich diese Aussage auf etwas anderes, als wenn die Sprache als ein Kulturgut bezeichnet wird oder wenn etwa von «Individualsprachen» 2 die Rede ist. Schon Ferdinand de Saussure (1916/1984, 25ff.) unterschied zwischen drei Ebenen von Sprache, der Sprechfähigkeit («faculte du langage»), der Sprache als System («langue») und der Rede («parole»)3. Ähnlich, aber doch nicht gleich, ist die Unterscheidung der drei sprachlichen Ebenen von Eugenio Coseriu, die wegen ihrer Klarheit dem Folgenden zugrunde liegt. Coseriu unterscheidet zwischen der Ebene des Sprechens im allgemeinen, der historischen Ebene der Einzelsprachen und der individuellen Ebene der Texte. Die Ebene des Sprechens im allgemeinen bezieht sich auf die universelle Sprechfähigkeit des Menschen, auf die Tatsache, daß alle Menschen sprechen bzw. die Welt sprachlich erfassen und daß es eben diese Tatsache ist, die sie von allen anderen Wesen unterscheidet.
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Cf. Noam Chomsky, Problems of Knowledge and Understanding, London 1972, 18ff. Zum Begriff «Sprache» cf. Albrecht 1986,68ff. Paul 1880/1920, 33 und dagegen Coseriu 1957/1978, 63f. Die Idee von den drei Ebenen findet sich vor Saussure schon bei der Unterscheidung Georg von der Gabelentz' (1891/1901, 3) zwischen Sprachvermögen, Einzelsprache und Rede (cf. Eugenio Coseriu, «Georg von der Gabelentz et la linguistique synchronique», Word 23, 74-100.
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Auf dieser Ebene ist auch angesiedelt, was man meint, wenn man von «Naturgegebenheit» oder «genetischer Bedingtheit» der Sprache spricht; das, was allem Sprechen gemein ist und als Objekt der Allgemeinen Sprachwissenschaft untersucht wird. Auf der zweiten, historischen Ebene der Einzelsprachen geht es nicht mehr um naturgegebene und universelle Fakten, sondern um die Einzelsprachen als historische Produkte der menschlichen Tätigkeit, um Kulturgegenstände. Die dritte, individuelle Ebene der Texte schließlich bezieht sich auf die konkrete Realität der Rede, die sowohl individueller Ausdruck der universellen Sprechfähigkeit als auch Äußerung der kulturellen Tradition ist. Alle drei Ebenen lassen sich unter drei unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachten, zum einen als Tätigkeit des Sprechens (im allgemeinen, auf die historischen Sprachen bezogen oder als individuelle Redeakte), zweitens als «Potenz des Sprechenkönnens», d.h. als Fähigkeit zur Tätigkeit, und drittens als Produkt des Gesprochenen (Coseriu 1976, 21). Jede sprachliche Äußerung gehört grundsätzlich zu allen Ebenen: jeder Text kann in bezug auf seine Singularität, in bezug auf seine historisch-kulturellen Bedingungen und in bezug auf seine Universalität hin betrachtet werden, und er kann jeweils von der Fähigkeit des Sprechers aus betrachtet werden, ihn hervorzubringen, vom Hervorbringen selbst und als Ergebnis dieses Aktes. Wenn hier nun individuelle Redeereignisse untersucht werden sollen und dabei sprachliche Interferenzerscheinungen oder metasprachliche Überlegungen im Vordergrund stehen, so geht es um Texte, die auf historische Sprachen bezogen werden. Dabei werden auch Rückschlüsse auf den jeweils individuellen Sprachbesitz der Sprecher gezogen, und es wird untersucht, wie dieser in der Tätigkeit des Sprechens umgesetzt wird. Interferenzen aber sind universelle Phänomene; sie betreffen das Gesprochene im allgemeinen. Die wichtigste Aufgabe der Interpretation besteht also darin, die jeweiligen untersuchten Redeereignisse auf die verschiedenen Ebenen zu beziehen und jeweils zu unterscheiden, was individuelle, historische oder universelle Eigenschaften sind bzw. in welchem Zusammenhang diese stehen.
1.2. Das sprachliche Zeichen In principio erat signum. Die Fähigkeit des Menschen zu sprechen, sprachliche Zeichen zu schaffen, ist universell. Sprachliche Kommunikation besteht im Verkehr von Zeichen. In der Erfassung der Welt in sprachlichen Kategorien, der Bezeichnung, liegt der Schlüssel zum Verständnis der sprachlichen Phänomene. Einige Grundeigenschaften des sprachlichen Zeichens sollen daher in diesem Kapitel beschrieben werden. Saussure 4 stellte als wohl einflußreichster Sprachtheoretiker unseres Jahrhunderts das sprachliche Zeichen ins Zentrum seiner Sprachbetrachtung. Seine 4
Wenn hier von Saussure die Rede ist, so beziehe ich mich auf den Cours de linguistique gänerale in seiner ursprünglich publizierten Fassung (1916/1984). Die Quellentexte des Cours werden hier unberücksichtigt gelassen, auch wenn in dieser Form nur ein indirektes
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Definition von signifie und signifiant als den beiden Seiten des sprachlichen Zeichens ist so klar und einleuchtend, daß sie es leicht hatte, zum Standard zu werden und bis in die Schulbücher vorzudringen. Dennoch kann sie zu einem grundlegenden Mißverständnis der Natur des sprachlichen Zeichens führen, einem Mißverständnis, das zwar Saussure selbst auszuschließen versuchte, das aber eigentlich eine Konsequenz aus seinem ganzen Sprachdenken ist: in der Möglichkeit, signifiant und signifie, das Bezeichnende und das Bezeichnete, als voneinander trennbare Einheiten zu betrachten, die etwa mit zwei Seiten eines Papiers verglichen werden, liegt die Gefahr, sie als starre Nomenklatur anzusehen, die Kreation und Wandel ausschließt. Saussure wehrt sich zwar einerseits gegen diese Sichtweise, indem er von der engen Verbindung beider Seiten spricht und von der Tatsache ihres gegenseitigen Sich-Hervorrufens («s'appelent Tun l'autre», 1916/1984, 99), er wendet sie aber dann doch selbst an5. Saussure scheint zwar um die Bedeutung des Zeichenschaffens als Tätigkeit zu wissen, er betrachtet dann aber das Zeichen dennoch als starres Produkt, um die Beschreibung zu vereinfachen. Dadurch wird aber gerade die kreative Seite der Sprache, die in der Tätigkeit des Sprechens liegt, aus der Betrachtung ausgeklammert. Im Gegensatz zu Saussure steht diese schon bei Wilhelm von Humboldt und der Auffassung von Sprache als Energeia, als zeichenschaffende Tätigkeit (und nicht als Ergon, als fertiges Werk) im Vordergrund, einer Auffassung, die auf Aristoteles zurückgeht und von Coseriu zur Überwindung der Saussureschen Mißverständnisse herangezogen wurde 6 . Die Idee der zwei Seiten von Sprache, die sich gegeneinander hervorrufen, ist auch in der Auffassung von Sprache als Energeia enthalten, die Betonung liegt aber nicht auf den beiden Seiten, die sich hervorrufen, sondern auf dem Akt des Hervorrufens selbst. Indem ein Bereich der Vorstellung abgegrenzt und ihm ein Zeichen zugeordnet wird, wird dieser gleichzeitig als etwas Unterschiedenes geschaffen. Und dieser Akt des Bezeichnens bzw. umgekehrt des Bedeutens ist nicht etwas einmaliges und abgeschlossenes, sondern er wiederholt sich ständig beim Sprechen. Dies ist
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Zeugnis von Saussures Lehre vorliegt; alles andere aber würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Außerdem scheinen Saussures Gedanken über das sprachliche Zeichen im Cours relativ treu wiedergegeben zu sein, wie Rudolf Engler meint («Theorie et critique d'un principe Saussurien: l'arbitraire du signe», Cahiers Ferdinand de Saussure 19, 1962, 5-66): «on peut conclure que Γ expose du CLG presente par Bally et Sechehaye reproduit fidfclement l'enseignement de Saussure.» (S.61). Und schließlich ist Saussure wissenschaftsgeschichtlich viel mehr der Saussure des Cours in seiner verbreiteten Fassung als der «wahre» Saussure. Die Verbindung der beiden Seiten des Zeichens bleibt bei Saussure ein «fait en quelque sorte mystirieux» (1916/1984, 155). Er ist sich der Tatsache, eine «vue simpliste» (ibd., 97) zu präsentieren, durchaus bewußt und kritisiert gerade die Vorstellung von der Nomenklatur («Cette conception est critiquable ä bien des igards», ibd.). Es geht ihm aber vor allem um das Problem des Zeichens als psychische Einheit. An anderer Stelle (ibd., 155) deutet er die Wichtigkeit der Bezeichnung als Tätigkeit an (auch wenn er sich dabei nicht auf das sprechende Subjekt, sondern auf die Sprache selbst bezieht, als wäre sie die treibende Kraft), wenn er sagt, «la langue elabore ses unitis en se constituant entre deux masses amorphes.» (Hervorhebung J.K.) Humboldt 1836, LVff. und Coseriu 1957/1978, 47 (dt. Coseriu 1974, 39).
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die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. (Humboldt 1836, LVII)
Die Sprache ist nicht, sie wird ständig im Sprechen geschaffen: Man muß die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen [...]. (ibd., LV)
Das sprachliche Zeichen hat keine Existenz außerhalb des sprechenden Individuums und wird im Sprechen jedesmal neu aktualisiert. Daher ist auch das Erlernen einer Sprache keine direkte Übertragung von etwas bereits Gegebenem auf einen neuen Sprecher, sondern die Neuerschaffung der Sprache im Sprechen des neuen Sprechers. Die Sprache läßt sich «nicht eigentlich lehren, sondern nur im Gemüthe wecken» (Humboldt 1836, L). Das sprachliche Zeichen ermöglicht den Menschen den Austausch ihrer Erfahrungsinhalte. Dabei spielt es keine Rolle, daß diese Erfahrungsinhalte sich nicht völlig decken 7 , es ist gerade die Formalisierung dieser Inhalte durch sprachliche Zeichen, durch welche die Mitteilung menschlicher Erfahrung erst ermöglicht wird. Folgert man hieraus, das sprachliche Zeichen sei unvollkommen und lasse nur eine unzureichende Kommunikation zu, so verkennt man, daß ein konkretes Sprechen überhaupt nicht möglich ist, weil es nicht mitteilbar wäre, daß sich ohne allgemeine Bedeutungen überhaupt keine Aussage, also auch keine individuelle, vollziehen läßt und daß in keinem logisch relevanten Sinn von Denken, Urteilen, Erkennen die Rede sein kann auf Grund bloß direkter Individualvorstellungen. (Husserl 1901/1984, 172)
Die Vorstellung von «konkreter Sprache» und von der Unvollkommenheit der abstrakten Sprache war schon von Locke formuliert worden, ein Gedanke, der von Jorge Luis Borges in seiner Geschichte von Funes el memorioso glänzend parodiert wurde8 und sich etwa in Juan Ramon Jimenez' Klage ausdrückt, in der sich dieser nach der Identität von Wort und Sache sehnt 9 . Doch ist dies eine utopische Vorstellung, da die konkrete Sprache überhaupt keine Sprache ist, sondern die Vorstellung selbst, und diese ist nicht «konkret» mitteilbar und führt auch zu keinerlei Erkenntnis. Wenn aber das sprachliche Zeichen in individuellen Akten geschaffen wird, dann ist zu fragen, warum es überhaupt Sprachen als historische Gebilde gibt und nicht jeder Sprecher seinen Ausdruck stets neu erschafft 10 . Dem 7
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«Das wechselseitige Verständnis erfordert eben eine gewisse Korrelation der beiderseitigen in Kundgabe und Kundnahme sich entfaltenden psychischen Akte, aber keineswegs ihre volle Gleichheit.» (Husserl 1901/1984,41). Cf. Coseriu 1957/1978, 76 (dt. 1974, 65). Cf. Jorge Luis Borges, Narraciones, Madrid 1986. Borges sagt selbst über Funes: «Sospecho, sin embargo, que no era muy capaz de pensar. Pensar es olvidar diferencias, es generalizar, abstraer.» (S. 119). Ein ähnlicher Gedanken findet sich bei Borges auch in der Geschichte von der perfekten Landkarte Englands, die so groß ist, wie England selbst und die alle Details des Originals enthält. Eine solche Karte wäre keine Landkarte mehr, sondern eine Kopie Englands (ibd., S. 129). Die Idee von der Imperfektion von Sprache findet sich auch bei Alfred N. Whitehead, Prozeß und Realität, Frankfurt 1979, 45ff. «INTELIJENCIA, dame/el nombre exacto de las cosas!/... Que mi palabra sea/la cosa misma» (Juan Ramön Jimenez, Eternidades, Madrid 1982, 615). Cf. Coseriu 1957/1978,69f. (dt. 1974, 59).
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widerspricht die grundsätzliche sprachliche Funktion der Alterität: Es wäre unsinnig und widerspräche dem Zweck des Zeichenschaffens, wenn andere den Akt der Kreation nicht nachvollziehen könnten. Sprechen ist MiteinanderSprechen, das sprachliche Zeichen ist auf andere ausgerichtet. Wenn aber die Akte des Hervorrufens von Zeichen von verschiedenen Menschen nachvollzogen werden sollen, so ist dies nur möglich, wenn diese eine geteilte Geschichte haben, wenn sie die gleiche Sprache sprechen. Der Mensch ist ein historisches Wesen, und die Alterität von Sprache ist daher nur möglich durch ihre Geschichtlichkeit, ihre Historizität. Daß es aber nicht nur eine, gemeinsame historische Tradition, sondern verschiedene Sprachen gibt, wird durch zwei Eigenschaften bedingt, die eng mit dem Gesagten zusammenhängen: Zum einen sind die sprachlichen Zeichen nicht festgelegt, sondern beliebig, und zum anderen sind Sprachen Korrelate historischer Gemeinschaften, deren Angehörige durch die Verwendung der jeweiligen Sprache Teil der Sprachgemeinschaft sind und sich gegenüber anderen Gemeinschaften abgrenzen. Was die Vorstellung von der prinzipiellen Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens betrifft, so wird diese heute meist Ferdinand de Saussure zugeschrieben und ist im Hinblick auf seine Sprachtheorie ausführlich diskutiert worden11, das Prinzip läßt sich aber weit zurückverfolgen 12 . Es bezieht sich darauf, daß zwischen signifie und signifiant, der bezeichneten Idee und der Lautvorstellung, die ihr assoziiert wird, keinerlei zwingende Beziehung besteht, wie Saussure sagt, «on ne voit pas ce qui empecherait d'associer une idee quelconque avec une suite quelconque de sons» (Saussure 1916/1984, 110). Es bezieht sich auf die Freiheit des Kulturgegenstandes Sprache, auf die Tatsache, daß die sprachlichen Zeichen nicht naturgebunden sind und ausschließlich auf einer Übereinkunft der Sprecher beruhen, nicht aber auf einer apriorischen Notwendigkeit 13 . Arbitrarität und Historizität bedingen sich gegenseitig: weil das Zeichen arbiträr ist, muß es sozial festgelegt werden, und die soziale Festlegung kann nur deshalb geschehen, weil das Zeichen arbiträr ist. Um dieses Wechselverhältnis geht es schließlich bei allen kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen14. Die sprachlichen Zeichen werden als Kulturphänomene von Sprecher zu Sprecher tradiert, jedoch nicht als feste, präexistente Einheiten, sondern als Abstrakta, die von jedem Sprecher neu in 11
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So sagt Christmann 1972, 241: «Die Saussureschen Ideen sind so oft und so breit diskutiert worden, daß man sich fragt, ob denn zu diesem Gegenstand überhaupt noch etwas originelles zu sagen sei.» Coseriu 1968 hat die Traditionslinie dieses Prinzips durch die ganze Geschichte der Sprachwissenschaft hindurch bis zu Aristoteles zurückverfolgt. Eine andere Auffassung vertritt etwa Porzig 1975, 13-49, indem er die platonische Diskussion aus dem Kratylos wieder aufgreift. Coseriu (1970, 63 und passim) hat darauf hingewiesen, daß im Gegensatz hierzu bei Aristoteles «das Problem der der Namen überhaupt nicht gestellt» wird und dieses «in Wirklichkeit entsprechend der aristotelischen Fragestellung eine sinnlose Problematik» ist. Deshalb sagt auch Saussure über das Prinzip, «ses consiquences sont innombrables» (1984, 110), und Tullio de Mauro meint dazu, «l'aspect central du principe de l'arbitraire dans Γ edifice theorique saussurien ne sera jamais assez souligne» (in: Saussure 1916/1984,404).
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kreativen Akten zur Welt seiner Erfahrung in Bezug gebracht werden. Sie stellen die abstrakte Ebene dar, welche die individuelle Erfahrung mitteilbar, also teiPods macht15. Die Mitteilung durch Sprache ist ein Grundbedürfnis aller Menschen, und ohne die Verständigung mit anderen Menschen durch Sprache wären wir wohl nicht lebensfähig. Der sozial-konventionelle Charakter des Zeichens hat zur Folge, daß einerseits nur über Mitteilung, d.h. über sozialen Kontakt ein Zeichensystem überhaupt vermittelt werden kann, daß also die Reichweite der Kommunikationsmöglichkeiten an historisch-kulturelle und nicht etwa an biologische Tradition gebunden ist, und daß andererseits Begrenzungen der Systemreichweiten möglich und notwendig werden16. Dies ist die zweite Konsequenz von Historizität und Alterität: Sprechen ist Wie-Andere Sprechen, Schaffung von Kongruenz zwischen den Sprechern. Der Kongruenz entspricht gleichzeitig die Divergenz gegenüber Anderen. So wird Sprache zum Merkmal menschlicher Identität. Sie funktioniert sowohl positiv zur Bestimmung der eigenen Identität als auch negativ zur Abgrenzung gegenüber der Identität anderer17. Im Sprechen zeigen die Menschen ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen von Sprechern, sie bestimmen ihre Position im sozialen Raum. Man könnte meinen, daß dies nicht mehr die Sprachtheorie, sondern die Soziologie oder die Sozialpsychologie beträfe. Es ist aber unmöglich, die Realität der sprachlichen Interaktion zu verstehen, wenn die identitätsstiftende Funktion von Sprache und ihr sozialer Kontext ausgeklammert werden.
1.3. Die Historische Sprache Sprachliche Zeichensysteme sind Ausdruck historischer Gemeinschaften. Die sprachlichen Zeichen sind nicht isoliert, sondern Elemente bestimmter Sprachen. Da Sprechen Miteinander-Sprechen ist, muß jede sprachliche Äußerung einer bestimmten Sprache zugeordnet werden können, die Sprecher und Hörer gemeinsam ist, ansonsten wäre Verständigung nicht möglich. Das, was wir meinen, wenn wir von einer bestimmten historischen Sprache, etwa von «Deutsch» oder «Russisch» sprechen, kann aber zweierlei 15
16
17
Cf. Friedrich Hölderlin, «Seyn, Urtheil, Modalität», in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, Bd. Π, München/Wien 1992,49f. Wobei nicht ausgeschlossen werden soll, daß es nicht eine Art von «universeller Kommunikation» gäbe. Erstens gibt es Kommunikationsverfahren, die zwar nicht sprachlich, so aber doch universell sind. Zweitens ist wohl die ganze Menschheit kulturhistorisch mehr oder weniger miteinander verwoben. Und drittens ist die Fähigkeit des Bezeichnens/Bedeutens universell, d.h. bei jeder Kommunikation werden ständig Zeichen geschaffen, und es ist daher nie auszuschließen, daß Verständigung entstehen könnte (cf. auch Gabelentz 1891/1901, 67). Die beiden von Schuchardt 1870/1928, 171 festgestellten Grundtendenzen des Sprechens, die zur Konvergenz und Divergenz von Sprachen führen, weisen auf diese Grundeigenschaft hin. Labov 1972, 324 hat die Vermutung geäußert, sprachliche Divergenz sei evolutionär notwendig: «I am inclined to believe that the development of linguistic differences has positive value in human cultural evolution - and that cultural pluralism may even be a necessary element in the human extension of biological evolution.»
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sein: entweder wir beziehen uns auf eine bestimmte Form dieser Historischen Sprache18, die gemeinschaftlich fixiert und einheitlich ist, auf die Gemeinsprache, oder aber auf ein Gefüge von Traditionen, das zeitliche, räumliche, soziale und stilistische Variation mit einschließt. Leiv Flydal hat in einer Auseinandersetzung mit der Saussureschen Vorstellung vom «Sprachzustand» (Saussure 1916/1984, 117ff.) die Begriffe der diatopischen und diastratischen Variation geprägt (Flydal 1951), die von Coseriu um den Begriff der diaphasischen Variation erweitert wurden19. Demnach ist eine historische Sprache ein Gebäude mit drei Varietätendimensionen, das zudem zeitlich ist. Jede Varietät basiert auf einem funktionellen System, das ein System von technischen Möglichkeiten zum Sprechen ist. Es ist ein virtuelles System, ein Regelwerk der sprachlichen Struktur, das nicht eine Erfindung der Linguisten, sondern Teil der sprachlichen Kompetenz der Sprecher ist, wie man daran sieht, daß die Sprecher aufgrund des Systems neue Ausdrücke schaffen können, indem sie seine Regeln anwenden 20 . Doch wird nur ein Teil dessen, was nach dem System möglich ist, auch realisiert. Wir lachen über die Kinder, wenn sie Ausdrücke benutzen, die wir zwar verstehen, von denen wir aber wissen, daß sie normalerweise nicht so gesagt werden, wie etwa «tragte» statt «trug» oder «gegebt» statt «gegeben»21. Dabei machen sie eigentlich nur von den Möglichkeiten des Systems Gebrauch, indem sie von anderen Ausdrücken Regeln ableiten, die dann auf die neuen Ausdrücke übertragen werden. Coseriu hat das, was in einer Sprache üblicherweise aus den Möglichkeiten des Systems auch realisiert wird, die Norm einer Sprache genannt, weil sie dem entspricht, was von den Sprechern als normal akzeptiert und normalerweise verwendet wird 22 . Die Norm schränkt einerseits die Möglichkeiten des Systems in der Praxis ein, da sie nur dem Teil der Möglichkeiten entspricht, der auch realisiert wird, andererseits geht sie über das System hinaus, da das Wissen um die normale Realisierung ein Zusatzwissen ist, das zur Beherrschung einer Sprache gehört: es gehört auch zur sprachlichen Kompetenz, zu wissen, wie die Regeln normalerweise angewandt und traditionell realisiert werden. Wenn z.B. im spanischen Lautsystem nur fünf Vokalphoneme unterschieden werden, so ist es doch jedem Sprecher der spanischen Sprache bekannt, daß etwa das erste e in verde offen, das zweite
18 19 20
21
22
Zur Terminologie cf. Coseriu 1980. Cf. Coseriu 1980,111. Sie können z.B. mit den Regeln der Wortbildung neue Ausdrücke schaffen. Mit einer Wortbildungsregel wie etwa dt. Verbstamm + 'bar' = «als Objekt zur Durchführung der Verbhandlung fähig» können im Prinzip unendlich viele Ausdrücke gebildet werden. Diese haben teils Tradition (eßbar, trinkbar, befahrbar etc.), würden aber aufgrund der Systemkenntnis auch dann verstanden, wenn sie keine Tradition hätten, wie dies wahrscheinlich bei rasierbar, liebbar etc. der Fall ist. Cf. Porzig 1975, 19 und Coseriu 1957/1978, 76 (dt. 1974, 64). Es ist erwähnenswert, daß der Unterschied zwischen Systemerlernung und traditioneller Realisierung des Systems vor wenigen Jahren auch von Ronald Langacker festgestellt wurde und ihn zu dem führt, was er ein «Usage-based-model» nennt, ein Grammatikmodell, das einerseits auf Regeln, andererseits auf festgelegten Traditionen aufbaut, die bestimmten üblichen Realisierungen entsprechen (Langacker 1988). Coseriu 1952 (in: Coseriu 1973) u. 1957/1978,53ff. (dt. 1974,46ff.).
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hingegen geschlossen realisiert wird ['beröe] 23 , und wenn jemand ['beröe] aussprechen würde, so würde er zwar verstanden werden, da sein Ausdruck die Systemgrenzen von /berde/ nicht überschritten hätte, man würde sich aber über seine eigenartige, unnormale Aussprache wundern. Eine Historische Sprache ist also ein Gefüge funktioneller Sprachen mit ihren jeweiligen Normen24. Als sozial bestimmte institutio hominum ist sie ein Gefüge von Traditionen und umfaßt den gemeinschaftlichen, sich auf diese Traditionen beziehenden Teil der individuellen Redeakte.
1.4. Sprachliche Kreation Wenn im vorigen Abschnitt von Systemen und Normen der historischen Sprache die Rede war, so mag man sich wundern, wo hier die Möglichkeit einer Veränderung liegen soll. Man könnte versucht sein, die Traditionen als starre Gefüge aufzufassen und die Kreativität des Individuums auf das Wiederschaffen von bereits zuvor Gegebenem, also auf die ausschließliche Erlernung von bereits bekannten Ausdrücken zu reduzieren. Es wurde aber schon gesagt, daß Sprechen kreatives Schaffen ist und daß es daher beim Sprachenlernen nicht nur um die Übernahme von Bekanntem geht, sondern auch um die Übernahme von Techniken, die dazu befähigen, Neues zu schaffen 25 . In den folgenden Abschnitten soll es daher um das Verhältnis von individueller Kreation und Sprache gehen. Im Gegensatz etwa zu einer Maschine, deren Leistungsgrenze in der von ihr zu verrichtenden, vorgegebenen Tätigkeit liegt, ist die kreative menschliche Tätigkeit frei und unbegrenzt. Ein Sprecher kann mit der Technik einer Sprache neue Ausdrücke schaffen, und dies muß nicht daran liegen, daß er die Tradition der Sprache nicht kennt, es kann auch darin begründet sein, daß er über diese hinausgehen will26. Der Ort der sprachlichen Innovation sind die Texte bzw. Diskurse. Es sind zwei mögliche Kreationsprozesse denkbar27: - die innersprachliche Kreation, 23 24
25 26
27
Cf. Coseriu 1952/1973,72 u. Navarro Tomäs 1957, 53. Weinreich 1954, 390 spricht von Diasystem·, bei Weinreich bezieht sich dies jedoch nur auf die funktionellen Sprachen, während die Historische Sprache bei Coseriu ein Gefüge von Varietäten mit ihren jeweiligen Systemen und Normen ist. Cf. Coseriu 1957/1978, 95ff. (dt. 1974, 80ff.). Wenn ein Dichter wie Paul Celan etwa Ausdrücke wie «Hirnsichel», «Denksträuße» oder «Niemandsrose» schafft, so nutzt er bewußt die Möglichkeiten des deutschen Systems. Ein Kind, das «tragte» statt «trug» sagt, tut dies normalerweise nicht aus einer bestimmten ästhetischen Absicht, sondern weil es die Norm des Deutschen nicht kennt. Ob nun aber Nichtwissen oder bewußtes Schaffen der Grund ist: in beiden Fällen wird mit den Möglichkeiten eines Systems ein neuer Ausdruck geschaffen. Cf. Martinet 1955, 192. Genauer ist die Unterscheidung bei Coseriu (1978, 79; dt. 1974, 67f): «a) alteracion de un modelo tradicional; b) selection entre variantes y modos isofuncionales existentes en la lengua; c) creation sistemätica ( de formas de acuerdo con las posibilidades del sistema); d) prestamo de otra (que puede ser total ο parcial y, con respecto a su modelo, puede implicar tambiin ); e) economia funcional (descuido de distinciones superfluas en el discurso). Y quizäs puedan establecerse otros tipos mäs.»
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- die Kreation aufgrund der Beeinflussung durch andere Sprachen. In bezug auf die individuelle Ebene sind die beiden Prozesse nicht zu unterscheiden: die Unterscheidung bezieht sich auf das Verhältnis von individueller Kreation und historischer Tradition, also von der individuellen zur historischen Ebene. Bei der innersprachlichen Kreation schafft der Sprecher einen neuen Ausdruck mit den technischen Möglichkeiten, die ihm ein Sprachsystem bietet, etwa durch die Bildung von Ausdrücken mit Verfahren der Wortbildung, durch Analogien etc. Die Kreation durch Übernahme aus anderen Sprachen wird durch Sprachkontakt ermöglicht. Die historischen Sprachen und ihre Varietäten sind nicht klar voneinander getrennt, sie treten beim Sprechen miteinander in Berührung. Der Ort des Kontaktes ist das Individuum, dessen Wissen normalerweise über die einzelsprachliche Kompetenz hinausgeht28, da sein individueller Sprachbesitz die - zumindest partielle - Kenntnis mehrerer Varietäten einer oder verschiedener historischer Sprachen mit einschließt. Dabei spielt es für die Verfahren der Übernahme zunächst keine Rolle, ob es sich um entfernte Sprachen, verwandte Sprachen oder nahe verwandte Varietäten einer Sprache handelt. Im Sprechen eines Individuums können Elemente aus verschiedenen Sprachen einfließen: Der Sprecher ist der Ort des Sprachkontaktes, der sprachlichen Interferenz. 1.4.1. Die sprachliche Interferenz In den folgenden Abschnitten wird die sprachliche Interferenz als Form sprachlichen Schaffens beschrieben, in ihren unterschiedlichen Ausprägungen dargestellt und zum sprachlichen Wandel in Bezug gebracht. 1.4.1.1. Sprachliche Interferenz: Definition Unter sprachlicher Interferenz verstehen wir nach Uriel Weinreich folgendes: Diejenigen Fälle der Abweichung von den Normen der einen wie der anderen Sprache, die in der Rede von Zweisprachigen als Ergebnis ihrer Vertrautheit mit mehr als einer Spache [sie!], d.h. als Ergebnis des Sprachkontaktes vorkommen, werden a l s l n t e r f e r e n z erscheinungen verzeichnet. (Weinreich 1953/1976, 15)
Diese «klassische» Definition findet sich in ähnlicher Form auch bei anderen Autoren29. Damit soll gleich zu Beginn dieses Kapitels eine häufige Verwechslung ausgeräumt werden, nämlich die von Interferenz als Phänomen des Sprachkontaktes innerhalb eines Individuums einerseits und der Tradition der auf Kontakt beruhenden Phänomene in einer Gemeinschaft andererseits: zwi28 29
Cf. Martinet 1955, 192 und Coseriu 1988, 154. Cf. Lehiste 1988, lf.; Juhäsz 1970, 9; Tesch 1978, 31. Der Terminus wurde 1915 zum erstenmal auf die Sprache bezogen; nach dem Luxemburger Kongreß zum Bilingualismus 1928 und den Internationalen Linguistenkongressen in Genf 1931 und in Kopenhagen 1938 fand die Interferenzforschung in der Sprachwissenschaft ihren festen Platz. Ein knapper und guter Überblick über die frühe Forschungsgeschichte findet sich bei Juhäsz 1970, 17-20.
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sehen Interferenz, sprachlichem Wandel und sprachlicher Tradition. Schon Weinreich definiert nämlich zunächst Interferenz wie oben, führt aber dann zahlreiche Beispiele an, die eigentlich nur mittelbar seiner Definition entsprechen, da sie Erscheinungen darstellen, die bereits in einer Gemeinschaft zur Tradition geworden sind30. Aufgrund der schweren Trennbarkeit von Interferenz und Wandel hat Lluis Payrato in einer Arbeit zum Katalanischen vorgeschlagen, den Begriff weiter zu fassen und ihn sowohl für den Prozeß der Veränderung sprachlicher Normen aufgrund von Zweisprachigkeit als auch für deren Tradition zu verwenden, also für Interferenz, Sprachwandel und Tradition des neuen Sprachmodus: una interferencia, en sentit ampli, es un canvi linguistic (= una innovaciö, una perdua, una substituciö) que te lloc en una llengua A (ο registre), i que es motivat directament per la influencia d'una llengua Β (ο d'un altre registre de la mateixa llengua, si aixi s'especifica). (Payrato 1985, 58, Hervorhebung im Original)
Dies führt aber so weit daß selbst etwa die im Mittelalter ins Katalanische eingeführten Latinismen oder andere integrierte Elemente als Interferenzen bezeichnet werden könnten, was bei Payrato auch geschieht 31 . Durch eine solche Ausweitung verliert der Terminus vollkommen an Gebrauchsfähigkeit, da in diesem Sinne eigentlich alle Elemente einer Sprache letztlich Interferenzen wären. Die Gleichsetzung von Interferenz und Sprachwandel ist unsinnig. Beim sprachlichen Wandel sind nämlich verschiedene Prozesse klar zu unterscheiden: einerseits auf die Sprache bezogen die Innovation in der Rede eines Individuums und der Wandel im sprachlichen Wissen. Auf die Sprachgemeinschaft bezogen ist zu unterscheiden zwischen der Übernahme einer Innovation, ihrer Ausbreitung aufgrund der Übernahme durch mehrere Individuen, der Selektion zwischen der alten und neuen Form und der schließlich entweder erfolgenden Ersetzung der alten Form durch die neue, der Wiederherstellung der alten Form oder der Verteilung zwischen neuer und alter Form in der Norm einer Sprache32. Die sprachliche Interferenz ist zum einen Adoption, und zwar in bezug auf die Sprache, auf die sie zurückzuführen ist, da die Interferenz in der Übernahme eines sprachlichen Faktums aus dieser Sprache besteht. In bezug auf die Sprache aber, in der die Interferenz sich zeigt, ist sie Kreation, Innovation und als solche kein «Wandel»: «la innovation no es 'cambio'» 33 . Selbstverständlich kann eine Interferenz zum sprachlichen Wandel führen, denn jedem 30 31
32 33
Dies stellt etwa auch Payratö 1985, 60 fest. Manche Autoren verwenden einen solchen ausgeweiteten Interferenzbegriff, etwa Brauli Montoya i Abad, La interferencia lingüistica al sud Valencia, Valfencia 1989, wo eine dialektologische Beschreibung mit Bezug zur Sprachgeschichte (d.h. zu gewissen kastilischen Einflüssen in den untersuchten Dialekten im Verlaufe der Sprachgeschichte) als Interferenzstudie bezeichnet wird. Coseriu 1983, 56f. u. 1957/1978, 68ff. (dt. 1974, 58ff.). Coseriu 1957/1978, 79 (dt. 1974, 68). In vielen Arbeiten zum «Sprachwandel» wird diese wichtige Unterscheidung nicht gemacht, wenn nämlich Einzeltexte untersucht werden, in denen sprachliche Eigentümlichkeiten festgestellt werden, die von der üblichen Tradition abweichen. Solange es sich dabei um individuelle Kreationen (etwa um Interferenzen) handelt, können diese nur als Neuerungen betrachtet werden, nicht jedoch als Wandel.
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W a n d e l liegt schließlich e i n e N e u e r u n g zugrunde. N u n ist es aber gerade das Verhältnis v o n Interferenz und W a n d e l , das näher betrachtet w e r d e n m u ß . Zunächst sollen jedoch verschiedene weitere Unterscheidungen eingeführt werden 3 4 . 1.4.1.2. Interferenz, System, N o r m und Rede B e i W e i n r e i c h findet sich bereits die Unterscheidung z w i s c h e n Interferenzen in der langue
und Interferenzen in der parole35.
D i e s e Unterscheidung basiert
j e d o c h s c h o n bei Weinreich auf einer g e w i s s e n terminologischen, o b e n a n g e deuteten Ungenauigkeit:
die eigentlichen
Interferenzen im Sinne
W e i n r e i c h s eigener D e f i n i t i o n werden als Interferenzen in der parole
net, d i e R e s u l t a t e d e s auf I n t e r f e r e n z e n b a s i e r e n d e n S p r a c h w a n d e l s Interferenzen in der
von
bezeichals
langue36.
D i e s e B e t r a c h t u n g s w e i s e , die mit e i n e m in der S a u s s u r e s c h e n Tradition stehenden, außerhalb des Individuums a n g e s i e d e l t e n langue-Begriff
zusam-
m e n h ä n g t , ist m i ß v e r s t ä n d l i c h und v e r w i s c h t d i e Klarheit d e s T e r m i n u s Interferenz. Es ist aber trotzdem sinnvoll, den Interferenzbegriff zur Vorstellung v o n langue,
besser gesagt, zu den erweiterten Kategorien System,
Norm
und Rede in B e z u g zu bringen. Interferenzen sind Äei/eereignisse. S i e gehören der individuellen E b e n e der T e x t e b z w . Diskurse einer Sprache an (der parole
i m S a u s s u r e s c h e n Sinne).
S i e sind als individuelle E l e m e n t e , die ihren Ursprung in der Kenntnis einer 34
Bei der Klassifikation von Interferenzen unterscheidet Payratö in der oben zitierten Arbeit zwischen vier Typen von Interferenz: «I. Elements de procedfencia forana adaptats al llarg de la histöria d'una Uengua [...]. II. Elements del mateix tipus que I, perö que han estat integrats i reconeguts per la normativa actualment [...]. III. Elements tambe de procedencia externa al sistema i d'us generalitzat entre eis parlants, perö no acceptats per la normativa de la comunitat [...]. IV. Treis ο elements forasters (=que pertanyen a una llengua A), que utilitza un parlant bilingüe quart s'expressa en una llengua B. No es donen en eis monolingües, ni la normativa eis accepta» (Payratö 1985, 59). Nach diesen Unterscheidungen sind nur die unter IV. fallenden Phänomene Interferenzen im hier verwendeten Sinne. II. und III. beziehen sich auf die Standardsprache, also auf eine ganz bestimmte Sprachform, und haben nur unter normativen Gesichtspunkten Bedeutung, und I. ist eine rein sprachhistorische Kategorie, die sich auf die Ergebnisse des Sprachwandels bezieht. Payratö untersucht den Prozeß von IV. nach I., also den Weg von der Interferenz zur Akzeptanz in der Standardsprache. Dabei handelt es sich aber um verschiedene Prozesse von Interferenz und Wandel, nämlich einerseits Interferenz in Texten der Umgangssprache, deren Ausbreitung (also Wandel) in dieser Sprache, dann um Interferenz umgangssprachlicher Elemente in standardsprachlichen Texten und schließlich Wandel der Standardsprache, d.h. Übernahme des neuen Modus in den Standard. Die Interferenz zwischen Sprachen ist aber ein allgemeines Phänomen und sollte von Kategorien wie «Standard» und «Normative» getrennt werden, denn diese verwirren nur bei der Darstellung von etwas, das genauso Standardsprachen wie jede andere Sprachform betreffen kann.
35
Weinreich 1953/1976, 27f. Juhäsz 1970, 10 kritisiert Weinreichs Unterscheidung und hält sie für überflüssig (cf. auch Juhäsz 1977, 3: «Jede Interferenz ist [...] prinzipiell ein Begriff der parole, jede Integration ein solcher der langue»). So auch Payratö 1985, 60: «Interferencia en la parla: fruit del coneixement de dues llengües per part del bilingüe [...]. Interferfencia en la llengua: quan eis fenömens d'interferencia esdevenen habituals i el seu us ja no depfen del bilingüisme; els elements estrangers s'integren en el sistema.»
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anderen Sprache als der im Text/Diskurs verwendeten haben, neue Redeereignisse; sie können die Traditionen einer Sprache verändern bzw. neue Traditionen schaffen. Bis auf besondere Fälle «verletzen» Interferenzen die Norm einer Sprache37, sie entsprechen nicht ihrer üblichen Realisierung. Doch nicht alle Interferenzen, die die Norm verletzen, verletzen gleichzeitig auch das Sprachsystem, ihr funktionelles Regelwerk. Diese Unterscheidung, ob interferenzbedingte Redeereignisse sich innerhalb der Regeln einer Sprache bewegen, d.h. ob sie korrekt sind im Sinne des Systems oder nicht38, ist vor allem für die eventuelle Übernahme durch andere von Bedeutung. Wenn etwa ein Sprecher aufgrund seiner Muttersprache in einem gemeinsprachlichen deutschen Text /r/ als labialen Vibranten ausspricht, so verletzt er lediglich die Norm, nicht aber das System der Sprache, und er wird dennoch verstanden. Spricht jedoch ein Sprecher, etwa weil seine Muttersprache brasilianisches Portugiesisch ist, initiales Irl wie [h] aus und sagt im Deutschen f'hajs] für , so wird er wahrscheinlich mißverstanden, da die Unterscheidung /h/ und /r/ im Deutschen bedeutungsrelevant ist, d.h. daß ihre Nichtunterscheidung das System des Deutschen verletzt. Wenn die Norm des kastilischen Spanisch 39 für Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit das preterito definido verwendet und etwa Hace cinco minutos he visto a mi hermano als «normal» empfunden wird, so ist es höchstens ein Verstoß gegen die Norm, nicht aber gegen das System, zu sagen Hace cinco minutos vi a mi hermano, wie es etwa aufgrund von galicischer Interferenz möglich ist 40 . Norm37
38
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40
Coseriu 1977, 98f. weist auf die Möglichkeit von Interferenzen bei eng verwandten Sprachen hin, die weder System noch Norm verletzen. Diese sollen hier aber nicht näher betrachtet werden, denn schließlich sind sie «für die objektive Betrachtung der Texte in historischer Sicht belanglos» (1977,99). Zum Begriff der Korrektheit siehe Coseriu 1978, 87 (dt. 1974, 74), 1990, 49ff. und 1977, 98. Die Unterscheidung zwischen Interferenzen, die das System verletzen, und Interferenzen, die «nicht das Sprachsystem (System der Möglichkeiten), sondern nur die Sprachnorm (die Ebene der traditionellen Realisierung des Systems)» betreffen, hat bereits Coseriu 1977, 92 selbst getroffen. Im Hinblick auf das Bewußtsein der Sprecher und die soziolinguistische Relevanz dieser Unterscheidung könnte man einwenden, daß dieser Unterschied irrelevant sei, da sowohl funktionelle als auch nicht funktionelle Elemente von den Sprechern bewertet werden können und zur Identifikation der Sprecher mit einer Gemeinschaft dienen (cf. Weinreich/Labov/Herzog 1968,132). Doch sind System und Norm nicht nur Beschreibungskategorien, sondern auch Kategorien für die Sprecher selbst, wie Weinreich 1953/1976, 42ff. implizit andeutet, wenn er von einem Typ von I n t e r f e r e n z spricht, der «keinerlei u n m i t t e l b a r e V e r w i r r u n g im s e k u n d ä r e n Phonemschema» anrichte, und dazu meint, er sei für die «Ausbreitung in der Sekundärsprache favorisiert», da er vom Standpunkt der Ökonomie aus eine Erleichterung für die Sprecher bedeute (was sich natürlich nur auf die Sprecher beziehen kann, die sich in der Kontaktsituation befinden). Im Unterschied zum Spanischen Amerikas und zu gewissen dialektalen Formen des Spanischen auf der Iberischen Halbinsel. Das «Verstehen» von interferenzbedingten Redeakten ist dem Verstehen von Redeereignissen anderer sprachlicher Varietäten völlig analog. Wenn etwa ein Lateinamerikaner Hace cinco minutos vi a mi hermano sagt, so kann dies zwar, wenn er «spanisches» Spanisch sprechen will, als Interferenz interpretiert werden. Er kann aber auch einem Spanier gegenüber einfach in seiner Heimatvarietät sprechen. Die Unterschiede der v e r s c h i e d e n e n V a r i e t ä t e n des Spanischen können zwar in E i n z e l f ä l l e n zu Mißverständnissen führen (cf. Angel Rosenblat, El castellano de Espana y el castellano de
15
Interferenzen gibt es in allen Bereichen der Sprache41. Die Unterscheidung zwischen System- und Norminterferenz findet sich implizit auch in strukturalistischen Arbeiten, die etwa zwischen phonetischer und phonologischer Interferenz unterscheiden42. 1.4.1.3. «Positive» und «negative» Interferenz In einem Aufsatz von 1977 hat Eugenio Coseriu darauf hingewiesen, daß es auch Fälle von Interferenz gibt, bei denen ein Sprecher aufgrund seiner Mehrsprachigkeit gewisse Möglichkeiten einer Sprache nicht nutzt. Dabei unterscheidet er zwei Formen von negativer Interferenz, einerseits die NichtRealisierung gewisser Möglichkeiten einer Sprache Β aufgrund der Bevorzugung von gemeinsamen Elementen zweier Kontaktsprachen Α und Β und andererseits die Bevorzugung gerade der von der Kontaktsprache unterschiedlichen Elemente und folgliche Nicht-Realisierung gemeinsamer Elemente. Die negative Realisierung des beiden Sprachen Gemeinsamen kann der Finalität entsprechen, Interferenzen zu vermeiden. Am Beispiel von Geisteswissenschaftlern mit hervorragenden Fremdsprachenkenntnissen hat Coseriu gezeigt, daß diese beim Sprechen oder Schreiben der Fremdsprachen bestimmte Strategien zur Umgehung von Interferenz anwenden. Da die Sprecher wissen, daß sie Gefahr laufen, Elemente der Muttersprache in die Fremdsprache zu übertragen, vermeiden sie gewisse Ausdrücke, von denen sie nicht sicher sind, ob sie nicht auf Interferenz beruhen und verwenden stattdessen andere, bei denen dies ausgeschlossen ist. Diese negative Interferenz43 besteht daraus, daß man bei verwandten Sprachen
41
42 43
America. Unidady diferenciaciön, Madrid 1970), sie können aber im allgemeinen auf ein gemeinsames System bezogen werden. Das Fremdverstehen, d.h. die Rückbeziehung fremder Normen auf ein System kann sehr weit gehen und macht z.B. eine gewisse Verständigung zwischen Deutschen und Niederländern oder zwischen Italienern und Spaniern möglich, selbst wenn diese keine direkten Kenntnisse der Nachbarsprache haben, obwohl mit zunehmendem Abstand die Mißverständnisse wachsen. Interferenzen, die nur die Norm einer Sprache, nicht aber deren System verändern, sind wie alle Interferenzen zum innersprachlichen Schaffen analog und daher oft kaum davon zu trennen. Wenn etwa ein Spanier im Italienischen analog zu span, «garantizar» it. *«garantizzare» sagt, so könnte es sein, daß er den spanischen Ausdruck aufgrund einer Übertragungsregel sp. «-izar» > it. «-izzare» bildet. Es ist aber auch rein aufgrund des Italienischen (in Analogie etwa zu «ammortizzare», «nazionalizzare», «razionalizzare» etc.) möglich, diesen Ausdruck zu bilden, der nicht der italienischen Norm («garantire») entspricht. So etwa Payratö 1985, 83f. und Tesch 1978, 91-109. Dieser Begriff ist keinesfalls als wertender Begriff zu verstehen: «negativ» heißt nicht etwa «verschlechternd» im Gegensatz zu «positiv» = «bereichernd», auch wenn die Begriffe teils so verwendet wurden (etwa bei Payratö 1985, 50, v.a. Anm. 1 u. 52; cf. die Diskussion in Aitchison 1991, 210ff.). Hier werden sie lediglich als neutrale Bezeichnungen für unterschiedliche Prozesse verwendet, ähnlich wie schon Hermann Paul 1920, 34 von «positiven» und «negativen» Vorgängen des Sprachwandels gesprochen hat. Mindestens seit Auguste Comte ist man in der Tradition des positivistischen Denkens dazu geneigt, das materiell Gegebene zu registrieren und das, was nicht materiell vorhanden ist, zu ignorieren. In der Linguistik des Sprechens, zu der die Interferenzforschung gehört, heißt dies, daß nur das untersucht wird, was gesagt wird, nicht aber das, was nicht gesagt wird. Doch sollten nicht nur die Texte, sondern auch deren «Grund» untersucht werden
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gerade das den beiden Sprachen Gemeinsame aus verschiedenen Gründen - nicht zuletzt aus dem Bestreben, mögliche Interferenzen zu vermeiden - nicht realisiert. Beim zweioder mehrsprachigen Individuum hat man bisher allzusehr das feststellen wollen, was es sagt, und allzuwenig, was es nicht sagt, seine durch die Interferenz bedingten «negativen» Realisierungen. Freilich ist die negative Realisierung nicht leicht objektiv festzustellen, vor allem, wenn keine «Ersetzung» des Vermiedenen vorliegt oder wenn die Ersetzung ebenfalls üblich und nicht auffallend ist. Dies bedeutet aber nicht, daß man sie bei der Betrachtung der Interferenz ignorieren dürfte. (Coseriu 1977,99)
Mit Hilfe dieser Unterscheidung gelangt Coseriu zu der folgenden Klassifikation sprachlicher Interferenzen: a) Abweichung auf der Ebene des Sprachsystems; b) Abweichung auf der Ebene der Sprachnorm; c) Bevorzugung gewisser Möglichkeiten der «Sprache B»; d) Vermeidung gewisser Möglichkeiten der «Sprache B»; e) korrekte Realisierung der «Sprache B» auf der Ebene des Sprachsystems (gegenüber einer darin nicht existierenden Norm); 0 korrekte Realisierung der «Sprache B» auch auf der Ebene der Sprachnorm. (Ibd., 100)
«Negative» Interferenz setzt die Verwandtschaft von Sprachen voraus; sie ist Folge der mangelnden Zuordnung verschiedener Elemente zu den Kontaktsprachen. Ganz allgemein hatte aber Weinreich über das Verhältnis von Interferenz und Sprachverwandtschaft das Gegenteil gesagt: Je größer die Unterschiedlichkeit der Systeme ist, d.h. je zahlreicher die sich gegenseitig ausschließenden Formen und Strukturschemata in jedem sind, umso größer ist das Lernproblem und umso zahlreicher sind die potentiellen Ansatzpunkte für Interferenz. (Weinreich 1953/1976, 16)
Dies ist jedoch nur rein rechnerisch zutreffend: natürlich können die Sprachen sich theoretisch umso mehr beeinflussen, je weiter sie voneinander entfernt sind. In der Praxis erlaubt aber gerade die Nähe der Sprachen die Übertragung von Elementen, so daß es umgekehrt richtiger wäre, zu sagen, daß die Wahrscheinlichkeit von Interferenz mit der Nähe der Sprachen zunimmt: Je geringer die Unterschiedlichkeit der Kontaktsprachen ist, d.h. je zahlreicher die sich ähnelnden Formen oder Strukturschemata sind, umso größer ist die Möglichkeit der Übertragung von Elementen und umso zahlreicher die wahrscheinlichen Interferenzen44.
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(Coseriu 1973, 313f.). Was nämlich in den Textprodukten «negativ» ist, kann durchaus im Sprechen «positiv» sein, d.h. für den Sprecher vorhanden. Die Linguistik des Sprechens ist damit auch eine «Linguistik des Nicht-Sagens», auch wenn dies schwer zu untersuchen ist. Dies ist in der Literatur verschiedentlich festgestellt worden. So sagt schon Sandfeld 1936/1982, 68f.: «D'une fa^on generale, comme l'ont releve M. Bartoli et d'autres, deux langues semblables s'influencent plus profondement que deux langues qui presentent peu de ressemblences». In den letzten Jahren wurde Ähnliches auch im Rahmen der Kreolistik festgestellt, etwa von Mühlhäusler 1980, 155f.: «Mischung ist wahrscheinlicher, wenn zwischen Systemen größere Ähnlichkeit besteht. Dies kann auch so ausgedrückt werden: wo Sprachen maximal divergieren, ist Interferenz am unwahrscheinlichsten.» Am ausführlichsten wurde auf das Verhältnis von Sprachabstand und Interferenz im Rahmen der Forschungen zum Zweitsprachenerwerb hingewiesen. So sagt etwa Jane W. Torrey, «Second-Language Learning», in: Carroll Ε. Reed (Hrsg.) The Learning of Language, New York 1971, S. 223-265, S. 226 mit Bezug auf eine Arbeit des Psychologen C. E. Osgood von 1953: «When two sets of material to be learned are quite different or are
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1.4.1.4. Interferenz und Hyperkorrektheit Einen besonderen Fall sprachlicher Interferenz stellen die sogenannten «hyperkorrekten Sprachformen» dar. Darunter versteht man die Bildung von Ausdrücken in einer Zielsprache B, die auf Übertragungsregeln basieren, welche die Sprecher zwischen einer Sprache Α und der Sprache Β herstellen45. Die Bildung solcher Übertragungsregeln ist ebenfalls umso eher möglich, je verwandter die Kontaktsprachen sind. Für das mehrsprachige Individuum entspricht die Bildung solcher Formen einer Analogie, da von gewissen Ausdrücken ausgehend eine regelmäßige Entsprechung festgestellt und auf andere Ausdrücke übertragen wird. Im lautlichen Bereich sind die Übertragungsregeln sozusagen «Lautgesetze», die zwischen zwei Sprachen aufgestellt werden. Hyperkorrekte Sprachformen entsprechen der Finalität, in der Zielsprache «korrekt» zu sprechen und Interferenz gerade zu vermeiden 46 , weisen gleichzeitig aber auf mangelnde Kenntnis der Sprache hin47. Bei Einbeziehung der Hyperkorrektion lassen sich schematisch dargestellt bei verwandten Sprachen48 folgende Interferenzprozesse darstellen:
Sprache Α
AB
Sprache Β
1.) Interferenz von Α in Β: in einem Text der Sprache Β werden Elemente aus der Sprache A (-AB) verwendet, die es in Β (+AB) nicht gibt.
45
46
47
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easily discriminated by the learner, there is relatively little interaction, that is, learning one has little effect upon learning the other. [...] there will be greater interference as similarity increases.» Cf. auch Henning Wode «The LI vi. L2 acquisition of English negation», Working Papers on Bilingualism 15 (1978), S. 37-57. Nach Heussler 1939, 24 beruhen die hyperkorrekten Sprachformen «auf dem sogenannten Entsprechungsbewußtsein.» Dazu sagt Georg von der Gabelentz 1891/1901, 276: «wenn wir uns des Fremden erwehren wollen, so begeben wir uns unter die Macht des Gegensatzes, lassen von diesem unsere Rede mitbestimmen und carikiren sie schließlich wohl selbst, indem wir ihre Eigenart übertreiben.» «Ist mangelhafte Sprachbeherrschung der äußere Anlaß zur Bildung hyperkorrekter Formen, so steht unter den inneren Ursachen an erster Stelle die Sorge um den richtigen Ausdruck. Je mehr der Sprechende sich der Unzulänglichkeit seiner Ausdrucksweise bewußt ist, desto heißer bemüht er sich, korrekt zu sprechen.» (Heussler 1939, 24). Zur Hyperkorrektion cf. Menindez Pidal 1959/1986, 521ff. Auch «entfernte» Sprachen können in gewissen Bereichen sehr eng verwandt sein. So lassen sich etwa in bezug auf gewisse Elemente des Wortschatzes zwischen allen europäischen Sprachen aufgrund der gemeinsamen kulturellen Tradition große Überschneidungen feststellen (v.a. bei den Latinismen oder Gräzismen); gerade in diesen Bereichen sind daher negative Interferenzen oder hyperkorrekte Formen besonders häufig.
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2.) Negative Interferenz: in einem Text der Sprache Β werden bevorzugt Elemente aus dem beiden Sprachen analogen bzw. identischen Bereich AB verwendet; d.h. die Möglichkeiten aus dem Bereich Β (-AB) werden nicht realisiert. 3.) Negative Interferenz: in einem Text der Sprache Β werden bevorzugt Elemente aus dem beiden Sprachen nicht analogen bzw. nicht identischen Bereich Β (-AB) verwendet; d.h. die Möglichkeiten aus dem Bereich AB werden nicht realisiert. 4.) Hyperkorrektion. Aufgrund angenommener regelmäßiger Entsprechungen von Elementen aus A (-AB) mit Elementen aus Β (-AB) werden die Entsprechungsregeln auch auf Elemente aus dem analogen bzw. identischen Bereich AB angewandt, mit dem Resultat, daß Ausdrücke entstehen, die es in Β (+AB) nicht gibt. Diese Unterscheidung ist terminologisch nicht sehr glücklich: gegen den Begriff der Interferenz einerseits für 1.) und andererseits als Oberbegriff könnte man Einwände vorbringen, ebenso gegen den Begriff von den «hyperkorrekten» Sprachformen 49 und schließlich gegen die Bezeichnung zweier Phänomene mit eventuell völlig unterschiedlichen Auswirkungen als «negative Interferenz». Außerdem muß die wichtige Unterscheidung zwischen System und Norm im Einzelfalle zusätzlich berücksichtigt werden. Interferenz und Hyperkorrektheit sind aber weit verbreitete Begriffe und werden hier deshalb beibehalten, auch wenn sie sich auf die hier vorgenommene Differenzierung beziehen. Zur besseren Unterscheidung soll Typ 1.) hier Übertragungsinterferenz heißen, zur Unterscheidung zwischen den beiden Typen negativer Interferenz soll hier von Überschneidungsinterferenz (2.) und Unterscheidungsinterferenz (3.) gesprochen werden. Die hier vorgeschlagene Klassifikation von Interferenz bezieht sich nicht nur auf einzelne Bereiche der Sprache, sondern kann in unterschiedlichem Ausmaß die ganze Sprache betreffen. Ihr Vorteil gegenüber anderen Klassifikationen besteht in der Einbeziehung von negativer Interferenz und Hyperkorrektheit, die in anderen Theorien, die sich vorrangig auf «positive» Interferenz beschränken, nur teilweise mit einbezogen oder am Rande erwähnt werden50.
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Den Begriff könnte man aus zwei Gründen für inadaequat halten. Erstens verdeckt er die Sicht auf die Tatsache, daß es sich hierbei um Sprachkontakt- bzw. Interferenzphänomene handelt, die nur in bezug auf eine andere Sprache erklärt werden können. Zweitens impliziert er eine Steigerung des Begriffes «korrekt», der aber keine relative, also steigerungsfahige, sondern eine absolute Kategorie bezeichnet. Weinreich 1953/1976, 37 spricht von Hyperkorrektion als zu untersuchendem Phänomen. Sein Schüler Labov hat Fälle von Hyperkorrektion in der Norm des Englischen untersucht (Labov 1966b). Payratö 1985, 32 hat im Katalanischen negative Interferenzen beobachtet, die er als «Ultrakorrektion» bezeichnet (ein Begriff, den er synonym zu «Hyperkorrektion» verwendet): «La ultracorreccio respon efectivament a una estratdgia del parlant, que s'esforga per evitar una forma ο que creu inadequada en unes determinades circumstäncies: normalment, perqufe creu senzillament que 6s pröpia d'una altra llengua.[...] el resultat de l'estratfegia pot consistir a la forma mes allunyada de la llengua en qüestiö».
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Im Falle von bedeutungstragenden Elementen muß die Interferenz getrennt für die Ausdrucks- und die Inhaltsseite betrachtet werden. Es kann Interferenzen geben, die nur eine der beiden Seiten oder beide betreffen, letztere wiederum können beide Seiten in gleicher oder in unterschiedlicher Weise betreffen. So kann z.B. ein Ausdruck, der auf eine Unterscheidungsinterferenz zurückzuführen ist, inhaltlich einer Übertragungsinterferenz (also einer «Lehnbedeutung») entsprechen51. 1.4.1.5. Interferenz und Text Der Ort der sprachlichen Kreation und der Interferenz als einer ihrer Formen sind die Texte. Texte haben oft übereinzelsprachliche Tradition, ebenso gewisse mit den Texten assoziierte Kategorien: in den Sprachen gibt es schriftliche, mündliche, vulgäre, umgangssprachliche, familiäre, wissenschaftliche, poetische, komische, ernste, kurze oder lange Texte; Grußformeln, Liebesbriefe, Zeitungsartikel, Geräteanleitungen u.v.m. Jeder Text entspricht einerseits einer einzelsprachlichen Tradition, die Kategorien der Texte sind in der Regel aber übereinzelsprachlich52. In den historischen Sprachen gibt es eine enge Beziehung zwischen den Traditionen der Texte und den Sprachen und Normen, in denen die jeweiligen Texte realisiert werden: gewisse Sprachformen werden mit gewissen Texten bzw. Textsorten verbunden. So werden etwa mit solemnen Texten wie der Bibel archaischere Sprachformen assoziiert, mit informellen oder familiären Texten umgangssprachliche oder dialektale Varietäten, bestimmte formelle Texte mit der Gemeinsprache etc. Die Polyglossie innerhalb einer Gemeinschaft ordnet den verschiedenen Texten verschiedene Sprachformen zu. Da sich Sprachkontakt in Texten manifestiert und Textkategorien übereinzelsprachlich sind, ist die sprachliche Interferenz nicht etwa unbestimmt, sie pflegt vielmehr textspezifisch zu sein, d.h. im Text tritt eine Sprache in erster Linie mit Elementen aus solchen Varietäten einer Kontaktsprache in Berührung, die in einem vergleichbaren Text der Kontaktsprache verwendet würden, nicht aber mit der ganzen historischen Sprache53: 51
Zur Klassifikation von Lehngut siehe Betz 1965, 21ff. u. 1974, 136ff., auf dessen Terminologie, die weit über die Germanistik hinaus gewirkt hat, ich mich hier beziehe. Cf. auch die Klassifikation von Einar Haugen, «The Analysis of Linguistic Borrowing», Language 26 (1956), 210-231. Eine frühe, aber bemerkenswerte Klassifikation findet sich bei O. J. Tallgren-Tuulio, «Les locutions figurees d'une sirie de langues litteraires, y compris le finnois et l'arabe, au point de vue du calque», Actes du deuxieme Congris International de Linguistes (Geneve 1931), Paris 1933, 230f. Zur Geschichte der Lehngutbeschreibung und zu verschiedenen Modifikationsversuchen der Betzschen Terminologie siehe Röntgen 1992, 13ff. und Tesch 1978, U l f . Beim «Lehngut» handelt es sich zwar nicht mehr um Interferenz, sondern um auf Interferenz zurückzuführende Elemente einer Sprache, die bereits zu den Traditionen derselben gehören, doch bezieht sich die Klassifikation von Lehngut als etymologische Klassifikation gerade auf diese Zurückführung, also auf Interferenz.
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«Die Reichweite der Texttraditionen fällt nicht mit der Reichweite einer Sprachgemeinschaft zusammen.» (Schlieben-Lange 1983, 139). Die Beziehung zwischen Textfinalität und Interferenz bzw. Sprachwandel ist in der Sprachgeschichtsschreibung - zumindest implizit - schon lange bekannt. Darauf weist
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Historische Sprache 1
Historische Sprache 2 Text 1
Text 1
Text 2
Text 2
Text 3
Text 3
Text 4
Text 4
Text 5
Text 5
Text 6
Text 6
Text 7
Text 7
Text 8
Text 8
Text 9
Text 9
Ein umgangssprachlicher Text ist anfällig für Elemente aus der Umgangssprache der Kontaktsprache, eine Bibelübersetzung für in Bibeltexten übliche Realisierungen der Kontaktsprache. Im Baskischen haben sich z.B. aufgrund des Kontakts die spanischen «Tacos», umgangssprachliche Vulgärausdrücke, durchgesetzt, diese sind aber auch im Baskischen auf die Umgangssprache beschränkt. Sie waren als Elemente einer bestimmten Varietät übernommen worden, des spanischen Soziolektes der Industriearbeiter in den baskischen Städten, und ursprünglich Elemente eines neuen baskischen Soziolektes. Von dort aus konnten sie sich dann auf andere Texte - wenn auch begrenzt - ausbreiten. Eine solche Ausbreitung textspezifischer Elemente innerhalb einer historischen Sprache geschieht durch erneute, «innersprachliche» Interferenz und Wandel und kann auch ohne neuen Kontakt zur ursprünglichen Gebersprache (bzw. aufgrund von «innerem Sprachkontakt» verschiedener Varietäten einer historischen Sprache), also indirekt zustande kommen. Besonders intensiv ist die Interferenz dann, wenn aus einer bestimmten Finalität heraus Texte in einer Sprache geschaffen werden, die bislang in dieser keine Tradition haben. Dann muß aus den zur Verfügung stehenden Mitteln der Sprache neu ausgewählt werden und entschieden werden, was für die neuen Texte adäquat ist oder nicht. Stehen in einem solchen Falle Texte des neuen Typs in einer Kontaktsprache zur Verfügung, so bilden diese Modelle, die, je nach Verhältnis zur Kontaktsprache, positiv oder negativ auf
Brigitte Schlieben-Lange 1983, 162 hin, wenn sie vermutet, daß die ausführliche Beschäftigung mit Texttypen etwa bei Ferdinand Brunot oder Ramön Menendez Pidal wohl auf der Vorstellung basiere, «daß die jeweilige Textfinalität oder besser: der jeweilige Typ von Textfinalität, die Wahl der sprachlichen Varietät beeinflußte, etwa ein bestimmtes Modell nahelegte, und umgekehrt, daß die Erweiterung der «textuellen» Möglichkeiten für die Sprache neue Bezeichnungsnotwendigkeiten schuf.»
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die neu zu schaffenden Texte wirken, indem Elemente entweder übernommen werden oder aber ihre Übernahme vermieden wird 54 .
1.5. Neuerung und Wandel Bisher wurde die sprachliche Interferenz als eine der möglichen Formen sprachlicher Innovation betrachtet. Wie jede andere Neuerung können Interferenzen «produktiv» sein, d.h. sie können zu Sprachwandel führen. Bei der großen Variation zwischen den einzelnen Redeereignissen und der großen Zahl sprachlicher Innovationen, die wir täglich beobachten können, ist zu fragen, warum die Sprachen dennoch eine relativ beständige Geschichte haben können. Wie aber bereits betont wurde, ist eine Neuerung kein Wandel und deshalb vorerst ohne Einfluß auf die Sprache, wenn sie nicht ein Element des sprachlichen Wissens wird und wenn sie nicht von anderen Sprechern einer Sprachgemeinschaft übernommen wird. Wenn z.B. ein Kind «gehte» sagt, dann schafft es zwar einen neuen Ausdruck, doch ist dieser Ausdruck individuell und verändert nicht die Norm des Deutschen. Selbst wenn es viele Kinder sind, die «gehte» sagen, so wissen doch die Sprecher, daß es in der deutschen Norm «ging» heißt, und der «Fehler» wird normalerweise von den Eltern korrigiert werden. Die Eltern werden den Ausdruck vielleicht aus Spaß wiederholen, aber wenn sie dies tun, so wird es ein Zitat sein, ein Element einer anderen Sprache, durch das eben gerade der Abstand zwischen der Norm der «Sprache der Erwachsenen» und deren Unkenntnis seitens des Kindes betont wird. Das Deutsche wird davon nicht berührt oder verändert55. Wenn ein Franke labiales [r] auch in standardorientierten deutschen Texten*spricht, wird er von anderen eben dadurch als Franke erkannt; das [r] wird dem Fränkischen zugeordnet und wandelt am Deutschen nichts. Auch wenn die labiale Aussprache im Sprechen des Franken allgemein ist, ist sie ein interferenzbedingtes Element, das einer anderen Sprache angehört. Bei bedeutungstragenden Innovationen ist Voraussetzung für eine Übernahme ihre Nachvollziehbarkeit durch den Hörer. Diese ist etwa dann gegeben, wenn die Neuerung den Möglichkeiten des Systems entspricht56, oder wenn sie aus dem Kontext erschließbar ist. Die Nachvollziehbarkeit einer fremdsprachlichen Interferenz ist dann gegeben, wenn nicht nur der Sprecher, sondern auch der Hörer den fremden Ausdruck kennt. Daher ist die Voraussetzung für die extensive Ausbreitung einer Interferenz in solchen 54
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«Es ist z.B. möglich, daß eine Gemeinsprache in einer bestimmten Epoche ihrer Entwicklung überhaupt keine bzw. keine feste Tradition für bestimmte Textarten bzw. Textsorten (z.B. wissenschaftliche Sprache und hierin Linguistik, Literaturkritik usw.) kennt: In diesem Fall wird sie gerade auf diesen Gebieten für die sprachliche Interferenz (fremdsprachliche Beeinflussung) besonders durchlässig sein.» (Coseriu 1977, 93) Auf seltene Fälle von möglichem Einfluß der Kindersprache weist Georg von der Gabelentz 1891/1901, 277f. hin, ohne aber, wie manche andere Theoretiker, den Fehler zu begehen, in der Kindersprache die Hauptursache für den sprachlichen Wandel zu sehen. So sagt Juhäsz 1977, 8f.: «Ein Wort ist meistens als ein semantisch unmotiviertes.»
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Gemeinschaften am ehesten gegeben, in denen die Mehrsprachigkeit weiter verbreitet ist. In allgemein mehrsprachigen Gesellschaften ist Verständigung prinzipiell auch bei massiver Interferenz der Kontaktsprachen möglich. Dabei können Elemente fremder Sprachen unabhängig von ihrer Systemintegration zu extensiver Allgemeinheit gelangen. Doch auch in mehrsprachigen Gesellschaften kann die funktionelle Verteilung der Sprachen klar geregelt und ihre gegenseitige Beeinflussung eher gering sein. Aus dem Grad der Mehrsprachigkeit läßt sich nicht unmittelbar das Ausmaß der Interferenz ableiten 57 . Es gibt Individuen, die trotz Mehrsprachigkeit die Kontaktsprachen weitgehend zu trennen fähig sind und Gemeinschaften, in denen die verschiedenen sprachlichen Traditionen mehr oder weniger stabil sind. Interferenzen können einerseits dann auftreten, wenn die Sprecher nicht zur Trennung der Kontaktsprachen fähig sind, andererseits auch dann, wenn sie die Sprachen nicht trennen wollen. Es zeigt sich also - daß die sprachliche Sozialisation die Sprecher teilweise determiniert, d.h. daß ihren sprachlichen Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind, - daß die Sprecher andererseits über einen Spielraum von Freiheit verfügen und gewisse Sprachformen verwenden oder nicht verwenden können. Bei der Steuerung dieser Freiheit sind gewisse Kräfte im Spiel, die man als «sprachliche Gravitation» bezeichnen könnte, auf welche die Finalität des Sprechens ausgerichtet ist. Es sind Kräfte, die im Gespräch mit Individuen entweder Anpassung oder Nichtanpassung an die Gesprächspartner und im Verhältnis des Individuums zu Gruppen Integration oder Desintegration bewirken58. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig, sie haben mit der Identität des sprechenden Individuums und mit dem Prestige der jeweiligen Sprachformen bzw. den ihnen assoziierten Gruppen sowie mit dem in einer Gemeinschaft üblichen Grad an sprachlicher Korrektheit zu tun. Auch für die sprachliche Interferenz sind solche Kräfte relevant, da sie als Steuerungskräfte das Ausmaß der Interferenz bedingen. Wenn etwa Heine im Lyrischen Intermezzo die übertriebene Häufung von Gallizismen ironisiert59, so weist er damit auf die Tendenz des Bürgertums im 19. Jahrhundert hin, bewußt Elemente aus dem Französischen zu importieren. Wenn jüdische 57
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Juhäsz 1970, 11 nennt als Axiom, es gebe keine Zweisprachigkeit ohne Interferenz, doch ist davon auszugehen, daß diese in ihren Auswirkungen auf die Rede von Zweisprachigen eine breite Skala von praktischer Inexistenz bis zum höchsten Ausmaß bilden kann. Schuchardt 1870/1928, 171 spricht - in bezug auf die Sprache - von zwei Faktoren, «der Zentrifugalkraft und der Zentripetalkraft. Jene, die ursprüngliche und immer gleiche, sucht die Sprache unablässig zu differenzieren, in lauter Individualsprachen zu spalten, die andere betätigt sich im Verkehr, im alltäglichen, kommerziellen, politischen, kirchlichen, literarischen oder, wie wir auch sagen können, in der Erziehung durch Gesellschaft, Staat, Kirche, Schule.» In bezug auf das Sprechen ist es eigentlich immer nur die eine Kraft der sprachlichen Gravitation, und die Desintegration in bezug auf eine Gruppe ist stets die Kehrseite der Integration in bezug auf eine andere; vgl. hierzu Lewin 1941, 269, Allport 1954,150ff. und Kabatek 1994d, 164-171. So heißt es in dieser Gedichtsammlung von 1822, XXVIII: «Das Menschenvolk mich ennuyieret / Sogar der Freund, der sonst passabel; - / Das kömmt, weil man Madame titulieret / Mein süßes Liebchen, so süß und aimabel.»
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Einwanderer aus Galizien zu Anfang des Jahrhunderts in New York wegen ihres «sing-song and [...] thick yiddish accent» diskriminiert werden 60 , dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie versuchen werden, diesen Akzent zu verbergen 61 . Durch die Auswahl bestimmter Sprachformen und durch die Steuerung der Interferenz können die Sprecher ihre Position im sozialen Raum bestimmen bzw. kann diese von anderen bestimmt werden. Weiter scheint es eine wichtige Frage zu sein, ob innersprachlicher Wandel überhaupt zu trennen ist von der Beeinflussung durch fremde Sprachen. Oft erweisen sich Sprachwandelphänomene, die bei oberflächlicher Betrachtung «innersprachlich» erscheinen, als Ergebnisse des Sprachkontakts62. Auf Schuchardt geht die Vorstellung zurück, aller Sprachwandel beruhe auf Sprachmischung (cf. Spitzer 1928, 6). Daneben stehen die rein strukturalistischen Beschreibungen des innersprachlichen Wandels und schließlich die Versuche, «inneren» und «äußeren» Wandel zu kombinieren63. Havränek etwa meinte 1931, es könnten nur solche äußeren Einflüsse eine Wirkung zeigen, die den inneren Tendenzen eines Systems entsprächen 64 . Martinet, der prinzipiell eine ähnliche Auffassung vertritt, räumte die Möglichkeit von Wandel ein, der nicht den Systemtendenzen entspreche, indem er zwischen solchen Phänomenen unterscheidet, die in einem System «Sinn» machen und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist (1955, 194). Es ist ohne weiteres möglich, daß in der Geschichte einer Sprache Tendenzen vorherrschen, die den «Tendenzen des Systems» entgegenstehen. Die Tendenzen des Systems sind ja eigentlich nichts anderes als die Tendenzen einer gewissen Finalität des Sprechens, Inkohärenzen des Systems auszugleichen. Als solche können sie im Widerspruch stehen etwa zu einer vorherrschenden Neigung zur Übernahme von Elementen 60 61
62
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Cf. Kabatek 1994d, 161. Oder aber daß sie, sollte ihnen dies nicht möglich sein, eine eigene Gruppe bilden, in der dieser Akzent eventuell zum Identifikationssymbol wird. Tatsächlich sind beide Phänomene bei unterschiedlichen Sprechern eingetreten. Die Bildung von «Drittgrupppen» in der Spannung zwischen zwei Hauptgruppen ist etwa von di Luzio/Auer 1986 untersucht worden. Betrachten wir etwa die spanische Revolution fonologica del Siglo de Oro, durch die im 16. Jahrhundert das spanische Lautsystem grundlegend verändert wurde, so lassen sich dafür innersprachliche Erklärungen finden (Vereinfachung des Lautsystems aus Gründen der Ökonomie). Es zeigt sich aber, daß es besondere historische Umstände waren, die zur Ausbreitung der neuen Laute geführt haben, daß es sich also um ein Phänomen des Kontaktes handelte (cf. Ramön Mendndez Pidal, «Sevilla frente a Madrid», in: Miscelänea homenaje α Andre Martinet, «Estructuralismo e historia», Bd. III, La Laguna 1962, 9 9 165). Die neuen Laute sind nicht aus dem Neukastilischen selbst heraus entstanden, sie wurden von den Sprechern aus Castilla-la-Vieja übernommen. Sie entsprachen aber einerseits gleichzeitig einer Tendenz des spanischen Systems, d.h. dieses System war zur Aufnahme der neuen Laute «bereit» (cf. Martinet 1955, 297-325), und andererseits einer Tendenz der Sprachgemeinschaft, die Spechgewohnheiten des neuen Ausstrahlungszentrums Madrid zu übernehmen. «Äußere» Faktoren heißt hier nur «außerhalb einer bestimmten Sprache in einer anderen Sprache vorkommende Faktoren», und bezieht sich nicht etwa auf Faktoren, die außerhalb der Sprache liegen. Historische Fakten wie etwa Migrationen oder politische Grenzen werden erst dann zu sprachlichen, wenn durch die Geschichte Sprachkontakt entsteht oder verhindert wird. In: Vachek 1975, 191.
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aus einer bestimmten Kontaktsprache. Dennoch sind auch bei einer solchen Neigung diejenigen Interferenzen besonders für die Produktivität prädestiniert, die gleichzeitig dazu dienen können, «Lücken» eines Systems zu füllen. Und bei allen zeitweilig vorherrschenden Neigungen ist die Systemtendenz die einzige, welche die Sprache stets in sich selbst trägt (bzw. welche die Sprecher stets mittragen), und daher sitzt sie auf lange Zeiträume betrachtet meist am längeren Hebel.
1.6. Interferenz, Schrift und Schriftlichkeit Bisher waren bewußt die Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Schrift und von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgeklammert worden. Dies hat in erster Linie den Grund, daß es sich bei Interferenz- und Sprachwandelprozessen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nur um einen Sonderfall von Interferenz und Sprachwandel allgemein handelt, daß die oben beschriebenen Prozesse dabei genauso eine Rolle spielen und es vor allem darum geht, die bereits definierten Begrifflichkeiten auf die Unterscheidung Mündlichkeit/Schriftlichkeit zu beziehen. Dafür ist zunächst eine grundlegende Differenzierung zwischen drei verschiedenen Erscheinungen notwendig, die leider häufig mißachtet wird und daher immer wieder zu Verwirrungen führt; diese betrifft erstens die Unterscheidung zwischen Phonie und Graphie in zeichentheoretischer Sicht, zweitens allgemeine, durch die Verschriftung mögliche und nötige sprachliche Prozesse und drittens den historischempirischen Unterschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit (in unserem Falle in den romanischen Sprachen): es ist nämlich auf der einen Seite zu fragen, welche Beziehung zwischen phonischer und graphischer Realisierung von Sprache besteht, dann, welche Möglichkeiten und Einschränkungen durch die schriftliche Fixierung sprachlicher Äußerungen geschaffen werden und schließlich, was konkret durch das Vordringen von Einzelsprachen in die Bereiche der Schriftlichkeit in den von uns betrachteten geschichtlichen oder gegenwärtigen Fällen ausgelöst wird65. Bei den ersten beiden Fragen geht es um sprachtheoretische Probleme, bei der dritten vor allem um die Folgen bestimmter kultureller Traditionen und um ein überliefertes Verständnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, also um ein
65
Siehe dazu Kabatek 1994a. Die Mißachtung dieser Unterscheidung hat zu dem Konflikt zwischen den «supporters and [...] the opponents of the importance of written language» (Vachek 1973, 4) geführt, nämlich zwischen denjenigen, die in der Nachfolge der Saussureschen Doktrin von der Schrift als sekundärem Zeichensystem die Autonomie der Schrift bezweifelten und denjenigen, die diese forderten, zumal deswegen, weil sie in der Schrift das wichtigste Trägermedium der Kultur sahen. In der Diskussion wurde oft mit historisch-empirischen Argumenten versucht, theoretische Eigenschaften zu widerlegen, wie auch mit Theorieargumenten der Blick auf historisch-empirische Tatsachen verstellt wurde. Dabei sind Theorie und Empirie eigentlich keine Gegensätze, diese ist das Fundament jener, doch können oft weder partielle empirische Befunde zu «universellen» Schlüssen führen noch dürfen theoretische Erkenntnisse den Blick auf das empirisch Vorhandene verstellen.
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historisches Problem. Zwischen den drei Erscheinungen besteht zwar ein enges Verhältnis, aber keine direkten Kausalbeziehungen. 1.6.1. Phonie und Graphie und die Frage nach «schriftinduzierter» Interferenz und Wandel Besonders in jüngerer Zeit sind vermehrt gewisse Sprachwandelphänomene auf den Einfluß der Schrift zurückgeführt worden. Empirisch ist hinreichend bekannt, daß manche Lautentwicklungen in den Sprachen auf Unterscheidungen zurückzuführen sind, die in der Schrift gemacht werden, nicht aber in der gesprochenen Sprache, so daß die Schrift zur Quelle für Interferenzen wird66, wie etwa Coulmas feststellt: Wie Interferenzen zwischen zwei Sprachen in Kontakt sind auch Interferenzen zwischen zwei Sprachnormen, deren Spezifik auf den Eigenschaften verschiedener Medien besteht, einer der vielen Faktoren sprachlichen Wandels. (1981, 125)
Hier werden Schriftsprache und gesprochene Sprache nebeneinandergestellt wie zwei unterschiedliche Sprachen, die einander beeinflussen können. Um zu erklären, wie eine solche Beeinflussung möglich sein soll, ist es nötig, das Verhältnis von Sprache, Sprachlauten und Schrift näher zu beleuchten. Dazu erscheint es sinnvoll, auf die aristotelische Definition der Schriftsprache aus dem ersten Kapitel von De interpretatione (Kap. 1, 16a, 3f.) zurückzugreifen, wo dieses Verhältnis folgendermaßen bestimmt wird: Es ist nun das in der Stimmäußerung Enthaltene Zeichen der Empfindungen in der Seele, und das Geschriebene Zeichen des in der Stimmäußerung Enthaltenen. (Dt. Übersetzung zit. n. Vogt-Spira 1991, 307)
Obwohl sie, wie Utz Maas gezeigt hat67, vielfach mißverstanden wurde, weist diese Definition darauf hin, daß es überhaupt keine direkte Beziehung zwischen Phonie und Graphie gibt, sondern nur zwischen dem «in der Stimmäußerung Enthaltenen» und der Schrift: Das in der Stimmäußerang Enthaltene
Stimmäußerang 66
67
das Geschriebene
Cf. die klassische Arbeit zum Französischen von Vladimir Buben (1935) und die Arbeiten der Leipziger Gruppe unter Leitung von Jürgen Erfurt im Rahmen des VW-Projektes «Prinzipien der Sprachgeschichte» (cf. TurculeJ /Erfurt 1992 und Erfurt 1994). Von Erfurt stammt auch der Begriff des «schriftinduzierten Wandels» Beispiele dafür finden sich auch etwa bei Vachek 1973, 40ff., Coulmas 1981, 125, und Jesse Levitt, «The Influence of Orthography on Phonology: A Comparative Study (English, French, Spanish, Italian, German)», Linguistics 208 (1978), 43-67. Maas 1986 verfolgt die Interpretationen der aristotelischen Definition bis zur Gegenwart und stellt dabei fest, daß es neben der «richtigen», «grammatischen» Tradition im Sinne von Aristoteles auch eine «falsche», «phonographische» Tradition gegeben habe, die in der Schrift fälschlicherweise nur ein Abbild der gesprochenen Sprache gesehen habe. Cf. Vachek 1973, 4, Saussure 1916/1984, 45 u. Bloomfield 1933, 21.
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Was oben steht, ist weder phonisch noch graphisch, da es nicht Substanz, sondern Form ist, es ist das beiden Äußerungen Gemeinsame, das, was später in der lateinischen Grammatiktradition littera genannt wird und materiell phonisch oder graphisch realisiert werden kann68. Zwischen der Stimmäußerung und dem Geschriebenen herrscht demnach gar kein direkter Bezug, und es kann daher auch keine direkte Beeinflussung geben. Eine «Begegnung» zwischen lautlicher und graphischer Realisierung findet nur über die Form statt. Nicht zwischen dem Laut [g] und dem Schriftzeichen , sondern zwischen der Lautform /g/ und dem Graphem besteht die Beziehung. Die jeweilige Zuordnung der Form zu einer bestimmte Substanz, sei sie nun phonisch oder graphisch, ist arbiträr, und sie ist festgelegt durch die historische Übereinkunft der gemeinschaftlichen Sprech- und Schreibtradition. Spätestens seit den Erkenntnissen der modernen apparativen Phonetik weiß man, daß ein Sprachlaut nicht ein Laut ist, sondern aus einer Reihe aufeinanderfolgender Schallereignisse besteht. Doch auch ohne die Technik ist bekannt, daß es sowohl möglich ist, einer Reihung von Lautsubstanzen eine einzige Lautidee zuzuordnen (wie etwa im Russischen, wenn einer Lautfolge [J"tJ] nur ein Phonem entspricht, das denn auch graphisch nur mit einem Zeichen dargestellt wird), als auch eine Kette graphischer Repräsentationen als ein einziges graphisches Zeichen anzusehen, wie im Deutschen etwa im Falle von ( ///). Es wäre also, um ein übertriebenes Beispiel zu erfinden, sogar sowohl denkbar, daß in einer Einzelsprache eine Lautfolge wie [lalula] nur einem einzigen Phonem entspräche, als auch, daß eine Buchstabenfolge als ein einziges Graphem angesehen würde. Einem solchen Graphem könnte auch ein beliebiger Laut oder eine beliebige Lautfolge zugeordnet werden, solange in einer Gemeinschaft eine solche Zuordnung bekannt und traditionell üblich wäre, man denke nur etwa - um die Phantasie zu verlassen - an das Französische, wo graphischen Folgen wie etwa oder mühelos Lautvorstellungen wie /-/ oder /o/ zugeordnet werden69. Damit aber nun eine Veränderung der Graphie durch die Lautung oder umgekehrt eintreten kann, ist es notwendig, daß eine Veränderung im Wissen um die jeweilige Zuordnung eintritt. Dafür können zwei Gründe verantwortlich sein, entweder Inkohärenzen innerhalb des Systems oder Kontakt zu Systemen mit anderen Zuordnungen. Was das erste angeht, herrscht zum einen in den europäischen Buchstabenschriften die Tendenz, einer Lautvorstellung ein graphisches Symbol zuzuordnen. Wo mehrere Zeichen ein Graphem bilden, entstehen also Ausnahmen dieser Regel, und aufgrund der Präsenz der anderen Grapheme kann aus Systematisierungsgründen versucht werden, die Inkohärenz zu beseitigen. 68
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Cf. Vogt-Spira 1991, 308ff., Coseriu 1975b, Schlieben-Lange 1994c, 22ff. u. Abercrombie 1965, 8Iff. Die Darstellung hier ist natürlich ein wenig verkürzt und vereinfacht. In Wahrheit kann natürlich über die Schrift auch zusätzliche Information gegeben werden, wie sich etwa bei der spelling-pronounciation zeigt, da in der Schrift oft auch andere Sprachzustände erhalten sind, die Unterscheidungen bewahren, die durch die Lautentwicklung verschwunden sind.
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Häufig hat auch ein Graphem mehrere Funktionen oder mehreren Graphemen wird nur eine Funktion zugeordnet, so daß ebenfalls die Systematisierungstendenz die Inkohärenz beseitigen will. Der zweite Grund ist die Interferenz mit anderen Sprachen. Die lateinische Alphabetschrift etwa wird in so vielen verschiedenen Sprachen verwendet, daß es in bezug auf die Zuordnungen der jeweiligen Grapheme teilweise enorme Unterschiede gibt. Den Schreibern und Lesern ist oft nicht nur eine Aussprache als Korrelat einer bestimmten Schrift vertraut, sondern sie kennen deren mehrere. Wenn im spanischsprachigen Raum immer wieder geglaubt wird, daß und verschieden auszusprechen seien, so ist dies oft auf die Kenntnis anderer Sprachen, etwa des Englischen oder des Französischen, zurückzuführen, in der beiden Graphemen unterschiedliche Laute zugeordnet werden und für einen stimmhaften, labiodentalen Reibelaut steht 70 . Wenn es in Frankreich nicht ein Wissen gäbe, daß einer Buchstabenfolge die Lautung [il'mö:3] zugeordnet wird, könnte ein Sprecher, der über dieses Wissen nicht verfügt, aber die Graphem-Ausspracherelation des Deutschen kennt, durchaus auf die Idee kommen, der Graphie entspräche die Aussprache [ils 'marjent] 71 . «Schriftinduzierte Interferenz» wird also nicht durch die Schrift selbst hervorgerufen, sondern durch das mit der Schrift verbundene Wissen um Zuordnung: über die Schrift werden lautliche Interferenzen zwischen Sprachen manifest. Diese sind beim Lesen eines Textes genauso als Innovationen in einer Sprache zu betrachten wie sonstige Interferenzen. Übernimmt jedoch eine Sprachgemeinschaft ein Schriftsystem aus einer anderen Sprache und sind in dieser Gemeinschaft auch die Zuordnungen aus der anderen Sprache allgemein bekannt, dann können die Interferenzen prägend auf die Allgemeinheit der gelesenen Texte in dieser Gemeinschaft wirken. So lassen sich etwa bei Dialektsprechern, die normalerweise schriftliche Texte mit der Gemeinsprache assoziieren, gemeinsprachliche Interferenzen beim Lesen von Dialekttexten feststellen, da sie die Zuordnung der Gemeinsprache zumindest anfangs teilweise auch im Dialekttext vornehmen. 1.6.2. Gesprochene Sprache und geschriebene Sprache Es ist eine schwer zu beantwortende Frage, welche der üblicherweise mit der Schriftsprache verbundenen Eigenschaften (z.B. Kodifikation, Enthebung aus der konkreten Sprechsituation, bestimmte Texttraditionen 72 ) auf universellen Eigenschaften des Mediums Schrift beruhen oder durch sie begünstigt werden und welche einer historisch bedingten Auswahl aus den Möglichkeiten entsprechen, da die uns nicht zu ferne stehenden Fälle von Verschriftung von 70
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Cf. Angel Rosenblat, Estudios sobre el espanol de America, Vol. III, Caracas 1984, S. 248. Das Französische ist die romanische Sprache, bei der die Willkürlichkeit der Zuordnung am meisten auffällt. Cf. Schlieben-Lange 1983, 89, 138ff. und darüber Kabatek 1994a, 177ff.; Für das folgende cf. Söll 1974, l l - 5 6 u . Koch/Oesterreicher 1985.
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Einzelsprachen stets auch Fälle von Sprachkontakt waren, wenn die Schrift nicht neu erfunden, sondern aus Kontaktsprachen übernommen wurde. Dennoch kann von den Möglichkeiten der Schrift ausgehend allgemein festgestellt werden, daß die graphische Fixierung von Sprache v.a. gewisse Bewußtseinsprozesse auslöst, die zu einem vermehrten Nachdenken über die Sprache führen. Bei der Verschriftung muß nachgedacht werden, welcher Lautidee (oder Ideenfolge) welches Schriftzeichen zugeordnet wird, es muß nachgedacht werden, wie gewisse deiktische Elemente schriftlich umgesetzt werden können oder was überhaupt von den umfangreichen sprachlichen und sprachbegleitenden Erscheinungen (segmentale und suprasegmentale Elemente, Mimik, Gestik, Situation, Umfelder etc.) graphisch fixiert werden soll. Dabei erlaubt die Langsamkeit des Schreibens gegenüber dem Sprechen und die größere Planungsmöglichkeit geschriebener Sprache ganz allgemein eine vermehrte metasprachliche Reflexion. In bezug auf die sprachliche Interferenz heißt dies, daß die Schriftsprache als geplantere Sprache eine unterschiedliche Interferenzhäufigkeit gegenüber der gesprochenen Sprache aufweisen kann, wenn der Grad der sprachlichen Interferenz vom Planungsaufwand abhängig ist, da die Möglichkeit der sprachlichen Korrektur mit wachsendem Planungsaufwand zunimmt. Herrscht etwa in einer interferenzgeprägten Gemeinschaft eine puristische Tendenz, so wird diese ihre Auswirkung eher in den elaborierteren, schriftlichen Texten zeigen; herrscht in einer weniger interferenzgeprägten Gemeinschaft eine Tendenz zur Entlehnung aus anderen Sprachen, so wird auch diese in den geplanteren Texten deutlichere Spuren hinterlassen. Die durch die geschriebene Sprache ausgelösten Prozesse führen zur Korrelierung gewisser sprachlicher Elemente und Verfahren mit einer allgemeinen Vorstellung von Schriftlichkeit, der sprachliche Varietäten entsprechen können, die dann eher mit der Schriftsprache assoziiert werden bzw. als schriftorientiert gelten73. Zwischen diesen Varietäten und anderen Varietäten der Sprache kann es nun Interferenzen geben, so daß Erscheinungen, die anfangs vor allem in schriftlichen oder schriftorientierten Texten festzustellen waren, sich auf andere Bereiche der Sprache ausweiten. Die konzeptionelle Schriftlichkeit ist, wie andere Textkategorien, nicht auf eine Sprachgemeinschaft begrenzt. Die Schrift ist Errungenschaft einer übereinzelsprachlichen Kultur, und weil sie übereinzelsprachlichen Traditionen folgt, wird sie zum Träger von Interferenz. Mit «Schriftlichkeit» werden gewisse Texte assoziiert, und mit diesen bestimmte Sprachen. Die Frage von Interferenz und Schriftlichkeit ist daher ein besonderer Aspekt der Frage nach dem allgemeinen Verhältnis von Interferenz und Text. 1.6.3. Schriftlichkeit und Mündlichkeit in den romanischen Sprachen Die universellen Unterschiede zwischen graphischem und phonischem Medium haben in der historischen Praxis zur Herausbildung konzeptioneller 73
Zum Verhältnis von Varietäten und Schriftsprache cf. Albrecht 1986, 69ff.
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Unterschiede zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit geführt, die gemeinsam mit den jeweiligen Schrifttraditionen überliefert wurden. Im Falle der romanischen Sprachen ist es die lateinische Schrift, die nicht nur als Medium übernommen wird, sondern deren Übernahme auch die mit der lateinischen Schrift verbundenen Eigenschaften mit sich bringt. In der frühmittelalterlichen Diglossiesituation stellte «Lateinisch die distanzsprachliche, Romanisch (oder seine Vorformen) dagegen die nähesprachliche Varietät» (Meisenburg 1993,47) dar. «Schriftlichkeit» bedeutete nicht nur die Möglichkeit, in einer Sprache zu schreiben, sondern es war an gewisse Eigenschaften gekoppelt, die den Volkssprachen nicht gegeben waren: auf Lateinisch waren die Texte des Wissens geschrieben, lateinisch waren die Gesetze, Lateinisch wurde nur von bestimmten Gruppen beherrscht, das Latein war grammatisch festgeschrieben und es diente zur Kommunikation über weite Distanzen. Als die romanischen Sprachen dann langsam in die Domäne der Schriftlichkeit vorzudringen begannen, waren es zum Teil bestimmt auch Texte, die zuvor bereits existiert hatten, die aufgeschrieben wurden, wie mündliche Volksdichtungen, Troubadourlieder oder sogar Heldenepen. Aber mehr und mehr wurde der ganze Bereich der Schriftlichkeit erobert, und je mehr die Sprachen in die Bereiche des Lateins vordrangen, desto mehr übernahmen sie auch Elemente aus der Kontaktsprache, da sie für die neuen Texte neue Ausdrücke brauchten und in der verwandten und bekannten Kontaktsprache eine unerschöpfliche Quelle fanden. Die Emanzipation der Volkssprachen gegen die alte Kultursprache Latein ging paradoxerweise einher mit einer teils massiven Latinisierung derselben. Gleichzeitig aber wehrten sich die Schreiber dagegen: bei der Verschriftung wiesen sie bestimmte Elemente des Lateinischen ab, vielleicht sogar solche, die in den Volkssprachen selbst Tradition hatten, aber ihnen «zu lateinisch» vorkamen. Im Spannungsfeld zwischen Übernahme und Zurückweisung entstanden die romanischen Schriftsprachen, die sich dabei oft von ihren ursprünglichen gesprochenen Formen entfernten 74 : an die Stelle der lateinisch-romanischen Diglossie trat eine neue, in der die gesprochenen romanischen Sprachen neben ihren eigenen geschriebenen Varietäten standen. Und obwohl es im Laufe der Jahrhunderte soziale Veränderungen gab, die den Gebrauch der Schrift auf breitere Schichten ausweitete, obwohl etwa in Folge von Aufklärung und Revolution die Schriftsprache in neue Bereiche vordringen konnte, trotz der Entstehung vermeintlich «wirklich mündlicher» geschriebener Texte in der Romantik (Maas 1986, 271), trotz Volkstheater, Graffiti, Mundartdichtung und Comic bleibt die Schrift bis heute Korrelat von Hochsprachlichkeit, Distanz, Einheitlichkeit und Elaboriertheit, wie sich etwa in den von Söll (1974) oder in dessen Nachfolge von Koch/Oesterreicher (1985) ausgeführten Darstellungen von «konzeptioneller Schriftlichkeit» zeigt. Wenn daher heute eine bislang vorrangig mündliche Sprache verschriftet wird, dann findet nicht nur eine mediale Übertragung statt, sondern die 74
Dieses Spannungsverhältnis hebt Schlieben-Lange 1983, 65 hervor: «Die Verbreitung der Schriftkultur kann nur unter Zuhilfenahme oraler Traditionen erfolgen und marginalisiert diese im gleichen Moment.»
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Sprache wird auch den Konzeptionen von Schriftlichkeit ausgesetzt. Ähnlich wie im romanischen Mittelalter wird sie dann auch ihren Weg zwischen Übernahme und Ablehnung bestehender Traditionen finden, aber in beiden Fällen im Spannungsfeld der Interferenz stehen.
1.7. Exkurs: Sprachliche Interferenz und «sprachliches Kontinuum» 7 5 Der Begriff der sprachlichen Interferenz setzt die Existenz von mindestens zwei Sprachen, die sich gegenseitig beeinflussen können, voraus. Er hat daher nur einen Sinn, wenn individuelle, interferenzbedingte Redeereignisse bezogen werden können auf Sprachen als Zeichensysteme historischer Gemeinschaften. Als Redeereignisse treten Interferenzen bei verschiedenen Individuen in verschiedenem Maße auf. Zwischen verschiedenen Sprechern mit unterschiedlicher Interferenzhäufigkeit ist eine kontinuierliche Abstufung vorstellbar. Im folgenden Exkurs soll daher der Begriff der sprachlichen Interferenz auf den vieldiskutierten Begriff des «sprachlichen Kontinuums» bezogen werden. Der Begriff des «sprachlichen Kontinuums» geht meist einher mit der Vorstellung von «Individualsprache», die seit Hermann Paul gebräuchlich ist76: Jedes Individuum spricht anders, und jeder «Sprachorganismus» ist anders; in der Psyche eines jeden Sprechers finden sich unterschiedliche «Vorstellungsmassen» (1920, 29). Für Paul besteht die Sprache aus einer Art Schnittmenge zwischen den Individualsprachen, dem Usus. Dieser läßt sich aus der umfassenden Kenntnis der Individualsprachen sozusagen statistisch errechnen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden von verschiedenen Linguisten ähnliche Begriffe wie «Individualsprache» geprägt. Der heute allgemein verbreitete Begriff «Idiolekt» geht auf Bernard Bloch (1948) zurück. Er basiert auf der Annahme, daß bei der Untersuchung eines einzigen Sprechers ein homogenes Sprachsystem zu finden sei, zumindest in bezug auf einen bestimmten Sprechpartner, also eigentlich eine Art von dialecte-ä-deux: The totality of the possible utterances of one speaker at one time in using a language to interact with one other speaker is an idiolect.11
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Ich danke Christoph Petruck (Mannheim) und Arno Ruoff (Tübingen) für die anregenden und kontroversen Diskussionen zu diesem Thema. Auch bei Georg von der Gabelentz 1891/1901, 58 findet sich der Begriff der «Individualsprache»; er bezieht sich jedoch auf den individuellen Sprachbesitz, der sich in der Rede manifestiert, die sich aber auf die «Einzelsprachen» als Gemeingut bezieht: «Dass die Sprachgrenzen individuell verschieden sind, haben wir gesehen; dass die Handhabung der Sprache auch unter Sprachgenossen nicht völlig gleich ist, werden wir weiter sehen. Als gemeinsames Verständigungsmittel aber ist die Einzelsprache wirksam und also doch auch wirklich. Als Äusserung, als Rede, gehört sie dem Einzelnen, als Fähigkeit muss sie Gemeingut sein, sonst taugte sie nicht zum Verkehrsmittel.» Coseriu 1978, 63f. (dt. 1974, 54f.) zitiert u.a. K. Rogger und O. Jespersen als weitere Vertreter der Idiolekt-Idee (cf. hierzu auch Lang 1982, 31f.).
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Dem Begriff liegt die völlig richtige Beobachtung zugrunde, daß kein Mensch spricht wie der andere, eine Beobachtung, die einer Fehlinterpretation der Vorstellungen der klassischen Dialektologie entgegengesetzt wurde: hatte man in der Dialektologie einzelne Sprecher als Repräsentanten für den wahren Dialekt ihres Ortes angesehen, so wurde umgekehrt angenommen, alle Sprecher an diesem Ort müßten eigentlich so und nicht anders sprechen78. Dem schien aber die offensichtliche Tatsache individueller Unterschiede zu widersprechen. Als Konsequenz aus der Vorstellung von den Individualsprachen entsteht die Idee vom «sprachlichen Kontinuum», die ebenfalls bereits von Hermann Paul formuliert wurde: Auf allen Gebieten des Sprachlebens ist eine allmählich abgestufte Entwicklung möglich. (1920, 33)
Die Feststellung von kontinuierlichen Übergängen zwischen verschiedenen Dialekten ist in der Dialektologie traditionell und allgemein bekannt. Gleichzeitig gelten die Übergänge oft als die Ausnahme; die Regel hingegen sind - bei aller Divergenz - eben die Dialekte, also Phänomene der Konvergenz. Die Vorstellung des «Kontinuums» als kontinuierliche Abstufung von «Individualsprachen» liegt also im Widerspruch zu der Vorstellung von «Dialekt» oder «Sprache» als diskrete, funktionelle Einheit oder als Ausdruck einer Gemeinschaft. Im Verlaufe unseres Jahrhunderts war es vor allem in der Kreolistik, wo die Vorstellung von kontinuierlichen Übergängen beschrieben wurde. Auch bei der Beschreibung sogenannter «vertikaler Sprachkontakte» ist in jüngerer Zeit häufig vom «Kontinuum» die Rede, etwa vom Kontinuum zwischen lokalen Mundarten, lokalen Standards und überregionalen Gemeinsprachen. Besonders in sehr dynamischen Kontaktsituationen erscheinen die Übergänge zwischen einzelnen Sprachformen oft unstrukturiert. So stellten Reinecke/Tokimasa 1934 hinsichtlich des Englischen auf Hawaii fest, es sei am besten als ein Dialektkontinuum zu betrachten79. In ihrer Nachfolge taucht der Begriff in den Kreolforschungen vor allem zu den karibischen Sprachen immer wieder auf 80 . In Jamaica hat De Camp ein Kontinuum festgestellt, das er für die Theoriediskussion zu interpretieren versuchte (De Camp 1971). Nach seiner Ansicht ist die Idee der Einheitlichkeit von Sprache eine «useful
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So meint etwa Marcellesi 1981, 6: «La dialectologie a trfes tot eti confrontie au fait qu'en un meme 'point' [...] on utilisait des variites differentes: mais pour eile, au dipart - et sans doute encore maintenant - c'itait beaucoup plus un obstacle qu'un avantage ou qu'un veritable sujet d'itude. D'oü le soin m6ticuleux qu'elle a mis ä selectionncr les temoins (quand eile avait le choix!) selon une sociologie un peu sauvage et peu explicite qui attribuait 'le vrai' dialecte de l'endroit ä un type d'informateur ditermine. L'objet scientifique etait ainsi une certaine strate de la langue et non l'emploi reel de celle-ci.» Es hatten sich natürlich im Laufe der Zeit auch die Untersuchungsobjekte geändert, und Variation rückte mehr und mehr ins Interesse der Forschung. Allerdings war die Idee von der Einheitlichkeit der Ortsmundart bereits in der Vergangenheit angezweifelt worden, cf. Gauchat 1903. «Hawaiian English is best considered as a dialect continuum», John E. Reinecke u. Aiko Tokimasa, «The English Dialect of Hawaii», American Speech 9 (1951), 48-58, S. 48. Cf. der Überblick bei Bickerton 1973, 640.
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linguistic abstraction» (S.351f.), die aber nicht der soziolinguistischen Realität entspreche. Als Bedingungen für ein Kontinuum nennt er soziale Mobilität, den uneinheitlichen Druck der Standardsprache und die Beschreibbarkeit der Kontaktextreme. Entlang des Kontinuums mag es nach seiner Ansicht sein, daß unendlich viele funktionale Beschreibungen nötig sein werden: Will we need ten grammatical descriptions, or perhaps a hundred, or perhaps for every perceptible different variety along the continuum? (1971, 352)
Verständigung zwischen den einzelnen Sprechern ist laut De Camp durch die Fähigkeit, die Varietäten zu konvertieren, möglich, einer Fähigkeit also, die Äußerung des anderen zu übersetzen, auf bekannte Sprachformen zu übertragen. Dieser Fähigkeit müsse in der Sprachtheorie Rechnung getragen werden: if the ability to make such conversions is a part of the native speaker's competence, must be accounted for in the theory (1971, 352, Hervorhebung im Original)
then it
Die traditionelle «Setzung» von Varietäten verurteilt De Camp als «pigeonhole technique» (S. 345f.): wenn Kategorien a priori gesetzt würden, dann finde man auch ihnen entsprechende Elemente. Dabei bliebe zu fragen, ob man so die wirkliche Realität der Dinge erfassen würde. Er interpretiert die gesetzten Kategorien entweder als Punkte auf dem Kontinuum oder als Abstraktionen aus einzelnen Kontinuumsabschnitten, wie im folgenden Schema: Β
c
Die Theorie müsse die Variationsregeln der einzelnen Sprecher als Teil der Kompetenz wahrnehmen und Beschreibungskategorien für diese Regeln schaffen. De Camp nennt die Grammatik, in der diese Kategorien berücksichtigt werden, in Anlehnung an Weinreich «Diagrammar» (S. 368). Was bei Chomsky der «ideale Sprecher-Hörer» ist, müsse demnach erweitert werden auf einen Idealsprecher, der alle Varietäten beherrscht und gleichzeitig die «switching-rules», d.h. die Regeln zur Auswahl der jeweils angemessenen Varietät, komplett kennt. Ein solcher Idealsprecher reduziert sich aber in der von De Camp angedeuteten Realität auf Sprecher mit drei Kriterien: auf die Beherrschung der üblichen, unreflektierten Umgangssprache, auf eine Varietät, die sich am Standard orientiert und eine kreolorientierte Form, auf drei Orientierungsrichtungen also, mit deren Hilfe sich die Sprecher auf der kontinuierlichen Linie möglicher Sprachformen hin- und herbewegen können. Im europäischen Raum wurde die Frage nach einem möglichen sprachlichen Kontinuum in letzter Zeit mehrfach thematisiert, was auch mit der sich 33
verändernden Sprachsituation zusammenhängen kann: mit der Tatsache, daß die europäischen Gemeinsprachen immer tiefer in Gebiete eindringen, die ursprünglich den Dialekten vorbehalten waren. Am ausführlichsten diskutiert wurde über die Frage nach Dialekt, Standard und Zwischenformen in bezug auf das Italienische. Dabei wurden verschiedene Klassifikationen für die unterschiedlichen Sprachformen vorgeschlagen, die von einer vertikalen Einteilung in drei Varietäten bis zu Einteilungen in acht und mehr Variationsstufen reichen81. Einigkeit herrscht bei allen Autoren über die Extrempole und die Annahme, daß eine Einteilung sinnvoll sei, Uneinigkeit hingegen bezüglich der Einteilung selbst. Als Lösung für diese Probleme schlug Gaetano Berruto (wie zuvor schon Mioni/Trumper) die Interpretation der Varietäten als «Kontinuum» vor, um ein für allemal die Frage der Klassifikation zu beantworten. Dabei glaubt er, einen Beweis gegen den Sinn einer Systembeschreibung gefunden zu haben: In effetti, con l'uso del termine di continuum in sociolinguistica si intende mettere in rilievo da una parte l'inadeguatezza della nozione strutturalista classica di 'sistema' [...] per cogliere e descrivere la variazione linguistica, che sembra sfuggire a una trattazione discreta; e dall'altra parte il fatto che fra le diverse varieta eventualmente identificabili non esistono confini netti, discreti, che separino rigorosamente una varietä da quelle vicine (Berruto 1 9 8 7 , 2 7 )
Im Prinzip übernimmt Berruto nicht nur den Begriff, sondern auch die Methode von den Kreolisten und bezieht beides auf das Italienische. An einem Beispielsatz zeigt er 11 verschiedene Übergangsformen zwischen einem norditalienischen Basisdialekt und Standarditalienisch 82 . Nun unterscheidet Berruto verschiedene mögliche Typen von Kontinua, eines, das aus nicht orientierten Varietäten besteht, eines, das aus Varietäten besteht, die zwischen zwei Extrempolen stehen und ein «continuum con addensamenti», innerhalb dessen es verschiedene Gravitationsbereiche gibt (Berruto 1987, 29). Das Italienische ordnet er dem dritten Typ zu, die von anderen Linguisten festgestellten «Varietäten» wie etwa «italiano popolare» oder «italiano dialettale» wären als solche Gravitationszonen zu interpretieren. In mehreren Arbeiten hat Thomas Stehl den Begriff des Kontinuums kritisiert. Er setzt der Vorstellung von Kontinuität die wichtigen sprachlichen Funktionen von Identitätsschaffung und Abgrenzung entgegen: la langue a toujours eu, pour les communautes linguistiques, non seulement la fonction d'identification avec la communautö mais aussi la fonction de delimitation par rapport aux autres communautes; vouloir nier les frontiferes dialectales signifie done non seulement nier les frontieres linguistiques tout court, mais aussi une des fonctions sociales fondamentales du langage humain. (Stehl 1988, 31)
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Pellegrini unterschied 1960 vier «registri espressivi», Mioni 1975 zunächst drei, dann 1983 für den Urbanen Raum vier Varietäten, ebenso de Mauro 1980; Sanga kommt 1981 auf acht Varietäten, und Trumper/Maddalon fügen mit der Unterscheidung orale/scritto noch weitere Kriterien hinzu. Eine Zusammenfassung der Diskussion findet sich bei Berruto 1987, 1 3 - 1 9 (cf. auch Sornicola 1977, 55ff. und die Diskussion innerhalb der Sektion zur Dialektologie/Soziolinguistik auf dem Trierer Romanistenkongreß von 1986). Berruto 1987, 30. Vgl. D e Camp 1971, 355 oder Bickerton 1973, 647ff.
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Als Alternative zum Kontinuum nimmt er aus früheren Diskussionen die Begriffe der «Gradation» und des «Gradatums» wieder auf, wobei er eine Anwendung der Coseriuschen Varietätenbegriffe auf den vertikalen Sprachkontakt (oder allgemein auf Sprachkontakt zwischen zwei Kontaktextremen) vornimmt. Die geordneten «Gradata» hätten, im Gegensatz zum ungeordneten Kontinuum, bei dem es sich ausschließlich um eine Kategorie der beschreibenden Linguisten, weder aber der Sprache noch des Sprecherbewußtseins handle, wirkliche Existenz und müßten daher Objekt der Sprachbeschreibung sein. Auch Peter Wunderli hat kürzlich das Dilemma Kontinuum v.s. diskrete Einheiten aufgegriffen. Bei ihm werden Coserius Varietätenbegriffe dahingehend kritisiert, daß sie der Realität von Sprache nicht gerecht würden, und es wird daher vorgeschlagen, zum besseren Verständnis eine Synthese aus den Betrachtungsweisen von Coseriu, Berruto und Halliday vorzunehmen 83 . Wunderiis Kritik erscheint zunächst etwas widersprüchlich, da sie zuerst die Vorstellung von den «diskreten Einheiten» kritisiert, da die «organisation de la langue dans sa totalite» ein «continuum resultant d'un proces historique» (1992,71) darstelle, gleichzeitig aber feststellt: II serait cependant primaturi de plaindre la perte de toute structure, de toute grammaire, de toute regularite - la realite linguistique est seulement beaucoup plus complexe que certaines icoles linguistiques ne le pensaient: Aucun discours n'appartient ä une seule varicte, il constitue toujours un amalgame d'61ements de differentes varietis (ou au moins attribuables ä de diffirentes varices). (Wunderli 1992,69)
Damit thematisiert er das Dilemma und deutet gleichzeitig eine Lösung an, die in der Beziehung individueller Redeakte auf verschiedene Varietäten bestehen könnte. Die festgestellten Kontinua sind nämlich keine Kontinua von Individualsprachen, weil es Individual sprachen überhaupt nicht gibt: «Sprachen» sind gemeinschaftliche Zeichensysteme, die in individuellen Redeakten aktualisiert werden. Ausführlich wurde der Begriff darum von Weinreich/Labov/Herzog (1968, 105ff.) kritisiert, da er mit ihrer Auffassung von Sprache als sozialem Phänomen nicht zu vereinbaren war. Mehr als zehn Jahre zuvor bereits hatte Coseriu auf den inneren Widerspruch dieses Terminus hingewiesen84. In den meisten Definitionen von «Idiolekt» wird Sprache als Abstraktion und konkretes Sprechen nicht klar genug getrennt. Funktionelle Sprachen, und nicht nur Gemeinsprachen, sondern auch diatopische, diastratische und diaphasische 83
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Wunderli 1992. Es erscheint zumindest problematisch, Theorien, die sich scheinbar klar widersprechen, miteinander zu kombinieren. Wenn dies von Wunderli dennoch vorgeschlagen wurde, dann wohl aufgrund der Überzeugung, daß sie sich eben nur scheinbar widersprechen, und tatsächlich beziehen sich die Aussagen von den diskreten Einheiten und vom Kontinuum auf verschiedene Erscheinungen und können daher auch nicht eigentlich gegeneinander stehen. Coseriu 1957/1978, 63f. Weinreich/Labov/Herzog 1968 zitieren Coserius Arbeit zwar in der ersten Fußnote, gehen aber im Verlaufe ihres Aufsatzes nicht mehr auf ihn ein. Es scheint, daß es vor allem Uriel Weinreich, der Autor des ersten Kapitels (über Hermann Paul) war, der Coserius Theorie kannte; Weinreich verstarb vor Abfassung der folgenden Kapitel, in denen teilweise genau die von Coseriu erörterten Probleme diskutiert werden.
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Varietäten, sind Sprachen im Sinne von Langues, und diese werden im Sprechen realisiert, sie sind aber immer Abstraktionen aus dem Sprechen historischer Gemeinschaften. Im Sprechen mag es zwar durchaus vorkommen, daß genau ein Sprachsystem realisiert wird, es muß aber nicht sein: im Sprechen können Elemente aus verschiedenen funktionellen Sprachen vorkommen: Jedes Individuum kennt im Normalfall in einem gewissen Ausmaß verschiedene Mundarten und verschiedene Sprachniveaus, und es kann sie - mindestens zum Teil - in seiner Rede realisieren; darüber hinaus beherrscht es - per definitionem - verschiedene Sprachstile. (Coseriu 1988,40)
Was aber «funktioniert», was Mitteilung möglich macht, ist nicht individuell, sondern gemeinschaftlich: «Jede Sprache setzt ein , nicht ein voraus» (ibd.). Neben dieser Feststellung stehen die empirischen Fakten individueller Abstufung, wie sie sowohl von den Kreolisten als auch etwa in den Arbeiten Berrutos festgestellt wurden. Wenn beide Positionen etwas beschreiben, was den Tatsachen entspricht, so müssen sie auch vereinbar sein, wenn sie sich tatsächlich auf dieselbe Sache beziehen. In einigen Argumenten liegt aber eine Art «Diskussionschiasmus» vor, d.h. es werden Theorien anderen Theorien entgegengehalten, die sich in Wahrheit auf etwas ganz anderes beziehen85. Die Kontinuumsbefürworter kritisieren nämlich die strukturalistischen Begriffe von «System» und «funktioneller Sprache», ohne sich in ihren Argumenten wirklich auf diese zu beziehen. Hier ist zunächst festzuhalten, daß die Beschreibung von funktionellen Sprachen zwar durchaus eine Erfindung von Linguisten ist, aber in keiner Weise im Widerspruch zur sprachlichen Realität steht, wie Harald Weydt und Brigitte Schlieben-Lange ganz richtig festgestellt haben: der strukturalistische Systembegriff steht nun nicht etwa im Gegensatz zu den sprachlichen Fakten. Er ist sogar recht gut mit ihnen in Einklang zu bringen und geradezu geeignet, diese Fakten besser zu erklären. (Weydt/Schlieben-Lange 1981, 132)
Funktionelle Sprachen haben objektive Existenz, und sie entsprechen der Finalität des Sprechens, Systeme zu bilden. Und nur was gemeinschaftlich ist, nur was geteiltem Wissen entspricht, ist überhaupt Sprache, ein historisches Wissen, eine virtuelle Technik einer Gemeinschaft. Die Sprecher aber gehören nicht nur einer einzigen, homogenen historischen Gemeinschaft an, sondern sie sind Mitglieder verschiedener Gruppen, und ihre Sozialisation besteht aus dem Erlernen verschiedener Techniken, verschiedener funktioneller Sprachen und vor allem verschiedener Normen. Im Sprechen können sie Elemente verschiedener Sprachen und Normen zum Ausdruck bringen. Zwischen zwei (oder mehreren) Sprachen sind aus Gründen unterschiedlicher Interferenzhäufigkeit unendliche Abstufungen denkbar. Diese sind jedoch überhaupt nur als solche erklärbar, weil sie Abstufungen zwischen Sprachen sind. Und das Wissen um die Existenz dieser Sprachen gehört auch zum Wissen der Sprecher. Wenn De Camp von drei Orientierungen der Sprecher spricht, dann weist er darauf hin, daß im Wissen der Sprecher drei Sprachen 85
Vgl. hierzu Albrecht 1986, 70f.
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bekannt sind, an denen sie sich orientieren, und wenn im Italienischen ein Kontinuum zwischen Dialekt, Regionalsprache und Standardsprache (oder auch mehreren Varietäten) festgestellt wird, so sind diese Varietäten für die Sprecher Realitäten, und sie beziehen sich nicht auf Individualsprachen, sondern auf Ausdrücke von Gemeinschaften. Wenn ein Kontinuum festgestellt wird, so ist das also eigentlich ein Kontinuum zwischen Sprachen, bestehend aus einzelnen Redeakten, in denen Elemente aus diesen Sprachen in unterschiedlichem Maße auftreten. Dies widerspricht in keiner Weise der Funktionsfähigkeit von Sprache. Es ist gerade ein Wesenszug des sprachlichen Wissens, individuell verschiedene Redeakte auch verstehen zu können und auf das gemeinschaftlich tradierte Wissen zu beziehen. In der Diskussion aber wird einerseits versucht, die individuelle Realität der Redeakte gegen die historische Realität der Sprachen zu setzen, andererseits wird mit der Existenz von Sprachen gegen Phänomene des Sprechens argumentiert. Allein mit der Trennung der Ebenen sind selbstverständlich die konkreten Fragen - etwa zur Anzahl der italienischen Varietäten - keinesfalls gelöst, diese sind jedoch überhaupt nur lösbar, wenn diese Unterscheidung gemacht wird86.
1.8. Die Sprecher als Linguisten Hinter zahlreichen der bislang diskutierten Probleme steht im Grunde die Frage danach, in wiefern gewisse Bewußtseinsinhalte das sprachliche Handeln bedingen können. Wenn von «negativer» Interferenz gesprochen wurde und von der Vermeidung von Interferenz durch die Sprecher, dann wird implizit eine sprachliche Analyse seitens der Sprecher vorausgesetzt, eine Analyse, die verschiedene sprachliche Fakten der einen oder anderen Sprache zuordnet und danach das eigene Redeverhalten ausrichtet: es wird implizit angenommen, daß das Bewußtsein von Variation oder von der Existenz mehrerer Sprachen das Sprechen beeinflußt. Wenn die Tätigkeit einer solchen Zuordnung oder das sprachliche Wissen schlechthin untersucht werden soll, dann begibt sich die Sprachwissenschaft an den Rand der Psychologie (cf. Juhäsz 1970, 12ff.). 86
Im Grunde wird in der ganzen Diskussion das Problem der Existenz von Variation mit dem Problem der Abgrenzung von Varietäten verwechselt, wie dies auch bei der Frage der Mundartgrenzen der Fall war, wie Coseriu 1956/1975, 29f. feststellt: «eigentlich verrät die Betonung dessen, daß es keine Mundartgrenzen gibt, dieselbe Grundhaltung wie bei denen, die darauf beharren, daß es sie gibt, zumal eine solche Betonung den Gedanken voraussetzt, es müsse sie eigentlich geben. Sie bedeutet, daß die Mundarten als etwas Konkretes gedacht werden, das an sich schon, vor und unabhängig von der Feststellung der Bereiche besteht, die die einzelnen Sprachfakten in einem Gebiet darstellen. Die Existenz der Dialekte aber setzt nicht die Existenz von Dialektgrenzen voraus, genau wie die Leugnung solcher Grenzen nicht schon die Nicht-Existenz der Dialekte besagt. Denn die Dialekte gibt es nicht vor, sondern nach der Feststellung der Bereiche, in denen man die konkreten Erscheinungen verzeichnet; sie sind auch keine Dinge, sondern Abstraktionen, Systeme von Isoglossen, die über der Vielfalt des Sprechens aufgebaut werden.» Cf. auch Schuchardt 1870/1921, 166ff. und Gauchat 1903, 378, der in Anlehnung an P. Meyer und Schuchardt Ähnliches feststellt; sowie Lang 1982, 63ff.
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Ohne das eigentliche sprachwissenschaftliche Interesse, nämlich die sprachlichen Fakten, die durch das sprachliche Wissen geschaffen werden, aus dem Auge zu verlieren, müssen in diesem Zusammenhang zumindest drei Fragen gestellt werden: - welcher Fakten sind sich die Sprecher beim Sprechen bewußt bzw. welcher Fakten können sie sich bewußt sein, - wie kann das Wissen der Sprecher ihre sprachlichen Handlungen beeinflussen, - wie kann dieses Wissen und der Prozeß der Beeinflussung von Handlungen untersucht werden. 1.8.1. Primärsprache und Metasprache87 Was die erste Frage betrifft, ist in der Tradition der Sprachwissenschaft oft gesagt worden, die Sprecher hätten kein Wissen von den Mechanismen der Sprache: dies hätten allein die Sprachwissenschaftler, während die Sprecher im Normalfalle gewissermaßen ihre Handlungen blind ausführten. So sagt Hermann Paul (1920, 29), die Sprache («der Sprachorganismus») sei etwas «unbewusst in der Seele Ruhendes», der nur «an seinen Wirkungen, den einzelnen Akten der Sprechtätigkeit» zu erkennen sei. Nur «mit vielen Schlüssen» könne «ein Bild von den im Unbewussten lagernden Vorstellungsmassen gewonnen werden.» Für Ferdinand de Saussure gehört das Nachdenken über die Sprache nicht zur Sprachpraxis: la riflexion n'intervient pas dans la pratique d'un idiome; [...] les sujets sont, dans une large mesure, inconscients des lois de la langue (1916/1984, 106)
Und ähnlich wie Hermann Paul sagt auch Edward Sapir, auf den Sprachwandel bezogen: The drift of a language is constituted by the unconscious selection on the part of its speakers of those individual variations that are cumulative in some special direction. (1921/1949, 155)
Bis in die Gegenwart lassen sich zahlreiche Aussagen von Sprachwissenschaftlern finden, die die These von der Unbewußtheit sprachlichen Handelns vertreten88. 87 88
Für das Folgende cf. Coseriu 1988, 188ff. Der Düsseldorfer Germanist Rudi Keller hat in einer Arbeit zum Sprachwandel, die eine große Verbreitung gefunden hat (Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen 1990, 2. Aufl. 1994) und deren Erklärung auch um die Frage des Bewußtseins kreist, versucht, den Sprachwandel als sogenannten «invisible-hand-Prozeß» zu beschreiben, bei dem eine Summe von Einzelhandlungen ein nicht intendiertes Gesamtergebnis bewirkt, als würden die Handelnden von einer unsichtbaren Hand geführt. Beispiele für invisible-hand-Prozesse sind nach Keller die Entstehung eines Verkehrsstaus oder eines Trampelpfades, die Inflation oder der Sprachwandel. Keller setzt voraus, daß die Ergebnisse des Sprachwandels nicht von den Sprechern intendiert sind, die Prozesse also «unbewußt» ablaufen. Dies wurde u.a. von Thomas Stolz 1994, 102 in Frage gestellt. Das Hauptproblem dieser Theorie besteht aber in der Stellung der Frage nach den Gründen des Sprachwandels auf der abstrakten Ebene der Sprache. Ganz richtig wird zwar festgestellt, daß der Wandel auf der Ebene des Sprechens nur aus den zielgerichteten
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Hier ergibt sich zunächst das Problem des diffusen Begriffs «Sprachbewußtsein» 89 , mit dem sich verschiedene Fragen verbinden, nämlich z.B. ob es überhaupt menschliches Handeln ohne Bewußtsein gibt, ob der Terminus sich auf das Bewußtsein von Regeln der Grammatik bezieht oder auf Verwendungsregeln im Kommunikationsakt oder schließlich ob Sprachbewußtsein als Begriff für die Meinungen und Einstellungen der Sprecher gegenüber bestimmten Sprachformen verwendet wird. Um sich nicht in der psychologischen oder philosophischen Diskussion zu verlieren, hat Brigitte Schlieben-Lange darum vorgeschlagen, den Begriff des «sprachlichen Wissens» vorzuziehen: On peut eviter beaucoup de problfemes apportes par le concept de «concience linguistique» en employant celui de «savoir linguistique» (Schlieben-Lange 1982, 221)
Doch ist damit aber natürlich noch nicht die Frage nach Inhalt, Art und Umfang des sprachlichen Wissens geklärt. Bei der Frage des sprachlichen Wissens als technischem Wissen zitiert Eugenio Coseriu zunächst die Unterscheidung Hegels zwischen «Bekanntem» und «Erkanntem», eine Unterscheidung, der auf die Sprache bezogen diejenige zwischen dem Wissen der Sprecher, die keine Begründungen kennen, und dem Wissen der Linguisten, denen auch die Gründe bekannt sind (Coseriu 1988,205)
entspricht. Dieses «Wissen der Linguisten» wird aber nicht nur als wissenschaftliches, objektives Wissen, sondern auch als Wissen der «Sprecher als Linguisten» dargestellt, das sich in der Begründung des technischen Wissens durch die Sprecher metasprachlich äußert, jedoch vom technischen Wissen getrennt wird: Es ist jedoch nicht ganz leicht, die Grenze zu ziehen zwischen der Begründung durch den Sprecher als solchen und einer Begründung, bei der schon das reflexive Wissen des Sprechers als eines Linguisten eine Rolle spielt. Nach unserer Auffassung ist die Grenze •zwischen diesen beiden Arten des Wissens folgendermaßen zu ziehen: Nur die unmittelbare Begründung gehört zum technischen Wissen, jede weitere Begründung (d.h. die Begründung der Begründung) ist bereits reflexiv. (Ibd., 221)
Coseriu wendet dabei die Unterscheidungsstufen Leibniz' der verschiedenen Stufen von Erkenntnis auf die Sprache an. In einer grundlegenden und
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Tätigkeiten der Individuen erklärt werden kann (1994, 113), es soll aber damit nicht genug sein und bedarf eines zusätzlichen Scheinagens, eben der «unsichtbaren Hand», die als Metapher durchaus treffend, als Erklärung jedoch nichtssagend ist. Vor Keller hatte schon Helmut Lüdtke («Esquisse d'une thiorie du changement langagier», La Linguistique 22, 1986, 5-46) die «invisible-hand-Theorie» vertreten. Cf. dagegen Baldinger 1991, 88ff. und Baldinger 1993. So meint Brigitte Schlieben-Lange in bezug auf diesen Terminus: «La difficulte de ce concept rdside dans le fait qu'il fait allusion ä une theorie de la conscience. II faudra alors discuter si le contenu de la conscience linguistique appartient au domaine du priconscient ou du conscient. En plus, il faudra se demander si la conscience linguistique qui se refere aux elements d'une langue et qui permet de parier une langue est identique ä Celle qui identifie les langues et les variitds de langue, qui les caractirise et les evalue» (SchliebenLange 1982, 221). Zur Diskussion der Frage des Bewußtseins cf. Gauger 1976, 55, nach dessen Ansicht der Sprachbesitz in der Freudschen Terminologie zum «Vorbewußten», «prinzipiell bewußtseinsfähigen» zählt.
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berühmten Abhandlung von 1684 unterscheidet nämlich Leibniz die folgenden Stufen der cognitio (zit. n. Coseriu 1988, 206): obscura cognitio _ ^^^^^
confusa
clara