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German Pages 385 [386] Year 2019
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 287
Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten im Strafverfahren Eine Untersuchung des deutschen Umgangs mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten im Lichte des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots
Von
Tobias Kulhanek
Duncker & Humblot · Berlin
TOBIAS KULHANEK
Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten im Strafverfahren
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 287
Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten im Strafverfahren Eine Untersuchung des deutschen Umgangs mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten im Lichte des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots
Von
Tobias Kulhanek
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Hans Kudlich, Erlangen Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-15721-1 (Print) ISBN 978-3-428-55721-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-85721-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im August 2018 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation vorgelegt. Die Disputation fand am 26.10.2018 statt. Bearbeitungsstand ist der 31.07.2018, neuere Rechtsprechung und Literatur konnten nur noch punktuell berücksichtigt werden. Ein solches Vorwort ist viel zu kurz und überdies nicht der Ort für persönliche Danksagungen. Gleichwohl komme ich nicht umhin, mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans Kudlich, für die von Beginn an verständige Begleitung meines wissenschaftlichen Weges zu bedanken, und möchte es auch nicht versäumen, an die immer noch zutreffenden Dankesworte aus der Examensrede gerichtet an meine Eltern zu erinnern. Ich widme die Arbeit den wenigen wahren Freunden, die man im Leben trifft. Nürnberg, 29.12.2018
Dr. Tobias Kulhanek
Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Statistische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Umgang mit Personen ohne verlässliche Personaldokumente . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung in den Teilen B.–E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 24 27 29
B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausformungen und Eintrübungen des Rechtssatzes „Die Gerichts sprache ist Deutsch“ sowie Maßnahmen zur Kompensation sprach bedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 38
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . II. Zustellung im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Öffentliche Zustellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 92 175 179 184
45
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit bei der Rechts folgenbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten bei der Strafverwirklichung (Strafvollstreckung und Strafvollzug) . . . . . . . . . . . . 263 E. Vertiefende Betrachtung im Lichte des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311 315 320 331
F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Statistische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sprachfremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ortsfremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Umgang mit Personen ohne verlässliche Personaldokumente . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung in den Teilen B.–E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . 31 I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Rechtshistorischer Ursprung seit Inkrafttreten des GVG . . . . . . . . . . . 31 2. Entwicklung des Gesetzes bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Sinn und Zweck der Beschränkung der Gerichtssprache auf Deutsch . 33 4. De lege ferenda: Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Internationale Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Einfluss des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Einfluss des supranationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Hintergründe der Richtlinie 2010/64/EU – Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Ziele und relevante Normen der Richtlinie 2010/64/EU zum Thema Gerichtssprache und Dolmetschleistungen . . . . . . . . . . . . . 41 c) Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU in deutsches Recht . . . . . . 42 III. Ausformungen und Eintrübungen des Rechtssatzes „Die Gerichts sprache ist Deutsch“ sowie Maßnahmen zur Kompensation sprach bedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Der Anspruch des Beschuldigten auf Ausgleich sprachbedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Das Dolmetschen/Übersetzen im Strafverfahren aus translationswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 aa) Gelungene Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Wortgetreu vs. sinngetreu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Unterstützung bei der verbalen wie schriftlichen Kommunikation . 52 aa) Verfahrensrechtliche Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 bb) Praktische Erwägung und Durchführung der Zuziehung . . . . . 54 (1) Feststellung der Sprach(un)kundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (2) Der teilweise sprachkundige Beschuldigte . . . . . . . . . . . . 57 (3) Vorschriftswidrige Abwesenheit eines Dolmetschers, § 338 Nr. 5 StPO i. V. m. § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG . . . . . 59
10 Inhaltsverzeichnis (4) Anordnung des Selbstleseverfahrens, § 249 Abs. 2 StPO . 60 cc) Der sog. Vertrauensdolmetscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Pflichtverteidigerbestellung, § 140 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . 62 d) Justizielle Schriftstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 aa) Gesetzliche Regelbeispiele und abgestufte schriftliche Übersetzung, § 187 Abs. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (1) Anklageschrift und Ladung zur Hauptverhandlung . . . . . . 66 (2) Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 (3) Strafbefehl – EuGH, Urteil vom 12.10.2017, Az. C-278/16 (Frank Sleutjes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) Verzicht, § 187 Abs. 3 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 e) Schriftliche Eingaben in fremder Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Herkömmliche Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) EuGH, Urteil vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (1) Eine Ansicht: Rechtsmittel in fremder Sprache als wesentliches, von Amts wegen zu übersetzendes Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (2) Andere Ansicht: Keine Pflicht zur amtsseitigen Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 (a) Keine Pflicht zur Übersetzung von Schriftstücken in die Verfahrenssprache aus Art. 2, 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 (b) Keine Pflicht zur Übersetzung von Schriftstücken in die Verfahrenssprache aus Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 cc) BGH, Beschluss vom 09.02.2017, Az. StB 2/17 . . . . . . . . . . . 80 2. Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Maßnahmen zur Sicherstellung einer hinreichenden Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2010/64/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Sog. Privatdolmetscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 c) Überprüfung der Qualität der Translation in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 aa) Dolmetschereid, § 189 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 bb) Rüge der mangelnden Qualität der Dolmetschleistung . . . . . . 87 cc) Ablehnung des Dolmetschers, § 191 GVG . . . . . . . . . . . . . . . 89 d) Beanstandungsrecht nach Art. 2 Abs. 5, 3 Abs. 5 Richtlinie 2010/64/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsklärung und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 92 93 93
Inhaltsverzeichnis11 b) Funktionsweise und Anwendungsbereiche der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Allgemeine Funktionsweise der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Pflichten des Beschuldigten, der Justizbehörden und des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 cc) Über einen Zustellungsbevollmächtigten übermittelbare Schriftstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (1) Gewährung rechtlichen Gehörs über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (2) Zustellung eines Strafbefehls über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (3) Zustellung einer Anklage und der Ladung zur Haupt verhandlung über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . 101 (a) Mitteilung der Anklageschrift gem. § 201 Abs. 1 StPO und Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (b) Sicherungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO (Sitzungshaftbefehl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (4) Zustellung eines Urteils über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Der Grundsatz rechtlichen Gehörs sowie das Fairnessprinzip bei Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . 108 2. Rechtsgrundlagen und Anforderungen der strafprozessualen Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Arten der strafprozessualen Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Gesetzliche Zustellungsvollmacht, § 145a Abs. 1 StPO . . . . . 110 bb) Verfahrenssichernde Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (1) Aussetzung gegen Sicherheitsleistung, § 116a Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (2) Absehen von der Anordnung oder Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme, § 127a Abs. 2 i. V. m. § 116a Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (3) Verfahrenssicherung bei Nichtvorliegen der Haftbefehlsvoraussetzungen, § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . 114 cc) Rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (1) Rechtsgeschäftliche Spezialvollmacht des Verteidigers betreffend Ladungen des Beschuldigten, § 145a Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (2) Allgemeine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht . . . 116 b) Anforderungen an die handelnden Personen sowie den Akt der Benennung des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Person des Vollmachtgebers und Beschaffenheit der Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (1) Jugendliche Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
12 Inhaltsverzeichnis (2) Beschuldigte ohne jeglichen festen Wohnsitz . . . . . . . . . . 118 (3) Beschuldigte, welche das Inland (mutmaßlich). . . . . . . . . bereits wieder verlassen haben oder sonst unbekannten Aufenthalts sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (4) Formerfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Person des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (1) Angehörige der Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden und der Justiz als Zustellungsbevollmächtigte . . . . . . . . . 124 (2) Im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person . . 127 (3) Einverständnis des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . 127 (4) Untervollmacht und Verhinderung des Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 cc) Straferwartungsprognose, Richtervorbehalt, Gefahr im Verzug und isolierte Anordnungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . 130 (1) Verfahrenssichernde Zustellungsvollmachten . . . . . . . . . . 130 (a) Prognoseprüfung i. R.v. § 127a StPO . . . . . . . . . . . . . 131 (b) Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . 132 (c) Gefahr im Verzug i. S. d. § 132 Abs. 2 StPO . . . . . . . 132 (2) Isolierte Anordnung der Benennung eines Zustellungs bevollmächtigten nach § 161 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . 135 (a) Maßnahme ohne wesentlichen Eingriffscharakter/ Grundsatz der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (b) Ermittlungsgeneralklausel, § 161 Abs. 1 StPO . . . . . . 137 (c) Durchsetzbarkeit und Anschein des Zwangs . . . . . . . 139 dd) Verbindung der Anordnung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten mit einer Fahndungsnotierung nach § 131a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Fehlerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Verstoß gegen Anordnungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 144 bb) Verstoß gegen Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO . . . . . 144 d) Erleichterte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Frist versäumnissen des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Supranationaler Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Die Richtlinie 2012/13/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Hintergründe der Richtlinie 2012/13/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Ziele der Richtlinie 2012/13/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 cc) Relevante Normen der Richtlinie 2012/13/EU zum Thema Zustellungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 dd) Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU in deutsches Recht . . . 153 b) EuGH, Urteil vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci) . . . 153 aa) Grundsätzliche Kritik am Ausgangspunkt der Argumentation des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Eine Ansicht: Fristbeginn ab tatsächlicher Kenntnis . . . . . . . . 156
Inhaltsverzeichnis13 cc) Andere Ansicht: Fristbeginn ab Zustellung beim Zustellungsbevollmächtigten bei gleichzeitiger unionsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Fristbeginn ab tatsächlicher Kenntnis widerspricht dem Institut der Zustellungsbevollmächtigung . . . . . . . . . . . . . 159 (2) Wiederaufnahme von Amts wegen nicht statthaft . . . . . . . 159 (3) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . 160 (a) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht geboten . . . . . . . . . . . . 161 (b) Unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschriften zur Wiedereinsetzung (in die Wiedereinsetzungsfrist) 162 dd) Anklagen mit Zustellungsbevollmächtigtem . . . . . . . . . . . . . . 167 c) EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Az. C-124/16, C-188/16, C-213/16 (Tranca, Reiter, Opria) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4. Entwurf eines umfassenden Zustellungsvollmachtsformulars . . . . . . . 172 II. Zustellung im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Zustellung im Rechtshilfewege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Direkte Kommunikation mit Beschuldigten im Ausland . . . . . . . . . . . 176 3. Sicherungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO (Sitzungshaftbefehl) . . 178 III. Öffentliche Zustellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Anwendungsbereich der öffentlichen Zustellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Gerichtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Übermittlung der Anklageschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Strafbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Anwendungsvoraussetzungen der öffentlichen Zustellung . . . . . . . . . . 181 a) Notwendigkeit einer (zeitweiligen) Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Rechtsfolge bei fehlenden Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV. Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Das Wesen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Übergeordnete Interessen bei der konkreten Entscheidung über die Frage der Anordnung von Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Freiheit der Person . . . . . . . 185 b) Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 d) Rechtsstaatsprinzip und Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . 187 3. Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft unter dem Blickwinkel der Sprach- und Ortsfremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Dringender Tatverdacht, § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . 188 b) Haftgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 aa) Flucht, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 bb) Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
14 Inhaltsverzeichnis (1) Äußerung des fehlenden Willens, sich dem Verfahren zu stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (2) Keine Gestellungspflicht des Angeklagten . . . . . . . . . . . . 192 (3) Erreichbarkeit für Zustellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 cc) Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . 199 dd) Hauptverhandlungshaft, § 127b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . 204 aa) Strafbefehlsverfahren zur Haftvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . 205 bb) Beschleunigungsgebot und Haftbefehl bei faktischem Abschluss der Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 cc) Sicherungshaftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO) nach vorangegangener Haftbefehlsaufhebung (§ 112 StPO) i. R. d. §§ 121, 122 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 dd) Anklage über Zustellungsbevollmächtigten vs. Zweck entfremdung der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4. Besonderheiten des Vollzugs der Untersuchungshaft gegen sprachund ortsfremde Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5. Supranationaler Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Unterrichtung und Belehrung – Richtlinie 2012/13/EU . . . . . . . . . 215 b) Abgabe von Überwachungsmaßnahmen zur Untersuchungshaftvermeidung – Rahmenbeschluss 2009/829/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 c) Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI . . . . . . . 217 6. Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit bei der Rechts folgenbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Einleitender Überblick über die anerkannten Straftheorien . . . . . . . . . 224 2. Kulturelle Vorzeichen als rechtsfolgenbestimmender Umstand . . . . . . 226 a) Vermeidbarer Verbotsirrtum, § 17 Satz 2 StGB (i. V. m. § 49 Abs. 1 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Der Einfluss sprach- und ortsfremder Faktoren auf das Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Die Bestimmung der Vermeidbarkeit und ihr Wechselspiel mit der Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten . . . . . . 230 (1) Die Maßgeblichkeit deutscher Wertvorstellungen und mögliche Erkundigungsobliegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . 231 (2) Die (eingeschränkte) Bedeutung des sog. Kernstrafrechts . 233 cc) Die Rechtsfolgenbestimmung beim vermeidbaren Verbots irrtum sprach- und ortsfremder Beschuldigter . . . . . . . . . . . . . 235 b) Zugehörigkeit zu fremdem Kulturkreis als konkreter Strafzumessungsgrund im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 aa) Strafschärfende Wirkungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 bb) Strafmildernder Niederschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Inhaltsverzeichnis15 c) Besondere Strafempfindlichkeit infolge Sprach- oder Orts fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) Strafempfindlichkeit infolge Sprachfremdheit . . . . . . . . . . . . . 240 bb) Strafempfindlichkeit infolge örtlicher Distanz . . . . . . . . . . . . . 242 cc) Strafempfindlichkeit infolge Obdachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . 244 d) Erlittene Untersuchungs-/Abschiebungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Einfluss mangelnder Sprachkenntnisse auf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4. Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 a) Das aktuelle Regelungsregime des Aufenthaltsgesetzes . . . . . . . . . 251 aa) Ausweisungsinteresse, § 54 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 bb) Bleibeinteresse, § 55 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 cc) Ausweisungsabwägung, § 53 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) Art und Ausmaß der Berücksichtigung bei der konkreten Straf zumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Befürwortende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 bb) Herrschende, ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten bei der Strafverwirklichung (Strafvollstreckung und Strafvollzug) . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Strafvollstreckung gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte . . . . . . 263 a) Übersetzungserfordernisse in der Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . 265 b) Vollstreckungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 aa) Vollstreckung deutscher Urteile im Ausland, § 71 IRG . . . . . . 266 bb) Absehen von der Vollstreckung bei Auslieferung, Überstellung oder Ausweisung, § 456a StPO i. V. m. § 17 StVollstrO . 268 cc) Vorwegvollzug, § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . 270 dd) Strafrestaussetzung, § 57 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (1) Prognose(er)stellung für ortsfremde Beschuldigte . . . . . . 271 (2) Verhältnis von § 57 StGB und § 456a StPO . . . . . . . . . . . 273 c) Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis, § 69b StGB . . . . . . 276 d) Vollstreckung von Geldstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen gegen ortsfremde Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Sprach- und ortsfremde Beschuldigte im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . 280 a) Ladung zum Strafantritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Anordnungskompetenzen zum Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 bb) Zustellung der Ladung zum Haftantritt über den Zustellungsbevollmächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 cc) Einzuleitende Fahndungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 b) Das gesetzliche Leitbild des Strafvollzugs gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Integration trotz (möglicherweise) mangelnder Bleibe perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
16 Inhaltsverzeichnis bb) Kriminalwissenschaftlich-strafvollzugskundliche Betrachtung 293 (1) Sprachbarriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 (2) Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 (3) Ausreiseperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 (4) Kulturelle Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 (5) Subkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (6) Gegenmaßnahmen und Verbesserungsansätze . . . . . . . . . 303 cc) Praktische Evaluation des gesetzlichen Leitbilds . . . . . . . . . . . 305 3. Führungsaufsicht mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 E. Vertiefende Betrachtung im Lichte des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Allgemeine Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Allgemeines Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. Anwendungsvorrang des supranationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 II. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 1. Deutsch als alleinige Gerichtssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Beiziehung des Dolmetschers, § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG . . . . . . . . . . 321 a) Übersetzungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 b) Translation in sog. Relaissprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 3. Übersetzer, soweit dies zur Ausübung der strafprozessualen Rechte erforderlich ist, § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 a) Keine vollständige Aktenübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 b) Regelausnahme des § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . 326 c) Behandlung fremdsprachiger Schriftstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 4. Ablehnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wegen mangelnder Sprachkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . 329 III. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1. Verfahrenssichernde Zustellungsvollmacht (§§ 116a, 127a, 132 StPO) nur für Personen ohne festen Wohnsitz im Inland . . . . . . . . . . . 331 2. Haftgrundbegründende Berücksichtigung des fehlenden inländischen Wohnsitzes bzw. der Auslandskontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Flucht/Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 b) Hauptverhandlungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3. Rechtsfolgen und Strafverwirklichung gegen Unionsbürger . . . . . . . . 340 a) Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen für Unionsbürger . . . . . . . . . 340 b) Integrierender Untersuchungshaft- und Strafvollzug . . . . . . . . . . . . 341 c) Vollstreckungsverlauf, insbesondere Übertragung auf den Heimatstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Inhaltsverzeichnis17 F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
Abkürzungsverzeichnis a. A. andere(r) Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort Abb. Abbildung abl. ablehnend ABl. EG (Nr.) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Abs. Absatz abw. abweichend a. E. am Ende AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union a. F. alte Fassung AG Amtsgericht allg. allgemein Alt. Alternative ÄndG Änderungsgesetz ÄndVO Änderungsverordnung Angekl. Angeklagter Anh. Anhang Anl. Anlage Anm. Anmerkung AO Abgabenordnung Art. Artikel AsylG Asylgesetz AufenthG Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Inte gration von Ausländern im Bundesgebiet Aufl. Auflage ausf. ausführlich Bay. Bayern BayIntG Bayerisches Integrationsgesetz BayLT-Drs. Drucksachen des Bayerischen Landtags BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht BayObLGSt. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Sammlung von Entscheidungen in Strafsachen BayPAG Bayerisches Polizeiaufgabengesetz
Abkürzungsverzeichnis19 BayStVollzG
Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe (Bayerisches Strafvollzugsgesetz) BayUVollzG Bayerisches Untersuchungshaftvollzugsgesetz BbgJVollzG Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der Untersuchungshaft im Land Brandenburg Bd. Band BeamtStG Beamtenstatusgesetz Beschl. Beschluss bestr. bestritten/bestreitend BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. I, II Bundesgesetzblatt Teil I, Teil II BGH Bundesgerichtshof BGH GrS Großer Senat beim Bundesgerichtshof in Strafsachen BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung BRD Bundesrepublik Deutschland BR-Drs. Drucksache des Bundesrats BremStVollzG Bremisches Strafvollzugsgesetz Bsp. Beispiel Bspr. Besprechung bspw. beispielsweise BT-Drs. Drucksache des Deutschen Bundestags BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bzgl. bezüglich BZR Bundeszentralregister bzw. beziehungsweise ders./dies. derselbe/dieselbe(n) d. h. das heißt diff. differenzierend DRiG Deutsches Richtergesetz EBAO Einforderungs- und Beitreibungsanordnung Ed. Edition EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einl. Einleitung EMRK Europäische Menschenrechtskonvention – Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
20 Abkürzungsverzeichnis erg. ergänzend Erg. Ergebnis EStG Einkommensteuergesetz EU Europäische Union EuAlÜbk. Europäisches Auslieferungsübereinkommen EuGH Europäischer Gerichtshof EU-GRCh Grundrechte-Charta der Europäischen Union EuRhÜbk Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen EUV Vertrag über die Europäische Union f./ff. folgende/fortfolgende FeV Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßen verkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung) Fn. Fußnote FreizügG Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern FS Festschrift gem. gemäß GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ggf. gegebenenfalls grds. grundsätzlich GVG Gerichtsverfassungsgesetz Halbs. Halbsatz Hdb. Handbuch h. M. herrschende Meinung HmbStVollzG Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe (Hamburgisches Strafvollzugsgesetz) Hrsg. Herausgeber HStVollzG Hessisches Strafvollzugsgesetz i. d. F. in der Fassung i. d. R. in der Regel i. e. S. im engeren Sinne inkl. inklusive insb. insbesondere insg. insgesamt i. R. d./v. im Rahmen des/der/von IRG Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen i. S. d./v. im Sinne des/von i. V. m. in Verbindung mit i. w. S. im weiteren Sinne
Abkürzungsverzeichnis21 jew. jeweils JGG Jugendgerichtsgesetz JVA Justizvollzugsanstalt JVollzGB
Gesetzbuch über den Justizvollzug in Baden-Württemberg
JVollzGB LSA
Justizvollzugsgesetzbuch Sachsen-Anhalt
Kap. Kapitel krit. kritisch LG Landgericht Lit. Literatur LJVollzG
Landesjustizvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz
m. mit MiStra
Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
m. W. v.
mit Wirkung vom
n. F.
neue Fassung
NJVollzG
Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz
Nr. Nummer NTS NATO-Truppenstatut NTS-ZA
Zusatzabkommen zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages (vom 19. Juni 1951) über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen
o. g.
oben genannt
OLG Oberlandesgericht OWiG
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PflVG Pflichtversicherungsgesetz RG Reichsgericht RGBl. Reichsgesetzblatt RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
RiStBV
Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
RiVASt
Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten
RL Richtlinie Rn. Randnummer/Randnummern Rspr. Rechtsprechung S. Satz/Seite(n) SächsStVollzG
Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und des Strafarrests im Freistaat Sachsen
Slg. Sammlung
22 Abkürzungsverzeichnis SLStVollzG Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe im Saarland s. o. siehe oben sog. sogenannt/e/r StA Staatsanwalt bzw. Staatsanwaltschaft StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung str. streitig/strittig StVollstrO Strafvollstreckungsordnung StVollzG Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) StVollzG Bln Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe in Berlin StVollzG M-V Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe in MecklenburgVorpommern StVollzG NRW Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen s. u. siehe unten teilw. teilweise ThürJVollzGB Thüringer Justizvollzugsgesetzbuch TKÜ Telekommunikationsüberwachung u. a. unter anderem U-Haft Untersuchungshaft umstr. umstritten Unterabs. Unterabsatz urspr. ursprünglich usw. und so weiter v. vom/von vgl. vergleiche VO Verordnung Vorb. Vorbemerkung vs. versus WÜK Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen z. B. zum Beispiel ZPO Zivilprozessordnung ZStV Zentrales staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister z. T. zum Teil zust. zustimmend zutr. zutreffend zw. zweifelnd
A. Einleitung Die gegenwärtige Gesellschaft ist geprägt von stetigem Wandel, Mobilität, einem zusammenwachsenden, freizügigen Europa, sprachlicher und kultureller Diversität sowie einer weltumspannenden Dynamik. Diese Phänomene machen auch vor dem Strafrecht und dem seiner Durchsetzung dienenden Verfahrensrecht nicht Halt. Eine verbreitete Folge ist der notwendig werdende Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten, deren Berührung mit der nationalen Rechtsordnung zu vielfältigen Herausforderungen führt. Es ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen den zwingend einzuhaltenden gesetzlichen Vorgaben, den Interessen des Beschuldigten in seiner Ausprägung als Subjekt des Strafverfahrens, orientiert am Grundsatz des fairen Verfahrens, und der Ausrichtung an den unabweisbaren Bedürfnissen einer effektiven Strafverfolgung, das es für jede Einzelfallfrage neu auszuloten gilt.1 In diesen Entscheidungsprozess spielt zunehmend das Unionsrecht mit hinein; insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV ist ausnahmslos zu beachten. Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die angesprochenen Konflikte betreffend den Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten im Strafverfahren aufzuzeigen, zu bewerten und einer sachgerechten, diskriminierungsfreien Lösung zuzuführen. Die Untersuchung behandelt das strafprozessuale Verfahren in seinem gesamten Anwendungsbereich vom ersten Kontakt der Strafverfolgungsbehörden mit dem Beschuldigten über den rechtskräftigen Abschluss bis hin zur Vollstreckung. Im Fokus steht der Beschuldigte als Subjekt des Strafverfahrens. An seiner Stellung richtet sich die Arbeit aus. Andere Verfahrensbeteiligte und ihre jeweilige Thematik werden insoweit stets in Bezug zur Sprachund Ortsfremdheit des Beschuldigten dargestellt. „Sprachfremd“ bezeichnet eine Person, die der deutschen Sprache nicht in einem Maße mächtig ist, dass sie vom Sprachverständnis her einem Muttersprachler gleichgestellt werden kann. „Ortsfremd“ meint im hiesigen Kontext primär den fehlenden festen Wohnsitz im Bundesgebiet. Die Frage der Ortsfremdheit von Beschuldigten ist dabei im Grundsatz gerade keine der Staatsangehörigkeit, sondern 1 Vgl. etwa BVerfG 02.07.2009 – 2 BvR 2225/08, BVerfGK 16, 22 = NJW 2009, 3225 (Verwertung eines bei rechtswidriger Durchsuchung gemachten Zufallsfunds); BVerfG 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, BVerfGE 133, 168 = NJW 2013, 1058 (Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung zur Verständigung im Strafprozess); BGH 26.04.2017 – 2 StR 247/16, BGHSt 62, 123 = NStZ 2017, 651 (656) (Rechtmäßigkeit sog. legendierter Kontrollen).
24
A. Einleitung
bezieht sich allein auf die wohnsitz- und aufenthaltsmäßige Verwurzelung in der BRD. Darüber hinaus umfasst die Begrifflichkeit aber auch eine Fremdheit im kulturellen Sinn. Kriminologische Aspekte spielen hierbei vorliegend ebenso wenig eine Rolle wie Fragen der Auslieferung in Deutschland Betroffener. Die Arbeit beschränkt sich auf die Ortsfremdheit im Hinblick auf Strafverfahren in der BRD.
I. Statistische Betrachtung Die Thematiken Sprachfremdheit und Ortsfremdheit von Beschuldigten spielen in deutschen Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahren eine – auch zahlenmäßig – große Rolle. Die praktische Bedeutung der vorliegenden Untersuchung soll anhand einer Auswertung der bayerischen „Justizstatistik in Zivilsachen, Familiensachen, Straf- und Bußgeldverfahren sowie in Ermittlungsverfahren, Verfahren nach dem OWiG und sonstigen bei den Staatsanwaltschaften zu erledigenden Geschäften“ für die Jahre 2007–2016 veranschaulicht werden.2 1. Sprachfremdheit Die folgende Tabelle nennt die Anzahl an erstinstanzlichen Verfahren vor den bayerischen Amtsgerichten und Landgerichten (absolut und prozentual), bei denen ein Dolmetscher anwesend war. Dies wird sodann grafisch in zwei Diagrammen illustriert. 2007 AG
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
6.357 5.687 5.299 4.952 4.758 4.836 5.238 5.734 7.669 10.054
AG/%
7,1
6,6
6,5
6,1
6,1
6,4
7,3
8,4
12,0
15,6
LG
506
539
452
475
460
425
437
418
463
509
LG/%
29,3
31,7
29,0
29,0
30,1
28,1
28,2
29,2
31,4
36,2
Diagramm Nr. 1 zeigt anschaulich den deutlichen Anstieg der absoluten Zahlen an den Amtsgerichten, was sich auch in der prozentualen Entwicklung in Diagramm Nr. 2 widerspiegelt. An den Landgerichten war 2016 erstmals in mehr als einem Drittel der Verfahren ein Dolmetscher beteiligt. Auch wenn diese Statistiken keinen zweifelsfreien Rückschluss auf die Sprachfremdheit von Beschuldigten zulassen, da der Dolmetscher schließlich 2 Die Statistiken sind jeweils im Bayerischen Justizministerialblatt, amtlich herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz, bekannt gemacht.
I. Statistische Betrachtung25
12000 10000 8000 AG
6000
LG 4000 2000 0
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Diagramm Nr. 1: Anzahl der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen in Strafsachen mit Dolmetscher am AG sowie LG 40 35 30 25 AG
20
LG
15 10 5 0
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Diagramm Nr. 2: Prozentualer Anteil der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen in Strafsachen mit Dolmetscher am AG sowie LG
auch allein für einen Zeugen notwendig gewesen sein könnte, rechtfertigt sich gleichwohl die Einschätzung, dass Fragen rund um die Gerichtssprache und den Ausgleich sprachbedingter Nachteile einen statistisch gefestigten Platz in deutschen Gerichtssälen einnehmen.
26
A. Einleitung
2. Ortsfremdheit Gem. § 154f StPO kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren vorläufig einstellen, wenn der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens für längere Zeit die Abwesenheit des Beschuldigten entgegensteht. Die folgende Tabelle nennt die Anzahl an Verfahren bei bayerischen Staatsanwaltschaften (absolut und prozentual; bezogen auf Gesamtverfahren und bezogen auf einzelne Beschuldigte), welche gem. § 154f StPO sachbehandelt wurden. Die statistische Erhebung dieser (vorläufigen) Verfahrenserledigung wurde ab 01.01.2011 neugefasst. Die Zahlen werden sodann wiederum grafisch in zwei Diagrammen illustriert. 2011
2012
2013
2014
2015
2016
Verfahren, § 154f StPO
3.293
6.997
8.434
10.175
12.460
13.444
Verfahren/%
0,6
1,3
1,5
1,8
1,8
1,7
Beschuldigte, § 154f StPO
3.648
7.779
9.467
11.583
13.689
14.598
0,6
1,2
1,5
1,8
1,7
1,7
Beschuldigte/% 16000 14000 12000 10000
Verfahren
8000
Beschuldigte
6000 4000 2000 0
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Diagramm Nr. 3: Gesamtzahl Verfahrenseinstellungen gem. § 154f StPO im Jahresvergleich
II. Umgang mit Personen ohne verlässliche Personaldokumente 27 2
1,8 1,6 1,4 1,2 Erledigungen
1
Beschuldigte
0,8 0,6 0,4 0,2 0
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Diagramm Nr. 4: Prozentuales Verhältnis der Einstellungen nach § 154f StPO im Verhältnis zu den erledigten Verfahren bei der Staatsanwaltschaft insgesamt
Die Diagramme Nr. 3 und Nr. 4 veranschaulichen den Anstieg der Einstellungen wegen Abwesenheit des Beschuldigten. Nimmt man hinzu, dass viele ortsfremde Beschuldigte bei Betreffen ihrer Person auf frischer Tat durch die Polizei einen Zustellungsbevollmächtigten benennen oder in Untersuchungshaft genommen werden, was nun gerade nicht zu einer entsprechenden Einstellung gem. § 154f StPO führen würde, relativiert sich die mit nunmehr ca. 1,7 % bemessene Quote. Statistiken dazu, in wie vielen Verfahren tatsächlich mangels festen Wohnsitzes in der BRD ein Zustellungsbevollmächtigter benannt wird, existieren nicht. Die praktische Erfahrung rechtfertigt jedoch die postulierte Einschätzung, dass es sich um ein „strafprozessuales Massenphänomen“ handelt.
II. Umgang mit Personen ohne verlässliche Personaldokumente Eine mit Sprach- und Ortsfremdheit unmittelbar nicht verbundene, mittelbar jedoch in praxi ebenfalls zusammenhängende Problematik ist der Umgang mit Personen ohne verlässliche Personaldokumente.3 Die datenmäßige Verarbeitung und gerechte Strafverfolgung von Beschuldigten ungeklärter Identität und ungeklärten Alters verursacht (trotz der strafbewehrten Mitwir3 Jung,
StV 2013, 51; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 221.
28
A. Einleitung
kungspflicht gem. §§ 49 Abs. 2, 95 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) zahlreiche Schwierigkeiten. Die Erfassung von Vorstrafen als Strafzumessungsfaktor setzt eine zuverlässige Eruierung des (strafrechtlichen) Vorlebens voraus. Bei jungen Menschen ist zudem das Alter von zentraler Bedeutung (Strafmündigkeit, Jugendstrafrecht vs. Erwachsenenstrafrecht). Für Letzteres kann sich der sog. forensischen Altersdiagnostik bedient werden, einer rechtsmedizinischen Konstruktion aus erhobenen Befunden mit einer Altersschätzung nach Wahrscheinlichkeiten.4 Nach den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD) soll – auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses gem. § 81a StPO – zunächst eine äußere körperliche Inspektion des Betroffenen erfolgen, wobei insbesondere auf sexuelle Reifezeichen geachtet wird, daneben eine radiologische Untersuchung der Hand, weil das Wachstum der Hand- und Fingerknochen als Indikator für die Altersentwicklung gilt, und schließlich eine zahnmedizinische Untersuchung zur Entwicklung der Weisheitszähne.5 Für die Frage der Identifizierung bei fehlenden/falschen Papieren können bspw. verwendet werden: nationale Fingerabdruck-Datenbanken, die automatisierten daktyloskopischen Identifizierungssysteme der anderen Mitgliedstaaten nach dem Prümer Ratsbeschluss B 2008/615/JI,6 das VisaInformationssystem unter den Voraussetzungen des B 2008/633/JI,7 sowie das zentrale Fingerabdruckidentifizierungssystem Eurodac8 unter den Voraussetzungen des Art. 20 VO 603/2013/EU.9 Ausweislich § 16 Abs. 5 Satz 1 4 Jung,
StV 2013, 51 (52); MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 222. StV 2013, 51 (52 ff.); MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 223. 6 Beschluss 2008/615/JI des Rates vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, ABl. Nr. L 210 S. 1, EU-Dok.-Nr. 3 2008 D 0615. 7 Beschluss 2008/633/JI des Rates vom 23. Juni 2008 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten, ABl. Nr. L 218 S. 129, Celex-Nr. 3 2008 D 0633. 8 Vertiefend Kugelmann, BKAG, 2014, § 14. 9 Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen 5 Jung,
III. Gang der Untersuchung in den Teilen B.–E.29
AsylG ist zudem die Verarbeitung und Nutzung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen im Asylverfahren zur Feststellung der Identität oder Zuordnung von Beweismitteln für Zwecke des Strafverfahrens ausdrücklich erlaubt.10
III. Gang der Untersuchung in den Teilen B.–E. Teil B. der Arbeit geht vom Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“ aus. Nach einer einleitenden Betrachtung des rechtshistorischen Ursprungs und der Entwicklung des Gesetzes bis heute werden Sinn und Zweck dieser Beschränkung herausgearbeitet und etwaige Reformüberlegungen kritisch geprüft. Sodann folgt eine Darstellung der internationalen Einflüsse auf die Gerichtssprache. Besondere Hervorhebung erfährt hierbei die Richtlinie 2010/64/EU11 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren. In der Folge wird untersucht, in welcher Form rechtstatsächlich ein strenges Gerichtssprachenerfordernis besteht und welche Maßnahmen das Gesetz zur Kompensation sprachbedingter Nachteile ergreift: Angefangen beim Anspruch des sprachfremden Beschuldigten auf einen Dolmetscher/ Übersetzer über Fragen der Pflichtverteidigung bis hin zu originär justiziellen Übersetzungserfordernissen. Der bereits angedeuteten Bedeutung der Richtlinie 2010/64/EU folgend sind zwei zentrale Urteile des EuGH vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci),12 sowie vom 12.10.2017, Az. C-278/16 (Frank Sleutjes),13 in den Blick zu nehmen und umfassend zu erörtern. Teil C. der Arbeit behandelt zentral das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht als Instrument zum Umgang mit ortsfremden Beschuldigten. Ausgehend von einer Begriffsklärung und der Darstellung der grundsätzlichen Funktionsweise der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten werden die über einen solchen übermittelbaren Schriftstücke, die verschiedenen Arten der strafprozessualen Zustellungsvollmacht (gesetzlich, verfahrenssichernd, rechtsgeschäftlich), die Anforderungen an die handelnden Personen sowie den Akt der Benennung des Zustellungsbevollmächtigten im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. Nr. L 180 S. 1, Celex-Nr. 3 2013 R 0603. 10 BeckOK-AuslR/Sieweke/Kluth, § 16 AsylG Rn. 12. 11 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. Nr. L 280 S. 1, Celex-Nr. 3 2010 L 0064. 12 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 13 EuGH 12.10.2017 – C-278/16, NJW 2018, 142 = NZV 2017, 530 m. Anm. Sandherr = StV 2018, 70 m. Anm. Brodowski/Jahn.
30
A. Einleitung
und die jeweils zugrunde liegenden Kompetenznormen untersucht. Auch in diesem Teil muss besonderes Augenmerk auf den supranationalen Einfluss gelegt werden, wobei vorrangig die Richtlinie 2012/13/EU14 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren zu nennen ist. Der EuGH hat hier wiederum mit zwei zentralen Entscheidungen bedeutenden Einfluss auf die deutsche Rechtspraxis genommen: Urteile vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci),15 sowie vom 22.03.2017, Az. C-124/16, C-188/16, C-213/16 (Tranca, Reiter, Opria).16 Im Anschluss werden Alternativen zur Vorgehensweise über einen Zustellungsbevollmächtigten erörtert. Dies umfasst Zustellungen im Ausland, die öffentliche Zustellung gem. § 40 StPO und eine vermehrte Anordnung von Untersuchungshaft. In Teil D. der Untersuchung richtet sich der Blick auf die Rechtsfolgen der Tat. Zum einen wird der Einfluss sprach- und ortsfremder Faktoren auf das Unrechtsbewusstsein i. S. d. § 17 StGB, die Strafzumessung im engeren Sinne und das Maßregelrecht beleuchtet. Zum anderen setzt sich die Arbeit an dieser Stelle dezidiert mit den aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen strafrechtlicher Verurteilungen und der Frage ihrer Berücksichtigung im Strafzumessungsvorgang auseinander. Als zweiten Block behandelt der dritte Teil den Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten bei der Strafvollstreckung und im Strafvollzug. Dies umfasst Art, Ort und Ablauf der Vollstreckung, Übersetzungserfordernisse, Ladungsprobleme sowie den Resozialisierungsauftrag im Zusammenspiel mit sprachlich-kulturell integrationsbedürftigen Gefangenen. Wie bereits angeklungen, spielen das Unionsrecht und seine Auslegung durch den EuGH eine beachtliche Rolle im Zusammenhang mit der Sprachund Ortsfremdheit von Beschuldigten im Strafverfahren. In diesem, aber auch in anderen Kontexten betont der EuGH vermehrt die Bedeutung des europarechtlichen Diskriminierungsverbotes nach Art. 18 AEUV. Teil E. der Arbeit nimmt dies zum Anlass, das genannte Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 AEUV für den strafrechtlichen Bereich der Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten zunächst allgemein und sodann konkret für die in den Kapiteln B.–D. gefundenen Ergebnisse zu untersuchen und somit eine Art zusammenführende Klammer über die gesamte Arbeit zu legen. 14 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. Nr. L 142 S. 1, Celex-Nr. 3 2012 L 0013. 15 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 16 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 = JR 2017, 488 m. Anm. Zündorf = StV 2018, 69 m. Anm. Brodowski.
B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“ Zu Beginn der Ausführungen seien zunächst der geschichtliche Gang des Rechtssatzes „Die Gerichtssprache ist Deutsch“ sowie die dahinter stehenden rechtspolitischen Erwägungen beleuchtet. 1. Rechtshistorischer Ursprung seit Inkrafttreten des GVG Nachdem ausgehend vom Mittelalter neben dem Deutschen einst das Lateinische – gleichsam als „Gelehrtensprache“ – als Rechtssprache vorgesehen war,1 stand bereits mit Inkrafttreten des Gerichtsverfassungsgesetzes am 27.01.18772 fest: „Die Gerichtssprache ist die deutsche“, § 186 GVG i. d. F. v. 1877. Dabei bedeutet „deutsche Sprache“ seit jeher Hochdeutsch einschließlich der jeweils gesprochenen Mundarten.3 Jenes Erfordernis einer einheitlichen Gerichtssprache stellte sich historisch nicht nur als eine Anforderung der Praktikabilität dar, sondern hatte durchaus vereinnahmenden Charakter: Durch diese Festlegung wurde auch in den Ostgebieten sowie in Elsaß-Lothringen die unabweisliche Geltung der deutschen Sprache durchgesetzt und so eine nationalstaatliche Spracheneinheit erzwungen.4 Allerdings statuierte § 12 EGGVG i. d. F. v. 18775 zeitgleich, dass die für Elsaß-Lothringen ge ltenden Bestimmungen über die Gerichtssprache durch die Vorschrift des § 186 GVG i. d. F. v. 1877 nicht berührt würden. 1 Hülle,
JuS 1990, 526 (527 ff.); Paulus, JuS 1994, 367 (369) m. w. N. 1877 Nr. 4, S. 41 (74). 3 Löwe/Hellweg, 1907, Zu § 186 GVG 1.; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 1; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 184 GVG Rn. 8; SK-StPO/Frister, § 184 GVG Rn. 5; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 3; zur Bedeutung der deutschen Rechtssprache als Ausdrucks-, Kommunikations-, Verständigungs- und Rechtsmittel vgl. Ebert, Sprache in der Rechtsanwendung, 2015, S. 7 ff. 4 Meurer, JR 1982, 517 (518); Paulus, JuS 1994, 367 (369); Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 7 f. 5 RGBl. 1877 Nr. 4, S. 77 (79). 2 RGBl.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
Das strenge Gerichtssprachenerfordernis galt gleichermaßen für mündliche wie schriftliche Kommunikation.6 Selbst wenn ein Gericht die fremde Sprache beherrschte, hatte das zur Folge, dass gleichwohl ein fremdsprachiges Schriftstück nicht zur Kenntnis des Gerichts gelangte.7 Auch die Zuziehung eines Dolmetschers war bereits seit Anbeginn des GVG für erforderlich erachtet worden, § 187 Satz 1 GVG i. d. F. v. 1877: „Wird unter Betheiligung von Personen verhandelt, welche der deutschen Sprache nicht mächtig sind, so ist ein Dolmetscher zuzuziehen.“ Dies galt stets unabhängig vom Willen der Beteiligten.8 2. Entwicklung des Gesetzes bis heute Diese ursprüngliche (zweite) Zweckbestimmung verlor in der Folge ihre Bedeutung, wohingegen die Institutionalisierung der deutschen Gerichtssprache bis zum heutigen Tage im Grundsatz unverändert blieb. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Diskussion weg von der historischen Wurzel der Festlegung einer einheitlichen nationalstaatlichen Gerichtssprache hin zu der erkannten Notwendigkeit gewandelt, dem sprachfremden Beschuldigten dieselben prozessualen Rechte, insbesondere umfassendes rechtliches Gehör und effektiven gerichtlichen Schutz, einzuräumen.9 Das zeigt sich gesetzgebungstechnisch nicht zuletzt daran, dass die Ausgestaltung der Normen über die Heranziehung von Dolmetschern und Übersetzern sowie zum sonstigen Ausgleich sprachbedingter Nachteile stets weiterentwickelt und immer detaillierter wurde. Ferner erfolgte im Zusammenhang mit der verstärkten internationalen Zusammenarbeit, der Zunahme an ausländischen Mitbürgern, des wachsenden Reiseverkehrs und nicht zuletzt der innereuropäischen Freizügigkeitsdiskussion schlicht eine Schärfung des Problembewusstseins.10 Durch Gesetz vom 19.04.200611 wurde § 184 Satz 2 GVG angefügt, wonach das Recht der Sorben, in den Heimatkreisen der sorbischen Bevölkerung vor Gericht sorbisch zu sprechen, gewährleistet werde; eine Regelung, die sich aus der Überführung des Einigungsvertrags im Wege der Rechtsbereinigung erklärt.12
6 Weith,
Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 9. 02.07.1883 – 1198/83, RGSt 9, 51 (52). 8 Löwe, 1882, Zu § 187 GVG 3. b. 9 Schmidt, 1960, § 184 Rn. 4; Meurer, JR 1982, 517 (518); Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (519); Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 17. 10 Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (509). 11 BGBl. I, 2006, S. 866. 12 Vertiefend Kissel/Mayer, § 184 Rn. 19; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 21. 7 RG
I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“33
3. Sinn und Zweck der Beschränkung der Gerichtssprache auf Deutsch Die Sprache gibt dem Menschen die Gelegenheit zu verbaler Reflexion und hat über Sprachverständnis und -verwendung durchaus identitäts- sowie individualitätsstiftenden Charakter.13 Sie stellt gewissermaßen ein „Kulturgut“ dar.14 Sprache ist demnach ein zentrales Moment menschlichen Denkens und kommunikationsbasierten Handelns, wobei in Staaten mit einer einheitlichen Nationalsprache die Intention auf Erhalt, Förderung und Qualität derselben im Vordergrund steht.15 Infolge der genannten kulturellen Funktion und einer gewissen natürlichen Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung von Gedanken ist die Sprache Grundlage einer jeden Rechtsordnung.16 Nach tradierter Ansicht unterstützen die Vorschriften der §§ 184 ff. GVG die Wahrheitsfindung, indem sie die einheitliche Erörterung des Verfahrensstoffs ohne Behinderung durch Sprachbarrieren ermöglichen.17 Weil Deutsch regelmäßig die Muttersprache des Bundesbürgers und zugleich der Justizpersonen ist, dient die Festschreibung der deutschen Sprache als alleinige Gerichtssprache und einzig offizielles Verständigungsmittel nach zutreffendem Verständnis sowohl der Verwirklichung rechtlichen Gehörs und der Erforschung der Wahrheit als auch der Verfahrensökonomie.18 Dieses Erfordernis ergibt sich aber ebenso bereits aus der Öffentlichkeitsmaxime als grundlegender Einrichtung des Rechtsstaats19 und Prinzip demokratischer Rechts13 Elicker, ZRP 2002, 415 (416); Mäder, JuS 2000, 1150 (1150 f.); Balaei, Notwendigkeit der Professionalisierung von Dolmetschern im Justizwesen, 2004, S. 111; Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (393 f.); Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 19; Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 60 f.; Schweizer, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 346 (351). 14 v. Pommern-Peglow, ZRP 2015, 178 (179); Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (421); Schweizer, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 346 (353 ff.). 15 Elicker, ZRP 2002, 415 (416); Mäder, JuS 2000, 1150 (1151); Schweizer, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 346 (347 f.). 16 Hattenhauer, JZ 2000, 545 (546); Mäder, JuS 2000, 1150 (1151); Ebert, Sprache in der Rechtsanwendung, 2015, S. 9 ff.; Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (387 ff.); Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 19; Schweizer, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 346 (355). 17 LR-StPO/Wickern, Vor § 184 GVG Rn. 2; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 184 GVG Rn. 2; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 1. 18 Kissel/Mayer, § 184 Rn. 1; MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 3; MüKoZPO/Zimmermann, § 184 GVG Rn. 1; SK-StPO/Frister, § 184 GVG Rn. 1; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 15. 19 BGH 23.05.1956 – 6 StR 14/56, BGHSt 9, 280 = NJW 1956, 1646; BGH 10.06.1966 – 4 StR 72/66, BGHSt 21, 72 = NJW 1966, 1570 (1571); Handschell, DRiZ 2010, 395 (399).
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
pflege.20 Diese sichert den Zugang der integrativen Allgemeinheit während der mündlichen Hauptverhandlung (= Garantie, dass jedermann jederzeit ohne wesentliche Erschwernis audiovisuell an der Hauptverhandlung passiv teilnehmen kann)21 und steht in direkter Wechselwirkung mit den Grundsätzen der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit des Verfahrens.22 Denn die Öffentlichkeit kann die Transparenz des Strafprozesses nur nachhaltig kontrollieren, wenn sie die unmittelbaren Beweismittel in der Hauptverhandlung zu Gesicht respektive zu Gehör bekommt.23 Dieser Argumentation über die Öffentlichkeitsmaxime wird entgegengehalten, dass die öffentliche Kontrollfunktion (welche ohnehin nicht den einzelnen Bürger schütze, sondern nur die potentielle Öffentlichkeit in ihrer Allgemeinheit) auch dann gesichert bleibe, wenn die Gerichtsverhandlung auf Englisch geführt werde; zudem werde die gebotene Kontrolle heute ohnehin vor allem durch die Medien vermittelt.24 Insoweit ist jedoch zunächst zu erwidern, dass von den Sprachkenntnissen eines durchschnittlich gebildeten Bundesbürgers ausgehend keinesfalls der Erfahrungssatz aufgestellt werden kann, jedermann habe bei englischer Verhandlungsführung ebenso jederzeit die Gelegenheit, sich ohne besondere Schwierigkeiten Kenntnis vom Inhalt der Verhandlung zu verschaffen.25 Und hinsichtlich der Medien muss konstatiert werden, dass diesen zwar eine bedeutsame Mittlerstellung sowohl hinsichtlich der öffentlichen Kontrolle des Strafprozesses zum Schutz vor staatlicher Willkür als auch bezüglich des Strafzwecks der Generalprävention durch Teilhabe und Information der Öffentlichkeit zukommt.26 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Medienöffentlichkeit wegen ihrer maßgeblich vom Sensationsinteresse geprägten selektiven Berichterstattung Kontrolldefizite aufweist.27 Überdies hat die Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung auch eine individu20 BAG 22.09.2016 – 6 AZN 376/16, NJW 2016, 3611 (3612); SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 1; Flessner, NJOZ 2011, 1913 (1914); Handschell, DRiZ 2010, 395 (399). 21 MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 10. 22 RG 02.07.1883 – 1198/83, RGSt 9, 51 (53); MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 3. 23 MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 3; MüKo-ZPO/Zimmermann, § 184 GVG Rn. 1; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 1; Handschell, DRiZ 2010, 395 (397 ff.). 24 Ewer, NJW 2010, 1323 (1324); Müller-Piepenkötter, DRiZ 2010, 2 (5). 25 Handschell, DRiZ 2010, 395 (397 f.). 26 BVerfG 05.02.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, BVerfGE 83, 238 = NJW 1991 899 (900); BVerfG 19.12.2007 – 1 BvR 620/07, BVerfGE 119, 309 = NJW 2008, 977 (978 f.); BVerwG 01.10.2014 – 6 C 35/13, NJW 2015, 807 (809); MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 1 f.; v. Coelln, AfP 2014, 193. 27 MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 2; Minkner, Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und Italien, 2015, S. 175.
I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“35
ell-symbolische Komponente neben der bloßen Medienöffentlichkeit („Im Namen des Volkes“ vertritt eine nicht selektierte, bürgerliche Öffentlichkeit).28 § 184 GVG stellt dabei nicht zuletzt eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Garantie eines transparenten, fairen Strafverfahrens unter Wahrung des rechtlichen Gehörs dar, indem er für sprachkundige Verfahrensbeteiligte als typische Normadressaten die Sicherheit liefert, (zumindest akustisch bzw. dem Schriftbild nach) formal verstanden zu werden, was im Rahmen der geltenden Strafprozessordnung unmittelbar der Durchsetzung ihres rechtlichen Gehörs und dem Gebot eines fairen Verfahrens dient.29 Er schützt den Deutschsprachigen vor der Verwertung fremdsprachiger Urkunden sowie Aussagen und unterstützt damit die verfahrensgerechte Wahrheitsfindung. Ein hypothetischer Gegenentwurf wäre es, wenn das Gericht die jeweilige Verfahrenssprache frei bestimmen bzw. wenn einfach jeder sich in der Sprache ausdrücken könnte, nach der ihm gerade ist. Ohne eine solche Begrenzung auf die deutsche Sprache ließe sich ein rechtsstaatliches Verfahren demnach ebenso gewährleisten, jedoch müsste dann eine differenzierte Regelung geschaffen werden, wann, wie und auf welche Weise die verschiedenen Aussagen jeweils für die anderen Beteiligten zu übersetzen wären. Abgesehen davon, dass zudem die Öffentlichkeit nicht aus dem Blick verloren werden dürfte, leuchtet unmittelbar ein, dass es sich sowohl unter kulturellen als auch rein praktikablen Aspekten um ein wenig sinnvolles Denkspiel handelt. Hinzu kommt, dass die Implementierung von Deutsch als Gerichtssprache nach h. M. nicht nur keine ungerechtfertigte Diskriminierung darstellt,30 sondern darüber hinausgehend in einem Einsprachenstaat wie der BRD mit Deutsch als einheitlicher Nationalsprache geradezu konzeptionell ist.31 §§ 185, 187 GVG sichern hingegen den Sprachfremden und dienen in Abgrenzung zu § 184 GVG dem Nachteilsausgleich. Dieser Aspekt einer diskriminierungsfreien Ausgestaltung des Verfahrensgangs prägt die Subjektstellung des Beschuldigten und findet sich sowohl im nationalen, supranationalen wie auch internationalen Recht verankert (vgl. hierzu II.).
28 MüKo-StPO/Kulhanek,
§ 176 GVG Rn. 31. § 184 Rn. 1; LR-StPO/Wickern, Vor § 184 GVG Rn. 3; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 36 ff. 30 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2765); BeckOK-GG/Kischel, Art. 3 Rn. 229; Maunz/Dürig/Langenfeld, Art. 3 Abs. 3 Rn. 16, 51 m. w. N. 31 Vgl. auch BeckOK-GG/Kischel, Art. 3 Rn. 229; Elicker, ZRP 2002, 415 (416). 29 Kissel/Mayer,
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
4. De lege ferenda: Reformüberlegungen Reformüberlegungen im Bereich der Gerichtssprache beschränken sich im Wesentlichen auf das Zivilrecht; das Strafrecht bleibt insoweit außen vor. Sinn und Zweck der zivilrechtlich geprägten Änderungsvorschläge ist die Stärkung des deutschen Rechtsstandortes im internationalen Vergleich.32 Explizit hierzu erging ein Gesetzentwurf des Bundesrates vom 02.03.2018 zur Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen bei den Landgerichten, vor denen Rechtsstreitigkeiten in englischer Sprache geführt werden könnten.33 Um die Attraktivität des Gerichtsstandorts Deutschland zu steigern, bedeutende wirtschaftsrechtliche Verfahren anzuziehen und die vermehrte Wahl des deutschen Rechts als auf internationale Vertragsverhältnisse anwendbares Recht zu fördern,34 soll nach diesem Entwurf § 184 GVG dahingehend geändert werden, dass folgende Absätze 2 und 3 angefügt würden: „(2) Vor den Kammern für internationale Handelssachen und den für Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen der Kammern für internationale Handelssachen zuständigen Senaten der Oberlandesgerichte wird das Verfahren in englischer Sprache geführt. In diesem Fall sind auch das Protokoll und die Entscheidungen des Gerichts in englischer Sprache abzufassen. Das Gericht kann in jedem Stadium des Verfahrens anordnen, dass ein Dolmetscher zugezogen oder das Verfahren in deutscher Sprache fortgeführt wird. Erfolgt ein Beitritt nach § 74 Absatz 1 der Zivilprozessordnung, ist auf Antrag des Dritten ein Dolmetscher hinzuzuziehen oder das Verfahren in deutscher Sprache fortzuführen. § 142 Absatz 3 der Zivilprozessordnung bleibt unberührt. Urteils- und Beschlussformeln von in englischer Sprache abgefassten Entscheidungen des Gerichts sind, sofern sie einen vollstreckbaren Inhalt haben, in die deutsche Sprache zu übersetzen. (3) Vor dem Bundesgerichtshof kann in internationalen Handelssachen das Verfahren in englischer Sprache geführt werden. Absatz 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend.“35
Die genannten Überlegungen verfangen für das Strafrecht bereits von vornherein nicht. Einzig denkbar wäre die Initiierung „fremdsprachiger Spruchkörper“ zur schnelleren Aburteilung mit möglicherweise auch höherer Akzeptanz bei den sprachfremden Beschuldigten. Angesichts der Friktionen mit der deutschen Sprache als Teil des Selbstverständnisses des deutschen Rechtsstaats und nicht zuletzt der Prozessmaxime der Öffentlichkeit hätte diese Überlegung jedoch einen viel zu hohen Preis. Das Strafrecht stellt ein Rechtsgebiet dar, welches typischerweise besonders im Fokus der öffentli32 Armbrüster, ZRP 2011, 102 (103); Ewer, NJW 2010, 1323; Graf v. Westphalen, AnwBl 2009, 214; Müller-Piepenkötter, DRiZ 2010, 2. 33 „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen“, BR-Drs. 53/18. 34 BR-Drs. 53/18, S. 6 f. 35 BR-Drs. 53/18, S. 3.
I. Der Rechtssatz „Die Gerichtssprache ist Deutsch“37
chen Aufmerksamkeit steht und damit auch der Notwendigkeit einer (zumindest potentiellen) öffentlichen Kontrolle entsprechen muss. Teils wird im Zuge von Reformüberlegungen de lege ferenda argumentiert, dass § 184 GVG in seiner derzeitigen Fassung lediglich eine einfachgesetzliche Vorgabe ausdrücke, die indes ihrerseits nicht durch sonstige Vorschriften oder Grundsätze determiniert sei, solange die gerichtliche Entscheidung das materielle Recht zutreffend anwende.36 Wie soeben unter 3. gezeigt, ist jedoch die Öffentlichkeitsmaxime in ihrer Garantiefunktion der Sicherung des Zugangs der integrativen Allgemeinheit während der mündlichen Hauptverhandlung und der damit einhergehenden Transparenz des Strafprozesses nachhaltig berührt.37 Aus dieser Verknüpfung von Gerichtssprache und Öffentlichkeitsmaxime resultiert auch der eingeschränkte Anwendungsbereich des § 185 Abs. 2 GVG: Während im Vorverfahren und außerhalb der Hauptverhandlung die Zuziehung eines Dolmetschers unterbleiben kann, wenn die beteiligten Personen sämtlich der fremden Sprache mächtig sind, darf die Hauptverhandlung – abgesehen von einzelnen, sämtlichen Anwesenden verständlichen Aussprüchen – nur in deutscher Sprache geführt werden.38 Indes tangieren auch Selbstlese- und Strafbefehlsverfahren (um nur zwei Beispiele zu nennen) die Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit.39 Das Selbstleseverfahren verletzt die genannten Prinzipien dabei nicht, weil durch die notwendige Bezeichnung und Protokollierung der gegenständlichen Urkunde eine hinreichende Transparenz hergestellt wird.40 Im Strafbefehlsverfahren wiederum besteht keine Gefahr einer „Geheimjustiz“, da der Strafbefehl nur ein „Angebot“ an den Angeklagten darstellt, ohne entsprechende „Annahmepflicht“, wohingegen die generalpräventive Öffentlichkeitskomponente41 36 Armbrüster, ZRP 2011, 102 (104); Ewer, NJW 2010, 1323 (1324); Wilke, DRiZ 2010, 123 (125). 37 MüKo-ZPO/Zimmermann, § 184 GVG Rn. 12. 38 HK-StPO/Schmidt/Temming, § 185 GVG Rn. 10; Kissel/Mayer, § 185 Rn. 9; KK-StPO/Diemer, § 185 GVG Rn. 5; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 5; MeyerGoßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 1; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 65; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 6 f.; Hoffmann/Mildeberger, StraFo 2004, 412 (412 f.); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 19; a. A. BeckOKStPO/Walther, § 185 GVG Rn. 5; Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (523); diff. Armbrüster, NJW 2011, 812 (814 f.); Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 57: einzelne Beweiserhebungen in fremder Sprache zulässig. 39 Lindemann, StV 2011, 459. 40 LR-StPO/Mosbacher, § 249 Rn. 59; MüKo-StPO/Kulhanek, § 169 GVG Rn. 15. 41 Vgl. etwa Gierhake, JZ 2013, 1030 (1035): „Denn es geht bei der Strafe auch um das mit dem Ausgleich des gebrochenen Rechts verbundene Signal, dass die Rechtsgemeinschaft auch gegen das im Einzelfall geschehene Unrecht am allgemeingeltenden Recht festhält. Dazu gehört, dass die Öffentlichkeit den Prozess der Aufklärung des Verbrechens, der rechtlichen Würdigung und der Urteilsfindung verfolgen und nachvollziehen kann“.
38
B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
durchaus betroffen ist.42 Interessanterweise ergehen Strafbefehle insofern auch nicht „im Namen des Volkes“. Es findet eine gewisse Abwägung zwischen Verfahrensökonomie und generalpräventiver Öffentlichkeitskomponente dahingehend statt, dass Letztere – bei gegebenem Einverständnis des Beschuldigten – in den in § 407 StPO genannten Fällen (Vergehen mit Straffestsetzung bis zu maximal einem Jahr Freiheitsstrafe zur Bewährung) zurücktritt,43 sodass eine vom Gesetzgeber als zulässig eingestufte Einschränkung vorliegt. Daher kann zwar kein zwingender Ausschluss einer fremdsprachigen Hauptverhandlung aus der Öffentlichkeitsmaxime gezogen werden, jedoch erschiene eine solche wenig opportun und zudem rechtfertigungsbedürftig in Abwägung mit dem verfassungsrechtlich nicht ausdrücklich benannten, aber im Rechtsstaatsund Demokratieprinzip verankerten Öffentlichkeitsgrundsatz. Diese Rechtfertigung dürfte – jedenfalls für das Strafrecht – misslingen.
II. Internationale Einflüsse 1. Einfluss des Völkerrechts Durchaus einen gewissen völkerrechtlichen Einfluss – weniger im dogmatischen als vielmehr im tatsächlichen Sinn – kann man den Nürnberger Prozessen beimessen, in welchen bestimmte Maßstäbe eines modernen Gerichtsdolmetscherbildes (Eignungsfeststellung, Vollständigkeit der Verdolmetschung sowie Qualitätskontrolle) praktisch konsentiert wurden.44 Ein ausdrückliches völkerrechtliches Diskriminierungsverbot wegen der Sprache findet sich in Art. 14 EMRK. Zudem garantiert Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK für das gesamte Verfahren die unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher, wenn der Beschuldigte die Verhandlungssprache des Gerichts nicht beherrscht.45 Der EMRK als ins Bundesrecht transponiertem völkerrechtlichen Vertrag im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) kommt dabei über ihre unmittelbare Wirkung auch eine gewisse Leitfunktion im Rahmen der Gesetzesauslegung zu.46 42 MüKo-StPO/Kulhanek,
§ 169 GVG Rn. 21. § 169 GVG Rn. 21. 44 Driesen/Petersen, Gerichtsdolmetschen, 2011, S. 3. 45 LR-StPO/Esser, Art. 6 EMRK Rn. 828 ff.; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 29, 40; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 58 f. 46 BVerfG 04.05.2011 – 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10, 2 BvR 571/10, BVerfGE 128, 326 = NJW 2011, 1931 (1935) Rn. 89; Cammareri, JuS 2016, 791; Penkuhn/Brill, JuS 2016, 682 (682 f.); weitergehend Heldmann, StV 1981, 251: § 184 GVG werde durch Art. 6 Abs. 3 EMRK eingeschränkt. 43 MüKo-StPO/Kulhanek,
II. Internationale Einflüsse39
Mitunter werden die „Freiheit der Sprache“ respektive das „Recht auf die eigene Sprache“ auch als autonomes Menschenrecht und Teil des individuellen Persönlichkeitsschutzes begriffen.47 Der Anspruch des sprachfremden Beschuldigten auf Beiziehung eines Dolmetschers ist – jedenfalls für die mündliche Verhandlung – als zum Völkergewohnheitsrecht gehörender menschenrechtlicher Mindeststandard und als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. d. Art. 25 GG anerkannt.48 Als Besonderheit unter diesem Gliederungspunkt ist Art. VII Abs. 9f NTS zu nennen, welcher im Falle der strafrechtlichen Verfolgung eines Mitglieds der Truppe, des zivilen Gefolges oder eines Angehörigen dem Beschuldigten das Recht einräumt, die Dienste eines befähigten Dolmetschers in Anspruch zu nehmen, wobei die Entscheidung über die Hinzuziehung insofern nicht dem Gericht, sondern ausdrücklich dem Beschuldigten zugewiesen wird.49 2. Einfluss des supranationalen Rechts „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“, Art. 22 EU-GRCh. Art. 41 Abs. 4 EU-GRCh statuiert zudem das Recht jeder Person, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten. Demzufolge anerkennt das Unionsrecht gewissermaßen vertrauensschützend ein Grundrecht der Sprachenfreiheit.50 Die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.201051 regelt Rechte des Beschuldigten im Hinblick auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren. Es handelt sich um auf Art. 80 Abs. 2 Unterabs. 2 lit. b AEUV gestützte Mindestvorschriften zur 47 Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (401); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 60 f.; Schweizer, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 346 (371 f.). 48 BVerfG 21.05.1987 – 2 BvR 1170/83, NJW 1988, 1462 (1464); Basdorf, MeyerGS, 1990, S. 19 (20); Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 28; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 89. 49 Kissel/Mayer, § 187 Rn. 26; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 6; SK-StPO/ Frister, § 185 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 185 GVG Rn. 6; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 32; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 61 f. 50 Flessner, NJOZ 2011, 1913 (1923); Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (400). 51 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. Nr. L 280 S. 1, Celex-Nr. 3 2010 L 0064.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
Stärkung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege, Erwägungsgründe (3), (5), (8), (12) RL 2010/64/EU. a) Hintergründe der Richtlinie 2010/64/EU – Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren Ausweislich Erwägungsgrund (12) RL 2010/64/EU ist sie Teil des sog. Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren.52 Dahinter stehendes Gesamtziel ist die Weiterentwicklung des von der Europäischen Union als Ideal gesetzten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und des hierzu erforderlichen Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, Erwägungsgrund (1) RL 2010/64/EU. Grundlage wie auch Sinnbild dieser gegenseitigen Anerkennung sind dabei das wechselseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme und die Akzeptanz der Anwendung des dort geltenden Strafrechts.53 Die sechs Stufen/Maßnahmen des Fahrplans zur Entwicklung europäischer Mindestverfahrensrechte für Beschuldigte lauten wie folgt:54 Maßnahme A: Recht auf Übersetzungs- und Dolmetschleistungen Maßnahme B: Recht auf Belehrung in Strafverfahren Maßnahme C: Recht auf anwaltlichen Beistand Maßnahme D: Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden Maßnahme E: Spezieller Schutz für hilfsbedürftige Beschuldigte oder Angeklagte Maßnahme F: Grünbuch über Untersuchungshaft 52 Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren Text von Bedeutung für den EWR (2009/C 295/01). 53 EuGH 11.02.2003 – C-187/01, C-385/01, Slg. 2003, I-1345 = NJW 2003, 1173 Rn. 33; Ambos/König/Rackow/Wörner, Vor §§ 91–97 IRG Rn. 462; Gatzweiler, StraFo 2011, 293; Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 446 ff.; krit. zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267: „Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung führt im Bereich der justiziellen Entscheidungen gerade nicht zu einer Vereinheitlichung von Rechtsakten der Mitgliedstaaten, sondern lässt sie vielmehr unverändert nebeneinander bestehen. Die unterschiedlichen Rechtsstandards in den Mitgliedstaaten werden dadurch grenzüberschreitend ausgeweitet und wirken so über den nationalen Rechtsraum hinaus.“ 54 Weiterführend Dettmers/Dimter, DRiZ 2011, 402 (403 ff.); Dettmers, SchlHA 2012, 361; Gatzweiler, StraFo 2011, 293; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser, Europäisches Strafrecht, § 53 Rn. 61 ff.
II. Internationale Einflüsse41
Basierend auf den Erkenntnissen aus dem Konsultationspapier über Verfahrensgarantien für Verdächtige und Beklagte in Strafverfahren von 2002 legte die Kommission am 19.02.2003 ein Grünbuch zu Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union vor.55 Nach verschiedenen Versionen eines Rahmenbeschlussvorschlags zur Angleichung von Verfahrensrechten verabschiedete der Europäische Rat am 04.05.2010 das sog. Stockholmer Programm56 zur schrittweisen Harmonisierung von Verfahrensrechten in separaten Rechtsetzungsakten.57 b) Ziele und relevante Normen der Richtlinie 2010/64/EU zum Thema Gerichtssprache und Dolmetschleistungen Die Richtlinie 2010/64/EU dient der Implementierung europaweiter Mindeststandards im Bereich der Dolmetschung und Übersetzung im Strafverfahren. Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich von dem Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte gleich auf welche Weise von seiner Verdächtigung Kenntnis erlangt, bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens einschließlich eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens, Art. 1 Abs. 2 RL 2010/64/EU. Der Anwendungsbereich beschränkt sich somit auf das strafrechtliche Erkenntnisverfahren und betrifft nicht (mehr) die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile.58 Hierbei setzen die gewährten Rechte weder die Unionsbürgerschaft noch einen grenzüberschreitenden Bezug voraus.59 Dolmetschleistungen sind unverzüglich zur Verfügung zu stellen, Art. 2 Abs. 1 RL 2010/64/EU. Sowohl eine entsprechende Versagung als auch die etwaige mangelnde Qualität der tatsächlich gewährten Dolmetschleistungen müssen dabei vom Beschuldigten als Ausfluss der Garantie eines fairen Verfahrens beanstandet werden können, Art. 2 Abs. 5 RL 2010/64/EU. Für das Verfahren wesentliche Unterlagen sind dem Beschuldigten innerhalb einer angemessenen Frist in schriftlicher Übersetzung zur Verfügung zu stellen, Art. 3 Abs. 1 RL 2010/64/EU. Art. 3 Abs. 2 RL 2010/64/EU nennt hierzu 55 Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser, Europäisches Strafrecht, § 53 Rn. 53. 56 StockhPrg 2010/C 115/01 – ABl. Nr. C 115 S. 1: „Das Stockholmer Programm – ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“, vgl. dazu näher Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 29. 57 Dettmers/Dimter, DRiZ 2011, 402 (403); Zeder, EuR 2012, 34 (50 f.); Ambos, Internationales Strafrecht, 2018, § 10 Rn. 144 ff.; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/ Esser, Europäisches Strafrecht, § 53 Rn. 59 ff. 58 BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 21 ff.; OLG Köln 28.08.2013 – 2 Ws 426/13, StV 2014, 552; LG Frankfurt 05.11.2014 – 5/08 Qs 19/14, BeckRS 2014, 20812; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 7. 59 Yalcin, ZRP 2013, 104 (105).
42
B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
beispielhaft jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. Die Beurteilung der Notwendigkeit der Übersetzung weiterer Dokumente als verfahrenswesentlich obliegt den zuständigen Behörden, Art. 3 Abs. 3 RL 2010/64/EU. Auch hinsichtlich dieser schriftlichen Übersetzungen gilt das Erfordernis der Beanstandungsmöglichkeit für den Beschuldigten im Hinblick auf Gewährung und Qualität entsprechender Leistungen, Art. 3 Abs. 5 RL 2010/64/EU. Art. 3 Abs. 7 RL 2010/64/EU statuiert eine potentielle Ausnahme, indem er die mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen anstelle der grundsätzlich geforderten schriftlichen Übersetzung unter der Bedingung genügen lässt, dass eine solche mündliche Übersetzung/Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. Die Kosten für gewährte Dolmetschleistungen und Übersetzungen sind unabhängig vom Verfahrensausgang von den Mitgliedstaaten zu tragen, Art. 4 RL 2010/64/EU. Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 RL 2010/64/EU verlangen von den Mitgliedstaaten die Implementierung konkreter Maßnahmen zur Sicherstellung einer hinreichenden Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen und nennen hierzu die Einrichtung entsprechender Register als erstes, geeignetes Mittel. Erwägungsgrund (24) RL 2010/64/EU stellt dazu passend heraus, dass die zuständigen Behörden bei entsprechenden Hinweisen die Angemessenheit (i. S. v. Eignung) von Dolmetschleistungen und Übersetzungen zu kontrollieren haben. Art. 7 RL 2010/64/EU schreibt die Dokumentation von insbesondere Beschuldigtenvernehmungen unter Beiziehung eines Dolmetschers vor. In ihren Erwägungsgründen (14) und (33) bekennt sich die RL 2010/64/ EU als harmonisierendes Element zu den Garantien der EMRK in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR und betont insoweit einen gewissen Gleichlauf der eingeräumten Rechtspositionen.60 c) Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU in deutsches Recht Zur Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU hat der deutsche Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 02.07.201361 reagiert. Dabei wurde klargestellt, dass sich die BRD stets für die Schaffung europäischer Mindeststandards für Beschuldigtenrechte eingesetzt hat und im betroffenen Bereich bereits unabhängig von der EU-Rechtsetzung eine große Zahl von Informations- und Teilhaberechten gewährte, sodass sich der Handlungsbedarf lediglich auf Teilbereiche 60 OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; Christl, NStZ 2014, 376 (379); Kotz, StRR 2012, 124 (125). 61 BGBl. I 2013, S. 1938.
II. Internationale Einflüsse43
beschränke und im Übrigen nur klarstellenden Charakter habe.62 Im Zuge dessen wurden § 187 GVG neu gefasst, § 189 Abs. 4 GVG, §§ 37 Abs. 3, 163a Abs. 5 StPO angefügt und §§ 114b Abs. 2, 168b StPO geändert. Der von der Richtlinie geforderte umfassende Anspruch auf unentgeltliche Übersetzungs- und Dolmetschleistungen wurde in § 187 Abs. 1 GVG a. F. bereits gewährt, sodass die Neufassung in § 187 Abs. 2 GVG lediglich eine nähere Konkretisierung der in Textform zu übersetzenden Schriftstücke benennt und in Einklang mit den Ausnahmetatbeständen des Art. 3 Abs. 7 RL 2010/64/EU eine abgestufte Einschränkung der generellen Übersetzungspflicht vornimmt.63 Zunächst soll in Anbetracht des Art. 3 Abs. 4 RL 2010/64/EU eine lediglich auszugsweise Übersetzung ausreichen, wenn bereits hierdurch die Verteidigungsrechte des sprachfremden Beschuldigten ausreichend gewahrt werden, § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG.64 § 187 Abs. 2 Satz 3 GVG dient der ausdrücklichen Normierung des allgemein anerkannten und von Art. 3 Abs. 1 RL 2010/64/EU explizit geforderten Beschleunigungsgedankens, wonach die schriftliche Übersetzung ohne unnötige Zeitverzögerung zuzugehen hat.65 § 187 Abs. 2 Satz 4, Satz 5 GVG dagegen ermöglichen ein vollständiges Absehen von der schriftlichen Übersetzung und greifen insoweit die bestehenden Grundsätze der bisherigen deutschen Rechtspraxis auf, wonach dem Beschuldigten anstelle der schriftlichen Übersetzung nur eine mündliche (Übersetzung oder Zusammenfassung) zur Verfügung gestellt werden kann, soweit das Recht auf ein faires Verfahren i. S. d. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gleichwohl gewährleistet ist.66 Dem Recht auf ein faires Verfahren folgend und anknüpfend an die Belehrungspflicht über das Recht auf Verteidigerkonsultation wurde in § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG nunmehr ausdrücklich die Pflicht statuiert, den sprachfremden Beschuldigten – stets von neuem und damit gegebenenfalls auch mehrfach – auf sein Recht zur unentgeltlichen Inanspruchnahme von Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen für das gesamte Strafverfahren hinzuweisen.67 § 187 Abs. 1 GVG erfasst allein die Hinzuziehung eines Dolmetschers außerhalb von gerichtlichen Verhandlungen.68 Teilweise wird hier angeführt, über die gesetzliche Regelung hinaus sei auch in der mündlichen Hauptverhandlung analog zu belehren, weil dadurch zum einen eine gewisse 62 BT-Drs. 17/12578
S. 1. S. 7. 64 BT-Drs. 17/12578 S. 11 f. 65 BT-Drs. 17/12578 S. 12. 66 BT-Drs. 17/12578 S. 12. 67 BT-Drs. 17/12578 S. 10; LR-StPO/Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 6. 68 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 Rn. 5; BeckOK-StPO/Walther, § 187 GVG Rn. 1. 63 BT-Drs. 17/12578
44
B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
„Erinnerungsfunktion“ eintrete und zum anderen der Angeklagte, der darüber informiert wurde, dass die Dolmetscherbeiziehung nicht auf seine Kosten geht, keine fälschlicherweise zu guten Sprachkenntnisse vortäuschen werde.69 Jedoch betrifft § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG ersichtlich nur den Fall, dass der sprachfremde Beschuldigte außerhalb des unmittelbaren staatlichen Einflussbereichs selbst einen Dolmetscher/Übersetzer heranzieht/heranziehen will. Denn die Belehrungspflicht greift gerade nur bei entsprechend fehlender Sprachkunde (und dann ist in der Hauptverhandlung ohnehin von Amts wegen beizuziehen), sodass die eben genannte analoge Belehrungspflicht etwas zirkelschlüssig wäre. Wenn der Richter zu eruieren sucht, ob die Hinzuziehung eines Dolmetschers bei einem teilweise der Sprache mächtigen Angeklagten erforderlich ist, kann sich jedoch ein entsprechender Hinweis auf die Kostentragungslast des Staates anbieten. Die durch Art. 7 RL 2010/64/EU geforderte Dokumentation hat in § 168b Abs. 1, Abs. 3 StPO Niederschlag gefunden, wonach das Ergebnis von Untersuchungshandlungen der Ermittlungsbehörden aktenkundig zu machen ist. Teilweise negativ wird die Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber im Teilaspekt der Schaffung eines einheitlichen europäischen Qualitätsstandards für Dolmetschleistungen beurteilt.70 Der Bundesgesetzgeber hat sich nämlich lediglich veranlasst gesehen, durch ein Anfügen des § 189 Abs. 4 GVG die in Art. 5 Abs. 3 RL 2010/64/EU vorgesehene Verpflichtung aller herangezogenen Dolmetscher zur Verschwiegenheit einheitlich zu normieren.71 In § 187 Abs. 3 GVG findet sich der in Art. 3 Abs. 8 RL 2010/64/EU genannte freiwillige Verzicht des Beschuldigten auf Übersetzungsleistungen wieder. Die deutsche Gesetzesfassung beschränkt sich dabei bewusst auf den Verzicht hinsichtlich einer schriftlichen Übersetzung von Dokumenten, wohingegen der Verzicht auch auf die mündliche Übertragung verfahrenswichtiger Schriftstücke nach nationalem (insoweit überschießendem) Recht nicht statthaft ist.72 Der deutsche Gesetzgeber wollte nach seinem Willen die Richtlinie umfassend umsetzen. Bei Auslegungsfragen ist die Richtlinie demnach in ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des EuGH heranzuziehen und gegebenenfalls eine unionsrechtskonforme Auslegung vorzunehmen.73 Bei etwaigen, gleichwohl noch vorhandenen Defiziten wäre sodann gegebenenfalls der Weg über eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu beschreiten.74 69 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, 70 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, 71 BT-Drs. 17/12578
§ 185 GVG Rn. 57. § 185 GVG Rn. 23.
S. 13 f. S. 13. 73 Zur unionsrechtskonformen Auslegung vgl. allg. Brand/Blatter, JuS 2016, 983 (984); Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 11 Rn. 15 ff. 72 BT-Drs. 17/12578
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile45
III. Ausformungen und Eintrübungen des Rechtssatzes „Die Gerichtssprache ist Deutsch“sowie Maßnahmen zur Kompensation sprachbedingter Nachteile „Die Gerichtssprache ist deutsch“, § 184 Satz 1 GVG. Der sachliche Anwendungsbereich der Vorschrift erstreckt sich dabei über den eng verstandenen Bereich des Gerichts als rechtsprechender Gewalt hinaus auch auf Urkundsbeamte und Rechtspfleger, die Staatsanwaltschaft sowie die repressiv tätig werdende Polizei.75 Ihre Beachtung erfolgt von Amts wegen und ist der Disposition der Beteiligten entzogen.76 „Wird unter Beteiligung von Personen verhandelt, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, so ist ein Dolmetscher zuzuziehen“, § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, der in die Muttersprache des sprachfremden Beteiligten oder in eine andere ihm geläufige Sprache übersetzt.77 Verhandlung in diesem Sinne ist jeder vom Gericht anberaumte Termin unabhängig vom Verfahrensstand.78 Beteiligt sind alle Personen, mit denen eine aktive oder passive sprachliche Verständigung erforderlich ist.79 1. Der Anspruch des Beschuldigten auf Ausgleich sprachbedingter Nachteile Ein Sprachunkundiger hat die gleichen prozessualen Rechte sowie den gleichen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz wie jeder Deutschsprachige.80 Diese 74 Zu Letzterem vgl. allg. Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 99; Herresthal, EuZW 2007, 396 m. w. N.; ablehnend Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392 (2396 ff.) m. w. N.: das extensive Verständnis des Gebots richtlinienkonformer Rechtsfortbildung überspanne die unionsrechtlichen Vorgaben und überschreite die verfassungsrechtlichen Grenzen. 75 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 184 GVG Rn. 11; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 21 ff. 76 Kissel/Mayer, § 184 Rn. 1. 77 Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 3. 78 Kissel/Mayer, § 185 Rn. 2; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 3; SSW-StPO/ Rosenau, § 185 GVG Rn. 2; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 2; Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 50. 79 Kissel/Mayer, § 185 Rn. 1; KK-StPO/Diemer, § 185 GVG Rn. 1; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 185 GVG Rn. 3; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 2; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 50. 80 BVerfG 10.06.1975 – 2 BvR 1074/74, BVerfGE 40, 95 = NJW 1975, 1597; BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); BVerfG 27.08.2003 – 2 BvR 2032/01, BVerfGK 1, 331 = NJW 2004, 50; OLG München 18.11.2013 – 4 StRR 120/13, StV 2014, 532 (533); OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061. Zu Besonderheiten, Problemstellungen und Lö-
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
Erkenntnis folgt bereits aus den einzelnen prozessualen Rechten selbst und nicht erst aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wonach niemand wegen seiner Sprache benachteiligt oder bevorzugt werden darf.81 Entgegen verbreiteter Ansicht, wonach aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schon mangels „Finalität“ der Benachteiligung keine Ansprüche abgeleitet werden könnten,82 ist jedoch zu konstatieren, dass das „Gesamtresultat“ für den sprachfremden Beschuldigten nach Anwendung des – gegebenenfalls durch richterliche Auslegung geformten – Gesetzes sowie der darin enthaltenen prozessualen Rechte seinerseits am Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu messen ist.83 Sollte diesbezüglich eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zurückbleiben, bestünde entweder eine Notwendigkeit durch (nochmalige) Auslegung zu einem benachteiligungsfreien Ergebnis zu gelangen (was im Einzelfall auch einen Anspruch direkt aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG abgeleitet einschließen würde) oder es wäre ein verfassungswidriger Zustand zu beklagen. Vorwegzuschicken ist ferner, dass trotz aller Garantien und Gewährleistungen nach tradierter Auffassung auch ein sprachfremder Beschuldigter nicht mit „grenzenloser Gleichgültigkeit“ agieren (etwa gänzlich ignorierend auf ersichtlich von der Justiz stammende, amtliche Schriftstücke reagieren) darf, sondern die ihm zur Verfügung gestellten Dolmetscherdienste in Anspruch nehmen muss, um sich – im Rahmen einer etwaigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – nicht dem Vorwurf der verschuldeten Fristversäumung auszusetzen.84 In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass geltend gemachte Hinderungsgründe glaubhaft zu machen sind und die eigene Erklärung des Beschuldigten als Mittel der Glaubhaftmachung nicht ausreicht.85 sungsansätzen bei der Begutachtung von ausländischen oder fremdsprachigen Beschuldigten im Strafverfahren vgl. Schmidt, StV 2006, 51. 81 BVerfG 10.06.1975 – 2 BvR 1074/74, BVerfGE 40, 95 = NJW 1975, 1597; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 20 ff. 82 Ingerl, Sprachrisiko im Verfahren, 1988, S. 201 ff.; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 20 f.; Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 95. 83 Vgl. auch BVerfG 27.08.2003 – 2 BvR 2032/01, BVerfGK 1, 331 = NJW 2004, 50; OLG München 18.11.2013 – 4 StRR 120/13, StV 2014, 532 (533). 84 BVerfG 07.04.1976 – 2 BvR 728/75, BVerfGE 42, 120 = NJW 1976, 1021 (1022); BVerfG 23.04.1991 – 2 BvR 150/91, NJW 1991, 2208: „Unzureichende Sprachkenntnisse entheben den Ausländer allerdings nicht der Sorgfaltspflicht in der Wahrnehmung seiner Rechte“; BVerfG 19.04.1995 – 2 BvR 2295/94, NVwZ-RR 1996, 120 (121); OLG Nürnberg 20.10.2009 – 1 St OLG Ss 160/09, NStZ-RR 2010, 286; KK-StPO/Maul, § 44 Rn. 38; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Art. 103 Rn. 283; a. A. Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 88; krit. auch MüKo-StPO/ Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 32 Fn. 75; Kotz, StRR 2012, 124 (125). 85 BGH 13.09.2005 – 3 StR 310/05, BeckRS 2005, 11511.
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile47
a) Das Dolmetschen/Übersetzen im Strafverfahren aus translationswissenschaftlicher Perspektive Bevor die §§ 184 ff. GVG einer näheren Analyse hinsichtlich Wortlaut, Systematik, gesetzgeberischem Willen sowie Sinn und Zweck unterworfen werden, sei zunächst kurz der Blick auf die hinter den Normen stehende Wissenschaft gerichtet, um hierdurch ein gewisses Gefühl für die Tätigkeit der dolmetschenden/übersetzenden Person zu bekommen, welche für den sprachfremden Beschuldigten eine so zentrale Rolle im Gesamtgefüge seiner Verteidigungsrechte einnimmt. Für das juristische Verständnis wird üblicherweise folgende Abgrenzung gewählt: Während der Dolmetscher sprachlich die Kommunikation/Verhandlung zwischen den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, überträgt der Übersetzer schriftlich von einer Sprache in die andere.86 Ergänzend ist der Dolmetscher in der Hauptverhandlung vom Sprachsachverständigen abzugrenzen. Ersterer überträgt das unmittelbar gesprochene Wort der Verfahrensbeteiligten, während Letzterer eine aus eigener Sachkunde vorgenommene Übersetzungstätigkeit als solche vorträgt (bspw. Übersetzung von fremdsprachigen TKÜAufnahmen). Der Sprachsachverständige ist insofern konsequent gem. §§ 72, 57 StPO als Sachverständiger zu belehren, über seine Vereidigung ist nach § 79 Abs. 1 StPO zu entscheiden.87 Wird über die Wiedergabe des Gesprochenen hinaus eine mit sprach-/kulturspezifischem Hintergrundwissen versehene Interpretation des Gesagten verlangt, wird der Dolmetscher zum Sprachsachverständigen und ist dann auch als solcher zu belehren.88 aa) Gelungene Kommunikation Kommunikation ist ein wesentliches Erfordernis eines auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit angelegten Strafprozesses. Eine „gelungene Kommunikation“ in diesem Kontext setzt bei einem sprachfremden Beteiligten den Einsatz eines umsichtigen Dolmetschers voraus, welcher die Spezifika des Strafprozesses kennt und seine beruflichen Pflichten an dem (potentiellen) Zielkonflikt zwischen wortgetreuer Übertragung, Verteidigungsinteresse des Beschuldigten und Gebot größtmöglicher Wahrheitsermittlung auszurichten 86 Kissel/Mayer, § 185 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 2; MüKoStPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 24; Schneider, StV 2015, 379; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 8, 16; vertiefend zur Abgrenzung zwischen Dolmetscher und Übersetzer Cebulla, Sprachmittlerstrafrecht, 2007, S. 33 ff. 87 LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 1; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 25. 88 Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011, S. 56.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
versteht.89 Der Dolmetschereid nach § 189 Abs. 1 Satz 1 GVG verpflichtet dazu, treu und gewissenhaft zu übertragen. Die grundlegende Problematik besteht nun darin, dass nicht einzelne Wörter übersetzt werden, sondern zusammenhängende Textpassagen, sodass je nach bestehendem Kontext und vorhandener Zielrichtung des Selbstverständnisses des Dolmetschers Unterschiede in der Formulierung auftreten können.90 Klar ist, dass sämtliche getätigten Äußerungen zu übertragen sind; eine Auswahl nach „Wesentlichkeit“ steht dem Dolmetscher nicht zu.91 Da der sprachfremde Beschuldigte dem Deutschsprachigen gegenüber lediglich gleich- aber nicht besserzustellen ist,92 sind auch unbedachte Äußerungen (z. B. versehentliches lautes Denken, Flüche, Beschimpfungen) wortgetreu zu übersetzen.93 Eine Interkommunikation zwischen dem Dolmetscher und der Aussageperson, welche vom eigentlich Vernehmenden mangels Sprachkenntnis weder gesteuert noch kontrolliert werden kann, ist zu unterlassen.94 Kommt es zu Unklarheiten seitens des Dolmetschers, muss er zwar initiativ werden, um eine korrekte Übersetzung sicherzustellen, jedoch führt der Weg insoweit über die verantwortliche Vernehmungsperson und nicht zur selbstgefassten Interaktion mit dem Vernommenen.95 bb) Wortgetreu vs. sinngetreu Der Dolmetscher ist Gehilfe des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten gleichermaßen und damit sozusagen Beteiligter sui generis.96 Er ist als Ins89 Kranjcic, NStZ 2011, 657 (658 f.); Cebulla, Berufsrecht der Übersetzer und Dolmetscher, 2012, S. 242 ff. 90 Kranjcic, NStZ 2011, 657 (659 f.). 91 Kissel/Mayer, § 185 Rn. 10; Kranjcic, NStZ 2011, 657 (661); Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (222). 92 Vgl. auch BT-Drs. 17/12578 S. 11, 14. 93 Kranjcic, NStZ 2011, 657 (661); ders., … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 16. 94 Artkämper, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 179 (186); Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 81; Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (222). 95 Driesen/Petersen, Gerichtsdolmetschen, 2011, S. 8, 18; Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (222 f.). 96 RG 18.06.1942 – 3 D 260/42, RGSt 76, 177 (178): „Aufgabe des Dolmetschers, der zur Hauptverhandlung mit einem sprachfremden Angeklagten zugezogen wird, ist es, dem Angeklagten den Gang der Verhandlung und die wesentlichen Verfahrensvorgänge verständlich zu machen und dem Gerichte die Erklärungen zu übertragen, die der Angeklagte hierzu abgibt“; AnwK-StPO/Püschel, § 185 GVG Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 7; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 18; Radtke/Hohmann/Otte, § 185 GVG Rn. 6; Morten, StraFo 1995, 80 (82 f.);
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trument zur Kompensation sprachbedingter Nachteile ein wichtiger Baustein im Verteidigungsgefüge des Beschuldigten, jedoch selbst kein Teil der Verteidigung, d. h. es scheidet aus, dass der Dolmetscher Äußerungen des Beschuldigten in einem für diesen besseren Licht (um)formuliert oder umgekehrt Ausführungen des Gerichts dem Beschuldigten über die bloße Übersetzung hinaus dahingehend erklärt, dass er seine (Verteidigungs‑)Aussage besser abstimmen kann, denn Letzteres ist die Aufgabe des Verteidigers und nicht des Dolmetschers.97 Sprachwissenschaftlich lassen sich verschiedene theoretische Modelle des Dolmetschprozesses unterscheiden. Nach der sog. „théorie du sens“ bestehe das Dolmetschen aus drei Etappen (Hören und Verstehen der Aussage, Deverbalisierung des Sinns der Aussage, Ausdruck des Sinns frei von der Struktur der Ausgangssprache), wobei sich das zentrale Element der Deverbalisierung darin ausdrücke, dass sich der Dolmetscher des Sinns der Aussage bewusst werde, jenseits der verbalen Hülle, in der er sich befindet, um ihn anschließend unvermittelt in der Zielsprache wiederzugeben.98 Das sog. „Effort Model“ definiert hingegen vier Hauptoperationen im Simultanmodus nach der folgenden additiven Formel: Dolmetschen = Hören und Analysieren + Kurzzeitgedächtnis + Produktion + Koordination.99 Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 67; Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011, S. 56. 97 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 18; SSW-StPO/Rosenau, § 185 GVG Rn. 8; Artkämper, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 179 (187); Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 65; tendenziell a. A. Kranjcic, NStZ 2011, 657 (662): „Der deutschunkundige Beschuldigte soll durch die Verdolmetschung in die Lage versetzt werden, in der ein vergleichbarer, der deutschen Sprache mächtiger Beschuldigter wäre. Dabei ist, bei aller praktischer Schwierigkeit, auf einen durchschnittlichen deutschsprachigen Empfänger abzustellen. Im Zweifel hat der Dolmetscher den Grad der Explizierung allerdings eher zu erhöhen. Denn wenn er in Zweifelsfällen den Explizierungsgrad niedriger ansetzt, besteht die Gefahr, den Beschuldigten in seinem verfassungsrechtlich gesicherten Verteidigungsinteresse zu beschränken. Durch eine erhöhte Explizierung wird das potentiell diesen Anspruch beschränkende Interesse an Wahrheitserforschung hingegen nicht beeinträchtigt. […] Ein deutschsprachiger Beschuldigter hat es selbst in der Hand, wie er in deutscher Sprache formuliert, so dass es sein Risiko ist, wie seine Äußerungen zu interpretieren sind. Der nichtdeutschsprachige Beschuldigte hat diese Möglichkeit nicht. Wenn man beide gleich behandeln möchte, muss sich der Grad der Informationsdichte der übertragenen Äußerungen zunächst nach seinem Interesse bestimmen. […] Der Dolmetscher hat dann so zu übertragen, dass damit diejenige Wirkung der Äußerung erzielt wird, die eine vergleichbare Äußerung eines deutschsprachigen Beschuldigten erzielte.“ 98 Brune, Dolmetschen und Akzent, 2012, S. 27 f. m. w. N. 99 Brune, Dolmetschen und Akzent, 2012, S. 28 m. w. N.
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Nach einem eher kognitiv-pragmatisch geprägten Modell ist das Dolmetschen eine Kombination aus vier untergeordneten Fertigkeiten und Kompetenzen: Verstehen der Ausgangssprache, Aneignung von Hintergrund-/Kontextwissen, Einfühlungsvermögen und Identifikation mit dem Redner (sog. Metarepräsentation), syntaktische Gewandtheit und umfangreicher Wortschatz in der Zielsprache.100 Unmittelbar einleuchtend ist der Unterschied zwischen „wörtlicher Übersetzung“ und „sinngemäßer Mitteilung des wesentlichen Inhalts“.101 Eine Ansicht verlangt die weitestgehend wortgetreue Übertragung, weil nur diese eine maximale Gewähr für die möglichst unverfälschte Wiedergabe des tatsächlich Erklärten biete.102 Demgegenüber betont die Gegenauffassung Folgendes: Da die Tätigkeit des Dolmetschers/Übersetzers aufgrund der Komplexität von Sprache keine kontextunabhängige Eins-zu-Eins-Übertragung sein könne, gehe es um Textäquivalenz bzw. Textkonstanz in dem Sinne, dass die Bedeutung der getroffenen Äußerung – abhängig von dem Bezugsrahmen, in welchem sie sich bewegt – in Ausgangs- und Zieltext (möglichst) identisch sei.103 Insoweit ließen sich eine „sinntreue“ und eine „wirkungstreue“ Translation unterscheiden.104 Erstere führe zu „Formveränderungen gegenüber dem ausgangssprachlichen Text“, Zweitere zu „semantisch freier Wiedergabe“.105 Der Unterschied liege darin, dass die sinntreue Translation von einer (eindeuti100 Brune,
Dolmetschen und Akzent, 2012, S. 29 f. m. w. N. 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764): „Anträge der Verfahrensbeteiligten und entscheidungserhebliche Erklärungen sind wörtlich zu übersetzen, im übrigen ist mindestens der wesentliche Inhalt des Verhandelten verständlich zu machen“; RG 14.06.1910 – I 467/10, RGSt 43, 441 (443): „dem Angeschuldigten alles, wobei seine Person beteiligt erscheine, nicht etwa bloß eine Zusammenfassung des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Verhandlung, bekannt zu geben sei“; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 49 f. 102 Artkämper, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 179 (186); Braitsch, Gerichtssprache für Sprachunkundige im Lichte des „fair trial“, 1991, S. 72 f.; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 155; Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (221 f.); vgl. auch OLG Nürnberg 05.05.2014 – 2 Ws 704/13, StV 2014, 529 (530): „Darüber hinaus ist ungesichert, ob eine wortgetreue Übersetzung erfolgte, da es sich bei dem Mitgefangenen offenbar nicht um einen öffentlich bestellten und vereidigten Übersetzer handelt.“ 103 Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 89 ff.; Russel, Handbook of Translation Studies, 2012, S. 17. Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011, S. 52. 104 Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 116; Reiß/Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 1984, S. 35. 105 Reiß/Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 1984, S. 35. 101 BVerfG
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gen) Konstanz in der Textbedeutung selbst ausgeht, während die wirkungstreue Translation eine solche negiert und die Äquivalenz allein aus der (kulturell geprägten) Entstehungssituation des sprachlichen Kontextes folgert.106 Hinzu kommt, dass verbale Kommunikation stets ebenso durch nonverbale Elemente geprägt ist, welche der Dolmetscher entweder ebenfalls durch nonverbale Spiegelung oder durch textliche Erläuterung übertragen muss.107 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass dem Juristen, insbesondere dem infolge Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB der Wortlautgrenze besonders verbundenen Strafrechtler, eine möglichst wortlautgetreue Übertragung prima facie sicherlich am sympathischsten erscheint. Zieht man in Betracht, dass gerade die Tätigkeit des Dolmetschers in der Hauptverhandlung von starker Dynamik geprägt ist, wird jedoch ebenso schnell klar, dass einem solchen Postulat nicht nachhaltig entsprochen werden kann/könnte. Ausgerichtet am Translationsziel (sog. Skopos108) der Unterstützung der Wahrheitsermittlung muss der Dolmetscher dergestalt übertragen, dass bei den Empfangspersonen (insbesondere dem Gericht) eine eingehende Beweiswürdigung möglich ist, d. h. kulturelle Differenzen sind zu glätten respektive zu erläutern.109 Um die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung als eines der zentralen strafprozessualen Prinzipien möglichst wirkungsvoll zu gewährleisten, leuchtet zudem ein, dass der Dolmetscher gleichsam hinter der Aussageperson zu verschwinden hat, er also sowohl im Wortschatz als auch in der Art des Vortrags die Aussageperson nach Möglichkeit spiegelt.110
106 Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 117 f.; vgl. zur Typologie der Äquivalenz des Dolmetschens und deren Entwicklung weitergehend Leal, Handbook of Translation Studies, 2012, S. 39. 107 Kabbani, StV 1987, 410 (412); Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 155 f., 162; Schröder, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 269 (279). 108 Vgl. hierzu Balaei, Notwendigkeit der Professionalisierung von Dolmetschern im Justizwesen, 2004, S. 101; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 119 ff.; Reiß/Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 1984, S. 96, 147. 109 Morten, StraFo 1995, 80 (81); Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 183 f.; Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (224 f.). 110 Kabbani, StV 1987, 410 (412 f.); Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (222).
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
b) Unterstützung bei der verbalen wie schriftlichen Kommunikation Es verbietet sich, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss vielmehr in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können, um so „seine Rolle als Subjekt des Verfahrens auszufüllen“.111 Dabei gilt § 185 GVG allgemein, während § 187 GVG speziell auf die strafrechtliche Situation zugeschnitten ist. Die Hinzuziehung eines Dolmetschers in gerichtlichen Verhandlungen, also auch strafgerichtlichen Hauptverhandlungen, regelt § 187 GVG jedoch nicht. Die Vorschrift erfasst allein die Hinzuziehung eines Dolmetschers außerhalb von gerichtlichen Verhandlungen.112 Im Ergebnis ist für das Strafverfahren eine wechselseitige Ergänzung beider Vorschriften anzunehmen. aa) Verfahrensrechtliche Herleitung Vom Schutzbereich des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör wird nach h. M. nicht umfasst, ob ein der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtiger Beschuldigter einen Anspruch darauf hat, dass das Gericht ihm via eines Dolmetschers oder Übersetzers zur Überbrückung von Verständigungsschwierigkeiten verhilft; Gefährdungen, die hieraus erwachsen, begegne das Grundgesetz insoweit durch die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG.113 Wie bereits ausgeführt, verbietet es sich, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können.114 Während das BVerfG die Grundlage dieser Erkenntnis effektiv allein in dem Recht auf ein rechts111 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); BVerfG 27.08.2003 – 2 BvR 2032/01, BVerfGK 1, 331 = NJW 2004, 50; BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 8; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; Christl, NStZ 2014, 376; Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, 2006, S. 386 (413). 112 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 Rn. 5; BeckOK-StPO/Walther, § 187 GVG Rn. 1. 113 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); BGH 01.03.2018 – IX ZR 179/17, BeckRS 2018, 3575 Rn. 14 f.; BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 33. 114 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763).
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staatliches, faires Strafverfahren sieht, wohingegen sich das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör in dem „Zusammenspiel von Äußern und Gehörtwerden“ erschöpfe und nicht (mehr) umfasse, ob bzw. in welchem Umfang ein sprachfremder Beteiligter einen Anspruch auf Beiziehung eines Dolmetschers zur Überwindung von Verständigungsschwierigkeiten habe,115 stellt die Gegenansicht darauf ab, dass Grundvoraussetzung eines jedweden „Äußern und Gehörtwerdens“ das gegenseitige sprachliche Verstehen sei, sodass Art. 103 Abs. 1 GG den zutreffenden Ansatzpunkt darstelle.116 Indes wird diesbezüglich kein gegenseitiger Ausschluss anzunehmen sein. Das Recht auf ein faires Verfahren betont die Subjektstellung des mit eigenen Rechten ausgestatteten Beschuldigten117 und enthält insoweit auch die Aspekte der Waffengleichheit, des rechtlichen Gehörs, der Rechtssicherheit und des Willkürschutzes.118 Ferner anerkennt das BVerfG, dass die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht führen darf.119 Da der Grundsatz des rechtlichen Gehörs neben dem eigentlichen Äußerungsrecht aber auch einen vorgelagerten Anspruch auf Zugang zu den wesentlichen, dem Gericht vorliegenden Informationen sowie ein nachgelagertes Recht auf effektive Beachtung der jeweiligen Äußerung beinhaltet,120 lässt sich § 185 GVG andererseits ebenfalls als Ausfluss des rechtlichen Gehörs interpretieren.121 Letztendlich wird man daher durchaus zu einer „doppelabstützenden“ Herleitung gelangen können,122 wenn auch das rechtliche Gehör gegenüber dem allgemeineren Fairnessgrundsatz grundsätzlich vorrangig heranzuziehen wäre.123 115 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); BGH 01.03.2018 – IX ZR 179/17, BeckRS 2018, 3575 Rn. 14 f.; MüKoStPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 2 f.; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 86 f.; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 38. 116 BayVGH 04.12.2017 – 5 ZB 17.31569, BeckRS 2017, 136982 Rn. 10 f.; OVG Münster 18.01.2018 – 13 A 3298/17, BeckRS 2018, 763 Rn. 5; Ingerl, Sprachrisiko im Verfahren, 1988, S. 55 ff.; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 22 ff. m. w. N. 117 Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (590). 118 KK-StPO/Schädler/Jakobs, Art. 6 EMRK Rn. 19; Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275 (289 ff.). 119 BVerfG 23.04.1991 – 2 BvR 150/91, NJW 1991, 2208; vgl. auch Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 27. 120 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 70 m. w. N. 121 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 71. 122 Vgl. auch BVerfG 22.09.1993 – 2 BvR 1732/93, BVerfGE 89, 120 = NJW 1994, 1590 (1591); SSW-StPO/Rosenau, § 185 GVG Rn. 1. 123 BGH 3 StR 218/03, BGHSt 49, 112 = NJW 2004, 1259 (1261); Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (565).
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bb) Praktische Erwägung und Durchführung der Zuziehung Einem sprachfremden Beschuldigten, der ohne Hilfe nicht in der Lage ist, seine Verteidigung wirksam vorzutragen, muss demnach ohne Rücksicht auf seine finanzielle Lage unentgeltlich ein Dolmetscher/Übersetzer sowohl für die mündliche Verhandlung als auch für deren Vorbereitung zur Verfügung gestellt werden, §§ 185 Abs. 1, 187 Abs. 1 GVG, § 163a Abs. 5 StPO, Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK.124 Damit korreliert Nr. 181 Abs. 1 RiStBV,125 wonach bei der ersten verantwortlichen Vernehmung (eines Ausländers) aktenkundig zu machen ist, ob der Beschuldigte die deutsche Sprache soweit beherrscht, dass ein Dolmetscher nicht hinzugezogen werden muss. Es handelt sich um ein von Amts wegen zu beachtendes Erfordernis; ein etwaiger Verzicht ist unbeachtlich.126 Zudem gewährt § 187 Abs. 1 GVG ebenfalls einen expliziten Anspruch des Beschuldigten auf staatsseitige Bestellung eines Dolmetschers/Übersetzers und nicht bloß auf Erstattung von für entsprechende Leistungen aufgewandte eigene Kosten.127 Daneben kann der Dolmetscher/ Übersetzer auch vom Beschuldigten selbst beauftragt werden, wobei Letz terer dann die Gefahr trägt, dass bestimmte Teile der Übersetzungskosten wegen Sachfremdheit nicht erstattet werden.128 Wann die Beiziehung insbesondere eines Übersetzers zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich ist, lässt das Gesetz als unbestimmten Rechtsterminus im Raum stehen. Das Ergebnis ist einer abstrakt-allgemeinen Kategorisierung nicht zugänglich, sondern abhängig von den Umständen des Einzel124 BVerfG 21.05.1987 – 2 BvR 1170/83, NJW 1988, 1462 (1463); BGH 05.03.2018 – 5 BGs 47/18, BeckRS 2018, 3261; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 4; Braitsch, Gerichtssprache für Sprachunkundige im Lichte des „fair trial“, 1991, passim. 125 Ganz generell gilt indes zu beachten, dass die Bestimmungen der RiStBV als Verwaltungsvorschriften weder die Rechtsprechung der Gerichte zu binden noch Verfahrensrechte des Beschuldigten selbständig zu begründen vermögen, vgl. BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764). 126 OLG Celle 22.07.2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720; HK-StPO/ Schmidt/Temming, § 185 GVG Rn. 4; Kissel/Mayer, § 185 Rn. 4; KK-StPO/Diemer, § 185 GVG Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 4. 127 BGH 05.03.2018 – 5 BGs 47/18, BeckRS 2018, 3261 (Zuständigkeit des mit der Sache befassten Gerichts, im Ermittlungsverfahren analog § 141 Abs. 4 Satz 2 StPO des Ermittlungsrichters); OLG Celle 09.03.2011 – 1 Ws 102/11, NStZ 2011, 718; LG Freiburg 23.09.2011 – 6 Qs 44/11, NStZ-RR 2012, 292; BeckOK-StPO/ Walther, § 187 GVG Rn. 1; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 23; LR-StPO/Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 1; MAH Strafverteidigung/ Jung, § 18 Rn. 27 f. 128 OLG Oldenburg 24.06.2011 – 1 Ws 241/11, NStZ 2011, 719; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 22.
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile55
falls, wobei namentlich Art und Schwere des Tatvorwurfs sowie die Komplexität der zu prüfenden Beweisfragen zu berücksichtigen sind.129 Die Kommunikation mit und über den Dolmetscher ist ein unerlässlicher Baustein im Verteidigungsgefüge des Beschuldigten. Gleichwohl kommt diesem kein Auswahlrecht (analog § 142 Abs. 1 StPO) zu.130 (1) Feststellung der Sprach(un)kundigkeit Die Feststellung (des Umfangs) der Sprachkundigkeit ist der jeweiligen Vernehmungsperson bzw. dem Verhandlungsführer überlassen. Kotz hat die Idee aufgeworfen, einen Mechanismus zu schaffen, der über einen bestimmten Fragenkatalog (bspw. als Anlage zu den RiStBV) einen objektivierbaren Aufschluss darüber geben solle, in welchem Umfang der Beschuldigte hinsichtlich seiner Verteidigungsrechte einer sprachlichen Unterstützung bedürfe.131 Das würde zweifellos zu einer gewissen Objektivierung führen und auch einen geeigneten Mechanismus i. S. d. Art. 2 Abs. 4 RL 2010/64/EU darstellen. Allerdings kann die Frage der hinreichenden Sprachkenntnis nicht pauschal und losgelöst von der zugrunde liegenden tatsächlichen sowie rechtlichen Komplexität beantwortet werden.132 Dem Erfordernis aus Art. 2 Abs. 4 RL 2010/64/EU wird letztlich dadurch genügt, dass über Nr. 181 Abs. 1 RiStBV als Teil der Ermittlung der persönlichen Verhältnisse gem. § 136 Abs. 3 StPO die Vernehmungspersonen eine aktenkundige eigene Einschätzung über die Sprachkundigkeit zu treffen haben, was verlässlich nur durch entsprechende Erörterung mit dem Beschuldigten geschehen kann.133 § 187 GVG verpflichtet das Gericht und über § 163a Abs. 5 StPO die Strafverfolgungsbehörden in Ergänzung des § 185 GVG auch außerhalb von Verhandlungen zur Zuziehung eines Dolmetscher/Übersetzers von Amts we129 LG Freiburg 23.09.2011 – 6 Qs 44/11, NStZ-RR 2012, 292; LR-StPO/Wickern, § 187 GVG Rn. 7; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 4; a. A. MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 29: „Wenn der ausländische Beschuldigte sich gegenüber seinem Verteidiger schriftlich äußern will, weil er so seine Verteidigung am besten vorbereiten kann, verbietet Art. 3 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 EMRK die Schlechterstellung des Ausländers im Vergleich zu dem deutschen Beschuldigten.“ 130 LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 4; a. A. LG Duisburg 03.06.2008 – 31 Qs 82/08, StraFo 2008, 328. 131 Kotz, StV 2012, 626 (628). 132 Vgl. auch Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 92. 133 A. A. MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 40: das geltende Recht bleibe hinter „dem in der Richtlinie vorgesehenen Mindeststandard zurück, da der Beschuldigte die Feststellung seiner Sprachkenntnisse – im Sinne eines Gutachtens – nicht erzwingen kann“.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
gen.134 So sind Dolmetschergebühren erfasst, welche bspw. im Rahmen eines Gesprächs zur Anbahnung/Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs i. S. d. § 46a StGB anfallen, weil insoweit eine strafprozessual anerkannte Verteidigungsmaßnahme betroffen ist.135 Der Umfang der Beiziehung/Beiordnung erstreckt sich dabei neben mündlicher ebenso auf schriftliche Kommunikation136 und umfasst sowohl den Pflicht- als auch (zusätzlich) den Wahlverteidiger.137 Eines vorherigen Antragsverfahrens vor der Inanspruchnahme des Dolmetschers bedarf es nicht.138 Nr. 9005 Abs. 4 Anl. 1 zum GKG (Kostenverzeichnis) stellt klar, dass ein Beschuldigter jegliche Kosten für Dolmetscher und Übersetzer allein im Falle der schuldhaften Säumnis, §§ 464c, 467 Abs. 2 Satz 1 StPO, zu tragen hat; im Übrigen ist er hiervon – als Ausfluss des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG – unabhängig vom Verfahrensausgang freigestellt.139 Dies gilt jedoch nur für solche Kostenpunkte, die entstehen, weil der Beschuldigte selbst auf eine Übersetzung angewiesen ist, nicht hingegen für Dolmetscher‑/Übersetzungsleistungen zugunsten der strafverfolgenden Justiz (bspw. Übersetzung von TKÜ-Protokollen), da Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK insoweit weder unmittelbar noch analog zur Anwendung gelangt.140
134 Kissel/Mayer,
§ 187 Rn. 2, 5. Köln 05.07.2016 – 113 Qs 47/16, StV 2017, 229. 136 OLG Celle 09.03.2011 – 1 Ws 102/11, NStZ 2011, 718; LG Freiburg 23.09.2011 – 6 Qs 44/11, NStZ-RR 2012, 292; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 1. 137 OLG Brandenburg 27.07.2005 – 1 Ws 83/05, StraFo 2005, 415 (416); OLG Karlsruhe 09.09.2009 – 2 Ws 305/09, StraFo 2009, 527; MAH Strafverteidigung/ Jung, § 18 Rn. 32; a. A. Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (32 f.): „Jenseits des Anwendungsbereichs des § 140 StPO wird auch ohne Mitwirkung eines Verteidigers den Geboten eines fairen Verfahrens Rechnung getragen. Zu dessen Gewährleistung bedarf es dann auch nicht der Mitwirkung eines Dolmetschers bei Vorbesprechungen mit dem nicht notwendigen Verteidiger.“ 138 BVerfG 27.08.2003 – 2 BvR 2032/01, BVerfGK 1, 331 = NJW 2004, 50 (51); Kissel/Mayer, § 187 Rn. 23. 139 EGMR 23.10.1978, NJW 1979, 1091; BVerfG 07.10.2003 – 2 BvR 2118/01, BVerfGK 2, 36 = NJW 2004, 1095 (1096); MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 73; a. A. OLG Koblenz 07.12.1995 – 1 Ws 794/95, NStZ-RR 1996, 159; OLG Frankfurt 14.01.1998 – 2 Ws 158/97, NStZ-RR 1998, 158: Überwachung von Briefverkehr, Besuchen und Telefongesprächen dient nicht der Wahrnehmung von Verteidigungsinteressen, sondern allein der Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs, sodass die Kosten demnach im Falle der Verurteilung vom Beschuldigten zu tragen seien. 140 BVerfG 07.10.2003 – 2 BvR 2118/01, BVerfGK 2, 36 = NJW 2004, 1095 (1097); MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 77; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 21; a. A. OLG Düsseldorf 15.09.1980 – 3 Ws 453/79, MDR 1981, 74 (75). 135 LG
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile57
(2) Der teilweise sprachkundige Beschuldigte Ist der Beschuldigte teilweise der deutschen Sprache mächtig, hat der Vernehmende nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, in welchem Umfang ein Dolmetscher bei der Gesprächsführung zuzuziehen ist.141 Insoweit ist dem Tatrichter eine hohe Eigenverantwortung in Bezug auf die Prüfung auferlegt, ob die Sprachkenntnisse des Angeklagten hinreichen, um sich dem Gebot eines umfassend rechtsstaatlichen Verfahrens entsprechend zu verteidigen, was im Einzelfall vom Umfang der Sprachkenntnisse, der Komplexität der Materie, aber auch vom Verhalten der übrigen Verfahrensbeteiligten (Fähigkeit und Wille, sich sprachlich und psychologisch dem sprachlich Benachteiligten anzupassen) abhängt.142 Das bloße Vorhandensein eines Akzents sowie die Erfordernisse von Rückfragen oder langsamerem Sprechen begründen – jedenfalls bei überschaubaren Sachverhalten – keine durchgreifenden Verständigungsprobleme.143 Im Ergebnis muss jedoch zweifelsfrei feststehen, dass der Beschuldigte passiv wie aktiv in der Lage ist, dem Vernehmungs- oder Verhandlungsgegenstand zu folgen, seine Ansicht zu artikulieren und seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen.144 Hintergrund der Bestimmungen zu den Sprachhilfen ist die Gewährleistung, dass der Beschuldigte die wesentlichen Verfahrensvorgänge nachvollziehen und sich zu seiner Verteidigung verständlich machen kann.145 § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG spricht demzufolge ausdrücklich davon, dass der Dolmetscher/Übersetzer heranzuziehen sei, „soweit“ dies zur Ausübung der strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Die wörtliche Übersetzung der ge141 BGH 17.01.1984 – 5 StR 755/83, NStZ 1984, 328; BGH 22.11.2001 – 1 StR 471/01, NStZ 2002, 275 (276); BayObLG 24.09.2004 – 1 St RR 143/04, BayObLGSt 2004, 123 = NStZ-RR 2005, 178 (179); OLG Celle 22.07.2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720; BeckOK-StPO/Walther, § 185 GVG Rn. 4; Kissel/Mayer, § 185 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 6; Radtke/Hohmann/Otte, § 185 GVG Rn. 4; Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 18; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 52 f.; krit. Kühne, StV 1990, 102: tatrichterliches Ermessen als „Einbruchstelle für willkürliche Diskriminierung ausländischer Verfahrensbeteiligter“; ablehnend MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 37: „Überhaupt ist die Wendung des „teilweise der deutschen Sprache mächtigen Angeklagten“ abstrus“; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 5; Wolf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 121 (138). 142 Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (21). 143 OLG Stuttgart 18.09.2006 – 1 Ss 392/06, NJW 2006, 3796 (3798). 144 BeckOK-StPO/Meyberg, Nr. 181 RiStBV Rn. 7; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 2; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 4; SSW-StPO/Rosenau, § 185 GVG Rn. 5; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 51; Wendler, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 219 (226). 145 OLG München 18.11.2013 – 4 StRR 120/13, StV 2014, 532 (533).
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
samten Akte oder einzelner Aktenbestandteile gehört etwa in der Regel nicht zu den insoweit erforderlichen Translationsleistungen.146 Ebenso wenig bedarf es nach allgemeiner Meinung der Zuziehung, wenn der Beschuldigte der deutschen Sprache ausreichend mächtig ist, eine Verhandlung in ihr jedoch – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt.147 Für Ermittlungshandlungen gilt § 187 GVG, für die mündliche Verhandlung § 185 GVG.148 Um weder die Verhandlung zu stören, noch einen Informationsverlust eintreten zu lassen, wird sich der Dolmetscher der Technik des simultanen Flüsterns bedienen, entweder ins Ohr des Angeklagten oder bei mehreren Angeklagten durch lautes Flüstern.149 Der Übersetzungsumfang beinhaltet alle bedeutsamen Vorgänge und Äußerungen, d. h. Anträge der Verfahrensbeteiligten und entscheidungserhebliche Erklärungen sind in jedem Fall wörtlich zu übersetzen, während im Übrigen zumindest der wesentliche Inhalt verständlich zu machen ist.150 Soweit danach ein gewisser Raum für eine zusammengefasste Übersetzung eröffnet wird, darf jedoch nicht aus dem Blick verloren werden, dass prinzipiell nur der Angeklagte in der Lage ist, darüber zu entscheiden, was für ihn und seine Verteidigungsstrategie „wesentlich“ ist, sodass die begriffliche Vorgabe des wesentlichen Verfahrensinhalts extensiv zu verstehen ist.151 § 259 Abs. 1 StPO enthält dabei kein Vorbild zur systematischen Auslegung, sondern eine (ermessensgeleitete) Einschränkung des § 185 GVG.152 Zur Ermöglichung einer sachgerechten Verteidigung des Angeklagten, insbe146 OLG Hamburg 27.10.2004 – IV-1/04, NJW 2005, 1135 (1137 f.); OLG Hamburg 06.12.2013 – 2 Ws 253/13, StV 2014, 534; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 14; Kotz, StRR 2012, 124 (126); a. A. Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 94 f. 147 BGH 14.06.2005 – 3 StR 446/04, NJW 2005, 3434 (3434 f.); Kissel/Mayer, § 185 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 1; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 35; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 3. 148 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 5. 149 Kabbani, StV 1987, 410 (412); Balaei, Notwendigkeit der Professionalisierung von Dolmetschern im Justizwesen, 2004, S. 50; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 45. Soweit Erklärungen in Richtung des Gerichts gedolmetscht werden müssen, erfolgt dies dagegen konsekutiv. Vgl. zu einer Übersicht der verschiedenen Dolmetschtechniken orientiert am Ablauf der strafrechtlichen Hauptverhandlung Driesen/Petersen, Gerichtsdolmetschen, 2011, S. 8 ff. 150 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764); Kissel/Mayer, § 185 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 5; SKStPO/Frister, § 185 GVG Rn. 12; vertiefend Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 166 ff.; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 54. 151 LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 16; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 172; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 45. 152 Meyer-Goßner/Schmitt, § 259 Rn. 1; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 43; Kotz, StV 2012, 626 (628).
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile59
sondere der Vorbereitung seines letzten Worts, ist jedoch auch insoweit eine möglichst wörtliche Übersetzung empfehlenswert.153 (3) Vorschriftswidrige Abwesenheit eines Dolmetschers, § 338 Nr. 5 StPO i. V. m. § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG Ist der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht mächtig, muss gem. § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG ein Dolmetscher grundsätzlich während der ganzen Hauptverhandlung zugegen sein; ansonsten greift der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.154 Bei einem teilweise Sprachkundigen ist dieser klare Ausgangspunkt jedoch bereits wieder eingeschränkt.155 Hier muss der Dolmetscher nicht die gesamte Verhandlung über anwesend sein, sondern es genügt, wenn er insoweit zugegen ist, als es seiner Leistung bedarf.156 Dies festzustellen liegt nun in der originären Verhandlungsleitung des Vorsitzenden, denn nur dieser vermag im Gegensatz zum Revisionsrichter in der jeweils konkreten Situation zu beurteilen, ob der Angeklagte (noch) ausreichend folgen oder seine Verteidigungsrechte (schon) nicht mehr wahrnehmen kann.157 § 338 Nr. 5 StPO gilt zudem nur, wenn die in der Vorschrift Genannten bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung abwesend sind.158 Speziell den Dolmetscher betreffend hat der BGH in einer aktuellen Entscheidung wie folgt differenziert, was hier als erläuterndes Beispiel im Wortlaut angeführt sei: „Sind die Zeugen geladen und erschienen, so hat deshalb das entsprechende Einverständnis der im Gesetz genannten Verfahrensbeteiligten [§ 245 Abs. 1 Satz 2 StPO] eine für den Fortgang der Beweisaufnahme rechtserhebliche Bedeutung. Die Abgabe der Erklärung nach § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO ist somit ein im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO wesentlicher Teil der Hauptverhandlung (…). Sind demgegenüber 153 Katholnigg, § 185 GVG Rn. 3; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 16; Kabbani, StV 1987, 410 (411 f.); Kotz, StV 2012, 626 (628). 154 BGH 22.11.2001 – 1 StR 471/01, NStZ 2002, 275 (276); OLG Celle 22.07.2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720; BeckOK-StPO/Walther, § 185 GVG Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 Rn. 44; Radtke/Hohmann/Otte, § 185 GVG Rn. 10; Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (21); Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 227. 155 Krit. MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 Rn. 67; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 231. 156 BGH 22.11.2001 – 1 StR 471/01, NStZ 2002, 275 (276); BeckOK-StPO/Walther, § 185 GVG Rn. 8; KK-StPO/Diemer, § 185 GVG Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 10; Radtke/Hohmann/Otte, § 185 GVG Rn. 10. 157 Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 132. 158 BVerfG 22.09.2005 – 2 BvR 93/05, BVerfGK 6, 235 = StraFo 2005, 512; BGH 04.04.2017 – 3 StR 71/17, BeckRS 2017, 109971; KK-StPO/Gericke, § 338 Rn. 70.
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die Zeugen (…) erst für einen späteren Zeitpunkt geladen und noch nicht erschienen, so kann das Gericht ihre Abladung auch ohne die Zustimmung der genannten Verfahrensbeteiligten veranlassen; für diese Verfahrenskonstellation besteht eine § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechende Regelung nicht. Die Verfahrensbeteiligten sind vielmehr gegebenenfalls gehalten, auf die Vernehmung der abgeladenen Zeugen etwa durch das Stellen entsprechender Anträge hinzuwirken. Das (…) in der Hauptverhandlung erklärte Einverständnis mit der Abladung nicht präsenter Zeugen entfaltet deshalb keine Rechtswirkungen, die denjenigen einer Erklärung im Sinne des § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO vergleichbar und damit im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung anzusehen sind.“159
(4) Anordnung des Selbstleseverfahrens, § 249 Abs. 2 StPO Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren, § 249 Abs. 2 StPO, durchzuführen ist, wobei es keinen Rechtssatz gibt, dass beispielsweise in Fällen von Analphabetismus ein Selbstleseverfahren ausgeschlossen wäre.160 Gleiches hat entsprechend für einen sprachfremden Beschuldigten zu gelten.161 Zwar sind entsprechende Anhaltspunkte in die Ermessenserwägungen einzubeziehen, jedoch kann jeder Verfahrensbeteiligte (mit Ausnahme des Gerichts) darauf verzichten, vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen; im Übrigen ist es dem Strafprozessrecht generell nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vorgelesen werden.162 Dies kann durch den Verteidiger oder den Dolmetscher geschehen. Anzumerken ist ferner, dass weder auf etwaige Fehler bei der Anordnung noch bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens eine Verfahrensrüge erfolgreich gestützt werden kann, wenn zuvor nicht gem. §§ 238 Abs. 2, 249 Abs. 2 Satz 2 StPO ein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde.163
159 BGH
04.04.2017 – 3 StR 71/17, BeckRS 2017, 109971. 14.12.2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300 = StV 2011, 458 m. abl. Anm. Lindemann. 161 Krit. SK-StPO/Frister, § 249 Rn. 76; Lindemann, StV 2011, 459 (460). 162 BGH 14.12.2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300; ablehnend Ventzke, StV 2014, 114 (115): „Dass ein Verzicht in diesem Zusammenhang prozessual nur dann argumentativ relevant wäre, falls der Angeklagte eine reale Entscheidungsoption gehabt, also die Urkunde selbst hätte lesen können, hätte er es nur gewollt, sollte sich von selbst verstehen, gerät dem Senat freilich überhaupt nicht in den Blick.“ 163 BGH 14.12.2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300 (300 f.); KK-StPO/Diemer, § 249 Rn. 53; MüKo-StPO/Kreicker, § 249 Rn. 82 f. 160 BGH
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile61
cc) Der sog. Vertrauensdolmetscher Der Dolmetscher ist, wie dargelegt, Gehilfe des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten gleichermaßen.164 Insoweit wird es vorkommen, dass der Angeklagte sich im Gespräch mit seinem Verteidiger zurückhält, wenn der gerichtlich bestellte Dolmetscher zugegen ist, etwa weil er dessen (vermeintliche) Nähe zum Gericht skeptisch beurteilt oder fürchtet, der Dolmetscher könnte entgegen § 189 Abs. 4 GVG entsprechende Umstände – und sei es auch nur subjektiv unterbewusst bei der Art und Weise der (Interpretation der) später zu übersetzenden Aussagen – offenbaren.165 Dementsprechend kann es ratsam sein, einen sog. Vertrauensdolmetscher für die Verteidigung beizuziehen.166 Darüber hinaus ermöglicht ein solcher Vertrauensdolmetscher die Überprüfung der Richtigkeit der Übersetzungen des gerichtlich bestellten Dolmetschers.167 Bezahlt der Angeklagte diesen selbst, bestehen keine Bedenken gegen eine Anwesenheit auf der Verteidigerbank.168 Fraglich ist jedoch, ob die gerichtsseitige, unentgeltliche Zuziehung eines entsprechenden weiteren Dolmetschers im Einzelfall tatsächlich geboten ist. Schließlich ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Dolmetscher schlicht seiner beruflichen Pflicht nachkommt und das Gesprochene entsprechend fachkundig überträgt, ohne dass dabei latent die Gefahr bestünde, dass er das soeben Gesagte mit ihm aus vorangegangenen, übersetzten Gesprächen Bekanntem durcheinanderwirft.169 Jedoch mag es Fallgestaltungen geben, bei denen aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls (bspw. Tatvorwurf, Verfahrensumfang, Sachverhaltskomplexität, Anzahl an Angeklagten) eine solche gerichtliche Zuordnung eines Vertrauensdolmetschers angebracht erscheint. So beschloss etwa das OLG Düsseldorf „im Hinblick auf die Schwere der Anklagevorwürfe und den Umstand, daß die Verteidigung der beiden Angekl. im vorliegenden Fall zu widerstreitenden Interessenlagen führen kann“, die Notwendigkeit eines Ver-
164 RG 18.06.1942 – 3 D 260/42, RGSt 76, 177 (178); Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 7; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 18. 165 LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 11; Sommer, StraFo 1995, 45 (49); Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (252). 166 AnwK-StPO/Püschel, § 185 GVG Rn. 8; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 28; Eisenberg, JR 2013, 442 (448); Sommer, StraFo 1995, 45 (49); Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (252); Kranjcic, … dass er treu und gewissenhaft übertragen werde, 2010, S. 217 f. 167 Sommer, StraFo 1995, 45 (49); vgl. auch MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 51: „Kontrolldolmetscher“. 168 Sommer, StraFo 1995, 45 (49). 169 A. A. Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (252).
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
trauensdolmetschers.170 Ebenso hat das OLG Stuttgart in einem umfangreichen Verfahren wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung u. a. die Zuziehung eines Dolmetschers als Hilfskraft der Verteidigung ausdrücklich durch Beschluss für erforderlich erklärt.171 c) Pflichtverteidigerbestellung, § 140 Abs. 2 StPO § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO regelt neben den unangetastet bleibenden Fällen des § 140 Abs. 1 StPO eine Generalklausel der Pflichtverteidigung, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Ein Beschuldigter kann sich in diesem Sinne dann nicht selbst verteidigen, wenn aus Gründen in seiner Person oder aus sonstigen Umständen nicht gesichert erscheint, dass er in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, seine Interessen zu wahren und alle seiner Verteidigung dienenden Handlungen vorzunehmen.172 Pauschale Lösungen sind auch hier unzutreffend. Mangelndes Sprachverständnis kann ein Wertungskriterium i. R. d. § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO sein, jedoch werden im Bereich der leichten und mittleren Kriminalität bei einfacher Beweislage regelmäßig keine aus der Sprachfremdheit resultierenden Nachteile drohen, welche eine Pflichtverteidigerbestellung obligatorisch erscheinen ließen.173 Sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten können und müssen zunächst durch den Einsatz von Übersetzungshilfen, namentlich durch die – unentgeltliche – Hinzuziehung eines Dolmetschers, angemessen ausgeglichen werden.174 Allein die Angehörigkeit zu einem 170 OLG Düsseldorf 09.11.1992 – VII 2/92, StV 1993, 144: „Da die beiden Angekl. und ihre Pflichtverteidiger sich nicht auf einen Dolmetscher geeinigt haben, der das Vertrauen beider Angekl. genießt, ist es im vorliegenden Verfahren gerechtfertigt, daß dem Angekl. für die erforderlichen Gespräche mit seinem Pflichtverteidiger an den Sitzungstagen ein Dolmetscher seines Vertrauens zur Verfügung steht“; ebenso OLG Frankfurt 20.06.1995 – 4-2 StE 5/94-23/94, StV 1996, 166: „Die Grundsätze eines fairen Verfahrens machen es im Hinblick auf die Schwere der Vorwürfe auch erforderlich, daß der einzelne Angekl. über einen eigenen Dolmetscher verfügen kann, den er nicht mit einem anderen Angekl. „teilen“ muß“; vgl. auch Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 161. 171 OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165. 172 KK-StPO/Laufhütte, § 140 Rn. 24; LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 140 Rn. 96 ff.; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 47 ff. 173 BGH 26.10.2000 – 3 StR 6/00, BGHSt 46, 178 = NJW 2001, 309 = AnwBl 2002, 607 m. zust. Anm. Molketin = JR 2002, 121 m. zust. Anm. Tag; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 9; Staudinger, StV 2002, 327 (329); Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (30 f.). 174 OLG Karlsruhe 27.06.2005 – 1 Ss 184/04, StV 2005, 655; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; Artkämper, Kriminalität im Grenz-
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fremden Rechtskreis zwingt ebenso nicht zu der Annahme, der Beschuldigte sei aufgrund seiner Persönlichkeit zu angemessener Selbstverteidigung außer Stande, denn im Hinblick auf seine Verfahrensrechte ist er durch das Gericht im Rahmen von dessen Fürsorgepflicht zu belehren.175 Gleichwohl können sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten dazu führen, dass die allgemeinen Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO in Form der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage eher als erfüllt anzusehen sind.176 Entsprechende, zur Sprachfremdheit hinzukommende und diese ergänzende bzw. verstärkende Indizien sind etwa – wie aber auch ganz generell – das Bedürfnis einer länger andauernden Beweisaufnahme, Schwierigkeiten bei der Durchführung derselben sowie in der Beweiswürdigung oder die nachvollziehbare Notwendigkeit einer Vorbereitung der Hauptverhandlung mit Aktenkenntnis.177 Etwaige ausländerrechtliche Konsequenzen können ebenso zu berücksichtigen sein.178 Wird einer Pflichtverteidigung nähergetreten und die Auswahl vom Beschuldigten grundsätzlich dem zuständigen Richter überlassen, sind bei der Entscheidung nach § 142 StPO sprachliche und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen, wenn der Beschuldigte einen entsprechenden Wunsch geäußert hat.179
gebiet, 2000, S. 179 (188); a. A. Katholnigg, § 185 GVG Rn. 8; Heldmann, StV 1981, 251 (254); Strate, StV 1981, 46 (47); Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 109; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 113; krit. auch LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 140 Rn. 103 ff. m. w. N.; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 151. 175 OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; a. A. Strate, StV 1981, 46. 176 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764); BGH 26.10.2000 – 3 StR 6/00, BGHSt 46, 178 = NJW 2001, 309 (310); OLG Karlsruhe 27.06.2005 – 1 Ss 184/04, StV 2005, 655; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 52; Staudinger, StV 2002, 327 (330). 177 OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061. 178 BayObLG 26.11.1992 – 4 St RR 210/92, StV 1993, 180; OLG Karlsruhe 12.04.2002 – 3 Ss 23/02, StraFo 2002, 193 (194); Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 25; Staudinger, StV 2002, 327 (330 f.). 179 Jahn, StraFo 2014, 177; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 116; vgl. auch OLG Stuttgart 14.06.2017 – 1 Ws 140/17, StV 2018, 144: „Zwar ist nicht jeder von dem Beschuldigten benannte, auswärtige Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger zu bestellen, bei der gebotenen Interessenabwägung tritt das Kriterium der Ortsnähe jedoch grundsätzlich hinter dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück.“
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d) Justizielle Schriftstücke Justizielle Schriftstücke (insbesondere Anklagen, Strafbefehle, Urteile) müssen in deutscher Sprache abgefasst werden.180 Bereits angesichts des Wortlauts des § 184 Satz 1 GVG ist das eine Selbstverständlichkeit. Eschelbach weist jedoch zutreffend auf Folgendes hin: „Es kann sich nämlich etwa im Fall von beleidigenden, erpresserischen, betrügerischen oder gefälschten schriftlichen Äußerungen bei der Urkunde um ein Tatmittel, insbesondere im Fall von Willenserklärungen um ein Tatobjekt oder aber im Fall von verbrieften Indiztatsachen um eine Beweisurkunde handeln. Ist der Text in einer Sprache gefasst, die zum Schulwissen des zuständigen Sachbearbeiters der Anklagebehörde zählt, dann besteht die Neigung, den Text selbst zu übersetzen und dadurch vermeintlich Zeit und Kosten einzusparen. Übernimmt die öffentliche Klage ganz oder teilweise fremdsprachige Textstücke oder zumindest bestimmte Begriffe oder wird die Originalurkunde ohne Übersetzung durch einen Sachverständigen der Anklage zu Grunde gelegt und darin in Bezug genommen, dann stellt sich die Frage der Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit § 184 Satz 1 GVG.“181
Dass justizielle Schriftstücke gegebenenfalls aus Fremdsprachen stammende Fachtermini enthalten, ist unschädlich, wenn die Ausführungen für die Verfahrensbeteiligten insgesamt verständlich sind.182 Hierzu zählen auch fremdsprachige Ausdrücke, welche durch „ständigen Gerichtsgebrauch“ gleichsam „der deutschen Sprache einverleibt sind“.183 Als häufig vorkommendes Beispiel zu nennen wäre etwa die beleidigende Verwendung des Akronyms A.C.A.B. (= all cops are bastards; auf Deutsch: Alle Polizisten sind Bastarde), bei dem es bloße Förmelei wäre, den Ausspruch jeweils aufs Neue sachverständig übersetzen zu lassen. Als Richtschnur für verwendete (bspw. mathematische) Formeln, Fachwörter, Abkürzungen, etc. lässt sich 180 BGH 17.05.1984 – 4 StR 139/84, BGHSt 32, 342 = NJW 1984, 2050: „Gem. § 184 GVG ist die Gerichtssprache deutsch. Diese Vorschrift ist zwingender Natur, von Amts wegen zu beachten und dem Verfügungsrecht der Beteiligten nicht unterworfen; sie gilt nicht nur für die gerichtlichen Verhandlungen und Entscheidungen, sondern auch für den gesamten Schriftverkehr mit dem Gericht (…). Das bedeutet, daß alle vom Gericht ausgehenden schriftlichen Äußerungen […] in deutscher Sprache abzufassen sind“; Kissel/Mayer, § 184 Rn. 11; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 5; Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (24); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 18. 181 Eschelbach, HRRS 2007, 466. 182 BGH 09.11.2011 – 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523 (525) Rn. 32; BGH 23.01.2018 – 1 StR 625/17, NJW 2018, 2139 Rn. 3; OLG Hamm 22.04.2010 – 2 RVs 13/10, NStZ-RR 2010, 348; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/ Oğlakcıoğlu, § 184 GVG Rn. 7; Eschelbach, HRRS 2007, 466 (469); Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 30 f. 183 Eschelbach, HRRS 2007, 466 (469).
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile65
Folgendes festhalten: Nur eine Sprache mit hinreichendem Sinngehalt, welche von einem durchschnittlich gebildeten Bürger als vorgestelltem Angesprochenen ohne größeren Entzifferungs- bzw. Decodierungsaufwand verstanden wird, ist eine deutsche Sprache i. S. d. § 184 GVG.184 § 184 GVG selbst verlangt ferner nicht, sämtliche anfallenden Aktenteile von Amts wegen in die deutsche Sprache übersetzen zu lassen.185 Selbst wenn die Staatsanwaltschaft eine fremdsprachige Urkunde als erhebliches Beweismittel ansieht und entsprechend gem. § 200 Abs. 1 Satz 2 StPO anführt, liegt hierin kein zur Unwirksamkeit der Anklage führender Verstoß gegen § 184 Satz 1 GVG, wenn die Anklageschrift in allen wesentlichen Teilen in Deutsch verfasst ist.186 Erst wenn das Gericht tatsächlich die Verwertung dieser Urkunde ins Auge fasst, hat es die Übersetzung vornehmen zu lassen. aa) Gesetzliche Regelbeispiele und abgestufte schriftliche Übersetzung, § 187 Abs. 2 GVG Umgekehrt bedarf es zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des sprachfremden Beschuldigten der schriftlichen Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen187 Urteilen, § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG. Aber auch andere Schriftstücke sind zu übersetzen, wenn die Ausübung der Verteidigungsrechte dies erfordert.188 Die Übersetzungsobliegenheit umfasst gegebenenfalls 184 BGH 23.01.2018 – 1 StR 625/17, NJW 2018, 2139 Rn. 3; AG Hersbruck 10.07.1984 – OWi 474 Js 62272/84, NJW 1984, 2426; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 31. 185 BGH 09.11.2011 – 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523 (525) Rn. 34; Kissel/Mayer, § 184 Rn. 8. 186 BGH 09.11.2011 – 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523 (524 f.); Meyer-Goßner/ Schmitt, § 184 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 184 GVG Rn. 9; SK-StPO/ Frister, § 184 GVG Rn. 3; a. A. Eschelbach, HRRS 2007, 466 (468): „Die Anklageschrift, die ganz oder teilweise fremdsprachigen Text ohne Übersetzung durch einen Sachverständigen enthält oder die sich ausdrücklich auf nicht übersetzte fremdsprachige Urkunden stützt, so dass diese zwar keine Anlage zum Schriftsatz, aber doch durch die gleichzeitige Aktenvorlage nach § 199 Abs. 2 StPO und die Bezugnahme hierauf ein integraler Bestandteil der öffentlichen Klage ist, muss deshalb bei Anlegung desselben prozessualen Maßstabs, wie er in anderen Prozessordnungen und Verfahrensbereichen gilt, ebenso wie alle anderen Klagen, Antrags- oder Rechtsmittelschriften behandelt und als unwirksam angesehen werden.“ 187 Ablehnend Schneider, StV 2015, 379 (380): „Eine Beschränkung des Übersetzungsanspruchs auf nicht rechtskräftige Urteile würde dem Angeklagten die Möglichkeit nehmen, anhand des Urteils zu entscheiden, ob beispielsweise eine Verfassungsbeschwerde aussichtsreich ist.“ 188 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 27; Schneider, StV 2015, 379 (383 f.).
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ebenso etwaige Rechtsbehelfsbelehrungen.189 § 187 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 GVG regeln ein abgestuftes System, welches die generelle Pflicht zur vollständigen Übersetzung einschränkt.190 Werden die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten durch eine auszugsweise schriftliche Übersetzung ebenso gewahrt, genügt eine solche, § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG. Nach § 187 Abs. 2 Satz 4 GVG kann unter den gleichen Voraussetzungen eine mündliche Übersetzung an die Stelle der grundsätzlich unverzüglich zur Verfügung zu stellenden schriftlichen Übersetzung treten. Dabei ist nach der gesetzlichen Formulierung – in Einklang mit Art. 3 Abs. 7 RL 2010/64/EU – Mündlichkeit in der Regel ausreichend, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat, § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG.191 (1) Anklageschrift und Ladung zur Hauptverhandlung Hinsichtlich der Übersetzung der Anklageschrift, durch deren Mitteilung die durch Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK gewährleistete Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf bewirkt wird (Informationsfunktion) und deren Kenntnis auch die Erklärungsrechte des § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO berührt, greift dieser Gedanke des § 187 Abs. 2 Satz 4, Satz 5 GVG (dass nämlich der Verteidiger seinen Mandanten umfassend informieren, beraten und die gemeinsam erarbeitete Strategie mit den entsprechenden prozessualen Mitteln vertreten wird) ebenfalls, sodass insoweit bei verteidigtem Beschuldigten eine schriftliche Übersetzung dem Gesetz nach ebenfalls nicht obligatorisch wäre.192 Allerdings betont die nunmehr h. M. (abgesehen von tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauenden Verfahrensgegenstän189 LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 7; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 12; Heldmann, StV 1981, 251 (253); Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (527); Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 86. 190 OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 4. 191 OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; OLG Hamm 11.03.2014 – 2 Ws 40/14, StV 2014, 534; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 16; krit. MüKoStPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 24 ff.; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 7; a. A. Eisenberg, JR 2013, 442 (445): „Inhaltlich besteht eine Nichtvereinbarkeit von § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG mit Art. 3 der Richtlinie deshalb, weil der Beschuldigte nur dann, wenn der Anspruch auf Übersetzung von der jeweils amtierenden Person eingelöst wird, in die Lage versetzt wird, selbst zu kontrollieren, ob die Verteidigung zu beanstanden ist oder nicht und ggfs. Anlass besteht, sich um einen Wechsel in der Person des Verteidigers zu bemühen“; Yalcin, ZRP 2013, 104 (106): „Schaffung einer Regelausnahme für verteidigte Angeklagte gem. § 187 II 5 GVG-E zweifelsfrei richtlinienwidrig.“ 192 OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; Christl, NStZ 2014, 376 (378).
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den193) das grundsätzliche Recht auch des verteidigten Angeschuldigten auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache.194 Dem entspricht letztlich Nr. 181 Abs. 2 RiStBV, welche explizit die Beifügung einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift verlangt.195 Unterlässt das Gericht die danach gebotene rechtzeitige Übersendung einer schriftlich fixierten Übersetzung, führt das je nach konkreter Fallgestaltung entweder zu einer angemessenen Unterbrechung der Hauptverhandlung oder zur Aussetzung gem. § 265 Abs. 4 StPO.196 Ladungen müssen grundsätzlich ebenso übersetzt werden wie eine etwaige Zwangsmittelandrohung gem. § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO, vgl. Nr. 181 Abs. 2 RiStBV. Zwar hängt die Wirksamkeit der Ladung nicht von der Übersetzung ab,197 jedoch dürfen Zwangsmittel dann nicht verhängt werden, wenn der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist.198 193 A. A. insoweit OLG Hamm 27.11.2003 – 3 Ss 626/03, BeckRS 2003, 30334426; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 39: „muss […] auch dann Geltung beanspruchen, wenn der Verfahrensgegenstand „tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist“, denn dieses Kriterium lässt sich als „unbenanntes Regelbeispiel“ mangels Trennschärfe nicht in S. 5 implementieren“; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 60: „… lässt sich mit Art. 6 EMRK kaum vereinbaren. Es macht für einen Angeklagten durchaus einen erheblichen Unterschied, die schriftliche Übersetzung zuhause vor sich liegen zu haben und sich mindestens 7 Tage vor der Hauptverhandlung überlegen zu können, ob und gegebenenfalls wie er sich äußern/verteidigen will, oder aber den Vorwurf erstmals in der Hauptverhandlung vollständig und richtig verstehen zu können. Die Verweigerung einer schriftlichen Übersetzung des Vorwurfes vor der Hauptverhandlung ist auch mit Art. 3 Abs. 3 GG nicht vereinbar.“ 194 BGH 23.12.2015 – 2 StR 457/14, NStZ 2017, 63 (63 f.); vgl. bereits BGH 10.07.2014 – 3 StR 262/14, NStZ 2014, 725 (726) im Erg. offen lassend; LG Kiel 10.11.2015 – 10 Qs 100/15, StV 2016, 485 (486); Kissel/Mayer, § 187 Rn. 17; MeyerGoßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 4; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 7; Rübenstahl, StraFo 2005, 30 (31); Schneider, StV 2015, 379 (382). 195 BeckOK-StPO/Meyberg, Nr. 181 RiStBV Rn. 9. 196 BGH 23.12.2015 – 2 StR 457/14, NStZ 2017, 63 (64). 197 BayObLG 13.12.1995 – 4 St RR 263/95, BayObLGSt 1995, 215 = NStZ 1996, 248 (249); OLG Nürnberg 20.10.2009 – 1 St OLG Ss 160/09, NStZ-RR 2010, 286; OLG Köln 09.12.2014 – III-1 Ws 102/14, NStZ-RR 2015, 317; OLG Hamm 25.10.2016 – 3 RVs 72/16, BeckRS 2016, 20357 Rn. 10; Kissel/Mayer, § 184 Rn. 11; LR-StPO/Jäger, § 216 Rn. 4; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 9; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 184 GVG Rn. 3; Radtke/Hohmann/Otte, § 184 GVG Rn. 4; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 73; a. A. Böhm, NJW 2016, 306 (307); Kotz, StV 2012, 626 (630); Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (250). 198 OLG Bremen 28.04.2005 – Ws 15/05, NStZ 2005, 527; OLG Dresden 14.11.2007 – 1 Ws 288/07, StV 2009, 348; OLG Saarbrücken 13.11.2009 – 1 Ws 207/09, NStZ-RR 2010, 49 (50); LR-StPO/Jäger, § 216 Rn. 7; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 184 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 12; MüKo-StPO/ Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 32; Radtke/Hohmann/Otte, § 184 GVG Rn. 4; Rinklin, StV 2015, 347; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 71.
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Wurde die Anklageschrift entgegen § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht mittels Übersetzung zugestellt und liegt kein Fall der ausnahmsweisen Entbehrlichkeit vor, führt das zu einem Verfahrensfehler. Da ein Verzicht nur unter den Voraussetzungen des § 187 Abs. 3 GVG möglich ist, erfordert der Erhalt der revisionsrechtlichen Rügebefugnis keine ausdrückliche Beanstandung des Angeklagten. (2) Urteil Wurde die Hauptverhandlung für den anwesenden, verteidigten Angeklagten durchgängig übersetzt, bedarf es für eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend Sprachkundigen in der Regel keiner schriftlichen Urteilsübersetzung, weil dessen Verteidigungsinteressen ausreichend durch den von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortlichen Verteidiger gewahrt werden, welcher schließlich die schriftlichen Urteilsgründe kennt.199 Differenzierend wird argumentiert, wenn es sich um einen komplexen Urteilssachverhalt handelt, der gerade im Tatsächlichen Ausführungen enthält, welche vom Angeklagten selbst analysiert werden müssen, um sodann das weitere Vorgehen mit dem Verteidiger abzustimmen.200 Das mag für die Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Berufung zutreffen, während jedoch die Begründung der Revision ausschließlich Rechtsfragen betrifft, die – abgesehen von der eher theoretischen Möglichkeit der Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle, § 345 Abs. 2 Alt. 2 StPO – allein vom Verteidiger vorzutragen sind.201 Letztinstanzliche und somit rechtskräftige Entscheidungen sind entsprechend dieser Argumentation ebenfalls nicht zu übersetzen.202 Die Gegenansicht betont die Rolle des Beschuldigten als Subjekt des Strafverfahrens sowie Bestandteil einer effektiven Verteidigung, der im 199 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2765); BVerfG 03.06.2005 – 2 BvR 760/05, BeckRS 2005, 27487; BGH 22.01.2018 – 4 StR 506/17, BeckRS 2018, 478 Rn. 5; BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 36; OLG Köln 30.09.2011 – 2 Ws 589/11, NStZ 2012, 471 (472); OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; OLG Hamm 11.03.2014 – 2 Ws 40/14, StV 2014, 534; OLG Hamm 26.01.2016 – 1 Ws 8/16, BeckRS 2016, 06053; OLG Braunschweig 11.05.2016 – 1 Ws 82/16, NStZ-RR 2016, 253; BeckOK-StPO/ Meyberg, Nr. 181 RiStBV Rn. 12; LR-StPO/Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 4; Radtke/Hohmann/Otte, § 184 GVG Rn. 4. 200 Römer, NStZ 1981, 474 (475). 201 BVerfG 03.06.2005 – 2 BvR 760/05, BeckRS 2005, 27487; OLG Hamm 22.05.1989 – 2 Ws 267/89, StV 1990, 101 (102) m. krit. Anm. Kühne; OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; Yalcin, ZRP 2013, 104 (107); vgl. auch BT-Drs. 17/12578 S. 12. 202 BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 13.
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile69
Zweifel besser über den tatsächlichen Sachverhalt informiert sei und das Recht habe, sich selbst zu verteidigen, was nur gehe, wenn er in eigener Person das – gegebenenfalls detailliertere – schriftliche Urteil kenne und schließlich auch die Qualität der Verteidigerleistung beurteilen müsse.203 Vermittelnd wird man folgenden Weg als zutreffend bezeichnen: Sollte der Beschuldigte trotz Vertretung durch einen Verteidiger – beispielsweise aufgrund eigener Fachkunde – ein berechtigtes Interesse daran haben, das Urteil in einer ihm verständlichen Sprache selbst „mit eigenen Augen“ zu lesen, ist ihm ein entsprechend begründeter Antrag zuzumuten.204 Die Möglichkeit, das abgesetzte schriftliche Urteil zusammen mit seinem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen und sich das Urteil auf diese Weise (für ihn kostenfrei) übersetzen zu lassen, bleibt dem Beschuldigten ohnehin unbenommen.205 (3) Strafbefehl – EuGH, Urteil vom 12.10.2017, Az. C-278/16 (Frank Sleutjes) Ausweislich § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG sowie Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK, Nr. 181 Abs. 2 RiStBV und Art. 3 Abs. 2 RL 2010/64/EU in entsprechender Auslegung206 ergibt sich die Verpflichtung, dem sprachfremden Beschuldigten eine schriftliche Übersetzung des Strafbefehls zuzusenden. Nach einer Ansicht ist damit auch die Folge des § 37 Abs. 3 StPO analog verbunden,207 soweit nicht der Beschuldigte (z. B. bei Erteilung einer Zustellungsbevollmächtigung oder im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung) da203 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 47 f.; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 10; Bockemühl, StV 2014, 537 (539); Kotz, VRR 2014, 105 (107); ders., StRR 2014, 186 (187); ders., StRR 2014, 364 (365 f.); Schneider, StV 2015, 379 (382 f.); MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 54 f. 204 BGH 22.01.2018 – 4 StR 506/17, BeckRS 2018, 478 Rn. 7; OLG Nürnberg 03.03.2014 – 2 Ws 63/14, BeckRS 2014, 08061; LR-StPO/Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 14. 205 BVerfG 03.06.2005 – 2 BvR 760/05, BeckRS 2005, 27487; OLG Hamm 11.03.2014 – 2 Ws 40/14, StV 2014, 534; OLG Hamm 26.01.2016 – 1 Ws 8/16, BeckRS 2016, 06053. 206 EuGH 12.10.2017 – C-278/16, NJW 2018, 142 (144) Rn. 31; Brodowski/Jahn, StV 2018, 70 (70 f.). 207 LG Stuttgart 12.05.2014 – 7 Qs 18/14, NStZ-RR 2014, 216 = StraFo 2014, 290 m. zust. Anm. Hinderer = jurisPR-VerkR 18/2014 Anm. 6 m. zust. Bspr. Krenberger; LG Gießen 29.04.2015 – 7 Qs 48/15, BeckRS 2015, 10797 m. zust. Bspr. Lange, jurisPR-StrafR 17/2015 Anm. 3; LG Freiburg 17.06.2016 – 3 Qs 127/15, StV 2017, 667; BeckOK-StPO/Larcher, § 37 Rn. 39 ff.; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 18; Brodowski, ZIS 2017, 11 (19); Kulhanek, JR 2016, 208 (212 f.); MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 64.
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rauf verzichtet hat, § 187 Abs. 3 GVG. Die Gegenansicht verneint hingegen eine analoge Anwendung des § 37 Abs. 3 StPO, weil der Wortlaut insofern (gerade in Abgrenzung zu § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG) eindeutig und der Beschuldigte gegebenenfalls auf die Bewilligung von Wiedereinsetzung auf Antrag bzw. von Amts wegen zu verweisen sei.208 Weder der systematische Zusammenhang noch die Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drs. 17/12578 S. 11 ff.), der Schutzzweck der Norm oder Gesichtspunkte der Richtlinie 2010/64/EU sprächen für eine entsprechende Anwendung, insbesondere weil der fehlende Lauf der Einspruchsfrist eine nicht annehmbare Ungewissheit über die Rechtsbeständigkeit der erlassenen Entscheidung nach sich zöge.209 Das BVerfG hat die Streitfrage derweil bewusst nicht entschieden: „Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist auch entscheidungserheblich, da das Gericht bei Berücksichtigung des Vortrags zu den Sprachkenntnissen möglicherweise zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. Das Landgericht hat ausdrücklich offengelassen, ob das Fehlen der nach § 187 Abs. 2 GVG bei mangelnden Sprachkenntnissen erforderlichen Übersetzung die Unwirksamkeit der Zustellung des Strafbefehls zur Folge hat. Auf die Frage der Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrages kommt es daher erst dann an, wenn das Landgericht von der Wirksamkeit der Zustellung ausgehen sollte.“210
Diese wurde zwischenzeitlich auf die europäische Bühne getragen. Das LG Aachen hat dem EuGH mit Vorabentscheidungsersuchen vom 19.05.2016 folgende Frage vorgelegt: „Ist Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren dahin auszulegen, dass der Begriff „Urteil“ in § 37 Abs. 3 StPO auch Strafbefehle im Sinne von §§ 407 ff. StPO einschließt?“211
Im Ergebnis wird man hier § 37 Abs. 3 StPO bereits nach nationalem Recht entsprechend anzuwenden haben. Ausweislich § 410 Abs. 3 StPO steht nämlich der mangels fristgemäßem Einspruch rechtskräftig gewordene Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber hier eine bewusste Lücke setzen wollte, bestehen nicht. Indem die Änderungen des § 187 GVG einerseits und des § 37 Abs. 3 StPO andererseits mit Wirkung vom 06.07.2013 jeweils auf die Richtlinie zurückgehen und der EuGH klargestellt hat, dass die vereinfachte Verfahrenserledigung im Strafbefehlswege nicht zu einer Aushöhlung der durch Unionsrecht garantier208 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, juris Rn. 11 (in NStZ-RR 2016, 249 insoweit nicht abgedruckt); LG Ravensburg 04.05.2015 – 2 Qs 29/15, NStZ-RR 2015, 219 (220); LG Dortmund 11.03.2016 – 36 Qs 257 Js 2069/15, BeckRS 2016, 16295; LG Stuttgart 13.09.2016 – 19 Qs 49/16, BeckRS 2016, 18857. 209 LG Stuttgart 13.09.2016 – 19 Qs 49/16, BeckRS 2016, 18857. 210 BVerfG 23.01.2017 – 2 BvR 2272/16, BeckRS 2017, 101033 Rn. 17. 211 LG Aachen v. 19.05.2016, BeckEuRS 2016, 483041.
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ten Beschuldigtenrechte führen dürfe,212 wird dieses Resultat noch untermauert. So hat auch der Generalanwalt Nils Wahl in seinem Schlussantrag bekräftigt, dass nach seinem Dafürhalten die Frist zur Einspruchseinlegung erst mit dem Erhalt der ordnungsgemäßen Übersetzung des Strafbefehls zu laufen beginnen sollte.213 Der Strafbefehl sei als wesentliche Unterlage i. S. v. Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU anzusehen und damit zwingend zu übersetzen.214 Zwar müsse die Übersetzung nicht gleichzeitig mit dem Dokument zugestellt werden, sondern lediglich innerhalb einer angemessenen Frist, jedoch müsse der betroffenen Person sodann wiederum eine angemessene Frist zur Verfügung stehen, um sich mit dem Inhalt des Schriftstücks vertraut zu machen und gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen.215 Der EuGH hat nun in seiner Sleutjes-Entscheidung die Vorlagefrage des LG Aachen wenig nachvollziehbar wie folgt umformuliert: „Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen ist, dass ein Rechtsakt wie ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne des Abs. 1 dieses Artikels darstellt, von der verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des betreffenden Verfahrens nicht verstehen, gemäß den von dieser Bestimmung aufgestellten Formerfordernissen eine schriftliche Übersetzung erhalten müssen, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um so ein faires Verfahren zu gewährleisten.“216
Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich indes bereits aus § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG, sodass es insoweit einer Vorlage nicht bedurft hätte und eine solche diesbezüglich schließlich auch nicht erfolgte. Vielmehr stellte das LG Aachen explizit auf die Rechtswirkung des § 37 Abs. 3 StPO ab. Entsprechend wenig hilfreich fällt auch die Antwort des EuGH aus: „Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsakt wie ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne des Abs. 1 dieses Artikels darstellt, von der verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des be212 EuGH 213 Wahl,
15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354. Schlussanträge zu Rs. C-278/16 vom 11.05.2017, BeckRS 2017, 109865
Nr. 46. 214 Wahl, Schlussanträge zu Rs. C-278/16 vom 11.05.2017, BeckRS 2017, 109865 Nr. 23 ff. 215 Wahl, Schlussanträge zu Rs. C-278/16 vom 11.05.2017, BeckRS 2017, 109865 Nr. 42. 216 EuGH 12.10.2017 – C-278/16, NJW 2018, 142 (143) Rn. 25.
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treffenden Verfahrens nicht verstehen, gemäß den von dieser Bestimmung aufgestellten Formerfordernissen eine schriftliche Übersetzung erhalten müssen, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um so ein faires Verfahren zu gewährleisten.“217
Der EuGH hat hierbei schlicht die Bedeutung der innerdeutschen Unterscheidung des Rechtsbehelfs des Einspruchs gegenüber der rechtskraftdurchbrechenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verkannt. Aus der Tatsache, dass in der Entscheidung allerdings explizit betont wird, dass „ein solcher Strafbefehl zugleich eine Anklageschrift und ein Urteil im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 dar[stellt]“,218 lässt sich folgern, dass der EuGH gerade im Willen der Stärkung der Rechte sprachfremder Beschuldigter dem extensiven Verständnis zuneigt.219 bb) Verzicht, § 187 Abs. 3 GVG Der Beschuldigte kann gem. § 187 Abs. 3 GVG auf eine schriftliche Übersetzung verzichten, wenn er zuvor über sein Recht auf eine solche und die Folgen eines Verzichts belehrt worden ist, wobei die Belehrung und der Verzicht zu dokumentieren sind. Das geht konform mit Art. 3 Abs. 8 der RL 2010/64/EU, wonach jedweder Verzicht auf das Recht auf Übersetzung von Unterlagen dem Erfordernis unterliegt, dass verdächtige oder beschuldigte Personen zuvor rechtliche Beratung oder in anderer Weise volle Kenntnis der Folgen eines solchen Verzichts erhalten haben und dass der Verzicht unmissverständlich und freiwillig erklärt wurde.220 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass ein „Pauschalverzicht“ nicht möglich ist, sondern jeweils nur auf die Übersetzung eines konkret bezeichneten Schriftstücks verzichtet werden kann.221 Ein Verzicht auch auf eine mündliche Übersetzung verfahrenswesentlicher Schriftstücke ist dagegen in der nationalen Umsetzung nicht vorgesehen.222 217 EuGH 12.10.2017 – C-278/16, NJW 2018, 142 = BeckRS 2017, 127609 Rn. 35. 218 EuGH 12.10.2017 – C-278/16, NJW 2018, 142 = BeckRS 2017, 127609 Rn. 31. 219 So auch LG Aachen 13.11.2017 – 66 Qs 10/16, BeckRS 2017, 142962 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 31; Böhm, NStZ 2018, 197 (204); Brodowski/Jahn, StV 2018, 70 (71 f.) mit weitergehenden Erwägungen zu – nunmehr fortbestehenden – Einspruchsmöglichkeiten; Hillenbrand, ZAP 2018, Fach 22, 921 (922); Sandherr, NZV 2017, 531. 220 Eisenberg, JR 2013, 442 (444). 221 Kissel/Mayer, § 187 Rn. 20; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 15. 222 LR-StPO/Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 16; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 70; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 15.
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Oğlakcıoğlu hat die Frage aufgeworfen, ob der Verzicht nach § 187 Abs. 3 GVG auch zum Inhalt einer Verständigung gem. § 257c StPO gemacht werden könnte und diese bejaht.223 Dem ist zuzugeben, dass dieser Verzicht ein vom Willen des Angeklagten bestimmtes Prozessverhalten darstellt. Andererseits widerspricht eine Verknüpfung mit einer Verfahrensabsprache der umfassend benannten Freiwilligkeit des § 187 Abs. 3 Satz 1 GVG, wenn diese im Sinne von „vollständig autonomen Entschließungsgründen“ verstanden wird. Da ein Rechtsmittelverzicht infolge § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht möglich ist, sollte gerade im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels bei entsprechend begründetem Antrag einem Übersetzungsbegehr entsprochen werden. Die Folge eines „gedealten“ Verzichts wäre aber jedenfalls nicht die Fehlerhaftigkeit der Verständigung als solcher, sondern lediglich die Unwirksamkeit des erklärten Verzichts i. S. d. § 187 Abs. 3 GVG. e) Schriftliche Eingaben in fremder Sprache aa) Herkömmliche Auffassung Nach tradierter Ansicht sind schriftliche Eingaben in fremder Sprache ohne Rücksicht darauf, ob dem Verfasser die Einreichung in deutscher Sprache möglich oder zumutbar ist, und auch unabhängig davon, ob der Richter sie versteht, grundsätzlich unbeachtlich.224 Deutsche Gerichte können nach der ihnen vom GVG zugewiesenen Stellung verlangen, in deutscher Sprache angegangen zu werden.225 Dem Recht223 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu,
§ 187 GVG Rn. 71. 02.07.1883 – 1198/83, RGSt 9, 51 (52); BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (532 f.) = JR 1982, 516 m. abl. Anm. Meurer; BGH 13.09.2005 – 3 StR 310/05, BeckRS 2005, 11511; OLG Düsseldorf 20.08.1999 – 1 Ws 371/99, NStZ-RR 1999, 364; HK-StPO/Schmidt/Temming, § 184 GVG Rn. 2; Katholnigg, § 184 GVG Rn. 4; KK-StPO/Diemer, § 184 GVG Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 2; Radtke/Hohmann/Otte, § 184 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 7; Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (253); a. A. OLG Frankfurt 13.03.1979 – 20 W 102/79, NJW 1980, 1173; BeckOK-StPO/Walther, § 184 GVG Rn. 4, § 187 GVG Rn. 3; Kissel/Mayer, § 184 Rn. 9; LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 16 ff.; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 5; Heldmann, StV 1981, 251 (253); Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (527 f.); Schneider, MDR 1979, 534 (535); Staudinger, StV 2002, 327 (328); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 17, 64 f.: „Eine derartige Einschränkung des Rechts auf Gebrauch der Muttersprache im Umgang mit deutschen Gerichten ist „vom Standpunkt vernünftiger, gerechter Betrachtung schlechterdings unvertretbar“. Sie wird nicht gedeckt vom Erfordernis zweckmäßiger Gestaltung des Gerichtsverfahrens und dem Grundsatz einer funktionsfähigen Gerichtsbarkeit“; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 106. 225 RG 02.10.1893 – IV 129/93, RGZ 31, 428 (429); KG 06.10.1976 – (2) Ss 315/76 (80/76), BeckRS 1976, 00782. 224 RG
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suchenden wiederum kann entsprechend der Erforderlichkeit der Beachtung sonstiger Formvorschriften auch zugemutet werden, sich hinsichtlich der Sprache einer bestimmten Form zu bedienen.226 Es liegt im Interesse der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit, zweifellos sicherzustellen, dass schriftliche Eingaben für das deutsche Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten schon im Zeitpunkt ihres Zugangs aus sich selbst heraus verständlich sind und nicht erst der (zeitaufwändigen) Erforschung ihres Inhalts durch Einschaltung verfahrensfremder Personen bedürfen, was in der Regel nur dadurch gewährleistet wird, dass eine Abfassung in deutscher Sprache erfolgt oder zumindest eine deutsche Übersetzung beigefügt wird.227 Dieses Ergebnis bestätigt auch eine systematische Auslegung mit § 23 VwVfG. Gem. § 23 Abs. 1 VwVfG ist die Amtssprache Deutsch. Werden nun bei einer Behörde Schriftstücke in fremder Sprache vorgelegt, soll unverzüglich die Vorlage einer Übersetzung verlangt werden, § 23 Abs. 2 Satz 1 VwVfG. Wird diese verlangte Übersetzung sodann nicht unverzüglich vorgelegt, erklärt § 23 Abs. 2 Satz 3 VwVfG, dass die Behörde auf Kosten des Beteiligten selbst eine Übersetzung beschaffen kann. § 23 Abs. 3, Abs. 4 VwVfG regeln die entsprechende Auswirkung auf etwaige Fristen. Im Verwaltungsverfahren ist demzufolge präzise geregelt, welche Rechtsfolgen ein in ausländischer Sprache verfasstes Schriftstück auslöst, wohingegen § 184 Satz 1 GVG unmissverständlich allein Deutsch zur Gerichtssprache erhebt.228 Eine analoge Anwendung auf das Strafverfahren verbietet sich bereits aus Gründen der Rechtssicherheit und ‑klarheit.229 Im Einzelfall soll eine Fürsorgepflicht des Gerichts dahingehend bestehen, den Absender auf § 184 GVG hinzuweisen, um eine gerichtliche Mitursächlichkeit für eine stattfindende Verfristung auszuschließen und damit keinen Wiedereinsetzungsgrund zu unterstützen.230 Letzteres dürfte indessen nur dann zutreffen, wenn ein entsprechender Hinweis nicht bereits unmissver226 KG
06.10.1976 – (2) Ss 315/76 (80/76), BeckRS 1976, 00782. 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (532 f.). 228 Kritisch zu einer eng am Wortlaut orientierten Auslegung von § 184 GVG dagegen Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 15 f., 50, weil § 184 GVG gegenüber § 23 VwVfG deutlich älteren Datums und demnach in seiner Aus legung freier den tatsächlichen Veränderungen anzupassen sei. 229 BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (533); a. A. LR-StPO/Wickern, § 184 GVG Rn. 16. 230 BVerfG 19.04.1995 – 2 BvR 2295/94, NVwZ-RR 1996, 120 (121); OLG Frankfurt 13.03.1979 – 20 W 102/79, NJW 1980, 1173; Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 2; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 7; Armbrüster, NJW 2011, 812; Meurer, JR 1982, 517 (519); Schneider, MDR 1979, 534 (536); Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (23); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 49 f.; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 103. 227 BGH
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ständlich in der angefochtenen, mit einer ordnungsgemäßen Übersetzung zugestellten Entscheidung enthalten war.231 Enthält ein fristgemäß beigebrachtes Schriftstück in deutscher Sprache erkennbar den Willen, eine gerichtliche Entscheidung anzufechten und bedarf der – durch Auslegung zu ermittelnde – Rechtsbehelf keiner weiteren förmlichen Begründung (z. B. Einspruch gegen Strafbefehl, Berufung), schadet es nicht, wenn der übrige Inhalt des Schreibens nicht in deutscher Sprache abgefasst ist (allerdings ist dieser dann eben auch unbeachtlich).232 bb) EuGH, Urteil vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci) Mit seinem Urteil vom 15.10.2015 in Sachen Gavril Covaci hatte der EuGH über die Vorlagefrage des AG Laufen233 zu befinden, ob Art. 1 bis Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist. Das Vorabentscheidungsverfahren erweist sich insofern als prozessrechtliches Bindeglied zwischen der supranationalen und der nationalen Gerichtsbarkeit und sichert das Monopol des EuGH, über die Auslegung von Unionsrecht allein letztverbindlich zu entscheiden, hat daneben – gleichsam reflexartig – aber auch individualschützenden Charakter, soweit es um die Durchsetzung von aus dem Unionsrecht abgeleiteten subjektiven Beschuldigtenrechten geht.234 Dem Vorabentscheidungsersuchen lag folgender Ausgangssachverhalt zugrunde:235 Der Beschuldigte Covaci, ein rumänischer Staatsangehöriger, wurde in Deutschland anlässlich des Verdachts eines Vergehens gegen das PflVG betroffen. Er wurde zu diesem Sachverhalt unter Hinzuziehung eines Dolmetschers polizeilich vernommen und erteilte, da er keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet hatte, drei Bediensteten des AG Laufen für an ihn gerichtete gerichtliche 231 Vgl. zu dem Erfordernis des Hinweises, dass die schriftliche Rechtsmitteleinlegung in deutscher Sprache erfolgen muss und den Folgen für die Wiedereinsetzung bei dessen Fehlen BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (533); Kissel/Mayer, § 184 Rn. 14. 232 OLG Düsseldorf 02.11.1999 – 1 Ws 907/99, NStZ-RR 2000, 215; BeckOKStPO/Walther, § 184 GVG Rn. 4; HK-StPO/Schmidt/Temming, § 184 GVG Rn. 2; Armbrüster, NJW 2011, 812. 233 AG Laufen 06.08.2014 – 1 Cs 320 Js 8111/14 (juris). 234 Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 224. 235 Vgl. EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 16 ff.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
Urkunden eine unwiderrufliche schriftliche Zustellungsvollmacht, nach deren Wortlaut Rechtsmittelfristen gegen gerichtliche Entscheidungen mit ihrer Zustellung an die benannten Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen. Die Staatsanwaltschaft beantragte den Erlass eines Strafbefehls (dessen Rechtsmittelbelehrung das Erfordernis benannte, Einspruch nur in deutscher Sprache einzulegen) sowie dessen Zustellung über die benannten Zustellungsbevollmächtigten.
Während der Generalanwalt Yves Bot die Erlaubnis zur Rechtsmitteleinlegung in eigener (Fremd-)Sprache befürwortet hatte,236 beantwortete der EuGH die Vorlagefrage wie folgt: „Die Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist, nicht entgegenstehen, sofern die zuständigen Behörden nicht gem. Art. 3 III dieser Richtlinie der Auffassung sind, dass der Einspruch im Hinblick auf das betreffende Verfahren und die Umstände des Einzelfalls ein wesentliches Dokument darstellt.“237
Über die genaue Intention des EuGH und insbesondere die Auswirkungen dieser Entscheidung besteht (bislang) keine Einigkeit. (1) Eine Ansicht: Rechtsmittel in fremder Sprache als wesentliches, von Amts wegen zu übersetzendes Dokument Nach der extensiven Ansicht sollen fristgebundene Eingaben, Rechtsmittelschriften sowie schriftliche Stellungnahmen des unverteidigten Beschuldigten zum Tatvorwurf im Sinne eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens demnach „ohne weiteres“ als für das Verfahren wesentliche Dokumente von Amts wegen zu übersetzen sein.238 Selbst wenn die fremdsprachige Erklä236 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 119: „Diese Bestimmungen sind jedoch dahin auszulegen, dass sie einer Person, gegen die ein Strafurteil ergangen ist und die der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, erlauben, ein Rechtsmittel gegen ein solches Urteil in ihrer eigenen Sprache einzulegen, wobei es dem zuständigen Gericht obliegt, in Anwendung des Rechts der beschuldigten Person auf Dolmetschleistungen nach Art. 2 dieser Richtlinie die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Übersetzung des Rechtsmittels in die Verfahrenssprache sicherzustellen.“ 237 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 238 Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 2a; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 6; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 8; Böhm, NJW 2016, 306; Kotz, StV 2012, 626 (631); Schneider, StV 2015, 379 (382).
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile77
rung selbst keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalte, werde sie Aktenbestandteil und müsse somit als für die Ausübung der Verteidigungsrechte wesentliche Unterlage übersetzt werden.239 Die Rechtsmittelfrist werde zudem bereits mit Eingang des fremdsprachigen Ursprungsschreibens gewahrt.240 (2) Andere Ansicht: Keine Pflicht zur amtsseitigen Übersetzung Die Gegenansicht verneint eine Pflicht zur amtsseitigen Übersetzung. Der EuGH stellt darauf ab, dass die Richtlinie 2010/64/EU zum Ziel habe, einen Beschuldigten in vollem Umfang in einer ihm verständlichen Sprache vom Tatvorwurf zu unterrichten, nicht jedoch die Übersetzung der gesamten Akte erfordere und auch keinen Anspruch generiere, eigene Schriftstücke in einer fremden Sprache vorzulegen oder einzureichen.241 Die europäische Regelung in ihrer am Wortlaut orientierten Auslegung erzwingt eine Übersetzung nicht.242 Inwieweit der nationale Gesetzgeber eine über diese Mindestvorschriften (Art. 82 Abs. 2 AEUV) hinausgehende Regelung schafft, bleibt diesem vorbehalten.243 Die Richtlinie stünde dem wegen des nur Mindestvorschriften setzenden Charakters nicht entgegen. Dies müssten jedoch der nationale Gesetzgeber und die nationalen Gerichte entscheiden.244 Die Richtlinie in ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des EuGH kann keine entsprechende Verpflichtung auslösen, wenn sie diese Vorgabe nicht enthält.245 Das entspricht letztlich auch dem Prinzip der Subsidiarität als einem Grundpfeiler der europäischen Einigung.246
239 BeckOK-StPO/Walther, § 184 GVG Rn. 4, § 187 GVG Rn. 3; Kotz, StV 2012, 626 (631); Schneider, StV 2015, 379 (382). 240 BeckOK-StPO/Walther, § 184 GVG Rn. 4, § 187 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 184 GVG Rn. 8; Böhm, NJW 2016, 306. 241 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 38 ff. 242 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 58 ff.; Streinz/Satzger, Art. 82 AEUV Rn. 53; Brodowski, StV 2016, 210; Kulhanek, JR 2016, 208; Zündorf, NStZ 2017, 41 (42). 243 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 48. 244 Vgl. allg. zum eher defensiven Charakter des Art. 82 Abs. 2 AEUV Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 82 f. 245 A. A. Zündorf, NStZ 2017, 41 (42), welcher der von ihm vermeintlich erkannten Rechtsfortbildung jedoch sogleich ablehnend entgegentritt; zur Frage einer etwaigen richtlinienorientierten Auslegung im Überschussbereich vgl. allg. Mittwoch, JuS 2017, 296 (298). 246 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (315): „Das Prinzip der Subsidiarität ist ein Grundpfeiler der europäischen Einigung; sie kommt einer vernünftigen und sachangemessenen Lösung der Probleme mitgliedstaatlicher Traditionen entgegen.“
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
(a) K eine Pflicht zur Übersetzung von Schriftstücken in die Verfahrenssprache aus Art. 2, 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU Die RL 2010/64/EU begründet gerade keine solche Übersetzungspflicht. Dies gilt trotz deren Erwägungsgrund (17), wonach die unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung zur Verwirklichung der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte proklamiert wird (was zeitlich umfassend, d. h. vom Beginn des Ermittlungsverfahrens bis zur abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren, Geltung beansprucht). Ausweislich Art. 3 Abs. 1 RL 2010/64/EU beschränkt sich dessen inhaltlicher Anwendungsbereich auf Schriftstücke, welche dem Beschuldigten zum Zwecke der Unterrichtung zugeleitet werden und aus diesem Grunde zu seinem Verständnis übersetzt werden müssen. Ein Schreiben, das vom Beschuldigten selbst stammt, bedarf folglich keiner Übersetzung, da ihm in diesem Fall der Inhalt desselben hinreichend bekannt ist.247 Art. 2 RL 2010/64/EU beschäftigt sich nur mit mündlicher Kommunikation.248 Ergänzend kann auf Erwägungsgrund (20) RL 2010/64/EU hingewiesen werden, aus welchem hervorgeht, dass die dort genannte zur Verfügung Stellung von Dolmetschleistungen „bei der Einlegung von Rechtsmitteln“ lediglich auf die Verständigung zwischen dem Beschuldigten und seinem Rechtsbeistand abzielt. (b) K eine Pflicht zur Übersetzung von Schriftstücken in die Verfahrenssprache aus Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64/EU Soweit es den zuständigen Gerichten obliegt, darüber zu befinden, inwieweit es sich bei einer Rechtsmitteleinlegung um ein „wesentliches Dokument“ i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 RL 2010/64/EU handelt,249 ist ein restriktives Verständnis angezeigt.250 Es besteht weder eine Pflicht zur Übersetzung der gesamten Verfahrensakte,251 noch zur Übertragung fremdsprachiger Schriftsätze durch das Gericht. Es geht schließlich nicht zuletzt um das anerkennenswerte Recht des deutschen Gesetzgebers, die Verfahrensakte in der Verfahrenssprache zu halten und nicht die Möglichkeit zu eröffnen, langatmige Ausführungen in Fremdsprachen in die Akten zu transportieren.252 Die zwingend vorgeschriebene deutsche Sprache (§ 184 GVG) gilt für sämtlichen 247 Kulhanek,
(42).
248 EuGH
JR 2016, 208; Yalcin, ZRP 2013, 104 (105); Zündorf, NStZ 2017, 41
15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 40, 42. 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 49 f. 250 Kulhanek, JR 2016, 208; Zündorf, NStZ 2017, 41 (42). 251 Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 EMRK Rn. 26; SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 39; Kotz, StV 2012, 626 (628). 252 Kulhanek, JR 2016, 208. 249 EuGH
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile79
Schriftverkehr mit dem Gericht. Anderes kann für fremdsprachige Urkunden gelten, welche als Beweismittel herangezogen werden.253 Auch Art. 6 Abs. 3 EMRK und die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR verlangen lediglich die Übersetzung von Schriftstücken, auf deren Verständnis der Beschuldigte zur Ausrichtung seiner Verteidigung angewiesen ist, nicht jedoch umgekehrt von Schreiben, die zur Verteidigung des Beschuldigten verfasst wurden.254 Insoweit ist an dieser Stelle (erneut) auf den bereits beschriebenen und vom Richtliniengeber betonten Gleichlauf zwischen der Garantie durch Art. 3 RL 2010/64/EU und Art. 6 Abs. 3 EMRK hinzuweisen, vgl. ausdrücklich Erwägungsgründe (14), (33) RL 2010/64/EU. Nichts anderes gilt in der Folge für § 187 GVG.255 Es ist präzise danach zu unterscheiden, ob dem Beschuldigten die Hinzuziehung eines Dolmetschers/Übersetzers zusteht, um auf diese Weise dem Gericht ein in der Verfahrenssprache verfasstes Schriftstück zuleiten zu können, oder ob eine originäre Pflicht des Gerichts dahingehend besteht, ein in einer fremden Sprache eingereichtes Schreiben eigenständig übersetzen zu lassen.256 Das Gericht kann, muss aber keine Übersetzung veranlassen.257 Der Anspruch auf unentgeltliche Inanspruchnahme eines Dolmetschers/Übersetzers gem. § 187 Abs. 1 GVG bleibt unberührt. Soweit demnach eine diesbezügliche Belehrung durch das Gericht stattgefunden hat (zu einer ordnungsgemäßen Belehrung i. S. d. § 35a StPO gehört der Hinweis, dass die Rechtsmittelschrift in deutscher Sprache abgefasst sein muss),258 ist ein nicht in deutscher Sprache eingelegter Rechtsbehelf unbeachtlich; eine etwaige, nach Fristablauf beigebrachte Übersetzung wäre nicht imstande, dies zu heilen.259 Enthält in diesem Zusammenhang das Protokoll einen Vermerk über eine Rechtsmittelbelehrung, so beweist dieser nicht nur die Belehrung als solche, deren Richtigkeit und Vollständigkeit, sondern bei Anwesenheit eines Dolmetschers auch deren korrekte Übersetzung.260 253 BGH
09.11.2011 – 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523 (525). 06.10.1976 – (2) Ss 315/76 (80/76), BeckRS 1976, 00782; SSW-StPO/ Rosenau, § 184 GVG Rn. 7; Christl, NStZ 2014, 376 (378 f.); vgl. zur Entwicklung des § 187 GVG n. F. aus der Rechtsprechung des EGMR BT-Drs. 17/12578 S. 11; krit. Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 99. 255 Christl, NStZ 2014, 376 (379); Yalcin, ZRP 2013, 104 (105). 256 Kulhanek, JR 2016, 208 (209); Zündorf, NStZ 2017, 41 (42). 257 BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NStZ 1981, 487; KKStPO/Diemer, § 184 GVG Rn. 2; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 60; Armbrüster, NJW 2011, 812; Kulhanek, JR 2016, 208 (209). 258 BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NStZ 1981, 487; KK-StPO/ Diemer, § 184 GVG Rn. 2; Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (253). 259 Kulhanek, JR 2016, 208 (209). 260 OLG Frankfurt 05.11.2002 – 3 Ws 1172/02, NStZ-RR 2003, 47 (48); KG 12.01.2009 – (4) 1 Ss 8/09, NStZ 2009, 406; OLG Hamm 25.10.2016 – 3 RVs 72/16, BeckRS 2016, 20357 Rn. 12. 254 KG
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
cc) BGH, Beschluss vom 09.02.2017, Az. StB 2/17 Auch der BGH hatte sich im Zuge einer Beschwerde gegen einen Haftfortdauerbeschluss des KG in einem Verfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland mit den Auswirkungen der Covaci-Entscheidung des EuGH auf das innerstaatliche Strafverfahrensrecht zu beschäftigen.261 Hierbei betonte der 3. Senat die Autorität der deutschen Gerichtssprache in § 184 Satz 1 GVG und hielt an der tradierten Auffassung, wonach fremdsprachige Schreiben grundsätzlich unbeachtlich sind, auch wenn der Verfasser die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, dem Grunde nach fest.262 Jedoch anerkannte er, dass die betreffende Rechtsprechung des EuGH den beschriebenen Grundsatz zumindest potentiell einer Einschränkung unterwirft, indem „es für die Frage, ob ein fremdsprachig abgefasstes Schreiben von Amts wegen zu übersetzen und zu beachten ist, nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (…) darauf ankommt, ob es sich um ein für das Verfahren wesentliches Dokument handelt“.263 Weiter gab der BGH zu bedenken, ob sich die Wesentlichkeit ohne Übersetzung überhaupt würde beurteilen lassen.264 Ein tatsächliches Bekenntnis zu einer der beiden oben dargestellten Ansichten wollte und musste der BGH letztlich allerdings nicht abgeben. Und das aus zwei Gründen: 1) Er stellte zunächst darauf ab, dass die CovaciEntscheidung nur den nicht verteidigten Beschuldigten betreffe und der Angeklagte im zu entscheidenden Fall über zwei Verteidiger verfügte, weswegen er in Anbetracht des Anspruchs auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher beim Verkehr mit seinem Verteidiger zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte nicht in gleicher Weise auf Übersetzungen seiner Schreiben von Amts wegen angewiesen sei.265 Die Frage, inwieweit § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG überhaupt auf vom Beschuldigten verfasste Schreiben Anwendung findet, ließ der BGH ausdrücklich dahinstehen.266 2) Zudem wurde das 261 BGH
09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601. 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602); ebenso BGH 30.11.2017 – 5 StR 455/17, NStZ-RR 2018, 57. 263 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602); ebenso BGH 30.11.2017 – 5 StR 455/17, NStZ-RR 2018, 57 (58). 264 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602). 265 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602); ebenso BGH 30.11.2017 – 5 StR 455/17, NStZ-RR 2018, 57 (58). 266 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602). 262 BGH
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile81
entscheidungsgegenständliche Schreiben vom KG tatsächlich übersetzt und diese Übersetzung von der Verteidigung in Bezug genommen.267 Der dargestellte Beschluss des BGH ist nach hiesigem Verständnis wie folgt zu interpretieren: Der 3. Senat hat es geflissentlich unterlassen, eine vom Grundsatz der Unbeachtlichkeit fremdsprachiger Schreiben abweichende Entscheidung zu treffen, der diesbezüglichen Diskussion jedoch ebenso wenig eine Absage erteilt, sondern den Streit willentlich dahinstehen lassen. Er stellte klar, dass der Richter, wenn auch nicht verpflichtet, so jedenfalls zu einer Übersetzung jederzeit berechtigt ist, er diese (somit bei den Akten befindliche Übersetzung) dann selbstredend aber beachten muss. Wie die Tatgerichte die Wesentlichkeit eines Schriftstücks feststellen und/oder beurteilen, bleibt im Grunde diesen überlassen; eine Pflicht zur ausnahmslosen Übersetzung ist dem Unionsrecht nicht zu entnehmen. In diesem Zusammenhang ist ferner zu betonen, dass der Senat selbst ganz bewusst davon abgesehen hat, ein weiteres Schreiben des Beschuldigten in fremder Sprache übersetzen zu lassen.268 Es spricht – auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten – nichts dagegen, auf den Eingang eines fremdsprachigen Schreibens von einem über §§ 184 Satz 1, 187 Abs. 1 Satz 2 GVG belehrten Beschuldigten schlicht damit zu reagieren, das eingegangene Schreiben unter Hinweis auf die eben genannten §§ 184 Satz 1, 187 Abs. 1 Satz 2 GVG zurückzuweisen. Schließlich ist insbesondere bei eingehenden Schriftstücken nach Strafbefehlserlass oder Urteilsverkündung kein Raum (mehr) für die etwaige Argumentation über eine Kognitionspflicht durch § 244 Abs. 2 StPO (in dem Sinne, dass man normalerweise ja nicht wisse, welchen Inhalt das Schreiben habe und man es somit erst einmal übersetzen lassen müsste, um überhaupt zu sehen, wie man es sachbehandeln muss). Und zuletzt wurde durch den BGH ein weiterer Aspekt in den Vordergrund gerückt, nämlich § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG, wonach beim verteidigten Beschuldigten in der Regel keine schriftlichen Translationen veranlasst sind, da dieser durch den Verteidiger (gegebenenfalls ergänzt durch einen Dolmetscher) hinreichend in seiner Interessenwahrnehmung geschützt ist. Diese klare Aussage dürfte auch in die sonstigen diesbezüglichen Streitfelder um § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG und dessen Richtlinienkonformität ausstrahlen.
267 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602); vgl. auch HK-StPO/ Schmidt/Temming, § 184 GVG Rn. 2. 268 BGH 09.02.2017 – StB 2/17, NStZ 2017, 601 (602).
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
2. Qualitätssicherung Im Prozess des Dolmetschens treten aus unterschiedlichen Gründen diverse Fehlleistungen auf. Die Fehlertypen lassen sich dabei etwa in folgende Klassifizierung einordnen: Durch Überspringen von Wörtern (z. B. bei mehreren Adjektiven vor einem Nomen Weglassen von einzelnen Adjektiven), vereinzeltem Nichtverstehen des Ausgangstextes, dem Bestreben den (gegebenenfalls zu groß gewordenen) zeitlichen Abstand zum Sprecher zu verringern sowie der komprimierten Zusammenfassung des Ursprungstextes kann es zu Auslassungen kommen, infolge Hinzufügen qualifizierender Adjektive, stilistischer oder erklärender Zusätze können Ergänzungen entstehen und semantische oder Formulierungsfehler können zu einer Substitution des Text‑/ Sinngehalts führen.269 Prinzipiell kann jede Person als Dolmetscher herangezogen werden, welche sowohl die fremde als auch die deutsche Sprache in ausreichendem Maße spricht.270 Ein (guter) Gerichtsdolmetscher muss/sollte sich aber letztlich zusätzlich im Strafverfahren auskennen. Bloße Sprachkenntnis genügt hierfür nicht, es bedarf – neben der charakterlichen Komponente von Zuverlässigkeit, Vertraulichkeit und Unparteilichkeit – auch einer gewissen juristischen Fachkenntnis gepaart mit Gerichtserfahrung.271 An den genannten persönlichen Aspekt knüpft § 189 GVG an, welcher den Dolmetscher über den zu leistenden Eid stets aufs Neue an seine Treue und Gewissenhaftigkeit erinnert.272 Entsprechend gilt § 189 GVG bereits im Ermittlungsverfahren, jedoch lediglich für richterliche Vernehmungen, da weder Polizei noch Staatsanwaltschaft zur Abnahme der Eidesleistung zuständig/berechtigt wären.273
269 Brune,
Dolmetschen und Akzent, 2012, S. 37. § 185 Rn. 16; SK-StPO/Frister, § 185 GVG Rn. 8; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 82. 271 Christl, NStZ 2014, 376 (381); Kabbani, StV 1987, 410 (411); Driesen/Petersen, Gerichtsdolmetschen, 2011, S. 11; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 47 ff.; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 83. 272 RG 09.09.1941 – 4 D 347/41, RGSt 75, 332 (333); Christl, NStZ 2014, 376 (381); Driesen/Petersen, Gerichtsdolmetschen, 2011, S. 6; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 206; krit. Wenske, Schlothauer-FS, 2018, S. 287 (290). 273 BGH 08.03.1968 – 4 StR 615/67, BGHSt 22, 118 = NJW 1968, 1485; BGH 12.05.1992 – 1 StR 29/92, BeckRS 1992, 00253; Kissel/Mayer, § 189 Rn. 3; BeckOKStPO/Walther, § 189 GVG Rn. 1; Christl, NStZ 2014, 376 (381). 270 Kissel/Mayer,
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile83
a) Maßnahmen zur Sicherstellung einer hinreichenden Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2010/64/EU Art. 5 Abs. 1 RL 2010/64/EU verlangt von den Mitgliedstaaten die Implementierung konkreter Maßnahmen zur Sicherstellung einer hinreichenden Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Art. 5 Abs. 2 RL 2010/64/EU nennt hierzu die Einrichtung entsprechender Register als erstes, geeignetes Mittel. In den §§ 184 ff. GVG hat diese europäische Forderung keinen unmittelbaren Niederschlag gefunden. Vielmehr wird dies den Ländern überlassen.274 Als Beispiel sei hier auf Art. 7 BayDolmG verwiesen, wonach die Präsidenten der Landgerichte die öffentlich bestellten Dolmetscher/Übersetzer mit Namen, Vornamen, Berufsbezeichnung, Anschrift und der Sprache, für die sie bestellt sind, in eine Datenbank eintragen und diese Eintragungen und etwaige Änderungen über das Internet öffentlich zugänglich machen. Zur Qualitätssicherung im engeren Sinne verhält sich Art. 15 Abs. 1 Satz 1 BayDolmG. Dort wird das Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Prüfung und Anerkennung von „staatlich geprüften“ Dolmetschern und Übersetzern zu regeln. Dies umfasst insbesondere die Prüfungsarten, das Prüfungsverfahren, die Prüfungsorgane, die Voraussetzungen für eine Bestellung zum Prüfer, die Zulassung zur Prüfung, die Prüfungsgegenstände, die Zahl und die Art der Prüfungsarbeiten, die Gliederung der Prüfung in einen schriftlichen und einen mündlichen Teil, die Bewertung der Prüfungsleistungen, die Zulassung von Hilfsmitteln bei der Prüfung, die Folgen von Verstößen gegen die Prüfungsbestimmungen und die Prüfungsvergünstigungen in besonderen Fällen, die teilweise Übertragung der Zuständigkeit zur Abhaltung der Prüfung auf Sprachenschulen und die Regelung der Vergütung in diesen Fällen. Ferner werden insofern geregelt die Voraussetzungen, unter denen Prüfungen für Übersetzer und Dolmetscher, die außerhalb des Freistaates Bayern abgelegt worden sind, als gleichwertig anerkannt werden, sowie das Verfahren der Anerkennung, insbesondere auch die Einzelheiten des Vollzugs der Richtlinie 2005/36/EG275 wie Merkmale, Voraussetzungen, Inhalte, Bewertung, Verfahren und Zustän274 Christl, NStZ 2014, 376 (380); Eisenberg, JR 2013, 442 (447); Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011, S. 41; kritisch Balaei, Notwendigkeit der Professionalisierung von Dolmetschern im Justizwesen, 2004, S. 77 ff.. Wenske, Schlothauer-FS, 2018, S. 287 (295 ff.) 275 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. Nr. L 255 S. 22, ber. ABl. 2007 Nr. L 271 S. 18, ABl. 2008 Nr. L 93 S. 28, ABl. 2009 Nr. L 33 S. 49, ABl. 2014 Nr. L 305 S. 115, Celex-Nr. 3 2005 L 0036.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
digkeiten hinsichtlich des Anpassungslehrgangs und der Eignungsprüfung. Die näher ausgestaltende Regelung zu den Prüfungsvoraussetzungen und -anforderungen findet sich sodann in der Prüfungsordnung für Übersetzer und Dolmetscher (BayÜDPO). Danach hat der Prüfungsteilnehmer in der Prüfung nachzuweisen, dass er die sprachlichen und sachlichen Kenntnisse und die persönlichen Fähigkeiten besitzt, die für die zuverlässige Ausübung des Übersetzer- oder Dolmetscherberufs erforderlich sind. Hierzu gehört neben breiten und guten Bildungsgrundlagen eine hinreichende Vertrautheit mit den staatlichen Einrichtungen, der Rechtsordnung und den geschichtlichen, geographischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen des Sprachraums der zu prüfenden Sprache und Deutschlands, § 12 Abs. 1 BayÜDPO. Im Einzelnen werden für den Übersetzer die sichere Beherrschung des Deutschen und der zu prüfenden Sprache in Grammatik, Wortschatz, Stil und Rechtschreibung, Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck und Sicherheit in Aussprache und Intonation, Anpassungsfähigkeit an den jeweiligen Text und seine Sprachform sowie die Befähigung, möglichen Missverständnissen und Fehldeutungen eines Textes vorzubeugen, verlangt, § 13 BayÜDPO. Als Dolmetscher wiederum braucht man eine rasche Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen, Gewandtheit im mündlichen Ausdruck, die Befähigung, mögliche Missverständnisse und Fehldeutungen der Übertragung vorauszusehen und bei der Wiedergabe auszuschalten, gewandtes und sicheres Auftreten sowie Vertrautheit mit den praktischen Anforderungen und Gepflogenheiten des Dolmetschens, § 13 BayÜDPO. Als Zulassungsvoraussetzungen für die Übersetzerprüfung zählt § 8 BayÜDPO den Besitz der allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife oder Fachhochschulreife, den Nachweis einer mindestens dreijährigen berufsqualifizierenden Ausbildung an einer fachlich qualifizierten Ausbildungsstätte für Übersetzer oder Dolmetscher in der zu prüfenden Sprache und dem zu prüfenden Fachgebiet oder einer mindestens dreijährigen Berufspraxis als Übersetzer oder Dolmetscher in der zu prüfenden Sprache und dem zu prüfenden Fachgebiet in entsprechendem Umfang sowie hinreichende Deutschkenntnisse mindestens auf dem Niveau des großen Sprachdiploms des Goethe-Instituts auf. Für Dolmetscher gilt gem. § 9 BayÜDPO das Erfordernis des Bestehens der Übersetzerprüfung in dieser Sprache und diesem Fachgebiet oder einer vom Staatsministerium als gleichwertig anerkannten Prüfung oder die beantragte Zulassung zur Übersetzerprüfung in dieser Sprache und diesem Fachgebiet zum selben Termin sowie einer Ausbildung als Dolmetscher in der zu prüfenden Sprache und in dem zu prüfenden Fachgebiet an einer fachlich qualifizierten Ausbildungsstätte oder einer mindestens zweijährigen Berufspraxis als Dolmetscher in der zu prüfenden Sprache und dem zu prüfenden Fachgebiet in entsprechendem Umfang.
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile85
b) Sog. Privatdolmetscher Unabhängig von der Einordnung der Art und Güte dieser „ausbildenden“ Qualitätssicherungsmaßnahmen besteht ohnehin keine Verpflichtung zur Beiziehung eines öffentlich vereidigten/bestellten oder überhaupt berufsmäßigen Dolmetschers. Insbesondere bei polizeilichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren kommt es häufig vor, dass aufgrund finanzieller oder zeitlicher Aspekte Vernehmungsbeamte gewählt/hinzugezogen werden, welche die betreffende Sprache sprechen, oder aber eine vom Beschuldigten mitgebrachte Hilfsperson (aus dem Familien- oder Bekanntenkreis) eingesetzt wird. Ein solches Vorgehen ist unter Qualitätssicherungsgesichtspunkten sicher nicht unbedenk lich,276 jedoch verbleibt es gerade bei massenhaft vorkommenden Delikten (im Bagatellbereich) ohne verhältnismäßige Alternative. Regelmäßig ist gegen eine Verwendung solcher Personen zur zeit- und kostensparenden Abklärung einfacher Sachverhalte folglich nichts einzuwenden. Je komplexer indes die tatsächlichen Umstände und je gravierender der Tatvorwurf, desto mehr verschiebt sich diese Einschätzung. Zudem stellt sich losgelöst davon die Frage einer späteren Verwertbarkeit im Strafverfahren und die Maßstabsanlegung an die Qualität der Einlassungen, wenn es z. B. um Aussagekonstanz oder Ähnliches geht. Insoweit wird der bloße Vortrag des Beschuldigten, er habe das so nicht gesagt/gemeint, häufig erfolgreich sein. Man hat sodann neben der eigentlichen Vernehmungsperson auch den Privatdolmetscher zu vernehmen: zu dem, was der Beschuldigte geäußert hat (gegebenenfalls auch in der Fremdsprache, was sodann vom Gerichtsdolmetscher sachverständig zu übertragen ist) sowie zu Art und Umfang seiner eigenen Fremdsprachenkenntnisse. Erst als Ergebnis dessen kann die Güte des Aussagekonstanzbeweismittels im konkreten Einzelfall sorgfältig beurteilt werden.
276 Eisenberg, JR 2013, 442 (447 f.); Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 84 f.; monographisch zum Einsatz unqualifizierter Dolmetscher im Rahmen der polizeilichen Arbeit Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
c) Überprüfung der Qualität der Translation in der Hauptverhandlung aa) Dolmetschereid, § 189 GVG Schweigt das Sitzungsprotokoll i. S. d. § 274 StPO277 zur notwendigen Vereidigung des Dolmetschers nach § 189 GVG,278 beruht hierauf das Urteil, soweit die Richtigkeit der Übersetzung nicht leicht kontrollierbar war,279 anderweitig Bestätigung fand280 oder sich der Dolmetscher jahrelang auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen hat und dies im konkreten Fall offensichtlich versehentlich unterblieb.281 Beruft sich der Dolmetscher in der Hauptverhandlung i. S. d. § 189 Abs. 2 GVG auf eine tatsächliche nicht ordnungsgemäße allgemeine Vereidigung, beruht das Urteil nicht auf diesem Fehler, wenn sowohl Gericht als auch Dolmetscher die allgemeine Vereidigung für rechtsfehlerfrei gehalten haben.282 Die allgemeine Vereidigung gilt nur für diejenige Sprache, auf welche sie sich bezieht; überträgt der Dolmetscher in eine andere Sprache, kann sich die allgemeine Vereidigung bereits ihrem Sachgedanken nach nicht auf diese erstrecken.283 Ob ein Dolmetscher 277 BGH 10.03.2005 – 4 StR 3/05, BeckRS 2005, 4212; BGH 15.12.2011 – 1 StR 579/11, NJW 2012, 1015; BGH 08.10.2013 – 4 StR 273/13, NStZ 2014, 356; Kissel/ Mayer, § 189 Rn. 5; LR-StPO/Wickern, § 189 GVG Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; SK-StPO/Frister, § 189 GVG Rn. 8. 278 Weiterführend zur Revisibilität im Zusammenhang mit der Vereidigung des Dolmetschers unter teilweiser Kritik der Rspr. zur Beruhensfrage Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 240 ff. 279 BGH 28.11.1997 – 2 StR 257/97, NStZ 1998, 204; BGH 27.07.2005 – 1 StR 208/05, NStZ 2005, 705 (706); BGH 20.11.2013 – 4 StR 441/13, NStZ 2014, 228 m. zust. Anm. Ferber; Kissel/Mayer, § 189 Rn. 8; KK-StPO/Diemer, § 189 GVG Rn. 3; LR-StPO/Wickern, § 189 GVG Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 189 GVG Rn. 25; SK-StPO/Frister, § 189 GVG Rn. 9. 280 BGH 09.07.1996 – 4 StR 222/96, NStZ 1996, 608; Kissel/Mayer, § 189 Rn. 8; LR-StPO/Wickern, § 189 GVG Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 189 GVG Rn. 25; krit. OLG Köln 23.05.2002 – Ss 171/02, NStZ-RR 2002, 247 (248). 281 BGH 28.11.1997 – 2 StR 257/97, NStZ 1998, 204; BGH 27.07.2005 – 1 StR 208/05, NStZ 2005, 705 (706); BGH 15.12.2011 – 1 StR 579/11, NJW 2012, 1015; BGH 20.11.2013 – 4 StR 441/13, NStZ 2014, 228 m. zust. Anm. Ferber; Kissel/ Mayer, § 189 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; a. A. SK-StPO/Frister, § 189 GVG Rn. 9. 282 BGH 17.01.1984 – 5 StR 755/83, NStZ 1984, 328; Kissel/Mayer, § 189 Rn. 8; KK-StPO/Diemer, § 189 GVG Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 189 GVG Rn. 24; SK-StPO/Frister, § 189 GVG Rn. 10. 283 BGH 12.05.1992 – 1 StR 29/92, BeckRS 1992, 00253 Rn. 7 f.; a. A. BGH 07.11.1986 – 2 StR 499/86, NJW 1987, 1033: „Hat ein Dolmetscher durch Berufung auf einen für Übersetzungen einer bestimmten Sprache bereits (allgemein) geleisteten
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allgemein vereidigt war, ist revisionsgerichtlich im Freibeweisverfahren zu prüfen; die protokollierte Berufung auf eine allgemeine Vereidigung belegt nur diese Bezugnahme, besagt aber nicht zugleich, dass er tatsächlich allgemein vereidigt war.284 bb) Rüge der mangelnden Qualität der Dolmetschleistung Die Kontrolle des Dolmetschers in der Hauptverhandlung obliegt dem Gericht, d. h. der Vorsitzende hat darauf zu achten, ob alles Notwendige übersetzt und etwaige kulturell bedingte Verständigungslücken geschlossen werden.285 Typischerweise wird der Richter zwar nicht selbst entsprechend fremdsprachkundig sein. Fallen ihm jedoch gewisse Unstimmigkeiten im Ablauf, Umfang oder in der Art und Weise der geleisteten Translation auf, darf er über diese nicht hinwegsehen, sondern muss ihnen auf den Grund gehen. Versäumt er das und kommt es dadurch zu Falschübertragungen, stellt dies grundsätzlich einen revisiblen Fehler dar.286 Das kann entweder mit der Aufklärungsrüge oder über § 338 Nr. 8 StPO beanstandet werden. Der 1. Senat des BGH neigt in einer aktuellen Entscheidung „dazu, jedenfalls die Beanstandung einer für die Gewährleistung einer sachgerechten Verteidigung ungenügenden Übersetzung des in der Hauptverhandlung hinzugezogenen Dolmetschers lediglich im Rahmen von § 338 Nr. 8 StPO für anfechtbar zu erachten.“287 Die fehlende Qualität der Dolmetschleistung oder die mangelhafte Auswahl des Dolmetschers können nicht mit der allgemein gehaltenen Behauptung gerügt werden, der Dolmetscher sei zu richtiger Übersetzung nicht fähig gewesen; vielmehr ist ein genauer Vortrag dazu erforderlich, dass der Dolmetscher in bestimmten Punkten falsch übertragen hat.288 Das bedeutet mit Eid zu erkennen gegeben, daß er sich der besonderen Verantwortung bei seiner Tätigkeit in der Hauptverhandlung bewußt ist, dann kann davon ausgegangen werden, daß ihn dieses Bewußtsein auch insoweit leitet, als er in der Hauptverhandlung zusätzlich eine andere Sprache übersetzt“; Kissel/Mayer, § 189 Rn. 6; KK-StPO/Diemer, § 189 GVG Rn. 3; LR-StPO/Wickern, § 189 GVG Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 189 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 189 GVG Rn. 26. 284 OLG Celle 04.04.2016 – 1 Ss (OWi) 54/16, StV 2016, 806. 285 RG 18.06.1942 – 3 D 260/42, RGSt 76, 177 (178): „Das Gericht ist verpflichtet, darüber zu wachen, daß der Dolmetscher dieser Aufgabe gerecht wird, und nötigenfalls das Erforderliche zu veranlassen, um eine nach jeder Richtung ausreichende Verdolmetschung sicherzustellen“; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 193 ff. 286 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 Rn. 7; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 93 ff. 287 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 Rn. 7. 288 RG 18.06.1942 – 3 D 260/42, RGSt 76, 177 (178): „Das Gericht ist verpflichtet, darüber zu wachen, daß der Dolmetscher dieser Aufgabe gerecht wird, und nöti-
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
„revisionsrechtlicher Brille“ die Notwendigkeit konkreten Tatsachenvortrags zu den Mängeln der Übersetzung in Bezug zur Erfüllung der Aufgaben des hinzugezogenen Dolmetschers (dass die im Prozess abgegebenen Erklärungen durch Übertragung in eine andere Sprache verständlich zu machen sind) und deren Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Angeklagten, dem Gang der Verhandlung zu folgen und die wesentlichen Verfahrensvorgänge so zu erfassen, wie dies für die Wahrung seiner Rechte erforderlich ist.289 Doch selbst dann hat eine solche Rüge in praxi wenig Aussicht auf Erfolg, weil die im Wege des Freibeweises einzuholenden (dienstlichen) Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten regelmäßig den Inhalt haben werden, dass eine ordnungsgemäße Übersetzung – jedenfalls nach dem subjektiven Empfinden – stattgefunden habe.290 Bestehen demzufolge Zweifel an der Dolmetscherkompetenz, bedarf es bereits in der Hauptverhandlung einer sorgfältigen Vorbereitung für eine etwaig später erhobene Revisionsrüge. Es ist der Verteidigung unbenommen, den beigezogenen Dolmetscher einer Qualitätskontrolle zu unterziehen, beispielsweise Fragen zu dessen Ausbildung und Erfahrung zu stellen.291 Ebenfalls kann – umso mehr bei Einsatz eines Vertrauensdolmetschers – die konkrete Übersetzungsleistung ad hoc infrage gestellt werden. Hierdurch wird die Notwendigkeit der wortlautbezogenen Klärung zur Sicherstellung der zutreffenden Übertragung gesetzt. Der Verteidiger könnte erwägen, nach § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. auch § 185 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GVG) die wörtliche Protokollierung der fremdsprachigen Aussage sowie der geleisteten Übersetzung zu beantragen. Treten im Zuge dessen vermehrt Ungereimtheiten auf, aktiviert dies nachdrücklich die richterliche Prüfpflicht. Auf Letztere kann die Verteidigung auch durch entsprechende Anregungen/ Anträge einwirken. Werden diese Vorgänge sukzessive protokolliert, lässt sich bei der Formulierung einer Verfahrensrüge der eigene Sachvortrag auf diese Weise mit tatsächlich-objektivierten Anhaltspunkten unterfüttern. genfalls das Erforderliche zu veranlassen, um eine nach jeder Richtung ausreichende Verdolmetschung sicherzustellen. Ob das mit Hilfe des zugezogenen Dolmetschers gelingt, hat der Tatrichter nach seinem pflichtmäßigen Ermessen zu entscheiden. Im Revisionsverfahren ist nicht nachprüfbar, ob der Tatrichter von dieser Freiheit des Ermessens den richtigen Gebrauch gemacht hat; wie alle Ermessensentscheidungen, so entzieht sich auch diese der rechtlichen Nachprüfung“; BGH 23.01.1985 – 1 StR 722/84, NStZ 1985, 376 (376 f.); BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 10; Christl, NStZ 2014, 376 (382); Basdorf, Meyer-GS, 1990, S. 19 (22). 289 BGH 08.08.2017 – 1 StR 671/16, NJW 2017, 3797 (3797 f.) Rn. 8 f. 290 BGH 04.09.1990 – 5 StR 234/90, BeckRS 1990, 6721; Sommer, StraFo 1995, 45 (47); Stanek, Dolmetschen bei der Polizei, 2011, S. 55; a. A. Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 109. 291 Sommer, StraFo 1995, 45 (47); Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 84.
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cc) Ablehnung des Dolmetschers, § 191 GVG Ausweislich § 191 GVG besteht zudem die Möglichkeit der Ablehnung des Dolmetschers nach den Vorschriften über Sachverständige, § 74 StPO.292 Eine solche ist begründet, wenn aus Sicht des Ablehnenden objektive Gründe vorhanden sind, die nachvollziehbare Zweifel an der Unparteilichkeit des herangezogenen Sprachmittlers erwecken, wobei dessen Funktion als – gleichermaßen – Gehilfe des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten sowie deren schutzwürdiges Vertrauen in die Integrität des Dolmetschers (auch infolge der grundsätzlich schweren Kontrollierbarkeit der Übertragung) zu berücksichtigen sind.293 Allein auf eine (befürchtete) mangelnde Qualität kann ein Ablehnungsantrag demnach nicht gestützt werden.294 Jedoch kann eine fehlerhafte Übersetzung, besonders wenn sie die Aussage in einer für den Beschuldigten nachteiligen Weise modifiziert, einen (ersten) Anhaltspunkt für eine etwaige Voreingenommenheit des Dolmetschers bieten.295 Dabei wird für eine erfolgreiche Ablehnung auch die Differenzierung zwischen einer vorsätzlichen Falschübersetzung und einer lediglich fahrlässig unzutreffenden Übertragung von Bedeutung sein, da Letztere schließlich ebenso dem gewissenhaft und unbefangen agierenden Dolmetscher unterlaufen kann.296 Teilweise wird vertreten, dass ein Einsatz des Dolmetschers für die Strafverfolgungsbehörden bereits im Ermittlungsverfahren (z. B. bei Telekommunikationsüberwachungen) aus Angeklagtensicht Anlass zu berechtigter Sorge bieten würde.297 Dem ist nicht zuzustimmen, da allein diese – letztlich ja seine berufliche – Tätigkeit keinen objektiv nachvollziehbaren Ablehnungs292 BGH 04.07.2018 – 2 StR 485/17, BeckRS 2018, 22950 Rn. 20. Soweit § 191 Satz 1 GVG die Ausschließungsvorschriften für entsprechend anwendbar erklärt, liegt ein Redaktionsversehen vor, da die StPO nur die Ablehnung von Sachverständigen kennt, Kissel/Mayer, § 191 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 191 GVG Rn. 2. 293 BGH 04.07.2018 – 2 StR 485/17, BeckRS 2018, 22950 Rn. 23. Konkret blieb in dieser Entscheidung unbeanstandet, dass die Dolmetscherin der Nebenklägerin, welche Weinkrämpfe hatte und einen Nervenzusammenbruch erlitt, den Arm um die Schulter legte und Trost zusprach. 294 AnwK-StPO/Püschel, § 191 GVG Rn. 2; Sommer, StraFo 1995, 45 (47); Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 157. 295 LG Berlin 13.12.1993 – 503-18/93, StV 1994, 180; AnwK-StPO/Püschel, § 191 GVG Rn. 2; SK-StPO/Frister, § 191 GVG Rn. 2; Eisenberg, JR 2013, 442 (448); Sommer, StraFo 1995, 45 (47); Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 163. 296 MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 191 GVG Rn. 5. 297 Sommer, StraFo 1995, 45 (47); erwägend auch MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 191 GVG Rn. 4: „doch erscheint es grundsätzlich zweckmäßig, für die Hauptverhandlung stets einen neuen Dolmetscher heranzuziehen, der nicht mit Informationen „vorbelastet“ ist, welche ihn zu bestimmten Interpretationen der wechselseitigen Kommunikation in der Hauptverhandlung veranlassen könnten“.
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B. Gerichtssprache und die Sprachfremdheit von Beschuldigten
grund etwa einer scheinbaren „Verbrüderung“ des Dolmetschers mit den Ermittlungsbehörden liefert.298 Kommt es zu einer erfolgreichen Ablehnung des Dolmetschers, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das auf die vor der Entstehung des Ablehnungsgrundes geleistete Übersetzungstätigkeit hat. Insoweit lässt sich festhalten, dass die erfolgreiche Ablehnung die bis dahin geleistete Translation von Gesetzes wegen nicht unwirksam macht und diese trotz der (infolge der regelmäßig gegebenen fehlenden Sprachkompetenz) geringen Kontrollmöglichkeiten des Gerichts ohne entsprechende Anhaltspunkte auch nicht zwingend mit Makel behaftet, sodass sie grundsätzlich bestehen und verwertbar bleibt.299 Gelangt man infolge einer nachweislich falschen Übersetzung und damit sozusagen gleichsam auch „rückwirkend“ zu einer Ablehnung, ist umstritten, ob der abgelehnte Dolmetscher in der Folge als Zeuge über die von ihm übersetzte Einlassung gehört werden kann. Nach einer Ansicht handelt es sich um ein nicht zugelassenes Beweismittel, weil es sich um aufgrund Sachkunde gezogene Schlussfolgerungen handele, was letztlich zu einer Umgehung der Ablehnung führen würde.300 Demgegenüber besteht durchaus die Möglichkeit, den abgelehnten Dolmetscher als Zeugen dazu zu hören, was der Beschuldigte oder der vernommene Zeuge in der fremden Sprache gesagt hat.301 Jedenfalls ist aber darauf zu achten, dass zwischen „Sprachtatsachen“ und „Sprachschlussfolgerungen“ differenziert wird, sodass die vom abgelehnten Dolmetscher mitgeteilten fremdsprachigen Aussagen dann durch einen neuen Dolmetscher zu übersetzen sind.302
298 BGH 01.08.1967 – 1 StR 287/67, BeckRS 1967, 00077; BGH 28.08.2007 – 1 StR 331/07, NStZ 2008, 50; BeckOK-StPO/Walther, § 191 GVG Rn. 2; HK-StPO/ Schmidt/Temming, § 191 GVG Rn. 2; Katholnigg, § 191 GVG Rn. 1; KK-StPO/Diemer, § 191 GVG Rn. 1; LR-StPO/Wickern, § 191 GVG Rn. 4; SK-StPO/Frister, § 191 GVG Rn. 3; SSW-StPO/Rosenau, § 191 GVG Rn. 2; Artkämper, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 179 (195 f.); Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 159; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 163. 299 LG Berlin 13.12.1993 – 503-18/93, StV 1994, 180; Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 163; a. A. SK-StPO/Frister, § 191 GVG Rn. 5; SSW-StPO/Rosenau, § 191 GVG Rn. 5. 300 LG Köln 24.06.1992 – 113-13/91, StV 1992, 460; AnwK-StPO/Püschel, § 191 GVG Rn. 3; Katholnigg, § 191 GVG Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, § 191 GVG Rn. 2; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 191 GVG Rn. 8; SK-StPO/Frister, § 191 GVG Rn. 5; SSW-StPO/Rosenau, § 191 GVG Rn. 5; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 53. 301 BayObLG 13.11.1997 – 4 St RR 239/97, StV 2001, 264 m. Anm. Seibert; BeckOK-StPO/Walther, § 191 GVG Rn. 1; HK-StPO/Schmidt/Temming, § 191 GVG Rn. 3; LR-StPO/Wickern, § 191 GVG Rn. 5. 302 Vgl. auch Seibert, StV 2001, 264 (265).
III. Kompensation sprachbedingter Nachteile91
d) Beanstandungsrecht nach Art. 2 Abs. 5, 3 Abs. 5 Richtlinie 2010/64/EU Die Art. 2 Abs. 5, 3 Abs. 5 RL 2010/64/EU stellen zwei bedeutsame Forderungen auf: Sie benennen einerseits das Recht des sprachfremden Beschuldigten, eine Entscheidung, dass keine Dolmetschleistungen/schriftlichen Übersetzungen gewährt werden, angreifen zu können, verlangen darüber hinaus aber auch bei erfolgten Dolmetschleistungen/schriftlichen Übersetzungen die Option zur Beanstandung, dass die Qualität der Translationsleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend gewesen sei. Gleichzeitig stellen die genannten Vorschriften klar, dass dieses Recht keine Verpflichtung statuiert, einen gesonderten Mechanismus oder ein gesondertes Beschwerdeverfahren für die genannte Anfechtung vorzusehen (vgl. Wortlaut: „im Einklang mit den im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten“ sowie explizit Erwägungsgrund (25) RL 2010/64/EU: „Dieses Recht bringt für die Mitgliedstaaten nicht die Verpflichtung mit sich, einen gesonderten Mechanismus oder ein gesondertes Beschwerdeverfahren für die Anfechtung einer solchen Entscheidung vorzusehen“). Die deutsche Regelung genügt dem folglich durch die inzidente Überprüfung im Rahmen der Berufung/Revision.303 Eine gesonderte Beschwerde scheitert an § 305 Satz 1 StPO, da die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Zuziehung von Dolmetschern oder der Übersetzung von Schriftstücken sachlich eng mit der Verhandlungsführung des entscheidenden Gerichts verbunden sind, keine weitergehenden Verfahrenswirkungen hervorrufen und mit dem Urteil selbst überprüft werden können.304 Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass das Revisionsgericht bei der Dolmetscherablehnung lediglich überprüft, ob das Ablehnungsgesuch vom Tatgericht ohne Verfahrensfehler und mit ausreichender Begründung zurückgewiesen wurde, nicht hingegen, inwiefern die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Dolmetschers in concreto vorlagen.305
303 Christl, NStZ 2014, 376 (379); krit. Eisenberg, JR 2013, 442 (446); a. A. MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 47 ff.; Kotz, StRR 2012, 124 (126); Stunz/ Fahl, SchlHA 2010, 164. Entscheidet ein Vorsitzender am BGH, dass eine rechtskräftige Senatsentscheidung nicht übersetzt wird, kann hiergegen – entsprechend § 238 Abs. 2 StPO – die Entscheidung des Gerichts eingeholt werden, BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 10 ff. 304 OLG Hamm 30.06.2009 – 3 Ws 229/09, NStZ-RR 2009, 352; OLG Köln 29.12.2010 – 2 Ws 850/10, NStZ 2011, 360; BeckOK-StPO/Meyberg, Nr. 181 RiStBV Rn. 14; a. A. Kotz, StRR 2012, 124 (126 f.). 305 BGH 04.07.2018 – 2 StR 485/17, StV 2018, 801 = BeckRS 2018, 22950 Rn. 21.
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten Der Teil C. richtet den Fokus nun auf den Aspekt der Ortsfremdheit. Zunächst wird hierzu das enorm praxisrelevante Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht dargestellt. Jedoch ist dieses nicht die einzige Möglichkeit zum Umgang mit ortsfremden Beschuldigten. Im Weiteren sind etwaige Alternativen zu untersuchen: Zustellungen im Ausland, eine öffentliche Zustellung sowie die (vermehrte) Anordnung von Untersuchungshaft.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht Zustellungen sind von entscheidender Bedeutung für die gerichtliche Praxis, weisen sie doch im Interesse der Rechtssicherheit den Empfang von Schriftstücken nach, lösen Fristen aus oder zeitigen sonstige vielfältige Rechtsfolgen. Der Terminus technicus „Zustellung“ definiert sich als der in gesetzlicher Form zu bewirkende und zu beurkundende Akt, durch welchen dem Adressaten Gelegenheit zur Kenntnisnahme eines Schriftstücks verschafft wird.1 § 37 StPO regelt das maßgebliche Verfahren. Das bekanntzumachende Dokument ist dabei grundsätzlich unmittelbar an den Betroffenen zuzustellen. Für Personen ohne inländischen Wohnsitz ist nun dieser Rechtssicherheit schaffende Akt nur erschwert oder gar nicht möglich. Entsprechend kann wahlweise auch an einen Bevollmächtigten zugestellt werden.2 Bei der Thematik des strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigten handelt es sich um ein Gebiet, welches von höchster praktischer Relevanz und derzeit – u. a. aufgrund der unionsrechtlichen Diskriminierungsproblematik hinsichtlich ortsfremder Beschuldigter – sowohl im Grundsatz als auch in seinen verschiedenen Anforderungen und Ausprägungen stark in der Diskussion ist. Dabei sind Zustellungen über einen Zustellungsbevollmächtigten im Strafprozessrecht keine Neuerscheinung, sondern haben eine lange Tradition. Bereits § 119 der Reichsstrafprozessordnung von 1877 lautete wie folgt: 1 RG 21.03.1929 – VI B 7/29, RGZ 124, 23 (24 ff.); BGH 24.11.1977 – III ZR 1/76, NJW 1978, 1858; OLG Oldenburg 12.10.2016 – 1 Ws 555/16, StV 2018, 77: Unwirksamkeit der Zustellung einer Entscheidung ohne Übersetzung, wenn deren Beifügung gemäß § 36 StPO angeordnet war; Kuhn, JA 2011, 217. 2 Kuhn, JA 2011, 217 (218).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht93 „Der Angeschuldigte, welcher seine Freilassung gegen Sicherheitsleistung beantragt, ist, wenn er nicht im Deutschen Reich wohnt, verpflichtet, eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnhafte Person zur Empfangnahme von Zustellungen zu bevollmächtigen.“3
Diesbezüglich hat das RG ausgeführt, dass die „Möglichkeit von Zustellungen an einen Bevollmächtigten […] durch § 119 St.P.O. im allgemeinen anerkannt“ sei.4 1. Begriffsklärung und Funktionsweise Am Anfang der Untersuchung in diesem Teil stehen die allgemeine Erläuterung der Begrifflichkeiten sowie die Darstellung der Funktionsweise des Instituts der strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigung. a) Begriff des Zustellungsbevollmächtigten Zunächst gilt es zu klären, was genau unter den Begriffen „Zustellungsvollmacht“ bzw. „Zustellungsbevollmächtigter“ im strafprozessualen Kontext zu verstehen ist. Zustellungsadressat ist derjenige, an den zugestellt werden soll, Zustellungsempfänger diejenige Person, an die das Schriftstück tatsächlich übergeben wird, Zustellungsveranlasser derjenige, der die Zustellung angeordnet hat und Zusteller die Person, welche die Zustellung ausführt.5 Als Zustellungsadressat kann der Beschuldigte selbst oder aber sein Zustellungsbevollmächtigter fungieren.6 Aufgrund seiner Subjektstellung im Strafverfahren7 kommen dem Beschuldigten diverse Informations- und Einflussnahmerechte zu, welche er sinn- und wirkungsvoll nur dann wahrnehmen kann, soweit ihm die hierfür notwendigen Angaben und Belehrungen rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden. Aus dieser Subjektstellung folgt ferner, dass Zustellungen, Ladungen und sonstige Mitteilungen grundsätzlich stets an denjenigen zu adressieren sind, für den sie bestimmt sind. Der Be3 RGBl.
1877, Nr. 8, S. 253 (275). 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321. 5 SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 3. 6 RG 11.07.1932 – 3 TB 54/32, RGSt 66, 350 (351); BeckOK-StPO/Larcher, § 37 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 3; Gietl, StV 2017, 263 (264); Mayer, NStZ 2016, 76 (78). 7 Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 80. Zu einem prozessgeschichtlichen Abriss zur Vorstellung und Entwicklung von der Rechtsstellung des Beschuldigten als eigenständigem Subjekt des Strafverfahrens sowie dem Grundrechtsstatus des Beschuldigten als Prozesssubjekt vgl. ausführlich Kahlo, KritV 1997, 183. 4 RG
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
schuldigte hat prinzipiell das Recht, selbst und ohne Umwege über die ihn betreffenden, insbesondere bestimmte Rechtsfolgen und Fristen auslösenden Umstände in Kenntnis gesetzt zu werden. Gleichwohl gibt es Fälle, in denen vom Gesetz aus unterschiedlichen Gründen vorgesehen ist, dass dem Beschuldigten zur Seite oder gar an seine Stelle eine Art Vertreter tritt, der sog. Zustellungsbevollmächtigte (vgl. näher 2. a) aa), bb)). Ohnehin unbenommen bleibt dem Beschuldigten – und auch das folgt letztlich aus seiner Subjektstellung und seiner diesbezüglichen Selbstbestimmtheit – die rechtsgeschäftliche Einräumung einer solchen Zustellungsvollmacht (vgl. näher 2. a) cc)). Ist ein Zustellungsbevollmächtigter wirksam bestellt, tritt er in dieser Beziehung umfassend an die Stelle des Beschuldigten.8 Diese Funktion beschränkt sich nicht auf „Zustellungen“ im engen Wortsinn, sondern erfasst auch sonstige Mitteilungen oder Bekanntgaben.9 Folglich ist der Zustellungsbevollmächtigte (zu dessen Person vgl. näher 2. b) bb)) zusammenfassend als derjenige definiert, welcher – gesetzlich bestimmt/fingiert oder rechtsgeschäftlich gewählt – für Zustellungen, Ladungen oder sonstige Mitteilungen anstelle des Beschuldigten als Adressat dieser Schriftstücke intern (im Verhältnis zum Beschuldigten) wie extern (im Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden) in Erscheinung tritt.10 Hierdurch dürfen aber nicht etwaige Schutzmechanismen zugunsten des sprach- oder ortsfremden Beschuldigten unterlaufen werden. Demnach ist dem Zustellungsbevollmächtigten das Schriftstück in der Form zuzustellen wie dies für den Beschuldigten selbst gelten würde. Handelt es sich um einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten, ist eine Übersetzung beizufügen.11 Befindet sich der Beschuldigte bekanntermaßen im Ausland, darf die gem. § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgeschriebene Warnung der Anwendung von Zwangsmitteln im Falle des unentschuldigten Ausbleibens nicht in der Weise erfolgen, dass eine Ausübung deutscher hoheitlicher Gewalt auf dem Gebiet eines fremden Rechtsstaates vorgegeben wird.12 Eine Zustellung an den Beschuldigten selbst bleibt weiterhin (dann jedoch mit der Folge des § 37 Abs. 2 StPO) möglich.13 8 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); Büttner, DRiZ 2007, 188; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Mayer, NStZ 2016, 76 (78); MAH Strafverteidigung/Pfaff/OttoHanschmann, § 34 Rn. 80. 9 Büttner, DRiZ 2007, 188; Mayer, NStZ 2016, 76 (78). 10 RG 11.07.1932 – 3 TB 54/32, RGSt 66, 350 (352); Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Mayer, NStZ 2016, 76 (78). 11 BeckOK-StPO/Larcher, § 37 Rn. 46; Gietl, StV 2017, 263 (264). 12 KG 10.11.2010 – 3 Ws 459/10, NStZ 2011, 653 (654); KG 14.04.2013 – (1) 3 StE 6/11-1 (3/11), StV 2014, 204. 13 Gietl, StV 2017, 263 (264): keine „verdrängende“ Vollmacht; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht95
b) Funktionsweise und Anwendungsbereiche der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten Wie bereits angedeutet, tritt der Zustellungsbevollmächtigte umfassend an die Stelle des Beschuldigten.14 Zentraler Zweck ist die Vermeidung von Unmöglichkeiten, Unsicherheiten sowie Umständlichkeiten im Rahmen einer Zustellung (insbesondere in fremdem Hoheitsgebiet).15 aa) Allgemeine Funktionsweise der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten Bei einer Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten kommt es nicht darauf an, wann der Beschuldigte vom Inhalt amtlicher Schriftstücke Kenntnis genommen hat, sondern ab wann er hiervon Kenntnis nehmen konnte.16 Eine solche Handhabung stellt ihn nicht rechtlos, da er anlässlich der Benennung des Zustellungsbevollmächtigten darauf hinzuweisen ist, dass gesetzliche Fristen mit dem Tag der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen und dieser nicht berechtigt ist, für ihn Rechtsmittel einzulegen.17 Inwieweit der Zustellungsbevollmächtigte den Betroffenen postalisch oder auf sonstige Weise tatsächlich erreichen/in Kenntnis setzen kann, ist für die Wirksamkeit der Zustellung ohne Belang.18 Dabei gilt die Zustellungsvollmacht nur für das Verfahren, in welchem sie vom Beschuldigten erteilt wurde.19 Für die Praxis ergeben sich insoweit Probleme bei einer etwaigen Verbindung und Trennung von Verfahren. Während bei Letzterer jedoch lediglich darauf geachtet werden muss, dass im Rahmen der Aktenführung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt, dass die im Ausgangsverfahren erteilte Zustellungsvollmacht auch für die prozessualen Taten galt/gilt, welche nunmehr unter einem neuen Aktenzeichen geführt werden, bedarf es bei Hinzuverbindung von Verfahren zu demjenigen, in welchem die Zustellungsvollmacht erteilt wurde, der Vorsicht. Die Bevoll14 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); Büttner, DRiZ 2007, 188; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Mayer, NStZ 2016, 76 (78); MAH Strafverteidigung/Pfaff/OttoHanschmann, § 34 Rn. 80. 15 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (213); Gietl, StV 2017, 263. 16 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249; LG Dresden 10.01.2017 – 3 Qs 105/16, juris Rn. 17. 17 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249. 18 OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); krit. BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12. 19 OLG Dresden 21.07.2005 – 2 Ss 362/05, StraFo 2005, 423; Büttner, DRiZ 2007, 188 (189); Mayer, NStZ 2016, 76 (78).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
mächtigung bezieht sich schließlich nicht auf ein gegebenenfalls führendes Aktenzeichen; auch eine „pauschale“ Zustellungsvollmacht für sämtliche anhängigen Verfahren widerspräche den mit dem Institut der Zustellungsbevollmächtigung einhergehenden Pflichten des Beschuldigten zur selbständigen Information (insbesondere relevant für Personen ohne jeglichen festen Wohnsitz) sowie dem notwendigen Wissen um die Reichweite der diesbezüglichen Prozesshandlung. Zwar wäre eine solche generelle Zustellungsvollmacht insoweit klar, wenn sie letztlich sämtliche Verfahren erfasste (z. B. durch die Formulierung „benenne ich für sämtliche anhängigen und anhängig werdenden Verfahren …“). Allerdings steht dem entgegen, dass der Beschuldigte ob seines Anspruchs auf Unterrichtung vom Tatvorwurf und Belehrung hinsichtlich der Folgen der Erteilung der Zustellungsvollmacht konkret wissen muss, für welche prozessuale(n) Tat(en) er sich durch eine entsprechende Prozesshandlung (Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten) einer persönlichen Zustellung entledigt (mit all den einhergehenden Konsequenzen). Insoweit bedarf es für jede prozessuale Tat innerhalb der nunmehr verbundenen Verfahren einer gesonderten, den maßgeblichen Formerfordernissen entsprechenden Zustellungsvollmacht. bb) Pflichten des Beschuldigten, der Justizbehörden und des Zustellungsbevollmächtigten Die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten bringt wechselseitige Pflichten mit sich: Für die Justiz in Form der Verpflichtung, die Zustellungen über den Zustellungsbevollmächtigten durchzuführen, für den Zustellungsbevollmächtigten, welcher die erhaltenen Schriftstücke an die beschuldigte Person weiterzuleiten hat, und für den Beschuldigten, der sich gegebenenfalls beim Zustellungsbevollmächtigten informieren muss, um den Stand des Verfahrens zu erfahren.20 Hintergrund und damit auch Auslegungsmaxime im Pflichtenverhältnis der Zustellungsvollmacht im Strafverfahren ist die Sicherstellung des Verfahrensfortgangs und damit mittelbar die Stärkung der Wirkkraft der Strafverfolgung sowie die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Vermeidung von Haft respektive bei Nichtvorliegen der Haftvoraussetzungen.21 20 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 89. 21 Kulhanek, NStZ-RR 2016, 249; vgl. auch Bericht des Abgeordneten Hirsch zu BT-Drs. V/2600, V/2601 S. 17 f.: „auch die vorläufige Festnahme ein erheblicher Eingriff für den Beschuldigten, auf den verzichtet werden sollte, wenn die Sicherstellung der Strafverfolgung durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. […] Es ist nicht einzusehen, warum man in einem solchen Falle [Anm. d. Verf.: Voraussetzungen eines Haftbefehls liegen – wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßig-
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht97
Der Zustellungsbevollmächtigte hat das Schriftstück in Empfang zu nehmen und (soweit eine entsprechende Adresse bekannt ist) unverzüglich an den Beschuldigten weiterzuleiten.22 Hierbei sind von ihm die Zeitpunkte der Zustellung an ihn selbst sowie der Weiterleitung festzuhalten und dem Beschuldigten mitzuteilen.23 Die genannte Weiterleitung muss nicht postalisch erfolgen. Gegebenenfalls kann auch über eine bekannte E-Mail-Adresse agiert werden. Nach Auffassung der 3. Strafkammer des LG Dresden soll dabei der Grundsatz des fairen Verfahrens es gebieten, neben einem Hinweis auf die Erkundigungsobliegenheit des Beschuldigten auch die Angabe einer telefonischen Erreichbarkeit des behördlichen Zustellungsbevollmächtigten i. S. d. Nr. 60 Satz 2 RiStBV jedenfalls dann aufzunehmen, wenn schon bei Erteilung der Vollmacht feststeht, dass der Zustellungsbevollmächtigte die ihm auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden formularmäßig übertragene Aufgabe der Weiterleitung der eingehenden Post an den Beschuldigten nicht erfüllen kann, weil eine entsprechende Weiterleitungsanschrift infolge Wohnsitzlosigkeit des Beschuldigten überhaupt nicht existiert.24 Die Justizbehörden haben selbstredend den Grundsatz des fairen Verfahrens zu beachten. Allein die Tatsache, dass bereits bei Erteilung der Zustellungsvollmacht klar ist, dass keine wirksame Weiterleitungsadresse besteht, stellt indes keinen Verstoß hiergegen dar,25 weil schließlich dem Beschuldigten selbst am besten bewusst ist, dass er keine Weiterleitungsadresse besitzt und ihn folglich ohne eigene Erkundigung auch keine Schriftstücke erreichen werden. Der Beschuldigte, welcher die Zustellungsvollmacht erteilt hat, ist verpflichtet, von sich aus eine Änderung in seiner Adresssituation mitzuteilen sowie – jedenfalls bei fehlender oder inkorrekter Weiterleitungsadresse – beim Zustellungsempfänger regelmäßig Erkundigungen anzustellen, ob und gegebenenfalls was an ihn zugestellt wurde.26 Ob und auf welche Art und Weise sich der Beschuldigte mit dem Zustellungsbevollmächtigten in Verbindung setzt und die Voraussetzungen für eine weitere Unterrichtung über den keit – nicht vor] ganz darauf verzichten soll, die Strafverfolgung sicherzustellen, nur weil die Freiheitsentziehung ein zu weitgehendes Mittel ist.“ 22 LG Dresden 10.01.2017 – 3 Qs 105/16, juris Rn. 17; KMR/Ziegler, § 44 Rn. 44; MAH Strafverteidigung/Pfaff/Otto-Hanschmann, § 34 Rn. 81. 23 LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (373); Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Mayer, NStZ 2016, 76 (79); Seifert, StV 2018, 123 (126); MAH Strafverteidigung/Pfaff/Otto-Hanschmann, § 34 Rn. 81. 24 LG Dresden 30.10.2015 – 3 Qs 107/15, juris Rn. 8 ff.; LG Dresden 10.01.2017 – 3 Qs 105/16, juris Rn. 23 ff. 25 A. A. BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12. 26 LG Dresden 10.01.2017 – 3 Qs 105/16, juris Rn. 22; KMR/Ziegler, § 44 Rn. 44; Mayer, NStZ 2016, 76 (80).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Verfahrensfortgang sicherstellt, ist dem Beschuldigten anheimgestellt.27 Das AG Kehl hat an dieser Pflichtenzuweisung an den Beschuldigten Kritik geübt.28 Der Gesetzgeber nehme in Kauf, dass der Beschuldigte durch die Erteilung einer Zustellungsvollmacht gegebenenfalls ein erhöhtes Risiko trage, Fristen zu versäumen oder vom bevorstehenden Termin zur Hauptverhandlung gar nicht/zu spät zu erfahren, wobei diese Gefahr auch nicht durch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeglichen werde.29 Letztere unterliege strengen förmlichen und inhaltlichen Voraussetzungen, den Beschuldigten treffe gleichsam eine „Bringschuld“, indem er den Wiedereinsetzungsantrag form- und fristgerecht stellen sowie darlegen und glaubhaft machen müsse, die Frist unverschuldet versäumt zu haben.30 Selbst wenn ihm dies gelinge, seien womöglich bereits auf Grundlage einer Zustellung über den Zustellungsbevollmächtigten angeordnete Zwangsmaßnahmen (insbesondere nach § 230 Abs. 2 StPO) vollzogen, oder er werde aufgrund eines rechtskräftigen Strafbefehls zur Festnahme ausgeschrieben und festgenommen.31 Die angesprochene „Bringschuld“ ist indes auch gerechtfertigt, da die vom Beschuldigten getätigte Zusicherung, sich im Rahmen des gegenseitigen Pflichtengeflechts einer Zustellungsvollmachtsbeziehung beim Bevollmächtigten zu erkundigen, dann von ihm gerade nicht erfüllt wurde. cc) Über einen Zustellungsbevollmächtigten übermittelbare Schriftstücke Bei der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten handelt es sich um eine gewisse „Teilfiktion“. Die bloße Zustellung als förmlicher Vorgang ist erfüllt. Die rein faktische Möglichkeit der Kenntnisnahme ist gegeben. Die tatsächliche individuelle Kenntnisnahme wird fingiert. Angesichts dessen ist für jeden Einzelfall zu prüfen, ob die Grundsätze und Vorschriften der StPO die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten als rechtswirksam erscheinen lassen oder nicht.32 27 BayObLG 19.06.1995 – 4 St RR 102/95, BayObLGSt 1995, 94 = NStZ 1995, 561; OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249. 28 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; AG Kehl 21.03.2016 – 3 Cs 206 Js 5241/15, BeckRS 2016, 05453. 29 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461. 30 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461. 31 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; AG Kehl 21.03.2016 – 3 Cs 206 Js 5241/15, BeckRS 2016, 05453. 32 RG 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321 (321 f.).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht99
(1) Gewährung rechtlichen Gehörs über einen Zustellungsbevollmächtigten § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO regelt die Pflicht zur Beschuldigtenvernehmung vor Abschluss der Ermittlungen (abgesehen vom Fall der Einstellungsreife) und dient somit dem rechtlichen Gehör des Beschuldigten als Subjekt des Strafverfahrens.33 Die dauerhafte Abwesenheit des Beschuldigten stellt keinen konkludenten Verzicht auf eine Äußerung dar.34 Während im Grundsatz die Pflicht zur mündlichen Vernehmung besteht, lässt § 163a Abs. 1 Satz 3 StPO „in einfachen Sachen“ die Gelegenheit zu schriftlicher Einlassung genügen. Das gilt folglich für Vergehen mit sachlich einfach gelagerten, leicht überschaubaren Sachverhalten.35 In solchen Konstellationen besteht die Möglichkeit, diesem Beschuldigtenrecht vermittelt über einen Zustellungsbevollmächtigten zu entsprechen.36 Ganz generell ist für eine schriftliche Einlassung eine angemessene Frist zu setzen.37 Diese sollte zweckmäßigerweise bei Zustellung über einen Bevollmächtigten etwas großzügiger bemessen werden. (2) Zustellung eines Strafbefehls über einen Zustellungsbevollmächtigten Der Strafbefehl muss dem Beschuldigten förmlich zugestellt werden, wobei auch die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zulässig ist.38 Insoweit hat man zwar Nr. 175 Abs. 2 Satz 1 RiStBV kritisch in den Blick zu nehmen, wonach dem Staatsanwalt der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls nur dann nahegelegt wird, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten bekannt ist, sodass in der regelmäßigen Form zugestellt werden kann. Anderenfalls sei das Verfahren vorläufig einzustellen, Nr. 175 Abs. 2 Satz 2 RiStBV. Diese Vorschrift bezieht sich indes bei richtig verstandener Lesart nur darauf, dass 33 LR-StPO/Erb,
§ 163a Rn. 1; MüKo-StPO/Kölbel, § 163a Rn. 13. § 163a Rn. 20. 35 BeckOK-StPO/von Häfen, § 163a Rn. 11; HK-StPO/Zöller, § 163a Rn. 8; KKStPO/Griesbaum, § 163a Rn. 11; LR-StPO/Erb, § 163a Rn. 42; MüKo-StPO/Kölbel, § 163a Rn. 21. 36 LR-StPO/Erb, § 163a Rn. 44; MüKo-StPO/Kölbel, § 163a Rn. 22. 37 BeckOK-StPO/von Häfen, § 163a Rn. 11; HK-StPO/Zöller, § 163a Rn. 9; KKStPO/Griesbaum, § 163a Rn. 12; LR-StPO/Erb, § 163a Rn. 44; MüKo-StPO/Kölbel, § 163a Rn. 22. 38 KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 11; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 8; SSWStPO/Herrmann, § 127a Rn. 14; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Seetzen, NJW 1973, 2001 (2002); HdbFA-StrR/Haizmann, 2. Teil 7. Kap. Rn. 45; MAH Strafverteidigung/Nobis, § 10 Rn. 99; a. A. LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 37 Rn. 7; Janetzke, NJW 1956, 620. 34 MüKo-StPO/Kölbel,
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
grundsätzlich keine öffentliche Klage erhoben werden soll, wenn darauffolgend umgehend eine gerichtliche Einstellung nach § 205 StPO wegen unbekannten Aufenthalts und Unzustellbarkeit der Schriftstücke erfolgt. Eine solche Vorgehensweise kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn andere Gesichtspunkte (z. B. Verjährungsfragen) in den Vordergrund rücken. Durch den Zustellungsbevollmächtigten ergibt sich jedoch gerade eine Zustellbarkeit der maßgeblichen Schriftstücke. An dieser Stelle ist ebenfalls anzusprechen, inwieweit für den Erlass eines Strafbefehls gem. § 408 Abs. 3 Satz 1 StPO ein hinreichender Tatverdacht ausreicht oder die umfassende richterliche Überzeugungsbildung erforderlich ist. Schießlich besteht vornehmlich für ortsfremde Beschuldigte ohne wirksame Weiterleitungsadresse die naheliegende Gefahr, dass der Strafbefehl rechtskräftig wird, ohne dass sie diesen zuvor tatsächlich in Händen hielten. Während eine Ansicht bei bejahtem hinreichenden Tatverdacht (andernfalls müsste der Strafbefehlsantrag gem. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO abgelehnt werden), jedoch fehlender Überzeugung von Schuld und Strafbarkeit des Angeschuldigten, die Anberaumung der Hauptverhandlung nach § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO verlangt,39 lässt die vorzugswürdige Gegenansicht einen Gleichlauf mit § 407 Abs. 1 Satz 2, Satz 4 i. V. m. § 170 Abs. 1 StPO genügen.40 Der Wortlaut des § 408 Abs. 2, Abs. 3 StPO legt nahe, dass die genannten „Bedenken“ sich nicht auf die Qualität des Verdachtsgrades, sondern auf spezial- und generalpräventive Erwägungen beziehen.41 Dies wird von der systematischen Auslegung mit § 407 Abs. 1 Satz 2, Satz 4 i. V. m. § 170 Abs. 1 StPO bestätigt, wonach die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehls antrag stellt, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen die öffentliche Klage erheben will, die Durchführung einer Hauptverhandlung jedoch nicht für erforderlich erachtet. Das Strafbefehlsverfahren ist auf Übereinstimmung zwischen Staatsanwalt und Richter angelegt, weshalb ein Abweichen in einem solch zentralen Punkt wie dem Anforderungsmaßstab im Hinblick auf Strafbefehlsantrag/Strafbefehlserlass nicht einsichtig wäre.42 Dies gilt umso mehr, als zu bedenken ist, dass ein Strafbefehl – insbesondere auch im Rahmen der Strafzumessung – von einem Geständnis ausgeht. Um dem rechtskräftigen Urteil gleichzustehen, bedarf es fernerhin eines nicht rechtzeitigen Einspruchs, § 410 Abs. 3 StPO. 39 KK-StPO/Maur,
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§ 408 Rn. 15; LR-StPO/Gössel, § 408 Rn. 44; Rieß, JR 1988,
40 Meyer-Goßner/Schmitt, § 408 Rn. 7; Deckers/Kuschnik, StraFo 2008, 418 (420); Meyer-Lohkamp, StraFo 2012, 170; Schaal, Meyer-GS, 1990, S. 427 (428 ff.). 41 Schaal, Meyer-GS, 1990, S. 427 (428 ff.). 42 Schaal, Meyer-GS, 1990, S. 427 (430 f.).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht101
Fraglich ist, ob sich für Fälle der Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten eine andere Auslegung aufdrängt. Schließlich wird von den Kritikern des Vorgehens über einen Zustellungsbevollmächtigten vorgebracht, dass die entsprechenden Schriftstücke den Beschuldigten ohnehin nicht erreichen würden, weshalb es sich hierbei eher um eine Fiktion handele. Dem ist jedoch die bereits ausgeführte wechselseitige Pflichtenstellung im Zustellungsbevollmächtigungsverhältnis entgegenzuhalten. Überdies hat der EuGH (wenn auch an anderer Stelle im zivilrechtlichen Kontext) einen betont kritischen Blick auf Zustellungsfiktionen geworfen, während er gleichzeitig feststellte, dass es sich bei einem Zustellungsbevollmächtigten gerade nicht um eine solche Fiktion handelt.43 Zu beachten ist ferner, dass dem Zustellungsbevollmächtigten, da er in Bezug auf die Zustellung an die Stelle des Beschuldigten tritt, der Strafbefehl gem. § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG mit Übersetzung zuzustellen ist, soweit nicht der sprachfremde Beschuldigte (z. B. bei Erteilung der Zustellungsbevollmächtigung oder im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung) darauf verzichtet hat, § 187 Abs. 3 GVG.44 (3) Zustellung einer Anklage und der Ladung zur Hauptverhandlung über einen Zustellungsbevollmächtigten Da selbst im Bereich der Bagatellkriminalität nicht alles mit Strafbefehlen und Geldstrafen abgegolten, sondern vermehrt nur noch mit (kurzen) Freiheitsstrafen reagiert werden kann,45 stellt sich mitunter die Frage der Anklage über einen Zustellungsbevollmächtigten. (a) M itteilung der Anklageschrift gem. § 201 Abs. 1 StPO und Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung Gem. § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende dem Angeschuldigten die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft mit und fordert ihn innerhalb einer zu bestimmenden Frist von mindestens einer Woche zu einer Erklärung auf.46 Die diesbezügliche Zustellung kann an den Zustellungsbevollmächtigten erfolgen.47 Soweit teilweise vertreten wird, dass die Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten bei Schriftstücken, welche für das rechtliche 43 EuGH
19.12.2012 – C-325/11, NJW 2013, 443 (444 f.). § 37 Rn. 46; Gietl, StV 2017, 263 (264). 45 Vgl. dazu, dass auch im Bagatellbereich Freiheitsstrafen nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen, BayObLG 22.07.2003 – 5 St RR 167/03, NJW 2003, 2926; Hoven, JuS 2014, 975 (977 f.) m. w. N. 46 KK-StPO/Schneider, § 201 Rn. 7; MüKo-StPO/Wenske, § 201 Rn. 13. 44 BeckOK-StPO/Larcher,
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Gehör eines Beschuldigten besonders relevant sind (z. B. Mitteilung der Anklageschrift gem. § 201 Abs. 1 StPO, Zustellung eines Strafbefehls), insbesondere bei einem freiwillig rechtsgeschäftlich bestellten Zustellungsbevollmächtigten, ausscheide,48 kann dem nicht gefolgt werden, weil der selbständige Willensakt des Beschuldigten ein dem rechtlichen Gehör gerade entsprechendes Moment darstellt,49 wie nachfolgende Überlegungen zeigen: Die Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung ist in § 216 StPO geregelt und richtet sich hinsichtlich des Zustellungsverfahrens nach den allgemeinen Vorschriften, § 37 Abs. 1 StPO i. V. m. §§ 166–195 ZPO. Daher besteht auch die Möglichkeit der wirksamen Zustellung an einen vom Beschuldigten bestellten Zustellungsbevollmächtigten.50 Letztlich kommt bereits durch § 145a Abs. 2 StPO zum Ausdruck, dass die Ladung zu einem Hauptverhandlungstermin nicht zwingend an den Angeklagten selbst zugestellt werden muss. § 145a Abs. 2 StPO regelt lediglich eine Ausnahme von der in § 145a Abs. 1 StPO statuierten gesetzlichen Fiktion bei gleichzeitiger Betonung der Möglichkeit einer freiwilligen Benennung.51 Art. 103 Abs. 1 GG wird hierdurch nicht verletzt, da es sich insoweit um ein vom Benennenden zu tragendes allgemeines Risiko handelt, welches gegebenenfalls durch das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden kann.52 Die ausdrückliche Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten hat unabhängig davon, ob der Angeklagte zur Erteilung verpflichtet war, weil die Erteilung dieser Bevollmächtigung gesetzlich angeordnet war (§§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO), oder die Vollmacht rechtsgeschäftlich erteilt wurde (§§ 164 ff. BGB), zur Folge, dass sämtliche für den Angeklag47 KK-StPO/Maul, § 37 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, § 116a Rn. 7; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498); a. A. LR-StPO/GraalmannScheerer, § 37 Rn. 7; Schmidt, 1957, §§ 36, 37 Rn. 15; Janetzke, NJW 1956, 620. 48 LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 37 Rn. 7; Janetzke, NJW 1956, 620. 49 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497 f.); Mayer, NStZ 2016, 76 (78 f.). 50 RG 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321: „Bezüglich der Ladung zur Hauptverhandlung ist weder aus dem Gesetze selbst noch aus seiner Entstehungsgeschichte ein Anhalt dafür zu gewinnen, daß die Zustellung mit Rechtswirksamkeit nur an den Angeklagten selbst, nicht auch an einen von ihm bestellten Bevollmächtigten möglich sein sollte“; RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; KK-StPO/Maul, § 37 Rn. 9; KKStPO/Gmel, § 216 Rn. 4; LR-StPO/Jäger, § 216 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 116a Rn. 7, § 127a Rn. 9; MüKo-StPO/Böhm, § 116a Rn. 28; Pfeiffer, § 127a Rn. 5; SKStPO/Paeffgen, § 127a Rn. 9; SSW-StPO/Herrmann, § 127a Rn. 14; Schmidt, 1957, §§ 36, 37 Rn. 15; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Seetzen, NJW 1973, 2001 (2002); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 554; a. A. Janetzke, NJW 1956, 620. 51 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496). 52 BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, BVerfGE 25, 158 = NJW 1969, 1103 (1104); Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 17; Greßmann, NStZ 1991, 216 (219).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht103
ten bestimmten Zustellungen und Ladungen an diesen bewirkt werden können.53 Wird ein Zustellungsbevollmächtigter benannt, so tritt dieser für alle Zustellungen an die Stelle des Beschuldigten, insbesondere gilt die Beschränkung des § 145a Abs. 2 Satz 1 StPO für ihn nicht.54 (b) Sicherungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO (Sitzungshaftbefehl) § 230 Abs. 1 StPO garantiert dem Angeklagten grundsätzlich ein Anwesenheitsrecht in der gegen ihn stattfindenden Hauptverhandlung. Als Kehrseite ermöglicht § 230 Abs. 2 StPO die zwangsweise Sicherstellung der Gegenwart des ausgebliebenen, nicht genügend entschuldigten Angeklagten. Dabei geht es gerade nicht um eine wie auch immer geartete Ahndung oder gar Bestrafung des Ausgebliebenen, sondern allein um die Gewährleistung der ordnungsgemäßen Durchführung der strafprozessualen Hauptverhandlung.55 Es bedarf weder eines dringenden Tatverdachts noch eines Haftgrundes.56 Für die Frage der genügenden Entschuldigung i. S. d. § 230 Abs. 2 StPO kommt es darauf an, ob dem Angeklagten bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls billigerweise (k)ein Vorwurf gemacht werden kann.57 Dabei ist das Gericht bei Vorliegen entsprechender, konkreter Anhaltspunkte auch von Amts wegen verpflichtet, gewisse Nachforschungen im Freibeweisverfahren anzustellen.58 Wird wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, bestehen keine durchgreifenden grundsätzlichen Bedenken gegen den Erlass eines Sitzungshaftbefehls.59 53 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (213); OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); KG 19.09.2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), NJW 2012, 245 (246). 54 KMR/Wankel, § 116a Rn. 2b; Meyer-Goßner/Schmitt, § 116a Rn. 7; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); a. A. LR-StPO/Wendisch, 24. Aufl. 1988, § 37 Rn. 41 m. w. N. 55 Beining, JuS 2016, 515 (516). 56 BVerfG 27.10.2006 – 2 BvR 473/06, BVerfGK 9, 406 = NJW 2007, 2318 (2319); OLG Dresden 05.04.2007 – 2 Ws 96/07, StV 2007, 587; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 230 Rn. 21; MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 17; SSW-StPO/Grube, § 230 Rn. 12, 16; Beining, JuS 2016, 515 (517); Rupp, NStZ 1990, 576 (577); vgl. aber auch KMR/Eschelbach, § 230 Rn. 31: „Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben (…). Zumindest an letzterem wird es fehlen, wenn Zwangsmaßnahmen zur Herbeiführung der Anwesenheit des Angeklagten selbst dann gefordert werden, wenn zu erwarten ist, dass er freigesprochen oder das Verfahren eingestellt werden wird“. 57 OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; Beining, JuS 2016, 515 (516). 58 OLG Hamm 07.10.1999 – 2 Ss 1011/99, NStZ-RR 2000, 84 (85); Beining, JuS 2016, 515 (516). 59 OLG Dresden 05.04.2007 – 2 Ws 96/07, StV 2007, 587; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; KK-StPO/Laufhütte, § 145a Rn. 5; Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498 f.).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Zwingende Voraussetzung für die Anwendung der Zwangsmittel des § 230 Abs. 2 StPO ist eine ordnungsgemäße Ladung zur Hauptverhandlung gem. § 216 StPO. In dieser ist dem auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten schriftlich die Warnung auszusprechen, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde, § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO. Dem Sprachfremden ist die Warnung in einer ihm verständlichen Sprache mitzuteilen.60 Bei ortsfremden Beschuldigten muss klargestellt werden, dass die Zwangsmittel nur auf deutschem Hoheitsgebiet vollstreckt werden können, Nr. 116 Abs. 1 Satz 2 RiVASt.61 Sofern in der Ladung die Vorführung respektive Anordnung der Haft im Ausland angedroht würde, ginge eine derartige Warnung ins Leere, weil die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf dem Gebiet eines fremden Staates unzulässig ist, bereits die Androhung der Ausübung von Zwangsmitteln auf fremdem Staatsgebiet einen Eingriff in dessen Souveränität darstellt und ein solches Vorgehen daher dem Territorialitätsprinzip zuwiderliefe.62 Es ist nicht zu bestreiten, dass in der Praxis der bereits unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zwingende Vorrang der Vorführung wohl nicht immer die Beachtung findet, welche dem Rechtsstaatsgebot entspricht. Dabei geht die grundsätzlich primäre Vorführung bei Personen ohne festen Wohnsitz jedoch ebenso ins Leere wie bei Beschuldigten mit lediglich ausländischem Wohnsitz, sodass diese für die hiesige Untersuchung ohne Belang ist. Zuständig für den Erlass des Sitzungshaftbefehls ist das Gericht in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung, weil es anderenfalls zu Verzögerungen im Zusammenhang mit den zu treffenden Haftentscheidungen kommen und die Besetzung im Übrigen von gewissen Zufälligkeiten im Hinblick auf den Zeitpunkt der jeweiligen Beschlussfassung abhängen könnte.63 Weder unterliegt der Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO zeitlichen Schran ken, noch findet § 121 Abs. 1 StPO Anwendung.64 Mit Abschluss § 216 Rn. 7; Beining, JuS 2016, 515 (516). Brandenburg 07.04.2014 – 1 Ws 38/14, NStZ 2015, 235; Beining, JuS 2016, 515 (516). 62 OLG Brandenburg 07.04.2014 – 1 Ws 38/14, NStZ 2015, 235; LR-StPO/Jäger, § 216 Rn. 7. 63 BGH 11.01.2011 – 1 StR 648/10, NStZ 2011, 356; Beining, JuS 2016, 515 (517). 64 KK-StPO/Gmel, § 230 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 23; MüKoStPO/Arnoldi, § 230 Rn. 17; Beining, JuS 2016, 515 (517); a. A. Rupp, NStZ 1990, 576 (577): Aufrechterhaltung eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO über einen Hauptverhandlungstag hinaus nicht möglich, weil insofern aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erst abzuwarten sei, ob der Angeklagte nunmehr zum Fortsetzungstermin erscheint; diff. Scharf/Kropp, NStZ 2000, 297: Aus Verhältnismäßigkeitsgründen Orientierung an einer 3-Monats-Frist beim AG und der 6-Monats-Frist des § 121 StPO beim LG. 60 LR-StPO/Jäger, 61 OLG
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht105
der Haupt verhandlung wird der Haftbefehl – auch ohne (deklaratorische) Aufhebung – gegenstandslos.65 Interessant sind die Auswirkungen einer Aussetzung (§ 228 Abs. 1 Satz 1 StPO) bzw. Einstellung gem. § 205 StPO. Schließlich wird gerade bei ortsfremden Beschuldigten nicht mit einem zeitnahen Ergreifen zu rechnen sein, sodass die Voraussetzungen des § 205 StPO regelmäßig vorliegen werden. Die bislang allgemeine Ansicht ließ der Aussetzung der Hauptverhandlung ebenso wie einer Einstellung gem. § 205 StPO pauschal haftbefehlsaufhebende Wirkung zukommen.66 Die Aussetzung sei anders als eine bloße Unterbrechung dem Abschluss der Hauptverhandlung gleichzusetzen, weshalb die Voraussetzungen für den weiteren Bestand der Haftanordnung entfielen.67 Dieser Aussetzung wiederum sei eine Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO gleichzustellen, weil auch insoweit die Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung erforderlich werde.68 Dem wird neuerdings mit guten Argumenten entgegengetreten und nach dem Zweck der Entscheidung sowie der prozessualen Situation, in der sie getroffen wird, differenziert:69 Der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO diene der Absicherung der Anwesenheit des Angeklagten in einer zukünftigen Hauptverhandlung und verliere seine Wirkung erst nach Durchführung dieser Hauptverhandlung durch Urteil oder Aussetzung derselben.70 Die vorläufige Einstellung nach § 205 StPO habe dagegen im Wesentlichen nur verfahrensklarstellende Bedeutung und tangiere die Wirksamkeit des Haftbefehls nicht.71 Es sei zwar nicht Zweck des Haftbefehls nach § 230 StPO, „jede erst unter Umständen in (unbestimmter) Zukunft stattfindende neue (dritte) Hauptverhandlung zu sichern“, weshalb der Haftbefehl insoweit zu Recht gegenstandslos werde, wenn zunächst ein Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO ergehe, sodann nach Festnahme eine Hauptverhandlung stattfinde und diese dann wegen eines Hindernisses, das nicht innerhalb der Unterbrechungsfrist beseitigt werden könne, ausgesetzt 65 OLG Saarbrücken 18.09.1974 – Ws 225/74, NJW 1975, 791 (792); LR-StPO/ Becker, § 230 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 23; MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 17; Beining, JuS 2016, 515 (517); Rupp, NStZ 1990, 576 (577). 66 OLG Hamm 14.10.2008 – 3 Ws 357/08, NStZ-RR 2009, 89 (89 f.); BeckOKStPO/Ritscher, § 205 Rn. 6; KK-StPO/Gmel, § 230 Rn. 15; LR-StPO/Becker, § 230 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 23; Beining, JuS 2016, 515 (517). 67 OLG Hamm 14.10.2008 – 3 Ws 357/08, NStZ-RR 2009, 89. 68 OLG Hamm 14.10.2008 – 3 Ws 357/08, NStZ-RR 2009, 89 (90). 69 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 = NJ 2016, 351 m. zust. Bspr. Kulhanek; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285. 70 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 8; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285. 71 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 8; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
werde.72 Diesbezüglich habe der Haftbefehl schließlich seinen Zweck erfüllt und die Durchführung „der (gesamten) Sitzung erzwungen, welche dem unentschuldigten Ausbleiben im vorangegangenen Termin folgte.“73 Demgegenüber stehe die Situation, bei welcher der Haftbefehl nach Festnahme des Angeklagten nach wie vor dessen Anwesenheit in einer kommenden, noch anzuberaumenden Hauptverhandlung gewährleisten solle.74 Der Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO und die vorläufige Einstellung des Verfahrens gem. § 205 StPO hätten schließlich ähnliche Tatbestandsvoraussetzungen.75 Die ganz überwiegend der Verfahrensklarheit dienende Einstellungsvorschrift des § 205 StPO hindere daher weder den Erlass eines Haftbefehls noch habe sie Einfluss auf dessen Bestand.76 Dies gelte zudem unabhängig davon, ob die Einstellung nach § 205 StPO zeitgleich mit dem Erlass des Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO erfolge oder diesem nachfolge.77 Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt, § 230 Abs. 1 StPO. Soweit zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten, ist bei unentschuldigtem Ausbleiben ein Haftbefehl zu erlassen, § 230 Abs. 2 StPO. Steht der Hauptverhandlung für längere Zeit die Abwesenheit des Angeklagten entgegen, wird das Verfahren vorläufig eingestellt, § 205 Satz 1 StPO, wobei ungeachtet des Wortlauts bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen kein „echtes“ Ermessen des Gerichts besteht, sondern lediglich über das Merkmal der „längeren Zeit“ ein Beurteilungsspielraum.78 Es wäre insoweit nicht nachvollziehbar und stünde in Widerspruch zum Regelungszweck des § 230 Abs. 2 StPO, wenn der Sicherungshaftbefehl gerade dann gegenstandslos werden sollte, wenn der Angeklagte aufgrund des Sicherungshaftbefehls nicht ergriffen werden kann, weil er über längere Zeit untergetaucht ist, sich so der Hauptverhandlung nachhaltig entzieht und das Verfahren deshalb vorläufig einzustellen ist.79 Die Gegenansicht führte jedenfalls in den Fällen, in denen der Erlass eines Haftbe72 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 9; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285. 73 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 9. 74 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 10; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285. 75 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285 (285 f.). 76 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 10. 77 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 11; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285. 78 KK-StPO/Schneider, § 205 Rn. 1, 17: bewirkt Rechtsklarheit nach außen, Nachprüfbarkeit und Selbstkontrolle der Strafverfolgungsbehörden; LR-StPO/Stuckenberg, § 205 Rn. 37; Kulhanek, NJ 2016, 351; a. A. BeckOK-StPO/Ritscher, § 205 Rn. 6. 79 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285 (286); Kul hanek, NJ 2016, 351.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht107
fehls gemäß § 112 StPO wegen Unverhältnismäßigkeit nicht in Betracht käme oder ein zuvor erlassener Haftbefehl nach § 112 StPO wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots aufzuheben wäre, dazu, dass sich der Angeklagte letztlich erfolgreich dem Verfahren insgesamt entziehen könnte.80 Aus der letztgenannten Ansicht ergeben sich konkrete Auswirkungen für die Vorgehensweise bei ausgebliebenen und (mutmaßlich) längerfristig abwesenden Angeklagten, wie es häufig bei ortsfremden Beschuldigten der Fall ist. Besteht ein Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO und erfolgt gleichzeitig oder später eine Einstellung des Verfahrens gem. § 205 StPO, können innerstaatliche Fahndungsmaßnahmen unmittelbar auf den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO gestützt werden, wohingegen der Erlass eines Haftbefehls gem. § 112 StPO (einschließlich der damit einhergehenden Konsequenzen, z. B. § 121 Abs. 1 oder § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO) bei Vorliegen der Voraussetzungen (insbesondere Haftgrund) zwar möglich, grundsätzlich aber nicht erforderlich ist.81 Es ist das Risiko des nicht erscheinenden Angeklagten, dass die Hauptverhandlung mehrere Tage dauert.82 Eine abweichende Ansicht ist auch bei der Zustellung der Anklage/Ladung zur Hauptverhandlung über einen Zustellungsbevollmächtigten nicht angezeigt. Der wechselseitige Pflichtenkreis im Zustellungsbevollmächtigungsverhältnis gebietet keine generell einschränkende Auslegung dahingehend, dass der Haftbefehl auf lediglich einen Hauptverhandlungstag zu begrenzen wäre, wenn sich der Beschuldigte auf Probleme bei der Zustellung beruft. Im Einzelfall ist eine entsprechende Aussetzungs-/Aufhebungsentscheidung indessen denkbar. (4) Zustellung eines Urteils über einen Zustellungsbevollmächtigten Das gegen einen – anwesenden wie auch abwesenden – Angeklagten ergehende Urteil ist primär diesem selbst zuzustellen, was jedoch eine Zustellung über den Zustellungsbevollmächtigten nicht ausschließt.83 Für eine Begenzung auf Zustellungsbevollmächtigte nach §§ 116a, 127a, 132, 145a StPO in Abgrenzung zu freiwillig bestellten Vertretern84 besteht keine Notwendigkeit, 80 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285 (286); Kulhanek, NJ 2016, 351. 81 Kulhanek, NJ 2016, 351 (351 f.). 82 Beining, JuS 2016, 515 (518). 83 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); BayObLG 19.06.1995 – 4 St RR 102/95, BayObLGSt 1995, 94 = NStZ 1995, 561 (562); BeckOK-StPO/Gorf, § 232 Rn. 18; a. A. RG 24.09.1889 – 1801/89, RGSt 19, 390 (390 f.); BGH 21.01.1958 – 1 StR 236/57, BGHSt 11, 152 = NJW 1958, 509 (510). 84 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); BayObLG 19.06.1995 – 4 St RR 102/95, BayObLGSt 1995, 94 = NStZ 1995, 561.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
weil nicht einleuchtet, warum eine auf Druck veranlasste Bevollmächtigung weitere Folgen haben soll als eine freiwillig erteilte.85 c) Der Grundsatz rechtlichen Gehörs sowie das Fairnessprinzip bei Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten Art. 103 Abs. 1 GG bestimmt, dass jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Diese zum grundrechtsgleichen Recht erhobene Garantie ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens.86 Niemand darf zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden, d. h. der Beschuldigte muss – im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln – die Möglichkeit haben, als Subjekt auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende, erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls Berücksichtigung zu erreichen.87 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs geht dabei nach traditionellem Verständnis über das eigentliche Äußerungsrecht hinaus.88 Zunächst kommt den Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Zugang zu den wesentlichen, dem Gericht vorliegenden Informationen zu, sodann haben sie ein Recht zur Äußerung und auch einen Anspruch auf effektive Beachtung ihrer Äußerung.89 Während bei Durchführung der Hauptverhandlung, zu welcher der Angeklagte über den Zustellungsbevollmächtigten geladen wird, dem Erfordernis rechtlichen Gehörs erschöpfend Genüge getan wird, kann man bei der Zustellung des Strafbefehls an eben jenen zweifeln. Diese summarische Form des Strafverfahrens, in welcher vor Erlass des Strafbefehls die richterliche Anhörung des Angeschuldigten nicht vorgeschrieben ist, lässt sich mit 85 Mayer,
NStZ 2016, 76 (79). 05.11.1986 – 1 BvR 706/85, BVerfGE 74, 1 = NJW 1987, 1192; BVerfG 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924 (1926); Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (614): „Fair trial meint die Qualitäten eines justizförmigen, an Vorstellungen von Billigkeit und Gerechtigkeit orientierten Verfahrens.“ 87 BVerfG 09.03.1983 – 2 BvR 315/83, BVerfGE 63, 332 = NJW 1983, 1726 (1727); BVerfG 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924 (1926); Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (614): „Fairness erschöpft sich nicht in einer Selbstbeschränkung des Staates beim Einsatz prozessualer Macht (status negativus). Der Betroffene soll prozessuale Handlungsoptionen vielmehr mit der erforderlichen Sachkunde selbstständig wahrnehmen können, um Übergriffe hoheitlicher Gewalt angemessen abzuwehren (status activus processualis).“ 88 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 70: „Vor- und Nachwirkungen“. 89 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2763); MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 70 m. w. N.: „drei Verwirklichungsstufen“. 86 BVerfG
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht109
Art. 103 Abs. 1 GG vereinbaren, indem (gegebenenfalls verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag) über den Rechtsbehelf des Einspruchs mit anschließender Hauptverhandlung der Anspruch auf rechtliches Gehör in verfassungsrechtlich zulässiger Weise verbürgt ist.90 Das Strafbefehlsverfahren der §§ 407 ff. StPO dient einerseits der raschen Erledigung einer Vielzahl tatsächlich wie rechtlich einfach gelagerter Fälle und liegt andererseits nicht nur im Interesse der staatlichen Strafgerichtsbarkeit, sondern auch im Interesse des Beschuldigten, dem daran gelegen sein kann, einfachere Straffälle verhältnismäßig kostengünstig und diskret, ohne Zeitverlust und Aufsehen zu beenden.91 Das RG hatte seinerzeit Bedenken angemeldet hinsichtlich der Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Zustellung von Schriftstücken an den freiwillig rechtsgeschäftlich benannten Zustellungsbevollmächtigten, wenn daran nachfolgend keine sachlich-rechtliche Prüfung mehr erfolgte, und begründete dies insbesondere mit dem Grundgedanken der Strafprozessordnung, wonach eine Verurteilung regelmäßig nur gegen einen persönlich Anwesenden erfolgen soll.92 Es liegt nahe, diese Besorgnis hinsichtlich des grundgesetzlich garantierten rechtlichen Gehörs auf das heutige Strafbefehlsverfahren zu übertragen, wenn man unterstellt, dass in einigen/vielen Fällen mangels (zutreffender) Weiterleitungsadresse der ortsfremde Beschuldigte tatsächlich keine Ausfertigung des erlassenen Strafbefehls erhält. Die Durchführbarkeit des Strafbefehlsverfahrens hängt dabei indes auch von der Möglichkeit ab, Ersatzzustellungen vorzunehmen, wodurch das Recht des Betroffenen, sich im Einspruchsverfahren rechtliches Gehör zu verschaffen, ausweislich der Ansicht des BVerfG nicht in verfassungswidriger Weise beschnitten wird.93 Besitzt der Beschuldigte Kenntnis von dem von ihm (freiwillig) benannten Zustellungsbevollmächtigten, hat er es selbst in der Hand, mit diesem zu kommunizieren, seine Unterrichtung durch stetiges Nachfragen oder sonstige geeignete Maßnahmen sicherzustellen und sich somit die fortbestehende Möglichkeit der Wahrnehmung rechtlichen Gehörs zu erhalten.94
90 EGMR 16.12.1992 – 68/1991/320/392, NJW 1993, 717; BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, BVerfGE 25, 158 = NJW 1969, 1103 (1104). 91 BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, BVerfGE 25, 158 = NJW 1969, 1103 (1104). 92 RG 11.07.1910 – I 360/10, RGSt 44, 47 (48); RG 05.11.1928 – II 99/28, RGSt 63, 10 (11 f.). 93 BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, BVerfGE 25, 158 = NJW 1969, 1103 (1104). 94 BayObLG 19.06.1995 – 4 St RR 102/95, BayObLGSt 1995, 94 = NStZ 1995, 561.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
2. Rechtsgrundlagen und Anforderungen der strafprozessualen Zustellungsvollmacht In den folgenden Gliederungspunkten werden die verschiedenen Formen der Zustellungsvollmacht samt den dazugehörigen Rechtsgrundlagen aufgezeigt und vorgestellt. a) Arten der strafprozessualen Zustellungsvollmacht Die Arten der Zustellungsvollmacht lassen sich zunächst einordnen in die Kategorien gesetzlich, verfahrenssichernd, rechtsgeschäftlich. aa) Gesetzliche Zustellungsvollmacht, § 145a Abs. 1 StPO § 145a Abs. 1 StPO statuiert die gesetzliche Zustellungsvollmacht des Verteidigers. Es handelt sich um eine auch gegen den Willen des Beschuldigten wirkende Fiktion.95 Darin zeigt sich bereits ein wichtiger Unterschied zur rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht, die eben auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit beruht und den verfahrenssichernden Vollmachten mit ihrer teilweise „gezwungenen Freiwilligkeit“. Die Norm nennt explizit den Wahlverteidiger wie auch den Pflichtverteidiger. Hintergrund der Vorschrift ist die Vereinfachung des Zustellungswesens durch die Schaffung einer vom Willen der Beteiligten unabhängigen, gesetzlichen Zustellungsvollmacht.96 Sie begründet indes keine Pflicht zur Zustellung an den Verteidiger, sodass jene ungeachtet dessen weiterhin an den Beschuldigten gerichtet werden kann.97 Daneben lässt sich zudem die Gewährleistung einer wirksamen Information des Verteidigers als Erwägungsgrund anführen.98 Im Falle der Wahlverteidigung setzt das Gesetz explizit voraus, dass sich die Vollmacht (original oder 95 BGH 15.01.2008 – 3 StR 450/07, StraFo 2010, 339; KMR/Müller, § 145a Rn. 2; LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 2; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 1; Pfeiffer, § 145a Rn. 1; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 41. 96 LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 2; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 3; Kuhn, JA 2011, 217 (218); Schnarr, NStZ 1997, 15 (15 f.). 97 OLG Stuttgart 30.03.2009 – 2 Ss 139/09, NStZ-RR 2009, 254; BeckOK-StPO/ Krawczyk, § 145a Rn. 1; KK-StPO/Laufhütte, § 145a Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 6; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 6; SSW-StPO/Beulke, § 145a Rn. 4; a. A. MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 7. 98 BeckOK-StPO/Krawczyk, § 145a vor Rn. 1; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 1; SSW-StPO/Beulke, § 145a Rn. 1; Schnarr, NStZ 1997, 15 (16).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht111
in Kopie99) im Zeitpunkt des Vollzugs der Zustellung „bei den Akten befindet“.100 Eine nachträglich beigebrachte Vollmacht bewirkt insoweit keine rückwirkende Heilung.101 Es genügt, wenn die mündliche Bevollmächtigung im Sitzungsprotokoll beurkundet wird;102 aus Gründen des Wortlauts (§ 145a Abs. 1 StPO verlangt für die Wirksamkeit eine Aktenkundigkeit, sodass konkludent erteilte Bevollmächtigungen ausscheiden) und der Rechtsklarheit (Frage, ob tatsächlich mandatiert wurde) ist aber nicht allein ausreichend, dass der Verteidiger vor Gericht in Anwesenheit des Beschuldigten auftritt.103 Dabei ist von Seiten der Justiz auf eine zutreffende Adressierung zu achten: Ist nur ein bestimmter Rechtsanwalt als Verteidiger mandatiert, ist die ausdrücklich an die Kanzlei als solche gerichtete und ohne jeden namentlichen Hinweis auf den bevollmächtigten Verteidiger versehene Zustellung unwirksam, selbst wenn der Name des bevollmächtigten Verteidigers in der Bezeichnung der Kanzlei vorkommt.104 Ist im Rubrum einer Verteidigervollmacht dagegen lediglich der Name der Anwaltskanzlei als solcher aufgeführt und haben sich höchstens drei dieser Anwälte im Verfahren zum Verteidiger bestellt, können Zustellungen wirksam und mit verjährungsunterbrechender Wirkung an die Anwaltskanzlei adressiert werden.105 § 145a Abs. 1 StPO schließt dabei nicht aus, den Verteidiger wirksam rechtsgeschäftlich zum Empfang von Zustellungen zu bevollmächtigen, sodass insoweit die Formstrenge des § 145a Abs. 1 StPO, wonach sich die Vollmacht zu ihrer Wirksamkeit bei den Akten befinden muss, nicht greifen 99 OLG Köln 02.04.2004 – Ss 126/04 Z – 68 Z, NStZ 2004, 647; BeckOK-StPO/ Krawczyk, § 145a Rn. 7; KK-StPO/Laufhütte, § 145a Rn. 1; MüKo-StPO/Thomas/ Kämpfer, § 145a Rn. 3. 100 BayObLG 04.07.1969 – RReg. 1 b St 161/69, BayObLGSt 1969, 110 (111); Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 8; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 15; Schnarr, NStZ 1997, 15 (16); a. A. Kuhn, JA 2011, 217 (218): bei Anordnung der Zustellung. 101 BayObLG 16.12.1971 – RReg. 1 St 612/71 OWi, BayObLGSt 1971, 228 (229); KMR/Müller, § 145a Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 8; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 15. 102 BGH 24.10.1995 – 1 StR 474/95, BGHSt 41, 303 = NStZ 1996, 97; LR-StPO/ Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 9; MüKo-StPO/ Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 3; Pfeiffer, § 145a Rn. 2; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 7 f.; SSW-StPO/Beulke, § 145a Rn. 5. 103 BGH 24.10.1995 – 1 StR 474/95, BGHSt 41, 303 = NStZ 1996, 97; BGH 03.12.2008 – 2 StR 500/08, NStZ-RR 2009, 144; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 9; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 3; Pfeiffer, § 145a Rn. 2; SSWStPO/Beulke, § 145a Rn. 5; a. A. LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 4. 104 OLG Zweibrücken 06.01.2016 – 1 OWi 1 Ss Bs 9/15, NStZ-RR 2016, 183 (184) m. zust. Bspr. Burmann, jurisPR-VerkR 22/2016 Anm. 4. 105 OLG Hamm 27.02.2012 – 3 RBs 386/11, BeckRS 2012, 17729; BeckOKStPO/Krawczyk, § 145a Rn. 3a.
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würde.106 Die Beendigung des Mandats beendet die gesetzliche Zustellungsvollmacht erst, wenn dies auch zur Kenntnis des Gerichts gelangt.107 bb) Verfahrenssichernde Zustellungsvollmacht Die eine Sicherheitsleistung flankierenden Zustellungsvollmachten der §§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO dienen einerseits der Durchführung des Strafverfahrens einschließlich der sich gegebenenfalls anschließenden Geldstrafenvollstreckung und helfen andererseits auch Personen ohne festen Wohnsitz in der BRD bei der Abwendung von Untersuchungshaft bzw. der Beschlagnahme von Beförderungsmitteln und anderer Sachen.108 Die Einführung der §§ 127a, 132 StPO zielte dabei ursprünglich auf die Verfolgung von Verkehrszuwiderhandlungen durchreisender Ausländer,109 hat heute jedoch weit darüber hinausgehend praktische Bedeutung (z. B. im Bereich von Ladendiebstählen, Leistungserschleichungen, Waffendelikten, Besitz von Betäubungsmitteln, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, leichten Körperverletzungen). Die verfahrenssichernde Zustellungsvollmacht ist beiderseits im Grundsatz unwiderruflich; eine Auswechslung oder Rücknahme kann nur mit Zustimmung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft erfolgen.110
106 BGH 18.02.1997 – 1 StR 772/96, NStZ 1997, 293; BayObLG 14.01.2004 – 2 St RR 188/03, NJW 2004, 1263; OLG Saarbrücken 20.04.2016 – 1 Ws 40/16, NStZ-RR 2016, 218; KG 17.06.2016 – 3 Ws (B) 217/16 – 162 Ss 55/16, NStZ-RR 2016, 289; OLG Bamberg 02.02.2017 – 2 Ss OWi 23/17, BeckRS 2017, 103592; BeckOK-StPO/Krawczyk, § 145a Rn. 7; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 9. 107 BayObLG 04.07.1969 – RReg. 1 b St 161/69, BayObLGSt 1969, 110 (111 f.); OLG Köln 20.01.2016 – III-1 RBs 7/16, NStZ-RR 2016, 175 (176); Meyer-Goßner/ Schmitt, § 145a Rn. 11; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 9; SSW-StPO/Beulke, § 145a Rn. 7; Kuhn, JA 2011, 217 (218); Schnarr, NStZ 1997, 15 (16); krit. MüKo-StPO/ Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 4. 108 BayObLG 19.06.1995 – 4 St RR 102/95, BayObLGSt 1995, 94 = NStZ 1995, 561. 109 Bericht des Abgeordneten Hirsch zu BT-Drs. V/2600, V/2601 S. 17. 110 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (213 f.); LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 6; SSW-StPO/ Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 42; Greßmann, NStZ 1991, 216 (217 f.); Mayer, NStZ 2016, 76 (77).
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(1) Aussetzung gegen Sicherheitsleistung, § 116a Abs. 3 StPO § 116a StPO regelt die Ausgestaltung der Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO. Wohnt der Beschuldigte nicht im Geltungsbereich des Gesetzes, kann die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung nur in Verbindung mit der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten erfolgen, § 116a Abs. 3 StPO.111 Ziel der Norm ist die Vermeidung von Erschwernissen im Zusammenhang mit Auslandszustellungen.112 (2) Absehen von der Anordnung oder Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme, § 127a Abs. 2 i. V. m. § 116a Abs. 3 StPO § 127a Abs. 1 StPO ermöglicht ein Absehen von der Anordnung der Festnahme, wenn der Beschuldigte im Geltungsbereich der StPO keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, die Voraussetzungen eines Haftbefehls nur wegen Fluchtgefahr vorliegen und kumulativ lediglich eine Geldstrafe zu erwarten ist, für welche der Beschuldigte eine angemessene Sicherheit leistet. Die Nichterreichbarkeit steht dabei der Wohnsitzlosigkeit gleich.113 In diesem Zuge ist sodann ein Zustellungsbevollmächtigter zu benennen, § 127a Abs. 2 i. V. m. § 116a Abs. 3 StPO. Die Vorschrift ist eine besondere Ausprägung des auch und gerade im Untersuchungshaftrecht geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.114 § 127a StPO gilt bereits seinem Wortlaut nach nur, wenn keine Freiheitsstrafe zu erwarten steht.115 Zur Entscheidung nach § 127a StPO sind von Gesetzes wegen der vorläufig festnehmende Polizeibeamte und gleichermaßen der ermittlungsführende Staatsanwalt berufen, analog jedoch auch der nach § 128 StPO zuständige Richter.116 Das Absehen von der Festnahme ist kein Verwaltungsakt, sondern 111 SSW-StPO/Herrmann,
§ 116a Rn. 22. § 116a Rn. 4; BeckOK-StPO/Krauß, § 116a Rn. 5; KKStPO/Graf, § 116a Rn. 6; MüKo-StPO/Böhm, § 116a Rn. 26; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 116a Rn. 17. 113 SSW-StPO/Herrmann, § 127a Rn. 4. 114 AnwK-StPO/Lammer, § 127a Rn. 1; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 1; LRStPO/Hilger, § 127a Rn. 1; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 1; Pfeiffer, § 127a Rn. 1; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 127a Rn. 1; SSW-StPO/Herrmann, § 127a Rn. 1. 115 KMR/Wankel, § 127a Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 5; MüKoStPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 6; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 4; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1753); Kulhanek, NStZ 2015, 495. 116 KMR/Wankel, § 127a Rn. 1; LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 11; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 127a Rn. 1; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 2; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 8. 112 AnwK-StPO/Lammer,
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eine Prozesshandlung, gegen die kein Rechtsmittel gegeben ist, vielmehr allenfalls Dienstaufsichtsbeschwerde zu erheben wäre, schließlich kann der Beschuldigte die Sicherheitsleistung/Zustellungsvollmacht verweigern, sich dem zuständigen Richter vorführen lassen und dort seine Freilassung beantragen.117 (3) Verfahrenssicherung bei Nichtvorliegen der Haftbefehlsvoraussetzungen, § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO Liegen die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, etwa weil kein Haftgrund gegeben ist oder die Anordnung der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre, ermöglicht § 132 Abs. 1 Satz 1 StPO in Ergänzung zu § 127a StPO die Anordnung einer Sicherheitsleistung (Nr. 1) und eines Zustellungsbevollmächtigten (Nr. 2). § 132 StPO greift ebenfalls nur, wenn keine Freiheitsstrafe zu erwarten steht.118 Nach § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO kann die Bevollmächtigung einer im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnenden Person zum Empfang von Zustellungen angeordnet werden, wenn der Beschuldigte einer Straftat dringend verdächtig ist, in Deutschland keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, jedoch die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen und nur eine Geldstrafe zu erwarten ist. Ausweislich § 132 Abs. 2 StPO dürfen die Anordnung nur der Richter, bei Gefahr im Verzug auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen, treffen. Ob der Beschuldigte die geforderte Sicherheit leistet, steht in seinem Ermessen.119 Befolgt der Beschuldigte eine getroffene Anordnung nicht, können gem. § 132 Abs. 3 StPO Beförderungsmittel und andere Sachen, die der Beschuldigte mit sich führt und die ihm gehören, beschlagnahmt werden. Dabei gilt das Übermaßverbot.120 Bestimmte Gegenstände, an deren Belassung der Beschuldigte ein nachvollziehbares und auch in Abwägung mit den Belangen der Strafverfolgung berechtigtes Interesse hat, sind ebenso zu belassen wie ein angemessener Unterhaltsbetrag bei der Beschlagnahme von Bargeld.121 In keinem Fall dürfen dem Beschul117 AnwK-StPO/Lammer, § 127a Rn. 6; LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 12; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1755). 118 OLG Dresden 21.07.2005 – 2 Ss 362/05, StraFo 2005, 423; BeckOK-StPO/ Niesler, § 132 Rn. 6; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 5; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 4; LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 6; MüKoStPO/Gerhold, § 132 Rn. 4; SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 2; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 8; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1753); Kulhanek, NStZ 2015, 495. 119 LG Heilbronn 06.09.2017 – 8 Qs 41/17, juris. 120 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 14; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 10. 121 KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 12; LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 16; MüKoStPO/Gerhold, § 132 Rn. 11.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht115
digten vor Ort die für eine Weiterreise erforderlichen Geldmittel gänzlich entzogen werden.122 Teilweise wird vertreten, § 132 Abs. 1 StPO enthalte implizit das Erfordernis des positiven Wissens um eine fehlende zustellfähige Anschrift des Beschuldigten im Inland, weshalb nicht genüge, wenn lediglich kein fester Wohnsitz/Aufenthalt bekannt sei; vielmehr müsse nach dem Ermittlungsstand positiv davon ausgegangen werden können, dass ein solcher nicht besteht, sodass eine bloße Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung das Verfahren nicht fördern würde.123 Dem ist zuzustimmen, weil die kombinierte Zwangsmaßnahme des § 132 StPO nicht „auf Verdacht“ ergehen darf, sondern zuvor eine hinreichende Erforschung des Bestehens eines Wohnsitzes voraussetzt. cc) Rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht (1) Rechtsgeschäftliche Spezialvollmacht des Verteidigers betreffend Ladungen des Beschuldigten, § 145a Abs. 2 StPO Infolge der expliziten Anordnung in § 145a Abs. 2 Satz 1 StPO bedarf es zur wirksamen Zustellung einer Ladung des Beschuldigten an den Verteidiger einer gesonderten, bei den Akten befindlichen, ausdrücklichen Ermächtigung. Anders als bei der gesetzlich aufgestellten Fiktion des § 145a Abs. 1 StPO handelt es sich hierbei um eine den diesbezüglichen Willen der Beteiligten notwendig voraussetzende, rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht. Unabhängig davon, ob es sich um ein Wahl- oder Pflichtmandat handelt, muss diese spezielle Ladungsvollmacht explizit und schriftlich zu den Akten eingeräumt werden; eine allgemeine Bevollmächtigung zur Entgegennahme von Zustellungen jeglicher Art genügt nicht.124 Wird bei der rechtsgeschäftlichen Einräumung der Bevollmächtigung ausdrücklich auf die Norm des § 145a StPO Bezug genommen, umfasst dies im Wege der Auslegung die gesonderte Ladungsvollmacht nach § 145a Abs. 2 StPO.125 Allerdings ist 122 SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 10; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 19; Müllenbach, NStZ 2001, 637 (639). 123 LG Dresden 23.01.2015 – 3 Qs 7/15, juris Rn. 11; BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 2; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 7. 124 OLG Hamm 07.03.2017 – 5 RVs 22/17, NStZ 2017, 432; HK-StPO/Julius, § 145a Rn. 8; KK-StPO/Laufhütte, § 145a Rn. 5; KMR/Müller, § 145a Rn. 14; LRStPO/Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a Rn. 12; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 10; Pfeiffer, § 145a Rn. 3; SK-StPO/Wohlers, § 145a Rn. 20; SSW-StPO/Beulke, § 145a Rn. 10; Kuhn, JA 2011, 217 (218); Mayer, NStZ 2016, 76 (77); Schnarr, NStZ 1997, 15 (17). 125 LG Fulda 05.01.2017 – 2 KLs 27 Js 7440/15, StV 2017, 454 m. Bspr. Papa thanasiou, jurisPR-StrafR 15/2017 Anm. 5.
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darauf zu achten, dass es sich tatsächlich um eine eigene Willenserklärung des Beschuldigten handelt.126 Stets bedarf es der Vorlage einer Vollmachtsurkunde; dass sich der Verteidiger selbst entsprechend erklärt, genügt nicht.127 Die gesonderte Ladungsvollmacht besteht unabhängig von der Pflichtverteidigerbestellung bzw. Wahlverteidigermandatierung fort, bis deren Erlöschen dem Gericht gegenüber angezeigt wurde.128 (2) Allgemeine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht Abgesehen von den genannten (speziellen) gesetzlichen Regelungen zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten besteht auch die Möglichkeit der Erteilung einer allgemeinen rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht.129 Diese wird teilweise auf § 37 Abs. 1 StPO i. V. m. § 171 ZPO gestützt.130 Daneben leitet man deren Zulässigkeit insbesondere aus folgender Erwägung ab: Da die Zustellungsbevollmächtigung eine über die §§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Nr. 2 StPO letztlich generell anerkannte Einrichtung darstellt, kann sich ein Beschuldigter ihrer auf freiwilliger Basis ebenso in anderen als in den dort geregelten Fällen bedienen.131 Hierbei soll die allgemeine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht – anders als die verfahrenssichernde – sowohl durch den Bevollmächtigenden als auch den Bevollmächtigten frei widerruflich sein.132 Die oben angesprochene grundsätzliche Unwiderruflichkeit bei der verfahrenssichernden muss jedoch auch für die allgemeine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht Geltung beanspruchen, wenn diese über § 161 StPO vom Staatsanwalt angeordnet wurde. Jede prozessgestaltende Betätigung eines Verfahrensbeteiligten stellt 126 OLG
Hamm 07.03.2017 – 5 RVs 22/17, NStZ 2017, 432. Naumburg 06.11.2013 – 1 Ws 66/13, StV 2014, 205. 128 KG 19.09.2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), NStZ 2012, 175. 129 RG 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321; BGH 18.02.1997 – 1 StR 772/96, NStZ 1997, 293; BayObLG 14.01.2004 – 2 St RR 188/03, NJW 2004, 1263; OLG Saarbrücken 20.04.2016 – 1 Ws 40/16, NStZ-RR 2016, 218; KG 17.06.2016 – 3 Ws (B) 217/16 – 162 Ss 55/16, NStZ-RR 2016, 289; LG Dresden 10.01.2017 – 3 Qs 105/16, juris Rn. 19; Kuhn, JA 2011, 217 (219); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496); Mayer, NStZ 2016, 76; Schnarr, NStZ 1997, 15 (17); Zündorf, NStZ 2017, 41 (43). 130 OLG Köln 26.05.2008 – 2 Ws 249/08, NStZ-RR 2008, 379 (380); OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 3; Gietl, StV 2017, 263 (265); gegen eine Anwendung von § 171 ZPO explizit SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 2; Büttner, DRiZ 2007, 188; Mayer, NStZ 2016, 76. 131 RG 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321; OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; Greßmann, NStZ 1991, 216. 132 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (213 f.); LR-StPO/GraalmannScheerer, § 37 Rn. 6; Mayer, NStZ 2016, 76 (77). 127 OLG
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eine Prozesshandlung dar.133 Indem der ortsfremde Beschuldigte durch die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten den Fortgang des Verfahrens sichert/ermöglicht, wirkt er gestaltend auf die Entwicklung des Strafverfolgungsprozesses ein. Mithin handelt es sich bei der wegen fehlenden Inlandswohnsitzes notwendigen Benennung des Zustellungsbevollmächtigten um eine tragende Prozesshandlung.134 Folglich kann diese nicht schlicht widerrufen werden.135 Zur Absicherung sollte in der Praxis bei der Abgabe einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht aber auf die Erteilung einer explizit unwiderruflichen Zustellungsbevollmächtigung geachtet werden. b) Anforderungen an die handelnden Personen sowie den Akt der Benennung des Zustellungsbevollmächtigten Im Zuge der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten bestehen verschiedene Voraussetzungen betreffend die Person des Vollmachtgebers sowie des Bevollmächtigten, die Form der Erteilung und die anordnende Stelle. aa) Person des Vollmachtgebers und Beschaffenheit der Zustellungsvollmacht Prozesshandlungen sind prozessgestaltende Betätigungen von Verfahrensbeteiligten; sie sind auslegungsfähig und im Einzelfall auch auslegungsbedürftig.136 Bei der Einräumung einer Zustellungsvollmacht handelt es sich um eine Prozesshandlung.137 Diesbezüglich muss der Beschuldigte als Vollmachtgeber (abgesehen von der gesetzlichen Zustellungsvollmacht des Verteidigers nach § 145a Abs. 1 StPO) strafprozessual verhandlungsfähig sein; Geschäftsfähigkeit i. S. d. §§ 104 ff. BGB ist für die Frage des Zustellungsadressaten irrelevant.138
133 KK-StPO/Fischer, Einl. Rn. 398; Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 95; MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 331. 134 Vgl. auch Mayer, NStZ 2016, 76 (77) Fn. 15. 135 Vgl. allgemein zur Widerruflichkeit von Prozesshandlungen KK-StPO/Fischer, Einl. Rn. 405; Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 116; MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 348 f. 136 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 331. 137 Mayer, NStZ 2016, 76 (77) Fn. 15. 138 OLG Brandenburg 23.12.2008 – 1 Ws 242/08, NStZ-RR 2009, 219; OLG Hamm 11.06.2013 – III-5 RVs 32/13, BeckRS 2013, 14643; LR-StPO/GraalmannScheerer, § 37 Rn. 4; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 6; Mayer, NStZ 2016, 76 (77).
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(1) Jugendliche Beschuldigte Auch für einen jugendlichen Beschuldigten ist die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten nicht ausgeschlossen. Dem steht nicht entgegen, dass es sich um eine sog. rechtsgeschäftliche Vollmachtserteilung handelt, zu welcher etwa der Erziehungsberechtigte zustimmen müsste. Die Ladung zur Hauptverhandlung ist an den minderjährigen Angeklagten persönlich zu adressieren; § 170 Abs. 1 ZPO findet keine Anwendung.139 Für den Strafprozess entfällt die Unterscheidung von prozessfähigen und nicht prozessfähigen Personen, sodass jeder, gegen den Anklage erhoben werden kann, im Strafprozess die Stelle des Beschuldigten mit all seinen Rechten und Pflichten übernimmt.140 Entscheidend ist die Verhandlungsfähigkeit, welche gerade unabhängig von der Geschäftsfähigkeit i. S. d. bürgerlichen Rechts zu beurteilen ist.141 Hinsichtlich der Zustellung ist folglich eine Gleichbehandlung von minderjährigen und volljährigen Beschuldigten gegeben. Drohender Jugendarrest gem. § 16 JGG ist hierbei als Zuchtmittel nach § 13 Abs. 2 Nr. 3 JGG keine „Freiheitsstrafe“ i. S. d. §§ 127a, 132 StPO.142 (2) Beschuldigte ohne jeglichen festen Wohnsitz An dieser Stelle ist festzuhalten, dass sämtliche Maßnahmen in diesem Zusammenhang sowohl für Personen mit Wohnsitz im Ausland, als auch für gänzlich wohnsitzlose Beschuldigte Geltung beanspruchen. Dies wird von einer weit verbreiteten Ansicht mit der Begründung in Zweifel gezogen, dass sich der Aufenthalt im Gegensatz zum Wohnsitz, der auf einen bestimmten Ort fixiert sein müsse, auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken könne, sodass eine „wohnsitzlose durch das Staatsgebiet vagabundierende Person […] demnach trotzdem ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik“ habe.143 139 LR-StPO/Graalmann-Scheerer,
(171).
140 LR-StPO/Graalmann-Scheerer,
§ 37 Rn. 14; Schweckendieck, NStZ 1990, 170
§ 37 Rn. 14. 11.01.1983 – 1 StR 788/82, NStZ 1983, 280. 142 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 6; a. A. Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 5. 143 LG Magdeburg 30.01.2007 – 26 Qs 14/07, NStZ 2007, 544; HK-StPO/Posthoff, § 127a Rn. 2; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 3; KMR/Wankel, § 127a Rn. 1; LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 3, § 132 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 2; MüKo-BGB/Schmitt, § 7 Rn. 13; Pfeiffer, § 127a Rn. 1; Radtke/Hohmann/Kretschmer, § 132 Rn. 1; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 2, § 132 Rn. 3. 141 BGH
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Allerdings verlangen die §§ 127a, 132 StPO bereits ihrem Wortlaut nach nicht nur irgendeinen Aufenthalt, sondern eben einen „festen“, d. h. entsprechend § 113 Abs. 2 Nr. 2 StPO einen Ort, an dem der Beschuldigte wenigstens für eine bestimmte Zeit erreichbar ist, was aber für wohnsitzlos quer durch das Bundesgebiet umherziehende Beschuldigte gerade nicht der Fall ist.144 Ebenso ist der Gesetzeszweck der Sicherstellung des Strafverfahrens bei gänzlich wohnsitzlosen Beschuldigten in besonderer Weise betroffen, da anderenfalls i. R. d. § 127a StPO stets die Anordnung der Untersuchungshaft vollzogen oder von der Hauptverhandlungshaft nach § 127b StPO Gebrauch gemacht werden müsste.145 Demgegenüber stellt es ein die Rechte des ortsfremden Beschuldigten schonenderes Mittel dar, diesen in Freiheit zu belassen und lediglich den anfallenden Schriftwechsel über einen Zustellungsbevollmächtigten zu führen.146 Zwar ist es Letzterem mangels bekannter Nachsendeanschrift nicht möglich, die Schriftstücke auf dem Postweg weiterzuleiten, jedoch kann es dem – schließlich von der Untersuchungshaft verschont gebliebenen – Beschuldigten durchaus abverlangt werden, sich eigeninitiativ regelmäßig beim Zustellungsbevollmächtigten zu erkundigen oder diesem bei Gelegenheit eine Weiterleitungsadresse mitzuteilen.147 An dieser Stelle ist ferner anzuführen, dass die (Ersatz-)Zustellung in den Gemeinschaftsbriefkasten einer Obdachlosenunterkunft wegen der dort typischerweise herrschenden hohen Fluktuation sowie dem nicht bestehenden, persönlich zuordenbaren persönlichen Kontaktbriefkasten problembehaftet ist.148 Daher wird in diesen Fällen regelmäßig ein Zustellungsbevollmächtigter (beispielsweise auch der Leiter der Unterkunft) zu bestellen sein. (3) Beschuldigte, welche das Inland (mutmaßlich) bereits wieder verlassen haben oder sonst unbekannten Aufenthalts sind Bisweilen wird bezweifelt, dass eine Anordnung i. S. d. § 132 StPO getroffen werden dürfe, wenn der Beschuldigte sich zum Zeitpunkt derselben be144 LG Dresden 23.01.2015 – 3 Qs 7/15, juris Rn. 10; AnwK-StPO/Walther, § 132 Rn. 1; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 5; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 127a Rn. 1; SSW-StPO/Herrmann, § 127a Rn. 3; Kulhanek, NStZ 2015, 495 Fn. 2; Mayer, NStZ 2016, 76 (80). 145 KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 2; Mayer, NStZ 2016, 76 (80). 146 Kulhanek, NStZ-RR 2016, 249; Mayer, NStZ 2016, 76 (80). 147 Mayer, NStZ 2016, 76 (80). 148 LG Stuttgart 15.02.2017 – 7 Qs 10/17, StV 2018, 78 (79); vgl. aber auch OLG Köln 12.06.2018 – III – 1 RVs 107/18, BeckRS 2018, 13378 Rn. 8: „Gemäß § 178 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO kann in dem Falle, dass der Zustellungsempfänger in einer Gemeinschaftseinrichtung wohnt, dort aber nicht angetroffen wird, dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter zugestellt werden.“
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reits wieder im Ausland aufhält oder unbekannten Aufenthalts ist.149 Ziel des § 132 StPO sei es, ein etwaig bestehendes Vollstreckungsproblem sowie Beschwernisse bei der Zustellung von Gerichtspost dadurch zu lösen, dass dem Ortsfremden noch vor Verlassen der BRD aufgegeben werde, eine Sicherheit in Höhe der schätzungsweise zu erwartenden Geldstrafe inklusive Verfahrenskosten zu leisten sowie eine im zuständigen Gerichtsbezirk wohnende und zur Entgegennahme von Zustellungen bereite Person zu benennen.150 Dem ist mit Recht entgegengetreten worden, wobei sich eine Ansicht für eine generelle Zulässigkeit der Anordnung auch gegen einen abwesenden Beschuldigten ausspricht,151 während eine vermittelnde Auffassung verlangt, dass in absehbarer Zeit mit der Wiedereinreise in das Bundesgebiet und einer Umsetzung des Beschlusses zu rechnen ist.152 Sowohl die Anordnung einer Sicherheitsleistung als auch die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten sind zur Förderung des Verfahrensgangs bestimmt und geeignet.153 Der Wortlaut des § 132 StPO enthält keine Anhaltspunkte für eine Auslegung dergestalt, dass sich die Vorschrift nur auf Beschuldigte bezöge, denen man aktuell im Inland habhaft ist.154 Auch systematische Bedenken greifen nicht. Ebenso wie ein Haftbefehl gem. § 112 StPO für den Ergreifensfall ergeht, besteht die Anordnung i. S. d. § 132 StPO für die Situation des Antreffens des Beschuldigten durch die Polizei.155 An dieser Stelle ist differenzierend allerdings anzuführen, dass § 115 Abs. 1 StPO die unverzügliche Vorführung vor den zuständigen Richter anordnet, während eine vergleichbare Norm, welche die Prüfung des Fortbestands der Anordnung sicherstellt, für Sicherheitsleistung und Zustellungsbevollmächtigung nicht existiert. Dem kann jedoch mit einem Hinweis auf die ersichtlich 149 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; MeyerGoßner/Schmitt, § 132 Rn. 1; Pfeiffer, § 132 Rn. 1; Radtke/Hohmann/Kretschmer, § 132 Rn. 1; Jakoby, StV 1993, 448. 150 Jakoby, StV 1993, 448 (449). 151 KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 1; KMR/Wankel, § 132 Rn. 2; Mayer, NStZ 2016, 76 (80); Müllenbach, NStZ 2001, 637. 152 LG Hamburg 14.03.2005 – 622 Qs 8/05, NStZ 2006, 719 (720); LG Dresden 23.01.2015 – 3 Qs 7/15, juris Rn. 10; BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 3; HK-StPO/ Ahlbrecht, § 132 Rn. 1; LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 1; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 2; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 7. 153 Müllenbach, NStZ 2001, 637 (637 f.); zu einer Einbeziehung in das Anwendungsgebiet der Europäischen Überwachungsanordnung Morgenstern, ZIS 2014, 216 (232). 154 LG Hamburg 14.03.2005 – 622 Qs 8/05, NStZ 2006, 719 (720); LG Dresden 23.01.2015 – 3 Qs 7/15, juris Rn. 10; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 1; KMR/Wankel, § 132 Rn. 2; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 7; Müllenbach, NStZ 2001, 637 (638). 155 Müllenbach, NStZ 2001, 637 (638).
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unterschiedliche Bedeutung des Rechtsgütereingriffs bei einem Untersuchungshaftbefehl einerseits und einer Sicherheitsleistungsanordnung andererseits begegnet werden. Abgesehen von der in § 132 Abs. 3 StPO vorgesehenen Beschlagnahme bestehen keine weiteren Mittel zur Erzwingung der Sicherheitsleistung oder einer Zustellungsbevollmächtigung.156 Diese Anordnung der Beschlagnahme nach § 132 Abs. 3 StPO erfordert indes tatsächlich einen anwesenden Beschuldigten, wie sich bereits aus dem Wortlaut „Beförderungsmittel und andere Sachen, die der Beschuldigte mit sich führt“, ergibt.157 Im Übrigen ist die (letztlich auch rechtsstaatliche) Qualität einer vom zuständigen Richter im Büroweg getroffenen Entscheidung einer etwaigen Eilentscheidung bei fahndungsbezogenem Antreffen „im Grenzbahnhof“ überlegen.158 Die von der vermittelnden Ansicht gemachte Einschränkung auf Fälle, in denen aufgrund konkreter Anhaltspunkte mit einer baldigen Wiedereinreise zu rechnen ist, gebieten folglich weder Wortlaut, Systematik noch das Telos der Norm.159 Zutreffend weist Müllenbach darauf hin, dass für die Bestimmung der Höhe einer Sicherheitsleistung „die Kenntnis des konkreten Tatvorwurfs, eine möglichst zutreffende Subsumtion und eine möglichst präzise Prognose hinsichtlich der zu erwartenden Rechtsfolge“160 vonnöten sind. Soweit nun von der negierenden Ansicht angeführt wird, dass eine richterliche Anordnung gem. § 132 Abs. 2 StPO bei unbekanntem Aufenthalt des Beschuldigten bereits daran scheitern müsse, dass diese gem. § 33 Abs. 3 StPO erst nach vorherigem rechtlichen Gehör des Beschuldigten ergehen dürfe,161 kann dem nicht gefolgt werden. Ist der Beschuldigte unbekannten Aufenthalts, so ist eine analoge Anwendung des § 33 Abs. 4 StPO geboten.162 Ist der ausländische Aufenthalt indes bekannt, bedarf es – gegebenenfalls im Wege der Rechtshilfe – der Gewährung rechtlichen Gehörs, bevor eine Anordnung gem. § 132 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 StPO ergeht.163
§ 132 Rn. 10; Jakoby, StV 1993, 448 (449). § 132 Rn. 7. 158 Müllenbach, NStZ 2001, 637 (638); ebenso Mayer, NStZ 2016, 76 (80). 159 KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 1; KMR/Wankel, § 132 Rn. 2; Mayer, NStZ 2016, 76 (80); Müllenbach, NStZ 2001, 637. 160 Müllenbach, NStZ 2001, 637 (639). 161 Jakoby, StV 1993, 448 (450). 162 LG Hamburg 14.03.2005 – 622 Qs 8/05, NStZ 2006, 719 (720); KK-StPO/ Maul, § 33 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 33 Rn. 17; Müllenbach, NStZ 2001, 637 (639). 163 KMR/Wankel, § 132 Rn. 2; Müllenbach, NStZ 2001, 637 (639). 156 KK-StPO/Schultheis, 157 SSW-StPO/Satzger,
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
(4) Formerfordernisse Die Zustellungsvollmacht ist aus Gründen der Klarheit und Beweissicherheit schriftlich zu erteilen, zu den Akten zu nehmen und hat die Unterschrift des Beschuldigten zu enthalten.164 Fraglich ist, inwieweit sie sich – abgesehen von der klaren Regelung des § 145a Abs. 1, Abs. 2 StPO – zum Zeitpunkt der Zustellung tatsächlich bei den Akten befinden muss oder auch später nachgewiesen werden kann. § 145a StPO findet infolge seiner auf das Verhältnis Anwalt/Mandant zugeschnittenen Sonderregelung keine entsprechende Anwendung. Es ist damit unschädlich, wenn das die Zustellungsvollmacht enthaltende Schriftstück mit der Unterschrift des Beschuldigten erst nachträglich zu den Gerichtsakten gelangt.165 Vor der Anordnung der Benennung einer Zustellungsvollmacht ist dem Beschuldigten grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren.166 Schließlich kann eine entsprechende Anhörung auch telefonisch167 oder vermittelt durch die vor Ort befindlichen Polizeibeamten erfolgen.168 Im Übrigen ist der Beschuldigte hinreichend zu belehren, um sicherzugehen, dass er Art und Umfang einer strafprozessualen Zustellungsvollmacht verstanden hat. Indem Polizeibeamte im Umgang mit (sprach- und ortsfremden) Beschuldigten erfahren und geschult sind, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass im Rahmen des vor Ort bestehenden, subjektiven Eindrucks etwaige Zweifel durch die Polizei ausgeräumt oder dokumentiert werden würden.169 164 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 8; Pfeiffer, § 127a Rn. 4; Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498); Mayer, NStZ 2016, 76 (77); abweichend OLG Saarbrücken 20.04.2016 – 1 Ws 40/16, NStZ-RR 2016, 218, das wohl unter bestimmten Umständen sogar eine mündliche Bevollmächtigung zulassen will. 165 BGH 15.01.2008 – 3 StR 450/07, StraFo 2010, 339; BayObLG 30.08.1988 – RReg. 2 St 183/88, BayObLGSt 1988, 134 (135); LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 6; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 42; Schnarr, NStZ 1997, 15 (17); a. A. Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 8. 166 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; AG Kehl 23.10.2015 – 3 Cs 206 Js 1716/15, NStZ-RR 2016, 17 (18); LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 11. 167 AG Kehl 23.10.2015 – 3 Cs 206 Js 1716/15, NStZ-RR 2016, 17 (18); AG Kehl 04.11.2015 – 2 Cs 308 Js 20828/14, BeckRS 2015, 18555; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 10; Seifert, StV 2018, 123 (125); vgl. allg. BVerfG 18.01.1994 – 2 BvR 1912/93, NStZ 1994, 246; ablehnend Wiesneth, DRiZ 2010, 46 (51). 168 LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 116/15, BeckRS 2016, 12862; Seifert, StV 2018, 123 (125). 169 LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht123
In der Praxis ist dabei häufig zu beobachten, dass ein Beschuldigter einen Zustellungsbevollmächtigten benennt und zugleich von seinem Schweigerecht Gebrauch macht. Zudem wird durchaus zahlreich die Unterschriftsleistung auf der Zustellungsvollmacht verweigert. Bereits hierin zeigt sich, dass die getätigten Belehrungen durch die Polizei typischerweise ausreichend sind, verstanden werden und die Beschuldigten auch in die Lage versetzen, ihre Rechte entsprechend autonom wahrzunehmen.170 Bei nicht der deutschen Sprache mächtigen Beschuldigten bedarf die Zustellungsvollmacht der Übersetzung,171 wobei nicht erforderlich ist, dass die Unterschrift auf einer übersetzten Fassung erfolgt, falls – bspw. durch eine Erläuterung in einer dem Beschuldigten geläufigen Sprache – sichergestellt ist, dass das Institut der Zustellungsbevollmächtigung verstanden wurde.172 Umgekehrt ist es nicht geboten, dass die Zustellungsvollmacht in deutscher Sprache erteilt wird, wenn § 184 GVG durch Beifügung einer Übersetzung Genüge getan wird.173 bb) Person des Zustellungsbevollmächtigten Als Zustellungsbevollmächtigter kommt grundsätzlich jede verhandlungsfähige, hinreichend bestimmbare natürliche Person in Betracht.174 Eine pauschale Bevollmächtigung mehrerer Personen oder einer juristischen Person ist nicht statthaft, vielmehr bedarf es der Bezeichnung eines bestimmten Bevollmächtigten, wenn auch dessen exakte namentliche Benennung nicht zwingend erforderlich ist.175 170 In diese Richtung auch LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864. 171 KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; Kulhanek, JR 2016, 208 (212). 172 Kulhanek, JR 2016, 208 (212); weitergehend LG Nürnberg-Fürth 14.10.2015 – 7 Qs 21/15 (unveröffentlicht): Beschuldigter könne sich „nicht darauf zurückziehen, dass ihm Wissen und Wollen zur Unterzeichnung [fehlten], weil das Formular nicht übersetzt war“, da seine Unkenntnis „dann nämlich nicht unbewusst sondern bewusst“ sei. 173 Kissel/Mayer, § 184 Rn. 5; Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); a. A. AG Zittau 07.01.2002 – 1 Cs 926 Js 15964/94, NStZ 2002, 498; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 62. 174 OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 6; Mayer, NStZ 2016, 76 (77 f.). 175 OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (372 f.): „Die wirksame Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten setzt voraus, dass ein bestimmter Bevollmächtigter genannt wird. Diesem Erfordernis wird nicht entsprochen, wenn nur allgemein der „zuständige Geschäftsstellenbeamte“ bevollmächtigt wird. […] Eine ausreichende Bestimmbarkeit kann anzunehmen sein, wenn sich aus dem Geschäftsverteilungsplan eines Gerichts ergibt, welcher namentlich aufgeführte Be-
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
(1) Angehörige der Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden und der Justiz als Zustellungsbevollmächtigte Nr. 60 Satz 2 RiStBV regelt für die verfahrenssichernden Zustellungsvollmachten nach §§ 127a, 132 StPO explizit, im Übrigen aber ganz allgemein (die Nennung der §§ 127a, 132 StPO erklärt sich vornehmlich dadurch, dass Nr. 60 Satz 1 RiStBV auf die Bemessung der Sicherheitsleistung abstellt, welche nur bei diesen Vorschriften von Belang ist), dass vorrangig ein Zustellungsbevollmächtigter nach Wahl des Beschuldigten zu benennen ist. Erst wenn dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt, ist der Beschuldigte auf die Möglichkeit hinzuweisen, (mangels umgehender Hinzuziehung typischerweise eher theoretisch)176 einen Rechtsanwalt oder einen (generell) bereiten Beamten der Geschäftsstelle des zuständigen Amtsgerichts zu benennen. Die Amtsgerichte haben hierbei im Geschäftsverteilungsplan gewöhnlich einen Geschäftsstellenbeamten als zur Verfügung stehenden Zustellungsbevollmächtigten ausgewiesen, welcher auf den genutzten Formblättern teilweise bereits vorgetragen ist.177 Trotz der grundsätzlichen „Höchstpersönlichkeit“ der strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigung soll die namentliche Nennung eines konkreten Beamten auch durch eine neutrale Formulierung wie „der nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständige Geschäftsstellenbeamte des AG …“ ersetzt werden können, wenn dieser wiederum aus dem Geschäftsverteilungsplan namentlich ersichtlich ist.178 Dabei ist jedoch erforderlich, dass der konkrete Zustellungsbevollmächtigte angesichts der einschneidenden Folgen, welche etwaige Fristversäumnisse oder ein Nichterscheinen im Termin nach sich ziehen, für den Beschuldigten ohne größere Mühen erkennbar/ermittelbar ist.179 dienstete der i. S. von Nr. 60 I 2 RiStBV zur Entgegennahme von Zustellungen bereite Beamte ist“; BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 8; MüKo-StPO/Böhm, § 116a Rn. 27; Mayer, NStZ 2016, 76 (78); a. A. LG Trier 22.01.1980 – I Qs 381/79, DAR 1980, 280; AG Zittau 07.01.2002 – 1 Cs 926 Js 15964/94, NStZ 2002, 498: namentliche Benennung des Zustellungsbevollmächtigten zwingend; wiederum a. A. OLG Köln 26.05.2008 – 2 Ws 249/08, NStZ-RR 2008, 379: „In der gegenüber einer Suchtberatungsstelle abgegebenen „Einverständniserklärung“, mit der bestätigt wird, dass die Post an die Einrichtung geschickt werden soll, kann eine Bevollmächtigung der in der Einrichtung tätigen Personen zur Entgegennahme von Zustellungen liegen“. 176 BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 7. 177 BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 8. 178 LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (372 f.); BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12; BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 8; SSW-StPO/Herrmann, § 116a Rn. 24; Mayer, NStZ 2016, 76 (78); a. A. LG Trier 22.01.1980 – I Qs 381/79, DAR 1980, 280; AG Zittau 07.01.2002 – 1 Cs 926 Js 15964/94, NStZ 2002, 498. 179 OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht125
Hierbei können für den Beschuldigten vielfältige Gründe gegen die Auswahl eines „eigenen“ Zustellungsbevollmächtigten sprechen.180 Insbesondere sind hier Sprach- und Ortsfremdheit zu nennen. Infolgedessen wird tatsächlich häufig der Geschäftsstellenbeamte des zuständigen Amtsgerichts benannt, teilweise aber auch Angehörige der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, namentlich der Polizei. Dies führt zu der Frage, ob diese Praxis der Systematik sowie dem Sinn und Zweck des Instituts der Zustellungsbevollmächtigung zur Verfahrensfortführung widerspricht. Diesbezüglich wird in einer Entscheidung des LG Berlin ausgeführt, dass „Zustellungsbevollmächtigter […] nur eine solche – natürliche […] – Person sein [könne], die außerhalb der Sphäre der Ermittlungsbehörden steht“, was sich unter anderem aus der Regelung in Nr. 60 RiStBV ergebe.181 Der Wortlaut der §§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 3, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO ist insoweit offen und lässt eine Bevollmächtigung von Personen der Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden und Justiz zu.182 Aus den Gesetzgebungsmaterialien183 ergibt sich ebenso keine Einschränkung.184 Sinn und Zweck des Instituts der Zustellungsbevollmächtigung sind die Sicherstellung des Verfahrensfortgangs und damit mittelbar die Stärkung der Wirkkraft der Strafverfolgung sowie die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Vermeidung von Haft respektive bei Nichtvorliegen der Haftvoraussetzungen.185 Soweit eine Person jedenfalls prima facie hinreichende Gewähr dafür bietet, dass an sie im Inland Schriftstücke für den Beschuldigten zugestellt werden können und (falls eine Weiterleitungsadresse bekannt ist) auch eine entsprechende Weiterleitung erfolgt, erfüllt sich das Telos dieses Instituts. Gegen Bedienstete der Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden und der Justiz als Zustellungsbevollmächtigte kann letztlich nur eingewandt werden, dass eine Person aus „diesem Lager/dieser Sphäre“186 nicht kompatibel mit den Anforderungen an einen Zustellungsbevollmächtigten insbesondere im Hinblick auf die damit einhergehende Pflichtenstellung sei. § 181 BGB (Unzulässigkeit von Insichgeschäften) lässt sich an dieser Stelle schon deshalb nicht zielführend vorbringen, weil die Inempfangnahme 180 Weiß,
NStZ 2012, 305. Berlin 03.11.2011 – 526 Qs 22/11, NStZ 2012, 334 (334 f.); zust. KKStPO/Maul, § 37 Rn. 9. 182 LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 44; Weiß, NStZ 2012, 305 (306). 183 Vgl. Bericht des Abgeordneten Hirsch zu BT-Drs. V/2600, V/2601 S. 17 f. 184 LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; Weiß, NStZ 2012, 305 (306). 185 Kulhanek, NStZ-RR 2016, 249. 186 LG Berlin 03.11.2011 – 526 Qs 22/11, NStZ 2012, 334. 181 LG
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
des zuzustellenden Schriftstücks kein Rechtsgeschäft darstellt, welches der Bevollmächtigte mit sich selbst vornimmt, solange es sich nicht um denjenigen Geschäftsstellenbeamten handelt, welcher gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 StPO die Zustellung auf Anordnung des Vorsitzenden zu bewirken hat.187 Doch selbst in diesem Fall besteht jedenfalls nach dem Rechtsgedanken des § 181 BGB eine wirksame Zustellung. Ziel des § 181 BGB ist die Regelung von typischerweise bestehenden Interessenkollisionen bei Insichgeschäften („indizierter Interessenkonflikt“).188 Hierbei wäre nun jedoch der in Rede stehende Geschäftsstellenbeamte zur Inempfangnahme und Weiterleitung genauso befähigt, (die Erklärung eines entsprechenden Einverständnisses unterstellt) bereit und vom Beschuldigten ja auch explizit in dem Bewusstsein, dass letztlich ein Gericht entscheidet und diese Entscheidung sodann zustellt, ermächtigt.189 Dass demgegenüber abstrakt die Gefahr bestünde, dass ein Zustellungsbevollmächtigter die Interessen des Beschuldigten nicht in gleichem Maße beachten würde, wenn er selbst den Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden oder der Justiz angehört,190 ist nicht ersichtlich,191 ein Interessenkonflikt i. S. d. § 181 BGB folglich gar nicht gegeben. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte sind zu Objektivität wie Neutralität verpflichtet und folglich gerade keine „Gegner“ des Beschuldigten.192 Die Tatsache der Inempfangnahme und der Weiterleitung sind aktenkundig zu machen. Ein dahingehendes Misstrauen ohne weitere Anhaltspunkte ist nicht veranlasst.193 Anderes gilt etwa für den durch die Tat unmittelbar in einem Rechtsgut Verletzten sowie dessen Angehörige.194 Zwar ließe sich hier ebenso einwenden, 187 LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; Weiß, NStZ 2012, 305 (307); a. A. LG Berlin 03.11.2011 – 526 Qs 22/11, NStZ 2012, 334 (335); vgl. zu § 123 AO einerseits mit gewissen Bedenken FG München 08.01.2010 – 14 K 1298/08, BeckRS 2010, 26029479; andererseits BFH 25.04.2000 – VII B 174/99, BeckRS 2000, 25004788. 188 MüKo-BGB/Schubert, § 181 Rn. 2 ff. 189 Gestattung als einseitiges Rechtsgeschäft, vgl. hierzu allgemein MüKo-BGB/ Schubert, § 181 Rn. 65 ff. 190 LG Berlin 03.11.2011 – 526 Qs 22/11, NStZ 2012, 334 (335): „Dies lässt besorgen, dass der Bevollmächtigte nicht in gehörigem Ausmaße die Interessen der Beschuldigten gegenüber der Steuerstrafverfolgungsbehörde – der er selbst angehört – verfolgt.“ 191 LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 44; Mayer, NStZ 2016, 76 (77). 192 LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; Weiß, NStZ 2012, 305 (307). 193 Ähnlich Weiß, NStZ 2012, 305 (308). 194 OLG Hamburg 29.01.1964 – 1 Ws 38/64, NJW 1964, 678; LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12; KK-StPO/Maul, § 37 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 9; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 9; Weiß, NStZ 2012, 305 (307).
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dass der Beschuldigte diese Person letztlich freiwillig in Kenntnis ihrer Stellung als Verletzte/Gegnerin benannt hätte. Jedoch besteht hier ersichtlich ein Interessenwiderstreit, vor welchem letztlich sowohl der Beschuldigte, der Verletzte als auch der Rechtsfrieden zu schützen sind. Angehörige der Ermittlungs-, Strafverfolgungsbehörden und der Justiz sind damit taugliche Zustellungsbevollmächtigte und grundsätzlich nicht qua Amt von dieser Position ausgeschlossen.195 (2) Im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person Sämtlichen Gesetzesnormen zur verfahrenssichernden Zustellungsvollmacht (§§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) ist gemein, dass sie die Bevollmächtigung einer „im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende[n] Person“ vorsehen. Während nun eine Ansicht diese Wortlautvorgabe als unumstößlich ansieht,196 lässt die zutreffende h. M. den Behörden die Freiheit, auch einen Zustellungsbevollmächtigten außerhalb des Bezirks zu akzeptieren.197 Dies überzeugt deshalb, weil es etwaige Probleme bei späteren Zuständigkeitswechseln vermeidet,198 und zudem den Vorzügen der Benennung eines möglicherweise dem Beschuldigten bekannten Zustellungsbevollmächtigten entgegenkommt. (3) Einverständnis des Zustellungsbevollmächtigten Abgesehen von der gesetzlichen Zustellungsvollmacht des § 145a Abs. 1 StPO, welche gerade unabhängig vom Willen der Beteiligten ist, bedarf es in den übrigen Fällen einer – nachgewiesenen – Einverständniserklärung des 195 BayObLG 30.08.1988 – RReg. 2 St 183/88, BayObLGSt 1988, 134; BeckOKStPO/Krauß, § 127a Rn. 5; HK-StPO/Posthoff, § 127a Rn. 6; KMR/Wankel, § 127a Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 7, § 132 Rn. 9; SSW-StPO/Mosbacher/ Claus, § 37 Rn. 43 f.; differenzierend LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 10: „Die Benennung eines mit der Strafverfolgung gegen den Beschuldigten befassten Beamten als Bevollmächtigten dürfte in der Regel nicht sachgerecht sein“; ebenso KK-StPO/ Schultheis, § 127a Rn. 6; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 9 Fn. 32; Greßmann, NStZ 1991, 216 (217). 196 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12; HK-StPO/Posthoff, § 127a Rn. 6; MeyerGoßner/Schmitt, § 127a Rn. 7; Büttner, DRiZ 2007, 188 (189). 197 OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (374); AnwKStPO/Lammer, § 127a Rn. 5; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; KMR/Wankel, § 116a Rn. 3; LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 10; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 9; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 9; Pfeiffer, § 116a Rn. 2; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 6; SSW-StPO/Herrmann, § 116a Rn. 24; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1754); Greßmann, NStZ 1991, 216 (217). 198 Mayer, NStZ 2016, 76 (81).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Zustellungsbevollmächtigten.199 Schließlich gehen mit der Bevollmächtigung auch für ihn Pflichten einher. Dieses Einverständnis kann formlos erklärt werden, ist jedoch aus Gründen der Klarstellung und der Beweissicherheit aktenkundig zu machen.200 Bei behördlichen Zustellungsbevollmächtigten, zu deren definiertem Aufgabenbereich die Inempfangnahme solcher Schriftstücke gehört (Nr. 60 Satz 2 RiStBV), spricht eine widerlegbare Vermutung für ein bestehendes generelles Einverständnis.201 Zum Teil wird vertreten, eine tatsächlich ordnungsgemäße Abwicklung der Zustellung könne ebenfalls eine solche Zustimmung belegen.202 Letzterem ist indes nicht zuzustimmen. Durch eine (möglicherweise zufällige) einmalige Weiterleitung eines zuzustellenden Schriftstücks lässt sich keine Einverständnisfiktion konstruieren. Zudem stellt sich insoweit das Problem, wie die genannte Ordnungsgemäßheit der Abwicklung aktenkundig gemacht werden sollte. Wenn eine Weiterleitung nachweislich tatsächlich funktionierte, kann für diesen einen Fall jedoch auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntniserlangung abgestellt werden. (4) Untervollmacht und Verhinderung des Zustellungsbevollmächtigten Der Wahlverteidiger kann – im Gegensatz zum Pflichtverteidiger – eine Untervollmacht ausstellen.203 Dies betrifft indes insbesondere § 145a Abs. 1 StPO, für § 145a Abs. 2 StPO scheint eine pauschale Zulässigkeit der Untervollmacht der herausgehobenen Stellung einer bei den Akten befindlichen Ladungsvollmacht bereits zu widersprechen. Für den Fall einer verfahrenssichernden und rein rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht besteht die Möglichkeit für den Vollmachtgeber, dem Zustellungsbevollmächtigten in der Zustellungsvollmacht eine entsprechende Befugnis zur Unterbevollmächtigung zu erteilen. Insoweit ist hervorzuheben, dass in der Praxis Vordrucke bestehen, die ein solches Feld explizit vorsehen. Im Übrigen ist das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht als dreiteiliges Pflichtenverhält199 LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (373); KKStPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; KMR/Wankel, § 127a Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 8; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127a Rn. 9; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 6; SSW-StPO/Herrmann, § 116a Rn. 25; Geppert, GA 1979, 281 (295); Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); Mayer, NStZ 2016, 76 (77); Schnarr, NStZ 1997, 15 (17). 200 OLG Karlsruhe 11.01.2007 – 1 Ws 274/06, StV 2007, 571; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; Mayer, NStZ 2016, 76 (77). 201 Vgl. auch LG Landshut 20.08.2013 – 6 Qs 86/13, BeckRS 2013, 15197; BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 8; Büttner, DRiZ 2007, 188 (190). 202 Mayer, NStZ 2016, 76 (77) unter Verweis auf LG Freiburg 09.05.2014 – 2 Qs 111/13 (unveröffentlicht). 203 LR-StPO/Lüderssen/Jahn, § 145a Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 137 Rn. 11.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht129
nis in den Blick zu nehmen. Die Person des Zustellungsbevollmächtigten fungiert als Vertrauensperson für den Beschuldigten. Mit dieser Intention ist eine generelle Berechtigung zur Unterbevollmächtigung, ohne eine diesbezügliche Befugniserteilung in der Willenserklärung der Zustellungsvollmacht selbst, nicht vereinbar.204 Für den Fall der Nr. 60 Satz 2 RiStBV, dass schlicht der – dem Beschuldigten unbekannte – nach dem Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts (am Sitz der ausschreibenden Staatsanwaltschaft) zuständige Geschäftsstellenbeamte bevollmächtigt wird, ergibt sich ein Problem, wenn dieser verhindert ist. Dies kann infolge Krankheit, Ruhestand, Tod oder beruflichem Wechsel geschehen. Die Erteilung einer Generaluntervollmacht ist aus soeben genannten Erwägungen problematisch. Jedoch muss der zuständige Geschäftsstellenbeamte nach h. M. nicht namentlich benannt werden.205 Ist ersichtlich, dass lediglich nach Nr. 60 Satz 2 RiStBV agiert wurde, ist eine Auslegung dergestalt zulässig, dass es sich stets um den konkret im Zeitpunkt der vorzunehmenden Zustellung zuständigen, aus dem geltenden Geschäftsverteilungsplan namentlich hervorgehenden Geschäftsstellenbeamten handelt.206 Das der Zustellungsvollmacht zugrunde liegende Vertrauensverhältnis ist nicht tangiert und die Nachfragemöglichkeit beim Zustellungsbevollmächtigten wird gewahrt. Bei allen anderen Zustellungsbevollmächtigten ist im Falle einer dauerhaften Verhinderung dagegen eine Neubenennung/ Neuausschreibung erforderlich.
204 A. A. tendenziell BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12: „jedenfalls erteilt der bezeichnete Zustellungsempfänger stillschweigend eine Untervollmacht analog § 167 BGB an seine Vertreter oder Nachfolger im Amte.“ 205 OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (372 f.); BeckOK-StPO/Bosch, Nr. 60 RiStBV Rn. 8; MüKo-StPO/Böhm, § 116a Rn. 27; Mayer, NStZ 2016, 76 (78); a. A. LG Trier 22.01.1980 – I Qs 381/79, DAR 1980, 280; AG Zittau 07.01.2002 – 1 Cs 926 Js 15964/94, NStZ 2002, 498. 206 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 12; a. A. AG Ludwigshafen 09.06.2010 – 5489 Js 10962/10 4c OWi, SVR 2010, 277 (278): „Die Wirksamkeit der Bevollmächtigung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass Petra H. im Rahmen ihrer Tätigkeit bei dem Polizeipräsidium Rh. die Krankheitsvertreterin von Gabriele B. war. Die Bevollmächtigung des Betroffenen mit Erklärung vom 5.12.2009 beschränkte sich ausschließlich und unmissverständlich auf Gabriele B. als natürliche Person“; KKStPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; MAH Strafverteidigung/Pfaff/Otto-Hanschmann, § 34 Rn. 89.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
cc) Straferwartungsprognose, Richtervorbehalt, Gefahr im Verzug und isolierte Anordnungskompetenz Weil für die §§ 127a, 132 StPO allein eine Geldstrafe als Hauptstrafe zu gewärtigen sein darf, eine daneben zu erwartende Freiheitsstrafe die Anwendung dagegen ausschließt, ergeben sich Friktionen hinsichtlich Beschuldigten, bei denen beispielsweise aufgrund der Vorbelastung eine Bewährungsstrafe oder eine kurze Freiheitsstrafe in Betracht kommen und trotzdem wegen der Bedeutung der Tat in Abwägung mit dem Freiheitsgrundrecht des Einzelnen unter dem Blickwinkel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Anordnung von Untersuchungshaft unverhältnismäßig erscheint.207 Im gleichen Zusammenhang wird diskutiert, wie detailliert die Straferwartungsprognose auszufallen hat, wie mit nachträglichen Neuerkenntnissen umzugehen ist und welche Auswirkungen eine retrospektiv festgestellte Fehleinschätzung hat. (1) Verfahrenssichernde Zustellungsvollmachten Der Vollzug von Untersuchungshaft stellt bereits angesichts der Unschuldsvermutung kein Druckmittel der Strafverfolgungsbehörden dar.208 Den Tatverdacht oder die Fluchtgefahr betreffende Umstände, die bereits bei Aussetzung eines Haftbefehls bekannt waren, können beispielsweise nicht als „neu hervorgetreten“ i. S. v. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO angesehen werden.209 Im Fall des in Rede stehenden § 127a StPO liegt die (konkludente) Androhung der Inhaftnahme in der Natur der Sache, da gerade allein Sicherheitsleistung und Zustellungsbevollmächtigung die Fluchtgefahr beseitigen. Im Rahmen des § 132 StPO ist die Drohung mit Untersuchungshaft unzulässig, denn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 132 StPO bedingen gerade das Nichtvorliegen der Haftbefehlsvoraussetzungen. Kommen die Strafverfolgungsbehörden jedoch zu dem Ergebnis, dass keine Fluchtgefahr vorliegt oder die Untersuchungshaft angesichts des Tatvorwurfs unverhältnismäßig wäre, ändern die Nichtleistung einer Sicherheit und/oder die Nichtbenennung eines Zustellungsbevollmächtigten nichts an dieser grundsätzlichen Beurteilung. Diese Auslegung ist unabhängig davon zu sehen, dass die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten durchaus die Verhältnismäßigkeit eines Haftbefehls (Stichwort milderes Mittel) betreffen kann. Gleichwohl: Liegen für sich genommen die Voraussetzungen eines Haftbefehls vor, ist § 127a StPO die zu207 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (495 f.); vgl. zu dieser Problematik ähnlich bereits Seetzen, NJW 1973, 2001 (2002). 208 Kudlich, JuS 2005, 475 (476). 209 BGH 16.09.2004 – 4 StR 84/04, NStZ 2005, 279 (280).
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treffende Rechtsgrundlage; inwieweit die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten Fluchtgefahr und/oder Verhältnismäßigkeit beseitigt, ist sodann zu beurteilen. Wird sich auf § 132 StPO als Rechtsgrundlage gestützt, geht damit einher, dass bereits ohne Sicherheitsleistung und ohne Zustellungsvollmacht die Voraussetzungen eines Haftbefehls negiert wurden. (a) Prognoseprüfung i. R.v. § 127a StPO § 127a StPO findet seinem eindeutigen Wortlaut nach nur bei zu erwartenden Geldstrafen Anwendung, sodass typischerweise mit einem Strafbefehl agiert wird. Dessen ungeachtet muss eine Anklageerhebung über einen Zustellungsbevollmächtigten, dessen Benennung nach § 127a Abs. 2 i. V. m. § 116a Abs. 3 StPO angeordnet wurde, nicht per se unwirksam sein. Zunächst ist zu betonen, dass die Frage Freiheitsstrafe Ja oder Nein dogmatisch nicht den allein maßgeblichen Gesichtspunkt für die Entscheidung Strafbefehl vs. Anklage darstellt.210 Ferner enthält die Anordnung ausweislich § 127a Abs. 1 Nr. 1 StPO („nicht damit zu rechnen ist“) ein prognostisches Element, welches einen gewissen Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft eröffnet und das vom Richter nicht ohne entsprechende Berücksichtigung desselben zurückblickend schlicht durch seine eigene ex-post-Beurteilung ersetzt werden darf.211 Stellt sich nachträglich, beispielsweise durch die Ermittlung zunächst unerkannter Vorstrafen und/oder sonstiger strafzumessungsrelevanter Tatsachen, heraus, dass allein eine Freiheitsstrafe Tat und Schuld angemessen ist, so beeinträchtigt dies nicht die ex-ante vorgenommene Strafprognose. Allerdings dürfen auf diese Weise weder der Wortlaut noch die entsprechende Anforderung umgangen werden, was eine sorgfältige Einzelfallprüfung erforderlich macht.212 Ferner ergibt sich i. R.v. § 127a StPO das Problem der Inzidentprüfung der Haftbefehlsvoraussetzungen. So sind vor Anordnung sowohl der dringende Tatverdacht als auch Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit jeweils zu erörtern und zu bejahen. Diese Subsumtion, welche eigentlich dem Richter zugewiesen ist, wird i. R. d. § 127a StPO der Staatsanwaltschaft bzw. gar deren Ermittlungspersonen zugestanden. Hierin ist ein gewisser systematischer Widerspruch – ebenfalls zu § 132 StPO – zu sehen, der jedoch vom Gesetz so vorgegeben ist. Ein Rechtsmittel gegen eine Anordnung nach § 127a StPO ist nicht vorgesehen, aber auch nicht erforderlich, da der Beschuldigte jeder210 HdbStA/Eschelbach, 4. Teil Rn. 177; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 9: „Der Strafbefehl oder, falls eine Hauptverhandlung stattfindet, die Ladung, wird dem Zustellungsbevollmächtigten zugestellt“. 211 Kulhanek, NStZ 2015, 495. 212 Kulhanek, NStZ 2015, 495.
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zeit die Möglichkeit hat, sich durch Weigerung gem. § 115 StPO dem Richter vorführen zu lassen und dessen Entscheidung herbeizuführen.213 (b) Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO Anders als § 127a StPO nennt § 132 Abs. 2 StPO ganz klar die primäre Anordnungskompetenz des Richters. Die Befugnis richtet sich an den für den Tatort zuständigen Amtsrichter, alternativ jedoch auch an den Richter bei dem Amtsgericht, in dessen Bezirk der Beschuldigte sich befindet.214 Vereinzelt erheben sich Stimmen, welche – u. a. aus Gründen der effizienten Ressourcenverwaltung – eine Abschaffung des Richtervorbehalts in § 132 Abs. 2 StPO fordern.215 Andere befürworten dagegen ausdrücklich, dass der Richtervorbehalt in § 132 Abs. 2 StPO für die Anordnung einer Sicherheitsleistung im Rahmen aktueller strafprozessualer Reformüberlegungen nicht angetastet wurde.216 Ein in der täglichen Praxis gegebenenfalls fehlender tatsächlicher Vollzug des Richtervorbehalts dürfe nicht dazu führen, dessen Abschaffung zu diskutieren, sondern müsse vielmehr zu Überlegungen lenken, wie dem Richtervorbehalt bessere Geltung verschafft werden könne.217 (c) Gefahr im Verzug i. S. d. § 132 Abs. 2 StPO „Gefahr im Verzug“ als klassischer Rechtsterminus liegt grundsätzlich dann vor, wenn das mit der vorherigen Einholung einer – nicht an eine bestimmte Form gebundenen – richterlichen Anordnung verbundene Zuwarten den Erfolg der Ermittlungsmaßnahme ernstlich gefährden würde.218 Hierbei ist herauszustellen, dass die richterliche Anordnung nach dem Gesetzeswortlaut des § 132 Abs. 2 StPO die Regel darstellt. Wie auch sonst bedarf es somit einer engen Auslegung der Gefahr im Verzug.219 Eine solche ist nur anzunehmen, wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden § 127a Rn. 12; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1755). § 132 Rn. 8; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 10. 215 Caspari, DRiZ 2014, 82 (83); Rebehn, DRiZ 2013, 194 (195); Titz, DRiZ 2015, 50 (51); vgl. auch Wiesneth, DRiZ 2010, 46 (51). 216 Basar, StraFo 2016, 226; Putzke, StraFo 2016, 1. 217 Basar, StraFo 2016, 226. 218 Moldenhauer/Wenske, JA 2017, 206. 219 BVerfG 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11, BVerfGE 139, 245 = NJW 2015, 2787 (2789); OLG Düsseldorf 23.06.2016 – III-3 RVs 46/16, NStZ 2017, 177 (178); Moldenhauer/Wenske, JA 2017, 206; Radtke, NStZ 2017, 180. 213 LR-StPO/Hilger, 214 LR-StPO/Hilger,
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kann, ohne dass der Zweck der Eingriffsmaßnahme gefährdet wird. Kann hingegen der Richter mit dem Begehren befasst werden und über dieses entscheiden, ohne dass damit ein Verlust eintritt, ist für einen Rückgriff auf die Eilkompetenz der Strafverfolgungsbehörden kein Raum. Ob ein angemessener Zeitraum zur Verfügung steht, innerhalb dessen eine Entscheidung des zuständigen Richters erwartet werden kann, oder ob bereits eine zu große zeitliche Verzögerung wegen des Versuchs der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung bestünde, haben die Ermittlungsbehörden zunächst selbst zu prüfen. Dabei haben sie die Regelzuständigkeit des Richters nachdrücklich zu beachten und reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen außer Betracht zu lassen.220 Entsprechend der Lage bei § 81a Abs. 2 Satz 1 StPO erstreckt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes nämlich ebenso auf Begründungs- und Dokumentationspflichten der anordnenden Stelle, die eine umfassende und eigenständige nachträgliche gerichtliche Überprüfung der Anordnungsvoraussetzungen ermöglichen sollen, sodass das Vorliegen der in Anspruch genommenen Eilkompetenz mit einzelfallbezogenen Tatsachen begründet und dokumentiert werden muss.221 Regelmäßig wird es sich um einfach gelagerte Sachverhalte handeln, bei denen die Vorlage schriftlicher Unterlagen zur Herbeiführung einer richterlichen Sachentscheidung nicht erforderlich ist und dementsprechend ohne große Verzögerung dem Richtervorbehalt entsprochen werden kann.222 Liegt ausnahmsweise tatsächlich eine Fallgestaltung vor, in der die – auch telefonische – Mitteilung des zu beurteilenden Sachverhalts eine derart lange Zeit in Anspruch nehmen würde, der Beschuldigte nicht bereit ist, eine richterliche Entscheidung abzuwarten und mangels Haftgrund schließlich keine vorläufige Festnahme statthaft ist, muss eine Anordnung wegen Gefahr in Ver220 BVerfG 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11, BVerfGE 139, 245 = NJW 2015, 2787 (2789 f.); BGH 06.10.2016 – 2 StR 46/15, JA 2017, 390 (392) m. Bspr. Kudlich; OLG Düsseldorf 23.06.2016 – III-3 RVs 46/16, NStZ 2017, 177 (178). 221 BVerfG 12.02.2007 – 2 BvR 273/06, BVerfGK 10, 270 = NJW 2007, 1345 (1345 f.). 222 LG Frankfurt 28.10.2008, 05.06.2009, 03.07.2009 – 5/30 Qs 57/08, 5/30 Qs 59/08, juris; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 7; Geppert, GA 1979, 281 (294); Seifert, StV 2018, 123 (124 f.); vgl. allg. BVerfG 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11, BVerfGE 139, 245 = NJW 2015, 2787 (2790); a. A. LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864; AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; AnwK-StPO/Walther, § 132 Rn. 10; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 7; KMR/Wankel, § 132 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 12; Pfeiffer, § 132 Rn. 3; SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 6; SSW-StPO/ Satzger, § 132 Rn. 14; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1754); Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); Wiesneth, DRiZ 2010, 46 (51).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
zug durch den Polizeibeamten erfolgen. Denn insofern würde auch die Unterrichtung des Staatsanwalts eine nicht zulässige Verzögerung bedeuten.223 Handelt es sich dagegen um eine Situation, in der etwa der Richter nicht erreichbar ist (z. B. in der Nachtzeit), stellt sich die Frage, ob diesbezüglich eine vorrangige Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft besteht.224 Diese ist für den Fall einer expliziten Anordnung von Sicherheitsleistung und Zustellungsvollmacht in Verbindung mit der Androhung der Zwangsmittel des § 132 Abs. 3 StPO zu bejahen, weil das Bedürfnis der Durchführung dieses Zwangs vorrangig von der ermittlungsführenden Staatsanwaltschaft zu beurteilen ist. Erfolgen Sicherheitsleistung und/oder Zustellungsbevollmächtigung dagegen auf freiwilliger Basis seitens des Beschuldigten, besteht keine Notwendigkeit der vorhergehenden Inanspruchnahme staatsanwaltschaftlicher Auskunft. Gegen eine richterliche Anordnung nach § 132 StPO besteht die Möglichkeit der Beschwerde gem. § 304 StPO.225 Gegen eine Anordnung wegen Gefahr in Verzug steht analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO der Antrag auf richterliche Entscheidung offen.226
223 Vgl. auch LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864: „Auch kann es häufiger der Fall sein, dass selbst die rechtzeitige Erreichbarkeit der Staatsanwaltschaft nicht gegeben ist, da ein Festhalten des Beschuldigten allein zur Erhebung der Zustellungsvollmacht nicht zulässig ist. In diesen Fällen muss aber gefordert werden, dass die Umstände konkret in den Ermittlungsakten festgehalten und dokumentiert werden. Dies dürfte in der Regel durch einen – kurzen – Hinweis erfolgen können, die Einholung einer richterlichen, gegebenenfalls staatsanwaltlichen Anordnung würde ein (unzulässiges) weiteres Anhalten des Betroffenen erfordern.“ 224 Gietl, StV 2017, 263 (264); vgl. hierzu allgemein BVerfG 12.02.2007 – 2 BvR 273/06, BVerfGK 10, 270 = NJW 2007, 1345 (1346); BVerfG 11.06.2010 – 2 BvR 1046/08, BVerfGK 17, 340 = NStZ 2011, 289 (290); a. A. Metz, NStZ 2012, 242. 225 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 20; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 8; KKStPO/Schultheis, § 132 Rn. 13; KMR/Wankel, § 132 Rn. 6; LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 13; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 17; SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 7; SSWStPO/Satzger, § 132 Rn. 15; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1755); Greßmann, NStZ 1991, 216 (217). 226 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 20; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 8; KKStPO/Schultheis, § 132 Rn. 13; KMR/Wankel, § 132 Rn. 6; LR-StPO/Hilger, § 132 Rn. 13; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 17; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 15; Dünnebier, NJW 1968, 1752 (1755); Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); a. A. OLG München 29.11.2012 – 4 VAs 055/12, BeckRS 2012, 24681; SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 7: § 23 EGGVG.
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(2) Isolierte Anordnung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten nach § 161 Abs. 1 StPO Für die Staatsanwaltschaft besteht die Option, losgelöst von den §§ 127a, 132 StPO einen Zustellungsbevollmächtigten benennen zu lassen. Anderenfalls geriete man bei einem Sachverhalt, der keine unverzügliche, zuverlässige Beurteilung des dringenden Tatverdachts zulässt, in die dilemmatische Situation, dass entweder der Begriff des dringenden Tatverdachts für die verfahrenssichernden Zustellungsvollmachten, bei denen typischerweise ohne schriftliche Akte entschieden wird, uminterpretiert werden müsste, oder die Strafverfolgung bei einem gleichwohl Tatverdächtigen infolge seiner Ortsfremdheit erschwert bis vereitelt würde. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ebenfalls schwer darstellbar wäre die – gewissermaßen umgekehrte – Konsequenz, dass ohne zusätzliche Anordnungsmöglichkeit bei zu erwartender (gegebenenfalls bewährungsfähiger) Freiheitsstrafe relativ zwingend der Weg über eine Untersuchungshaft bzw. eine vorläufige Festnahme und Vorführung zur Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i. V. m. § 116a StPO vorgezeichnet wäre. (a) Maßnahme ohne wesentlichen Eingriffscharakter/ Grundsatz der Freiwilligkeit Bei der „Anordnung“ zur isolierten Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten handelt es sich tatsächlich um keine klassische Zwangsmaßnahme.227 Ansonsten wären sowohl das Erfordernis der eigenhändigen Unterschrift auf der Benennungsurkunde, als auch dass sich diese Urkunde bei den Akten zu befinden hat,228 überflüssig, da in diesem Fall die Anordnung als solche (so sie in irgendeiner Form aktenkundig gemacht würde) hinreichend für die Bestellung des Zustellungsbevollmächtigten wäre. Hinzuzunehmen ist, dass einzig § 132 Abs. 3 StPO eine Form des – mittelbaren – Zwangs erlaubt,229 der jedoch für den (praktisch durchaus häufigen) Fall des Fehlens 227 Kulhanek,
NStZ 2015, 495 (496). § 132 Rn. 12; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 6; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127a Rn. 8; Pfeiffer, § 127a Rn. 4; Greßmann, NStZ 1991, 216 (217); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498); Mayer, NStZ 2016, 76 (77). 229 KK-StPO/Schultheiß, § 132 Rn. 10; KMR/Wankel, § 132 Rn. 3; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 132 Rn. 15; a. A. AnwK-StPO/Walther, § 132 Rn. 13; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 13: Beschlagnahme zur Erzwingung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten unzulässig. 228 BeckOK-StPO/Niesler,
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von (beschlagnahmbaren) Vermögenswerten ohnehin leerläuft. Die Erzwingung einer Zustellungsbevollmächtigung durch Freiheitsentziehung ist von der Fahndungsmaßnahme der Aufenthaltsermittlung nicht gedeckt.230 Argumentum e contrario ergibt sich, dass die Anordnung zur respektive das Ersuchen um Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten ein grundsätzlich freiwilliges Ansinnen darstellen.231 Es handelt sich anders als bei der zu leistenden (möglicherweise erheblichen) Sicherheit um keine Eingriffsmaßnahme in die Rechte des Beschuldigten, unterläuft nicht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör232 und bietet ihm bei Nachweis des unverschuldeten Nichtempfangs jederzeit die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.233 Der Grundsatz der Freiwilligkeit ist ein das Straf- und Strafprozessrecht durchziehender Gedanke. Während er im materiellen Strafrecht insbesondere im Rechtfertigungsgrund der Einwilligung Niederschlag findet, ist das Prinzip, dass demjenigen kein Unrecht geschieht, welcher aus freien Stücken einem ihn betreffenden Eingriff zustimmt (volenti non fit iniuria), auch im formellen Strafverfahrensrecht anerkannt. Der Freiwilligkeitsgrundsatz kennt gesetzliche (geschriebene und ungeschriebene) Grenzen, etwa § 228 StGB (Sittenwidrigkeit) oder § 136a StPO (Zwang). Jedoch sind diese, soweit nicht ausdrücklich normiert, aus dem Sinn und Zweck der Norm sowie dem Freiheitsgrundrecht des Einzelnen herzuleiten und abzuwägen. Der Weg über einen Zustellungsbevollmächtigten bewerkstelligt ohne Eingriffscharakter den Fortgang des Ermittlungsverfahrens, was letztlich auch im Interesse des Beschuldigten liegt (Vermeidung von Untersuchungshaft, Beschleunigungsgrundsatz, zügiger Abschluss der strafrechtlichen Drohung und Herbeiführung von Rechtssicherheit).234 Dass die Weigerung der (freiwilligen) Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten freilich Folgen haben kann, die für den Beschuldigten negativ sind und diesen deshalb zur Benen230 OLG München 29.11.2012 – 4 VAs 055/12, BeckRS 2012, 24681 m. Bspr. Hunsmann, StRR 2013, 265; Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498). 231 HK-StPO/Posthoff, § 127a Rn. 8; Pfeiffer, § 127a Rn. 4; Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496); krit. LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864: Freiwilligkeit allein auf Unterschriftsleistung als solche bezogen, wohingegen die Ausgangsentscheidung, ob überhaupt ein Vollmachtsformular vorgelegt wird, häufig im Rahmen anderer strafprozessualer Maßnahmen und damit bereits dem äußeren Erscheinungsbild nach nicht freiwillig erfolgt. 232 Vgl. zur Ersatzzustellung BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, NJW 1969, 1103 (1104); Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 17. 233 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249 m. zust. Anm. Kulhanek; Greßmann, NStZ 1991, 216 (219). 234 Vgl. weiterführend zu den beiden Dimensionen des Beschleunigungsgebots (einerseits beschuldigtenschützend, andererseits verfahrensökonomisch) Kudlich, Gutachten C zum DJT 2010, S. 13 ff.
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nung eines Zustellungsbevollmächtigten veranlassen respektive drängen, ist keine Besonderheit im strafprozessualen Verfahren.235 So ist etwa bekannt, dass ein Geständnis oftmals die Untersuchungshaft beendet oder verhindert (durch Entkräftung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr), ohne dass insoweit ein Beweisverwertungsverbot gefordert würde.236 Indes darf nicht (auch nicht sinngemäß) mit einer Festnahme gedroht werden, wenn nach der im zuständigen Amtsgerichtsbezirk gängigen Praxis nicht mit dem Erlass eines Haftbefehls zu rechnen ist.237 In erster Linie ist der Beschuldigte folglich zu befragen, ob er freiwillig einen Zustellungsbevollmächtigten benennen möge.238 Dabei ist ihm die Wirkweise des Instituts der strafprozessualen Zustellungsvollmacht verbal oder mittels Merkblatt zu erläutern. Bereits aus dem allgemeinen Grundsatz „volenti non fit iniuria“ ergibt sich, dass kein Anlass besteht, ein Rechtsgut gegen einen Eingriff zu schützen, gegen den es sein Inhaber in der konkreten Situation nicht geschützt wissen will.239 Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil der Bereich einwilligungsfähiger Eingriffe über denjenigen der hoheitlich erzwingbaren hinausgeht.240 Die Regelungen der §§ 127a, 132 StPO stehen dem nicht entgegen, da diese nur eine Anordnungskompetenz und die diesbezügliche Rollenverteilung regeln, nicht aber den Rechtsgutsinhaber zu entmündigen suchen.241 (b) Ermittlungsgeneralklausel, § 161 Abs. 1 StPO Sieht man die Aufforderung zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten durch die Staatsanwaltschaft oder deren Ermittlungspersonen hingegen als Zwangsmaßnahme an, wäre ein entsprechender Eingriff in die Beschuldigtenrechte durch die Generalklausel des § 161 Abs. 1 Satz 1 StPO gedeckt.242 235 Kulhanek,
NStZ 2015, 495 (496); Seetzen, NJW 1973, 2001 (2003). Rn. 516; vgl. zur Problematik der sog. apokryphen Haftgründe aber Nobis, StraFo 2012, 45; Herrmann, Untersuchungshaft, 2008, Rn. 638 ff.; MAH Strafverteidigung/König, § 4 Rn. 48 f.; Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 43 ff.; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 680 ff. jeweils m. w. N. 237 LR-StPO/Hilger, § 127a Rn. 4. 238 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496); vgl. hierzu auch Kuhn, JA 2011, 217 (219). 239 Vgl. etwa Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 7 m. w. N.; Bittmann, ZRP 2008, 11 (13). 240 Sprenger/Fischer, NJW 1999, 1830 (1832). 241 LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (373). 242 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496 f.). 236 Schlothauer/Weider/Nobis,
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
§ 161 Abs. 1 StPO weist der Staatsanwaltschaft die Verantwortung sowie die Herrschaft für das Ermittlungsverfahren zu und gewährt ihr insoweit eine generalklauselartige Ermächtigung zu Ermittlungseingriffen.243 Ausgerichtet an den Aspekten der Grundrechtsschonung und der kriminalistischen Zweckmäßigkeit ermächtigt § 161 Abs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft insbesondere zu Maßnahmen, die weniger tief in Grundrechte des Bürgers eingreifen, angesichts der dynamischen Erscheinungsformen der Kriminalität jedoch nicht sämtlich explizit Gegenstand einer gesetzlichen Regelung sein können.244 Der Eingriff i. R. d. §§ 127a, 132 StPO liegt vorrangig in der Sicherheitsleistung.245 Die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten ist dort – wie in § 116a StPO – bloßes Beiwerk. Wird entgegen dieser Vorschriften jedoch auf die Eingriffsmaßnahme der Sicherheitsleistung verzichtet, besteht kein Grund, für die Benennung des Zustellungsbevollmächtigten nicht auf § 161 StPO zurückzugreifen. Die §§ 116a, 127a, 132 StPO sind mangels im Raum stehender Sicherheitsleistung gar nicht einschlägig246 und entfalten daher diesbezüglich keine negative Sperrwirkung, da sie die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten jeweils nur als Annex zur Zwangsmaßnahme der Sicherheitsleistung regeln.247 An zweiter Stelle gestattet somit jedenfalls § 161 Abs. 1 Satz 1 StPO als Minusmaßnahme zum Haftantrag die Anordnung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten.248 Die Wahlmöglichkeit des Beschuldigten hinsichtlich der Person des Zustellungsbevollmächtigten bleibt unangetastet bestehen.249 Voraussetzung einer verhältnismäßigen Anordnung von Untersuchungshaft ist schließlich auch, dass eine andere, weniger einschneidende Maßnahme zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls keinen Erfolg verspricht. Diese Maßnahme kann zugunsten des Beschuldigten indes gerade in der Aufgabe, einen Zustellungsbevollmächtigten seiner Wahl zu benennen, gesehen werden. Auch ist zu bedenken, dass es sich nach Auffassung des Gesetzgebers bei einer etwaig notwendigen Ausschreibung zur Aufenthaltser243 MüKo-StPO/Kölbel,
§ 161 Rn. 1. § 161 Rn. 1; MüKo-StPO/Kölbel, § 161 Rn. 2 ff. 245 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496); vgl. zum Eingriffscharakter der Sicherheitsleistung bei gleichzeitiger Befugnis zur Beschlagnahme auch EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235) Rn. 25 f. 246 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 7; Radtke/Hohmann/Kretschmer, § 132 Rn. 2; Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497); Putzke, StraFo 2016, 1; a. A. AnwK-StPO/Walther, § 132 Rn. 5; MüKo-StPO/Gerhold, § 132 Rn. 7; Mayer, NStZ 2016, 76 (80); Seifert, StV 2018, 123 Fn. 2. 247 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497); vgl. hierzu auch Schnarr, NStZ 1997, 15 (17): „Die rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht hat der Gesetzgeber – von den genannten Ausnahmen abgesehen – ungeregelt gelassen.“ 248 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496 f.). 249 OLG München 29.11.2012 – 4 VAs 055/12, BeckRS 2012, 24681. 244 KK-StPO/Griesbaum,
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mittlung als klassischer Fahndungsmaßnahme bei fehlender Zustellbarkeit um einen belastenden Eingriff in die Rechte des Einzelnen handelt.250 Ein Interesse an einer Zustellung an sich selbst wird weder durch Art. 103 Abs. 1 GG noch durch die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt, da hierin keine gesteigerte Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung liegt und auch keinem bestimmten menschlichen Verhalten Ausdruck verliehen wird.251 Die aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht arg e Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG resultierende Garantie des Beschuldigten als Subjekt des Strafverfahrens wird ebenfalls nicht berührt, sodass es zur Anordnung einer Zustellungsbevollmächtigung keiner über die Ermittlungsgeneralklausel des § 161 Abs. 1 StPO hinausgehenden, gesonderten Eingriffsnorm bedarf.252 (c) Durchsetzbarkeit und Anschein des Zwangs Selbst bei einer Anordnung oder wenn (durch die ausführende Polizei) der Eindruck einer solchen vermittelt wird, besteht für den Beschuldigten kein Zwang zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten, da eine selbständige Durchsetzung ausscheidet.253 Das Problem vieler aktueller justizieller Entscheidungen liegt darin, dass diese sich bei einer Anordnung zur Zustellungsbevollmächtigungsbenennung vorschnell und zu eng auf § 132 StPO fokussieren. Schließlich beliebt es der Staatsanwaltschaft, im Rahmen ihrer Leitungsbefugnis gegenüber ihren Ermittlungspersonen, die Frage an den Beschuldigten anzuordnen, ob dieser freiwillig rechtsgeschäftlich einen Zustellungsbevollmächtigten benenne. § 132 StPO ist hierfür weder einschlägig noch als Befugnisnorm erforderlich. Im Falle der Anordnung nach § 161 StPO greift § 33 StPO nicht. Allerdings ist dem Beschuldigten gleichwohl rechtliches Gehör zu gewähren, zumal die rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht ohnehin allein von seinem Willen abhängt. Anders als i. R. d. § 132 StPO254 kann bei der Verfahrensgestaltung via isolierter rechtsgeschäftlicher Zustellungsvollmacht auch kein mittelbarer Zwang dergestalt ausgeübt werden, dass die Weigerung, einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, zu einer Beschlagnahme führte. Stets bleibt die Auswahl des Zustellungsbevollmächtigten dem Beschuldigten überlassen.255 Eine Ingewahrsamnahme zur Erzwingung der Benennung ist 250 BT-Drs.
14/1484, S. 21. NStZ 2015, 495 (496). 252 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496). 253 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498). 254 Vgl. dazu KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 10; KMR/Wankel, § 132 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 15. 255 OLG München 29.11.2012 – 4 VAs 055/12, BeckRS 2012, 24681. 251 Kulhanek,
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absolut unzulässig.256 Überhaupt ist die Anhaltung und Überprüfung des Beschuldigten lediglich im Rahmen der nach § 163b Abs. 1 StPO erforderlichen Maßnahmen zur Identitätsfeststellung (insbesondere Personalien) zulässig und geboten.257 Folglich ergibt sich auch bei fehlender Belehrung über die Freiwilligkeit aus dem Gesamtkontext der Freiwilligkeitscharakter.258 Jedenfalls aber folgt aus einer fehlenden Belehrung über die Freiwilligkeit keine Unwirksamkeit der Zustellungsbevollmächtigung, solange der Freiwilligkeitscharakter nicht objektiv willkürlich verschleiert oder in unzulässiger Weise mit Zwangsmitteln agiert wird.259 Einwilligungen des Beschuldigten in strafprozessual vorgesehene und konkret beabsichtigte Maßnahmen sind an verschiedenen Stellen anerkannt (bspw. Blutentnahme gem. § 81a StPO oder Durchsuchung gem. § 102 StPO). Stets ist dabei zu prüfen, ob der Betroffene zur freien Willensbildung in der Lage ist. Allein das polizeiliche Antreffen, die konkrete Kontrollsituation und eine damit eventuell verbundene, subjektiv empfundene Zwangslage schließen diese Fähigkeit nicht aus. Ein etwaiger Hinweis an den Beschuldigten, dass im Falle der Weigerung gegebenenfalls eine richterliche/staatsanwaltliche Entscheidung über die Anordnung der im Raum stehenden strafprozessualen Maßnahme einzuholen sei, stellt keine Einschränkung der freien Willensbildung dar. Auch wenn die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei der Erhebung einer Zustellungsvollmacht ausgeschlossen ist und das Gesetz im Weigerungsfall allein die potentielle Beschlagnahme von Gegenständen nach § 132 Abs. 3 StPO vorsieht, stellt sich die Situation für den Beschuldigten nicht anders dar, als wenn er vor der Entscheidung über die Einwilligung in eine Blutentnahme oder eine Durchsuchung steht. Eine über den Wortlaut des Vollmachtsformulars hinausgehende zusätzliche Aufklärungspflicht sieht 256 OLG München 29.11.2012 – 4 VAs 055/12; BeckRS 2012, 24681; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864; Jakoby, StV 1993, 448 (449); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498). 257 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 10; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 6; LRStPO/Hilger, § 132 Rn. 11; Pfeiffer, § 132 Rn. 2; SK-StPO/Paeffgen, § 132 Rn. 5; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 10; a. A. AnwK-StPO/Walther, § 132 Rn. 2: „Ein Festhalten zur Durchführung der Maßnahme ist jedoch als Annexkompetenz – über ein Festhalten zur Identitätsfeststellung gem. § 163b Abs. 1 S. 2 hinaus – zulässig“; Seifert, StV 2018, 123 (125). 258 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (498); a. A. LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864. 259 Vgl. hierzu etwa auch den Diskurs über die Frage der notwendigen Belehrung über die Freiwilligkeit eines Atemalkoholtests und sonstiger nicht erzwingbarer Maßnahmen – verneinend KK-StPO/Senge, § 81a Rn. 5a; umfassend Cierniak/Herb, NZV 2012, 409; a. A. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1628; Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a Rn. 12, wobei auch dieser im Ergebnis (Rn. 32b) zu einer Verwertbarkeit gelangt.
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weder die Strafprozessordnung vor, noch erscheint eine solche nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens geboten.260 Davon abgesehen enthalten in der Praxis die amtlichen Vollmachtsvordrucke regelmäßig entsprechende weiterführende Belehrungen. Zudem besteht keine – theoretische wie praktische – Veranlassung, bereits im Grundsatz der Polizei einen latent missbräuchlichen Umgang bei der Einholung von Zustellungsvollmachten zu unterstellen.261 Soweit das AG Kehl kritisiert, „dass die Beschuldigten regelmäßig nicht die Rechtmäßigkeit der Erteilung der Zustellungsvollmacht überprüfen lassen“,262 lässt sich dies ebenso dahingehend deuten, dass die Erteilung einer Zustellungsvollmacht von den Beteiligten eben nicht als rechtswidriges Übel empfunden, sondern als (relativ) mildeste Maßnahme zur Sicherstellung der Strafverfolgung akzeptiert wird. Gleichwohl ist es sinnvoll, von Seiten der Staatsanwaltschaft durch entsprechende Dienstanweisungen stets auf die sorgsame Schulung ihrer Ermittlungspersonen zu achten. dd) Verbindung der Anordnung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten mit einer Fahndungsnotierung nach § 131a Abs. 1 StPO Im Falle eines aktuell nicht greifbaren Beschuldigten, beispielsweise weil dessen Aufenthalt unbekannt ist, besteht im Zuge der vorläufigen Einstellung des Verfahrens nach § 154f StPO alternativ zur Beantragung eines Haftbefehls gem. § 112 StPO die Möglichkeit der Ausschreibung des Beschuldigten zur Aufenthaltsermittlung gem. § 131a Abs. 1 StPO. Bei unbekanntem Aufenthalt eines Beschuldigten können die Staatsanwaltschaft oder bei Gefahr im Verzug deren Ermittlungspersonen (mit der Notwendigkeit staatsanwaltlicher Bestätigung binnen einer Woche, § 131c Abs. 2 Satz 2 StPO) die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung anordnen, §§ 131a Abs. 1, 131c Abs. 1 Satz 2 StPO. Als nicht abschließende Fahndungshilfsmittel nennt Nr. 40 Abs. 1 RiStBV Auskünfte von Behörden und anderen Stellen, das Bundeszentralregister, das Fahreignungsregister, das Gewerbezentralregister, das Ausländerzentralregister, das EDV-Fahndungssystem der Polizei (INPOL), Dateien nach den §§ 483 ff. StPO, die Fahndungsinforma tionen enthalten, das Bundeskriminalblatt, die Landeskriminalblätter sowie 260 LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864; Seifert, StV 2018, 123 (125). 261 LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864. 262 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461.
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das Schengener Informationssystem (SIS). Die Ausschreibung kann hierbei national wie international erfolgen.263 Die Fahndungsnotierung bietet zudem die Gelegenheit, im Rahmen des Suchvermerks zur Aufenthaltsermittlung als Zusatz die Durchführung einer Beschuldigtenvernehmung und/oder die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten – gegebenenfalls möglichst der zuständige Geschäftsstellenbeamte des Amtsgerichts am Sitz der ausschreibenden Staatsanwaltschaft – zu erbeten.264 Die Zulässigkeit einer entsprechenden Anordnung „auf Vorrat“ wird bisweilen in Zweifel gezogen. Der Beschuldigte müsse den Strafverfolgungsbehörden gerade zur Verfügung stehen und der Vollzug der Anordnung unmittelbar möglich sein.265 Das mag für § 132 StPO und insbesondere die Anordnung einer Sicherheitsleistung teilweise zutreffen (schließlich wird häufig noch keine Beschuldigtenvernehmung durchgeführt sein, ohne welche das Vorliegen des von § 132 Abs. 1 Satz 1 StPO vorausgesetzten dringenden Tatverdachts und die Angemessenheit einer Sicherheitsleistung möglicherweise schlecht beurteilt werden können), nicht jedoch für die Bitte einer freiwilligen Zustellungsbevollmächtigung, welche im Übrigen in der Praxis zumeist folgerichtig unterbleibt, wenn bei einem Fahndungstreffer ein bestätigter deutscher Wohnsitz genannt wird. Der Beschuldigte ohne festen Wohnsitz in der BRD darf nicht ungerechtfertigt benachteiligt werden. Es darf umgekehrt jedoch auch nicht zu einer Besserstellung kommen. Die schlichte Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung ohne Zusatz in der Hoffnung, der Beschuldigte werde irgendwann gegebenenfalls einen Meldewohnsitz in der BRD nehmen, ist angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Lage in Deutschland und Europa jedenfalls keine Option für eine an den Zielen der Gerechtigkeit, Gleichheit und Effektivität orientierten Strafverfolgung. Die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung gem. § 131a Abs. 1 StPO ist der Sache nach zunächst ein Amtshilfeersuchen an die Meldebehörde, den zur Aufenthaltsermittlung ausgeschriebenen Verdächtigen mit seinem gemeldeten Wohnsitz den Ermittlungsbehörden namhaft zu machen.266 Die Anordnung der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten ist als Minusmaßnahme zum Haftantrag aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten stets zulässig, allerdings ist dieses Ersuchen nicht selbständig durchsetzbar und dessen 263 HdbStA/Schnabl/Dallmeyer/Vordermayer,
1. Teil 2. Kap. Rn. 28. NStZ 2015, 495 (497); HdbStA/Schnabl/Dallmeyer/Vordermayer, 1. Teil 2. Kap. Rn. 41; a. A. LG Dresden 23.01.2013 – 5 Qs 149/12, NStZ-RR 2013, 286. 265 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461; Jakoby, StV 1993, 448. 266 BGH 04.08.2009 – 5 StR 253/09, NStZ 2010, 230. 264 Kulhanek,
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Befolgung daher im Ergebnis von zwingend freiwilliger Natur.267 Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit der Zustellungsbevollmächtigung ergeben sich in diesem Zusammenhang regelmäßig bereits aus dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“. Diese Freiwilligkeit, welche sich bei der Ausschreibung i. R.v. § 154f StPO auch aus dem Kontext ihrer Einbettung ergibt (die häufig zusätzlich erbetene Beschuldigtenvernehmung ist infolge des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“ stets freiwillig und die Verwendung des Begriffes „möglichst“ hinsichtlich des erwünschten Geschäftsstellenbeamten zeigt ebenso die Wahlmöglichkeit des Beschuldigten), sollte dabei indes durch das verwendete Formblatt und/oder die agierenden Polizeibeamten vor Ort klargestellt werden. Für die in diesem Zusammenhang möglicherweise resultierenden negativen Folgen der Weigerung einer (freiwilligen) Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten für den Beschuldigten sowie den damit gegebenenfalls verbundenen indirekten Druck gilt, dass es sich hierbei um keine Besonderheit im strafprozessualen Ermittlungsverfahren handelt.268 Dabei wird von der kritisierenden Ansicht, welche lediglich einseitig auf die „weitreichenden Folgen einer Zustellungsvollmacht für den Beschuldigten“ abstellt,269 übersehen, dass die mit einem entsprechenden Vollmachtszusatz versehene Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung für den Beschuldigten auch erhebliche Vorteile mit sich bringt, da sie ein wesentliches Mittel zur Vermeidung der Beantragung eines Untersuchungshaftbefehls und damit der Verhinderung einer ungerechtfertigten Schlechterstellung ortsfremder Beschuldigter darstellt.270 c) Fehlerfolgen Vorwegzuschicken ist zunächst die Erkenntnis, dass etwaige Fehler im Rahmen der Zustellungsbevollmächtigung nicht zur Ablehnung der Eröffnung nach § 204 StPO oder eines Strafbefehlsantrags nach § 408 Abs. 2 StPO führen können, sondern allein die vorläufige Einstellung des Verfahrens gem. § 205 StPO in Frage steht.271 267 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497); zustimmend Gietl, StV 2017, 263 (264) für den Fall, dass „die Freiwilligkeit tatsächlich aus der Ausschreibung oder einer Dienstanweisung an die Polizei hervorgeht.“ 268 Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497). 269 AG Kehl 03.03.2015 – 3 Cs 206 Js 13333/14, BeckRS 2015, 17461. 270 Vgl. LG Landshut 24.03.2016 – J Qs 760/16 jug, StV 2016, 813 m. Anm. Kulhanek. 271 LG Dresden 30.10.2015 – 3 Qs 107/15, juris Rn. 5; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 71/15, BeckRS 2016, 12864; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 116/15, BeckRS 2016, 12862; a. A. AG Kehl 04.11.2015 – 2 Cs 308 Js 20828/14, BeckRS 2015, 18555.
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Hinsichtlich der Rechtsfolge von Fehlern im Zusammenhang mit der Benennung des sowie der Zustellung über den Zustellungsbevollmächtigten gilt es im Übrigen nach Art und Umfang des Mangels zu differenzieren. aa) Verstoß gegen Anordnungsvoraussetzungen Bei einem Verstoß gegen die Anordnungsvoraussetzungen der §§ 116a, 127a, 132 StPO ergibt sich die Unwirksamkeit der Benennung sowie einer insoweit erfolgten Zustellung, sofern nicht die erteilte Zustellungsvollmacht in eine freiwillige, allgemeine rechtsgeschäftliche umgedeutet werden kann.272 Hierfür ist der Wille der Beteiligten im Zeitpunkt der Bevollmächtigung zu untersuchen, wobei besonderes Augenmerk darauf zu richten ist, ob (i. R. d. § 127a StPO) mit U-Haft bzw. (i. R. d. § 132 StPO) mit Beschlagnahme gedroht wurde. Wird § 33 Abs. 3, Abs. 4 StPO verkannt, führt dies für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit der Anordnung nach § 132 StPO, da das fehlende rechtliche Gehör im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nachgeholt werden kann.273 Soweit hiergegen eingewandt wird, dass der Beschuldigte von der Anordnung typischerweise erst dann Kenntnis erlange, wenn bereits strafprozessuale Entscheidungen gegen ihn ergangen sind, deren Wirksamkeit von der förmlichen Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten abhängen, oder freiheitsentziehende Zwangsmaßnahmen vollzogen werden,274 ist dem ausdrücklich zu widersprechen. Schließlich muss der Beschuldigte – abgesehen vom Sonderfall des § 145a Abs. 1 StPO – jegliche Zustellungsvollmacht eigenhändig unterschreiben, um ihr zur Wirksamkeit zu verhelfen. bb) Verstoß gegen Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO Der Gesetzestext regelt selbst nicht positiv, welche Folgen ein Verstoß gegen die Anordnungskompetenz i. S. d. § 132 Abs. 2 StPO nach sich zieht. Indem eine Nichtbeachtung des Richtervorbehalts stets in der Vergangenheit liegt, kann seine Beseitigung allgemein allenfalls durch die Annahme eines 272 LG Baden-Baden 01.12.1999 – 1 Qs 188/99, NStZ-RR 2000, 372 (373); Mayer, NStZ 2016, 76 (82). 273 LG Offenburg 26.04.1999 – Qs 31/99, NStZ 1999, 530; LG Dresden 23.01. 2015 – 3 Qs 7/15, juris Rn. 9; LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 116/15, BeckRS 2016, 12862; Seifert, StV 2018, 123 (125); a. A. AG Kehl 23.10.2015 – 3 Cs 206 Js 1716/15, NStZ-RR 2016, 17 (18); AG Kehl 04.11.2015 – 2 Cs 308 Js 20828/14, BeckRS 2015, 18555; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 10; Müller/Schmidt, NStZ 2017, 568 (574). 274 AG Kehl 23.10.2015 – 3 Cs 206 Js 1716/15, NStZ-RR 2016, 17 (18).
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Verwertungsverbots – bezogen auf die Zustellungsvollmacht des § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO durch den Ausspruch ihrer Unbeachtlichkeit – erfolgen. Bekanntermaßen folgt aus Fehlern bei der Anordnung strafprozessualer Maßnahmen jedoch nicht zwingend deren Unverwertbarkeit.275 Der klassischen Argumentation folgend führen Verstöße gegen den Richtervorbehalt zu einer Abwägung der widerstreitenden Interessen (sog. Abwägungslehre), wonach nur bei deutlichem Überwiegen eines dem Strafverfolgungsinteresse entgegenstehenden (grundrechtlich geschützten) Interesses des Beschuldigten ein Verwertungsverbot entsteht.276 Maßgebende Gesichtspunkte sind hierbei unter anderem das Gewicht der begangenen Tat, wie gravierend sich der Eingriff der Ermittlungsmaßnahme in die Rechtsgüter des Betroffenen darstellt, ob willkürlich verfahrensfehlerhaft gehandelt wurde sowie inwieweit eine rechtmäßige Erlangung hypothetisch wahrscheinlich möglich gewesen wäre.277 Diese Argumentation bedarf der Modifikation für das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht, da insoweit kein Aufklärungsinteresse im engeren Sinn betroffen ist, sondern die Strafverfolgung als solche. Definiert man insoweit „eine Ebene höher“, nämlich ausgehend vom Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und den Belangen des Beschuldigten,278 so fügt sich die argumentationsbezogene Abwägung wieder in den vorgegebenen Kontext ein. Dabei ist festzuhalten, dass das sog. Tatschwerekriterium i. R. d. § 132 Abs. 2 StPO wegen dessen alleiniger Anwendbarkeit im Bereich der leichten bis mittleren Kriminalität stets gegen eine Verwertung sprechen dürfte. Je nach Sachlage, handelnder Anordnungsperson und deren subjektiver Vorstellung wird allerdings der Aspekt eines möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs zu prüfen sein.279 Ganz allgemein wendet die Rechtsprechung diesen Gedanken zur Verhinderung eines Verwertungsverbots an, solange kein schwerwiegender, bewusster oder willkürlicher Verfahrensverstoß zugrunde liegt.280 275 LG Dresden 30.10.2015 – 3 Qs 107/15, juris Rn. 10; vgl. weiterführend zu den verschiedenen allg. Lehren und der Kasuistik im Einzelfall MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 453 ff. 276 Piel, StraFo 2017, 54. 277 Heghmanns, ZIS 2016, 404 (407); Piel, StraFo 2017, 54; Schneider, NStZ 2016, 553 (554). 278 Schneider, NStZ 2016, 553. 279 Vgl. BGH 18.11.2003 – 1 StR 455/03, NStZ 2004, 449 (450); BGH 30.08. 2011 – 3 StR 210/11, NStZ 2012, 104 (105). 280 BGH 18.04.2007 – 5 StR 546/06, BGHSt 51, 285 = NStZ 2007, 601 (603); BGH 30.08.2011 – 3 StR 210/11, NStZ 2012, 104 (105): „Dem – für andere Fallgestaltungen zur Einschränkung der Annahme von Beweisverwertungsverboten entwickelten – Aspekt eines möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs (…) kann bei solcher Verkennung des Richtervorbehalts keine Bedeutung zukommen (…). Die Einhaltung der […] festgelegten Kompetenzregelung könnte in diesen Fäl-
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Eine dogmatische Abstützung hierfür lässt sich darin erblicken, dass lediglich schwerwiegende Zuständigkeitsverstöße nicht nur zu einer Rechtswidrigkeit, sondern sogar zu einer Nichtigkeit eines Verwaltungshandelns führen, vgl. § 44 Abs. 1 VwVfG, dessen (argumentative) Übertragung in das Strafverfahrensrecht durchaus diskutabel erscheint.281 Gerade beim (nicht absichtlichen) Verstoß gegen Kompetenznormen, welcher lediglich zu einem gewissen „formellen Eingriffsunrecht“ führt, sind demnach hypothetische Verlaufserwägungen abwägungsleitend zu berücksichtigen.282 Hierbei muss auch Beachtung finden, dass § 132 Abs. 2 StPO lediglich einen einfachgesetzlichen Richtervorbehalt ohne Grundrechtsrang enthält, für welchen nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich nur eine Willkürkontrolle stattfindet.283 Schließlich verlangt das Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens lediglich die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen sowie eine objektiv vertretbare, willkürfreie Rechtsanwendung.284 d) Erleichterte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnissen des Beschuldigten Versäumt der Beschuldigte eine Frist infolge eines Fehlers des Zustellungsbevollmächtigten, so eröffnet dies die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.285 Hinsichtlich des Strafbefehlsverfahrens und der Zustellung des Strafbefehls über den Zustellungsbevollmächtigten ohne vorherige weitere Anhörung des Beschuldigten wurde bereits dessen nicht unproblematischer Berühlen bei Anerkennung des hypothetisch rechtmäßigen Ersatzeingriffs als Abwägungskriterium bei der Prüfung des Vorliegens eines Beweisverwertungsverbots stets unterlaufen und der Richtervorbehalt sogar letztlich sinnlos werden. Bei Duldung grober Missachtungen des Richtervorbehalts entstünde gar ein Ansporn, die Ermittlungen ohne Einschaltung des Ermittlungsrichters einfacher und möglicherweise erfolgversprechender zu gestalten. Damit würde das wesentliche Erfordernis eines rechtstaatlichen Ermittlungsverfahrens aufgegeben, dass Beweise nicht unter bewusstem Rechtsbruch oder gleichgewichtiger Rechtsmissachtung erlangt werden dürfen“; BGH 17.02.2016 – 2 StR 25/15, NStZ 2016, 551 (552) mit weiterführender Anm. Schneider; BGH 21.04.2016 – 2 StR 394/15, JA 2016, 710 (711) m. Bspr. Jäger und w.N. zur Beurteilung in der Literatur. 281 Vgl. Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 238 ff.; ders., JA 2016, 710 (711); Piel, StraFo 2017, 54. 282 Schneider, NStZ 2016, 553 (556). 283 BVerfG 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11, BVerfGE 139, 245 = NJW 2015, 2787 (2789) Rn. 66. 284 Piel, StraFo 2017, 54; Seifert, StV 2018, 123 (126). 285 Mayer, NStZ 2016, 76 (79).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht147
rungspunkt mit Art. 103 Abs. 1 GG angesprochen. Das BVerfG führt hierzu wie folgt aus: „Die Unzulänglichkeiten des summarischen Strafverfahrens können verfassungsrechtlich hingenommen werden, weil das rechtliche Gehör für den Betroffenen dadurch verbürgt ist, daß er die Möglichkeit hat, durch Einspruch eine Hauptverhandlung zu erhalten (…). Im Falle der Versäumung der Einspruchsfrist hängt diese Möglichkeit davon ab, ob Wiedereinsetzung gewährt wird. Für die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung sind an sich die prozeßrechtlichen Vorschriften maßgebend; jedoch muß dabei beachtet werden, daß Art. 103 Abs. 1 GG für alle gerichtlichen Verfahren, unabhängig von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen, ein Minimum von rechtlichem Gehör gewährleistet (…). Es muß weiter beachtet werden, daß es sich in einem Fall wie dem vorliegenden nicht nur um die Wahrung des rechtlichen Gehörs zu einer einzelnen Entscheidungsgrundlage oder in einer Instanz handelt, sondern darum, ob in diesem Verfahren überhaupt rechtliches Gehör gewährt wird. Der Grundsatz, daß die Anforderungen, was ein Prozeßbeteiligter zur Wahrung seines Anspruches auf rechtliches Gehör zu tun habe, nicht überspannt werden dürfen (…), muß deswegen in einem solchen Fall besonders sorgfältig angewandt werden. […] Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend – z. B. wie hier während einer dreiwöchigen Urlaubsreise – nicht benutzt, braucht für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger muß damit rechnen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird, falls ihm während dieser Zeit eine Strafverfügung durch Niederlegung bei der Post zugestellt werden und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumen sollte. Das gilt freilich nicht, wenn ihm anderes Verschulden zur Last gelegt werden kann, wenn er also z. B. die Abholung vernachlässigt hat oder sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte.“286
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (samt erhobenem Einspruch, § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO) dient folglich dem „ersten Zugang“ zu Gericht und somit unmittelbar und in stärkerem Maße der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien.287 Erfolgte die Zustellung eines Strafbefehls über einen Zustellungsbevollmächtigten, ist das bei der Entscheidung über Wiedereinsetzungsanträge – gleichsam mildernd – in den Blick zu nehmen.288 Soweit der Beschuldigte keine (korrekte) nachsendefähige Anschrift angibt und sich innerhalb angemessener Fristen auch nicht selbst beim Zustellungsbevollmächtigten erkundigt, ist regelmäßig ein entsprechendes Verschulden i. S. d. § 44 Satz 1 StPO als gegeben anzusehen.289 286 BVerfG 21.01.1969 – 2 BvR 724/67, BVerfGE 25, 158 = NJW 1969, 1103 (1104). 287 BVerfG 10.06.1975 – 2 BvR 1018/74, BVerfGE 40, 88 = NJW 1975, 1355; BVerfG 16.12.1975 – 2 BvR 854/75, BVerfGE 41, 23 = NJW 1976, 513. 288 BeckOK-StPO/Cirener, § 44 Rn. 26.2. 289 Mayer, NStZ 2016, 76 (79); vgl. in diesem Zusammenhang auch KG 22.02.2013 – (4) 161 Ss 38/13 (41/13), BeckRS 2013, 07706: „Die in § 145a Abs. 3
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Etwaiges Verschulden des Zustellungsbevollmächtigten (bspw. wenn dieser versehentlich die Weiterleitung falsch adressiert, verzögert, unterlässt oder eine Erkundigung des Beschuldigten unzutreffend beantwortet) kann dem Beschuldigten nicht zugerechnet werden.290 Dies gilt unabhängig davon, um welche Art von Zustellungsvollmacht (gesetzlich, verfahrenssichernd, rechtsgeschäftlich) es sich handelt. Wer sich gegen einen strafrechtlichen Schuldvorwurf verteidigt, muss sich grundsätzlich kein Drittverschulden vorhalten lassen.291 Lediglich für den Fall der Bevollmächtigung einer in der Sphäre des Beschuldigten stehenden Privatperson, welche amtsbekannt unzuverlässig ist, könnte man an ein anderes Ergebnis denken, weil es sich bei § 44 StPO letztlich um eine normative Wertentscheidung zwischen der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Interesse am Bestand rechtskräftiger Entscheidungen handelt. Da es jedoch wie bereits angesprochen für § 410 Abs. 1 StPO um den ersten Zugang zu Gericht geht, fällt auch insofern die Abwägung zugunsten des Beschuldigten aus. 3. Supranationaler Einfluss Der Bereich der Ortsfremdheit von Beschuldigten berührt Personen ohne jeglichen festen Wohnsitz, insbesondere aber auch mit Wohnsitz im (EU-) Ausland. Bereits die Freizügigkeitsgarantie nach Art. 21 AEUV legt nahe, dass es sich um eine Thematik handelt, welche nicht ohne Rückgriff auf supranationale Erwägungen umfassend erörtert werden kann. Insofern bedeutsam ist ausdrücklich die RL 2012/13/EU292 in ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des EuGH, welche dieser in zwei für die deutsche Praxis wegweisenden Entscheidungen festgelegt hat.
StPO vorgesehene Benachrichtigung des Betroffenen von der Zustellung an seinen Verteidiger ist Ausdruck der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts. Wenn ein Angeklagter dem Gericht die Erfüllung dieser Pflicht unmöglich macht, indem er flüchtig und unbekannten Aufenthalts ist, kann er ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht auf die fehlende Benachrichtigung stützen.“ 290 KMR/Ziegler, § 44 Rn. 44; KMR/Metzger, § 410 Rn. 6; Greßmann, NStZ 1991, 216 (219); Mayer, NStZ 2016, 76 (79). 291 Greßmann, NStZ 1991, 216 (219); Mayer, NStZ 2016, 76 (79). 292 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. Nr. L 142 S. 1, Celex-Nr. 3 2012 L 0013.
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a) Die Richtlinie 2012/13/EU aa) Hintergründe der Richtlinie 2012/13/EU Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.05.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren stützt sich auf Art. 82 Abs. 2 AEUV und ist ausweislich ihres Erwägungsgrunds (11) ebenfalls Teil des sog. Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren.293 bb) Ziele der Richtlinie 2012/13/EU Ausweislich ihrer Erwägungsgründe (1) und (3) hat die RL 2012/13/EU eine verbesserte gegenseitige Anerkennung durch Schaffung von gegenseitigem Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege infolge gemeinsamer Mechanismen/Mindeststandards für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten zum Ziel. Sie dient der Förderung des Rechts auf Freiheit, auf ein faires Verfahren sowie der Verteidigungsrechte und lehnt sich hierbei bewusst und ausdrücklich an Art. 47 EU-GRCh sowie Art. 6 EMRK und das dort verankerte Recht auf ein faires Verfahren an, vgl. Erwägungsgründe (5), (8), (14) und (41). Konkretes Ansinnen ist dabei zufolge Erwägungsgrund (18) auch die explizite Festlegung des Rechts auf Belehrung über die einem Beschuldigten zustehenden Verfahrensrechte. Erwägungsgrund (25) betont die Verzahnung mit der Richtlinie 2010/64/EU und die besondere Bedeutung der Belehrung/Unterrichtung für sprachfremde Beschuldigte. Erwägungsgrund (19) hebt die zeitliche Komponente der nach der Richtlinie vorgesehenen Belehrungen und Unterrichtungen hervor: „Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.“
293 Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren Text von Bedeutung für den EWR (2009/C 295/01).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Für die Auslegung jeder Vorschrift der Richtlinie ist insbesondere Erwägungsgrund (40) relevant: „Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um auch in Situa tionen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.“
Demzufolge wird als Untergrenze jedweder Interpretation dasjenige Schutzniveau statuiert, welches der EGMR in seiner Jurisdiktion (sei es hinsichtlich geschriebener oder ungeschriebener Rechtssätze) geschaffen hat. Erwägungsgrund (40) fordert somit auch eine gewisse Orientierung an einer etwaig bestehenden Rechtsprechung des EGMR. Zugleich wird erklärt, dass die Mitgliedstaaten gänzlich frei darin sind, ein höheres Schutzniveau zu garantieren. Dies lässt sich nun ganz explizit dadurch erreichen, dass der Gesetzgeber ausdrücklich eine Norm schafft, welche über die in der Richtlinie bezeichneten Mindestvorschriften hinausgeht. Gleiches kann jedoch auch durch eine extensive Auslegung/Interpretation eines offenen Wortlauts geschehen. cc) Relevante Normen der Richtlinie 2012/13/EU zum Thema Zustellungsvollmacht Art. 1 RL 2012/13/EU benennt den Gegenstand der Richtlinie als „Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf“. Die Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren, Art. 2 Abs. 1 RL 2012/13/EU. Das Ende ist somit festgelegt als letzter Zeitpunkt, in welchem noch über Schuld und Strafe des Beschuldigten entschieden wird. Der Anfang des Anwendungsbereichs zielt dagegen nicht auf den Beginn des Ermittlungsverfahrens, sondern auf den Moment, in dem der Beschuldigte von den Strafverfolgungsbehörden über seinen Verdächtigen‑/ Beschuldigtenstatus informiert wird. Die gewährten Rechte setzen weder eine Unionsbürgerschaft noch einen grenzüberschreitenden Bezug voraus. Art. 3 Abs. 1 RL 2012/13/EU zählt die Rechte auf, deren Belehrung der Beschuldigte mindestens beanspruchen kann. Er nennt insoweit das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den etwaigen Anspruch auf unent-
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geltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung. Art. 3 Abs. 2 RL 2012/13/EU nimmt Rücksicht auf die Belange sprachfremder oder sonst schutzbedürftiger Beschuldigter, indem er die Belehrung in einfacher und verständlicher Sprache verlangt. Hierbei ist ferner zu betonen, dass ausweislich Art. 8 Abs. 1 RL 2012/13/EU jegliche Belehrung oder Unterrichtung nach den Art. 3-6 RL 2012/13/EU schriftlich festzuhalten ist. Für den Bereich der Zustellungsvollmacht zentrale, weil bedeutungs- und folgenreichste Vorschrift ist Art. 6 RL 2012/13/EU: „Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“. Dessen Abs. 1 Satz 1 verlangt, dass Beschuldigte über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, was keine Erweiterung gegenüber dem tradierten deutschen Recht darstellt. Schließlich muss gem. § 163a Abs. 1 Satz 1, Satz 3 StPO dem Beschuldigten auch bei Ortsfremdheit hinreichend rechtliches Gehör gewährt werden, weil die dauerhafte Abwesenheit keinen konkludenten Verzicht auf eine Äußerung darstellt.294 Diese Unterrichtung soll nach der Richtlinie nun aber „umgehend und so detailliert“ erfolgen, „dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden“, Art. 6 Abs. 1 Satz 2 RL 2012/13/EU. Gem. Art. 6 Abs. 3 RL 2012/13/EU ist ferner sicherzustellen, „dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.“ Auffällig ist hierbei insbesondere das Wort „umgehend“, welches sich auch in Art. 3 Abs. 1 RL 2012/13/EU findet. Fraglich ist, welche zeitliche Bedeutung genau damit einhergeht. Der hierfür bedeutsame Erwägungsgrund (28) lautet wie folgt: „Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.“
Erwägungsgrund (28) benennt damit den Schlusspunkt eines zeitlichen Rahmens (erste offizielle Vernehmung durch die Polizei) und bietet mit dem 294 MüKo-StPO/Kölbel,
§ 163a Rn. 20.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Hinweis „ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen“ einen weiteren Anhaltspunkt. Während „sofort“ ohne jegliches Zögern bedeutet,295 meint „unverzüglich“ ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB). Wie jedoch definiert sich „umgehend“? An dieser Stelle ist ein Blick in gesetzgeberische Normtexte zu werfen, in denen sich das Adjektiv „umgehend“ findet, und zu eruieren, welche Bedeutung diesem an jenen Stellen zugemessen wird. Im Rahmen von §§ 39 Abs. 5 Satz 1, 39a Abs. 1 Satz 5 EStG wird „umgehend“ mit „unverzüglich“ gleichgesetzt.296 Bei § 47b Abs. 7 Satz 1 GWB wird lediglich ein enger zeitlicher Zusammenhang gefordert, ohne dass das Handeln unverzüglich erfolgen müsste.297 Ähnlich hat die Markttransparenzstelle gem. § 47k Abs. 4 Satz 1 GWB alsbald nach Durchführung einer eigenen vorläufigen Prüfung mit entsprechendem Ergebnis die zuständige Kartellbehörde zu informieren.298 § 2c Abs. 1 Satz 7, Abs. 1a Satz 5 KWG verlangt von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) die dort vorgesehene Bestätigung spätestens innerhalb von zwei Arbeitstagen.299 Auch § 35 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 HStVollzG, § 12 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 TKG sowie § 11 Abs. 3 Satz 2 BKAG bringen zum Ausdruck, dass ein Unterschied zwischen „umgehend“ und „unverzüglich“ besteht. Resümierend kann festgehalten werden, dass aus dem vorstehenden systematischen Überblick kein einheitliches Verständnis hergeleitet werden kann. Es verbleibt somit nur die Möglichkeit, für Art. 6 Abs. 1 RL 2012/13/EU eine eigenständige Definition ausgerichtet an Sinn und Zweck der Vorschrift zu fassen. Neben den beiden oben genannten Worten „unverzüglich“ und „sofort“ lassen sich drei weitere Formeln anführen, welche zur Bestimmung/ Konkretisierung dienen können: So bald als möglich im Hinblick auf das öffentliche Ermittlungsinteresse,300 so früh wie nötig zur wirksamen Verteidigung und so zeitig wie im Rahmen der Ermittlungsführung ohne Gefahr sinnvoll, wobei Letzterem das stärkste Gewicht beizumessen ist.301
295 BeckOK-BGB/Fritzsche,
§ 859 Rn. 16; MüKo-BGB/Joost, § 859 Rn. 14. § 39 EStG Rn. 71, § 39a EStG Rn. 62. 297 Immenga/Mestmäcker/Knauff, § 47b GWB Rn. 20. 298 Immenga/Mestmäcker/Knauff, § 47k GWB Rn. 13. 299 Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Schäfer, § 2c KWG Rn. 12. 300 Vgl. auch Gillmeister, StraFo 1996, 114 (116). 301 Vgl. auch Gillmeister, StraFo 1996, 114 (115): „Der Beschuldigte ist über den gegen ihn bestehenden Verdacht zu unterrichten, sobald ein Verfahren gegen ihn eingeleitet ist. Die Verfahrenseinleitung ist unverzüglich aktenkundig zu machen. Zum Schutze vor Verdunklungshandlungen muß akzeptiert werden, daß die Unterrichtung des Beschuldigten so lange zurückgestellt werden kann, wie zu befürchten ist, die sofortige Mitteilung werde den Untersuchungszweck gefährden.“ 296 Blümich/Thürmer,
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dd) Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU in deutsches Recht Zur Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU hat der deutsche Gesetzgeber ebenfalls mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 02.07.2013302 reagiert. Dabei wurde betont, dass unabhängig von der europäischen Entwicklung bereits das zuvor geltende deutsche Strafverfahrensrecht eine Vielzahl der genannten Belehrungspflichten vorsah (insbesondere in §§ 114b, 136, 163a StPO).303 Konkretisierender Anpassungsbedarf wurde wesentlich in § 114b StPO sowie in § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO gesehen.304 Die Bezugnahme in § 163a Abs. 5 StPO auf die den notwendigen Übersetzungsumfang konkretisierende Norm des § 187 GVG stellt klar, dass es auch bei der Vernehmung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei zur Wahrung der Verteidigungsrechte des sprachfremden Beschuldigten erforderlich sein kann, bestimmte Unterlagen (zumindest auszugsweise) zu übersetzen, beispielsweise wenn der Inhalt im Wege des Vorhalts genutzt werden soll.305 Die durch Art. 8 Abs. 1 RL 2012/13/EU geforderte Dokumentation hat in § 168b Abs. 3 StPO Niederschlag gefunden, wonach die vorgenommenen Belehrungen des Beschuldigten zu dokumentieren sind.306 b) EuGH, Urteil vom 15.10.2015, Az. C-216/14 (Gavril Covaci) Wie bereits im ersten Teil ausgeführt, hat das AG Laufen am 06.08.2014 den EuGH im Wege der Vorabentscheidung angerufen.307 An dieser Stelle sei noch einmal kurz der zugrunde liegende Sachverhalt in Erinnerung gerufen:308 Der Beschuldigte Covaci, ein rumänischer Staatsangehöriger, wurde in Deutschland anlässlich des Verdachts eines Vergehens gegen das PflVG betroffen. Er wurde zu diesem Sachverhalt unter Hinzuziehung eines Dolmetschers polizeilich vernommen und erteilte, da er keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet hatte, drei Bediensteten des AG Laufen für an ihn gerichtete gerichtliche Urkunden eine unwiderrufliche schriftliche Zustellungsvollmacht, nach deren Wortlaut Rechtsmittelfristen gegen gerichtliche Entscheidungen mit ihrer Zustellung an die benannten Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen. Die Staatsanwaltschaft beantragte den Erlass eines Strafbefehls sowie dessen Zustellung über die benannten Zustellungsbevollmächtigten. 302 BGBl. I
2013, S. 1938. 17/12578 S. 8. 304 BT-Drs. 17/12578 S. 8. 305 BT-Drs. 17/12578 S. 16 f. 306 BT-Drs. 17/12578 S. 9. 307 AG Laufen 06.08.2014 – 1 Cs 320 Js 8111/14, juris. 308 Vgl. EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 16 ff. 303 BT-Drs.
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Inhalt der Vorlage war nun jedoch nicht nur die im ersten Teil erörterte Frage nach der unionsrechtlichen Notwendigkeit der Übersetzung von Schriftstücken des Beschuldigten durch das Gericht, sondern es stand noch eine zweite Thematik im Vordergrund: Das Verhältnis des Unionsrechts zum Rechtsinstitut des strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigten und die Folgen eines entsprechenden Vorgehens für die Auslösung und den Ablauf einer Rechtsmittelfrist: „Sind Art. 2, 3 Abs. 1 Buchst c, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2012/13/EU dahingehend auszulegen, dass sie der Anordnung zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten durch eine beschuldigte Person entgegenstehen, wenn bereits mit Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten die Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln zu laufen beginnt und es letztlich unerheblich ist, ob die beschuldigte Person überhaupt Kenntnis vom Tatvorwurf erhält?“309
Diese zweite Vorlagefrage hat der EuGH wie folgt beantwortet: „Art. 2, Art. 3 I Buchst. c und Art. 6 I und III der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der ein im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, nicht entgegenstehen, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt.“310
Bereits an dieser Stelle ist, was später für die Auslegung der Entscheidung noch bedeutsam sein wird, auf die Abweichung in der Formulierung zum Votum des Generalanwalts311 hinzuweisen, welcher folgendermaßen formuliert hatte: „… sofern dieser verfahrensrechtliche Mechanismus nicht verhindert, dass dieser Person die gesetzliche Frist von zwei Wochen zur Verfügung steht, die die Rechtsvorschriften dieses Staates für die Einlegung eines Einspruchs gegen diesen Strafbefehl vorsehen, wobei diese Frist ab dem Zeitpunkt zu laufen hat, zu dem diese Person, in welcher Weise auch immer, Kenntnis von diesem Strafbefehl erlangt“.
309 AG
Laufen 06.08.2014 – 1 Cs 320 Js 8111/14, juris. 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 311 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 119. 310 EuGH
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aa) Grundsätzliche Kritik am Ausgangspunkt der Argumentation des EuGH Fraglich ist zunächst der Ausgangspunkt des EuGH, wonach die Zustellung eines Strafbefehls für den Beschuldigten die erste Gelegenheit einer Unterrichtung über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf darstellen soll.312 Insoweit muss entgegengehalten werden, dass vor einer abschließenden Entscheidung der Staatsanwaltschaft rechtliches Gehör zu gewähren ist, wodurch – regelmäßig im Rahmen einer entsprechenden Beschuldigtenvernehmung – dem Beschuldigten eröffnet wird, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen, vgl. §§ 136 Abs. 1 Satz 1, 163a Abs. 1 Satz 1 StPO.313 Die Mitteilung des strafrechtlichen Vorwurfs bezieht sich dabei auf die Tat im prozessualen Sinn, darf sich nicht auf eine schlagwortartige Bezeichnung des Straftatbestandes beschränken und muss den Vorwurf so genau erläutern, dass sich der Beschuldigte sachgerecht verteidigen kann.314 Zwar ist zuzugeben, dass die Zustellung des Strafbefehls jedenfalls in der Regel die erste schriftliche Unterrichtung über den Tatvorwurf enthält. Insoweit tätigt Art. 6 RL 2012/13/EU aber keine Aussage, und die Unterrichtung i. S. d. Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK darf schließlich auch mündlich erfolgen,315 zumal bei einfach gelagerten Sachverhalten die von Art. 6 Abs. 3 RL 2012/13/EU geforderte Detailliertheit ebenfalls bereits im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung geleistet werden kann.316 Ferner erkennt man im argumentativen Abstellen darauf, dass jede „Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten“ zu vermeiden sei317 und daher die Frist „nicht durch die Zeitspanne [verkürzt werden dürfe], die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen“,318 dass der EuGH primär Beschuldigte mit einem ausländischen Wohnsitz in den Blick nimmt, Beschuldigte ohne jeglichen festen Wohnsitz hingegen nicht.319 Auch für diese hat jedoch das Institut der Zustellungsbevollmächtigung eine wesentliche Bedeutung.320 312 EuGH
15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 60. JR 2016, 208 (209). 314 KK-StPO/Diemer, § 136 Rn. 8; MüKo-StPO/Schuhr, § 136 Rn. 21. 315 EGMR 25.03.1999 – 25444/94, NJW 1999, 3545 (3546) Rn. 53; KK-StPO/ Schädler/Jakobs, Art. 6 EMRK Rn. 59; MüKo-StPO/Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 149. 316 Kulhanek, JR 2016, 208 (209). 317 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 65. 318 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 67. 319 Kulhanek, JR 2016, 208 (209). 320 Vgl. Kulhanek, NStZ 2015, 495 m. w. N. 313 Kulhanek,
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Darüber hinaus ist noch auf die beiden folgenden Gesichtspunkte hinzuweisen. Erstens hat ein Beschuldigter mit inländischem Wohnsitz, welcher sich etwa auf einem längeren Urlaub befindet, zu den formal ohnehin ablaufenden zwei Wochen zusätzlich ebenfalls nur eine Woche Zeit zur Wiedereinsetzung. Zweitens handelt es sich bei der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Grunde um eine freiwillige Entschließung des Beschuldigten, nicht um eine oktroyierte Eingriffsmaßnahme.321 Das vom EuGH genannte „Muss“ einer Benennung lässt sich eigentlich nur für den Fall des § 132 StPO bejahen, da sich insoweit die Benennung des Zustellungsbevollmächtigten durch Beschlagnahme „erzwingen“ lässt.322 Ohne die Zwangsmaßnahme der Sicherheitsleistung besteht ein solches Müssen gerade nicht. Gleichwohl hat man das Urteil des EuGH wohl so zu verstehen, dass er seine Ansicht unabhängig von der Art und Weise der Erteilung und der zugrunde liegenden Rechtsnorm verstanden wissen will.323 Schließlich wurde im konkreten Verfahren keine Sicherheitsleistung genommen,324 und die Argumentation zielt gerade auch darauf ab, die Zeitspanne zwischen Ankunft beim Zustellungsbevollmächtigten, Weiterleitung und Ankunft beim Beschuldigten herauszurechnen.325 In Literatur und Rechtsprechung ungewiss sind nun die tatsächlichen praktischen Konsequenzen aus diesem europäischen Leitsatz. bb) Eine Ansicht: Fristbeginn ab tatsächlicher Kenntnis Teilweise wird ein extensives Verständnis dergestalt zugrunde gelegt, wonach die Zustellung über den Zustellungsbevollmächtigten zur Wahrung eines fairen Verfahrens erst dann die Rechtsmittelfrist in Gang setze, wenn das Dokument den Beschuldigten auch tatsächlich erreicht.326 Es sei eine tatsächliche Kenntnisnahme des Beschuldigten vom Schriftstück erforderlich; sämtliche fristauslösenden Formen an fiktiven Ersatzzustellungen stünden mit der Richtlinie nicht in Einklang.327 Ein potentiell denkbares Vorgehen 321 LG Nürnberg-Fürth 04.05.2015 – 16 Qs 11/15 (unveröffentlicht); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (496). 322 § 132 Abs. 3 StPO, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 15; KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 10; Kulhanek, JR 2016, 208 (210). 323 Kulhanek, JR 2016, 208 (210); a. A. Brodowski, StV 2018, 69; Zündorf, NStZ 2017, 41 (43). 324 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 16 ff. 325 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 67. 326 LG Landshut 24.03.2016 – J Qs 760/16 jug, StV 2016, 813; Böhm, NJW 2016, 306 (307); Brodowski, StV 2016, 210 (211); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 578. 327 Böhm, NJW 2016, 306 (307); ähnlich Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 9a (59. Aufl.).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht157
wäre danach eine „Ausschreibung zur Zustellung“, wodurch entweder an gängigen Übernachtungsstellen/Aufenthaltsräumen von Nichtsesshaften – ein Stück weit „auf Verdacht“ – durch Übergabe gegen Empfangsbestätigung zugestellt328 oder aber tatsächlich eine Fahndungsnotierung unter Beifügung einer Abschrift des zuzustellenden Schriftstücks erstellt würde. Letzteres ließe sich wie folgt bewerkstelligen: Nach Erlass bspw. eines Strafbefehls erfolgte eine gerichtliche Einstellung gem. § 205 StPO und sodann eine „Ausschreibung zur Zustellung“. Der Beschuldigte würde folglich zur Fahndung ausgeschrieben, das Schriftstück in das Fahndungssystem eingestellt und bei Antreffen des Beschuldigten würde diesem der Strafbefehl in Abschrift ausgehändigt (bei Weigerung der Annahme hätte er gleichwohl Kenntnis vom Bestehen eines solchen und müsste sich dieses Sich Verschließen zurechnen lassen). Ein erstes Problem ergibt sich hier indes für Fälle im Ermittlungsverfahren, in denen noch eine Beschuldigtenvernehmung fehlt. Dann müsste folgerichtig zweimal (einmal zur Beschuldigtenvernehmung und ein weiteres Mal nach erfolgtem Strafbefehlsantrag und -erlass zur Zustellung) ausgeschrieben werden, was zutiefst ineffizient wäre, zumal auch die Fahndung als solche ein nicht zu vernachlässigender Eingriff in die Beschuldigtenrechte ist. Zudem stellt sich die Frage, an wen dann (das Verstreichenlassen der Einspruchsfrist unterstellt) die Zahlungsaufforderung zugestellt werden soll. Ein Vollstreckungshaftbefehl ohne solche Aufforderung ist ersichtlich rechtswidrig, eine neuerliche Ausschreibung offenkundig ineffizient. Bliebe nur, diese Zahlungsaufforderung einem gegebenenfalls bereits benannten Zustellungsbevollmächtigten (etwa direkt beim Betreffen auf frischer Tat oder im Rahmen der Ausschreibung zur Zustellung) zuzustellen. Schließlich wäre nunmehr dem von der genannten Ansicht statuierten Erfordernis genüge getan, wonach zwei Wochen ab tatsächlicher Kenntnis vom Inhalt des Strafbefehls verstrichen sind. Jedoch leuchtet nicht ein, weshalb es dem Beschuldigten in keiner Weise obliegen soll, sich beim Zustellungsbevollmächtigten nach dem Vorliegen eines Strafbefehls oder einer Ladung zur Hauptverhandlung zu erkundigen, wohl aber nach dem Vorliegen einer Zahlungsaufforderung. Das liefe (einmal die nach der hier vertretenen Ansicht ohnehin unzutreffende Interpretation des EuGH-Urteils als richtig unterstellt) auf eine extrem formale Umsetzung des diesbezüglichen Leitsatzes hinaus. Partiell wird innerhalb der soeben genannten Auslegung noch wie folgt differenziert: Der EuGH habe sich in seiner Entscheidung nur mit dem Fall eines Zustellungsbevollmächtigten gem. § 132 Abs. 1 StPO befasst, wohingegen die von Gesetzes wegen begründete Zustellungsvollmacht des Verteidigers gem. § 145a Abs. 1 StPO anders zu behandeln sei.329 Der EuGH be328 Hierzu
bereits Blankenheim, MDR 1992, 926 (928). Rn. 578.
329 Schlothauer/Weider/Nobis,
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
tone, dass in dem von ihm entschiedenen Sachverhalt der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen konnte, weil die Frist zum Einspruch gegen den Strafbefehl um die Zeitspanne verkürzt würde, die der Zustellungsbevollmächtigte benötige, um den Strafbefehl dem Beschuldigten als Adressaten zukommen zu lassen, wohingegen der Verteidiger anders als ein juristischer Laie als Zustellungsbevollmächtigter nicht nur zur Entgegennahme der Zustellung bevollmächtigt sei, sondern aufgrund seiner Rechtsstellung auch die Verteidigungsrechte des Beschuldigten wahrnehmen, insbesondere Einspruch gegen den Strafbefehl einlegen könne.330 Insofern ist jedenfalls ergänzend zu betonen, dass eine Ladung zur Hauptverhandlung auf entsprechenden Einspruch gem. § 145a Abs. 2 StPO nur bei gesonderter Ladungsvollmacht zugestellt werden kann, sodass auch hierauf zu achten wäre. cc) Andere Ansicht: Fristbeginn ab Zustellung beim Zustellungsbevollmächtigten bei gleichzeitiger unionsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Demgegenüber wird die Entscheidung des EuGH von einer anderen Ansicht restriktiv dahingehend interpretiert, dass die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten grundsätzlich weiterhin zum Lauf der Einspruchsfrist, nach deren Ablauf zur Rechtskraft des Strafbefehls und folglich auch zur Einleitung der Vollstreckung führe.331 Weder habe der EuGH ausgesprochen, dass die Rechtsbehelfsfrist auf unbestimmte Zeit verlängert/offen sei, wenn eine Weiterleitung des zuzustellenden Schriftstücks durch den Zustellungsbevollmächtigten (aus welchen Gründen auch immer) scheitere und somit das Erwachsen in Rechtskraft unabsehbar hinausgeschoben würde, noch ausgeführt, dass die Einspruchsfrist ab tatsächlicher Kenntnis beim Beschuldigten zu laufen beginne, sondern dies lediglich als eine Möglichkeit benannt:332 „Würde die im Ausgangsverfahren fragliche Zweiwochenfrist ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem der Beschuldigte von dem Strafbefehl, der die Unterrichtung über den Tatvorwurf enthält, tatsächlich Kenntnis hatte, wäre gewährleistet, dass er über die volle Frist verfügt.“333
330 Schlothauer/Weider/Nobis,
Rn. 578. München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249; Kulhanek, JR 2016, 208 (210); ders., StV 2016, 814; Zündorf, NStZ 2017, 41 (43). 332 Kulhanek, StV 2016, 814. 333 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 66 [Hervorhebung durch Verfasser]. 331 OLG
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(1) Fristbeginn ab tatsächlicher Kenntnis widerspricht dem Institut der Zustellungsbevollmächtigung Das von der Gegenansicht vorgeschlagene Vorgehen, den Beginn der Zwei-Wochen-Einspruchsfrist schlicht zwingend auf die tatsächlich von Amts wegen nachweisbare Kenntnis (z. B. durch Aufgreifen bei Vollstreckungshaftbefehl) festzusetzen, kann schon deshalb nicht richtig sein, weil der Generalanwalt selbst anerkannt hat, dass der Strafbefehl vollstreckbar wird: „Möglich ist auch, dass die Zustellung die verurteilte Person aus Gründen nicht erreicht, die dieser zugerechnet werden können (z. B. Flucht) oder nicht (z. B. Versagen der mit der Zustellung beauftragten Dienste). In diesen Fällen muss das Urteil dennoch vollstreckt werden und daher vollstreckbar sein. Diese Vollstreckbarkeit wird ihm durch eine Zustellung formaler Art, im vorliegenden Fall an einen Zustellungsbevollmächtigten, verliehen, durch die das Urteil nicht endgültig werden darf, und erlaubt daher die Inanspruchnahme eines Rechtsbehelfs, wenn die betroffene Person im Stadium der Vollstreckung gefunden und/oder vom Vorliegen eines Strafurteils unterrichtet wurde.“334
Es ist folglich zwischen Vollstreckbarkeit und Endgültigkeit einer Entscheidung ohne jeden weiteren Rechtsbehelf zu unterscheiden.335 Vollstreckbar wird der Strafbefehl aber nur bei Rechtskraft, und diese tritt erst mit Ablauf der Einspruchsfrist ein. Zudem würde sonst das Institut der Zustellungsbevollmächtigung, welches der EuGH gerade als grundsätzlich zulässig anerkennt, vollständig konterkariert und faktisch ad absurdum geführt.336 Das Wesen der Zustellungsvollmacht besteht schließlich in dem Zweck, Unmöglichkeiten, Unsicherheiten sowie Umständlichkeiten im Rahmen einer Zustellung, insbesondere in fremdem Hoheitsgebiet, zu vermeiden,337 und dadurch der alsbaldigen Herbeiführung von Rechtskraft zu dienen. (2) Wiederaufnahme von Amts wegen nicht statthaft Eine Wiederaufnahme des Verfahrens als außerordentlicher Rechtsbehelf zur Durchbrechung der Rechtskraft scheitert daran, dass hierzu Tatsachen/ Beweismittel vorzutragen sind, deren hinreichende Erfolgsaussicht konkret zu prüfen ist,338 das alleinige Streben nach einer milderen Strafe auf Grund 334 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 87. 335 Kulhanek, StV 2016, 814. 336 Kulhanek, JR 2016, 208 (210); ders., NStZ-RR 2016, 249; ders., StV 2016, 814. 337 RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (213); Gietl, StV 2017, 263. 338 BeckOK-StPO/Singelnstein, § 359 Rn. 30; LR-StPO/Gössel, § 359 Rn. 56 f.
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desselben Gesetzes gerade nicht genügt (§ 363 Abs. 1 StPO),339 und der Anwendungsbereich im Interesse der Rechtssicherheit auf Fälle zu beschränken ist, die in ihrem Ergebnis aus Gründen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsbewährung unerträglich anmuten.340 Gewöhnlich werden indes gerade keine neuen Beweismittel vorgebracht, sondern lediglich pauschal der Erhalt des Schriftstücks in Abrede gestellt. Ein Wiederaufnahmeverfahren bei tatsächlichem Vorbringen neuer, potentiell geeigneter Beweisstücke durch den Beschuldigten wäre im Einzelfall denkbar, jedoch keine flächendeckende Lösungsstrategie, wenn man zudem berücksichtigt, dass es sich bei dem ergangenen Strafbefehl in aller Regel um die materiell zutreffende Entscheidung handelt. (3) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Der Generalanwalt hat das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angesprochen und dieses als im Grundsatz wirksames Instrument zur Sicherstellung der europarechtlich verbürgten Beschuldigtenrechte gebilligt: „Die deutsche Regierung […] hat ausgeführt, dass die beschuldigte Person nach deutschem Recht, wenn sie verhindert gewesen sei, einen Einspruch innerhalb von zwei Wochen einzulegen, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen könne, sobald sie vom Vorliegen eines gegen sie erlassenen Strafbefehls, insbesondere im Stadium der Vollstreckung dieses Strafbefehls, unterrichtet werde. In einem solchen Fall könne die beschuldigte Person daher beantragen, dass die Situation korrigiert werde und ihre Verteidigungsrechte gewahrt würden. Diese Erläuterungen bestätigen, dass ein Strafbefehl nach deutschem Recht vollstreckbar werden kann, ohne zugleich endgültig zu werden. Daher muss die beschuldigte Person im Stadium der Vollstreckung des Strafbefehls einen Einspruch gegen diesen einlegen können, wenn sie von seinem Bestehen nicht früher unterrichtet wurde.“341
Anders als der Generalanwalt hat der EuGH in seiner Covaci-Entscheidung eine mögliche Gewährleistung durch das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zwar nicht ausdrücklich angesprochen, was indessen gar nicht notwendig war, da er – im Einklang mit dem sog. „strafrechtsspezifischen Schonungsgebot“342 – die Art und Weise dieser Sicherstellung umfassend dem 339 KK-StPO/Schmidt,
§ 359 Rn. 32; KMR/Eschelbach, Vorb. zu §§ 359 ff. Rn. 55. Vorb. zu §§ 359 ff. Rn. 1 ff.; Kulhanek, JR 2016, 208 (210). 341 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 110 f. 342 Vgl. dazu Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 8 ff.: Indem Strafrecht in besonderem Maße Ausfluss sozio-kultureller und historisch-traditioneller Vorstellungen ist, folgt u. a. aus Art. 4 Abs. 2 EUV die Pflicht zur Schonung der nationalen Strafrechtssysteme vor übermäßigen Eingriffen; Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 44; Had340 KK-StPO/Schmidt,
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nationalen Recht belässt und somit ausdrücklich dessen Autonomie jenseits der konkreten, insoweit begrenzten Zielrichtung der Richtlinie anerkennt.343 (a) U nionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht geboten Indem der EuGH explizit betont, dass durch das nationale Recht sichergestellt sein muss, dass dem Beschuldigten bei Einbindung eines Zustellungsbevollmächtigten „tatsächlich […] die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl“ zur Verfügung stehen muss,344 könnte es insoweit einer unionsrechtskonformen Interpretation der Frist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO auf zwei Wochen bedürfen. Der deutsche Gesetzgeber wollte nach seinem Willen die Richtlinie umfassend umsetzen. Aus Art. 288 AEUV i. V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV entspringt das Gebot der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Rechts als Facette der allgemeinen unionsrechtskonformen Auslegung und des gebotenen Anwendungsvorrangs supranationalen Rechts.345 Der Wortlaut des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO ist indessen äußerst klar, sodass eine Auslegung im engeren Sinne nicht in Betracht kommt.346 Jedoch wäre die genannte Interpretation nicht abschließend auf eine reine Auslegung als Wahl zwischen zwei gleichwertigen Alternativen beschränkt, sondern würde auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ermög lichen,347 solange diese nicht explizit contra legem und entgegen einem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers erfolgt, wobei eine konkrete, generelle Umsetzungsabsicht wiederum vorrangig zu berücksichtigen wäre.348 Eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung ist indes nur dann zulässig, ding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 183 f.; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 9 Rn. 66 ff. 343 Kulhanek, JR 2016, 208 (210), ders., StV 2016, 814. 344 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 68. 345 Zur unionsrechtskonformen Auslegung vgl. allg. Brand/Blatter, JuS 2016, 983 (984); Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 11 Rn. 15 ff. 346 Kulhanek, JR 2016, 208 (211); vgl. allg. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, § 11: „Die Grenze der Auslegung ist erreicht, wenn die Interpretation des vorliegenden Rechtssatzes nicht mehr vom Zweck der Vorschrift gedeckt ist. Dagegen kommt die Aufstellung eines neuen Rechtssatzes im Wege der Rechtsfortbildung in Betracht“. 347 Vgl. allg. Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 99; Herresthal, EuZW 2007, 396 m. w. N.; ablehnend Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392 (2396 ff.) m. w. N.: das extensive Verständnis des Gebots richtlinienkonformer Rechtsfortbildung überspanne die unionsrechtlichen Vorgaben und überschreite die verfassungsrechtlichen Grenzen. 348 Vgl. BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427 (428 f.) m. w. N.; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 134.
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wenn das Unionsrecht als im Anwendungsvorrang stehendes Recht dies zwingend gebietet und sich das gewünschte Ergebnis nicht im Wege des geltenden Rechts erreichen lässt.349 Das wäre etwa der Fall, wenn der EuGH die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich als richtlinienwidrig charakterisiert hätte. Die deutsche Regelung wurde allerdings als im Grundsatz konform anerkannt. Die geäußerte Voraussetzung der Sicherstellung einer tatsächlichen Zweiwochenfrist lässt sich im Ergebnis über das bestehende Recht der Wiedereinsetzung gewährleisten (vgl. sogleich unter (b)), sodass diese Lösung vorrangig und eine „Überformung“ nicht erforderlich ist.350 (b) U nionsrechtskonforme Auslegung der Vorschriften zur Wiedereinsetzung (in die Wiedereinsetzungsfrist) Schließt sich die tatsächliche Kenntnis direkt an die zwei Wochen ab Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten an, bietet § 45 StPO zusätzlich eine Woche. Liegt der Zeitpunkt noch später, gilt das eben Gesagte. Fällt dagegen der Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnis in die Zweiwochenfrist, eröffnet § 45 StPO – je nachdem ob die tatsächliche Kenntnis in der ersten oder zweiten Woche erfolgt – keine oder nur wenige Tage zusätzliche Zeit. Gleichwohl lassen sich die vom EuGH geforderten zwei vollen Wochen über das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährleisten.351 Zunächst käme insofern in Betracht, die Definition von „Wegfall des Hindernisses“ in den Blick zu nehmen.352 Es ließe sich überlegen, inwieweit das Hindernis möglicherweise erst wegfällt, wenn die geforderte Frist von zwei Wochen zur Überlegung und gegebenenfalls Beratung verstrichen ist. Auf diese Weise hätte man über den Zustellungsbevollmächtigten allerdings eine Woche mehr Zeit als bei direkter Zustellung, was eine nicht gerechtfertigte Besserstellung darstellen würde. Eine zufriedenstellende Lösung kann derweil soweit erforderlich über eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist erreicht werden.353 Die tat349 Wank,
Die Auslegung von Gesetzen, 2015, § 11. JR 2016, 208 (211); a. A. Brodowski, ZIS 2016, 106 (116); ders., StV 2018, 69 (70). 351 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249; Kulhanek, JR 2016, 208 (211); ders., StV 2016, 814; Zündorf, NStZ 2017, 41 (43); ders., JR 2017, 488 (489); ablehnend Brodowski, StV 2016, 210 (211). 352 Seifert, StV 2018, 123 (127) Fn. 49; Zündorf, JR 2017, 488 (490) Fn. 21. 353 Kulhanek, JR 2016, 208 (211); vgl. allg. zur Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist OLG Düsseldorf 29.04.1981 – 5 Ws 30/81, NJW 1982, 60 (61); KKStPO/Maul, § 45 Rn. 4; KMR/Ziegler, § 45 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, § 45 Rn. 3. 350 Kulhanek,
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sächliche Kenntnis führt zum Wegfall des Hindernisses und setzt die Wiedereinsetzungsfrist von einer Woche in Gang. Diesbezüglich ist ein Vortrag des Beschuldigten zum Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnis erforderlich.354 Diese Forderung ist auch angemessen, da sich anderenfalls die maßgeblichen Fristen (Beginn der Wochenfrist ist schließlich die Kenntnis von der Zustellung und nicht etwa der Ablauf der Einspruchsfrist355) nicht zuverlässig berechnen ließen und es sich um eine tatsächliche Frage in der Sphäre des Beschuldigten handelt. Es gibt zudem keinen Grund, den Beschuldigten von sämtlichen Anforderungen und Voraussetzungen des deutschen Rechts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand freizustellen, da ein diesbezüglicher Eingriff in das nationale Recht zu weitgehend wäre.356 Anzumerken ist ferner, dass Zweifel an der Fristeinhaltung zulasten des Antragstellers gehen.357 Jedoch ist hierzu ebenso notwendig, dass dem Beschuldigten mitgeteilt wird, wann die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten und die Weiterleitung durch diesen erfolgten.358 Eine Woche ist nach der eindeutigen Aussage des EuGH zu kurz. Insoweit hat man dem Beschuldigten – gegebenenfalls auch von Amts wegen, § 45 Abs. 1 Satz 3 StPO – die Möglichkeit zur Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zu gestatten.359 Aktenkundig ist bspw. die Zustellungsbevollmächtigung als solche, regelmäßig auch der Zeitpunkt der Absendung durch einen behördlichen Zustellungsbevollmächtigten. Bis zu einer kumulierten Frist von zwei Wochen sind in europarechtskonformer Auslegung der nationalen Normen jedenfalls relativ geringe Anforderungen an die Voraussetzungen des Nichtverschuldens i. S. d. § 44 StPO und der Glaubhaftmachung 354 BGH 13.09.2005 – 3 StR 310/05, BeckRS 2005, 11511; BGH 14.01.2015 – 1 StR 573/14, NStZ-RR 2015, 145; BGH 30.04.2015 – 1 StR 135/15, BeckRS 2015, 10414; BGH 29.07.2015 – 4 StR 222/15, BeckRS 2015, 14636; BGH 03.02.2016 – 4 StR 448/15, BeckRS 2016, 04190: „Der innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO anzubringende und zu begründende Wiedereinsetzungsantrag muss nicht nur Angaben zur versäumten Frist und zum Hinderungsgrund, sondern auch zum Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses enthalten […] Eines entsprechenden Vortrags bedarf es selbst dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen wäre“. 355 BVerfG 06.06.2011 – 2 BvR 960/11, BeckRS 2011, 52475. 356 Vgl. hierzu auch Bot, Schlussanträge zu Rs. C-216/14 vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 34, 88. 357 BGH 14.01.2015 – 1 StR 573/14, NStZ-RR 2015, 145 (146). 358 Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Kulhanek, JR 2016, 208 (211). 359 Kulhanek, JR 2016, 208 (211); dazu, dass in einer Antragstellung stets auch die Anregung inbegriffen ist, eine Wiedereinsetzung von Amts wegen vorzunehmen, OLG Bremen 11.06.1990 – Ws 77/90, StV 1991, 505; vgl. zu einer zusätzlichen Einräumung von Bedenkzeit bei notwendig längeren Postlaufzeiten im Ausland auch bereits LG Görlitz 23.10.2014 – 13 Qs 228/14, juris.
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i. S. d. § 45 StPO zu stellen.360 Dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung ist diesbezüglich Genüge getan, indem von mehreren nach nationaler Dogmatik und Verfassungsrecht vertretbaren Auslegungsergebnissen dasjenige gewählt wird, welches der in der Richtlinie und der insoweit ergangenen Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck gekommenen unionsrechtlichen Wertungsvorgabe am besten entspricht.361 Schließlich ist ohnehin anerkannt, dass die Anforderungen im Bereich der Sorgfaltspflichten insbesondere dann nicht überspannt werden dürfen, wenn es wie im Strafbefehlsverfahren um den ersten Zugang zu Gericht geht.362 Für sprachfremde Beschuldigte an dieser Stelle von Relevanz und daher zu erwähnen ist, dass von einer Ansicht – durchaus in gewissem Widerspruch zu § 184 GVG – als Mittel der Glaubhaftmachung gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO auch fremdsprachige Nachweise zugelassen werden.363 Indes ist nicht ersichtlich, weshalb hier anders als bei sonstigen Schriftstücken an das Gericht vom streng verstandenen Gerichtssprachenerfordernis abgewichen werden sollte. Inwieweit den Säumigen ein Verschulden trifft, beurteilt sich ganz allgemein nach den konkreten Eigenschaften und Verhältnissen desselben.364 „Ohne Verschulden“ gem. § 44 Satz 1 StPO handelt, wer die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und Eigenschaften unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbare Sorgfalt anwendet.365 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu beachten, ob es sich um einen nicht von einem Rechtsanwalt vertretenen, nicht der deutschen Sprache mächtigen Beschuldigten handelt.366 Für die Einzelfallfrage des Verschuldens i. S. v. § 44 StPO ist dabei aber auch in den Blick zu nehmen, in welchem Zusammenhang die Erteilung der Zustellungsbevollmächtigung erfolgte.367 Bei einer allgemeinen Fahndungsnotierung unter Beifügung des Zusatzes „Durchführung einer Be360 Kulhanek, JR 2016, 208 (211 f.); ders., StV 2016, 814; Zündorf, NStZ 2017, 41 (43); vgl. auch BeckOK-StPO/Cirener, § 44 Rn. 26.2. 361 Vgl. allg. Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 367. 362 BVerfG 03.06.1975 – 2 BvR 99/74, BVerfGE 40, 42 = NJW 1975, 1405; BVerfG 18.10.2012 – 2 BvR 2776/10, NJW 2013, 592 (593); BeckOK-StPO/Cirener, § 44 Rn. 26; Greßmann, NStZ 1991, 216 (219). 363 OLG Bamberg 15.12.1988 – Ws 653/88, NStZ 1989, 335: „Es ließe die Anforderungen überspannen, wollte man die Vorlage der Originalurkunden nebst deren Übersetzung in die deutsche Sprache verlangen“; MüKo-StPO/Valerius, § 45 Rn. 11. 364 BeckOK-StPO/Cirener, § 44 Rn. 14. 365 MüKo-StPO/Valerius, § 44 Rn. 40. 366 BGH 24.04.2013 – 4 StR 86/13, NStZ-RR 2013, 254; LG Ravensburg 04.05.2015 – 2 Qs 29/15, NStZ-RR 2015, 219 (220); Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn. 13. 367 Kulhanek, JR 2016, 208 (212).
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht165
schuldigtenvernehmung wegen Tatvorwurf x; Benennung eines Zustellungs bevollmächtigten“368 handelt es sich um allgemeine Ermittlungen mit der Folge, dass bis etwa sechs Wochen keine besonderen Vorkehrungen zur rechtzeitigen Kenntnisnahme von Zustellungen getroffen werden müssen.369 Erfolgt die Fahndungsnotierung jedoch mit dem Zusatz „Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten wegen Zustellung Strafbefehl y“, so ist von einer zeitnahen Zustellung mit entsprechender Sorgfaltspflicht für den Beschuldigten auszugehen.370 Diese Überlegung ist insbesondere für Beschuldigte ohne jeglichen Wohnsitz relevant, da diese sich mangels Weiterleitungsadresse in jedem Fall über eine Zustellung beim Zustellungsbevollmächtigten informieren müssen. Den Beschuldigten trifft im wechselseitigen Verhältnis der Zustellungsbevollmächtigung eben auch eine gewisse Informations- und Erkundigungspflicht, vor allem wenn er entweder gar keine oder eine (bereits von Beginn an oder im Nachhinein etwa durch Umzug) falsche Adresse angegeben hat. Derjenige, welcher seinem Rechts- und Pflichtenkreis vermeidbar gleichgültig gegenübersteht, ist nicht schützenswert.371 Ganz generell wird man das Maß der Fristüberschreitung, die Frage, ob dem Beschuldigten die Tatsache des (zeitnahen) Zugangs von Schriftstücken bewusst ist, und etwaige Anstrengungen zur Kenntniserlangung von justiziellen Schreiben ins Verhältnis setzen und gegeneinander abwägen müssen.372 Zusammenfassend ist demnach zu konstatieren, dass der Vorwurf, der Beschuldigte hätte sich beim Zustellungsbevollmächtigten informieren müssen, nicht pauschal zur Versagung der Wiedereinsetzung führen kann.373 Die Erleichterung des Zugangs zu Gericht durch verfassungskonforme Gesetzesauslegung im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt.374 Infolge des Covaci-Urteils des EuGH bedarf es für die Frage der Wiedereinsetzung bei Zustellung von Strafbefehlen an einen Zustellungsbevollmächtigten im beschriebenen Maße 368 Vgl. hierzu Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497); HdbStA/Schnabl/Dallmeyer/Vordermayer, 1. Teil 2. Kap. Rn. 41; ablehnend LG Dresden 23.01.2013 – 5 Qs 149/12, NStZ-RR 2013, 286. 369 Kulhanek, JR 2016, 208 (212); vgl. allgemein BVerfG 18.10.2012 – 2 BvR 2776/10, NJW 2013, 592 (593); Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn. 14; MüKo-StPO/ Valerius, § 44 Rn. 42. 370 Kulhanek, JR 2016, 208 (212); vgl. allgemein Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn. 14. 371 OLG Hamm 03.05.2016 – 4 Ws 103/16, BeckRS 2016, 9439 = JA 2016, 793 m. Bspr. Kudlich; Greßmann, NStZ 1991, 216 (220). 372 Kudlich, JA 2016, 793 (794 f.). 373 Kulhanek, JR 2016, 208 (212). 374 BVerfG 21.03.2005 – 2 BvR 975/03, BVerfGK 5, 151 = NStZ-RR 2005, 238 (239); BeckOK-StPO/Cirener, § 44 Rn. 14.
166
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
einer unionsrechtskonformen Auslegung zur Wahrung einer (jedenfalls kumuliert) vollständigen Zweiwochenfrist.375 Ein momentan in der Praxis teilweise zu beobachtender „Wiedereinsetzungsautomatismus“ dergestalt, dass es für den infolge eines Vollstreckungshaftbefehls aufgegriffenen Beschuldigten schlicht genügt, sich ohne weiteren tatsächlichen Vortrag auf mangelnde Kenntnis von dem gegen ihn ergangenen Strafbefehl zu berufen, ist damit aber jedenfalls nicht erforderlich.376 Schließlich kann der Betroffene, welcher einen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, seinen Wiedereinsetzungsantrag im Grundsatz gerade nicht darauf stützen, er selbst habe von der Zustellung keine Kenntnis erlangt.377 Letztlich handelt es sich insoweit um eine für jede Ersatzzustellung/Zustellungsfiktion geltende, potentielle Tatsächlichkeit.378 Zwar ist es richtig, bei der Festnahme auf entsprechenden Einwand die Wiederaufnahme (von Amts wegen) zu prüfen und gegebenenfalls unverzüglich die Vollstreckung gem. § 456 StPO i. V. m. § 47 Abs. 2 StPO analog vorläufig aufzuschieben, jedoch ist ein fehlendes Verschulden
375 KK-OWiG/Lutz, Vor §§ 53 ff. Rn. 165a; Kulhanek, JR 2016, 208 (212); ders., StV 2016, 814. 376 A. A. LG Nürnberg-Fürth 07.06.2017 – 12 Qs 14/17, unveröffentlicht: „Auf eine Verletzung einer Obliegenheit des Beschuldigten, sich beim Zustellungsbevollmächtigten über den Eingang von Strafbefehlen zu informieren, kommt es dabei nach der eindeutigen EuGH-Rechtsprechung nicht an“; KMR/Ziegler, § 44 Rn. 44: „Unauflösliche Bedingung dieser Rechtsanwendung ist aber, dass einem solchen Beschuldigten, der – etwa im Vollstreckungsverfahren – geltend macht, erstmals von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erhalten zu haben, ohne weitere Voraussetzungen und ohne Glaubhaftmachung seiner Behauptung von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird; eine andere Entscheidung kann nur getroffen werden, wenn das Gegenteil feststeht“; Brodowski, StV 2018, 69 (70), der zudem sogar verlangt, dass über den Wortlaut des § 409 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 StPO hinaus der Beschuldigte dahingehend zu belehren sei, dass ihm ab persönlicher Kenntnisnahme eine zweiwöchige Einspruchsfrist unabhängig davon zustehe, ob der Strafbefehl infolge Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten bereits rechtskräftig geworden sei. Vgl. dagegen allg. jedoch BGH 13.05.1997 – 1 StR 142/97, NStZ 1997, 560 (561); BGH 31.08.2017 – 4 StR 294/17, NStZ-RR 2017, 381 (382): „Einer Belehrung über die Möglichkeit und die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung bedarf es nicht“. Vgl. zur Stützung der hiesigen Ansicht im Kontext des § 145a StPO auch EGMR 09.05.2007 – 12788/04, NJW 2008, 2320 (2321): Das Recht auf Zugang zu einem Gericht wird nicht unangemessen eingeschränkt, wenn nur der Verteidiger eine Entscheidung mit Rechtsmittelbelehrung erhält und die Wiedereinsetzung mit der Begründung abgelehnt wird, der Beschuldigte hätte unverzüglich Kontakt zu seinem Verteidiger aufnehmen können. 377 RG 11.07.1932 – 3 TB 54/32, RGSt 66, 350 (352); BGH 13.01.1977 – 4 StR 679/76, NJW 1977, 640; OLG Koblenz 01.06.2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373 (375); OLG Hamm 14.04.2016 – 4 Ws 101/16, NStZ-RR 2016, 216; KK-StPO/ Maul, § 44 Rn. 23; krit. Greßmann, NStZ 1991, 216 (219). 378 HK-StPO/Pollähne, § 37 Rn. 6.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht167
des Beschuldigten wie gezeigt nicht per se gegeben.379 Dass zeitgleich die versäumte (Einspruchs‑)Handlung regelmäßig nicht in der Form des § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nachgeholt werden kann, sollte mit einer großzügigen Auslegung/Analogie in bonam partem ausgeglichen werden. dd) Anklagen mit Zustellungsbevollmächtigtem Ein weiteres taugliches Instrument zur Sicherstellung der Beschuldigtenrechte nach der Richtlinie 2012/13/EU ist die Erhebung einer Anklage über den Zustellungsbevollmächtigten.380 Der Strafbefehl ist lediglich ein Mittel zur beschleunigten Aburteilung insbesondere in Fällen, in denen eine Geldstrafe zu erwarten ist und keine anderen Gesichtspunkte zwingend für die Notwendigkeit einer öffentlichen Hauptverhandlung sprechen.381 Allerdings verbietet dies in keinem Fall die Anklageerhebung. Die Zustellung der Anklageschrift und die Ladung zur Hauptverhandlung können sodann über den Zustellungsbevollmächtigten erfolgen.382 In diesem Zusammenhang ist auch auf Art. 8, 9 RL 2016/343/EU383 hinzuweisen. Danach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Beschuldigte das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, Art. 8 Abs. 1 RL 2016/343/EU. Eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld führen kann, darf in Abwesenheit nur durchgeführt werden, sofern der Beschuldigte rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder er nach Unterrichtung über die Verhandlung von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, Art. 8 Abs. 2 RL 2016/343/EU.384 Art. 9 Satz 1 RL 379 Vgl. auch LG Stuttgart 13.09.2016 – 19 Qs 49/16, BeckRS 2016, 18857; diff. nach wohnsitzlosen Beschuldigten und solchen mit Weiterleitungsadresse Seifert, StV 2018, 123 (127). 380 Kulhanek, JR 2016, 208 (212); vgl. hierzu allg. vertiefend Kulhanek, NStZ 2015, 495. 381 Vgl. HdbStA/Eschelbach, 4. Teil Rn. 177. 382 RG 17.03.1910 – 186/10, RGSt 43, 321; RG 07.10.1943 – 2 D 196/43, RGSt 77, 212 (214); OLG Dresden 02.10.2014 – 1 Ws 214/14, StV 2016, 219 = BeckRS 2016, 05049; LG Nürnberg-Fürth 04.05.2015 – 16 Qs 11/15 (unveröffentlicht); LG Offenburg 13.07.2016 – 3 Qs 46/15, BeckRS 2016, 12863; SSW-StPO/Mosbacher/ Claus, § 37 Rn. 42; Greßmann, NStZ 1991, 216 (218); Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497 f.); a. A. LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 37 Rn. 7; Schmidt, 1957, §§ 36, 37 Rn. 15; Janetzke, NJW 1956, 620. 383 Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. Nr. L 65 S. 1, Celex-Nr. 3 2016 L 0343. 384 Vgl. hierzu auch Böse, StV 2017, 754 (759).
168
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
2016/343/EU wiederum verlangt die Gewähr, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Art. 8 Abs. 2 RL 2016/343/EU genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. Ein gewisses Konfliktpotential zwischen den hinter diesen Richtlinienerfordernissen stehenden, letztlich in der Unschuldsvermutung (Art. 3 RL 2016/343/EU) fußenden Gedanken und der Zustellung eines Strafbefehls über einen dem Beschuldigten persönlich nicht bekannten Zustellungsbevollmächtigten (insbesondere bei fehlender Weiterleitungsadresse) ist unverkennbar, wenn auch freilich Art. 8 Abs. 6 RL 2016/343/EU nationale Vorschriften unbeschadet lässt, die vorsehen, dass das Verfahren oder bestimmte Verfahrensabschnitte schriftlich durchgeführt werden, vorausgesetzt, dass das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleibt. Jedenfalls würde eine Anklageerhebung über den Zustellungsbevollmächtigten (im Anschluss gegebenenfalls unter Hinzunahme von Zwangsmaßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO) die genannten Ziele der RL 2016/343/EU nachhaltiger verwirklichen. c) EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Az. C-124/16, C-188/16, C-213/16 (Tranca, Reiter, Opria) Da es sich bei dem Institut der strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigung um ein für die Praxis extrem bedeutsames Gebiet handelt, hat die soeben dargestellte Ungewissheit in der Auslegung der Covaci-Entscheidung zu erheblichem Unbehagen, Rechtsunsicherheit und unterschiedlicher Rechtsanwendung geführt. Demzufolge bestand weiterer Bedarf für Vorabentscheidungsersuchen. Zunächst am 29.02.2016385 sowie erneut am 18.04.2016386 legte das AG München zwei Fragen vor: Zum einen, ob Art. 2 und Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 RL 2012/13/EU der Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaates entgegenstehen, nach der ein Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, auch wenn der Beschuldigte in der Folge nicht über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt, er aber auch keine Adresse hat, unter der ihm nachweisbar der Strafbefehl mitgeteilt werden kann, und ihm die namentliche Mitteilung des Zustellbevollmächtigten mit Adresse die Möglichkeit gibt, den Zustellungsbevoll385 EuGH 386 EuGH
C-124/16 (Ianos Tranca), ABl EU 2016, Nr. C 260, 15. C-213/16 (Tanja Reiter), ABl EU 2016, Nr. C 260, 20.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht169 mächtigten auf dem Laufenden zu halten, wohin ihm ein Strafbefehl mit Mitteilungsnachweis zugesendet werden kann. Zum anderen, ob die Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1, Abs. 3 RL 2012/13/EU bei Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten einer Fristberechnung für die Zulässigkeit des Einspruchs entgegenstehen, wonach für deren Beginn die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten ausreicht, wenn der Beschuldigte bei einer so berechneten Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen kann und dann als Entschuldigung genügt, dass ihm der Strafbefehl weitergeleitet worden ist und er nach Weiterleitung fristgerecht Einspruch eingelegt hat, wenn er also durch die Wiedereinsetzung nachträglich die unverkürzte Einspruchsfrist geltend machen kann, selbst wenn gesetzlich die Vollstreckbarkeit des Strafbefehls bei Fristsäumnis als Regel angeordnet ist.
Den beiden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde lagen jeweils Haftbefehlsanträge durch die Staatsanwaltschaft München I wegen Fluchtgefahr, wobei das AG München (Ermittlungsrichter) sich der Prüfung ausgesetzt sah, inwieweit in Anbetracht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weniger einschneidende Maßnahmen als Untersuchungshaft zur Verfügung stehen.387 Das LG München I legte ferner am 04.04.2016388 folgende Frage vor: „Sind die Art. 2, Art. 3 Abs. 1 lit. c, Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 RL 2012/13/EU dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen im Rahmen des Strafverfahrens gegen einen Beschuldigten, der in dem Mitgliedstaat keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, ein gegen diesen gerichteter Strafbefehl an einen von ihm benannten Zustellungsbevollmächtigten zugestellt werden kann, mit der Folge, dass der Strafbefehl mit Verstreichen der ab der Zustellung beim Bevollmächtigten laufenden (zweiwöchigen) Einspruchsfrist rechtskräftig wird, entgegenstehen, wenn dem Beschuldigten, der innerhalb zweier Wochen ab seiner tatsächlichen Kenntniserlangung von dem Strafbefehl beim zuständigen Gericht schriftlich Einspruch gegen den Strafbefehl einlegt, von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist mit der Folge, dass ab dem Erlass der Widereinsetzung gewährenden Entscheidung weiter wie bei rechtzeitig eingelegtem Einspruch zu verfahren ist?“
Diesem Vorabentscheidungsersuchen lag ein Strafbefehl zugrunde, welcher dem Zustellungsbevollmächtigten zugestellt wurde. Da innerhalb der Einspruchsfrist kein Eingang zu verzeichnen war, wurde der Eintritt der Rechtskraft vermerkt. Die Staatsanwaltschaft München I beantragte sodann unter Hinweis auf die Covaci-Entscheidung die Streichung des Rechtskraftvermerks, was zurückgewiesen wurde, woraufhin die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde zum LG München I einlegte.389 387 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 12 ff. 388 EuGH C-188/16 (Ionel Opria), ABl EU 2016, Nr. C 260, 16. 389 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 25 ff.
170
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
In der verbundenen Rechtssache Tranca, Reiter, Opria gibt der EuGH eine präzisere Antwort als noch in der Covaci-Entscheidung: „Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie denen der Ausgangsverfahren nicht entgegenstehen, die im Rahmen eines Strafverfahrens vorsehen, dass ein Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen festen Aufenthalt hat und weder dort noch in seinem Herkunftsmitgliedstaat einen festen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen hat und dass die Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl – bevor dieser vollstreckbar wird – ab der Zustellung des Strafbefehls an diesen Bevollmächtigten läuft. Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verlangt jedoch, dass bei der Vollstreckung des Strafbefehls die betroffene Person, sobald sie von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, in die gleiche Lage versetzt wird, als sei ihr der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügt, gegebenenfalls durch ihre Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, darauf zu achten, dass das nationale Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens im Einklang mit diesen Anforderungen angewandt werden und dass dieses Verfahren somit die wirksame Ausübung der Rechte nach Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ermöglicht.“390
Der EuGH stellt erneut heraus, dass nationale Zustellungsmodalitäten weder das europarechtlich angestrebte Ziel der Ermöglichung einer wirksamen Verteidigungsvorbereitung sowie der Gewährleistung eines fairen Verfahrens beeinträchtigen noch zu einer Diskriminierung ortsfremder Beschuldigter führen dürfen.391 Ferner negiert er ein aus der Richtlinie (oder der diese betreffenden Rechtsprechung) entspringendes Gebot, die Einspruchsfrist erst ab dem Zeitpunkt laufen zu lassen, zu welchem der Beschuldigte von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt.392 Welche Folgen ein Fristablauf hat und unter welchen Voraussetzungen eine strafrechtliche Entscheidung rechtskräftig und vollstreckbar wird, bleibt der Autonomie der nationalen Rechtsordnung vorbehalten.393 Allerdings sieht der EuGH das Ziel von Art. 6 RL 2012/13/EU beeinträchtigt, wenn der Adressat eines Strafbefehls keinerlei 390 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 53 = JR 2017, 488 m. zust. Anm. Zündorf = StV 2018, 69 m. Anm. Brodowski. 391 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 38, 40. 392 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 42. 393 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 44.
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht171
Kenntnis von der Existenz und vom Inhalt des Strafbefehls hatte, da ihm dieser mangels eines bekannten Wohnsitzes nicht persönlich zugestellt wurde.394 Es sei daher an den Mitgliedstaaten, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Beschuldigte, die gegebenenfalls erst zum Zeitpunkt der Vollstreckung der rechtskräftigen Verurteilung über den Tatvorwurf unterrichtet werden, dennoch die Möglichkeit behalten, ihre Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben, weshalb diese, sobald sie von der an sie gerichteten strafrechtlichen Entscheidung tatsächlich Kenntnis erlangen, in die gleiche Lage zu versetzen sind, als sei ihnen diese Entscheidung persönlich zugestellt worden.395 Das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erkennt der EuGH ausdrücklich als geeignetes Mittel zur Wahrung der unionsrechtlichen Beschuldigtenrechte an, wobei im Bedarfsfall die nationalen Vorschriften richtlinienkonform auszulegen seien.396 Der EuGH hat sich folglich umfassend der oben zweitgenannten Ansicht des Fristbeginns ab Zustellung beim Zustellungsbevollmächtigten bei gleichzeitiger unionsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angeschlossen und damit das Rechtsinstitut der Zustellungsbevollmächtigung als wirksames Instrument zum Umgang mit ortsfremden Beschuldigten gestärkt. Auf welche Weise genau die Zweiwochenfrist zu gewährleisten ist, wurde nicht besprochen, jedoch bleibt der dargestellte Weg über eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist gegenüber einer rechtsfortbildenden Verlängerung der Frist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO vorzugswürdig.
394 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 45. 395 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 47. 396 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 48 f.; Zündorf, JR 2017, 488 (490).
172
C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
4. Entwurf eines umfassenden Zustellungsvollmachtsformulars
Aufnehmende Behörde/Dienststelle Ort Datum Polizeilicher Sachbearbeiter Polizeiliche Vorgangsnummer Staatsanwaltschaftliches Aktenzeichen
Benennung eines/einer Zustellungsbevollmächtigten Der/Die Beschuldigte Familienname Geburtsname Vorname Geburtsdatum Geburtsort Staatsangehörigkeit(en) Geschlecht Familienstand Beruf/ausgeübte Tätigkeit Anschrift
Telefon/E-Mail
I. Das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht173
benennt im Verfahren Verletzte Strafnorm Tatzeit Tatort Tatvorwurf in groben Zügen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 StPO) auf freiwilliger, rein rechtsgeschäftlicher Basis gem. § 145a Abs. 1 StPO sowie gesonderte Ladungsvollmacht gem. § 145a Abs. 2 StPO sowie zusätzliche rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht gem. § 127a Abs. 2 i. V. m. § 116a Abs. 3 StPO Anordnung durch ____________________ Sicherheitsleistung in Höhe von _____ EUR erhoben (vgl. beiliegendes Formblatt) gem. § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO Anordnung durch ____________________
Gefahr im Verzug (gesondert ausführen) Sicherheitsleistung in Höhe von _____ EUR erhoben (vgl. beiliegendes Formblatt)
gem. § 161 Abs. 1 Satz 1 StPO Anordnung durch ____________________ Auf Freiwilligkeit wurde explizit hingewiesen. den/die Zustellungsbevollmächtigte(n) Name Anschrift Telefon/E-Mail
in seiner/ihrer Eigenschaft als geschäftsplanmäßig bestellte(r) Zustellungsbevoll mächtigte(r), Nr. 60 Satz 2 RiStBV, für den Bezirk des AG/der StA ________________________.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Die erforderliche Einverständniserklärung des/der Zustellungsbevollmächtigen liegt in schriftlicher Form bei. wurde mündlich eingeholt durch __________________________________. Name + Unterschrift des Einholenden wird wegen Nr. 60 Satz 2 RiStBV vermutet. Der/Die Zustellungsbevollmächtigte ist ausschließlich für die Entgegennahme und Übersendung von amtlichen Schriftstücken an den/die Beschuldigte(n) zuständig. Er/ Sie nimmt keine Schriftstücke des/der Beschuldigten in Empfang. Fristen beginnen im Zeitpunkt der Zustellung an den/die Zustellungsbevollmächtigte(n) zu laufen. Der/Die Zustellungsbevollmächtigte ist nicht befugt, Rechtsmittel einzulegen. Die erteilte Zustellungsvollmacht ist unwiderruflich. Sind mehrere Zustellungsbevollmächtigte benannt, kann jeder für sich einzeln handeln. Der/Die Zustellungsbevollmächtigte ist ausdrücklich berechtigt, Untervollmachten zu erteilen. Mir ist bekannt, dass gem. § 187 Abs. 2 GVG insbesondere Strafbefehle und Anklageschriften der Übersetzung bedürfen, wenn der/die Beschuldigte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist. Auf dieses Recht kann gem. § 187 Abs. 3 GVG verzichtet werden. Ich verzichte auf eine Übersetzung eines etwaigen Strafbefehls/einer etwaigen Anklageschrift in meine Heimatsprache bzw. eine mir verständliche Sprache. Eine Durchschrift dieser Niederschrift wurde mir in einer mir verständlichen Sprache ausgehändigt. Ich habe das Institut der strafprozessualen Zustellungsvollmacht verstanden und bestätige dies mit meiner nachfolgenden Unterschrift.
__________________ __________________ _____________________ Unterschrift des Vollmachtgebers/der Vollmachtgeberin
ggf. Dolmetscher(in)
Name, Amtsbezeichnung
II. Zustellung im Ausland175
II. Zustellung im Ausland Die Übersendung von Schriftstücken ins Ausland stellt die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt in dem jeweiligen fremden Staatsgebiet dar, was zunächst eine völkerrechtliche Unzulässigkeit bedeutet.397 1. Zustellung im Rechtshilfewege Demzufolge hat jedwede Form der Auslandskorrespondenz (förmliche Zustellungen ebenso wie formlose Anschreiben oder Mitteilungen) zunächst grundsätzlich im Wege der Rechtshilfe auf dem dafür völkerrechtlich vorgesehenen Geschäftsweg unter Beteiligung der Behörden des ersuchten Staates zu erfolgen.398 Letztlich können Strafbefehl oder Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss und Ladung zur Hauptverhandlung im Rechtshilfeweg wirksam zugestellt werden.399 Als Nachweis der Zustellung gilt dabei entweder das schriftliche Empfangsbekenntnis des Zustellungsadressaten oder das schriftliche Zeugnis der zuständigen Behörde des ersuchten Staates, welche die Tatsache, die Form und das Datum der Zustellung bestätigen.400 Neben der reinen Zustellung des Schriftstücks hat der Unionsgesetzgeber auch für eine sich etwaig anschließende Vollstreckung im Rechtshilfeweg einen Ansatz geboten: Durch den Rahmenbeschluss 2005/214/JI401 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, in anderen Mitgliedstaaten verhängte Geldstrafen ab 70,00 EUR (Art. 7 Abs. 2 lit. h RB 2005/214/JI) anzuerkennen und zu vollstrecken (vgl. hierzu näher D. II. 1. d)).
397 MüKo-StPO/Valerius, § 37 Rn. 56; Kuhn, JA 2011, 217 (221); Roth, NStZ 2014, 551 (552). 398 LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 37 Rn. 90 ff.; Roth, NStZ 2014, 551 (552). Zu den Instrumenten des Rechtshilfeverkehrs in Europa vgl. allg. Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 423 ff. 399 Jakoby, StV 1993, 448 (449); Scheffler, Kriminalität im Grenzgebiet, 1998, S. 169 (171). 400 BayObLG 20.02.1981 – RReg 1 St 513/80, BayObLGSt 1981, 17 (19): „sieht deshalb die gesetzliche Regelung vor, daß abgesehen von den Fällen, in denen der Zustellungsadressat den Empfang selbst bestätigt hat, der Nachweis der Zustellung nicht durch die vom ausführenden Beamten erstellte Zustellungsurkunde, sondern durch das – eine weitergehende Sicherheit für das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Zustellung bietende – Zeugnis der ersuchten Stelle erbracht wird.“ 401 Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. Nr. L 76 S. 16, Celex-Nr. 3 2005 F 0214.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
2. Direkte Kommunikation mit Beschuldigten im Ausland Gem. §§ 37 Abs. 1 StPO, 183 Abs. 1 Nr. 1 ZPO besteht die Möglichkeit der vereinfachten Auslandszustellung durch Einschreiben mit Rückschein, soweit aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen Schriftstücke unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen.402 In diesem Fall handelt es sich bei der Verfügung, die Übersendung eines konkret bezeichneten justiziellen Schreibens an einen Verfahrensbeteiligten im Ausland zu veranlassen, nicht um eine Rechtshilfetätigkeit, weil fremde hoheitliche Rechtshilfe infolge des partiellen Souveränitätsverzichts der Anwenderstaaten gerade nicht in Anspruch genommen wird.403 Für (zusätzlich) sprachfremde Beschuldigte enthält Art. 5 Abs. 3 des EU-Rechtshilfeübereinkommens in Strafsachen (EURhStrÜbk)404 die klarstellende Regelung, dass das entsprechende Schriftstück zu übersetzen ist. Anlage III zu Anhang II RiVASt enthält eine Liste der Urkunden, die gemäß Art. 52 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)405 bzw. Art. 5 Abs. 1 EU-RhStrÜbk unmittelbar durch die Post zugestellt werden können.406 Nach A 1. b) dieser Anlage genügt für die Gewährung rechtlichen Gehörs durch die Staatsanwaltschaft eine formlose Mitteilung, ebenso gem. B 4. für die Beschuldigtenvernehmung. Unter G 10. ist geregelt, dass ein Strafbefehl als Einschreiben mit Rückschein (§ 37 Abs. 1 StPO i. V. m. § 175 ZPO) zugestellt werden kann. Gleiches gilt nach E 1. für die Mitteilung der Anklageschrift, nach G 2. für die Mitteilung des Eröffnungsbeschlusses und nach G 3. für die Ladung zur Hauptverhandlung. Indes muss die Empfangsbestätigung nachvollziehbar, vollständig und aussagekräftig erkennen lassen, an wen das betreffende Schriftstück übergeben wurde.407 In diesem Zusam402 KK-OWiG/Lampe, § 51 Rn. 55; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 37 Rn. 87 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 37 Rn. 25; Gietl, StV 2017, 263 (266). 403 Roth, NStZ 2014, 551 (552 f.). 404 Übereinkommen – gemäß Artikel 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 12.07.2000, ABl. Nr. C 197 S. 3, Celex-Nr. 4 2000 A 0712(01). 405 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. 2000 Nr. L 239 S. 19, EU-Dok.-Nr. 4 2000 A 0922 (02). 406 Gem. Art. 2 Abs. 2 EU-RhStrÜbk wurde Art. 52 SDÜ mit Wirkung für die Vertragsstaaten des EU-RhStrÜbk untereinander aufgehoben, vgl. SSW-StPO/Mosbacher/ Claus, § 37 Rn. 38; Roth, NStZ 2014, 551 (553); HdbStA/Ettenhofer/Vordermayer, 1. Teil 3. Kap. Rn. 49. 407 OLG Köln 15.10.1999 – 3 Ws 1/99, NStZ 2000, 666.
II. Zustellung im Ausland177
menhang ist ferner zu beachten, dass eine etwaige Verweigerung der Entgegennahme durch Nichtabholung der Sendung in der gesetzten Frist nicht zur Fiktion der Zustellung führt: Wird das Schriftstück trotz Benachrichtigung nicht abgeholt, erfolgt eine Rücksendung des Briefes als unzustellbar; die Zustellfiktion des § 179 Satz 3 ZPO kommt trotz Annahmeverweigerung im Falle des § 175 ZPO nicht in Betracht, da die Norm bei einer Zustellung durch Einschreiben mit Rückschein nicht anwendbar ist.408 Weil der Rückschein als Nachweis der Zustellung genügt, aber auch erforderlich ist, liegt eine wirksame Auslandszustellung nur vor, wenn der vom Empfänger unterschriebene Rückschein tatsächlich zu den Gerichtsakten gelangt.409 Die Feststellung einer ladungsfähigen Anschrift kann nötigenfalls über den polizeilichen Amtshilfeverkehr oder im Wege einer Ausschreibung nach Art. 98 SDÜ erfolgen.410 Ist die Anschrift im Ausland unbekannt, verlangen die entsprechenden Verfahrensvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats einen anderen als einen auf dem Postweg möglichen Nachweis über die Zustellung,411 scheiterte eine zunächst auf dem Postweg vorgenommene Zustellung oder hat der ersuchende Mitgliedstaat berechtigte Gründe für die Annahme, dass der Postweg nicht zum Ziel führen wird bzw. ungeeignet ist, so verbleibt die Möglichkeit der Rechtshilfezustellung durch Vermittlung der zuständigen Behörden des ersuchten Mitgliedstaats, Art. 5 Abs. 2 lit. a-d EU-RhStrÜbk. In den übrigen Fällen ist die Inanspruchnahme förmlicher Rechtshilfe im Anwendungsbereich des Übereinkommens hingegen nicht mehr statthaft.412 Es bleibt somit festzuhalten, dass die Zustellung von Strafbefehlen, Anklagen, Eröffnungsbeschlüssen und Ladungen zur Hauptverhandlung bei bekannter Adresse im Ausland entweder vereinfacht durch Einschreiben mit Rückschein oder jedenfalls im formalisierten Rechtshilfeweg erfolgen kann. Angesichts dessen sehen manche die praktische Bedeutung der Zustellungsvollmacht schwinden.413 Jedoch sind die Möglichkeiten der Auslandszustel408 LG Nürnberg-Fürth 10.07.2009 – 12 Qs 50/09, StraFo 2009, 381; LG Rostock 17.12.2014 – 13 Qs 227/14, StraFo 2015, 63; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 39. 409 OLG Brandenburg 14.11.2002 – 2 Ws 347/02, StV 2003, 324; OLG Oldenburg 21.02.2005 – 1 Ws 73/05, StV 2005, 432; HK-StPO/Pollähne, § 37 Rn. 18; MüKoStPO/Valerius, § 37 Rn. 58; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 39. 410 Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 68 IRG Rn. 30; Roth, NStZ 2014, 551 (558). 411 Wovon der deutsche Gesetzgeber bei völkerrechtlich zulässiger direkter Übersendung ins Ausland Abstand genommen hat, vgl. Roth, NStZ 2014, 551 (558). 412 Roth, NStZ 2014, 551 (553). 413 Mayer, NStZ 2016, 76 (79); weitergehend Gietl, StV 2017, 263 (267): „Wenn die Zustellung ins Ausland mittels Einschreiben zulässig ist, muss sie daher auch
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
lung mit vielfältigen Problemen behaftet und relativ unpraktikabel.414 Beispielsweise bestehen für die Polizei beim ersten Antreffen kaum Möglichkeiten zur Überprüfung einer angegebenen ausländischen Adresse. Die Ingewahrsamnahme zur Adressüberprüfung als Unterfall der Identitätsfeststellung i. S. d. § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO wäre zwar möglich, §§ 163b Abs. 1 Satz 2, 163c StPO,415 allerdings darf nicht vernachlässigt werden, dass es sich um einen erheblichen Eingriff in das Freiheitsrecht des Einzelnen handelt, die Überprüfung einer Adresse im Ausland durchaus beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen kann und die (Anordnung der) Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten insoweit das mildere Mittel darstellt. Hinzu kommt, dass eine etwaige Aufgabe/Änderung des ausländischen Wohnsitzes von den deutschen Behörden im weiteren Verfahrensverlauf nicht in gleichem Maße wie die inländische Meldesituation überwacht sowie nachvollzogen werden kann. 3. Sicherungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO (Sitzungshaftbefehl) Voraussetzung für einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO bei nicht entschuldigtem Fernbleiben in der Hauptverhandlung ist eine ordnungsgemäß zugestellte Ladung gem. § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO, in welcher die schriftliche Warnung enthalten ist, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde.416 Von einer Ansicht wird nun bezweifelt, dass eine solche Ladung mit entsprechender Zwangsmittelandrohung (Vorführung und Haftbefehl) bei einer Zustellung im Ausland rechtswirksam überhaupt möglich ist.417 Bereits die Androhung selbst sei ein Zwangsmittel, welches durch die deutschen Behörden auf fremdem Hoheitsgebiet infolge des völkerrechtlichen Territorialitätsgewählt werden. Alles andere wird jedenfalls für den ersten Zustellungsversuch oftmals pflichtwidrig sein.“ A. A. zu Recht SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 41: „In der Praxis des Strafverfahrens spielt die Zustellung an Zustellungsbevollmächtigte eine wichtige Rolle.“ 414 Scheffler, Kriminalität im Grenzgebiet, 1998, S. 169. 415 KK-StPO/Griesbaum, § 163b Rn. 11. 416 OLG Oldenburg 21.02.2005 – 1 Ws 73/05, StV 2005, 432; KG 10.11.2010 – 3 Ws 459/10, NStZ 2011, 653 (654); KG 14.04.2013 – (1) 3 StE 6/11-1 (3/11), StV 2014, 204; OLG Köln 16.09.2013 – 2 Ws 502/13, StV 2014, 205; OLG Naumburg 06.11.2013 – 1 Ws 66/13, StV 2014, 205. 417 OLG Frankfurt 21.01.1998 – 1 Ws 189/97, NStZ-RR 1999, 18 (19); OLG Köln 18.10.2005 – 2 Ws 488/05, NStZ-RR 2006, 22; OLG Brandenburg 21.05.2007 – 1 Ws 92/07, StV 2009, 348; KMR/Eschelbach, § 230 Rn. 41; Grau, NStZ 2007, 10 (12); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 513.
III. Öffentliche Zustellung179
prinzips nicht angewandt werden dürfe – weder per unmittelbarer Kommunikation noch im Wege der Rechtshilfe.418 Die vorzugswürdige Gegenansicht verneint wegen Nr. 116 Abs. 1 RiVASt zwar eine generelle Zwangsmittelandrohung, erlaubt jedoch eine sog. modifizierte Warnung, wenn in der Ladung explizit darauf hingewiesen wird, dass die angedrohten Zwangsmaßnahmen allein im Inland vollstreckt werden können.419
III. Öffentliche Zustellung Zwischen dem natürlichen, aus seiner Subjektstellung erwachsenden Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör einerseits und dem Anspruch der Allgemeinheit auf zügige, gleiche und effektive Strafverfolgung andererseits besteht bei unbekanntem Aufenthalt des Beschuldigten ein gegenläufiges Interessengeflecht.420 Dieses löst § 40 StPO dahingehend, dass unter den dort genannten Voraussetzungen durch die sog. öffentliche Zustellung eines Schriftstücks die Bekanntmachung desselben fingiert wird.421 1. Anwendungsbereich der öffentlichen Zustellung a) Gerichtliche Entscheidungen Die Möglichkeit der öffentlichen Zustellung nach § 40 StPO umfasst zunächst gerichtliche Urteile, Beschlüsse, Anordnungen und Verfügungen.422 b) Übermittlung der Anklageschrift Indem es sich bei der Mitteilung der Anklageschrift gem. § 201 StPO um eine vom Gericht zu bewirkende Zustellung an den Angeschuldigten handelt 418 OLG Köln 18.10.2005 – 2 Ws 488/05, NStZ-RR 2006, 22; OLG Brandenburg 21.05.2007 – 1 Ws 92/07, StV 2009, 348; Grau, NStZ 2007, 10 (12); Rinklin, StV 2015, 347. 419 OLG Rostock 29.02.2008 – Ws 40/08, NStZ 2010, 412 (412 f.); OLG Saarbrücken 13.11.2009 – 1 Ws 207/09, NStZ-RR 2010, 49 (49 f.); KG 10.11.2010 – 3 Ws 459/10, NStZ 2011, 653 (654); OLG Karlsruhe 16.09.2014 – 2 Ws 334/14, StV 2015, 346; MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 12; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 68 IRG Rn. 30; SK-StPO/Deiters, § 230 Rn. 16; Roth, NStZ 2014, 551 (557). 420 HK-StPO/Pollähne, § 40 Rn. 1; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 1; MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 1. 421 HK-StPO/Pollähne, § 40 Rn. 1; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 1; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 1. 422 LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 2.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
und § 40 StPO seinem Wortlaut nach keine Einschränkung enthält, kann nach überwiegender Ansicht die entsprechende Zustellung im Zwischenverfahren öffentlich vorgenommen werden.423 c) Strafbefehl Strittig ist dagegen, inwieweit ein Strafbefehl öffentlich zugestellt werden kann. Nach einer teilweise vertretenen Ansicht gilt ohne Einschränkung § 40 StPO, jedenfalls wenn dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren bereits rechtliches Gehör zum Tatvorwurf eingeräumt wurde.424 Im summarischen Strafbefehlsverfahren werde der Anspruch auf rechtliches Gehör durch die Zulassung des Einspruchs mit anschließender Hauptverhandlung verbürgt, dem Beschuldigten bleibe gegebenenfalls der Weg über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.425 Demgegenüber geht die h. M. davon aus, dass es mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG schlechterdings unvereinbar ist, eine Strafe festzusetzen, während eine tatsächliche Kenntniserlangung nahezu ausgeschlossen erscheint.426 Dass hierfür keine praktische Notwendigkeit bestünde, kann nicht behauptet werden. Insoweit hat man zwar kritisch in den Blick zu nehmen, dass Nr. 175 Abs. 2 Satz 1 RiStBV dem Staatsanwalt den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls nur dann nahelegt, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten bekannt ist, sodass in der regelmäßigen Form zugestellt werden könne; anderenfalls sei das Verfahren vorläufig einzustellen, Nr. 175 Abs. 2 Satz 2 RiStBV. Jedoch sagt diese Erwägung nichts über ein etwaiges praktisches Bedürfnis nach einer diesbezüglichen Vorgehensweise mittels öffentlicher Zustellung aus. Schließlich bietet diese ein zu der genannten vorläufigen Einstellung 423 LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 40 Rn. 1; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 5; Mosenheuer, wistra 2002, 409 (410 ff.); a. A. KK-StPO/Maul, § 40 Rn. 3; MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 3. 424 LG München I 21.08.1980 – 14 Qs 99/80, MDR 1981, 71: „Jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte bereits vernommen worden ist, ist die öffentliche Zustellung eines Strafbefehls gegen ihn zulässig und dem Erlaß eines Haftbefehls vorzuziehen“; LG Heidelberg 20.02.2002 – 2 Qs 71/01, juris Rn. 7 ff.; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 6. 425 LG Heidelberg 20.02.2002 – 2 Qs 71/01, juris Rn. 14. 426 OLG Düsseldorf 19.02.1997 – 1 Ws 127/97, NJW 1997, 2965 (2966); HKStPO/Pollähne, § 40 Rn. 2; KK-StPO/Maul, § 40 Rn. 3; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 2; MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 3; Blankenheim, MDR 1992, 926 (927); Kotz, StRR 2013, 124; HdbFA-StrR/Haizmann, 2. Teil 7. Kap. Rn. 45; MAH Strafverteidigung/Nobis, § 10 Rn. 99.
III. Öffentliche Zustellung181
alternatives, verjährungsunterbrechendes (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StGB i. V. m. § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO), das Verfahren vorantreibendes Vorgehen. Die Regelung in Nr. 175 Abs. 2 RiStBV ist nichtsdestoweniger als Ausdruck dessen zu verstehen, dass der Richtliniengeber insoweit eine größtmögliche Gewähr für das über Art. 103 Abs. 1 GG garantierte rechtliche Gehör leisten wollte. Denn Nr. 22 Satz 2 RiStBV erlegt dem Staatsanwalt auf, den Grundgedanken der Verjährung nicht aus dem Blick zu verlieren und deren Eintritt nicht wahllos, vor allem nicht in Fällen mit relativ geringem Unrechts- und Schuldgehalt, die erst nach Jahren zur Aburteilung kämen, zu verhindern.427 Nun könnte man geneigt sein zu sagen, dass sich das gleiche Problem grundsätzlich auch bei der Zustellung über einen Zustellungsbevollmächtigten stellt, jedenfalls wenn keine nachsendefähige Adresse vorhanden ist. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass mit der Vollmachtserteilung der Beschuldigte (für das konkrete Verfahren, in dem der Zustellungsbevollmächtigte benannt wurde) eine prozessgestaltende Handlung vollzieht und gleichsam „vorgewarnt“ ist, was für ihn (insoweit dem Gedanken nach partiell vergleichbar mit § 40 Abs. 2, Abs. 3 StPO) zu einer gewissen verfahrensbezogenen Obliegenheit führt. 2. Anwendungsvoraussetzungen der öffentlichen Zustellung Eine öffentliche Zustellung gem. § 40 Abs. 1 StPO als ultima ratio ist nur zulässig, wenn die Zustellung im Inland nicht in der nach § 37 StPO vorgeschriebenen Form bewirkt werden kann und eine Zustellung im Ausland unausführbar oder voraussichtlich erfolglos erscheint. a) Notwendigkeit einer (zeitweiligen) Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung Daraus folgt, dass eine öffentliche Zustellung ausscheidet, soweit an einen gesetzlichen, zur Verfahrenssicherung oder rechtsgeschäftlich bestellten Zustellungsbevollmächtigten zugestellt werden kann.428 Ferner bedarf es 427 Vgl. BeckOK-StPO/Gertler, Nr. 22 RiStBV: „In Fällen mit geringem Unrechtsund Schuldgehalt wird ebenso wie mit zunehmender Verfahrensdauer der Rechtsfrieden durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung ressourcenschonender wiederhergestellt, als durch die „wahllose“ Unterbrechung der Verfolgungsverjährung“. 428 RG 14.01.1932 – II 570/31, RGSt 66, 76 (79); HK-StPO/Pollähne, § 40 Rn. 5; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 6 f.; MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 9; SSWStPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 9; Kotz, StRR 2013, 124 (127); Wendisch, JR 1982, 122 (122 f.).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
einer vorhergehenden Nachforschung hinsichtlich des Aufenthalts des Beschuldigten, an deren Qualität durchaus ein beachtlicher Maßstab anzulegen ist.429 Interessant ist an dieser Stelle insbesondere die Frage, inwieweit eine (zumindest zeitweilige) Ausschreibung des Beschuldigten zur Aufenthaltsermittlung gem. § 131a Abs. 1 StPO vorauszugehen hat.430 Aus Sicht des Gesetzgebers handelt es sich bei der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung als klassischer Fahndungsmaßnahme durchaus um einen belastenden Eingriff in die Rechte des Einzelnen.431 Das OLG Düsseldorf hat diese nur dann für geboten erachtet, wenn aktenkundige Informationen Anlass für den Erfolg entsprechender Maßnahmen gegeben hätten.432 Je stärker der Eingriff in das rechtliche Gehör, desto höher sind die Anforderungen an die Fahndungsmaßnahmen vor einer öffentlichen Zustellung. Letztlich bleibt diese jedoch für jedes Schriftstück ultima ratio. Sinn und Zweck der Verjährung ist die Schaffung von Rechtsfrieden.433 Das kann jedoch schwerlich für Taten Geltung beanspruchen, deren Vorliegen den Strafverfolgungsbehörden positiv bekannt ist und die der Beschuldigte lediglich durch seinen unbekannten Aufenthalt der Verfolgung entzieht. Unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls kann folgendes, regelmäßig erforderliches Vorgehen skizziert werden: Ausgehend vom zuletzt bekannten Aufenthaltsort sind Anfragen an die Einwohner- bzw. Meldeämter zu stellen, ein Bundeszentralregisterauszug mit gegebenenfalls neueren Anschriften oder neueren Verurteilungen unter neuem Aufenthaltsort einzuholen, interne Verfahrensregister des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Polizei abzufragen, Nachfragen an Bewährungs- und Führungsaufsichtsstellen zu richten sowie eine Anfrage beim Ausländerzentralregister durchzuführen.434 Verbindet man die Aufenthaltsfahndung nach § 131a Abs. 1 StPO mit dem Zusatz des Ersuchens um Be429 BVerfG 06.02.2003 – 2 BvR 430/03, BVerfGK 3, 264 = NStZ-RR 2005, 205 (206); vgl. zu diversen Beispielen LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 8 m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 40 Rn. 4; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 10; Kotz, StRR 2013, 124 (125). 430 Vgl. LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 8: „Frage des Einzelfalls und wird entscheidend von dem dem Verfahren zugrunde liegenden Tatvorwurf, den voraussichtlich zu erwartenden Rechtsfolgen sowie den vorangegangenen fehlgeschlagenen Bemühungen um Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten abhängen“; Schroeder, GA 2005, 73 (79). 431 BT-Drs. 14/1484, S. 21. 432 OLG Düsseldorf 30.08.2002 – 3 Ws 300-301/02, NStZ 2003, 167 (168). 433 BGH GrS 12.06.2017 – GSSt 2/17, BeckRS 2017, 125781 Rn. 34; BGH 28.07.2016 – 3 StR 25/16, NStZ 2017, 174 (177) Rn. 21. 434 MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 12; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 40 Rn. 11 m. w. N.
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nennung eines Zustellungsbevollmächtigten,435 stellt dies regelmäßig tatsächlich einen weiteren, im Hinblick auf das rechtliche Gehör vorzugswürdigen Ansatzpunkt dar. b) Rechtsfolge bei fehlenden Voraussetzungen Fehlt es an den Anwendungsvoraussetzungen des § 40 StPO, ist eine gleichwohl angeordnete öffentliche Zustellung eo ipso unwirksam.436 Soweit die Voraussetzungen des § 40 StPO indessen vorliegen, steht seine Anwendung nicht im Belieben des Gerichts, sondern ist obligatorisch.437 Bemerkenswert ist dabei, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer öffentlichen Zustellung nicht allein auf den Zeitpunkt ihrer Anordnung abzustellen ist, vielmehr finden auch innerhalb der Zweiwochenfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 StPO eintretende Umstände Beachtung. Demnach soll die (hilfsweise) Fiktion der Bekanntmachung nur solange Geltung beanspruchen, als nicht die regelmäßige Zustellung möglich wird, mit der Folge, dass somit die ordnungsgemäß angeordnete, ursprünglich rechtmäßige und wirksame öffentliche Zustellung durch diesen nachträglichen Umstand ex-nunc ihre Wirksamkeit einbüßt.438 Meines Erachtens sollte hier von einer Überholung dieser gestaltenden Prozesshandlung gesprochen werden.439 Die Anordnung der öffentlichen Zustellung durch das Gericht wirkt gestaltend auf den Fortgang des Verfahrens ein. Durch das rechtzeitige Bekanntwerden der Anschrift des Beschuldigten wird diese Anordnung verfahrensrechtlich überholt und die reguläre Zustellung i. S. v. § 37 StPO tritt wieder in den Vordergrund.
435 Vgl. Kulhanek, NStZ 2015, 495 (497); HdbStA/Schnabl/Dallmeyer/Vordermayer, 1. Teil 2. Kap. Rn. 41; ablehnend LG Dresden 23.01.2013 – 5 Qs 149/12, NStZ-RR 2013, 286. 436 OLG Celle 05.12.1975 – 2 Ws 264/75, MDR 1976, 335; OLG Brandenburg 31.05.2017 – (1) 53 Ss 19/17 (31/17), 1 Ws 63/17, NStZ 2018, 117; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 8; MüKo-StPO/Valerius, § 40 Rn. 24. 437 HK-StPO/Pollähne, § 40 Rn. 9; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 40 Rn. 7. 438 OLG Stuttgart 27.06.1973 – 3 Ws 177/73, MDR 1973, 950; OLG Düsseldorf 21.05.1992 – 3 Ws 204/92, 205/92, MDR 1992, 985 (986); OLG Stuttgart 01.03.2001 – 1 Ss 712/00, StV 2001, 336; OLG Oldenburg 14.05.2004 – Ss 87/04, StraFo 2004, 274; OLG Hamm 03.11.2004 – 4 Ss 359/04, NStZ-RR 2005, 114 (115); HK-StPO/Pollähne, § 40 Rn. 11; KK-StPO/Maul, § 40 Rn. 11; LR-StPO/GraalmannScheerer, § 40 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 40 Rn. 5. 439 Vgl. zur Überholung von Prozesshandlungen allg. Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 102.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
IV. Untersuchungshaft Die Untersuchungshaft, d. h. die Inhaftierung eines noch nicht (rechtskräftig) Verurteilten, stellt einen gravierenden Eingriff in das Freiheitsrecht des Beschuldigten dar. Angesichts dessen ist eine restriktiv verstandene Einzelfallabwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Einzelnen und dem Allgemeininteresse an einer wirksamen Strafverfolgung unerlässlich.440 1. Das Wesen der Untersuchungshaft Untersuchungshaft dient der Durchsetzung des Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters einschließlich der späteren Vollstreckung eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils.441 Der Erlass eines aufschiebend bedingten Haftbefehls, bspw. für den Fall der Wiedereinreise des Beschuldigten in die BRD, ist unzulässig.442 Das in den §§ 112 ff. StPO abschließend geregelte Untersuchungshaftrecht sieht eine solche Möglichkeit nicht vor. Die Vorschrift des § 456a Abs. 2 Satz 3 StPO, welche die Vollstreckungsbehörde ermächtigt, bereits bei der Zurückstellung der Strafvollstreckung für den Fall der Rückkehr des Verurteilten die Nachholung der Vollstreckung anzuordnen und einen diesbezüglich bedingten Vollstreckungshaftbefehl zu erlassen, beinhaltet eine allein auf die Vollstreckungssituation zugeschnittene Ausnahmeregelung ohne verallgemeinernde Wirkung.443
440 BVerfG 06.02.1980 – 2 BvR 1070/79, BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448 (1449); Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 112 Rn. 2; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 1; Herrmann, StraFo 2016, 89; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 1 ff. 441 BVerfG 18.12.2000 – 2 BvR 1706/00, NJW 2001, 1341; BVerfG 13.09. 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 Rn. 18; BGH 29.04.2009 – 1 StR 701/08, BGHSt 53, 294 = NJW 2009, 2463 (2466); KG 17.06.2011 – 2 Ws 219/11, NStZ 2012, 230 (231); KG 08.02.2016 – 5 Ws 12/16, BeckRS 2016, 5327; KMR/Wankel, Vorb. zu §§ 112 ff. Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 112 Rn. 4; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 2; a. A. (Untersuchungshaft diene nicht der Sicherung der Vollstreckung einer späteren Freiheitsentziehung; der U-Haftbefehl finde vielmehr mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens sein die Inhaftierung nicht mehr länger legitimierendes Ende) SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112 Rn. 5; Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 25 f. 442 BGH 02.07.2012 – 2 BGs 152/12, BeckRS 2012, 15269 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 112 Rn. 10; Dahs/Riedel, StV 2003, 416 (418); Heidig/Langner, StraFo 2002, 156 (159); a. A. Helmken, MDR 1984, 532 (534 f.). 443 BGH 02.07.2012 – 2 BGs 152/12, BeckRS 2012, 15269 Rn. 13.
IV. Untersuchungshaft185
Untersuchungshaft ist in jedem Fall keine antizipierte Strafhaft, da beide sich weder in ihren Wirkungen noch in ihren Voraussetzungen gleichen.444 2. Übergeordnete Interessen bei der konkreten Entscheidung über die Frage der Anordnung von Untersuchungshaft a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Freiheit der Person Die Untersuchungshaft bedeutet einen erheblichen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG. Die Freiheit der Person nimmt als Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers einen hohen Rang unter den Grundrechten ein, was auch darin zum Ausdruck gelangt, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sie als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG die Einhaltung bedeutsamer Verfahrensgarantien fordert.445 Bereits aus der besonderen Bedeutung dieses Freiheitsgrundrechts für das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürdegarantie ergibt sich, dass Untersuchungshaft nur in streng begrenzten Ausnahmefällen und lediglich dann angeordnet werden darf, wenn überwiegende Interessen des Gemeinwohls dies zwingend gebieten.446 b) Unschuldsvermutung Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh schreiben die sog. Unschuldsvermutung fest, d. h. bis zum gesetzlichen Beweis seiner Schuld wird das Strafverfahren gegen einen Unschuldigen geführt. In der deutschen Normenhierarchie kommt der Unschuldsvermutung als besonderer Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) Verfassungsrang zu.447
444 BVerfG
(381).
15.08.2007 – 2 BvR 1485/07, BVerfGK 12, 45 = NStZ-RR 2007, 379
445 BVerfG 30.05.1973 – 2 BvL 4/73, BVerfGE 35, 185 = NJW 1973, 1363 (1364); Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 18 f. 446 BVerfG 30.05.1973 – 2 BvL 4/73, BVerfGE 35, 185 = NJW 1973, 1363 (1364); BVerfG 29.11.2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668 (669); BVerfG 08.12.2011 – 2 BvR 2181/11, NJW 2012, 513; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 1; Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 17 f. 447 BVerfG 26.03.1987 – 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358 = NJW 1987, 2427; BVerfG 29.05.1990 – 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88, BVerfGE 82, 106 = NJW 1990, 2741; BGH 22.09.2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18 (19); BeckOK-StPO/Vale-
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
„Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldi gen.“448 „Mit ihr wird ein Mensch seiner Freiheit beraubt, der von Rechts wegen als unschuldig zu gelten hat.“449 Die Unschuldsvermutung versichert dem Beschuldigten, dass jegliche Maßnahme, die seine Schuld voraussetzt, bis zu deren Nachweis in einem ordnungsgemäßen Verfahren unterbleibt.450 Untersuchungshaft setzt jedoch keine nachgewiesene Schuld voraus, sondern lässt einen dringenden Tatverdacht hinreichen.451 Das „Strafverfahren soll die Rechtsfolgen sichern, die es produziert […] Solange an diesen grundlegenden Voraussetzungen unseres Strafverfahrens [Durchführung eines Anwesenheitsverfahrens, auf Wahrheitssuche verpflichtetes Verfahren und Sicherung der Strafrechtsfolgen] festgehalten werden soll, muß Untersuchungshaft wegen Flucht, Fluchtgefahr und – minder zwingend – wegen Verdunkelungsgefahr rechtlich ermöglicht werden, weil anders diese Voraussetzungen nicht realisierbar wären.“452
Infolge des Wesens der Untersuchungshaft als ultima ratio zur Sicherung einer effektiven Strafverfolgung bedarf es zu ihrer Anordnung keines weitergehenden Maßstabs für den Nachweis der individuellen Schuld. Der Widerspruch von Untersuchungshaft und Unschuldsvermutung ist somit nur ein vordergründiger; schließlich geht auch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK von der ausdrücklichen Zulässigkeit derselben aus.453 Allerdings kann der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen infolge der Wirkungen der Unschuldsvermutung nur eine begründungsbedürftige Ausnahme sein und es muss den Strafverfolgungserwägungen stets der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv gegenübergestellt werden.454
rius, Art. 6 EMRK Rn. 31; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 4; Herrmann, StraFo 2016, 89. 448 Hassemer, StV 1984, 38 (40). 449 Hassemer, StV 1984, 38. 450 EGMR 30.03.2010 – 44418/07, NJW 2011, 1789 (1790); EGMR 15.01.2015 – 48144/09, NJW 2016, 3225 (3226); BVerfG 29.05.1990 – 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88, BVerfGE 82, 106 = NJW 1990, 2741 (2742); BeckOK-StPO/Valerius, Art. 6 EMRK Rn. 32; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 4; Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 19. 451 BeckOK-StPO/Valerius, Art. 6 EMRK Rn. 33. 452 Hassemer, StV 1984, 38 (40). 453 Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 112 Rn. 1; Naujok, StraFo 2000, 79 (82 f.). 454 BVerfG 04.06.2012 – 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428 = BeckRS 2012, 55244; BGH 22.09.2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18 (19); Herrmann, StraFo 2016, 89.
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c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt die Untersuchungshaft in dreierlei Weise: Er ist relevant für ihre Anordnung (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO), ihre Dauer (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO) und ihren Vollzug (§ 116 StPO).455 Ist die Untersuchungshaft – auch in Anbetracht der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des Einzelnen – zur Sicherung/Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht (mehr) notwendig, so sind deren Anordnung, Fortdauer und/oder Vollzug als unverhältnismäßig zu qualifizieren.456 d) Rechtsstaatsprinzip und Gleichbehandlungsgrundsatz Das Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, gebietet die einheitliche und gerechte Aburteilung von Straftätern im Rahmen der geltenden Gesetze. Ihm kommt dabei eine durchaus ambivalente Argumentationsfunktion zu. Einerseits hat der Beschuldigte grundsätzlich nur solche Eingriffe zu dulden, welche rechtsstaatlichen Anforderungen genügen (schützende Dimension).457 Andererseits stellt die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ein hohes Allgemeingut dar (durchsetzende Dimension).458 Im Interesse der Gleichbehandlung aller Beschuldigten besteht hierbei die Pflicht, sich zur Sicherung des staatlichen Strafanspruchs bei Erforderlichkeit im Einzelfall aller nach der StPO zur Verfügung stehenden Mittel – mithin auch eines Haftbefehls – zu bedienen, um sich der Person eines dringend Tatverdächtigen zu versichern.459 Weder die Staatsangehörigkeit, noch der Ort des Wohnsitzes dürfen hierbei im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG einen Malus oder einen Bonus darstellen. 3. Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft unter dem Blickwinkel der Sprach- und Ortsfremdheit Nach diesem generellen Überblick über die widerstreitenden übergeordneten Interessen gilt es nun die einzelnen Anordnungsvoraussetzungen der 455 BVerfG 04.06.2012 – 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428 = BeckRS 2012, 55244; BGH 22.09.2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18 (19); KG 29.08.2016 – 4 Ws 124/16, StV 2017, 453; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 3; Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325 (329); Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, 2013, S. 22 f. 456 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 3; Adick, HRRS 2010, 247 (248). 457 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 84 ff. 458 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 87 ff.; vertiefend Landau, NStZ 2007, 121. 459 OLG Düsseldorf 20.03.1986 – 1 Ws 1102/85, NJW 1986, 2204 (2205); OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428); Bleckmann, StV 1995, 552 (553); Böhm, NStZ 2001, 633 (637).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Untersuchungshaft und deren besondere Berührungspunkte mit der (Sprachund) Ortsfremdheit von Beschuldigten in den Blick zu nehmen. a) Dringender Tatverdacht, § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO Im Tatverdacht bildet sich die Legitimation für den Freiheitsverlust des als unschuldig geltenden Beschuldigten ab.460 Dringender Tatverdacht gem. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO besteht, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer rechtswidrig und schuldhaft eine Straftat begangen hat.461 Das Verhältnis zwischen „dringendem Tatverdacht“ i. S. d. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO und dem „hinreichenden Tatverdacht“ gem. §§ 170, 203 StPO ist nicht letztgültig geklärt. Es lässt sich festhalten, dass beide Begriffe eine unterschiedliche Beurteilungsgrundlage haben. Während der dringende Tatverdacht zum jeweiligen Anordnungszeitpunkt zu beurteilen (und damit dynamisch462) ist, erfolgt die Prüfung des hinreichenden Tatverdachts erst bei Abschluss der Ermittlungen.463 Obwohl dem dringenden Tatverdacht – rein theoretisch – keine Verurteilungsprognose zugrunde zu legen ist, sollte die Anordnung von Untersuchungshaft nur erfolgen, wenn der Richter im Zeitpunkt der Entscheidung mit den ihm zur Verfügung stehenden Beweismitteln eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein schuldsprechendes Urteil annimmt; schließlich beseitigen Rechtfertigungs‑, Schuldausschließungs‑ und Strafausschließungsgründe auch den dringenden Tatverdacht.464 b) Haftgründe § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO verlangt zusätzlich zum dringenden Tatverdacht einen Haftgrund. Dessen Unterfälle sind in § 112 Abs. 2 StPO abschließend genannt.
460 Hassemer,
StV 1984, 38 (40). München 19.01.2018 – 1 Ws 20/18, BeckRS 2018, 2178 Rn. 5; MeyerGoßner/Schmitt, § 112 Rn. 5; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 21 ff.; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 29 ff. 462 OLG München 19.01.2018 – 1 Ws 20/18, BeckRS 2018, 2178 Rn. 6. 463 KMR/Wankel, § 112 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 6; MüKo-StPO/ Böhm/Werner, § 112 Rn. 27; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 35; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 417 ff. 464 Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 5; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 24 ff.; Schlothauer, StV 1996, 391 (393) m. w. N. 461 OLG
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aa) Flucht, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO Der Haftgrund der Flucht, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, setzt voraus, dass der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Flüchtig ist, wer vor, während oder nach der Tat seine Wohnung aufgibt, ohne eine neue zu beziehen, oder sich mit der Wirkung ins Ausland absetzt, dass er für die Ermittlungsbehörden/Gerichte unerreichbar und ihrem Zugriff entzogen ist.465 Dem gleichgestellt werden deutsche Beschuldigte, welche strafverfolgungsbezogen nicht mehr aus dem Ausland zurückkehren wollen.466 Ausländer, die sich ohne Bezug zur Straftat oder der mit ihr einhergehenden Strafverfolgung in ihr Heimatland zurückbegeben, sind nicht ohne Weiteres flüchtig.467 Verborgen hält sich, wer ohne Meldeadresse, unter falschem Namen oder an einem unbekannten Ort lebt, um sich dem Verfahren dauernd oder auf längere Zeit zu entziehen.468 Hat der Beschuldigte ohnehin keinen festen Wohnsitz, kann es folglich am erforderlichen finalen Bezug – mithin an der dem Verb „Verbergen“ innewohnenden Absicht – fehlen.469 465 OLG Karlsruhe 01.03.2004 – 3 Ws 44/04, StV 2005, 33 (34); KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StraFo 2015, 201; BeckOK-StPO/Krauß, § 112 Rn. 18; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 112 Rn. 13; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 36 f.: „Finalzusammenhang“ zwischen Absatzbewegung und Straftat erforderlich; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 22a. 466 Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 13; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 37. 467 OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427; OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35; KG 24.01.2017 – 4 Ws 10/17, BeckRS 2017, 114079; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 13; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 36; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 22b. 468 OLG Karlsruhe 01.03.2004 – 3 Ws 44/04, StV 2005, 33 (34); OLG Hamburg 11.12.2015 – 1 Ws 168/15, NStZ 2016, 433 (434) Rn. 14: „Der Haftgrund des Verborgenhaltens ist anzunehmen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme tragen, der Besch. enthalte den Behörden seinen Lebensmittelpunkt oder seinen tatsächlichen Aufenthalt vor, um sich dem Strafverfahren dauernd oder aber auf längere Zeit zu entziehen. Solches ist bei Besch. ohne gesicherten Aufenthaltsstatus regelmäßig anzunehmen, wenn diese sich für die zuständigen Stellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bzw. den Ausländerbehörden unerreichbar im Bundesgebiet aufhalten. Ein solches Verhalten dokumentiert in zureichender Weise, dass der Besch. jedes Gebot zur Mitwirkung (vgl. etwa § 82 AufenthG) an behördlichen Verfahren ignoriert oder eine Mitwirkung gar verweigert. Dies indiziert eine absehbare Verweigerungshaltung erst recht für das Strafverfahren. Denn hier drohen ihm nicht nur besondere freiheitsentziehende Sanktionen, sondern im Falle einer Verurteilung zu einer unbedingten – d. h. nicht mehr zur Bewährung ausgesetzten – Freiheitsstrafe sogar die zwingende Ausweisung aus dem Bundesgebiet (§ 53 I Nr. 2 AufenthG) und zugleich die Rechtsfolgen des § 11 AufenthG sowie Sperrwirkungen mit Blick auf sozialrechtliche Ansprüche“; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 14; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 39. 469 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 39; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 22a; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 500; vgl. auch LG Zweibrücken 04.03.2004 – Qs
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
bb) Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO Der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, liegt vor, wenn es bei konkreter Würdigung der Umstände des Einzelfalls wahrscheinlicher ist, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde.470 Die Annahme der Fluchtgefahr muss aus bestimmten Tatsachen hergeleitet und entsprechend belegt werden, wobei keine volle Überzeugung notwendig ist, sondern ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad ausreicht.471 Bedeutsam für die Beurteilung des Fluchtverdachts ist fernerhin der Grund für den Aufenthalt des ortsfremden Beschuldigten am Tatort.472 „Sich-Entziehen“ in diesem Zusammenhang meint ein aktives Verhalten, das den Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft des Beschuldigten, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, zu verhindern.473 Ob der Beschuldigte diesen Erfolg beabsichtigt, erkennt oder le-
25/04, NJW 2004, 1679 (1680); Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Fluchtund Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 142. 470 BGH 08.05.2014 – 1 StR 726/13, NJW 2014, 2372 (2373); OLG Dresden 11.12.2017 – 1 Ws 326/17, NStZ 2018, 304; KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 16; MeyerGoßner/Schmitt, § 112 Rn. 17; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 41. 471 BGH 02.11.2016 – StB 35/16, BeckRS 2016, 20222 Rn. 11; BGH 09.02.2017 – StB 2/17, BeckRS 2017, 102662 Rn. 20; OLG Karlsruhe 01.03.2004 – 3 Ws 44/04, StV 2005, 33 (34); KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StV 2015, 646 (647); KMR/Wankel, § 112 Rn. 6: „Aus dem Begriff der „Gefahr“ ergibt sich, dass es – anders als bei dem Merkmal der Flucht – für die Anordnung genügt, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gegeben ist“; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 22; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 41; a. A. Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 498 m. w. N., 517: „Bezüglich der Tatsachengrundlage für die Haftgründe muss sich der zuständige Richter die Gewissheit verschaffen, dass für sie der volle Beweis erbracht ist.“ 472 Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 553 f.: „Bei solchen Beschuldigten, die hier keinen festen Wohnsitz haben, weil sie sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten und die bei Gelegenheit ihres Aufenthaltes in den Verdacht einer Straftat geraten sind, liegt es auf der Hand, dass sie ins Ausland zurückkehren und kaum ‚freiwillig‘ in der Bundesrepublik die Durchführung des Strafverfahrens abwarten wollen. Es sind dies insbes. ausländische Touristen, aber auch solche Menschen, die sich aus beruflichen Gründen nur kurzfristig in der Bundesrepublik aufhalten wollen.“ 473 BGH 08.05.2014 – 1 StR 726/13, NJW 2014, 2372 (2373); OLG Köln 16.07.2004 – 2 Ws 351/04, 2 Ws 352/04, StV 2005, 393 (393 f.); BeckOK-StPO/ Krauß, § 112 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 18; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 43; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 112 Rn. 48; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 75.
IV. Untersuchungshaft191
diglich in Kauf nimmt, ist unerheblich.474 Ebenso wenig müssen die Umstände, aus denen sich die Fluchtgefahr ergibt, verschuldet sein.475 Abzugrenzen ist das Sich-Entziehen von bloßem Ungehorsam gegenüber Vorladungen sowie reiner Untätigkeit als lediglich passivem Verhalten.476 Nur wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit die Befürchtung hinzutritt, der Beschuldigte werde die verstreichende Zeit dazu nutzen, seinen Aufenthalt zu verschleiern, liegt ein Entziehen vor.477 Wesentliches Indiz in diesem Sinne wäre etwa die Angabe einer unzutreffenden (ausländischen) Adresse. Treffend formuliert dies folgender amtlicher Leitsatz des KG vom 08.02.2016: „Bei Begründung eines im (EU-)Ausland belegenen Wohnsitzes kann sich Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) daraus ergeben, dass der Angeklagte an diesem Wohnsitz für die deutschen Behörden nicht erreichbar ist, da er seinen Aufenthalt verschleiert. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Angeklagte bereits an seiner früheren inländischen Meldeanschrift keinerlei Vorkehrungen für seine Erreichbarkeit trifft, seinen Wohnsitz in Kenntnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens ohne behördliche Ab- oder Ummeldung ins Ausland verlegt und in der Folgezeit nur eine Postfachanschrift verwendet.“478
Die Tatsache eines Wohnsitzes im Ausland kann – unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Beschuldigten – bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung Berücksichtigung finden, begründet für sich allein jedoch keine 474 OLG Köln 16.07.2004 – 2 Ws 351/04, 2 Ws 352/04, StV 2005, 393; MeyerGoßner/Schmitt, § 112 Rn. 18; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 112 Rn. 48; Adick, HRRS 2010, 247 (248); Grau, NStZ 2007, 10; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 77. 475 LG Kleve 07.06.2011 – 120 Qs 55/11, NStZ-RR 2011, 342 (343); MeyerGoßner/Schmitt, § 112 Rn. 17; Adick, HRRS 2010, 247 (248). 476 BGH 04.11.1970 – 4 ARs 43/70, BGHSt 23, 380 = NJW 1971, 333 (334); OLG Brandenburg 17.01.1996 – 2 Ws 183/95, 2 Ws 184/95, StV 1996, 381 (382); OLG Bremen 12.06.1997 – Ws 42/97, StV 1997, 533 (534); OLG Köln 18.03.2005 – 2 Ws 32/05, StV 2006, 25; OLG Oldenburg 31.01.2011 – 1 Ws 24/11, StV 2011, 419 (420); OLG Frankfurt 06.02.2015 – 1 Ws 11/15, StV 2016, 163; BeckOK-StPO/ Krauß, § 112 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 18; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 43; Böhm, NStZ 2001, 633 (636); Dahs/Riedel, StV 2003, 416 (418); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 513; krit. OLG Köln 07.08.2002 – 2 Ws 358/02, NStZ 2003, 219 (220) obiter dictum; a. A. Grau, NStZ 2007, 10 (12): „Auch bei einem rein passiven Verhalten des Beschuldigten kann im Rahmen der anzustellenden Wahrscheinlichkeitsprognose der Schluss gezogen werden, dass er sich dem Verfahren nicht stellen werde. Insbesondere lässt sich § 112 II Nr. 2 StPO selbst weder entnehmen, dass dem Beschuldigten lediglich eine aktive Verfahrenssabotage verwehrt ist oder dass ein Sich-Entziehen eine physische Ortsveränderung voraussetzt.“ 477 BGH 20.11.1989 – 2 BGs 358/89, StV 1990, 309; OLG Naumburg 10.10.1996 – 1 Ws 101/96, StV 1997, 138; KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StV 2015, 646 (647); MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 44; Adick, HRRS 2010, 247 (249). 478 KG 08.02.2016 – 5 Ws 12/16, BeckRS 2016, 5327.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Fluchtgefahr.479 Jenseits dieser Grunderkenntnis besteht in Rechtsprechung wie Literatur im Detail erheblicher Streit über die notwendige Beschaffenheit der hinzutretenden Flucht(gefahr)merkmale. (1) Äußerung des fehlenden Willens, sich dem Verfahren zu stellen Eine Auffassung sieht in der manifesten Erklärung des im Ausland wohnhaften Beschuldigten, sich dem gegen ihn in Deutschland betriebenen Strafverfahren nicht stellen zu wollen, ein ausreichendes Sich-Entziehen; eine physische Ortsveränderung, etwa durch Untertauchen im Ausland zur Verhinderung einer etwaigen Auslieferung, sei nicht erforderlich.480 Begibt sich ein Beschuldigter – unabhängig von der subjektiv zugrunde liegenden Intention – ins Ausland und existieren hinreichende Anhaltspunkte, dass er beabsichtigt, sich dem Verfahren in der Folge nicht zu stellen, begründe dies die Fluchtgefahr. Bekunde der Beschuldigte etwa verbal oder durch Ausbleiben im Termin real seine mangelnde Bereitschaft, sich dem gegen ihn in Deutschland laufenden Strafverfahren zu stellen, verletze er die aus § 230 Abs. 1 StPO folgende Pflicht und bringe daher eine über bloßen passiven Verfahrensungehorsam hinausgehende aktive Weigerung zum Ausdruck.481 (2) Keine Gestellungspflicht des Angeklagten Die restriktive Gegenansicht anerkennt den Haftgrund der Fluchtgefahr nur dann, wenn tatsächliche Hinweise vorliegen, dass der Beschuldigte im Ausland untertauchen will.482 Notwendig sei in jedem Fall ein zweckgerich479 OLG München 11.01.2013 – 3 Ws 19/13, 3 Ws 20/13, StraFo 2013, 114; KG 08.02.2016 – 5 Ws 12/16, BeckRS 2016, 5327; KG 24.01.2017 – 4 Ws 10/17, BeckRS 2017, 114079; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 17a; MüKo-StPO/Böhm/ Werner, § 112 Rn. 46; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn. 51; Herrmann, Untersuchungshaft, 2008, Rn. 709. 480 OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428) = StV 1999, 33 m. abl. Anm. Lagodny; OLG Karlsruhe 01.03.2004 – 3 Ws 44/04, StV 2005, 33 (34); OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35; LG Aurich 10.03.2010 – 12 Qs 51/10, StV 2011, 290 (291); BeckOK-StPO/Krauß, § 112 Rn. 13; Scheffler, Kriminalität im Grenzgebiet, 1998, S. 169 (176). 481 OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428); OLG Köln 07.08.2002 – 2 Ws 358/02, NStZ 2003, 219 (220 f.); OLG Karlsruhe 01.03.2004 – 3 Ws 44/04, StV 2005, 33 (35); OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36); OLG Köln 18.10.2005 – 2 Ws 488/05, NStZ-RR 2006, 22; OLG Celle 20.03.2009 – 1 Ws 141/09, StraFo 2009, 204; KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 22a; Grau, NStZ 2007, 10 (12). 482 OLG Frankfurt 16.06.1994 – 1 Ws 131/94, StV 1994, 581 (582); OLG Brandenburg 17.01.1996 – 2 Ws 183/95, 2 Ws 184/95, StV 1996, 381 (382); LG Frankfurt
IV. Untersuchungshaft193
tetes Verhalten, weil niemand verpflichtet sei, seine Strafverfolgung zu erleichtern.483 Eine wie auch immer geartete „Gestellungspflicht“ existiere nicht.484 Gleichwohl wird von den Vertretern dieser Meinung zum Teil ebenso anerkannt, dass ein Wohnsitz im Ausland zu keiner Privilegierung des Beschuldigten führen dürfe. Die Auslieferung setzt einen Haftbefehl und dieser einen Haftgrund voraus. Ein Vorgehen über § 230 Abs. 2 StPO scheide aus, weil der BRD keine Ausübung hoheitlicher Gewalt auf dem Gebiet des fremden Staates möglich sei.485 Jedenfalls sei ein Sitzungshaftbefehl nicht geeignet, eine Verfolgungslücke zu schließen, weil er mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten verbunden sei und nicht über das Ende der Hauptverhandlung hinauswirkt, sodass er die Strafvollstreckung nicht sichern könne.486 Insoweit wird de lege ferenda ein Haftgrund der „Auslieferungsermöglichung“ vorgeschlagen.487
(Oder) 21.10.2014 – 2 Qs 168/14, StV 2015, 302 (303); AnwK-StPO/Lammer, § 112 Rn. 16; LR-StPO/Hilger, § 112 Rn. 33a; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 26a; Adick, HRRS 2010, 247 (249); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 566. 483 OLG Brandenburg 17.01.1996 – 2 Ws 183/95, 2 Ws 184/95, StV 1996, 381 (382); OLG Karlsruhe 15.10.1998 – 2 Ws 222/98, StV 1999, 36 (37); KG 24.03.2010 – 4 Ws 37/10, juris Rn. 18; OLG Oldenburg 31.01.2011 – 1 Ws 24/11, StV 2011, 419 (420); LG Frankfurt (Oder) 21.10.2014 – 2 Qs 168/14, StV 2015, 302 (303); HKStPO/Posthoff, § 112 Rn. 24; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 47; Pfeiffer, § 112 Rn. 6; Dahs/Riedel, StV 2003, 416 (417); Heidig/Langner, StraFo 2002, 156 (158); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 500, 511 f., 563. 484 SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn. 61 f.; Böhm, NStZ 2001, 633 (636); Burhoff, StraFo 2000, 109 (112); Lagodny, StV 1999, 35; Paeffgen, NStZ 2004, 77 (78 f.); Herrmann, Untersuchungshaft, 2008, Rn. 728; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 563. 485 OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36); OLG Köln 18.10.2005 – 2 Ws 488/05, NStZ-RR 2006, 22; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 48; Grau, NStZ 2007, 10 (12). 486 OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428 f.); OLG Köln 07.08.2002 – 2 Ws 358/02, NStZ 2003, 219 (220); Böhm, NStZ 2001, 633 (636). 487 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 48; Böhm, NStZ 2001, 633 (637); Grau, NStZ 2007, 10 (15): „Hält sich der Angeklagte zur Zeit der Eröffnung des Hauptverfahrens dauerhaft außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes auf, so kann zum Zwecke der Sicherstellung seiner in der Hauptverhandlung erforderlichen Anwesenheit ein Haftbefehl erlassen werden, um auf dessen Grundlage die Auslieferung des Angeklagten zur Strafverfolgung zu betreiben, wenn es das über die Eröffnung entscheidende Gericht nach den Gesamtumständen für wahrscheinlich hält, dass der Angeklagte zu einem Hauptverhandlungstermin nicht erscheinen wird.“
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
(3) Erreichbarkeit für Zustellungen Setzt man die oben genannte herkömmliche Definition (Sich-Entziehen = aktives Verhalten, das den Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft des Beschuldigten, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, zu verhindern) als zutreffend voraus, kommt es entscheidend darauf an, ob „für Ladungen zur Verfügung stehen“ nur die Tatsache meint, dass Ladungen zugestellt werden können oder auch die Bereitschaft, diesen nachzukommen. Das Fehlen von sozialen und familiären Bindungen an die BRD ist von zentraler Bedeutung für die Prüfung der Haftfrage.488 Allerdings muss, dem Rechtsgedanken der europäischen (Ver)Einigung folgend, dem Grundsatz nach die soziale Integration in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union einer solchen im Inland gleichgesetzt, für EU-Ausländer insbesondere ein Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat entsprechend dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot berücksichtigt, werden.489 Auch Erwägungsgrund (5) des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI490 über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft anerkennt und beansprucht zugleich dieses Erfordernis: „In einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss sicher gestellt werden, dass eine Person, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist und die ihren Wohnsitz nicht im Verhandlungsstaat hat, nicht anders behandelt wird als eine Person, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist und die im Verhandlungsstaat wohnt.“ 488 BGH 06.10.2016 – AK 52/16, BeckRS 2016, 19193; OLG Stuttgart 10.06.2016 – 5 Ws 60/16, StV 2016, 815 (816); a. A. Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 526. 489 OLG Düsseldorf 06.10.2005 – III-4-Ws 461/05, III-4-Ws 462/05, StraFo 2006, 24; KG 24.03.2010 – 4 Ws 37/10, juris Rn. 22: „Die danach festzustellende soziale Integration des Beschuldigten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union steht der sozialen Integration im Inland gleich“; KG 24.01.2017 – 4 Ws 10/17, BeckRS 2017, 114079; LG Neuruppin 12.08.2009 – 11 Qs 119/09, StV 2009, 652; MeyerGoßner/Schmitt, § 112 Rn. 20a; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 58; Radtke/ Hohmann/Tsambikakis, § 112 Rn. 47; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 26a f.; SSWStPO/Herrmann, § 112 Rn. 52, 58; Bleckmann, StV 1995, 552 (554); Böhm, NStZ 2001, 633 (637); Gercke, StV 2004, 675 (676); Kirsch, StV 2010, 256 (257); Püschel, StraFo 2009, 134; AnwaltFormulare Strafrecht/Seebode, Kap. 3 Rn. 66; Herrmann, Untersuchungshaft, 2008, Rn. 710, 724. 490 Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft, ABl. Nr. L 294 S. 20, Celex-Nr. 3 2009 F 0829.
IV. Untersuchungshaft195
Jedoch darf insoweit nicht übersehen werden, dass trotz erweiterter Rechtshilfemöglichkeiten innerhalb der EU der Strafverfolgungsanspruch der deutschen Justiz in Deutschland effektiver durchgesetzt werden kann bzw. andersherum formuliert auch im EU-Ausland mit zum Teil erheblichen Hindernissen behaftet ist.491 Der Beschuldigte hat durchaus die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen.492 Allein die Negierung dieser Pflicht stellt kein Entziehen dar, sondern bloßen Ungehorsam.493 Konsequenz dieser pflichtwidrigen Abwesenheit ist demzufolge allein die Eröffnung der Zwangsmittel des § 230 Abs. 2 StPO.494 Ein danach ergehender Sitzungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 Alt. 2 StPO kann sodann zur Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gemacht werden.495 491 OLG Oldenburg 04.11.2009 – 1 Ws 599/09, StV 2010, 254 (255); OLG Oldenburg 08.02.2010 – 1 Ws 67/10, StV 2010, 255 m. abl. Anm. Kirsch; LG Kleve 07.06.2011 – 120 Qs 55/11, NStZ-RR 2011, 342 (343); KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 22b; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 20a; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 134; a. A. KG 24.03.2010 – 4 Ws 37/10, juris Rn. 19; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 58; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn. 52; Bleckmann, StV 1995, 552 (555); Gercke, StV 2004, 675 (678); Püschel, StraFo 2009, 134. 492 OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428); OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36); OLG Köln 18.10.2005 – 2 Ws 488/05, NStZ-RR 2006, 22 (22 f.); KMR/Eschelbach, § 230 Rn. 1 ff.; MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 5; SSW-StPO/Grube, § 230 Rn. 1; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 76; a. A. Lagodny, StV 1999, 35. 493 OLG Oldenburg 31.01.2011 – 1 Ws 24/11, StV 2011, 419 (420); LG Frankfurt (Oder) 21.10.2014 – 2 Qs 168/14, StV 2015, 302 (303); Böhm, NStZ 2001, 633 (636); Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 76; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 513, 563; a. A. OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428); OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36). 494 OLG Oldenburg 31.01.2011 – 1 Ws 24/11, StV 2011, 419 (420); LR-StPO/ Hilger, § 112 Rn. 33a; SSW-StPO/Herrmann, § 112 Rn. 62; Burhoff, StraFo 2000, 109 (112); Lagodny, StV 1999, 35; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Fluchtund Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 76; a. A. OLG Dresden 24.02.2005 – 1 Ws 29/05, StV 2005, 224 (225): „Sollte der Besch. […] der anzuberaumenden Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleiben, würde dies nicht nur den Erlaß eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO rechtfertigen. Indiziert wäre dann vielmehr auch der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.“ 495 Grützner/Pötz/Kreß/Vogel, § 10 IRG Rn. 28; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, § 10 IRG Rn. 17; Hilger, StV 2005, 36 (38); Lagodny, StV 1999, 35 (36); Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 37 Rn. 7; a. A. OLG Karlsruhe 01.08.1997 – 1 AK 15/97, StV 1999, 261; OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36); MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 48; Grau, NStZ 2007, 10 (12); krit. unter Praktikabilitätserwägungen auch OLG Stuttgart 11.03.1998 – 1 Ws 28/98, NStZ 1998, 427 (428 f.); OLG Köln 07.08.2002 – 2 Ws 358/02, NStZ 2003, 219 (220).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Wer bereits häufiger Ladungen versäumt/ignoriert hat, wird bei bestehendem Inlandswohnsitz schließlich auch nicht allein hierdurch fluchtverdächtig. Eine systematische Auslegung mit den §§ 127b, 230 Abs. 2 StPO ergibt, dass die – selbst durch bestimmte Tatsachen belegte – Befürchtung, der Beschuldigte werde der Hauptverhandlung fernbleiben, keinen Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO liefert.496 Die systematische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes in dem Gedanken einer möglichst kohärenten gesetzgeberischen Gesamtregelung.497 § 127b StPO zielt auf Personen, bei denen aus sozialen oder in ihrer Persönlichkeit liegenden Gründen zu befürchten steht, dass sie einer Hauptverhandlung – auch lediglich durch passives Verhalten – fernbleiben würden und ermöglicht insoweit eine „vorsorgliche“ Haft.498 § 230 Abs. 2 StPO sichert den ordnungsgemäßen Ablauf der Hauptverhandlung durch Gewährleistung der Anwesenheit eines trotz bekanntem Aufenthalt und ohne Fluchtwillen erscheinungsunwiligen Angeklagten.499 Die historische Auslegung500 führt ebenfalls zu dieser Erkenntnis. In der Reichsstrafprozessordnung von 1877 lautete § 112 StPO: „Der Angeschuldigte darf nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn dringende Verdachtsgründe gegen ihn vorhanden sind und entweder er der Flucht verdächtig ist oder Thatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß er Spuren der That vernichten oder daß er Zeugen oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder Zeugen dazu verleiten werde, sich der Zeugnißpflicht zu entziehen. Diese Thatsachen sind aktenkundig zu machen. Der Verdacht der Flucht bedarf keiner weiteren Begründung: […] 2. wenn der Angeschuldigte ein Heimathloser oder Landstreicher oder nicht im Stande ist, sich über seine Person auszuweisen; 3. wenn der Angeschuldigte ein Ausländer ist und gegründeter Zweifel besteht, daß er sich auf Ladung vor Gericht stellen und dem Urtheile Folge leisten werde.“501
Noch im Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.09.1950 war § 112 Abs. 2 StPO mit folgendem Wortlaut enthalten: 496 Hilger, StV 2005, 36 (38); ähnlich Paeffgen, NStZ 2004, 77 (78): „Dass man des Ausländers im Ausland schlechter habhaft wird, mag man als misslich empfinden, ist aber – wie die Einschränkungen in zahlreichen Auslieferungsabkommen zeigen – staatspolitisch so gewollt“; a. A. Grau, NStZ 2007, 10 (14). 497 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 586. 498 Meyer-Goßner/Schmitt, § 127b Rn. 1; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127b Rn. 2; Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 59; Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 179. 499 MüKo-StPO/Arnoldi, § 230 Rn. 10. 500 Vgl. hierzu allg. MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 588. 501 RGBl. 1877, Nr. 8, S. 253 (273 f.).
IV. Untersuchungshaft197 „Die Tatsachen, die den Fluchtverdacht oder die Verdunkelungsgefahr begründen, sind aktenkundig zu machen. Der Verdacht der Flucht bedarf keiner weiteren Begründung, wenn […] 2. der Angeschuldigte im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, insbesondere wenn er ein Landstreicher ist, oder wenn er sich über seine Person nicht ausweisen kann.“502
Mit dem Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 07.08.1972 erhielt § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO dann die bis heute geltende Fassung.503 Insoweit lässt sich festhalten, dass die Tatsache des fehlenden (Inlands-)Wohnsitzes gesetzestechnisch ebenso an Bedeutung eingebüßt hat wie die Prognoseentscheidung, ob ein Beschuldigter mutmaßlich Ladungen Folge leisten werde oder eher nicht.504 Das Sich-Begeben an einen Ort ist stets ein aktives, potentiell entziehendes Verhalten, unabhängig davon, ob man sich zum Wohnsitz begibt oder anderswo hin. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob damit Ladungen/Zustellungen möglich bleiben oder das Verfahren sabotiert wird.505 Die eingangs aufgeworfene Frage kann folglich dahingehend beantwortet werden, dass „für Ladungen zur Verfügung stehen“ nur die Tatsache meint, dass eine entsprechende Erreichbarkeit gegeben ist, Ladungen zugestellt und gegebenenfalls Strafvollstreckungsmaßnahmen ergriffen werden können; eine positive Haltung gegenüber entsprechenden Verfahrensvorgängen muss der Beschuldigte nicht an den Tag legen.506 Selbst die Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland sowie nicht unbeträchtliches Auslandsvermögen können Hintergründe haben, welche ein beabsichtigtes Untertauchen als unwahrscheinlich erscheinen lassen.507 Insoweit dürfte jedoch der Beschuldigte in einer Art „argumentativer Bringschuld“ sein, weil die genannte Kombination (gerade zusammen mit einer nicht unerheblichen Straferwartung) doch ein starkes Indiz für Fluchtgefahr darstellt. Bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe ist eine Neubewertung der Fluchtgefahr erforderlich. Wurde der Beschuldigte bereits ein Mal per Haftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO) und interna502 BGBl. 1950,
Nr. 40, S. 455 (483). 1972, Nr. 80, S. 1361. 504 Vgl. auch Dahs/Riedel, StV 2003, 416. 505 KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StV 2015, 646 (647); Hilger, StV 2005, 36 (36 f.). 506 Vgl. auch OLG Brandenburg 17.01.1996 – 2 Ws 183/95, 2 Ws 184/95, StV 1996, 381 (382); OLG Karlsruhe 15.10.1998 – 2 Ws 222/98, StV 1999, 36 (37); LG Frankfurt (Oder) 21.10.2014 – 2 Qs 168/14, StV 2015, 302 (303); Heidig/Langner, StraFo 2002, 156 (158 f.); Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 76; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 511 ff. 507 OLG Saarbrücken 03.06.2002 – 1 Ws 109/02, StV 2002, 489 (490); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 521. 503 BGBl. I
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
tionaler Fahndung ausgeliefert, muss sich eine Einzelfallwürdigung anschließen, ob der konkrete Beschuldigte sich einer erneuten Auslieferung mutmaßlich durch Flucht zu entziehen suchen würde. Zumindest der erste Anschein wird regelmäßig in diese Richtung deuten.508 Letztlich ist der Beurteilung der Fluchtgefahr eine schematische Herangehensweise ohnehin fremd; es bedarf einer einzelfallorientierten Abwägung.509 Für den Auslandswohnsitz gilt dabei wie für die Höhe der Straferwartung, dass dieser Aspekt allein keine Fluchtgefahr begründet, gleichwohl jedoch wertend in die Gesamtabwägung, ob überwiegend wahrscheinlich eine aktive Behinderung der Strafverfolgung zu erwarten steht, einzustellen ist.510 Ebenso wie ein Untertauchen (respektive die entsprechende Gefahr) im Inland möglich ist, kann ein Beschuldigter versucht sein – gerade auch in Anbetracht der diversen Auslieferungsoptionen – seinen tatsächlichen Aufenthalt im Ausland zu verbergen oder sich noch weiter abzusetzen.511 Unklarheiten über die Meldesituation und den Aufenthalt im Ausland gehen dabei zulasten des Beschuldigten, wenn die deutschen Strafverfolgungsbehörden alles ihnen Mögliche zur entsprechenden Sachverhaltsaufklärung geleistet haben.512 508 Lagodny,
StV 1999, 35 (36). 21.08.2014 – 1 Ws 61/14, BeckRS 2014, 19266 Rn. 7; MüKo-StPO/Böhm/ Werner, § 112 Rn. 50; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 26; zu einem gewissen „Kriterienkatalog“ vgl. KMR/Wankel, § 112 Rn. 7. 510 KG 21.08.2014 – 1 Ws 61/14, BeckRS 2014, 19266 Rn. 11; OLG Stuttgart 10.06.2016 – 5 Ws 60/16, StV 2016, 815; OLG Karlsruhe 14.12.2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810 Rn. 42; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 51 f., 58; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 133 ff. 511 Böhm, NStZ 2001, 633 (637). 512 OLG Karlsruhe 14.12.2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810 Rn. 43: „Dazu wäre in den Blick zu nehmen gewesen, ob der Beschuldigte durch seine Ausreise in die Türkei für die deutsche Justiz unerreichbar geworden ist. Dies läge dann eher fern, wenn er in der Türkei (oder erneut in den Niederlanden) einen festen Wohnsitz begründet hat, an dem er für Ladungen erreichbar ist, während im umgekehrten Fall die Annahme, dass der Beschuldigte sich verborgen hält (Haftgrund gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), naheliegt. Eine diesbezügliche Abklärung – sei es über die Verteidiger, sei es im Weg der Rechtshilfe – ist aber ersichtlich nicht erfolgt“; AnwaltFormulare Strafrecht/Seebode, Kap. 3 Rn. 67; vgl. auch LG Offenburg 15.12.2003 – 3 Qs 114/03, StV 2004, 326 (327); KG 24.03.2010 – 4 Ws 37/10, juris Rn. 16: „Da er dort seit dem 12. Januar 2007 ordnungsgemäß unter der rubrizierten Anschrift angemeldet und bei Anmeldung auch seine vorherige Anschrift in den Niederlanden registriert worden war, wäre sein Aufenthalt durch einfache Anfrage bei den belgischen Meldebehörden zu ermitteln gewesen. Schließlich war der Beschuldigte seit Februar 2005 aktenkundig verteidigt und jederzeit über seinen Verteidiger erreichbar“; KG 21.08.2014 – 1 Ws 61/14, BeckRS 2014, 19266 Rn. 13: „dass es zwar keine Verpflichtung im engeren Sinne gibt, „Wohnsitzwechsel im Ausland anzuzeigen“. Der Beschuldigte hat aber, indem er dies in Kenntnis der anhängigen Ermitt509 KG
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Die – insbesondere freiwillige – Erteilung einer Zustellungs- und Ladungsvollmacht bringt dagegen prima facie den Willen zum Ausdruck, sich dem Verfahren zu stellen und an diesem teilzunehmen.513 cc) Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO, erfordert den dringenden Verdacht, dass durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel eingewirkt, dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden soll und Letztere auch tatsächlich in Gefahr geriete.514 Eine planmäßig koordinierte, systematisch organisierte Vorgehensweise innerhalb einer Bande oder sonstigen Gruppierung trägt – zumindest indiziell – bereits eine gewisse Verheimlichung, Täuschung, Drohung in sich.515 Besteht diese Tätermehrheit international, erhöht das gleichsam (potentiell) den Grad ihrer Organisation und Einflussmöglichkeiten.516 dd) Hauptverhandlungshaft, § 127b StPO An dieser Stelle ist ferner die neben die „klassischen“ Haftgründe tretende sog. Hauptverhandlungshaft des § 127b StPO zu nennen, wonach eine vorläufige Festnahme eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten auch dann ermöglicht wird, wenn eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich und aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass der Beschuldigte der Hauptverhandlung fernbleiben wird. Zielrichtung sind Beschuldigte, bei denen aus sozialen oder in ihrer Persönlichkeit liegenden Gründen zu befürchten steht, dass sie einer Hauptverhandlungsverfahren nicht getan hat, jedenfalls nicht die Chance zur Vertrauensbildung genutzt“; KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StV 2015, 646 (647): „Dass der Angekl. tatsächlich nicht erreichbar war, ist im Übrigen nicht hoch wahrscheinlich; mögliche Ermittlungen wurden jedenfalls nicht angestellt“; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 502 ff. 513 OLG Dresden 05.04.2007 – 2 Ws 96/07, StV 2007, 587; KG 20.02.2015 – 4 Ws 20/15, StV 2015, 646 (648); LG Fulda 05.01.2017 – 2 KLs 27 Js 7440/15, StV 2017, 454; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 507, 518. 514 BVerfG 25.06.2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020 Rn. 39; OLG Köln 01.06.2017 – 2 Ws 341/17, StV 2018, 164 (165); Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 26; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 63 ff. 515 OLG Saarbrücken 03.06.2002 – 1 Ws 109/02, StV 2002, 489 (490); KK-StPO/ Graf, § 112 Rn. 32; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 193; krit. zur Indizwirkung von organisierter Kriminalität auf Flucht- und Verdunkelungsgefahr Bock, NZWiSt 2017, 23 (25). 516 Böhm, NStZ 2001, 633 (634); Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 139.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
lung fernbleiben würden, sodass diese antizipiert und gleichsam „vorsorglich“ in Untersuchungshaft genommen werden.517 Bereits anhand der vorangehenden Formulierung wird deutlich, dass dieser zusätzliche Haftgrund für ortsfremde Beschuldigte von erhöhter Relevanz ist. Durch die Anknüpfung an das beschleunigte Verfahren gem. §§ 417 ff. StPO reduziert sich der Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft auf Fälle der leichteren bis mittleren Kriminalität.518 Gegen die Norm als solche werden grundsätzliche Bedenken eingewandt.519 So wird der Vorschrift entgegengehalten, dass sie lediglich generalpräventive Zwecke verfolge und als Instrument repressiver Kriminalpolitik diene.520 Die verwendeten Begrifflichkeiten in § 127b Abs. 1 Satz 1 StPO seien zu wenig konturiert und erleichterten damit eine Anwendung auch apokrypher Haftgründe.521 Ferner sei die Hauptverhandlungshaft generell unverhältnismäßig und somit verfassungswidrig, insbesondere weil in dem erfassten Bereich der leichteren und mittleren Kriminalität ohnehin nur in Ausnahmefällen Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt würden.522 Gerade dem letzten Argument ist entschieden zu widersprechen. Aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot ergibt sich nicht, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gem. § 47 Abs. 1 StGB erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt.523 In der notwendigen Gesamtbetrachtung von Handlungs- und Erfolgsunwert kann vielmehr ein Weniger an Erfolgsunrecht (z. B. Beutewert) durch ein Mehr an Handlungsunrecht (z. B. Vielzahl einschlägiger Vorstrafen, enorme Rückfallgeschwindigkeit) kompensiert werden – und wird es praktisch häufig auch.524 Steht indes tatsächlich nur eine 517 Meyer-Goßner/Schmitt, § 127b Rn. 1; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127b Rn. 2; Hellmann, NJW 1997, 2145 (2146); Wächtler, StV 1994, 159 (160); Wenske, NStZ 2009, 63 (66); Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 61 ff.; Schlothauer/ Weider/Nobis, Rn. 151 f. 518 Ruppert, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 157 (161 ff.); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 153. 519 Meyer-Goßner/Schmitt, § 127b Rn. 2; SK-StPO/Paeffgen, § 127b Rn. 8; SSWStPO/Herrmann, § 127b Rn. 3; Asbrock, StV 1997, 43; Herzog, StV 1997, 215 (216); Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345 (349); Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569 (571 ff.); Geusen, Die Hauptverhandlungshaft, 2005, S. 67 ff.; Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 332 ff.; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 150. 520 SSW-StPO/Herrmann, § 127b Rn. 3; Asbrock, StV 1997, 43; Herzog, StV 1997, 215 (216); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 221. 521 SK-StPO/Paeffgen, § 127b Rn. 9; SSW-StPO/Herrmann, § 127b Rn. 13; Schlot hauer/Weider/Nobis, Rn. 225 f. 522 Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 227 ff. 523 BVerfG 09.06.1994 – 2 BvR 710/94, BeckRS 2014, 54254. 524 BayObLG 22.07.2003 – 5 St RR 167/03, NJW 2003, 2926 (2927); OLG Hamburg 11.08.2003 – II – 56/03 1 Ss 77/03, NStZ-RR 2004, 72 (73); OLG Nürnberg
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Geldstrafe zu erwarten und führte die Hauptverhandlungshaft quasi zu einem (weitgehenden) Vorwegvollzug derselben, wäre dies mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Wesen der Untersuchungshaft tatsächlich unvereinbar.525 Einer flächendeckend angewandten Hauptverhandlungshaft stünden zudem organisatorische Schwierigkeiten wie Transport- und Unterbringungsprobleme sowie Unzulänglichkeiten bei der kurzfristigen Ladung von Zeugen und Dolmetschern im Weg.526 Insbesondere die „justizorganisatorischen Bedenken“ dürfen tatsächlich nicht unterschätzt werden.527 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass es ein aktuelles Bedürfnis nach Regelung für Beschuldigte ohne festen Wohnsitz in Deutschland gibt. Eine Einschätzung, die sich infolge der derzeitigen gesellschaftlichen wie politischen Entwicklung eher noch verstärken dürfte. Die Hauptverhandlungshaft führt ferner weder zur Vorwegnahme schuldspruchvoraussetzender Rechtsfolgen noch zu einer Herabsetzung des hinreichenden Tatverdachts.528 Vor dem Ziel einer gerechten Strafverfolgung, wozu auch Gleichheit und Effizienz gehören, darf man seine Augen nicht davor verschließen, dass die Behandlung ortsfremder Beschuldigter – gerade in Anbetracht und unter Anerkennung deren Subjektstellung – angesichts eines Strafverfolgungsprocedere, welches an verschiedenen Stellen die rechtssichere Zustellung von Schriftstücken benötigt, mit diversen Schwierigkeiten behaftet ist. Soweit neben der zu Recht genannten Beschleunigungsmaxime als rechtspolitische Begründung für § 127b StPO jedoch zusätzlich spezialpräventive 25.10.2005 – 2 St Ss 150/05, BeckRS 2006, 00658; Hoven, JuS 2014, 975 (978); Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 85; a. A. OLG Stuttgart 04.07.2002 – 2 Ss 138/02, NJW 2002, 3188 (3189): „Für den Diebstahl einer absolut geringwertigen Sache – hier einer Milchschnitte im Wert von 26 Cent – ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe, deren Mindestmaß nach § 38 II StGB einen Monat beträgt, aber keinesfalls vertretbar. Das Tatunrecht wiegt in solchen Fällen so gering, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe eine unangemessen harte und damit gegen das Übermaßverbot verstoßende Sanktion darstellte und zwar selbst dann, wenn der Täter einschlägig vielfach vorbestraft ist“; OLG Karlsruhe 14.04.2003 – 3 Ss 54/03, NJW 2003, 1825 (1826). Vgl. auch BGH 15.11.2007 – 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84 = NJW 2008, 672 (673): „Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind.“ 525 Vgl. auch KMR/Wankel, § 127b Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127b Rn. 16; Wenske, NStZ 2009, 63 (66). 526 Zu einer gewissen zahlenmäßigen Gegenüberstellung und Entwicklung der Anwendungshäufigkeit der Hauptverhandlungshaft in den verschiedenen OLG-Bezirken vgl. Geusen, Die Hauptverhandlungshaft, 2005, S. 134. 527 Krit. Wenske, NStZ 2009, 63 (65). 528 Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 54, 103.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
sowie (positiv) generalpräventive Gründe angeführt werden,529 muss allerdings in der Tat bezweifelt werden, ob eine in ein elementares Grundrecht eines als unschuldig Geltenden derart einschneidende Zwangsmaßnahme argumentativ über straftheoretische Erwägungen gerechtfertigt werden kann.530 Voraussetzung eines Hauptverhandlungshaftbefehls gem. § 127b Abs. 1, Abs. 2 StPO sind das Betroffensein/Verfolgtsein auf frischer Tat, die Erwartung einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren binnen einer Woche ab Festnahme sowie das Vorhandensein bestimmter Tatsachen, welche befürchten lassen, dass der Beschuldigte der Hauptverhandlung fernbleiben wird. Daneben dürfen jedoch der dringende Tatverdacht und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht außer Acht gelassen werden; sie beanspruchen i. R. d. § 127b StPO in gleichem Maße Geltung.531 Während bei § 112 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 StPO ein aktives Sich-Entziehen bzw. eine entsprechende Gefahr erforderlich sind, antizipiert § 127b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO die Gefahr bloßen Ungehorsams gegenüber einer erfolgenden Ladung zur Hauptverhandlung.532 Obwohl § 127b StPO demnach erheblich geringere Anforderungen an den Haftgrund stellt, darf nicht übersehen werden, dass auch diese Ungehorsamsprognose mit bestimmten Tatsachen belegt werden muss.533 Abgesehen von Fällen, in denen es sich um Beschuldigte handelt, welche bereits mehrfach Ladungen nicht Folge geleistet haben, wird ein zentrales Entscheidungskriterium das Bestehen eines (inländischen) Meldewohnsitzes sein.534 Insoweit stellt sich – gerade unter Verhältnismäßigkeitsaspekten – die Frage, ob die Erteilung einer Zustel529 BT-Drs. 13/2576 S. 3: „Gerade bei reisenden Straftätern kann das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten. Die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen kann eine erhebliche erzieherische Wirkung haben und dadurch auch abschreckend wirken. Es ist eine berechtigte Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung, daß der Tat die Strafe auf dem Fuße folgen soll. Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat wird gestärkt, wenn die Justiz zumindest in den Fällen, in denen der Täter auf frischer Tat festgenommen wird und kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht, in die Lage versetzt wird, das Strafverfahren rasch abzuschließen.“ Vgl. auch BT-Drs. 13/5743 S. 3. 530 Hellmann, NJW 1997, 2145 (2146); Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569 (572); Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 102. 531 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127b Rn. 10; SSW-StPO/Herrmann, § 127b Rn. 22; Hellmann, NJW 1997, 2145 (2148); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 159, 166 ff.; vgl. auch BT-Drs. 13/2576 S. 3. 532 Hellmann, NJW 1997, 2145 (2147); Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569 (570); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 181; Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 179. 533 MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 127b Rn. 9; Hellmann, NJW 1997, 2145 (2147); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 182. 534 Vgl. auch Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 182 f.
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lungsvollmacht bei unterstelltem Fehlen weiterer Gesichtspunkte nicht zur Widerlegung der Ungehorsamsprognose hinreicht.535 Zwar besteht empirisch gesehen wohl eine gewisse Häufigkeit dahingehend, dass Ladungen, welche über einen Zustellungsbevollmächtigten erfolgen, keine Folge geleistet wird, jedoch bedarf es einer Würdigung des konkreten Einzelfalles. D. h. es ist dem konkreten Beschuldigten mit einer dem Haftrecht entsprechenden hohen Wahrscheinlichkeit zu widerlegen, dass er der an seinen (freiwillig) benannten Zustellungsbevollmächtigten erfolgenden Ladung entsprechen werde. Wenn nun der Beschuldigte nicht als „Ladungsverweigerer“ bekannt ist oder sich dahingehend geäußert hat, dass er ohnehin nicht zur Hauptverhandlung erscheinen werde, wird man der Benennung eine entsprechende Indizwirkung nicht absprechen können. Die bloße Geständnisbereitschaft des Täters dürfte übrigens nicht hinreichen, um eine spätere Gestellungsbereitschaft zu indizie ren,536 denn gerade für Beschuldigte, welche vorhaben, später nicht bei einer anstehenden Strafverfolgung mitzuwirken, kann es sich anbieten, den Aufenthalt durch ein bereitwilliges Geständnis abzukürzen. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gilt für die Hauptverhandlungshaft weder unmittelbar noch entsprechend.537 Auch § 140 Abs. 2 StPO wird regelmäßig nicht erfüllt sein, weil die Sachlage bereits qua Definition des § 417 StPO nicht schwierig ist und die typische Rechtslage in diesen Fällen ebenfalls keine zwingende Mitwirkung eines Verteidigers gebietet.538 Wegen § 79 Abs. 2 JGG ist Hauptverhandlungshaft gegen Jugendliche unzulässig.539 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich bei der Hauptverhandlungshaft gem. § 127b StPO grundsätzlich um ein probates Mittel zur Verfolgung kleinerer Kriminalität ortsfremder Beschuldigter handelt, soweit die Justiz die notwendigen organisatorischen Rahmenbedingungen schafft. Die Hauptverhandlungshaft verhindert eine definitorische Ausdehnung der „klassischen“ Haftgründe, trägt den Gedanken der Beschleunigung in sich und vermeidet für die geeigneten Fälle aufwändige Rechtshilfeersuchen. Bei Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze, welche für Gerichte, StaatsanwaltWenske, NStZ 2009, 63 (66) Fn. 33. Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 194. 537 Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 14; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 290. 538 Vgl. auch Wenske, NStZ 2009, 63 (67); a. A. SSW-StPO/Herrmann, § 127b Rn. 25, 27; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 209 ff.: Ungeachtet der Beiordnungsvoraussetzungen nach § 418 Abs. 4 StPO sei im Falle der drohenden oder angeordneten Hauptverhandlungshaft immer von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen. 539 Geusen, Die Hauptverhandlungshaft, 2005, S. 24; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 155. 535 Ablehnend 536 A. A.
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schaften und Verteidiger gleichermaßen selbstverständlich sein müssen, besteht auch keine Gefahr der Beschneidung von Beschuldigtenrechten.540 Ein Problem liegt aber in der fehlenden Aufrechterhaltung des Haftbefehls nach dem Urteil, wenn kein Rechtsmittelverzicht erklärt wird. Nach Ablauf von einer Woche oder mit dem Urteilsspruch wird der Hauptverhandlungshaftbefehl (unabhängig von einer etwaigen deklaratorischen Aufhebung) gegenstandslos.541 Die Hauptverhandlungshaft sichert allein die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, nicht jedoch die sich gegebenenfalls anschließende Strafvollstreckung, weshalb kein automatischer Übergang zur Strafhaft erfolgt.542 Anders als im Falle des nicht zur Hauptverhandlung erscheinenden Angeklagten, welcher sodann über einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO und einen entsprechenden internationalen Haftbefehl im Rechtshilfewege ausgeliefert wird, bei dem sich nach Urteilsverkündung zu einer – gegebenenfalls empfindlichen – Freiheitsstrafe ohne Bewährung regelmäßig einige Anknüpfungspunkte dafür finden lassen, dass sich der ortsfremde Beschuldigte in der Folge nicht lediglich mit seinem passiven Ungehorsam begnügen, sondern darüber hinausgehend nunmehr auch aktive Verschleierungsbemühungen starten werde, kann dies in den hier vorliegenden Fällen der Verurteilung nach vorangegangener maximal einwöchiger Hauptverhandlungshaft typischerweise nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. c) Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO nennt nicht die Verhältnismäßigkeit als Haftvoraussetzung, sondern die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund.543 Sie muss folglich positiv festgestellt werden, der Zweifelsgrundsatz 540 Insbesondere wird es einem Verteidiger intellektuell möglich sein, die im beschleunigten Verfahren typischerweise nicht sehr umfangreiche Aktenlage (Stichworte: einfacher Sachverhalt, klare Beweislage, § 417 StPO) auch kurzfristig zu überblicken und eine Verteidigungslinie zu entwerfen. Ebenso Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 109; a. A. Asbrock, StV 1997, 43; Scheffler, Kriminalität im Grenzgebiet, 1998, S. 169 (182 ff.); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 205 ff. 541 BeckOK-StPO/Krauß, § 127b Rn. 10; KK-StPO/Schultheis, § 127b Rn. 18; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 199 f. 542 KK-StPO/Schultheis, § 127b Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, § 127b Rn. 18; Geusen, Die Hauptverhandlungshaft, 2005, S. 24; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 201; zu den Einzelheiten des Übergangs von „normaler“ Untersuchungshaft zu Strafhaft bei rechtskräftiger Verurteilung vgl. vertiefend Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 1009 ff. 543 BeckOK-StPO/Krauß, § 112 Rn. 42; KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 45; KMR/Wankel, § 112 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 8; a. A. LR-StPO/Hilger, § 112 Rn. 60; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 10.
IV. Untersuchungshaft205
gilt nicht.544 Im Ergebnis wird sich diese dogmatische Unterscheidung wenig auswirken, da es sich insoweit ohnehin um eine wertende Entscheidung handelt und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als tragendes rechtsstaatliches Prinzip bei einer solch tief eingreifenden Persönlichkeitsrechtsbeschränkung nachdrücklich Berücksichtigung zu finden hat. Die Bedeutung der Sache als Ausdruck öffentlichen Interesses an der Verfolgung der konkreten Straftat sowie die prognostizierte Höhe der zu erwartenden Strafe müssen derart schwer wiegen, dass die von dem Haftbefehl/von der Haft ausgehenden Nachteile demgegenüber zurücktreten müssen und sich auch keine mildere, gleich wirksame Alternative aufzeigt.545 Auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss ausweislich § 114 Abs. 3 StPO im Haftbefehl nur eingegangen werden, wenn seine Anwendung nahe liegt oder der Beschuldigte sich darauf beruft.546 Für Jugendliche ist auf das in § 72 Abs. 1 JGG normierte Subsidiaritätsprinzip gesondert hinzuweisen.547 aa) Strafbefehlsverfahren zur Haftvermeidung Ein Mittel zur Haftvermeidung kann gegebenenfalls das Strafbefehlsverfahren gem. §§ 407 ff. StPO darstellen. Während die Untersuchungshaft die Anwesenheit des Beschuldigten während des gegen ihn stattfindenden Strafverfahrens sichert, handelt es sich beim Strafbefehlsverfahren um ein partielles Abwesenheitsverfahren.548 Soweit die Untersuchungshaft wie dargestellt auch der Sicherung der Vollstreckung eines auf Freiheitsentziehung lautenden 544 OLG Düsseldorf 16.11.1992 – 2 Ws 445–447/92, NStZ 1993, 554; BeckOKStPO/Krauß, § 112 Rn. 42; KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 45; KMR/Wankel, § 112 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 8. 545 Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 487 ff. 546 BeckOK-StPO/Krauß, § 114 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, § 114 Rn. 17; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 114 Rn. 39. 547 Vgl. OLG Hamm 17.03.2009 – 3 Ws 86/09, NStZ 2010, 281 (282): „Regelung des § 72 I 3 JGG sollte sicherstellen, dass diese Fragen bei Jugendlichen auf jeden Fall geprüft und im Haftbefehl ausgeführt werden. Formelhafte Wendungen, die keine fallbezogene Prüfung erkennen lassen, sollten so ausgeschlossen werden (…). Diese Intention und auch die Formulierung der Gesetzesbegründungen („schreibt … vor“; „aufzuführen sind“) zeigen, dass es sich um eine zwingende Regelung handelt. Die Regelung des § 72 I 3 JGG ist zudem eng mit dem materiellrechtlichen Gehalt der Vorschrift verknüpft. § 72 JGG regelt das Prinzip der Subsidiarität der U-Haft. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit darf U-Haft gegen einen Jugendlichen nur verhängt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder andere Maßnahmen erreicht werden kann (…). Dies zu sichern, ist Funktion der besonderen Begründungspflicht“; OLG Karlsruhe 26.02.2010 – 2 Ws 60/10, StraFo 2010, 206. 548 KG 01.03.2007 – 4 Ws 26/07, NJW 2007, 2345; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 577.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Urteils dient, greift dieser Aspekt bei der potentiellen Anwendbarkeit des Strafbefehlsverfahrens nicht durch, da dieses qua Definition nicht mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung enden kann; die bezweckte Garantie einer Ersatzfreiheitsstrafe würde einen apokryphen Haftgrund darstellen.549 Zwar ist Untersuchungshaft grundsätzlich auch zulässig, wenn nur eine Geldstrafe zu erwarten ist, arg.e § 113 StPO.550 Allerdings muss insoweit das Ziel der Verfahrenssicherung und nicht der Vollstreckungssicherung im Vordergrund stehen,551 sodass bei entsprechender Absicherung der Durchführung des Strafbefehlsverfahrens durch Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten ein auf reine Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl bei zu erwartender Geldstrafe in der Regel ausscheidet.552 bb) Beschleunigungsgebot und Haftbefehl bei faktischem Abschluss der Ermittlungen Das Beschleunigungsgebot, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK sowie innewohnend in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG,553 ist generell, aber insbesondere in Haftsachen zu beachten. Es verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte dazu, alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten herbeizuführen.554 Vermeidbare Verfahrensverzögerungen in der Sphäre der Justiz sind in jedem Verfahrensstadium nachdrücklich zu vermeiden.555 Hierbei ist zu beachten, dass die Rechtsprechung des BVerfG im Fall eines Zielkonflikts verschiedener Rechte/Grundsätze der Beschleunigungsmaxime prinzipiell den Vorrang 549 OLG Düsseldorf 19.02.1997 – 1 Ws 127/97, NJW 1997, 2965; Schlothauer/ Weider/Nobis, Rn. 580. 550 OLG Düsseldorf 19.02.1997 – 1 Ws 127/97, NJW 1997, 2965: „Der Erlaß des beantragten Haftbefehls ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil gegen den Beschuldigten bereits ein Strafbefehl erlassen worden ist und dieser auf Geldstrafe lautet“; Meyer-Goßner/Schmitt § 113 Rn. 1; MüKo-StPO/Böhm, § 113 Rn. 1. 551 OLG Düsseldorf 19.02.1997 – 1 Ws 127/97, NJW 1997, 2965. 552 AG Brühl 25.11.2004 – 21 Gs 467/04, StV 2005, 393; LR-StPO/Hilger, § 113 Rn. 11; Siebers, StraFo 1997, 329 (329 f.); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 581; a. A. Wagner, NJW 1978, 2002 (2004). 553 BVerfG 20.10.2006 – 2 BvR 1742/06, 2 BvR 1809/06, 2 BvR 1848/06, 2 BvR 1862/06, BVerfGK 9, 339 = StV 2006, 703; Knauer, StraFo 2007, 309. 554 BVerfG 13.09.2001 – 2 BvR 1316/01, NJW 2002, 207 (208); BGH 22.09.2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18 (19); MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 5; vertiefend Knauer, StraFo 2007, 309; Wankel, v. Heintschel-Heinegg-FS, 2015, S. 487. 555 BVerfG 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, BVerfGK 7, 21 = NJW 2006, 672 (675); OLG Nürnberg 21.10.2010 – 1 Ws 579/10, StV 2011, 294; BeckOK-StPO/Krauß, § 121 Rn. 10; Knauer, StraFo 2007, 309; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 902 f.
IV. Untersuchungshaft207
einräumt.556 Bei der Prüfung, ob die Anordnung oder Aufrechterhaltung eines Haftbefehls (noch) mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Einklang stehen, ist zu bedenken, dass der Haftdauer unabhängig von der zu erwartenden Strafe insbesondere bei Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot Grenzen gesetzt werden.557 Fraglich ist in diesem Zusammenhang folgendes Vorgehen: Auf frischer Tat betroffen oder sonst im Zuge der Ermittlungen wird dem ortsfremden Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet und rechtliches Gehör gewährt. Eine unmittelbare Festnahme auf frischer Tat erfolgt nicht. Für die hiesige Konstellation sei unterstellt, dass es sich um einen Fall handelt, bei dem Fluchtgefahr bejaht werden kann und ein Haftbefehl verhältnismäßig ist. Die Ermittlungen sind grundsätzlich abgeschlossen, gleichwohl nimmt die Staatsanwaltschaft in den Blick, beim nach § 125 Abs. 1 StPO bis zur Anklageerhebung zuständigen Ermittlungsrichter einen Haftbefehl zu beantragen und nicht im Rahmen der Anklage selbst. Verträgt sich eine solche Handlungsweise mit dem Beschleunigungsgrundsatz oder stellt dies bereits eine vermeidbare Verzögerung in der Sphäre der Justiz dar?
Abschlussreif sind Ermittlungen, sobald die Staatsanwaltschaft von einem Aufklärungsgrad ausgeht, der ihr eine Abschlussentscheidung erlaubt.558 Ist der Beschuldigte bereits zur Sache vernommen, sind die Ermittlungen auch ohne bekannten Aufenthaltsort des Beschuldigten i. S. d. § 169a StPO abgeschlossen, wenn der Beschuldigte ohne festen Wohnsitz ist und sich der gewöhnliche Aufenthalt nicht näher ermitteln lässt. Der hinreichende Tatverdacht i. S. v. § 203 StPO ist schließlich einer Beurteilung zugänglich.559 Eine (weitere) Aufenthaltsermittlung verspricht nur Erfolg, wenn eine zeitnahe Meldewohnsitznahme konkret zu erwarten steht. Auch aus § 154f StPO ergibt sich nichts Gegenteiliges, da dieser eine Kann-Vorschrift darstellt und allgemein anerkannt ist, dass es Konstellationen gibt, welche die Staatsanwaltschaft zu einer Anklageerhebung bewegen (müssen), obschon ein Aufenthaltsort nicht bekannt ist.560 Es wäre demnach weder mit dem Beschleunigungsgrundsatz noch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in (angehenden) Haftsachen und im Übrigen ebenso wenig mit Zweckmäßigkeitserwägungen zu vereinbaren, wenn die Staatsanwaltschaft eine fertige Anklageschrift 556 Jahn,
NStZ 2007, 255 (258 f.). 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10, BVerfGK 17, 517 = StV 2011, 31; KKStPO/Schultheis, § 120 Rn. 8; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 33; Knauer, StraFo 2007, 309; Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325 (327). 558 MüKo-StPO/Kölbel, § 169a Rn. 2. 559 Vgl. BeckOK-StPO/Gorf, § 169a Rn. 1. 560 BR-Drs. 178/09, S. 34; HK-StPO/Gercke, § 154f Rn. 2; KK-StPO/Diemer, § 154f Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, § 154f Rn. 3; MüKo-StPO/Teßmer, § 154f Rn. 5; SK-StPO/Weßlau/Deiters, § 154f Rn. 4; SSW-StPO/Schnabl/Vordermayer, § 154f Rn. 3. 557 BVerfG
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
gleichsam zurückhielte, um zunächst beim nach § 125 Abs. 1 StPO zuständigen Ermittlungsrichter einen Haftbefehl zu beantragen, wobei sie sich aus der sodann noch vor Anklageerhebung bestehenden Untersuchungshaft keinen Ermittlungserfolg verspricht und keine Ermittlungen mehr anstrebt. Diese Vorgehensweise führte indessen sogar zu unnötigen Verzögerungen in der Sphäre der Justiz. Auf die dem Erlass des Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter folgende Festnahme würde Untersuchungshaft angeordnet/aufrechterhalten. Sodann müsste dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt werden, diesem müsste in der Regel noch im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht gewährt werden. Sodann könnte erst die Anklage erhoben werden. Diese müsste mit Frist nach § 201 StPO zugestellt werden und sodann müsste sich der Tatrichter seine Überzeugung gem. § 203 StPO bilden, bis er das Hauptverfahren eröffnen und die Haftsache (vgl. auch § 207 Abs. 4 StPO) terminieren könnte. Wird demgegenüber mit Anklageerhebung der Erlass eines Haftbefehls nach Maßgabe der Anklage beim nunmehr gem. § 125 Abs. 2 StPO zuständigen Tatgericht beantragt, hat sich der Tatrichter zunächst mit dem vorrangig zu beurteilenden dringenden Tatverdacht gem. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO zu beschäftigen, bevor er den Haftbefehl erlässt. Wird nun der Angeschuldigte betroffen, festgenommen und vorgeführt, kann nach Pflichtverteidigerbestellung und Vorgehen nach § 201 StPO infolge der bereits bestehenden Vorbefassung umgehend eröffnet, terminiert und verhandelt werden. Unter den genannten Gesichtspunkten gebührt der zweitgenannten Vorgehensweise der Vorrang, wohingegen die erstgenannte Gefahr liefe, wegen Unverhältnismäßigkeit zu einer Ablehnung respektive Aufhebung des Haftbefehls zu führen. Eine andere Beurteilung lässt sich lediglich dann rechtfertigen, wenn es sich um einen einfachen Sachverhalt mit klarer Beweislage handelt, dessen Aburteilung im beschleunigten Verfahren gem. §§ 417 ff. StPO geeignet erscheint. Insofern wäre von der Staatsanwaltschaft ein Haftbefehl beim Ermittlungsrichter zu beantragen und das Verfahren gem. § 154f StPO vorläufig einzustellen. Nach Festnahme und Eröffnung des Haftbefehls samt Pflichtverteidigerbestellung müsste das Verfahren wiederaufgenommen und umgehend Antrag im beschleunigten Verfahren gestellt werden. Eine vorhergehende Akteneinsicht an den Pflichtverteidiger dürfte wegen der Beschleunigungsmaxime und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (es ist schließlich nur eine kurze Freiheitsstrafe zu erwarten) regelmäßig auszulassen sein, diese kann vielmehr parallel zur Antragstellung mit den Zweitakten erfolgen. Infolge der Besonderheiten des beschleunigten Verfahrens kann sodann der Vorsitzende gem. §§ 418, 213 StPO umgehend Termin zur Hauptverhandlung anberaumen.
IV. Untersuchungshaft209
cc) Sicherungshaftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO) nach vorangegangener Haftbefehlsaufhebung (§ 112 StPO) i. R. d. §§ 121, 122 StPO Aus dem Beschleunigungsgrundsatz resultiert auch § 121 Abs. 1 StPO, wonach der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat ohne erstinstanzliches Urteil (bzw. präziser gesagt ohne Beginn der Hauptverhandlung, § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO) über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Für die Entscheidung zuständig ist das OLG, §§ 121 Abs. 2, 122 Abs. 1, Abs. 4 StPO. Prinzipiell für jeden Beschuldigten, mangels Erfolgsaussicht der Vorführung jedoch für ortsfremde Beschuldigte besonders, relevant ist die Frage, ob nach Aufhebung eines Haftbefehls durch das OLG gem. § 121 Abs. 2 StPO in der Folge bei Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung ein Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO ergehen darf oder ob dieser ebenfalls gleichsam „gesperrt“ ist. Schließlich dürfen nach einer Aufhebungsentscheidung i. S. d. § 121 Abs. 2 StPO wegen des Fehlens der besonderen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO – selbst bei einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage oder im Fall drohender Verfahrensgefährdung – weder das OLG noch das nach §§ 125, 126 StPO zuständige Haftgericht die getroffene Entscheidung abändern oder umkehren, weil die Rechtsfolge des § 121 StPO in Anbetracht der besonderen Wirkmacht, die der Gesetzgeber dem Beschleunigungsgedanken in Haftsachen zuschreibt, zwingend ist und ein Aufrechterhaltungsgrund i. S. d. § 121 Abs. 1 StPO nicht nachträglich entstehen kann.561 Erst nach einer erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung kann wegen derselben Tat ein neuer Haftbefehl nach § 112 StPO (insbesondere wegen Fluchtgefahr) erlassen werden, weil sich die Bestim561 OLG Zweibrücken 21.06.1996 – 1 Ws 281/96, NJW 1996, 3222; OLG Frankfurt 02.04.2013 – 1 Ws 28/13, StV 2013, 520: „Was sich nach Ablauf der 6 Monate neu ereignet, ist kein Umstand, der auf die Verlängerung des Haftvollzugs über 6 Monate hinaus Einfluss haben kann“; KK-StPO/Schultheis, § 121 Rn. 31; LR-StPO/Hilger, § 122 Rn. 38 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 122 Rn. 19; MüKo-StPO/Böhm, § 121 Rn. 111; a. A. OLG Hamburg 27.08.1993 – 2 Ws 429/93, StV 1994, 142 (142 f.): „Haftentscheidungen einschließlich der Aufhebung eines Haftbefehls im Haftprüfungsverfahren erwachsen nicht in materielle Rechtskraft. Die Rechtsfolgen der Haftprüfungsentscheidung bleiben somit nicht für die Zukunft festgesetzt, sondern stehen einer erneuten Bewertung bei veränderter Tatsachengrundlage offen. Ob hierzu allein neue den Haftgrund betreffende Tatsachen ausreichen, bedarf keiner Entscheidung; jedenfalls wenn zusätzlich die Hauptverhandlung begonnen hat, ist der Weg zu einer erneuten Prüfung der Voraussetzungen eines auf § 112 Abs. 2 StPO gegründeten Haftbefehls eröffnet. Mit Beginn der Hauptverhandlung hat sich nämlich die Verfahrenslage in einer Weise geändert, die den Geltungsgrund des § 121 StPO zurücktreten läßt.“
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
mungen der §§ 121, 122 StPO ausweislich ihres Wortlauts nur auf den Verfahrensabschnitt bis zum Zeitpunkt eines auf Freiheitsentzug erkennenden Urteils beziehen.562 Für die Beantwortung ist die unterschiedliche Beschaffenheit der Haftbefehle nach § 112 StPO einer‑ und § 230 Abs. 2 StPO andererseits in den Blick zu nehmen. Ersterer dient der Durchsetzung des Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters durch Verhinderung von Flucht oder Verdunkelung einschließlich der späteren Vollstreckung eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils,563 wohingegen Zweiterer lediglich eine verfahrensnotwendige Ergänzung des § 230 Abs. 1 StPO darstellt, sodass ein zur Anwesenheit verpflichteter Angeklagter die Durchführung der Hauptverhandlung nicht allein durch sein Ausbleiben dauerhaft verhindern kann.564 Ebenso wie ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO abgesehen vom stets zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgedanken grundsätzlich keinen zeitlichen Schranken unterliegt,565 hindert eine vorangegangene Entscheidung nach § 121 Abs. 2 StPO bei unentschuldigtem Ausbleiben in der Hauptverhandlung auf ordnungsgemäße Ladung folglich nicht den nachfolgenden Erlass eines Sitzungshaftbefehls, weil die Verpflichtung des Beschuldigten, sich dem Verfahren auch zukünftig zu stellen, durch § 121 Abs. 2 StPO und den darin zum Ausdruck kommenden Beschleunigungsgedanken unberührt bleibt und sich der Rechtsstaat auch nicht jeder Verfolgungsmöglichkeit begeben darf.566
562 OLG Düsseldorf 27.09.1993 – 2 Ws 265/93, StV 1994, 147; KK-StPO/Schultheis, § 121 Rn. 31; LR-StPO/Hilger, § 122 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt, § 122 Rn. 20a; MüKo-StPO/Böhm, § 121 Rn. 111. 563 BVerfG 18.12.2000 – 2 BvR 1706/00, NJW 2001, 1341; BVerfG 13.09.2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 Rn. 18; BGH 29.04.2009 – 1 StR 701/08, BGHSt 53, 294 = NJW 2009, 2463 (2466); KG 17.06.2011 – 2 Ws 219/11, NStZ 2012, 230 (231); KG 08.02.2016 – 5 Ws 12/16, BeckRS 2016, 5327; KMR/Wankel, Vorb. zu §§ 112 ff. Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 112 Rn. 4; MüKo-StPO/ Böhm/Werner, § 112 Rn. 2. 564 OLG Nürnberg 04.02.2016 – 1 Ws 12/16, BeckRS 2016, 18703 Rn. 8; OLG Nürnberg 04.02.2016 – 2 Ws 824/15, NStZ-RR 2016, 285; LR-StPO/Becker, § 230 Rn. 14. 565 KK-StPO/Gmel, § 230 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 23; MüKoStPO/Arnoldi, § 230 Rn. 17; Beining, JuS 2016, 515 (517). 566 OLG Köln 01.06.2015 – 2 Ws 299/15, BeckRS 2015, 11156 Rn. 25; KK-StPO/ Schultheis, § 121 Rn. 31; KMR/Wankel, § 122 Rn. 19; LR-StPO/Hilger, § 122 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, § 122 Rn. 20; MüKo-StPO/Böhm, § 121 Rn. 111.
IV. Untersuchungshaft211
dd) Anklage über Zustellungsbevollmächtigten vs. Zweckentfremdung der Untersuchungshaft Bereits zum Zeitpunkt des Betreffens des ortsfremden Beschuldigten bedarf es einer Abwägung, inwieweit die Erteilung einer Zustellungsvollmacht für die Sicherung des Verfahrensfortgangs hinreicht oder Untersuchungshaft unumgänglich ist. Für eine Straftat wegen eines „kleinen Ladendiebstahls“ gem. §§ 242 Abs. 1, 248a StGB oder einer Leistungserschleichung gem. §§ 265a Abs. 1, Abs. 3, 248a StGB wird es bei entsprechenden, mehrfach einschlägigen Vorstrafen gleichwohl eine kurze Freiheitsstrafe geben.567 Nun sind bei Haft(fortdauer)entscheidungen indessen die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens, die für den Fall einer Verurteilung im Raum stehende Straferwartung und das hypothetische Ende einer möglicherweise zu vollstreckenden Freiheitsstrafe (immer auch im Verhältnis zur entsprechenden Dauer der Untersuchungshaft) von erheblicher Relevanz.568 Steht nun eine Freiheitsstrafe von ca. zwei Monaten im Raum, führt die Festnahme zu einer faktischen Zweckentfremdung der Untersuchungshaft, weil wegen der notwendigen Zeit zwischen Erlass des Untersuchungshaftbefehls, Anklageerhebung, Einlassungsfrist, Zeit zur Terminierung und Durchführung der Hauptverhandlung im Ergebnis eine komplette Verbüßung durch Untersuchungshaft oder gar ein Übersteigen der Strafe drohen. Es wurde bereits ausgeführt, dass der Erhebung der Anklage über einen Zustellungsbevollmächtigten keine Hindernisse entgegenstehen. Die pauschale Behauptung, ein ortsfremder Beschuldigter (noch dazu ohne Weiterleitungsadresse) werde auf Ladung über den Zustellungsbevollmächtigten nicht zur Hauptverhandlung erscheinen, mag empirisch eine gewisse Bestätigung in der Praxis finden. Gleichwohl ist der Einzelfall in den Blick zu nehmen. Benennt der Beschuldigte freiwillig einen Zustellungsbevollmächtigten, wirkt er hierdurch am Fortgang des Ermittlungsverfahrens mit. Sind keine gegenteiligen Anhaltspunkte in der Person des konkreten Beschuldigten vorhanden, handelt es sich hierbei um ein milderes Mittel gegenüber dem Haftbefehl. Zudem ist festzuhalten, dass die bloße Befürchtung, der Beschuldigte werde der Hauptverhandlung fernbleiben, für § 127b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO genügt, allein nicht jedoch den Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO begründet. Schlichtes Fernbleiben ist 567 BayObLG 22.07.2003 – 5 St RR 167/03, NJW 2003, 2926 (2927); OLG Hamburg 11.08.2003 – II – 56/03 1 Ss 77/03, NStZ-RR 2004, 72 (73); OLG Nürnberg 25.10.2005 – 2 St Ss 150/05, BeckRS 2006, 00658; Hoven, JuS 2014, 975 (978); Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 85; a. A. OLG Stuttgart 04.07.2002 – 2 Ss 138/02, NJW 2002, 3188 (3189); OLG Karlsruhe 14.04.2003 – 3 Ss 54/03, NJW 2003, 1825 (1826). 568 BVerfG 04.06.2012 – 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428 = BeckRS 2012, 55244; BGH 22.09.2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18 (19); KG 13.09.2016 – 4 Ws 130/16, StV 2017, 451 (452); Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325 (329).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
etwas anderes als „Sich Entziehen“. Dies gilt umso mehr, als die Straferwartung einer kurzen Freiheitsstrafe bei einem vielfach vorbestraften Beschuldigten ohne festen Wohnsitz mit entsprechend vielen verbüßten Haftstrafen, welcher nach Haftentlassung wiederum ohne festen Wohnsitz sich in etwa an der gleichen Örtlichkeit/den gleichen Örtlichkeiten aufhält und erneut Straftaten begeht, wohl kaum geeignet ist, einen Fluchtanreiz zu bieten. Der vom Gesetz – abgesehen von § 127b StPO – vorgesehene Weg ist die Ladung zur Hauptverhandlung, bei Ausbleiben in derselben der Erlass eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO und die Einleitung der entsprechenden Fahndungsmaßnahmen in der Folge. Soweit aus organisatorischen oder sonstigen Gründen kein Gebrauch von § 127b StPO gemacht wird, ist es nicht Aufgabe der Rechtsprechung diese gesetzgeberische Entscheidung umzukehren. 4. Besonderheiten des Vollzugs der Untersuchungshaft gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte Das Leben im Untersuchungshaftvollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen nach Möglichkeit anzugleichen (sog. Angleichungsgrundsatz). Die Frage der Unterbringung hat dabei für ausländische bzw. der deutschen Sprache nicht mächtige Häftlinge zur Vermeidung von Isolation (gemeinsame Lebensgewohnheiten, religiöse Vorstellungen, Verständigungsmöglichkeiten) besondere Bedeutung.569 Falls ein Gericht einen Untersuchungsgefangenen insbesondere ohne vorherige Rücksprache mit der betreffenden Vollzugsanstalt in eine Anstalt einweist, welche etwa aufgrund der Unterbringungssituation nicht geeignet ist, hat der Gesetzgeber den Anstalten die Möglichkeit eingeräumt, auf solche, unter vollzuglichen Aspekten untunliche, „Fehleinweisungen“ korrigierend zu reagieren, indem die Anstalten aus Gründen der Sicherheit und Ordnung von ihrer Befugnis zur Verlegung nach (exemplarisch) Art. 9 BayUVollzG – sowohl dem Ermittlungsrichter als auch der Staatsanwaltschaft ist gem. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 BayUVollzG Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben – Gebrauch machen und den Untersuchungsgefangenen gegebenenfalls in eine andere Vollzugsanstalt überführen.570 Besteht bei einem ortsfremden Beschuldigten bereits ersichtlich die Absicht, nach Ende der (Untersuchungs-) Haft ins Ausland zurückzukehren, sollte einem Begehr auf Durchführung von Maßnahmen, welche die Besonderheiten der Heimat des Gefangenen berücksichtigen, entsprochen werden, wenn und soweit dies mit der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt in Einklang steht und der Aufwand verhält569 BeckOK-Strafvollzug Baden-Württemberg/Wulf/Müller, § 1 JVollzGB I Rn. 27; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 1089. 570 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Oberndörfer/Krä, Art. 8 BayUVollzG Rn. 6.
IV. Untersuchungshaft213
nismäßig bleibt.571 In Ansehung dessen wird eine entsprechende „Resozialisierung ins Ausland“ praktisch schwerlich flächendeckend stattfinden können.572 Gem. Art. 26 Abs. 5 BayUVollzG sollen Untersuchungsgefangene mit Deutsch- oder Integrationsdefiziten ferner dazu angehalten werden, freiwillig an Deutsch- und/oder Integrationsunterricht gem. Art. 40 Abs. 2, Abs. 3 BayUVollzG teilzunehmen. Dieser Unterricht im Rahmen des Strafvollzugs dient auch beim als unschuldig geltenden Untersuchungsgefangenen bereits der Resozialisierung. Hierfür soll/muss Gefangenen mit Sprach- oder Integrationsdefiziten – unabhängig von ihrer ausländerrechtlichen Bleibeperspektive573 – verstärkt die Möglichkeit gegeben werden, die deutsche Sprache zu erlernen und sich über die in Deutschland geltenden Werte, Regeln und Traditionen zu informieren.574 Die Entscheidung über die Durchführung von und die Notwendigkeit der Teilnahme an Deutsch- oder Integrationskursen trifft die zuständige Justizvollzugsanstalt. Das Vorliegen von Deutsch- oder Integrationsdefiziten unterliegt dabei als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung, während die Verweigerung der Teilnahme an Maßnahmen – wegen der Geltung der Unschuldsvermutung – disziplinarisch nicht geahndet werden kann.575 Ein Untersuchungsgefangener gilt als unschuldig und ist entsprechend zu behandeln. Er hat folglich das Recht, im Grundsatz unbeschränkt Briefe zu schreiben und zu empfangen.576 Die Anordnung von haftgrundbezogenen 571 Pohlreich,
ZStW 127 (2015), 410 (415). wohl Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (415): „Dabei wird mit steigender Zahl der Gefangenen mit vergleichbarem Hintergrund eher von einer Zumutbarkeit – und spiegelbildlich hierzu von einer gesteigerten Rechtfertigungslast der Vollzugsanstalt, will sie gleichwohl von der Entwicklung beziehungsweise Durchführung länderspezifischer Maßnahmen absehen – auszugehen sein.“ 573 BVerfG 18.06.1997 – 2 BvR 483/95, 2 BvR 2501/95, 2 BvR 2990/95, BVerfGE 96, 100 = NJW 1997, 3013 (3014); Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (413 ff.): „Auf das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot kann sich also jeder Strafgefangene berufen, und zwar unabhängig von seinem aufenthaltsrechtlichen Status und dem Aufenthaltsort nach seiner Haftentlassung“; a. A. OLG Frankfurt 01.11.2000 – 3 VAs 45/00, NStZ-RR 2001, 93 (94); OLG Hamm 05.01.2006 – 1 VAs 70/05, BeckRS 2006, 03447: „dass nach Vollzug der Ausweisung oder Auslieferung eine Sicherung der Allgemeinheit vor einem gefährlichen Straftäter nicht mehr erforderlich ist, eine Resozialisierung nicht sinnvoll erscheint und zudem die Justizvollzugsanstalten entlastet werden“; Groß, StV 1987, 36; Hammerstein, StraFo 2002, 208 (210): „Asozialisierung statt Resozialisierung, könnte man sagen“. 574 BayLT-Drs. 17/11362, S. 27; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Bratke/Krä, Art. 26 BayUVollzG Rn. 10; ablehnend zu jeder Form einer Resozialisierung im U-Haftvollzug Wolter, ZStW 93 (1981), 452 (454 f.). 575 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Bratke/Krä, Art. 26 BayUVollzG Rn. 12. 576 BVerfG 27.07.2009 – 2 BvR 2186/07, BVerfGK 16, 51 = StV 2010, 142; OLG Hamm 13.01.2009 – 2 Ws 388/08, NStZ-RR 2009, 293 (294); Schlothauer/Weider/ Nobis, Rn. 1224. 572 A. A.
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Beschränkungen stellt dabei von Gesetzes wegen eine begründungsbedürftige Ausnahme dar, § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO, was nachdrücklich zu beachten ist.577 Zusätzlich zu den ohnehin anfallenden Belastungen durch die Postkontrolle (§ 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 StPO) entstehen bei sprachfremden Beschuldigten gegebenenfalls noch hohe Übersetzungskosten, welche infolge Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vom Staat zu tragen sind. Letzteres rechtfertigt jedoch keine Beschränkung, soweit nicht vom Beschuldigten bewusst missbräuchlich agiert wird.578 Ist gem. § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 StPO eine akustische Besuchsüberwachung dergestalt angeordnet, dass Gespräche nur in deutscher Sprache geführt werden dürfen, liegt hierin die konkludente Bewilligung und Übernahme der notwendigen Dolmetscherkosten.579 577 OLG Koblenz 29.09.2016 – 2 Ws 428/16, BeckRS 2016, 110321 Rn. 5: „Untersuchungsgefangenen dürfen nach § 119 StPO nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. Wie alle grundrechtseinschränkenden Bestimmungen ist auch diese Vorschrift an den durch sie eingeschränkten Grundrechten zu messen; ihre Auslegung hat der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (…). Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Freiheitsentziehungszwecks oder der Anstaltsordnung vorliegen“; LG Magdeburg 04.07.2016 – 22 Qs 29/16, StV 2016, 822; BeckOK-StPO/Krauß, § 119 Rn. 12; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 119 Rn. 2: „Diesen Anforderungen wird die forensische Praxis nicht immer gerecht, weil oftmals die zu Beginn der Haft auch formularmäßig als notwendig angesehenen Haftbeschränkungen nicht frühzeitig auf ihre weitere Notwendigkeit überprüft werden“; Herrmann, StraFo 2016, 89. 578 BVerfG 07.10.2003 – 2 BvR 2118/01, BVerfGK 2, 36 = NJW 2004, 1095 (1096); OLG Düsseldorf 07.07.1994 – 1 Ws 469/94, NStZ 1994, 559; OLG Brandenburg 19.09.1996 – 2 Ws 219/96, NStZ-RR 1997, 74; OLG Hamm 13.01.2009 – 2 Ws 388/08, NStZ-RR 2009, 293 (294 f.); LG Berlin 24.02.1994 – (532) 1 Kap Js 2308/93, StV 1994, 325; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Bratke/Krä, Art. 18 BayUVollzG Rn. 2; KK-StPO/Schultheis, § 119 Rn. 31; Kropp, JR 2003, 53 (54 f.); Schlothauer/Weider/ Nobis, Rn. 1225. 579 BVerfG 07.10.2003 – 2 BvR 2118/01, BVerfGK 2, 36 = NJW 2004, 1095 (1096); OLG Frankfurt 30.08.1985 – 2 Ws 172/85, StV 1986, 24; OLG Düsseldorf 12.03.1991 – 3 Ws 26/91, NStZ 1991, 403; LG Düsseldorf 02.03.2011 – 7 Qs 12/11, StV 2012, 357; LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 28; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 68; Sommer, StraFo 1995, 45 (49 f.); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 1189; a. A. OLG Koblenz 07.12.1995 – 1 Ws 794/95, NStZ-RR 1996, 159; OLG Frankfurt 14.01.1998 – 2 Ws 158/97, NStZ-RR 1998, 158; LG Köln 05.07.2016 – 113 Qs 47/16, StV 2017, 229 (230). Bezüglich der Heranziehung von Dolmetschern bei Untersuchungsgefangenen in Justizvollzugsanstalten ist Folgendes auszuführen: Für öffentlich bestellte und allgemein beeidigte Dolmetscher ist keine gesonderte Besuchserlaubnis bzw. kein Sprechschein erforderlich. Unbeeidigte Dolmetscher bedürfen hingegen einer Besuchserlaubnis bzw. eines Sprechscheins, soweit diese nicht als Begleitpersonen von Polizeibeamten bei Besuchen von Gefangenen als durch die Polizeibeamten legitimiert angesehen werden können, vgl. BeckOK-Strafvollzug Bayern/Bratke/Krä, Art. 16 BayUVollzG Rn. 2a.
IV. Untersuchungshaft215
5. Supranationaler Einfluss a) Unterrichtung und Belehrung – Richtlinie 2012/13/EU Erwägungsgrund (30) der Richtlinie 2012/13/EU580 führt aus: „Dokumente und gegebenenfalls Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen, die wesentlich sind, um die Rechtmäßigkeit einer Festnahme oder Inhaftierung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dem innerstaatlichen Recht wirksam anzufechten, sollten Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten spätestens bereitgestellt werden, bevor eine zuständige Justizbehörde über die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung gemäß Artikel 5 Absatz 4 EMRK entscheidet, und zwar so rechtzeitig, dass die wirksame Ausübung des Rechts, die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung anzufechten, ermöglicht wird.“
Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt in Haftsachen ein Anspruch des Verteidigers auf (Teil-)Akteneinsicht, wenn und soweit er die sich darin befindlichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können, und eine mündliche Mitteilung der für das Gericht entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel nicht ausreichend ist.581 Weil die Würdigung, welche Tatsachen von Verteidigungsrelevanz sind, im Einzelfall jedoch durchaus subjektiver Prägung sein kann, wird man darüber hinausgehend zu fordern haben, dass einem Beschuldigten/ seinem Verteidiger der genaue Inhalt der Ermittlungsakten und insbesondere der belastenden Beweismittel mitzuteilen ist, weil sonst die Erkenntnisse, auf die sich Staatsanwaltschaft und Gericht bei Erlass des Haftbefehls/der Anordnung der Haftfortdauer gestützt haben, nicht wirksam angegriffen werden können, gleichviel ob die Verteidigung im Einzelfall darlegen kann, dass bestimmte Tatsachen für die Verteidigungsschrift/-rede wesentlich sind.582 b) Abgabe von Überwachungsmaßnahmen zur Untersuchungshaftvermeidung – Rahmenbeschluss 2009/829/JI Erwägungsgrund (5) des RB 2009/829/JI583 zu Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft erkennt die Gefahr, dass ortsfremde 580 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. Nr. L 142 S. 1, Celex-Nr. 3 2012 L 0013. 581 EGMR 13.02.2001 – 24479/94, NJW 2002, 2013 (2014); BVerfG 11.07.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994, 3219 (3220). 582 EGMR 13.02.2001 – 23541/94, NJW 2002, 2018 (2019). 583 Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
Beschuldigte mit Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat in Untersuchungshaft genommen werden, obschon Gebietsansässige unter gleichen Umständen auf freiem Fuß blieben. Er erklärt das als ausdrücklich bedenklich im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot. Insoweit wird die Möglichkeit eröffnet, dass ein bestehender Haftbefehl unter Auflagen auch dann außer Vollzug gesetzt werden kann, wenn die Überwachung durch die Behörden des Aufenthaltsstaates gewährleistet ist.584 Das gemäß § 126 StPO zuständige Gericht kann demnach erlassene Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung von Untersuchungshaft nach Maßgabe des RB 2009/829/JI zur Überwachung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union übertragen, § 90y Abs. 1 Satz 1 IRG. Voraussetzung hierfür ist, dass die zu überwachende Person – unabhängig von der Staatsangehörigkeit – in dem beauftragten Mitgliedstaat ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt und sich mit einer Rückkehr in diesen Mitgliedstaat einverstanden erklärt hat oder sich bereits dort aufhält, § 90y Abs. 1 Satz 2 IRG. Bei entsprechendem Antrag des Beschuldigten kommt auch ein dritter EUMitgliedstaat in Betracht, § 90y Abs. 2 IRG. Der Gebrauch dieser Abgabe der Überwachung steht im Ermessen des zuständigen Gerichts.585 Ausweislich Art. 2 Abs. 1 RB 2009/829/JI werden die Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrens, die Sicherstellung des Erscheinens der betroffenen Person vor Gericht, die Förderung der Anwendung von Maßnahmen ohne Freiheitsentzug für ortsfremde Beschuldigte sowie (angesichts der getroffenen Regelungen, welche lediglich Alternativen zur Untersuchungshaft eruieren, ohne dabei viktimodogmatische Gesichtspunkte zu vertiefen, nur bedingt einleuchtend) die Verbesserung des Schutzes der Opfer und der Allgemeinheit als Ziele des Rahmenbeschlusses genannt. Ein wie auch immer geartetes „Anrecht“ auf Alternativen zur Untersuchungshaft soll ausdrücklich nicht statuiert werden, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 RB 2009/829/JI. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass es sich bei der Untersuchungshaft um ein einschneidendes Zwangsmittel in das Freiheitsgrundrecht eines die Unschuldsvermutung für sich streiten lassenden Beschuldigten handelt und bereits aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten jede Form der gleich effektiven Untersuchungshaftvermeidung ernsthaft erwogen werden muss.586 Ebenso muss jedoch zuder gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft, ABl. Nr. L 294 S. 20, Celex-Nr. 3 2009 F 0829. 584 Morgenstern, ZIS 2014, 216; Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 622 ff. 585 Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 625. 586 Morgenstern, ZIS 2014, 216 (233 f.); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 626: „Im Hinblick auf das Gebot gleichmäßiger Behandlung gebietsansässiger und gebietsfremder Beschuldigter sollte deshalb im Falle einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls bei Beschuldigten aus anderen EU-Mitgliedstaaten die Abgabe der Überwachung die Regel sein.“
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gestanden werden, dass es trotz der gem. Art. 22 RB 2009/829/JI vorgesehenen Konsultationen zwischen Behörden im Anordnungs- und Vollstreckungsstaat zu Unwägbarkeiten in der Erforschung der für die Entscheidung nach § 116 StPO erforderlichen Sachverhaltsgrundlage kommen kann und häufig auch kommen wird.587 c) Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 1 Abs. 1 RB 2002/584/JI588 definiert den Europäischen Haftbefehl als eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme sowie Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. Es handelt sich insoweit zwar um kein supranationales Instrument im engeren Sinn, da der Europäische Haftbefehl von einer nationalen Behörde ausgefertigt wird und auf einer nationalen Grundentscheidung beruhen muss, welche mit der Entscheidung über die Ausstellung dieses Europäischen Haftbefehls gerade nicht identisch sein darf,589 jedoch lässt sich ihm aufgrund seiner unionsrechtlichen Einführung und seiner Einfügung in die justizielle Zusammenarbeit zum Ausbau des Prinzips gegenseitiger Anerkennung ein gewisser supranationaler Charakter nicht absprechen.590 Der Europäische Haftbefehl ist dabei kein Haftbefehl im eigentlichen Sinne, sondern ein grenzüberschreitendes Fahndungsmittel, Inhaftnahme- und Auslieferungsersuchen.591 Er ersetzt das frühere multilaterale Auslieferungs587 Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 627: „Um gleichwohl die Abgabe der Überwachung zu erreichen, wird es deshalb auch von den Möglichkeiten und Fähigkeiten der Verteidigung abhängen, dem deutschen Haftgericht die Lebensumstände des Beschuldigten an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort so detailliert und glaubhaft zu veranschaulichen, dass das Gericht eine Haftverschonung auch unter der Voraussetzung verantworten kann, dass der Beschuldigte während der Dauer des Strafverfahrens an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort den Haftverschonungsauflagen entspricht.“ 588 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI), ABl. Nr. L 190 S. 1, Celex-Nr. 3 2002 F 0584. 589 EuGH 01.06.2016 – C-241/16, NJW 2017, 49 (51); Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner, Einf. zu RB-EuHb Rn. 1. 590 Vgl. auch EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (380) Rn. 43: „stellt im Bereich des Strafrechts die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar“; Schünemann, ZRP 2003, 185 (187); zur Entstehungsgeschichte des Europäischen Haftbefehls innerhalb der „dritten Säule“ der Europäischen Union vgl. umfassend Rohlff, Der Europäische Haftbefehl, 2003. 591 OLG Celle 16.04.2009 – 2 VAs 3/09, NStZ 2010, 534; MüKo-StPO/Böhm/ Werner, § 112 Rn. 10; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 83h IRG Rn. 2;
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
system durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur sonstigen Strafverfolgung.592 Bei dem Instrument der Auslieferung handelt es sich letztlich um ein unverzichtbares Mittel zur Durchsetzung des Strafrechts.593 Das danach stattfindende Auslieferungsverfahren, welches hier nur kursorisch angedeutet werden soll, gliedert sich in drei Teile.594 Es beginnt mit der Festnahme und dem rein förmlichen Verfahren vor dem Amtsgericht, welches regelmäßig mit der Festhalteanordnung endet. Der Festgenommene wird nur dann freigelassen, wenn er nicht die gesuchte Person ist. Hiernach beginnt das weitere Auslieferungsverfahren (Zulässigkeit und Bewilligung) sowie parallel dazu das Auslieferungshaftverfahren, in dem das OLG über die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung zu entscheiden hat. Der zu beachtende Prüfungskatalog ist teilidentisch bei strikter Unterscheidung von Haftentscheidung gem. §§ 15, 16 IRG und Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung gem. §§ 29 ff. IRG. Eine Bejahung der Auslieferungshaft nach §§ 15, 16 IRG beinhaltet dabei noch nicht die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 29, 32 IRG. Im Rahmen der Haftentscheidung müssen inzident die wesentlichen Auslieferungsvoraussetzungen und die Bewilligungsentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft mitgeprüft werden. Der Europäische Haftbefehl ist einem sprachfremden Beschuldigten schriftlich zu übersetzen, Art. 3 Abs. 6 RL 2010/64/EU, § 77 IRG, § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG.595 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verpflichtet die Mitgliedstaaten – abgesehen von den in Art. 3, 4 RB 2002/584/ JI genannten Fällen – zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.596 Der Europäische Haftbefehl hat selbst keine unmittelbaren Rechtswirkungen für den Betroffenen, sodass er isoliert nicht anfechtbar ist.597 Vielmehr müssBöhm, StraFo 2013, 177; ders., NStZ 2017, 77 (82); Lagodny, StV 1999, 35; Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 37 Rn. 5. 592 EuGH 01.06.2016 – C-241/16, NJW 2017, 49 (50); Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 12 Rn. 47 ff. 593 Bot, Schlussanträge zu Rs. C-182/15 vom 10.05.2016, BeckRS 2016, 81019 Rn. 56; Weigend, JuS 2000, 105 (106). 594 Vertiefend KMR/Wankel, Vorb. zu §§ 112 ff. Rn. 16 ff. 595 BT-Drs. 17/12578 S. 10; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 187 GVG Rn. 36; kritisch Schneider, StV 2015, 379 (381), welche die Regelung für nicht ausreichend und die Richtlinie insoweit als unzureichend umgesetzt erachtet. 596 EuGH 06.10.2009 – C-123/08, Slg. 2009, I-9621 = NJW 2010, 283 (285); EuGH 01.06.2016 – C-241/16, NJW 2017, 49 (52). 597 BVerfG 25.03.1981 – 2 BvR 1258/79, BVerfGE 57, 9 = NJW 1981, 1154; OLG Celle 16.04.2009 – 2 VAs 3/09, NStZ 2010, 534; Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner, Vor § 68 IRG Rn. 25b; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 83h IRG Rn. 2.
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ten entweder der zugrunde liegende nationale Haftbefehl und/oder analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO die Ausschreibung zur (internationalen) Fahndung angegriffen werden.598 Allein die Existenz eines Europäischen Haftbefehls begründet für den ersuchten Mitgliedstaat keinen Haftgrund, sondern dieser ist nach nationalem Recht gesondert zu beurteilen, Art. 12 RB 2002/584/JI.599 In Anbetracht der gegenseitigen Anerkennung und der grundsätzlichen Vollstreckungspflicht ist insbesondere die Fluchtgefahr jedoch vor diesem europäischen Hintergrund zu sehen.600 Teilweise wird die Ansicht vertreten, eine lediglich hauptverhandlungssichernde Festnahmeanordnung genüge nicht als Grundlage eines Europäischen Haftbefehls.601 Dem ist so pauschal nicht zu folgen. Zwar trifft es zu, dass etwa für einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO weder hinreichender Tatverdacht noch ein gesonderter Haftgrund erforderlich sind, jedoch verhindert dies im Einzelfall nicht die – ergebnisoffene – Prüfung, ob sich in dem vorgelegten Europäischen Haftbefehl dessen essenzielle Voraussetzungen (unbedingter Verfolgungswille, Tatverdachtsprüfung durch eine befugte Stelle und Festnahmegrundlage) hinreichend manifestieren.602 An dieser Einschätzung ändert – auch für Ladungen an den Zustellungsbevollmächtigten – nichts, dass der EuGH zur Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung erging, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, verlangt, dass die Person persönlich vorgeladen oder auf andere Weise tatsächlich offiziell in Kenntnis gesetzt wurde und daher von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung zweifelsfrei nachgewiesen Kenntnis hatte, sodass Ersatzzustellungen und Zustellungsfiktionen ausscheiden.603 Denn insoweit handelte es sich um die Anerkennung eines strafvollstreckungsermöglichenden Urteils und nicht lediglich eines strafverfolgungsermöglichenden Haftbefehls.
598 OLG Celle 16.04.2009 – 2 VAs 3/09, NStZ 2010, 534; Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner, Vor § 68 IRG Rn. 25b. 599 OLG Nürnberg 27.02.2002 – OLG Ausl. 13/02, NStZ-RR 2002, 248; OLG Stuttgart 28.01.2005 – 3 Ausl. 116/04, NStZ-RR 2005, 181 (182); Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 78 IRG Rn. 19 f.; Böhm, NJW 2006, 2592 (2594). 600 OLG Stuttgart 26.10.2006 – 3 Ausl. 52/06, NJW 2007, 613 (614 f.); Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 78 IRG Rn. 20. 601 OLG Karlsruhe 01.08.1997 – 1 AK 15/97, StV 1999, 261; OLG Hamm 15.04.2004 – 2 Ws 111/04, StV 2005, 35 (36); MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 48; Grau, NStZ 2007, 10 (12). 602 Grützner/Pötz/Kreß/Vogel, § 10 IRG Rn. 28; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, § 10 IRG Rn. 17; Hilger, StV 2005, 36 (38); Lagodny, StV 1999, 35 (36); Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 37 Rn. 7. 603 EuGH 24.05.2016 – C-108/16, juris; Böhm, NStZ 2017, 77 (80).
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C. Der Umgang mit ortsfremden Beschuldigten
6. Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK Wie in der Einleitung dargestellt, bedingen weder Sprach- noch Ortsfremdheit eine ausländische Staatsangehörigkeit. Dies wird gleichwohl häufig der Fall sein, sodass an dieser Stelle noch auf Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK eingegangen werden soll. Danach haben die zuständigen Behörden auf Verlangen des in Untersuchungshaft genommenen Beschuldigten die konsularische Vertretung unverzüglich zu unterrichten. Über sein diesbezügliches Recht ist er unverzüglich zu belehren. Die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK entsteht in dem Augenblick, in welchem dem ausländischen Beschuldigten die Freiheit entzogen wurde, sofern die zuständige Behörde Kenntnis von dessen Staatsangehörigkeit hat oder sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es sich bei dem Betroffenen wahrscheinlich um einen Ausländer handelt.604 Die Sprachfremdheit wird hierbei ausdrücklich als Indiz für die Ausländereigenschaft gewertet.605 Die Belehrungspflicht ist unabhängig davon gegeben, ob der Beschuldigte die Hilfe seines Staates in Anspruch nehmen will.606 Welche Folgen ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK auslöst, ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten. Der 1. Senat neigte – nicht tragend – wohl einem Beweisverwertungsverbot für eine im Zuge der Beschuldigtenvernehmung abgegebene Einlassung zu, indem er ausführte, dass auch die Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand den Grundsatz des fairen Verfahrens konkretisiere.607 Jedoch stellte er insoweit das Erfordernis eines rechtzeitigen, begründeten und in seiner Angriffsrichtung präzisierten Widerspruchs auf.608 Der 3. und der 5. Senat verneinten dagegen ein Beweisverwertungsverbot, weil es sich anders als bei der Belehrung über das Schweigerecht oder das Verteidigerkonsultationsrecht in § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht um ein Recht in Verbindung mit der Selbstbelastungsfreiheit oder der effektiven 604 BVerfG 19.09.2006 – 2 BvR 2115/01, 2 BvR 2132/01, 2 BvR 348/03, NJW 2007, 499 (503) Rn. 67; BGH 25.09.2007 – 5 StR 116/01, 5 StR 475/02, BGHSt 52, 48 = NStZ 2008, 168 Rn. 4; BGH 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 = NStZ 2008, 356 Rn. 3; BGH 07.06.2011 – 4 StR 643/10, BeckRS 2011, 16904 Rn. 13. 605 BGH 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 = NStZ 2008, 356 Rn. 4. 606 BGH 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 = NStZ 2008, 356 Rn. 5. 607 BGH 11.09.2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38 = NStZ 2008, 55 (56) Rn. 2. 608 BGH 11.09.2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38 = NStZ 2008, 55 (56) Rn. 4 ff.; ablehnend Jahn, JuS 2008, 82 (83 f.); einschränkend BGH 25.09.2007 – 5 StR 116/01, 5 StR 475/02, BGHSt 52, 48 = NStZ 2008, 168 (169) Rn. 6 sowie BGH 07.06.2011 – 4 StR 643/10, BeckRS 2011, 16904 Rn. 14 f.: Widerspruchslösung ja, aber pauschaler Widerspruch ausreichend, wenn die Belehrung nicht nachgeholt wurde.
IV. Untersuchungshaft221
Verteidigung handele.609 Eine Kompensation nach der sog. Vollstreckungslösung wurde vom 3. und 4. Senat abgelehnt,610 vom 5. Senat hingegen bejaht.611 Das BVerfG stellte sodann fest, dass die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot nicht abstrakt mit Blick auf den Schutzzweck von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK beantwortet werden könne, sondern vielmehr im jeweiligen Einzelfall eine sorgfältige Abwägung zwischen dem bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten und den staatlichen Strafverfolgungsinteressen vorzunehmen sei, wobei neben allgemeinen Schutzzweckerwägungen auch die konkreten Umstände des einzelnen Falles in die Bewertung einzufließen haben.612 In Anbetracht dessen entschied der 4. Senat, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK kein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, wenn dem Beschuldigten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist und auch sonst die Abwägung zwischen den Verfahrensrechten des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse kein anderes Ergebnis gebietet.613 Im Rahmen dieser Abwägung ist nach der genannten Rechtsprechung ebenso von Bedeutung, inwieweit der Beschuldigte eine „wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit“ aufweist,614 mit anderen Worten, ob sich aus einer etwaigen Sprach- und/oder Ortsfremdheit Nachteile ergeben haben, die nicht durch entsprechende Kompensationsmaßnahmen ausgeglichen wurden.
609 BGH 25.09.2007 – 5 StR 116/01, 5 StR 475/02, BGHSt 52, 48 = NStZ 2008, 168 (169) Rn. 7; BGH 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 = NStZ 2008, 356 Rn. 8; a. A. v. Heintschel-Heinegg, JA 2007, 314 (315). 610 BGH 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 = NStZ 2008, 356 Rn. 11; BGH 07.06.2011 – 4 StR 643/10, BeckRS 2011, 16904 Rn. 27. 611 BGH 25.09.2007 – 5 StR 116/01, 5 StR 475/02, BGHSt 52, 48 = NStZ 2008, 168 (169) Rn. 8 ff. 612 BVerfG 08.07.2010 – 2 BvR 2485/07, 2 BvR 2513/07, 2 BvR 2548/07, BVerfGK 17, 390 = NJW 2011, 207 (210); Schuster/Weitner, StPO-Fallrepetitorium, 2017, Rn. 22. 613 BGH 07.06.2011 – 4 StR 643/10, BeckRS 2011, 16904 Rn. 16 ff.; a. A. MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 219: „Daher beruht auch ein Urteil i. S. d. § 337 StPO in aller Regel auf einer Verletzung des Art. 36 WÜK. Es wird kaum ausgeschlossen werden können, dass sich der Angeklagte anders verteidigt hätte als geschehen.“ 614 BGH 07.06.2011 – 4 StR 643/10, BeckRS 2011, 16904 Rn. 20; Hoven, JA 2013, 368 (373).
D. Folgen der Tat für sprachund ortsfremde Beschuldigte Während sich der Teil B. auf den prozessualen Umgang mit der Sprachfremdheit von Beschuldigten konzentrierte und sich Teil C. primär mit der Ortsfremdheit beschäftigte, soll im nun nachfolgenden Teil der Arbeit der Blick auf die Folgen der Straftat gerichtet werden – eine Materie, die stärker als die beiden ersten Kapitel sowohl Sprach- als auch Ortsfremdheit adressiert. Bereits zu Beginn dieses Kapitels ist klarzustellen, dass der dritte Teil einen Überblick von wichtigen Gesichtspunkten für die verschiedenen Bereiche der Folgen der Tat enthält, wobei eine Vertiefung nur erfolgt, wo tatsächlich spezifische Fragestellungen problematisch sind und vertiefende Ausführungen gewinnbringend erscheinen. Es handelt sich um eine Systematisierung von Regelungen, die in den Bereichen Strafzumessung, ‑vollstreckung und ‑vollzug für sprach- und ortsfremde Beschuldigte von Bedeutung sind. Dabei wird es neben der Sprach- und Ortsfremdheit ebenso um Fragen der kulturellen Anschauungen sowie des Ausländer- und Aufenthaltsrechts gehen. Einleitend sei daher zunächst ein kurzer statistischer Überblick auf die Gesamtzahl der Verurteilten und den Ausländeranteil darunter geworfen:1 Jahr
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Zahl
897.631 874.691 844.520 813.266 807.815 773.901 755.938 748.782 739.487 737.873
Ausl.
183.876 173.642 169.315 169.667 177.575 176.942 185.042 194.673 209.603 231.562
%
20,5
19,9
20,0
20,9
22,0
22,9
24,5
26,0
28,3
31,4
1 Quellen: Statistisches Bundesamt, Lange Reihen zur Strafverfolgungsstatistik I.2, 2016; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2016; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2017.
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte223
1000000 900000 800000 700000 600000 500000
Verurteilte
400000
Ausländer
300000 200000 100000 0
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Diagramm Nr. 5: Entwicklung der Gesamtzahl der Verurteilten sowie der Zahl an ausländischen Verurteilten von 2007 bis 2016 35 30 25 20
Ausländeranteil an den Verurteilten in %
15 10 5 0
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Diagramm Nr. 6: Entwicklung des prozentualen Ausländeranteils an der Zahl der Verurteilten von 2007–2016
Man erkennt in Diagramm Nr. 5, dass die Gesamtzahl der Verurteilten im Laufe der letzten Jahre rückläufig ist. Die Anzahl der ausländischen Verurteilten dagegen bewegt sich relativ konstant, übersteigt jedoch in 2015 und 2016 die Grenze von 200.000 Verurteilten. Dementsprechend deutlich zeigt sich auch der klare Anstieg des prozentualen Ausländeranteils in Diagramm Nr. 6 insbesondere ab 2012. Insofern ist an dieser Stelle zu konstatieren, dass die Kategorien „Ausländer“ und „Sprach‑/Ortsfremde“ nicht gleichgesetzt
224
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
werden können. Jedoch besteht ein gewisser natürlicher Konnex. Wegen der bestehenden Freizügigkeit innerhalb der EU sowie der allgemein steigenden Mobilität hat dieser Konnex in den vergangenen Jahren mutmaßlich sogar noch zugenommen.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit bei der Rechtsfolgenbestimmung Das StGB überschreibt seinen dritten Abschnitt mit dem Titel „Rechtsfolgen der Tat“. Dem Strafrecht als Mittel zum Ausdruck eines hoheitlichen, sozialethischen Unwerturteils sowie als Quelle repressiver Übelszufügung zum Schutz der vom Gesetzgeber benannten, auf einem gesellschaftlichen Moralkonsens beruhenden Rechtsgüter, kommen dabei verschiedene Aufgaben zu. 1. Einleitender Überblick über die anerkannten Straftheorien Bevor dem Untersuchungsgegenstand entsprechend die Sprach- und Ortsfremdheit in den Fokus gerückt werden, ist ein kurzer Überblick über die gängigen Theorien angezeigt, um die nachfolgenden Überlegungen einerseits den verschiedenen Strafzwecken zuzuordnen und sie andererseits an jenen zu messen. Die sog. absoluten Straftheorien strafen, weil Unrecht geschah und der damit einhergehende Rechtsbruch einer symbolischen Aufhebung bedürfe.2 Nach dem Vergeltungsgedanken (Talionsprinzip) erfordert Gerechtigkeit Strafe, um den Rechtsfrieden wiederherzustellen und dem (empirisch belegten) Vergeltungsbedürfnis der Menschen zu entsprechen.3 Zudem löse sich der Täter durch Sühne von seiner Schuld.4 2 Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 4 ff.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 17 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 11 ff. m. w. N. 3 BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33; BVerfG 23.09.2014 – 2 BvR 2545/12, BeckRS 2014, 57454 Rn. 10; BGH 09.08.2016 – 1 StR 121/16, BeckRS 2016, 15481 Rn. 11; Walter, ZIS 2011, 636 (638 ff.) m. w. N. zu empirischen Untersuchungen zum Vergeltungsbedürfnis der Menschen und dessen Einfluss auf den gesellschaftlichen Rechtsfrieden; Kett-Straub/ Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 4, 8; Roxin, AT I, 2006, § 3 Rn. 2 ff. 4 BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33; BGH GrS 12.06.2017 – GSSt 2/17, NJW 2017, 3537 (3539); Kett-Straub/ Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 5; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 32 ff.; monographisch zur Sühne im Strafrecht Grommes, Der Sühnebegriff in der Rechtsprechung, 2006.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit225
Die sog. relativen Straftheorien hingegen strafen, damit fernerhin kein Unrecht geschehe.5 Dabei wird in Spezialprävention und Generalprävention und innerhalb derselben wiederum in eine negative und eine positive Sichtweise unterteilt. Die negative Spezialprävention sieht die Abschreckung des einzelnen Täters vor der Wiederholung der Tat und den Schutz der Gesellschaft vor dem Täter als primäres Interesse.6 Die positive Spezialprävention setzt sich die konstruktive Beeinflussung des Täters und den Aspekt der Resozialisierung zum Ziel.7 Die negative Generalprävention anerkennt den Zweck der Androhung von Strafe im Gesetz als Abschreckung aller vor Rechtsverletzungen, den Zweck ihrer Zufügung in der Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung.8 Die positive Generalprävention stellt den materiellen Gehalt der Strafrechtssetzung in den Vordergrund und sucht über den Rechtsgüterschutz hinausgehend die Erhaltung der rechtlichen Gesinnungswerte zu verwirklichen sowie das Vertrauen der Bevölkerung in den Schutz der Rechtsordnung zu stärken.9 Über diese klassischen Ansätze hinausgehend gilt heute – wenn auch im Detail mit Abweichungen – die sog. Vereinigungslehre:10 Ausgehend von § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt Strafe Schuld voraus und darf das Maß derselben nicht übersteigen. General- und spezialpräventive Aspekte (insbesondere langfristige Eindämmung der Kriminalität, Besserung des Straftäters, Wiederherstellung und Festigung des Normbewusstseins) sind im Rahmen des so gegebenen Spielraums zu berücksichtigen. Dabei sind die verschiedenen 5 Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 10; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 21 ff. m. w. N. 6 BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33 (37); Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 17; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 25. 7 BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 16; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 25; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 31 m. w. N. 8 BGH 05.04.2005 – 4 StR 95/05, BeckRS 2005, 05541; BGH 10.08.2005 – 2 StR 219/05, BeckRS 2005, 10656; BGH 08.05.2008 – 3 StR 150/08, BeckRS 2008, 11716; BGH 11.04.2013 – 5 StR 113/13, NStZ-RR 2013, 240; BGH 07.03.2018 – 1 StR 663/17, NStZ-RR 2018, 170; AG Köln 24.02.2016 – 648 Ds 43/16, BeckRS 2016, 20086; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 13; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 23 m. w. N. 9 BGH 11.12.2013 – 5 StR 463/13, BeckRS 2014, 00511; BGH 06.07.2017 – 4 StR 415/16, NStZ 2018, 29 (31); Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 12; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 809; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 24 ff. m. w. N. 10 Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 3 Rn. 20 ff.; Meier, Strafrecht liche Sanktionen, 2015, S. 35 ff.; Roxin, AT I, 2006, § 3 Rn. 33 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 46.
226
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Strafzwecke im Zuge der Strafdrohung, ‑zumessung und ‑vollstreckung gestuft einzubeziehen: Die gesetzlichen Straftatbestände und ihre Androhung dienen negativ-generalpräventiv der Abschreckung sowie positiv-generalpräventiv der Normbestätigung,11 die Verhängung der Strafe der negativen Spezial-, der positiven Generalprävention sowie der Tatvergeltung12 und der Strafvollzug der positiven Spezialprävention als auch der Sühne.13 2. Kulturelle Vorzeichen als rechtsfolgenbestimmender Umstand Als zu den nachfolgenden Überlegungen einleitendes, einprägsames Anschauungsbeispiel soll ein Berufungsurteil des LG Mannheim aus dem Jahre 1990 dienen: „Um 22.30 Uhr klopfte es gegen seine Tür. Der Angekl. stand auf und öffnete die Tür einen Spalt breit. Draußen stand K, nur mit einem Slip und einem T-Shirt bekleidet, und bat den Angekl. um Hilfe, er solle einen Krankenwagen rufen. Der Angekl., der am Bein der leicht bekleideten und nach Alkohol stinkenden Frau Blut bemerkte, erschrak. Fürchtend, er könne womöglich in die Auseinandersetzungen hineingezogen werden, und von Abscheu und Ekel ergriffen, schloß er schnell wieder die Tür und legte sich erneut schlafen. Bevor K den Angekl. um Hilfe bat, hatte sie von L einen Messerstich in den Rücken erhalten, der u. a. einen Lungenflügel getroffen und so die Blutung verursacht hatte, die der Angekl. gesehen hatte. Nachdem auch L sich nicht mehr um die Frau kümmerte, starb diese gegen 23.00 Uhr an den Folgen der Stichverletzung in ihrem Bett, in das sie sich wieder gelegt hatte. […] Der rechtsmedizinische Sachverständige ist zur Auffassung gelangt, daß K hätte gerettet werden können, wenn der Angekl. unverzüglich einen Krankenwagentransport veranlaßt hätte […] Der Angekl. räumt den äußeren Geschehensablauf so wie geschildert ein, macht aber geltend, er habe nicht angenommen, daß hier ein wirklich hilfeheischender Unglücksfall passiert sei, vielmehr habe er gedacht, das sei nun wieder eine der vielen Auseinandersetzungen zwischen den ewig betrunkenen L und K. Auch habe er befürchtet, von dem gewalttätigen L zusammengeschlagen zu werden, wenn er sich da einmische. Im übrigen habe er sich vor der fast nackten und schrecklich betrunkenen Frau so geekelt, daß sein einziger Gedanke gewesen sei: Nichts wie weg von diesem scheußlichen Anblick. Schließlich habe er damals gar nicht gewußt, daß unterlassene Hilfeleistung strafbar sei – in seinem Heimatland gebe es keinen vergleichbaren Strafgesetzbuchparagraphen. L ist we11 Streng,
Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 47 m. w. N. 23.09.2014 – 2 BvR 2545/12, BeckRS 2014, 57454 Rn. 10; BGH 09.08.2016 – 1 StR 121/16, BeckRS 2016, 15481 Rn. 11; Hassemer, ZIS 2006, 266 (272): „Prävention ereignet sich im Rücken stetiger und gleichmäßiger gerechter Tatvergeltung, sie ist deren langfristige Folge, sie ist Hoffnung der Strafjustiz, nicht deren unmittelbares Produkt“; Walter, ZIS 2011, 636; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 548 f. 13 BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33 (34, 37); Walter, ZIS 2011, 636 (637). 12 BVerfG
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit227 gen Totschlags zu 6 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dem Angekl. wirft die StA unterlassene Hilfeleistung vor, das AG hat ihn zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Berufung des Angekl. führte zum Freispruch. […] Schließlich kann der Angekl. auch deswegen nicht bestraft werden, weil er zur Tatzeit in einem – unvermeidbaren – Verbotsirrtum handelte (§ 17 StGB). Die Einlassung des Angekl., in seinem Heimatland sei unterlassene Hilfeleistung nicht strafbar, wurde durch das eingeholte Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches Strafrecht Freiburg i. Br. bestätigt. Danach gibt es im pakistanischen StGB keinen Straftatbestand, der unserem Tatbestand des § 323c StGB gleicht. Das ist auch verständlich, enthält doch auch der Koran nirgends ein der christlichen Auffassung vergleichbares Gebot, dem Mitmenschen in Not zu helfen, es sei denn im Kriege, wenn die Gläubigen bedrängt werden; im Gegenteil darf Ungläubigen keinesfalls geholfen werden, sie müssen vernichtet werden, weshalb Allah bewußt Zwietracht unter ihnen sät (…). Insofern wirkt antikheidnisches Gedankengut im Islam fort. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter erregte ja nur deshalb solches Aufsehen, weil sie so Ungewöhnliches enthielt. Hinzu kommt, daß es sich bei § 323c StGB nicht um sog. Kernunrecht handelt, für welches der Satz gelten würde: Error juris nocet. Vielmehr ist dieser Tatbestand erst 1935 geschaffen und ins Reichsstrafgesetzbuch eingefügt worden. Damit sollte, so jedenfalls die amtliche Begründung, „der seit der nationalsozialistischen Erhebung eingetretene Wandel der Auffassungen über die Pflichten des einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft und sein Verhältnis zu dem einzelnen Volksgenossen deutlich gemacht werden (…). Im Grund handelt es sich jedoch um christliches Gedankengut: Hilfe für den notleidenden Nächsten war von jeher ein Hauptgebot der christlichen Lehre (…) – im deutlichen Gegensatz eben zum islamischen Kulturkreis. Da es sich somit nicht einmal um sogenanntes Kernunrecht handelt, sondern um einen jetzt erst 50 Jahre alten Tatbestand, vermindern sich auch die Anforderungen an eine etwaige Erkundigungspflicht des Angekl. Vorliegend ist eine solche überhaupt zu verneinen. Der Angekl., ein einfacher Arbeiter, Analphabet, wohnte zur Tatzeit erst seit wenig mehr als einem Jahr in der Bundesrepublik. Da er kaum Deutsch spricht – auch heute recht gebrochen –, blieb er relativ isoliert, verkehrte hier fast nur mit Landsleuten. Eine Lage, die ihm die Notwendigkeit nahegelegt hätte, sich zu erkundigen, ob unterlassene Hilfeleistung in Deutschland strafbar ist, trat nie ein, so daß für ihn auch keine Veranlassung bestand, seine Frau zu fragen.“14
Dieser Lebenssachverhalt wurde deshalb ausgewählt und in den Gründen auch in der vorstehenden Ausführlichkeit dargestellt, weil er verschiedene diskutierte Aspekte in einem eindrucksvollen Rahmengebilde (man bedenke, dass die Geschädigte kausal beruhend auf dem Unterlassen des sprach- und ortsfremden Beschuldigten zu Tode kam) zusammenfasst und damit für den Leser bei den folgenden Überlegungen sowie Differenzierungen stets als eine Art „realer Kontrollbezugspunkt“ fungieren kann. Das Urteil stützt sich primär auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, jedoch enthält es – mehr oder weniger beiläufig – ebenso verschiedene andere der in den nachstehenden Gliederungspunkten behandelten Aspekte, welche man unter den „Obersatz“ 14 LG
Mannheim 03.05.1990 – (12) 2 Ns 70/89, NJW 1990, 2212.
228
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
der kulturellen Betrachtungsweisen als rechtsfolgenbestimmende Umstände subsumieren kann. Bereits an dieser Stelle ist dem nachfolgenden Abschnitt vorauszuschicken, dass es sich bei der Strafzumessung im engeren Sinne um einen komplexen Vorgang handelt, in den nach § 46 StGB diverse Aspekte einzubeziehen sind. Es geht letztlich um Elemente eines größeren Kriterienkatalogs, deren Berücksichtigungsfähigkeit sehr stark vom jeweiligen Einzelfall abhängt. Wichtige Faktoren werden im Folgenden jeweils benannt und kurz beschrieben, ohne dass auf dieser abstrakten Ebene für alle Fälle vorentschieden werden könnte, ob und wie sich diese Kriterien auswirken. a) Vermeidbarer Verbotsirrtum, § 17 Satz 2 StGB (i. V. m. § 49 Abs. 1 StGB) § 17 Satz 1 StGB betrifft die Tat und die insofern (nicht) bestehende Schuld des Täters. § 17 Satz 2 StGB behandelt hingegen über den Verweis auf § 49 Abs. 1 StGB den hier gegenständlichen Rechtsfolgenbereich. Der tatsächlich zur Straflosigkeit führende unvermeidbare Verbotsirrtum des § 17 Satz 1 StGB ist von der Praxis her gesehen eine relative Ausnahmeerscheinung,15 sodass eine isolierte Darstellung von § 17 Satz 2 StGB durchaus vertretbar erscheint. Soweit diesbezügliche (Vor)fragen für § 17 Satz 2 StGB jedoch eine Rolle spielen, werden diese im Folgenden inzident behandelt. Ausgangspunkt jedweder Strafzumessungsentscheidung ist die individuelle Tatschuld des Verurteilten, § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB. Jeder Mensch ist frei, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden.16 Letztlich korrespondiert dieser unserer Vorstellung von einer allgemeinen Handlungsfreiheit als andere Seite der Medaille die Notwendigkeit der Verantwortungszuweisung für die Inanspruchnahme dieser Liberalität, mit anderen Worten: Ohne Willensfreiheitspostulat im Strafrecht als Ultima Ratio gesellschaftspolitischer Lenkmacht müsste die gesamte Organisation staatlicher Regulierung neu überdacht und konzipiert werden. Handelt der Täter bei Begehung der Tat indes ohne die erforderliche Unrechtseinsicht und konnte er den dem fehlenden Unrechtsbewusstsein zugrunde liegenden Irrtum auch nicht vermeiden, führt dies zum Entfallen der Schuld, § 17 Satz 1 StGB (unvermeidbarer Verbotsirrtum). Dies kann daraus resultieren, dass die Rechtsgutsverletzung als solche nicht als Unrecht erkannt oder keine Verbindung zu der spezifischen Rechtsordnung hergestellt wird.17 Die Normübertretung erfährt 15 MüKo-StGB/Joecks,
§ 17 Rn. 7. GrS 18.03.1952 – GSSt 2/51, BGHSt 2, 194 = NJW 1952, 593 (594). 17 Fischer, § 17 Rn. 6; Valerius, NStZ 2003, 341 (342 f.). 16 BGH
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit229
schließlich durch Letztere eine genaue Beschreibung ihres Unwertgehalts, je nachdem wie der Schutz nach dieser ausgestaltet ist.18 Dabei kommen für den sprach- und ortsfremden Beschuldigten sowohl direkte Verbots- als auch sog. indirekte Erlaubnisirrtümer in Betracht.19 aa) Der Einfluss sprach- und ortsfremder Faktoren auf das Unrechtsbewusstsein Dass das durch die Tat beeinträchtigte Rechtsgut für den Beschuldigten einen so geringen Stellenwert hat, dass er dessen Verletzung generell nicht, d. h. nach keiner Rechtsordnung, als Unrecht ansieht, wird insbesondere in Erwägung zu ziehen sein, wenn er einem anderen Kulturkreis mit anderen Wertvorstellungen angehört.20 Der maßgebliche Zeitpunkt für die Unrechts(un)kenntnis ist die Tatbegehung i. S. d. § 8 StGB, sodass etwa später eintretende „Verfeinerungen“ des Täterbewusstseins – z. B. infolge einer Intensivierung des Kontakts mit der für ihn fremden Rechtsordnung – zunächst ohne Belang sind.21 Neben primär auf der Ortsfremdheit des Beschuldigten fußenden Anschauungsweisen können zudem sprachliche Barrieren zu einer Unverständlichkeit des Normbefehls führen. Zur Vorwerfbarkeit der Tat gehört die Möglichkeit des Täters, sich von dem strafbewehrten Ge- oder Verbot der betreffenden Rechtsordnung lenken zu lassen und sich somit entsprechend normkonform zu verhalten.22 Selbst bei identischem Ausgangstext haben aber landessprachliche Eigen- und kulturspezifische Besonderheiten zur Folge, dass Übersetzungen typischerweise zu keiner wirklichen Identität führen.23 Hinzu kommt, dass zu dem geschriebenen Text stets auch Aufnahme und Interpretation durch den – gegebenenfalls noch ortsfremd geprägten – Leser hinzutreten.24 Weil der oben angesprochene Vorwurf, sich aus freien Stücken für das Unrecht entschieden zu haben, letztlich nur gerechtfertigt ist, wenn der Täter 18 Valerius,
NStZ 2003, 341 (343). GA 2000, 205 (210); Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011,
19 Laubenthal/Baier,
S. 173 f. 20 Valerius, NStZ 2003, 341 (343); Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 208 ff. 21 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (209). 22 Valerius, NStZ 2003, 341 (343). 23 Kudlich, Exportgüter und Exportbeschränkungen, 2012, S. 169 (172). 24 Kudlich, Exportgüter und Exportbeschränkungen, 2012, S. 169 (176): „Der mit dieser Ordnung des Materials verbundene kreative Akt des Rechtsanwenders kann letztlich – auch in Abhängigkeit von „vordogmatischen“ (z. B. rechtspolitischen) Prämissen, welche als solche kaum vollständig exportiert werden können – in einem anderen Land anders ausfallen.“
230
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
sich der Strafwürdigkeit seiner Handlung bewusst war, nicht hingegen allein bei drohenden zivilrechtlichen Abwehr- oder Unterlassungsansprüchen, muss der Beschuldigte im Rahmen seines bedingten Unrechtsbewusstseins als potentielle Folge seines Handelns zumindest eine Form der staatlichen Sanktionierung billigend in Kauf nehmen.25 Bei der Beurteilung des Unrechtsbewusstseins (anders für die Vermeidbarkeit) eines sprach- und ortsfremden Beschuldigten ist es irrelevant, wie lange sich dieser bereits im hiesigen Kulturkreis aufhält und ob er sich gegebenenfalls bewusst isoliert und einer Integration verweigert hat, weil die Tatfrage des Verbotsirrtums allein nach dem konkreten Vorliegen der betreffenden Erkenntnis fragt.26 bb) Die Bestimmung der Vermeidbarkeit und ihr Wechselspiel mit der Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten Vermeidbar i. S. d. § 17 StGB ist ein Verbotsirrtum, wenn dem Täter zum Zeitpunkt der Tathandlung sein Vorhaben (unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse, bei Anspannung seines Gewissens, all seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen nach den Ansichten seiner Rechtsgemeinschaft) hätte Anlass geben müssen, über dessen mögliches Verbotensein nachzudenken oder sich zu erkundigen, und wenn er auf diesem Wege zur Unrechtseinsicht gekommen wäre.27
25 MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 16; NK-StGB/Neumann, § 17 Rn. 20 ff.; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 182 f.; vgl. zum Streitstand m. w. N. LK-StGB/ Vogel, § 17 Rn. 13 ff. 26 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 184 f. 27 BGH GrS 18.03.1952 – GSSt 2/51, BGHSt 2, 194 = NJW 1952, 593 (596); BGH 07.04.2016 – 5 StR 332/15, NStZ 2016, 460 (462); BeckOK-StGB/Heuchemer, § 17 Rn. 35; Fischer, § 17 Rn. 7 f.; Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB, 2002, S. 97 ff.; Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, 2012, S. 158 ff.; Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung, 2000, S. 155 ff.; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 187; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 307 f.; krit. zum „Rekurs auf das Gewissen“ MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 48; Groteguth, Norm- und Verbots(un)kenntnis, 1993, S. 18: „da bei der heutigen Verrechtlichung und Durchnormierung fast aller Lebensbereiche nicht davon auszugehen ist, daß dem Täter nur aufgrund seiner Gewissensanspannung die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens offenbar werden kann […] Es erscheint zweifelhaft, ob ein derart weitgehender Maßstab mit dem Schuldprinzip vereinbar ist, insbesondere im Hinblick auf die bereits angesprochene Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens.“
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit231
(1) Die Maßgeblichkeit deutscher Wertvorstellungen und mögliche Erkundigungsobliegenheiten Als Ausgangspunkt ist festzuhalten: In Deutschland gilt deutsches Strafrecht, sodass auch für die Auslegung des Gesetzes zunächst und primär die Wertvorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft maßgeblich sind.28 Unsere Strafrechtsordnung schützt schließlich moralisch konsentierte, konkret benannte, abstrahierte Rechtsgüter.29 Sofern der ortsfremde Beschuldigte dem betroffenen Rechtsgut einen mehr als nur unerheblichen Wert zuordnet, hätte die Anspannung seines Gewissens zur Folge, dass er zur Unrechtseinsicht gelangt.30 Führen die Maßstäbe des fremden Kulturkreises jedoch dazu, dass in der konkreten Tatsituation keine Sensibilität für das betroffene Rechtsgut vorhanden ist, weist diese Form des Fahrlässigkeitsvorwurfs zunächst nicht weiter.31 Art und Ausmaß der Integration sprach- und ortsfremder Beschuldigter in den hiesigen Kulturkreis sind dabei in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Wer in fortgesetztem Kontakt mit den einheimischen Moralvorstellungen steht (und insoweit ein wechselseitiger Diskurs und Eingliederungsprozess stattfinden), hat ausreichende Anhaltspunkte zum Erfolg bei der aufgegebenen Gewissensanspannung.32 Hält man sich dagegen längere Zeit in der BRD auf und verweigert jedwede Auseinandersetzung mit den hier gelebten Werten, führt das zu einem Zustand der bewusst gewählten Isolation, was den Vorwurf der selbstverantworteten Irrtumsanfälligkeit nach sich zieht.33 Schließlich schafft § 17 Satz 2 StGB gerade eine besondere Kombination aus vorsätzlicher (rechtswidrige 28 BGH 12.09.1995 – 1 StR 437/95, NStZ 1996, 80; SSW-StGB/Momsen, § 17 Rn. 2. 29 Hassemer, NStZ 1989, 553; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 470 f.; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 1 Rn. 1 ff. 30 SK-StGB/Rogall, § 17 Rn. 60; Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB, 2002, S. 284; Valerius, NStZ 2003, 341 (344). 31 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (220). 32 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 188: „Wer hingegen um die kulturelle Vielfalt der Menschheit und um die abweichenden Wertvorstellungen anderer Kulturkreise in Bezug auf das durch sein Verhalten betroffene Rechtsgut weiß, wird durch den bewussten Kontakt mit einer anderen Rechtsordnung die hoheitliche Sanktionierung seines Verhaltens bedenken und sich demgemäß in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befinden.“ 33 SK-StGB/Rogall, § 17 Rn. 60; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 189: „Als zumutbar erweist sich eine Gewissensanspannung insbesondere für denjenigen, der bewusst Verbindungen zu einem fremden Staat mit anderem kulturellen Hintergrund knüpft. In diesem Fall kann der Täter mit dem Hinweis auf seine (gegebenenfalls freiwillige) Isolation und die dadurch fortbestehenden kulturellen Differenzen zwar seine fehlende Unrechtseinsicht zum Zeitpunkt der Tat behaupten, nicht aber zwingend deren Vermeidbarkeit.“
232
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Tatbestandsverwirklichung) und fahrlässiger (vorwerfbare Vermeidbarkeit) Komponente. Bewusste, nicht nachvollziehbare Ignoranz mag einen Verbotsirrtum aufrechterhalten, nicht jedoch dessen Unvermeidbarkeit. Somit stellt sich die Frage nach den erforderlichen Anstrengungen eines sprach- und ortsfremden Beschuldigten, sich mit den Rechtssätzen und Moralvorstellungen der von ihm betretenen Gesellschaft vertraut zu machen. Eine Erkundigungsobliegenheit bezüglich des Rechtsgüterschutzes nach der beschuldigtenfremden Rechtsordnung drängt sich insbesondere bei der Übernahme einer bestimmten Tätigkeit (Information hinsichtlich der einschlägigen Sanktionsnormen) oder dem dauerhaften Eintritt in die fremde Rechtsgemeinschaft auf.34 Für den Fall der bloßen Onlinekommunikation kann weder von einem bedingten Unrechtsbewusstsein hinsichtlich allen potentiell berührten Rechtsordnungen noch eine dahingehende Erkundigungsobliegenheit angenommen werden.35 Weiß der Beschuldigte dagegen, dass sein Handeln in einen fremden Rechtskreis hineinwirkt oder hält er sich gar in diesem auf, besteht für ihn regelmäßig zureichender Anlass, sich mit den Regularien in dem betroffenen Staat zu beschäftigen.36 Etwaiges Wissen oder Auskünfte über ausländische Rechtsordnungen sind bereits von vornherein ohne Belang, weil aus der Straflosigkeit eines Verhaltens nach dem einer Strafrechtsordnung zugrunde liegenden Wertkonsens nicht gefolgert werden kann, dass auch andere insoweit von Sanktionen absehen.37 Teilweise wird zur Eruierung des hinter einer Norm stehenden Moralverständnisses, von dem aus wiederum auf die – verzeihbare – Bewusstseinstrübung des ortsfremden Beschuldigten rückgeschlossen werden soll, auf eine „christlich-abendländische Anschauung“ rekurriert,38 wobei man in der Folge danach differenziert, ob diese lediglich universell anerkanntes Unrecht abbildet oder ihrerseits Ursprung einer gesteigerten Vorstellung von Sitte und Ethik ist. Für die notwendige Ermittlung des Vorstellungsbildes soll dabei neben der Erforschung der bloßen objektiv-geschriebenen Rechtslage in seinem Heimatgebiet auch eine diese modifizierende oder gar überlagernde Praxis zu untersuchen sein: „Stehen […] staatliches Recht und von Teilen der Bevölkerung beachtete, althergebrachte Verhaltensmaßregeln nicht in Einklang, kann einem Täter bereits die Kenntnis seines staatlichen Heimatrechts fehlen, das hiesigem Recht eher ähnelt als 34 LK-StGB/Vogel, § 17 Rn. 45; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, § 17 Rn. 17; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (219 f.); Valerius, NStZ 2003, 341 (344); ders., Kultur und Strafrecht, 2011, S. 190. 35 Valerius, NStZ 2003, 341 (345); ders., Kultur und Strafrecht, 2011, S. 190. 36 MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 96 ff.; Valerius, NStZ 2003, 341 (344 f.). 37 BGH 19.05.1999 – 2 StR 86/99, BGHSt 45, 97 = NJW 1999, 2908 (2909) = StV 2000, 422 m. abl. Anm. Neumann; Valerius, NStZ 2003, 341 (344 f.). 38 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (217 f.).
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit233 die der Population geläufigen Überlieferungen. In einem solchen Fall wird sich schwerlich die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums begründen lassen.“39
Dem kann nicht gefolgt werden. Es mag eine diskutable Frage sein, inwieweit sich ein ortsfremder Beschuldigter bei Begeben in eine fremde Rechtsordnung nach den dortigen Gepflogenheiten zu erkundigen hat. Des Weiteren ist das Vorliegen des Unrechtsbewusstseins zutreffend losgelöst von geschriebenen Rechtssätzen zu beurteilen. Für die normative Entscheidung der Vermeidbarkeit jedoch kann es den Täter nicht entlasten, wenn er sich nicht einmal an die geschriebenen Regeln seines eigenen Rechtskreises hält bzw. zu halten verpflichtet sieht.40 Vielmehr bringt eine solche Einstellung eine gewisse Gleichgültigkeit des Beschuldigten zum Ausdruck, welche für den in der Vermeidbarkeit liegenden Fahrlässigkeitsvorwurf geradezu typisch ist. (2) Die (eingeschränkte) Bedeutung des sog. Kernstrafrechts Der Bereich des sog. Kernstrafrechts wird überwiegend als universal anerkannt qualifiziert mit der Folge, dass insofern – wenn nicht bereits das Vorliegen eines Verbotsirrtums an sich zweifelhaft erscheint – jedenfalls dessen Unvermeidbarkeit ausscheide.41 Mit dieser These ist zunächst jedoch nichts gewonnen, weil die Zuordnung von Tatbeständen zum Kernstrafrecht wiederum nicht in der erforderlichen Schärfe geklärt ist, falls man nicht die schlichte Gleichung Kernstrafrecht = StGB anwendet. Gemessen daran, dass sämtliche Strafnormen dem Ultima Ratio-Grundsatz zu genügen haben, führt eine Betrachtung Kernstrafrecht vs. symbolische Gesetzgebung nicht weiter. Eine bedenkenswerte Perspektive weist der Gedanke, wonach Normen des Kernstrafrechts jene sozialethischen Minimalforderungen abbilden, deren Verletzung „alle Vernünftigen“ als verwerflich empfinden, mit anderen Worten Regelungen, die das Fundament des grundwertbasierten Zusammenlebens in einer liberalen Gemeinschaft achten und unter dem Blickwinkel ihrer Strafwürdigkeit so beschaffen sind, dass sie – in letzter Instanz – zu ihrem 39 Laubenthal/Baier,
GA 2000, 205 (214 f.). auch BGH 12.09.1995 – 1 StR 437/95, NStZ 1996, 80: „Fremde Verhaltensmuster und Vorstellungen können in der Regel nur dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen. Tun sie das nicht, würde entsprechendes Verhalten vielmehr auch im Herkunftsland in ähnlicher Weise bestraft – mag das Verhalten als solches auch in der allgemeinen Einschätzung weniger schwer wiegen –, so besteht kaum Grund zu strafmildernder Berücksichtigung.“ 41 BeckOK-StGB/Heuchemer, § 17 Rn. 35; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (215 f.); Lesch, JA 1996, 607 (608); vgl. auch Groteguth, Norm- und Verbots(un) kenntnis, 1993, S. 27 ff.; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 320; krit. Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, 2012, S. 164 ff. 40 Vgl.
234
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Schutz auch Freiheitsstrafe verdienen.42 Der in diesem Zusammenhang ebenfalls zu betonende fragmentarische Charakter des Strafrechts ist schließlich keine bloße Folge von bestimmten Auslegungsentscheidungen, sondern ein Grundprinzip, an welchem sich sowohl Gesetzgeber als auch Rechtsanwender zu orientieren haben.43 Das Strafrecht als „schärfstes Schwert“ der staatlichen Regulierung beschränkt sich bewusst auf bestimmte (weil sozialethisch in besonderem Maße als strafbedürftig und strafwürdig empfundene) Akzentuierungen, um einen größtmöglichen Rechtsgüterschutz ohne übermäßigen Verlust der persönlichen Freiheit des Einzelnen wie auch von Kollektiven zu ermöglichen. In Anbetracht dieser Überlegungen erkennt man, dass es einen gleichsam „naturrechtlich“ unverhandelbaren Unrechtskern gibt, der nach außen abschweifend immer mehr zum Ordnungsunrecht wird, dessen Strafbewehrung mangels gleich effektiver Alternativen zwar gerechtfertigt ist, dem Gesetzgeber aber einen entsprechend zunehmenden, größeren Begründungsaufwand abverlangt. Die Zuordnung zum StGB hat dabei einen gesetzessymbolischen Charakter, stellt jedoch weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für die Klassifizierung als Kernstrafrecht dar. Für die vorliegende Untersuchung lässt sich somit festhalten, dass die Begrifflichkeit des „Kernstrafrechts“ keine praktische Hilfestellung leistet, da deren Ermittlung im Grenzbereich ähnlich komplex anmutet wie die Analyse der verschiedenen, kulturabhängigen Moralvorstellungen. Teilweise wird dann auch direkt vorgeschlagen, das Rechtsempfinden der Bevölkerung mittels rechtstatsächlicher Forschungen zu bestimmen, um auf diese Weise fundiertere Entscheidungen über die Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern zu treffen.44 Letztlich ist die Vermeidbarkeit eine psychologische Spielfigur, auf die ähnlich dem bedingten Vorsatz bei einem schweigenden oder bestreitenden Beschuldigten nur anhand objektiver Kriterien geschlossen werden kann. Beschränkt man den strafrechtlichen Schutz/die strafrechtliche Drohung bewusst und bestimmt auf die Bereiche, wo der gesellschaftlichen Sozialmoral am stärksten zuwidergehandelt wird, hebt man den moralischen Mindeststandard demonstrativ hervor, wodurch die besondere Wirkkraft des Strafrechts als ultimativer Drohung i. S. d. Theorie von der (positiven wie negativen) Generalprävention besonders effektiv zur Geltung gelangt.45 Dieser fortwährend bestätigungsbedürftige gesellschaftliche „Moralkonsens“ besteht nun jedoch unabhängig von der ethischen Vorstellungswelt ortsfremder Beschuldigter. Nimmt man daher insbesondere den Strafzweck der Norm integration in den Blick, lässt sich leicht nachvollziehen, dass die 42 Frisch,
NStZ 2016, 16 (20 f.). weiterführend Kulhanek, ZIS 2014, 674 (674 f.) m. w. N. 44 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (217). 45 Kulhanek, ZIS 2014, 674 (675). 43 Vgl.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit235
Strafverfolgungsorgane zu verhindern suchen, dass insbesondere im Bereich des StGB und vergleichbarer Kernnormen des Strafrechts ein abweichendes Rechtsbewusstsein als schuldaufhebend klassifiziert wird, da anderenfalls die Durchsetzung des geschriebenen Rechts und folglich dessen Akzeptanz beeinträchtigt würden.46 cc) Die Rechtsfolgenbestimmung beim vermeidbaren Verbotsirrtum sprach- und ortsfremder Beschuldigter Von dieser Erkenntnis unberührt bleibt jedoch der sog. vermeidbare Verbotsirrtum, § 17 Satz 2 StGB, welcher dem Richter das Ermessen einräumt, die Strafe nach § 49 Abs. 1 zu mildern. Bevor der Akt der konkreten Strafzumessung im engeren Sinne beginnt (§§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB sind dabei auch vorrangig gegenüber etwaigen Überlegungen zu minder schweren Fällen47), muss demnach entschieden werden, ob von der eingeräumten Strafmilderungsmöglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, wobei allein der Schuldgehalt der begangenen Tat maßgebend ist.48 Hierbei hat man zu berücksichtigen, inwiefern der Irrtum besonders leicht zu vermeiden war, Rechtsblindheit oder gar -feindschaft offenbart oder trotz Vermeidbarkeit von einem deutlich geringeren Schuldgehalt auszugehen ist.49 Die persönliche Schuld des Täters bestimmt das Maß der Vorwerfbarkeit und bildet den Ausgangspunkt einer gerechten Strafzumessung. Wer aufgrund sprachlicher Barrieren oder infolge kultureller Differenzen nicht in gleicher Weise in der Lage ist, das Unrecht einer Tat zu erkennen und deren Strafwürdigkeit zu verinnerlichen, dem gegenüber muss ein geringeres Unwerturteil ausgesprochen werden. In der heutigen Zeit, welche geprägt wird von einer global vernetzten Welt, einer dynamischen Population und einem energischen kulturellen Dialog, findet eine ständig steigende Berührung/Auseinandersetzung mit fremden Vorstellungen von Wert, Sitte und Moral statt, welche gerade auch von kulturell besonders stark beeinflussten Menschen (kritisch) 46 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (216); krit. zu entsprechenden Tendenzen in der Praxis Groteguth, Norm- und Verbots(un)kenntnis, 1993, S. 20. 47 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 309. 48 MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 80; NK-StGB/Neumann, § 17 Rn. 85. 49 MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 80; NK-StGB/Neumann, § 17 Rn. 83; Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 940 ff.; a. A. Roxin, AT I, 2006, § 21 Rn. 71: „Die Kann-Milderung ist daher in Übereinstimmung mit dem Schuldprinzip dahin auszulegen, dass in der Regel (…) die Anwendung des milderen Strafrahmens obligatorisch ist. Die Nichtherabsetzung des Strafrahmens bedarf daher im Urteil stets einer besonderen Begründung; sie ist rechtsfehlerhaft, wenn eine Strafrahmenreduzierung bei leicht vermeidbaren, aber nicht auf Rechtsfeindschaft beruhenden Verbotsirrtümern unterbleibt.“
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
wahrgenommen wird, sodass in der Gerichtspraxis sorgfältig die Grenze zwischen milderndem Verhaftetsein in ortsfremden Denkweisen und nicht anzuerkennender Ignoranz gegenüber konsentierten Werten anderer zu ziehen ist. b) Zugehörigkeit zu fremdem Kulturkreis als konkreter Strafzumessungsgrund im engeren Sinne Strafzumessungserhebliche Tatsachen sind in der gleichen Weise bestimmt festzustellen und zu belegen wie solche, die für den Schuldspruch von Bedeutung sind.50 Dabei gilt es zunächst klarzustellen, dass die (fremde) Staatsangehörigkeit an sich, soweit sie nicht ausnahmsweise einen speziellen tatbestandlichen Unrechtsbezug aufweist oder zu einer konkret begründeten besonderen Strafempfindlichkeit führt, vollkommen bedeutungslos ist.51 aa) Strafschärfende Wirkungsweisen Aus der Eigenschaft als Ausländer/Gast/Asylbewerber ergibt sich keine gesteigerte Pflicht, keine Straftaten zu begehen; ebenso besteht keine Verantwortung für das Ansehen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in der Gesellschaft.52 Existiert allerdings ein besonderer Unrechtsbezug dahingehend, dass der ortsfremde Beschuldigte bewusst und zielgerichtet die BRD allein zum Zweck der Begehung von Straftaten (z. B. wegen geringerem Entdeckungsrisiko, niedrigeren Strafdrohungen oder angenehmeren Haftbedingun50 BGH 20.06.2017 – 4 StR 575/16, NStZ 2017, 577; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 1274. 51 BGH 11.09.1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; BGH 09.09.1997 – 1 StR 408/97, BGHSt 43, 233 = NJW 1998, 690 = NStZ 1998, 348 m. Anm. Laubenthal = NStZ 1998, 142 m. Anm. Schomburg = StV 1998, 67 m. Anm. Weider; BGH 23.08.2005 – 5 StR 195/05, NStZ 2006, 35; BGH 17.01.2006 – 4 StR 423/05, NStZRR 2006, 137; BGH 08.07.2010 – 3 StR 151/10, NStZ-RR 2010, 337 (338); OLG Hamm 22.09.2016 – 5 RVs 68/16, BeckRS 2016, 18829 Rn. 1; BeckOK-StGB/ von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 56; Fischer, § 46 Rn. 43, 43b; Schönke/Schröder/ Stree/Kinzig, § 46 Rn. 54; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 9 Rn. 56; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 289. 52 BGH 16.03.1993 – 4 StR 602/92, NStZ 1993, 337; BGH 25.10.2016 – 2 StR 386/16, NJW 2017, 1491; Fischer, § 46 Rn. 43; SK-StGB/Horn/Wolters, § 46 Rn. 139; Joerden/Weinreich, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 1 (3 ff.); Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 629; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 731; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 290; vgl. auch Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 9 Rn. 55: „Dieser Punkt kann aber möglicherweise dann berücksichtigt werden, wenn es um die Verteidigung der Rechtsordnung geht (etwa bei der Frage nach einer Strafaussetzung oder der Zulässigkeit einer kurzen Freiheitsstrafe).“
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit237
gen) aufsucht oder ihm unmittelbar aus seinem Gastrecht erwachsende Vorteile zur Begehung der in Frage stehenden Straftat nutzt, ist eine strafschärfende Berücksichtigung gestattet.53 Dass die Strafe im Heimatland des Täters härter geahndet würde, darf im Übrigen jedoch nicht zu seinen Lasten gewertet werden, weil die objektive deutsche Rechtsordnung den alleinigen Maßstab für die Schuldobergrenze bildet.54 Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass kulturell bedingte Umstände lediglich dann strafschärfend herangezogen werden dürfen, wenn sie das Tatbild dergestalt prägen, dass aus der Tatausführung eine besonders rechtsfeindliche Gesinnung spricht oder ein Mehr an krimineller Energie zu erkennen ist, d. h. letztlich muss ein nachvollziehbarer, konkreter Bezug zu den Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB herstellbar sein. An dieser Stelle kann zur Verstärkung der soeben aufgestellten Argumentation ein Vergleich mit einer aktuellen Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH zur Frage der Strafschärfung wegen einer Rufschädigung der Institution der Polizei bei Straftaten durch Polizeibeamte angeführt werden: „Die straferschwerende Heranziehung einer (möglichen) Rufschädigung der Polizei begegnet aber auch mit Blick auf § 46 Abs. 2 StGB durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Mit dieser Erwägung knüpft die StrK ersichtlich an die in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB aufgeführten verschuldeten Auswirkungen der Tat an. Zwar können als strafzumessungserheblich grundsätzlich auch solche für den Täter voraussehbare Tatfolgen Berücksichtigung finden, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem strafbaren Verhalten stehen und außerhalb des eigentlichen Tatbereichs liegen (…). Da aber die Schwere der Tat und der Grad der persönlichen Schuld des Täters die Grundlage der Strafzumessung bilden (…), muss in diesen Fällen als weitere Voraussetzung hinzutreten, dass diese Auswirkungen geeignet sind, das Tatbild zu prägen und die Bewertung der Schuldschwere zu beeinflussen […] Unter dem Gesichtspunkt des Maßes der Pflichtwidrigkeit (§ 46 Abs. 2 StGB) kann 53 BGH 16.03.1993 – 4 StR 602/92, NStZ 1993, 337; Fischer, § 46 Rn. 43; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 211; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 629; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 732; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 290; krit. Joerden/Weinreich, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 1 (5 ff.). 54 BGH 15.11.1995 – 3 StR 484/95, NStZ-RR 1996, 71; Fischer, § 46 Rn. 43; NK-StGB/Streng, § 46 Rn. 149, 152; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (102); Joerden/ Weinreich, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 1 (10); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 211; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 729; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 293 f.; a. A. Grundmann, NJW 1985, 1251 (1255): „Für § 46 StGB bedeutet dies: wenn diese Vorschrift auf die Höhe der Schuld abstellt und die Vorstellung von dem, ob eine Tat strafbar und in welchem Maße sie strafbar ist, Teil der Schuld ist (§ 17 StGB), so ist ein in einem ausländischen Strafgesetz enthaltenes Strafmaß durchaus im Rahmen von § 46 StGB zu berücksichtigen. Wenn eine Tat höher bestraft wird und die Vorstellung von einer höheren Strafbarkeit in einem bestimmten Menschen lebt, so liegt in der Begehung der Tat und in der bewußten Übertretung des Gesetzes ein Mehr an Schuld.“
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
die berufliche Stellung eines Angekl. nur dann strafschärfend herangezogen werden, wenn sich aus ihr besondere Pflichten ergeben, deren Verletzung gerade im Hinblick auf die abzuurteilende Tat Bedeutung hat“.55
Die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ i. S. d. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB sind folglich nicht sämtliche kausal-vorwerfbar auf die deliktische Handlung zurückführbaren Folgen, sondern erschöpfen sich in den Nachwirkungen, die vom Täter zurechenbar verschuldet den Schutzzweck der Norm über das bloße regelmäßige Maß der Tatbestandsverwirklichung hinausgehend verletzen.56 bb) Strafmildernder Niederschlag Die Ablehnung einer Milderung nach §§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB lässt die Berücksichtigung eines vermeidbaren Verbotsirrtums im Rahmen der konkreten Strafzumessung unberührt.57 Aber auch unabhängig von der zugrunde liegenden Strafnorm sind die sprachlichen und kulturellen Eigenschaften des Täters von rechtsfolgenbestimmender Relevanz, wenn es ihm aufgrund eingewurzelter Vorstellungen schwer(er) fiel, die maßgebliche Norm zu befolgen.58 Etwaig zugunsten des Beschuldigten angeführte Anschauungen und Verhaltensmuster dürfen allerdings nur mildernd berücksichtigt werden, soweit sie im Einklang mit der in Bezug genommenen fremden Rechtsordnung stehen und keine ausgleichenden, vorwerfbaren, schulderhöhenden Gesichtspunkte vorhanden sind.59 Ganz generell gilt nämlich, dass 55 BGH
20.06.2017 – 4 StR 575/16, NStZ 2017, 577 m. Anm. Kett-Straub. 16.03.1993 – 4 StR 602/92, NStZ 1993, 337 (338); BGH 29.08.2006 – 1 StR 285/06, NStZ-RR 2006, 372; Fischer, § 46 Rn. 34; Kett-Straub, NStZ 2017, 578 (579). 57 MüKo-StGB/Joecks, § 17 Rn. 84; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 292. 58 BGH 12.09.1995 – 1 StR 437/95, NStZ 1996, 80; BGH 22.08.1996 – 4 StR 280/96, NStZ-RR 1997, 1; BGH 01.02.2007 – 4 StR 514/06, NStZ-RR 2007, 137 (138): „aus einem anderen Kulturkreis stammende Angekl. unter dem „Erwartungsdruck“ seiner Familie stand und daher zur Begehung der Tat insgesamt eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte“; Fischer, § 46 Rn. 43a; NK-StGB/Streng, § 46 Rn. 150; SK-StGB/Horn/Wolters, § 46 Rn. 139; Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 216; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 211 f.; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 286. 59 BGH 07.11.2006 – 1 StR 307/06, NStZ-RR 2007, 86 (87); BGH 18.08.2009 – 1 StR 351/09, NStZ 2009, 689: „Wenn sie sich gleichwohl „zur Durchsetzung ihrer eigenen egoistischen Interessen“, um die Geschädigte weiterhin „wie eine Sklavin“ behandeln zu können, unter Verletzung der elementarsten Prinzipien des deutschen und europäischen Wertesystems selbstherrlich über das Recht hinwegsetzten, ist dies zumindest nicht strafmildernd“; Fischer, § 46 Rn. 43a; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (102): „Gerade die Normambivalenz, in welcher der Täter im Widerstreit zwischen soziokulturellen Vorstellungen und strafrechtlichen Regelungen möglicherweise sozi56 BGH
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abweichende sozio-kulturelle Wertvorstellungen keine objektive Geltung i. R. d. § 46 StGB beanspruchen, sondern einzig individuell-täterbezogen bei der Vorwerfbarkeit der konkreten Normabweichung/-übertretung gewürdigt werden können.60 Bei dieser Beurteilung darf durchaus angeführt werden, dass sich ein Beschuldigter trotz längerem Inlandsaufenthalt nicht mit den hiesigen (Un)Rechtsvorstellungen vertraut gemacht hat, weil die vorwerfbare Ignoranz gegenüber den gelebten Werten des längerfristigen Aufenthaltsorts den Täter nicht entlastet.61 c) Besondere Strafempfindlichkeit infolge Sprach- oder Ortsfremdheit Das Strafrecht zielt auf eine repressive Wirkung und setzt zu seiner aseinsberechtigung gleichsam das individuelle Empfinden der von ihm D ausgehenden Strafe als zu erleidendes Übel voraus. Nun können subjektives Straferleben und -erleiden für mehrere „gleichermaßen Schuldige“ durchaus qualitativ unterschiedlich ausgestaltet sein, weshalb die sog. Strafempfindlichkeit – unabhängig von einer etwaigen Ausländereigenschaft – als strafzumessungsrelevanter oder sogar leicht ‑modifizierender Umstand Anerkennung gefunden hat,62 obwohl eine konkret-individuelle Beschreibung empirisch alisiert worden ist, sowie die in der Tat offenbar werdende Bereitschaft und Fähigkeit, sich grundsätzlich durchaus Normen zu unterwerfen, legt im Einzelfall die Frage nahe, ob tatsächlich ein Fall „fehlenden Beherrschungspotenzials“ oder nicht vielmehr schlicht eine „Normbefolgungsverweigerung“ vorliegt“; Joerden/Weinreich, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 1 (20); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 630; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 730; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 293. 60 BGH 23.05.2007 – 1 StR 220/07, NStZ 2007, 697; Fischer, § 46 Rn. 43a; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (101); Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 297. 61 SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 97; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 730; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 292: „Unbeachtlich sind andere kulturelle Wertvorstellungen vor allem dann, wenn sich der Täter über das Ausmaß des durch seine Tat verwirklichten Unrechts durchaus im Klaren war, diese Bewertung aufgrund seiner Anschauungen aber nicht zu teilen weiß. Vielmehr bleibt einem Täter aus einem anderen Kulturkreis vorzuhalten, sich trotz längeren Inlandsaufenthalts nicht mit den hiesigen Rechtsvorstellungen vertraut gemacht zu haben. Ansonsten müssten auch inländische Täter milder bestraft werden, wenn sie die Strafbarkeit bzw. den gesetzlich vorgesehenen Strafrahmen für ein bestimmtes Verhalten für unangebracht hielten.“ 62 BGH 15.07.1998 – 2 StR 192/98, BGHSt 44, 125 = NStZ 1998, 566; BGH 03.11.1998 – 1 StR 521/98, NJW 1999, 369 (370); krit. Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 300: „Gegen eine Einbeziehung der Strafempfindlichkeit bei der Bestimmung der schuldangemessenen Strafe sprechen jedoch gewichtige Gründe, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit bzw. dem kulturellen Hintergrund des Täters gelten. […] Die Folge wäre eine zu starke Orientierung an den individuellen Besonderheiten des Täters. Dies ließe sich aber nicht mehr mit der Aufgabe der Strafzumes-
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schwerfallen dürfte.63 Die Strafempfindlichkeit ist hierbei grundsätzlich unabhängig von etwaigen Vorwerfbarkeitserwägungen zu beurteilen.64 Gleichwohl muss – gleichsam als Ausfluss des Tatstrafrechts – Anerkennung finden, dass Straftaten letztlich ebenso bewusst in Kenntnis einer drohenden Strafe begangen werden, sodass eine entsprechende Unterordnung der eigenen Strafempfindlichkeit unter die verfolgten deliktischen Ziele zum Ausdruck kommt (wenn auch der Beschuldigte davon ausgegangen sein mag, im Einzelfall nicht belangt zu werden).65 aa) Strafempfindlichkeit infolge Sprachfremdheit Kommunikationsprobleme im Falle von Untersuchungshaft oder bei zu vollstreckenden Freiheitsstrafen stellen eine zusätzliche, von den §§ 38 ff. StGB nicht vorgesehene und dem Resozialisierungsgedanken abträgliche Belastung für den sprachfremden Beschuldigten dar.66 Dieser Grundsatz erfährt nun jedoch in verschiedener Hinsicht eine Abschwächung. Zum einen wird angeführt, dass Verständigungsprobleme bei zunehmender Haftdauer und der Gestaltung der heutigen Vollzugsbedingungen ohnehin an Bedeutung verlieren würden.67 Zum anderen werden auch die (nicht) vorhandenen Bemühungen des sprachfremden Beschuldigten zum sung vereinbaren, die strafrechtlich bewehrten Normen und die darin zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft zu bestätigen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Allgemeinverbindlichkeit der Strafgesetze würde durch derart divergierende Strafaussprüche alles andere als bestärkt. […] Ohnehin kann die individuelle Härte der Freiheitsstrafe durch den Rückgriff auf andere Formen des Strafvollzugs gemildert werden, ohne sich sogleich auf die Höhe des Strafmaßes niederschlagen zu müssen.“ 63 Laubenthal, NStZ 1998, 349; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 721. 64 BGH 15.07.1998 – 2 StR 192/98, BGHSt 44, 125 = NStZ 1998, 566: „Die Frage der Strafempfindlichkeit stellt sich in der Regel schuldunabhängig (…). Eine Milderung kann daher – von Ausnahmen abgesehen – nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dem Täter sei vorzuwerfen, daß er in Kenntnis seiner erhöhten Strafempfindlichkeit gehandelt habe.“ 65 Vgl. wiederum BGH 15.07.1998 – 2 StR 192/98, BGHSt 44, 125 = NStZ 1998, 566: „Nur eine erheblich erhöhte Strafempfindlichkeit eines Angekl. ist daher durch angemessene Herabsetzung der sonst verwirkten Strafe auszugleichen.“ 66 BGH 11.09.1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; BGH 23.08.2005 – 5 StR 195/05, NStZ 2006, 35; BGH 08.07.2010 – 3 StR 151/10, NStZ-RR 2010, 337 (338); OLG Hamm 22.09.2016 – 5 RVs 68/16, BeckRS 2016, 18829 Rn. 1; BeckOK-StGB/ von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 56; Fischer, § 46 Rn. 43b; Schönke/Schröder/Stree/ Kinzig, § 46 Rn. 54; Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 223; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 720. 67 BGH 11.09.1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; BGH 09.09.1997 – 1 StR 408/97, BGHSt 43, 233 = NJW 1998, 690.
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Erlernen der deutschen Sprache in die Strafzumessungsentscheidung eingefügt.68 Letztere Erwägung hat streng genommen mit der Frage der Empfindlichkeit hinsichtlich des ausgeurteilten Strafübels indes nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um die Berücksichtigung eines vorwerfbaren Selbstverschuldens. Man kennt eine solche etwa i. R. d. Ermessensentscheidung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB.69 Eine Strafrahmenverschiebung ist nach den soeben genannten Normen nur vorzunehmen, wenn nicht andere, die Schuld des Täters erhöhende Umstände dem entgegenstehen,70 der Beschuldigte die Begehung von Straftaten etwa vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können, oder die Trunkenheit uneingeschränkt vorwerfbar ist (was insbesondere dann nicht der Fall sei, wenn eine Alkoholerkrankung/ein unwiderstehlicher Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum vorliegt).71 Dabei betrifft die „Sprachempfindlichkeit“ gerade nicht die Tat selbst, sondern deren Folgen für den Beschuldigten. Genau diese fehlende Beziehung zwischen Unrecht der Tat und in Frage stehendem rechtsfolgenrelevantem Umstand weist allerdings den richtigen Weg, welcher generell für die „Täterschuldperspektive“ und spezialpräventive Aspekte gelten sollte: Wer für sich besondere Strafmil68 OLG Hamm 22.09.2016 – 5 RVs 68/16, BeckRS 2016, 18829 Rn. 1: „Zwar ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig, jedoch führt dies vorliegend auch nicht ausnahmsweise dazu, dass das Landgericht eine besondere Strafempfindlichkeit aufgrund der Ausländereigenschaft des Angeklagten hätte berücksichtigen müssen. Das Landgericht Essen hat zur Person des Angeklagten festgestellt, dass sich dessen Bewährungshelfer darum bemüht hatte, dass dieser an einem von der Volkshochschule angebotenen Deutschkurs teilnehmen konnte. Der Angeklagte hat den Kurs jedoch nur einige Male besucht und eine weitere Teilnahme mit der Begründung abgelehnt, der angebotene wöchentliche Umfang von 1,5 Stunden sei aus seiner Sicht zu wenig, um die deutsche Sprache zu erlernen. Vor diesem Hintergrund kann sich der Angeklagte aber nicht darauf berufen, er sei als Ausländer besonders haftempfindlich, da er der deutschen Sprache nicht mächtig sei.“ 69 Vgl. hierzu insbesondere BGH GrS 24.07.2017 – GSSt 3/17, BeckRS 2017, 143191 auf Vorlage des 3. Senats 20.12.2016 – 3 StR 63/15, NStZ-RR 2017, 135 auf Basis von 15.10.2015 – 3 StR 63/15, NStZ 2016, 203, sowie die Stellungnahmen: 5. Senat 01.03.2016 – 5 ARs 50/15, BeckRS 2016, 07026; 4. Senat 28.04.2016 – 4 ARs 16/15, NStZ-RR 2016, 305; 1. Senat 10.05.2016 – 1 ARs 21/15, BeckRS 2016, 12152; 2. Senat 07.11.2016 – 2 ARs 386/15, NStZ-RR 2017, 70. 70 BGH GrS 24.07.2017 – GSSt 3/17, BeckRS 2017, 143191: „Im Rahmen der bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gebotenen Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände kann eine selbstverschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafrahmenmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist.“ 71 BGH 02.08.2012 – 3 StR 216/12, NStZ 2012, 687 (688); BGH 07.09.2015 – 2 StR 350/15, NStZ-RR 2016, 74 = BeckRS 2016, 01325 Rn. 4; BGH 10.05.2016 – 1 ARs 21/15, BeckRS 2016, 12152 Rn. 5; Fischer, § 21 Rn. 25; Detter, NStZ 2017, 624 (628).
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derungsgesichtspunkte in Anspruch nimmt, darf diese weder in vorwerfbarer Weise selbst herbeigeführt noch in rechtsmissbräuchlicher Weise aufrechterhalten haben. bb) Strafempfindlichkeit infolge örtlicher Distanz Ortsfremde Beschuldigte wiederum, welche sich in Untersuchungshaft befinden oder eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe antreten müssen, sehen sich ebenfalls besonderen Belastungen ausgesetzt, welche spezialpräventiven Aspekten zuwiderlaufen: Die örtliche Distanz zur Heimat verhindert oder erschwert jedenfalls familiäre und/oder freundschaftliche Kontakthaltung; dazu können noch etwaige andere Lebensgewohnheiten aufgrund abweichender kultureller Gepflogenheiten treten.72 Die h. M. schließt eine strafmildernde Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten aus, wenn naheliegt, dass infolge § 71 IRG die Freiheitsstrafe (überwiegend) im Heimatland vollstreckt werden wird.73 Dabei ist die tatrichterliche Feststellung des geforderten „Naheliegens“ in concreto durchaus schwierig bis kaum sicher durchführbar.74 Während das nach § 71 Abs. 2 Satz 3, Satz 4 IRG notwendige unwiderrufliche Einverständnis des Beschuldigten noch entweder bereits in der Hauptverhandlung zu Protokoll genommen oder unter bereits soeben behandelten eigenverantwortlichen Vorwerfbarkeitserwägungen außen vor gelassen werden kann, ist die gleichsam vorab erfolgende Einholung der staatsanwaltlichen Ermessensausübung nach § 71 Abs. 1 Satz 1 IRG wenig praktikabel.75 Zum einen 72 BGH 11.09.1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; BGH 23.08.2005 – 5 StR 195/05, NStZ 2006, 35; BGH 08.07.2010 – 3 StR 151/10, NStZ-RR 2010, 337 (338); OLG Hamm 22.09.2016 – 5 RVs 68/16, BeckRS 2016, 18829 Rn. 1; BeckOK-StGB/ von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 56; Fischer, § 46 Rn. 43b; Schönke/Schröder/Stree/ Kinzig, § 46 Rn. 54; Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 223; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 720. 73 BGH 20.08.1996 – 1 StR 463/96, NStZ 1997, 79 = StV 1997, 184 m. krit. Anm. Ventzke; BGH 09.09.1997 – 1 StR 408/97, BGHSt 43, 233 = NJW 1998, 690; BGH 23.08.2005 – 5 StR 195/05, NStZ 2006, 35; Fischer, § 46 Rn. 43b; Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 720; ablehnend Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 224 ff. 74 Ambos/König/Rackow/Jakubetz, § 71 IRG Rn. 217; NK-StGB/Streng, § 46 Rn. 147; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, § 71 IRG Rn. 51; Laubenthal, NStZ 1998, 349 (350); Weider, StV 1998, 68 (68 ff.); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 727; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 302. 75 Laubenthal, NStZ 1998, 349 (350); a. A. Schomburg, NStZ 1998, 142 (143): „Unabdingbar ist nunmehr, daß die StA schon in der Hauptverhandlung als hierzu gleichermaßen berufene Behörde erklärt, ob sie einer Überstellung nicht entgegentritt. Kommt sie dieser Obliegenheit nicht nach, bleibt es bei der individuell zu beantwor-
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wird der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft selten zugleich der verantwortliche Vollstreckungsreferent sein; ganz zu schweigen von den zuständigen Personen bei der Generalstaatsanwaltschaft und im Justizministerium.76 Neben dieser eher zweitrangigen Zuständigkeitserwägung ist ferner auf Nr. 107 RiVASt hinzuweisen, wonach die Vollstreckungsbehörde vor einem Vollstreckungshilfeersuchen zunächst festzustellen hat, ob gegen die verurteilte Person weitere Strafverfahren in der BRD anhängig sind oder eine strafrechtliche Sanktion in anderer Sache zu vollstrecken ist, und gegebenenfalls Kontakt mit den entsprechend zuständigen Stellen aufzunehmen hat. Hinzu kommt die extrem praxisrelevante und vom abzuurteilenden Tatgericht in der heute sehr schnelllebigen Zeit kaum sicher zu prognostizierende Frage, ob zum Zeitpunkt eines etwaigen Vollstreckungshilfeersuchens bzw. eines entsprechenden Vollzugs desselben Überstellungshindernisse bestehen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bzw. ein Hindernisgrund nach § 73 IRG liegen etwa vor, wenn die Haftbedingungen im Zielstaat den in Art. 3 EMRK, Art. 4 EU-GRCh verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen.77 Somit ist im Einzelfall gegebenenfalls zusätzlich eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung zu den konkret zu erwartenden Haftbedingungen und zur Überprüfungsmöglichkeit durch deutsche Behördenvertreter erforderlich.78
tenden, die Strafzumessung bestimmenden Frage der besonderen Belastung durch einen Vollzug in der Fremde. Damit wird die erste Weichenstellung für eine sinnvolle Sanktion schon in der Hauptverhandlung verlagert, ohne sie unnötig zu belasten.“ 76 Weider, StV 1998, 68 (69). 77 EuGH 05.04.2016 – C-404/15, C-659/15, NStZ 2016, 542 (544); BVerwG 19.09.2017 – 1 VR 7/17, NVwZ 2017, 1798; vertiefend Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, 2017, S. 164 ff. 78 Vgl. BVerfG 09.03.2016 – 2 BvR 348/16, BeckRS 2016, 43820; BVerwG 19.09.2017 – 1 VR 7/17, NVwZ 2017, 1798 (1803 f.); OLG München 16.08.2016 – 1 AR 252/16, NStZ-RR 2016, 323; OLG Celle 02.06.2017 – 2 AR (Ausl) 44/17, StraFo 2017, 292; OLG Nürnberg 05.07.2017 – 2 Ausl AR 14/17, StraFo 2017, 291; KG 21.12.2017 – (4) 151 AuslA 77/16 (107/16), BeckRS 2017, 137052; vgl. in diesem Kontext auch BVerfG 13.11.2017 – 2 BvR 1381/17, NJW 2018, 37 (39): „Zwar sind nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (…). Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, wenn Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat bestehen. Dabei muss das Gericht den Vortrag des Bf. nachvollziehbar und willkürfrei würdigen, auch wenn es ihm im Ergebnis keinen Glauben zu schenken vermag“.
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cc) Strafempfindlichkeit infolge Obdachlosigkeit Wie in der Einleitung dargestellt, handelt es sich bei ortsfremden Beschuldigten nicht nur um solche mit Wohnsitz im Ausland, sondern außerdem um Obdachlose. Bagatellkriminalität wie Leistungserschleichungen, Ladendiebstähle oder Hausfriedensbrüche wird in großer Zahl von dieser Personengruppe verübt. § 47 Abs. 1 StGB kommt hier ebenso regelmäßig zur Anwendung wie die Verhältnismäßigkeit etwaiger Untersuchungshaft der nachdrücklichen Prüfung bedarf. Bei Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Ermittlungsverfahren ist zudem zu beobachten, dass in der Praxis die Neigung besteht, eine Hauptverhandlung zu vermeiden und stattdessen trotz häufig großer Vorstrafenbelastung eine Geldstrafe im Strafbefehlswege zu verhängen. Dies stellt jedoch nur einen praktischen Befund dar, welcher mit verfahrensökonomischen Gründen erklärt werden kann. Eine andere Frage ist, inwieweit ein Obdachloser ohne entsprechende Vorstrafen bzw. bei Verneinung der Unerlässlichkeit i. S. d. § 47 Abs. 1 StGB infolge seiner sozialen Schwäche durch eine Geldstrafe weit härter getroffen und insofern womöglich sogar ungerechtfertigt benachteiligt wird. Zwar werden gem. § 40 Abs. 2 StGB die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bei der Bestimmung der Tagessatzhöhe berücksichtigt, jedoch ist anerkannt, dass für Personen nahe des Existenzminimums jede finanzielle Einbuße eine besondere Härte darstellt.79 Dies habe regelmäßig eine Uneinbringlichkeit (§ 459e Abs. 2 StPO) im Bereich der sozialen Armut zur Folge.80 Art. 293 EGStGB ermächtigt nun jedoch die Landesregierungen, durch Rechtsverordnung die Möglichkeit einzuräumen, eine drohende Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzuwenden. In Bayern ist dies gnadenrechtlich geregelt, §§ 31 ff. BayGnO. Hierbei handelt es sich um eine sinnvolle Ergänzung des strafrechtlichen Spektrums, welches auch verfassungsrechtlich explizit geeignet ist, etwaige Härten abzuwenden.81 79 OLG Oldenburg 30.07.2007 – Ss 205/07, NStZ-RR 2008, 6; OLG Stuttgart 21.07.2008 – 2 Ss 346/08, StV 2009, 131; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 40 Rn. 12; Fischer, § 40 Rn. 24; Mosbacher, NJW 2018, 1069 (1071 f.). 80 Wilde, Armut und Strafe, 2016, S. 24; a. A. HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 450: „Auch bei Geldstrafen ist auf eine nachdrückliche Vollstreckung zu achten, selbst wenn der Verurteilte nicht auf Rosen gebettet ist. Die Tatsache, dass es sich um einen Hartz-IV-Empfänger handelt, bedeutet keineswegs, dass er alleine deshalb die Geldstrafe nicht in angemessenen Raten begleichen kann.“ 81 BVerfG 24.08.2006 – 2 BvR 1552/06, NJW 2006, 3626 (3627); Meier, ZStW 129 (2017), 433 (447); Mosbacher, NJW 2018, 1069 (1071); Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 140; krit. hierzu Wilde, Armut und Strafe, 2016, S. 344 f.: „Die freie Arbeit ist kein Instrument, mit dem die Gerechtigkeitsproblematik, die aus der Gestaltung der Geldstrafe in § 40 StGB Abs. 2 (Nettoeinkommensprinzip) und des § 43 StGB (Ersatzfreiheitsstrafe) resultiert, behoben
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d) Erlittene Untersuchungs-/Abschiebungshaft Erlittene Untersuchungshaft im verfahrensgegenständlichen Verfahren wird gem. § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die verhängte Strafe angerechnet, weshalb sie grundsätzlich keinen strafmildernden Gesichtspunkt darstellt.82 Allein besonders belastende Umstände – wozu gerade auch fehlende Sprachkenntnisse oder die Unmöglichkeit sozialen Kontakts zählen – können im Einzelfall eine zu berücksichtigende außergewöhnliche Beschwer darstellen, soweit jene die mit dem Vollzug von Untersuchungshaft üblicherweise einhergehenden Entbehrungen deutlich übersteigt.83 Wie in C. gezeigt, besteht für ortsfremde Beschuldigte durchaus eine erhöhte latente Gefahr, wegen Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO in Untersuchungshaft genommen zu werden: Der Auslandswohnsitz begründet zwar ebenso wie die Höhe der Straferwartung allein keine Fluchtgefahr, ist jedoch wertend in die Gesamtabwägung einzustellen, ob überwiegend wahrscheinlich eine aktive Behinderung der Strafverfolgung zu erwarten steht.84 Indes darf an dieser Stelle nicht vernachlässigt werden, dass sich der Täter zur Begehung der Straftat willentlich in die BRD begeben und damit die ihn besonders belastenden Aspekte der Sprachfremdheit und der örtlichen Distanz zu seinem sozialen Umfeld werden könnte. Einerseits erreicht sie einen erheblichen Personenkreis nicht. An diesem wird weiterhin die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt. Andererseits mildert sie die Benachteiligung bei dem Personenkreis, der die freie Arbeit leistet. Sie kann aber ein Sanktionsgefälle nicht aufheben, sondern führt zu einer neuen Benachteiligung. Es gilt nun nicht mehr „weil du arm bist, musst du sitzen“, sondern „weil du arm bist, musst du schwitzen“. Dass diese Ungleichbehandlung geringer ausfällt als im Falle der Inhaftierung, mag als ein Fortschritt angesehen werden. Es bleibt jedoch bei einer unhaltbaren Situation.“ 82 BGH 19.05.2010 – 2 StR 102/10, NStZ 2011, 100; BGH 13.10.2011 – 1 StR 407/11, NStZ-RR 2012, 42 (43); BGH 20.08.2013 – 5 StR 248/13, NStZ 2014, 31; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 66d; Fischer, § 46 Rn. 70. Bei besonders belastenden Haftbedingungen im Ausland kann auch ein größerer Anrechnungsmaßstab zugrunde zu legen sein, vgl. OLG Bamberg 22.12.2017 – 1 Ws 508/17, NStZ-RR 2018, 202. 83 BGH 19.05.2010 – 2 StR 102/10, NStZ 2011, 100: „Die Trennung des Angekl. von seiner in Deutschland lebenden Familie ist eine zwangsläufige Folge der Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe und als solche kein die Strafe mildernder Gesichtspunkt“; BGH 13.10.2011 – 1 StR 407/11, NStZ-RR 2012, 42 (43); BGH 19.01.2017 – 4 StR 334/16, NStZ-RR 2017, 117 (118); BeckOK-StGB/ von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 66d; Fischer, § 46 Rn. 70; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 184. 84 KG 21.08.2014 – 1 Ws 61/14, BeckRS 2014, 19266 Rn. 11; OLG Stuttgart 10.06.2016 – 5 Ws 60/16, StV 2016, 815; OLG Karlsruhe 14.12.2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810 Rn. 42; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 51 f., 58; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 133 ff.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
selbst herbeigeführt hat. Ferner kann der Gesichtspunkt erlittener Untersuchungshaft – bei erschwerten Haftbedingungen sogar noch verstärkt – bei der Frage über die Strafaussetzung zur Bewährung Berücksichtigung finden.85 Abschiebungshaft gem. § 62 AufenthG ist eine verschuldensunabhängige Sondermaßnahme des Ausländerrechts zur Vorbereitung der Ausweisung (Vorbereitungshaft) oder zur Sicherung der Abschiebung (Sicherungshaft), wenn dieser Zweck nicht durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes anderes Mittel erreicht werden kann.86 Sie wird daher nicht i. S. d. § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Strafverfahrens ist, vollstreckt.87 Ausweislich § 116b Satz 1 StPO ist Untersuchungshaft vorrangig. Eine daneben bestehende Abschiebungshaft wird insoweit jedoch nicht unterbrochen oder ausgesetzt, sondern gleichsam parallel vollzogen, sodass kein zeitlicher Aufschub der Abschiebungshaft erfolgt.88 Es besteht mithin gar keine Notwendigkeit einer Anrechnung. 3. Einfluss mangelnder Sprachkenntnisse auf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB Das deutsche Sanktionensystem ist zweispuriger Natur und kennt neben der Strafe verschiedene Maßregeln der Besserung und Sicherung, §§ 61 ff. StGB. Stellvertretend soll an dieser Stelle die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB betrachtet werden. Liegt bei einer verurteilten Person (respektive im Sicherungsverfahren gem. §§ 413 ff. StPO) der Hang vor, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel (insbesondere Drogen) im Übermaß zu sich zu nehmen, soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn infolge des Hanges die Gefahr künftiger erheblicher rechtswidriger Taten besteht, § 64 Satz 1 StGB. Die Anordnung ist dabei nur statthaft, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht vorhanden ist, durch die Behandlung in der Entziehungsanstalt innerhalb der Zweijahresfrist des § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB oder der um eine anrechnungs85 BGH 20.08.2013 – 5 StR 248/13, NStZ 2014, 31; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 37; Fischer, § 46 Rn. 70; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 184: „Auch wenn eine Freiheitsstrafe nur deshalb zur Bewährung ausgesetzt werden kann, weil der Angeklagte durch den Vollzug der Untersuchungshaft hinreichend beeindruckt ist, verbietet sich eine zusätzliche mildernde Berücksichtigung bei der Bemessung der Strafhöhe.“ 86 Bergmann/Dienelt/Winkelmann, § 62 AufenthG Rn. 5; Erbs/Kohlhaas/Senge, § 62 AufenthG Rn. 1. 87 HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 88. 88 BGH 19.10.1989 – V ZB 8/89, BGHZ 109, 104 = NJW 1990, 1417; BayObLG 06.11.1991 – BReg. 3 Z 181/91, BayObLGZ 1991, 369 = NVwZ 1992, 606; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 89.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit247
offene Freiheitsstrafe (§ 67 Abs. 4 StGB) verlängerten Frist des § 67d Abs. 1 Satz 3 StGB89 eine Heilung oder zumindest eine erhebliche Rückfallprävention zu erzielen, § 64 Satz 2 StGB. Es müssen sich in Persönlichkeit und Lebensumständen des Verurteilten positiv festgestellte konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen,90 wobei eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit ausreicht.91 Zu sammenfassend soll durch die Heilung des Untergebrachten von seinem Hang mit der Behebung der zugrunde liegenden Fehlhaltung zugleich der Zweck der Sicherung der Allgemeinheit verfolgt und im Idealfall realisiert werden.92 Dabei kommt auch einem möglichen Vorwegvollzug nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB Bedeutung zu. So gilt zwar grundsätzlich, dass die Therapieunwilligkeit des Täters Indizcharakter für das Fehlen der Erfolgsaussicht hat;93 jedoch muss abgewogen werden, inwieweit während des Vorwegvollzugs94 oder im Maßregelvollzug95 mit therapeutischen Anwendungen gegebenenfalls noch eine positive Einstellung des Täters zu erreichen ist.96 Bei dem in § 64 Satz 1 StGB genannten „Sollen“ handelt es sich um die vom Gesetzgeber mit Gesetz vom 16.07.200797 bewusst eingeräumte Möglichkeit, von einer Unterbringung in Ausnahmefällen (reale Aussichtslosigkeit der Unterbringung) abzusehen.98 Neben fiskalischen Erwägungen ist der Hintergrund dieser Novelle auch darin zu sehen, dass der Aufenthalt einer 89 BGH
15.03.2017 – 2 StR 581/16, NStZ-RR 2017, 139. 18.12.2007 – 3 StR 516/07, NStZ-RR 2009, 48 (49); BGH 16.01.2014 – 4 StR 496/13, NStZ 2014, 203 (205) Rn. 19; Fischer, § 64 Rn. 19. 91 BeckOK-StGB/Ziegler, § 64 Rn. 12; Lackner/Kühl/Heger, § 64 Rn. 6; Schönke/ Schröder/Stree/Kinzig, § 64 Rn. 14. 92 BGH 12.02.2009 – 4 StR 529/08, BeckRS 2009, 06322 Rn. 6; MüKo-StGB/ van Gemmeren, § 64 Rn. 1; Laubenthal, Strafvollzug, 2015 Rn. 912. 93 BGH 06.03.2013 – 1 StR 513/12, NStZ-RR 2013, 241 (242); Fischer, § 64 Rn. 20. 94 BGH 10.11.2009 – 5 StR 413/09, NStZ-RR 2010, 42 (43); BGH 15.12.2009 – 3 StR 516/09, NStZ-RR 2010, 141; BeckOK-StGB/Ziegler, § 64 Rn. 13. 95 BGH 21.01.2010 – 3 StR 502/09, NStZ-RR 2010, 141; BGH 22.09.2010 – 2 StR 268/10, NStZ-RR 2011, 203; BGH 10.07.2012 – 2 StR 85/12, NStZ 2012, 689 (690). 96 BGH 03.07.2012 – 5 StR 313/12, NStZ-RR 2012, 307: „Zwar kann die Therapieunwilligkeit des Täters ein gegen die Erfolgsaussicht der Maßregel sprechender Umstand sein. In diesem Fall sind jedoch die Gründe und Wurzeln eines etwaigen Motivationsmangels festzustellen; es ist zu überprüfen, ob eine Therapiebereitschaft für eine Erfolg versprechende Behandlung geweckt werden kann“. 97 BGBl. I 2007, S. 1327. 98 BGH 28.10.2008 – 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204 (205) = StV 2009, 586 m. Anm. Jung; BGH 13.06.2018 – 1 StR 132/18, NStZ-RR 2018, 273 (274 f.). 90 BGH
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
(nicht unbedeutenden) Anzahl von Personen ohne wirkliche Therapieerfolgserwartung infolge der drohenden, negativ zu beurteilenden Subkultur durch diese Patientengruppe zu einem negativen Klima in der Einrichtung insgesamt führen und demzufolge den Behandlungsverlauf anderer ebenfalls ungünstig beeinflussen würde.99 Für den sprachfremden Beschuldigten stellt sich die Frage, welche Rückschlüsse von seiner fehlenden Sprachkompetenz zum einen auf die Erfolgsaussichten einer Therapie, zum anderen aber auf das in der Norm eingeräumte eingeschränkte Ermessen,100 zu ziehen sind. Die Gesetzgebungsmaterialien führen hierzu wie folgt aus: „Es soll deshalb dabei bleiben, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers alleine nicht Grund sein kann, auf seine Unterbringung zu verzichten. Denn es ist grundsätzlich Aufgabe der für den Vollzug der Maßregel zuständigen Vollstreckungs- und Verwaltungsbehörden, für im Übrigen behandlungs- und besserungs fähige ausländische Täterinnen und Täter hinreichend geeignete, ihren besonderen persönlichen Verhältnissen individuell gerecht werdende Vollstreckungsmöglichkeiten bereitzustellen (…). Nur wenn der Schaffung dieser Voraussetzungen unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen, weil z. B. der oder die ausländische Verurteilte eine in Deutschland sehr selten vertretene Fremdsprache spricht und im Einzelfall auch nicht erwartet werden kann, dass die verurteilte Person im Maßregel- oder gegebenenfalls vorausgehenden Strafvollzug ausreichend Deutsch lernen wird, um an einer Therapie mitwirken zu können, darf auf ihre Unterbringung verzichtet werden.“101
Tritt neben eine gewisse unbefriedigende Kommunikationsgrundlage noch die in naher Zukunft sichere Ausreisepflicht eines Ausländers, begründet dies regelmäßig die Nichtunterbringungsentscheidung.102 Hierbei besteht ein 99 Van
der Haar, NStZ 1995, 315 (317). BGH 12.03.2014 – 2 StR 436/13, StV 2014, 545; BGH 06.07.2017 – 4 StR 124/17, BeckRS 2017, 119774 Rn. 10, 15; Fischer, § 64 Rn. 23a; Basdorf/ Schneider/König, Rissing-van Saan-FS, 2011, S. 59 (62). 101 BT-Drs. 16/5137, S. 10. 102 BGH 28.10.2008 – 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204 (205); BGH 03.03.2009 – 3 StR 52/09, NStZ-RR 2009, 170 (171); BGH 22.06.2017 – 4 StR 218/17, NStZ-RR 2017, 283; Detter, NStZ 2018, 18 (22); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 337; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 468; vgl. auch BT-Drs. 16/5137, S. 10; Schneider, NStZ 2008, 68 (71): „Als problematisch erweisen sich in der Praxis Fälle, in denen eine in einer Entziehungsanstalt untergebrachte Person einem ausländischen Staat angehört und die Beendigung ihres Aufenthalts in Deutschland in naher Zukunft zu erwarten ist. Zweifelhaft kann hier schon sein, wie viel Zeit für eine Therapie überhaupt zur Verfügung steht. Eine Therapieplanung ist deshalb schwierig. Einerseits ist eine Orientierung der Therapie am Ziel (Re‑)Integration der untergebrachten Person in die deutsche Gesellschaft nicht sinnvoll; andererseits können die im Heimatland auf sie zukommenden Anforderungen nicht hinreichend eingeschätzt und die Therapie deshalb nicht an ihnen ausgerichtet werden. Hinzu können kulturelle und sprachliche Barrieren kommen, die die Behand100 Vgl.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit249
Zusammenspiel zwischen Verwaltungs- und Strafrecht. Der Richter darf demnach auf die (nicht notwendigerweise bestandskräftige103) aufenthaltsbeendende Maßnahme mit vollziehbarer Ausreisepflicht durch die Ausländerbehörde zurückgreifen.104 Bestimmend für seine Bewertung ist schließlich die formelle aufenthaltsrechtliche Lage, die eine alsbaldige Ausreise erwarten lässt, zum Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung. Abgesehen von dieser aufenthaltsrechtlichen Komponente muss der Strafrichter regelmäßig nicht der Frage nachgehen, ob und welche speziell für den Täter geeigneten Therapieeinrichtungen zur Verfügung stehen oder gestellt werden können, weil dies eine originär den zuständigen Vollstreckungs- und Verwaltungsbehörden zugewiesene Aufgabe darstellt.105 Auszugehen ist von dem Gedankengang, dass nicht gegen jeden Sprachunkundigen, insbesondere wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm absehbar nur schwer möglich sein wird, eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet werden muss. Hierdurch wird auch der vom Gesetzgeber beabsichtigten Schonung der Behandlungskapazitäten, die teilweise durch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von in Anbetracht des Heilungszwecks weniger geeigneten Personen blockiert wurden, entsprochen. Dabei ist jedoch eindringlich in den Blick zu nehmen, ob es sich um eine mehr oder weniger geläufige Fremdsprache handelt und dass für die im Rahmen einer solchen Behandlung erforderliche Verständigung zwischen Therapeut und Patient regelmäßig sprachliche Grundkenntnisse genügen.106 lung besonders schwierig machen. Zusätzlich entsteht oft das Problem, dass Erprobungen in der Lockerung im Hinblick auf eine erhöhte Fluchtgefahr nicht gewährt werden können. Deswegen sind die Therapieaussichten von vornherein sehr eingeschränkt.“ Vgl. aber auch BGH 10.07.2012 – 2 StR 85/12, NStZ 2012, 689 (690); BGH 13.06.2018 – 1 StR 132/18, NStZ-RR 2018, 273 (275): „Sollte das Sprachvermögen der unterzubringenden Person für therapeutische Maßnahmen nicht ausreichen, wäre ggf. zu erwägen, ob gem. Art. 68 SDÜ, § 71 IRG die Überstellung der Angekl. in die Tschechische Republik zum Vollzug der Maßregel in Betracht kommt, sofern dort entsprechende Einrichtungen existieren“. 103 OLG Celle 27.10.2008 – 1 Ws 523/08, StV 2009, 194 (195); Fischer, § 67 Rn. 14. 104 A. A. Jung, StV 2009, 586 (587). 105 BGH 23.05.1989 – 1 StR 128/89, BGHSt 36, 199 = NStZ 1990, 78 (79); BGH 20.06.2001 – 3 StR 209/01, NStZ-RR 2002, 7; Basdorf/Schneider/König, Rissingvan Saan-FS, 2011, S. 59 (63); krit. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 467. 106 BGH 23.05.1989 – 1 StR 128/89, BGHSt 36, 199 = NStZ 1990, 78 (79); BGH 06.03.2013 – 1 StR 513/12, NStZ-RR 2013, 241 (242); BGH 06.07.2017 – 4 StR 124/17, BeckRS 2017, 119774 Rn. 11, 14; BGH 13.06.2018 – 1 StR 132/18, NStZRR 2018, 273 (274); Fischer, § 64 Rn. 24; Basdorf/Schneider/König, Rissingvan Saan-FS, 2011, S. 59 (64); krit. MüKo-StGB/van Gemmeren, § 64 Rn. 71 Fn. 321: Ob hierzu „sprachliche Grundkenntnisse ausreichen, hängt davon ab, was unter Grundkenntnissen verstanden wird. Ausführungen über Gefahren und Wirkungen der
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Begleitend zur am Beginn stehenden Entgiftung erfolgt eine intensive Behandlung des Abhängigen unter Anwendung von psycho-, sozial- und gruppentherapeutischen Methoden sowie konfliktzentrierter Einzelberatung.107 Der Einsatz eines Dolmetschers ist dabei weder gesetzlich vorgesehen noch praktikabel.108 Indes handelt es sich bei der Kriminalität sprachfremder Beschuldigter um kein seltenes Phänomen. Zwar ist zuzugeben, dass nicht in jedem Gerichtsbezirk Therapieeinrichtungen für sämtliche Sprachen vorgehalten werden können, jedoch sind möglicherweise entsprechende fremdsprachgeschulte Entziehungsanstalten mit wechselseitigem (gegebenenfalls auch bundesweitem) Austausch realisierbar.109 Letztlich müssen in die begründungsbedürftige, umfassende Ermessenserwägung des § 64 Satz 1 StGB zusätzlich die Sprachfremdheit begleitende, die Therapieerfolgsaussicht ähnlich belastende Gesichtspunkte wie beispielsweise eine vorhandene, anhaltende wahnhafte Störung mit einbezogen werden.110 4. Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen Die Frage der Berücksichtigung etwaiger aufenthaltsrechtlicher Konsequenzen im Rahmen der Strafzumessung hat für ortsfremde Beschuldigte in zweierlei Hinsicht Bedeutung. Zum einen ist sie relevant für ausländische Obdachlose, zum anderen ebenso für Beschuldigte mit festem Wohnsitz im Ausland, aber gleichwohl dauerndem Aufenthalt in der BRD. Letztgenannte Konstellation kommt in der Praxis durchaus häufig vor. Gegenstand des deutschen Ausländerrechts ist die Regelung der Rechtsstellung von Nichtdeutschen, insbesondere die Festlegung der Voraussetzungen für deren Aufenthalt.111 Es handelt sich hierbei in den letzten Jahren um eine stark dynamische Materie. Als Folge der Umsetzung der RL 2011/95/ EU112 wurden mit dem Gesetz zur Umsetzung dieser Richtlinie vom 28.08. Rauschmittel sowie Sinn und Zweck der Vollzugslockerungen muss der Untergebrachte beispielsweise verstehen können. Im Rahmen der Gruppentherapie lernt der Untergebrachte zudem aus Gesprächen mit den Leidensgefährten […] Im Rahmen der Therapie werden die Lebensgeschichten der einzelnen Untergebrachten eingebracht und Wirkungszusammenhänge problematisiert.“ 107 Laubenthal, Strafvollzug, 2015 Rn. 913. 108 MüKo-StGB/van Gemmeren, § 64 Rn. 71, 80; Korn, JR 2015, 411 (412). 109 Korn, JR 2015, 411 (414); vgl. auch Basdorf/Schneider/König, Rissingvan Saan-FS, 2011, S. 59 (65). 110 BGH 29.06.2016 – 1 StR 254/16, BeckRS 2016, 15517 Rn. 16; Detter, NStZ 2018, 18 (22). 111 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 24. 112 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit251
2013113 zahlreiche Normen zur Anerkennung von Drittstaatsangehörigen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz angepasst. Mit Gesetz vom 27.07.2015114 erfolgte eine grundlegende Reform der Regelungen zum Bleiberecht und zur Aufenthaltsbeendigung, insbesondere wurde – für die vorliegende Untersuchung relevant – das bisherige System von zwingender Ausweisung, Ausweisung im Regelfall und Ermessensausweisung durch eine einheitliche Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen ersetzt. Zuletzt mit Gesetz vom 11.03.2016115 zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern setzte der Gesetzgeber ein politisch gewolltes Zeichen116 und versuchte die bereits genannten Ausweisungsinteressen für den strafrechtlichen Kontext zu konkretisieren. Die Auseinandersetzung mit der besonderen Rechtsstellung von EUBürgern erfolgt im vierten Teil der Arbeit (vgl. E. III. 3. a)). a) Das aktuelle Regelungsregime des Aufenthaltsgesetzes Ein Ausländer ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ist zur Ausreise verpflichtet, § 50 Abs. 1 AufenthG. Vorliegend relevante aufenthaltsbeendende Maßnahme ist die Ausweisung gem. §§ 53 ff. AufenthG, welche von der zuständigen Ausländerbehörde als Ordnungsverfügung in Form eines Ausreisegebots gegenüber dem Betroffenen im Einzelfall ausgesprochen wird.117 Hintergrund ist die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie der sonstigen erheblichen Interessen der BRD, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach der gesetzlichen Neuregelung (welche insofern jedoch wesentlich der bereits zuvor bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht118) hat dabei stets eine umfaseinheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 Nr. L 167 S. 58, Celex-Nr. 3 2011 L 0095. 113 BGBl. I 2013, S. 3474. 114 BGBl. I 2015, S. 1386. 115 BGBl. I 2016, S. 394. 116 BT-Drs. 18/7537, S. 1: „Wenn Ausländer, die in Deutschland im Rahmen eines Asylverfahrens Schutz suchen oder sich aus anderen Gründen in Deutschland aufhalten, Straftaten von erheblichem Ausmaß begehen, kann dies den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland und die Akzeptanz für die Aufnahme von Schutzbedürftigen sowie für die legale Zuwanderung durch die einheimische Bevölkerung gefährden.“ 117 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1007. 118 Zu einer Analyse der bereits vor dem „Systemwechsel“ ermessenszentrierten Ausweisungsrechtsprechung vgl. weiterführend Hoppe, ZAR 2008, 251; Thym, DVBl 2008, 1346 jew. m. w. N.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
sende Einzelfallabwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit dem individuellen Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) zu erfolgen, § 53 Abs. 1 AufenthG. Zu einer gewissen Typisierung von (besonders) schwerwiegenden Interessensgesichtspunkten enthalten die genannten Normen eine Katalogisierung. Dabei hat der Gesetzgeber das Ausweisungsrecht bei Kontakt mit strafrechtlichen Normübertretungen ganz bewusst zu verschärfen versucht: „Das Ausweisungsrecht wird verschärft, um die Ausweisung krimineller Ausländer zu erleichtern. […] Künftig wird ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bereits dann vorliegen, wenn ein Ausländer wegen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte […] rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt worden ist, sofern diese Straftaten mit Gewalt oder unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse wird gegeben sein, wenn ein Ausländer wegen einer der vorgenannten Straftaten und Tatmodalitäten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird. Auch dies gilt künftig unabhängig davon, ob die Freiheits- oder Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Darüber hinaus wird klargestellt, dass im Rahmen der einer Ausweisung zugrundeliegenden Abwägung von Ausweisungsund Bleibeinteressen nach den Umständen des Einzelfalls auch der Umstand Berücksichtigung findet, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Hierbei gilt, dass sich rechtstreues Verhalten zugunsten und nicht rechtstreues Verhalten zulasten des Ausländers in der Abwägung auswirken kann.“119
aa) Ausweisungsinteresse, § 54 AufenthG Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 AufenthG mehrfache Konkretisierungen, indem einzelnen, nicht abschließenden Ausweisungsinteressen durch den Gesetzgeber von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen wird (qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ (Abs. 1) oder „schwerwiegend“ (Abs. 2)).120 Für die hiesige, strafrechtliche Untersuchung relevant sind vor allem § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a AufenthG sowie § 54 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 2, Nr. 3 AufenthG. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nennt die rechtskräftige Verurteilung wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung. 119 BT-Drs.
18/7537, S. 5.
120 BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1885).
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§ 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG verlangt eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist, § 177 StGB erfüllt oder serienmäßig gegen das Eigentum begangen wurde. Die genannten Straftaten werden wegen ihres Gefährdungspotenzials für den sozialen Frieden (Kombination des betroffenen Schutzguts und einer aggressiven Begehungsweise oder Häufung) als besonders gravierend herausgestrichen.121 § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG enthält das Erfordernis einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten. § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG entspricht § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG mit dem Unterschied, dass hierfür jede rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe genügt. § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG führt die rechtskräftige Verurteilung wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung an. § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG wiederum nimmt die versuchte oder vollendete Verwirklichung des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG in den Blick. Auch wenn für die Frage des Vorliegens eines (besonders) schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 3 AufenthG die Strafaussetzung zur Bewährung folglich keine Relevanz hat, kann eine solche bei der Gesamtabwägung des § 53 AufenthG von Bedeutung sein.122 Bei der dort anzustellenden Prognose zur Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen (maßgeblich sind die zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Umstände) bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind, sodass die Zuziehung eines Sachverständigen nur erforderlich ist, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann.123 Von einem Fortfall der Wiederholungsge121 BeckOK-AuslR/Tanneberger, § 54 AufenthG Rn. 12a; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1046. 122 Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (417). 123 BVerwG 04.10.2012 – 1 C 13/11, BVerwGE 144, 230 = NVwZ 2013, 361 (362); BayVGH 27.10.2017 – 10 ZB 17.993, BeckRS 2017, 133209 Rn. 17; BayVGH 08.11.2017 – 10 ZB 16.2199, BeckRS 2017, 133203.
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fahr kann bei einem Hangtäter indes nicht ausgegangen werden, solange nicht eine Suchttherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung eines zukünftig sucht- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht wurde, wobei hierfür weder die bloße Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden Suchtberatung noch die einwandfreie Führung in der Haftanstalt ausreichen.124 Ferner können bei der Beurteilung der Gefahrenprognose grundsätzlich auch bestehende Krankheiten, die für die Straffälligkeit des Ausländers mitverantwortlich sind, zu seinen Lasten Berücksichtigung finden.125 bb) Bleibeinteresse, § 55 AufenthG Die gesetzgeberisch typisierten besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen sind in § 55 Abs. 1 AufenthG abschließend aufgelistet, wohingegen die schwerwiegenden Bleibeinteressen gem. § 55 Abs. 2 AufenthG lediglich beispielhaften Charakter haben („insbesondere“).126 Das Interesse, ein begonnenes Studium in Deutschland beenden zu können, ist als Bleibeinteresse zu berücksichtigen, ihm kommt jedoch kein besonderes Gewicht zu.127 Selbst gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht zwingend durch, weil insbesondere aus Art. 6 GG kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt fließt.128 cc) Ausweisungsabwägung, § 53 AufenthG § 53 Abs. 1 AufenthG sieht eine zweiteilige Prüfung aus der Prognose der vom Ausländer ausgehenden schutzgutbezogenen Gefahr (Ausweisungsanlass) und der umfassenden Abwägung zwischen öffentlichem Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) und individuellem Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) vor.129 Unabhängig von der in §§ 54, 55 AufenthG vorgenommenen Typisierung und Gewichtung bedarf es stets einer individuellen Prognose der Wiederholungsgefahr.130 Eine Gefahr in diesem Sinne liegt vor, wenn mit hinrei124 BayVGH
27.10.2017 – 10 ZB 17.993, BeckRS 2017, 133209 Rn. 6 f. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993, BeckRS 2017, 133209 Rn. 9. 126 BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1884); Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (419). 127 VG München 07.12.2017 – 25 S 17.4284, BeckRS 2017, 138314 Rn. 33. 128 BVerfG 23.01.2006 – 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682 (683); BVerfG 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08, BeckRS 2011, 87023 Rn. 25; BayVGH 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636, BeckRS 2017, 128927 Rn. 38. 129 Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 2017, Rn. 180. 130 Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (419). 125 BayVGH
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chender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Betroffenen im Bundesgebiet eines der genannten Schutzgüter Schaden nimmt, wobei die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts entsprechend dem Ausmaß des befürchteten Schadens sowie des Rangs des bedrohten Rechtsguts abnehmen.131 Das neue Ausweisungsrecht enthält ein einheitliches System der gerichtlich voll überprüfbaren, gebundenen Ausweisung („wird ausgewiesen“), das vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird.132 Es ist geprägt von einem umfassenden, ergebnisoffenen Abwägungsprozess, in dem sämtliche Ausweisungs- und Bleibeinteressen angemessen zu berücksichtigen sind, wobei auch bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses und der hierdurch indizierten Annahme eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Beendigung des Aufenthalts eine individuelle Prüfung geboten ist, ob die Ausweisung im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalles nicht unverhältnismäßig erscheint.133 Die gegenläufigen Aspekte sind unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, der seit der Tat verstrichenen Zeit und des Verhaltens des Betroffenen in dieser Zeit, der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige sowie der Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat (§ 53 Abs. 2 AufenthG), dahingehend abzuwägen, ob das Ausweisungsinteresse überwiegt und eine Ausweisung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie sonstigen verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben zum Schutz des Privat- und Familienlebens in Einklang steht.134 Die genannten Kriterien sind dabei ambivalenter Natur, weil beispielsweise nicht die abstrakte Länge des Aufenthalts entscheidend ist, son131 BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1885); BayVGH 07.03.2017 – 10 B 16.992, BeckRS 2017, 105527 Rn. 28; BayVGH 06.06.2017 – 10 ZB 17.588, BeckRS 2017, 113686 Rn. 4; Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (419); Brühl, JuS 2016, 23 (25); Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 2017, Rn. 181. 132 BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1884 f.); OVG Magdeburg 10.10.2016 – 2 O 26/16, BeckRS 2016, 53879; Brühl, JuS 2016, 23 (24). 133 BVerwG 27.07.2017 – 1 C 28.16, BeckRS 2017, 124489; Hailbronner, Asylund Ausländerrecht, 2017, Rn. 1044; Schmidt, StV 2016, 530 (531 f.). 134 EGMR 18.10.2006 – 46410/99, NVwZ 2007, 1279 (1281); EGMR 24.03.2015 – 37074/13, EuGRZ 2015, 464 Rn. 28; EuGH 07.12.2017 – C-636/16, NVwZ-RR 2018, 123 (124); BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1884); BayVGH 29.08.2017 – 10 C 17.1298, BeckRS 2017, 124702 Rn. 3; OVG Lüneburg 23.11.2017 – 8 ME 113/17, BeckRS 2017, 134205; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1010 ff.
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dern ob der Ausländer die Zeit etwa zum Erlernen der deutschen Sprache oder der Erlangung eines Schulabschlusses/einer Berufsausbildung genutzt hat.135 Trotz der Anknüpfung des § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 2, Nr. 3 AufenthG an eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung bleibt für die zukunftsorientierte Ausweisung erforderlich, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schadenseintritt prognostiziert werden kann, wobei insbesondere Anzahl, Schwere und Rückfallgeschwindigkeit von Straftaten, das Verhalten in der Haft, die Nutzung von Therapieangeboten bei suchtbedingtem Fehlverhalten, die in der Straftat zum Ausdruck gekommene Persönlichkeitsstruktur und die Einflüsse des sozialen Umfelds zu berücksichtigen sind.136 Liegt die Ursache der begangenen Straftat(en) in einer Suchtmittelabhängigkeit, genügt nicht schon eine vorhandene Therapiewilligkeit oder die Aufnahme einer Behandlung, sondern es bedarf des erfolgreichen Abschlusses der Therapie verbunden mit einer dauerhaften Korrektur der vorhandenen Handlungs- und Verhaltensmuster, sodass tatsächlich ein künftiges drogen- und straffreies Leben glaubhaft gemacht werden kann.137 Insoweit darf nicht unbetont bleiben, dass eine – oben angesprochene – Negation des § 64 StGB infolge bestehender Sprachfremdheit (vgl. näher 3.) folglich maßgeblichen Einfluss auf das Aufenthaltsrecht hat. Eine strafgerichtliche Bewährungsentscheidung hat keinen bindenden, jedoch indiziellen Charakter.138 Sie stellt für die zuständige Ausländerbehörde eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr und damit zugleich für die Erforderlichkeit der Ausweisung dar. Zwar muss berücksichtigt werden, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen, jedoch hat man der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr wesentliche Bedeutung beizumessen; von ihr ist grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abzuweichen (z. B. wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das 135 Brühl,
JuS 2016, 23 (27). 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, NVwZ 2017, 229 (230); BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1885); BayVGH 07.03.2017 – 10 B 16.992, BeckRS 2017, 105527 Rn. 28; Brühl, JuS 2016, 23 (25). 137 BayVGH 13.03.2017 – 10 ZB 17.226, BeckRS 2017, 105552 Rn. 9. 138 BVerfG 27.08.2010 – 2 BvR 130/10, NVwZ 2011, 35 (36 f.); BVerfG 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, NVwZ 2017, 229 (230); BVerwG 13.12.2012 – 1 C 20/11, NVwZ 2013, 733 (735); BVerwG 15.01.2013 – 1 C 10/12, NVwZ-RR 2013, 435 (436); BayVGH 12.07.2016 – 10 B 14.1854, BeckRS 2016, 51737 Rn. 8; BayVGH 28.03.2017 – 10 BV 16.1601, BeckRS 2017, 108379 Rn. 38; Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (419); Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 2017, Rn. 181. 136 BVerfG
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genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt).139 In diesem Zusammenhang ist auch die Art und Weise der Bewährungsentscheidung in den Blick zu nehmen: Während die Strafaussetzung gem. § 56 StGB eine positive Legalprognose erfordert, hat eine Reststrafenbewährung nach § 57 StGB, die im Gegensatz zu § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB danach fragt, ob die Haftentlassung verantwortet werden kann, ausweisungsrechtlich geringeres Gewicht.140 Die aufgrund vollständiger Verbüßung einer zweijährigen Haftstrafe gem. § 68f Abs. 1 Satz 1 StGB kraft Gesetzes eintretende Führungsaufsicht führt wiederum selbst bei Negation einer Entscheidung nach § 68f Abs. 2 StGB (Anordnung des Entfallens der Maßregel, wenn zu erwarten ist, dass der Beschuldigte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird) nicht zwangsläufig zur aufenthaltsrechtlichen Prognose einer hohen Wiederholungsgefahr, da es sich insoweit um eine bewusst eng verstandene Ausnahmevorschrift handelt, bei der ein erhöhter Wahrscheinlichkeitsgrad vorliegen muss und Zweifel zulasten des Verurteilten gehen.141 Abgesehen von den in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten Personengruppen vermag eine Ausweisungsentscheidung zudem auf generalpräventiven Erwägungen der Abschreckung beruhen, wenn eine solche nach der allgemeinen Lebenserfahrung dazu dienen kann, andere Ausländer zu einem ordnungsgemäßen Verhalten während ihres Aufenthalts in der BRD anzuhalten.142 139 BVerfG 27.08.2010 – 2 BvR 130/10, NVwZ 2011, 35 (37); BVerfG 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, NVwZ 2017, 229 (230); BVerwG 13.12.2012 – 1 C 20/11, NVwZ 2013, 733 (735); Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 (419); Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1028. 140 BVerfG 27.08.2010 – 2 BvR 130/10, NVwZ 2011, 35 (37); BayVGH 02.05.2017 – 19 CS 16.2466, BeckRS 2017, 114334 Rn. 6, 37: „sind die Prognosen im Strafvollstreckungsrecht und im Ausweisungsrecht nach unterschiedlichen Maßstäben und für unterschiedliche Zeithorizonte zu erstellen, sodass einer Strafrestaussetzung keineswegs die Auffassung zu entnehmen ist, der Verurteilte sei nachhaltig resozialisiert“; BayVGH 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636, BeckRS 2017, 128927 Rn. 17; VG Saarlouis 07.06.2017 – 6 K 801/15, BeckRS 2017, 116406 Rn. 36. 141 VGH Mannheim 15.11.2017 – 11 S 1555/16, BeckRS 2017, 140682 Rn. 62 ff. 142 BVerwG 12.07.2018 – 1 C 16.17, BeckRS 2018, 18382: „Generalpräventive Gründe können auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründen. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse muss zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch aktuell sein. Das ist nicht der Fall, wenn es durch Zeitablauf so sehr an Bedeutung verloren hat, dass es bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht mehr herangezogen werden kann. Für Ausweisungsinteressen, die an strafbares Verhalten anknüpfen, bieten die strafrechtlichen Verjährungsfristen der §§ 78 ff. StGB einen geeigneten Rahmen zur Konkretisierung. Bei abgeurteilten Straftaten stellen die Fristen für ein Verwertungsverbot nach § 51 BZRG in jedem Fall die Obergrenze dar“; BayVGH 17.03.2017 – 10 C 17.373, BeckRS 2017, 105452 Rn. 5; OVG Koblenz 23.10.2018 – 7 A 10866/18, BeckRS 2018, 28213; Brühl, JuS 2016, 23 (25);
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Die den Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG ergänzende Vorschrift des § 53 Abs. 3 AufenthG legt erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen für mehrere rechtlich privilegierte Personengruppen fest, nämlich für Ausländer, die als Asylberechtigte anerkannt sind, die im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießen, die einen von einer Behörde der BRD ausgestellten Reiseausweis als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention besitzen, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/ Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder die (von der BRD erhalten143) eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt (EU) besitzen.144 Diese dürfen nur ausgewiesen werden, wenn deren persönliches Verhalten über die soziale Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, hinausgehend eine Beeinträchtigung von besonders hohem Schweregrad aufweist, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.145 b) Art und Ausmaß der Berücksichtigung bei der konkreten Strafzumessung Die Frage, inwieweit etwaige aufenthaltsrechtliche Konsequenzen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, ist in Rechtsprechung und Literatur durchaus umstritten. aa) Befürwortende Auffassung Nach einer teilweise vertretenen Ansicht ist innerhalb der sog. „Spielraumtheorie“ die Sach- und Rechtslage im Aufenthaltsvorgang als bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt anzusehen.146 Es handele sich auch insoweit Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1026; a. A. noch VGH Mannheim 19.04.2017 – 11 S 1967/16, BeckRS 2017, 109939 (Vorinstanz zu BVerwG 12.07.2018 – 1 C 16.17). 143 VG München 06.07.2017 – M 10 K 16.4655, BeckRS 2017, 121306 Rn. 20. 144 BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1889). 145 EuGH 24.06.2015 – C-373/13, BeckRS 2015, 80822 Rn. 77 ff.; BVerwG 22.02.2017 – 1 C 3/16, BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883 (1890); BayVGH 07.03.2017 – 10 B 16.992, BeckRS 2017, 105527 Rn. 39 f.; BayVGH 28.03.2017 – 10 BV 16.1601, BeckRS 2017, 108379 Rn. 41; BayVGH 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469, FD-StrafR 2017, 398761 = BeckRS 2017, 131754 Rn. 9; Bauer/BeichelBenedetti, NVwZ 2016, 416 (419). 146 Epik, StV 2017, 268 (269); Nitz, StraFo 2002, 316 (317); Ventzke, StV 1997, 184 (185); Jung, Praxiswissen Strafverteidigung von Ausländern, 2009, Rn. 222.
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um eine Wirkung, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sei, § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB. Zur Unterstützung der Argumentation wird ein Vergleich mit der Rechtsprechung zur Berücksichtigung von – ebenfalls an bestimmte Strafhöhen anknüpfenden – beamtenoder berufsrechtlichen Nebenfolgen einer Verurteilung bemüht.147 Insoweit sei jedoch keine umfassende aufenthaltsrechtliche Prüfung durch das Strafgericht erforderlich, sondern eine überschlägige Prüfung der Merkmale der §§ 54, 55 AufenthG, ob eine Ausweisung naheliegt.148 bb) Herrschende, ablehnende Ansicht Dem tritt die derzeit herrschende Auffassung entgegen, welche durch folgende Passage aus einem aktuellen Urteil des 4. Strafsenats des BGH treffend zusammengefasst wird: „Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich keine bestimmenden Strafmilderungsgründe. Dies war bereits zur früheren ausländerrechtlichen Rechtslage auch für die damals vorgesehene zwingende Ausweisung anerkannt und gilt nunmehr vor dem Hintergrund der seit 17. März 2016 geltenden Regelung des § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG, nach der bei einer Ausweisungsentscheidung generell eine Abwägung zwischen Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) und Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) vorzunehmen ist, umso mehr. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung ist nur gerechtfertigt, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen (…) Solche einzelfallbezogenen Umstände hat das Landgericht weder dargetan, noch sind sie angesichts des Umstands, dass gegen den Angeklagten bereits seit dem 23. Mai 2013 eine Ausweisungsverfügung vorliegt und die dagegen eingereichte Klage am 20. Februar 2015 abgewiesen worden ist, sonst ersichtlich.“149
Die Berücksichtigung aufenthaltsrechtlicher Folgen als bestimmende Strafzumessungsgründe i. S. v. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO sei danach zu verneinen, soweit nicht persönliche oder geschäftliche Beziehungen bestehen, deren Beendigung infolge einer Ausweisung eine außergewöhnliche Härte darstellen würde.150 Hierzu führt man aus, dass der Gesetzgeber ganz be147 Epik, StV 2017, 268 (269); Nitz, StraFo 2002, 316 (318); Ventzke, StV 1997, 184 (185). 148 Epik, StV 2017, 268 (272). 149 BGH 26.10.2017 – 4 StR 259/17, NStZ-RR 2018, 41 = BeckRS 2017, 131919 Rn. 11. 150 BGH 11.09.1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; BGH 17.05.2000 – 3 StR 167/00, NStZ-RR 2000, 297 (298); BGH 05.12.2001 – 2 StR 273/01, NStZ 2002, 196; BGH 29.07.2010 – 1 StR 349/10, BeckRS 2010, 19612; BGH 13.10.2011 – 1 StR 407/11, NStZ-RR 2012, 42 (43); BGH 12.01.2016 – 5 StR 502/15, StV 2017, 379 = BeckRS 2016, 14603; BGH 26.10.2017 – 4 StR 259/17, NStZ-RR 2018, 41 =
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wusst bestimmte Strafhöhen als Anknüpfungspunkte für das aufenthaltsrechtliche Verwaltungshandeln gewählt habe, was nicht durch eine mildere Strafzumessung unterlaufen werden dürfe.151 Ergänzend wird zur Begründung darauf hingewiesen, dass insbesondere nach der gesetzlichen Neuregelung des Aufenthaltsgesetzes generell eine umfassende Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen vorzunehmen sei.152 cc) Bewertung Für eine umfassende Bewertung und Einordnung sind die unterschiedlichen Argumente jedes für sich genau zu analysieren. Ausweislich § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB sind die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. In den Urteilsgründen angegeben werden müssen jedoch nur die Umstände, welche für die Zumessung bestimmend gewesen sind, § 267 Abs. 3 Satz 1 StGB. Eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist weder vorgeschrieben noch möglich, wobei die Entscheidung darüber, was als wesentlicher Strafzumessungsgrund anzusehen ist, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls vom Tatrichter getroffen wird.153 Soweit Valerius anführt, es dürfe „nicht übersehen werden, dass drohende außerstrafrechtliche Konsequenzen den Täter zumindest einmal nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten haben“,154 könnte man mit diesem Argumentationsschema auch jedwede Bewährungsentscheidung gem. § 56 StGB negieren. Zudem würde der Fokus falsch positioniert. Bei der BerücksichtiBeckRS 2017, 131919; BGH 15.02.2018 – 4 StR 506/17, NStZ 2018, 469 (470 f.); BGH 23.08.2018 – 3 StR 149/18, BeckRS 2018, 26591 Rn. 27; BeckOK-StGB/ von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 56; Fischer, § 46 Rn. 43c; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 158; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 212; Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 720; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 303. 151 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 303: „Durch eine milde Strafzumessung die Voraussetzungen für ein Einschreiten anderer Behörden entfallen zu lassen, stellte zudem jedenfalls dann einen Eingriff in deren Zuständigkeitsbereich dar, wenn die Behörden einen Ermessensspielraum haben und demzufolge selbst besondere Härten für den Betroffenen bedenken können.“ 152 BGH 12.01.2016 – 5 StR 502/15, StV 2017, 379 = BeckRS 2016, 14603; BGH 26.10.2017 – 4 StR 259/17, NStZ-RR 2018, 41 = BeckRS 2017, 131919 Rn. 11; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 720. 153 BGH 16.04.2015 – 3 StR 638/14, NStZ-RR 2015, 240; BGH 12.05.2016 − 4 StR 487/15, NStZ 2016, 605 (606 f.); BGH 24.10.2017 – 1 StR 226/17, NStZ-RR 2018, 56. 154 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 304.
I. Die Berücksichtigung der Sprach- und Ortsfremdheit261
gung außerstrafrechtlicher Konsequenzen geht es nicht um eine spezialpräventive Motivation für den Beschuldigten,155 sondern um die Frage, ob neben der Primärstrafe noch weitere Aspekte in die Waagschale einer gerechten Tatvergeltung einzulegen sind. Es trifft zwar zu, dass – anders als etwa die Strafempfindlichkeit – die besondere Härte einer möglichen aufenthaltsrechtlichen Folge absolut ist, d. h. bei Unterschreiten der maßgeblichen Strafgrenze entfiele der Nachteil komplett, sodass der Beschuldigte in letzter Konsequenz sogar milder bestraft würde als ein vergleichbarer inländischer Täter, dem keine Ausweisung droht.156 Allerdings bedarf dieses Argument in verschiedener Hinsicht der Abschwächung. Zunächst kann eine erkannte Strafe wegen der außerstrafrechtlichen Aufenthaltskonsequenzen durchaus geringer ausfallen, gleichwohl jedoch noch über den maßgeblichen Grenzwerten des Aufenthaltsgesetzes liegen, sodass zugunsten des Beschuldigten eben gerade nur berücksichtigt wird, dass ihn tatvergeltend noch ein weiteres „Übel“ trifft. Sollte tatsächlich die Strafe dergestalt abgemildert werden, dass die aufenthaltsrechtliche Gefahrenquelle für den ortsfremden Beschuldigten gänzlich wegfällt, könnte dies gegebenenfalls über § 41 StGB (Geldstrafe neben Freiheitsstrafe bei tatsächlicher oder beabsichtigter Bereicherung durch die Tat), § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB (gesonderte Geldstrafe im Rahmen einer Gesamtstrafenbildung) sowie neuerdings explizit auch mit einem Fahrverbot gem. § 44 StGB kompensiert werden. Es lohnt zudem der angestrengte Vergleich mit der Berücksichtigung beamtenrechtlicher Folgen. Gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG endet das Beamtenverhältnis mit der Rechtskraft des Urteils, wenn der Beamte wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr oder wegen einer vorsätzlichen Tat, die nach den Vorschriften über Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit oder, soweit sich die Tat auf eine Diensthandlung im Hauptamt bezieht, Bestechlichkeit, strafbar ist, zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird. Ähnliche Regelungen enthalten § 48 Satz 1 Soldatengesetz sowie § 24 DRiG. 155 So aber ausdrücklich Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 304: „bleibt allenfalls denkbar, sich auf spezialpräventive Erwägungen zu berufen. Denn ein Täter könnte sich allein wegen der drohenden außerstrafrechtlichen Konsequenzen, denen er nur infolge der Strafmilderung noch entgeht, in Zukunft zu einem normgetreuen Verhalten in der Gesellschaft veranlasst sehen. Mögliche außerstrafrechtliche Folgen wie die Ausweisung des Täters ließen also zwar nicht die Strafe selbst härter erscheinen, verstärkten allerdings die damit verbundene Warnung vor der Begehung weiterer Straftaten und erhöhten die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr des Täters in die Legalität.“ 156 Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 303.
262
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Diese, über den bloßen Verlust des Arbeitsplatzes hinausreichenden Auswirkungen einer rechtskräftigen Verurteilung in bestimmter Art und Höhe sind bei der Festsetzung der schuldangemessenen Strafe zu berücksichtigen.157 Der entscheidende Unterschied zu potentiellen aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen besteht indessen darin, dass die genannten beamtenrechtlichen Folgen kraft Gesetzes mit der Rechtskraft der Verurteilung eintreten, wohingegen sich im Aufenthaltsgesetz eine umfassende Verhältnismäßigkeitsabwägung anschließt, in welche der strafrechtliche Richterspruch nur als ein Teilstück einfließt, bei der Härten und Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigt werden können und deren Ergebnis noch dazu für den Tatrichter zum Zeitpunkt der Urteilsfällung kaum zuverlässig prognostizierbar respektive antizipierbar ist.158 Gleichwohl ist partiell anerkannt, dass auch lediglich mögliche Beeinträchtigungen des zukünftigen Lebenswegs zu berücksichtigen sind.159 Anders als das Strafrecht dient die Ausweisung nicht der (rückwärtsgewandten) Ahndung vergangenen Verhaltens, sondern der (zukunftsorientierten) Vorbeugung einer drohenden Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zum Schutz der Interessen der Bundesrepublik Deutschland und 157 BGH 15.11.2012 – 3 StR 199/12, NJW 2013, 1892; BGH 14.12.2017 – 3 StR 544/17, BeckRS 2017, 140836; KG 27.08.2013 – (4) 161 Ss 101/13 (116/13), BeckRS 2013, 18258; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 737; krit. Streng, NStZ 1988, 485. 158 A. A. Epik, StV 2017, 268 (272): „Zum anderen ist auf die zuvor getroffene Einordnung aufenthaltsrechtlicher Folgen als Strafzumessungskriterium zu verweisen: wenn die drohende Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland das zum Schuldausgleich erforderliche Strafmaß reduzieren kann, weil der Nachteil der Ausweisung die Wirkung der Strafe auf den Täter verstärkt, gilt dies unabhängig davon, ob der Ausweisungsentscheidung eine Abwägung vorausgegangen ist. Die Belastung für den von der Ausweisung Betroffenen bleibt unverändert. Die Begründung des Ausweisungsinteresses steht in den Fällen des § 54 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AufenthG zudem weiterhin in unmittelbare[m] Zusammenhang mit der Strafzumessungsentscheidung des Strafgerichts.“ 159 Vgl. etwa OLG Nürnberg 30.08.2006 – 2 St OLG Ss 191/06, NStZ 2007, 406: „Nach § 46 I 2 StGB sind die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu erwarten sind, zu berücksichtigen. Hierzu gehört auch, dass eine Geldstrafe, die 90 Tagessätze überschreitet, in das Führungszeugnis aufzunehmen ist (…), und dass dieser Umstand die beruflichen Chancen eines jungen Menschen, der gerade erst am Beginn seines Berufsweges steht, erheblich beeinträchtigen kann“; OLG Frankfurt 20.12.2017 – 1 Ss 174/17, NJW 2018, 715: „Die Verurteilung eines Angeklagten, der Humanmedizin im siebten Semester studiert, zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen kann wegen § 3 I Nr. 2 Var. 2 BÄO erhebliche Auswirkungen auf die Beurteilung der Zuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs haben und sich auf die Chancen eines Bewerbers am Arbeitsmarkt auswirken. Deshalb müssen sich die Strafzumessungserwägungen eines Urteils mit diesen Auswirkungen auseinandersetzen.“
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 263
seiner Bürger.160 Insgesamt wird man zutreffenderweise festzuhalten haben, dass durch die Strafgerichte eine umfassende aufenthaltsrechtliche Einzelfallbetrachtung aufgrund der mit ihr verbundenen Unwägbarkeiten nicht vorzunehmen ist. Allerdings enthält § 54 AufenthG bestimmte Anknüpfungstatsachen und insbesondere festgelegte Strafhöhen, bei denen ein (besonders) schwerwiegendes Ausweisungsinteresse anzunehmen ist. Stehen dem nicht sofort erkennbare, ersichtlich überwiegende Bleibeinteressen entgegen, ist die drohende Ausweisung ein potentiell-mittelbares Übel, deren möglicher Eintritt bei der Strafzumessung einzustellen ist. Jedoch handelt es sich anders als bei beamtenrechtlichen Konsequenzen um keine zwingende Folge qua Gesetzes. Das Aufenthaltsgesetz sieht die Notwendigkeit der umfassenden Abwägung vor, d. h. es besteht nicht die Gefahr, dass aufgrund einer bestimmten Strafhöhe schematisch das Überwiegen des Ausweisungsinteresses angenommen wird. § 53 Abs. 1 AufenthG dient der Sicherung der inländischen Bevölkerung. Der Gesetzgeber hat stellvertretend für diese bewusst entschieden, dass bei bestimmten erkannten Strafen die nachdrückliche Prüfung mit entsprechender „Vorgewichtung“ erforderlich ist. Diese Prüfung darf man nicht leichtfertig durch eine zu starke Fokussierung auf Täterschutzinteressen abschneiden. Folglich ist dem zusammenfassenden Leitsatz des BGH beizupflichten, wonach etwaige aufenthaltsrechtliche Konsequenzen regelmäßig jedenfalls keine bestimmenden Strafzumessungskriterien i. S. d. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO sind.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigtenbei der Strafverwirklichung (Strafvollstreckung und Strafvollzug) Wurde der Täter rechtskräftig verurteilt, bedarf es zur Realisierung der angeordneten Rechtsfolge der Strafverwirklichung, welche sich in die Strafvollstreckung und (bei freiheitsentziehenden Sanktionen) den Strafvollzug untergliedert.161 1. Strafvollstreckung gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte Die Strafvollstreckung ist eine Aufgabe der Gerichtsverwaltung, gehört zur Rechtspflege und stellt einen Teil des Strafverfahrens dar.162 Sie regelt zusammenfassend alle Maßnahmen, die zur Einleitung und Überwachung des 160 Brühl,
JuS 2016, 23. Strafvollzug, 2015, Rn. 10. 162 Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 1. 161 Laubenthal,
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Vollzugs eines rechtskräftigen Urteils erforderlich sind und dient insoweit nach der Rechtskraft der richterlichen Entscheidung deren Verwirklichung.163 Im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege ist die Strafvollstreckung mit Nachdruck und Beschleunigung zu betreiben, § 2 Abs. 1 StVollstrO. Daneben ist jedoch die Wahrung der Grundrechte im Einzelfall erforderlich, sodass etwaige Gesuche und Eingaben von Verurteilten zwar grundsätzlich keine verzögernde Wirkung entfalten (§ 2 Abs. 2 StVollstrO), gleichwohl aber sorgfältig auf ihre Substanz zu prüfen und etwaige Ermittlungen möglichst sofort – gegebenenfalls auch telefonisch – durchzuführen sind.164 § 140 Abs. 2 StPO findet entsprechende Anwendung, sodass ein Pflichtverteidiger wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder bei Unfähigkeit zur Selbstverteidigung zu bestellen ist, wobei in sämtlichen Fällen der Grundsatz der abschnittsweisen Bestellung gilt, d. h. eine solche erfolgt nur für die jeweils konkret anstehende Prüfung, nicht für das gesamte Vollstreckungsverfahren.165 Dabei reicht allein die Tatsache, dass ein Verurteilter der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, für sich genommen nicht aus, um die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigung zu begründen, wenn diese durch die Beiordnung eines Dolmetschers vollständig ausgeglichen werden kann.166 Die Prüfung der Schwere des Vollstreckungsfalles orientiert sich am Prüfungsgegenstand, sodass namentlich bei Ermessensentscheidungen der Vollstreckungsbehörde sorgfältig Acht zu geben ist, ob der Betroffene die bestehenden ausländer- und strafvollstreckungsrechtlichen Konsequenzen überblickt oder etwa infolge einer psychischen Labilität die alleinige Zuweisung eines Dolmetschers nicht hinreicht.167 So sind beispiels163 HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 4; Kett-Straub/Streng, Strafvollzugsrecht, 2016, S. 3; Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 1 ff. 164 HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 8. 165 OLG Frankfurt 26.05.2003 – 3 Ws 618/03, NStZ-RR 2003, 252; OLG Zweibrücken 28.01.2010 – 1 Ws 17/10, NStZ 2010, 470; LG Hamburg 30.06.2016 – 605 StVK 272/16, StV 2018, 156; Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 33 f.; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 10. 166 OLG Hamm 27.04.1999 – 1 Ws 111/99, NStZ-RR 1999, 319; OLG Oldenburg 07.12.2009 – 1 Ws 670/09, StraFo 2010, 115. 167 OLG Nürnberg 14.10.2008 – 2 Ws 445/08, NStZ-RR 2009, 125; OLG Oldenburg 07.12.2009 – 1 Ws 670/09, StraFo 2010, 115; OLG Stuttgart 25.09.2017 – 4 Ws 377/17, StV 2018, 379 (380): „Dabei fordert das Strafvollstreckungsverfahren als Beschlussverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße als das Erkenntnisverfahren. Aus diesem Grund sind im Vollstreckungsverfahren die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 StPO einschränkend zu beurteilen. Eine Beiordnung kommt daher regelmäßig nur in Ausnahmekonstellationen von besonderem Gewicht oder besonderer Komplexität, etwa bei Fragen der Überprüfung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, bei komplexen Strafzeitberechnungen, bei Vollstreckungshilfeverfahren oder rechtlich oder tatsächlich schwierigen oder folgenreichen Konstellationen in Betracht“; LG Hamburg 30.06.2016 – 605 StVK
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weise i. R. d. § 456a StPO die Interessen des Verurteilten gegen die gegen ein Absehen von der Vollstreckung sprechenden Gründe abzuwägen und hierbei (gegebenenfalls komplexe) Überlegungen zu den Umständen der Tat, der Schwere der Schuld, der Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, der persönlichen Lage des Verurteilten sowie dem öffentlichen Interesse im Hinblick auf generalpräventive Gesichtspunkte anzustellen und auch die familiäre und soziale Lage des sprach- und ortsfremden Beschuldigten zu berücksichtigen. Die Diagnose etwa einer langjährigen dissozial-narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder sonstige erforderliche fachpsychiatrische Prognosen begründen ebenfalls die Schwierigkeit des Vollstreckungsfalles und gebieteten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.168 a) Übersetzungserfordernisse in der Strafvollstreckung Der Anwendungsbereich des § 187 Abs. 2 GVG als auch der RL 2010/64/ EU ist nach (noch) h. M. auf das strafrechtliche Erkenntnisverfahren begrenzt und betrifft nicht (mehr) die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile.169 Bezüglich Art. 1 Abs. 2 RL 2010/64/EU besteht insoweit kein Diskussionsbedarf, da die Beschränkung in der Norm explizit vorgenommen wird. Hinsichtlich § 187 Abs. 2 GVG wird unter anderem ebenfalls auf den Wortlaut rekurriert, welcher nur von „Beschuldigter“ spreche.170 Dem ist jedoch zunächst entgegenzuhalten, dass der „Beschuldigte“ gemeinhin als strafprozessualer Oberbegriff auch den „Angeschuldigten“, „Angeklagten“ und „Verurteilten“ umfasst.171 Zudem bringt § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG eigens zum Ausdruck, dass er genauso den Verurteilten erfassen möchte,172 und § 187 Abs. 2 GVG wie272/16, StV 2018, 156; LG Bochum 02.02.2018 – 8 KLs 46 Js 244/15 – 24/17, StV 2018, 340. 168 OLG Nürnberg 17.01.2017 – 1 Ws 540/16, StV 2018, 363; OLG Nürnberg 16.03.2017 – 1 Ws 109/17, StV 2018, 340; OLG Hamburg 21.12.2017 – 2 Ws 206– 207/17, StV 2018, 143. 169 OLG Köln 28.08.2013 – 2 Ws 426/13, StV 2014, 552; OLG Zweibrücken 24.04.2017 – 1 Ws 118/17, BeckRS 2017, 115887; LG Frankfurt 05.11.2014 – 5/08 Qs 19/14, BeckRS 2014, 20812; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 7; a. A. Kühne, StV 2014, 553 (554): Entscheidung zur weiteren Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt stellt sich als straftatbezogene erweiterte Freiheitsentziehung dar und ist daher (in analoger Anwendung) zu übersetzen; krit. auch LR-StPO/Esser, Art. 6 EMRK Rn. 842: „Zu beachten ist allerdings, dass ausländische Inhaftierte ihre Rechtsschutzmöglichkeiten im Strafvollzug häufig gar nicht kennen. Eine Erstreckung der Dolmetscherunterstützung auch auf diese Phase des Strafverfahrens ist daher menschenrechtlich dringend geboten“; Hillenbrand, ZAP 2018, Fach 22, 921 (922). 170 LG Frankfurt 05.11.2014 – 5/08 Qs 19/14, BeckRS 2014, 20812. 171 BeckOK-StPO/Monka, § 157 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 157 Rn. 5. 172 SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 1.
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derum stellt nur eine beispielhaft-abgestufte Konkretisierung des allgemeinen Absatzes 1 dar. Der Gesetzgeber dürfte in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG abweichend von § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG mutmaßlich deshalb allein „Beschuldigter“ formuliert haben, weil die genannten Schriftstücke (freiheitsentziehende Anordnungen, Anklagen, Strafbefehle, nicht rechtskräftige Urteile) solche des Erkenntnisverfahrens darstellen. Somit müssen nach richtig verstandener Lesart für den sprachfremden Verurteilten all diejenigen Schreiben übersetzt werden, deren schriftliche Kenntnis zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Den maßgeblichen Briefen sind einfache Übersetzungen beizufügen, einer amtlichen Beglaubigung der Übersetzung bedarf es nicht.173 b) Vollstreckungsverlauf aa) Vollstreckung deutscher Urteile im Ausland, § 71 IRG Der Wille zu einem möglichst resozialisierenden Strafvollzug gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte gepaart mit den fortbestehenden praktischen Beschwernissen sowie personellen und finanziellen Zwängen führt zwangsläufig zu dem Gedanken einer vermehrten Vollstreckung im Heimatland.174 § 71 Abs. 1 IRG ermöglicht die Übertragung einer in Deutschland verhängten Sanktion, wenn die verurteilte Person in dem ausländischen Staat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat oder sich dort aufhält und nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist (Nr. 1), oder die Vollstreckung in dem ausländischen Staat im Interesse der verurteilten Person oder im öffentlichen Interesse liegt (Nr. 2). § 71 Abs. 1 IRG regelt den Fall der Abgabe der Strafvollstreckung. Gesetzeszwecke des § 71 IRG und seiner spiegelbildlichen Entsprechung in §§ 48 ff. IRG sind gleichberechtigt sozialstaatliche Fürsorgepflicht, Härtefallausgleich, Resozialisierung und Entlastung der nationalen Haftanstalten von den mit dem Vollzug von Sprach- und Ortsfremden verbundenen Belastungen in finanzieller und personeller Hinsicht.175 Gleichzeitig dient die Vollstre173 HdbStA/Weyde,
7. Teil 1. Kap. Rn. 432. StV 2016, 519; Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (317 ff.); ders., Strafvollzug, 2015, Rn. 337 ff.; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 106 ff.; Schwind, BöhmFS, 1999, S. 323 (358). 175 Grützner/Pötz/Kreß/Grotz, § 71 IRG Rn. 1; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Vor § 48 IRG Rn. 4a. 174 Hüttemann,
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ckung im ersuchten Staat fernerhin der Verwirklichung des innerstaatlichen Strafanspruchs.176 Als kritisch wird insoweit – insbesondere in Anbetracht der Subjektstellung des Beschuldigten – eingeschätzt, dass es nach dem Gesetzeswortlaut allein im Entscheidungsspektrum der Vollstreckungsbehörde liegt, ob eine Strafverbüßung in Deutschland oder im Heimatstaat erfolgen soll, wohingegen der Verurteilte nur ein Anregungsrecht habe.177 Das BVerfG hat hierzu wie folgt Stellung bezogen: „Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und das Überstellungsübereinkommen veranlassen ein Verfahren, in dem die Grundrechtsposition des Verurteilten neben dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu berücksichtigen ist. Die materielle Regelung der Überstellung eines Verurteilten in sein Heimatland zum Zweck des Vollzugs der gegen ihn verhängten Strafe findet sich zunächst in § 71 IRG. Nach dieser Vorschrift kann mit dem Vollstreckungshilfeersuchen sowohl das Interesse des Verurteilten wie auch das öffentliche Interesse aufgegriffen werden (§ 71 I 1 Nr. 2 IRG). Das Überstellungsübereinkommen ändert an dieser Rechtslage nichts. […] Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, ob bei der Bewilligungsbehörde ein Überstellungsersuchen angeregt werden soll, stellt sich als Rechtsakt mit unmittelbarer Außenwirkung für den betroffenen Verurteilten dar; sie ist nicht bloßes Verwaltungsinternum. Die Bewilligungsbehörde wird nur tätig, wenn eine entsprechende Anregung der StA als Vollstreckungsbehörde vorliegt. Ihr abschlägiger Bescheid hat abschließende Wirkung sowohl gegenüber der Bewilligungsbehörde als auch gegenüber dem Verurteilten. Die von der Vollstreckungsbehörde zu treffende Entscheidung wirkt sich mithin unmittelbar auf das grundrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Verurteilten (…) aus. Deswegen verbürgt Art. 19 IV GG den gerichtlichen Rechtsschutz zur Überprüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.“178
Die Möglichkeit der Überstellung eines Verurteilten ist danach in jedem Einzelfall – gerichtlich nachprüfbar über §§ 23 ff. EGGVG – unter Berücksichtigung der individuellen Persönlichkeit (Sprachbarriere, Entfremdung von der heimischen Kultur und fehlende soziale Kontakte), des Vollstreckungsverhaltens, des Gewichts der abgeurteilten Tat samt notwendiger Erfüllung der inländischen Strafzwecke (Aspekt der wirksamen Strafverfolgung und ‑vollstreckung) sowie der Vollstreckungspraxis des jeweiligen Heimatstaates unter allgemeiner Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit neu zu beurteilen.179 10.10.1985 – 4 ARs 18/85, NStZ 1986, 77; Groß, StV 1987, 36 (39). § 71 IRG Rn. 3; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, § 71 IRG Rn. 10 ff. 178 BVerfG 18.06.1997 – 2 BvR 483/95, 2 BvR 2501/95, 2 BvR 2990/95, BVerfGE 96, 100 = NStZ 1998, 140 (141 f.). 179 OLG Frankfurt 12.08.2002 – 3 VAs 11/02, NStZ-RR 2002, 310 (312); OLG Celle 27.06.2008 – 1 ARs 30/08 (Ausl), NStZ-RR 2008, 345; Ambos/König/Rackow/ 176 BGH
177 Grützner/Pötz/Kreß/Grotz,
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In der Theorie mag es sich bei dem skizzierten Vorgehen der Abgabe der Strafvollstreckung an den Heimatstaat um eine sinnvolle Maßnahme handeln, schließlich wird sowohl auf Interessen des Urteilsstaats wie auch solche des ortsfremden Beschuldigten Rücksicht genommen. Allerdings ist zu beachten, dass der – selbst innereuropäische – Rechtshilfeverkehr mit erheblichem formalem wie zeitlichem Aufwand verbunden ist, im Ergebnis häufig trotz entsprechender Bemühungen nur unzulänglich funktioniert und an beträchtlichen organisatorischen Umsetzungsdefiziten leidet.180 bb) Absehen von der Vollstreckung bei Auslieferung, Überstellung oder Ausweisung, § 456a StPO i. V. m. § 17 StVollstrO Gem. § 456a Abs. 1 StPO kann die Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung absehen, wenn der Verurteilte bestandskräftig ausgeliefert, überstellt oder ausgewiesen wird, weil in diesen Fällen der deutsche Strafvollzug entlastet werden soll und eine verminderte Gefahr erneuter Deliktsbegehung in der BRD besteht (Gedanke der Spezialprävention).181 § 456a StPO sieht keine Mindestverbüßungsdauer vor, jedoch wird regelmäßig ein Absehen frühestens zum Halbstrafenzeitpunkt in Betracht kommen.182 Die von Amts wegen zu treffende Entscheidung (der Verurteilte kann einen Antrag stellen) hat die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Höhe des bisher verbüßten Strafteils, die familiäre und soziale Lage des Beschuldigten sowie das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen VollstreJakubetz, § 71 IRG Rn. 174; Grützner/Pötz/Kreß/Grotz, § 71 IRG Rn. 3; Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner, § 71 IRG Rn. 14d; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 427. 180 Grützner/Pötz/Kreß/Grotz, § 71 IRG Rn. 3: „ausschlaggebend dürfte vielmehr der nach wie vor nur höchst unzulänglich funktionierende Vollstreckungshilfeverkehr auch auf vertraglicher Grundlage sein, der nicht nur außerordentlich zeitraubend ist, sondern auch häufig genug an der Vollstreckungspraxis des Heimatstaates des Verurteilten scheitert. Hieran dürfte sich mittel- oder selbst langfristig kaum etwas ändern. Selbst wenn es gelänge, eine Harmonisierung der Strafen und damit einhergehend der Strafvollstreckung zu erreichen – ein Vorhaben, das schon in der Europäischen Union nicht zu realisieren sein dürfte – so wird ein Vollstreckungshilfeverkehr bei freiheitsentziehenden Sanktionen in nennenswertem Umfang an einem Umstand scheitern, der allen Staaten gemeinsam ist, nämlich an der Überbelegung der Vollzugsanstalten“; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 160. 181 OLG Hamm 19.03.2013 – 1 VAs 5/13, BeckRS 2013, 07686; BeckOK-StPO/ Coen, § 456 Rn. 1; BeckOK-Strafvollzug Bund/Walther, § 456a StPO Rn. 1; KKStPO/Appl, § 456a Rn. 1; KMR/Stöckel, § 456a Rn. 1; Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 236 f.; Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 12. 182 Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 237; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 214.
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ckung zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.183 Eine ungünstige Prognose ist nur insoweit einzustellen, als sie durch tatsächliche Anhaltspunkte belegte, konkrete Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Verurteilte alsbald wieder nach Deutschland einreisen und hier mutmaßlich neue Straftaten begehen wird.184 Um die Durchsetzung des deutschen Strafanspruchs zu sichern, regelt § 456a Abs. 2 StPO die Möglichkeit der Nachholung der Vollstreckung für den Fall der Rückkehr und die gleichzeitige Befugnis zum Erlass eines diesbezüglich bedingten Vollstreckungshaftbefehls. Schon aus präventiven Gesichtspunkten sollte hiervon in aller Regel Gebrauch gemacht werden, § 17 Abs. 2 Satz 1 StVollstrO. Der sprachfremde Beschuldigte ist aktenkundig in einer ihm verständlichen Sprache zu belehren, § 456a Abs. 2 Satz 4 StPO i. V. m. § 17 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 StVollstrO; ansonsten wäre ein unmittelbares Nachholen der Vollstreckung unzulässig.185 Darauf, ob eine spätere Wiedereinreise legal oder illegal erfolgt, kommt es nicht an. Die Vorweganordnung gem. § 456a Abs. 2 Satz 3 StPO muss auch keine Begründung enthalten; ohne besondere Umstände verdichtet sich das Vollstreckungsrecht gleichsam zur Vollstreckungspflicht.186 Die Befugnis des § 456a StPO steht selbständig neben der rechtshilferechtlichen Übertragung der Strafvollstreckung auf einen ausländischen Staat gem. § 71 IRG, sodass die Vollstreckungsbehörde innerhalb ihres Ermessens grundsätzlich frei darin ist, welchen Weg sie beschreiten möchte.187 Das Absehen von (weiterer) Vollstreckung nach § 456a StPO ist das schnellere und einfachere Verfahren. Es gleicht in seinen Auswirkungen einer Straf(rest) aussetzung zur Bewährung mit der Einschränkung, bis zur Vollstreckungs183 OLG Nürnberg 14.10.2008 – 2 Ws 445/08, NStZ-RR 2009, 125; OLG Hamm 06.11.2012 – III-1 VAs 104/12, NStZ-RR 2013, 227 (228); OLG Bamberg 17.03.2014 – VAs 2/14, StraFo 2014, 259; KMR/Stöckel, § 456a Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, § 456a Rn. 5; Groß, StV 1987, 36 (39); HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 215. 184 OLG Karlsruhe 25.03.2013 – 2 VAs 5/13, NStZ-RR 2013, 227; OLG Bamberg 17.03.2014 – VAs 2/14, StraFo 2014, 259; Meyer-Goßner/Schmitt, § 456a Rn. 5. 185 LG Bayreuth 26.01.2011 – StVK 1231/10, NStZ-RR 2011, 291; BeckOKStVollstrO/Kaestner, § 17 Rn. 27; Meyer-Goßner/Schmitt, § 456a Rn. 8: „Wird die Belehrung aber nachgeholt, ist die Vollstreckung zulässig, wenn der Verurteilte vor dem weiteren Vollzug der Strafe Gelegenheit hatte, sein Verhalten, insbesondere sein Verbleiben in der BRep, darauf einzurichten“; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 232. 186 OLG Karlsruhe 05.05.2015 – 2 Ws 158/15, NStZ-RR 2015, 264; MeyerGoßner/Schmitt, § 456a Rn. 6. 187 BeckOK-StPO/Coen, § 456 Rn. 2; BeckOK-Strafvollzug Bund/Walther, § 456a StPO Rn. 2; KK-StPO/Appl, § 456a Rn. 1; Jung, StV 2007, 106 (107); HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 212; a. A. (Subsidiarität des § 456a StPO) KMR/ Stöckel, § 456a Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, § 456a Rn. 1; Groß, StV 1987, 36 (39).
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
verjährung nicht in die BRD zurückkehren zu dürfen.188 Mangels Beschwer ist gegen eine absehende Entscheidung nach § 456a StPO kein Rechtsmittel gegeben.189 Demgegenüber liegt das komplexere Überstellungsverfahren nahe bei längeren Strafen, gefährlichen Straftätern oder wenn die Erwartung besteht, dass mit einer alsbaldigen Wiedereinreise zu rechnen ist.190 cc) Vorwegvollzug, § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB Gem. § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB soll das Gericht bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Verurteilte vollziehbar zur Ausreise verpflichtet ist und zu erwarten steht, dass sein Aufenthalt in der BRD während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird. Die entsprechende Anordnung kann auch nachträglich getroffen werden, § 67 Abs. 3 Satz 2 StGB. Hierin ist keine unzulässige Diskriminierung zu sehen,191 denn es handelt sich bei Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht etwa um primär für den Beschuldigten gedachte zügige Therapiemöglichkeiten, sondern um zum Schutz der – deutschen – Allgemeinheit gerechtfertigte, begründungsbedürftige Eingriffe zur Verhinderung erneuter Straffälligkeit gefährlicher Täter.192 dd) Strafrestaussetzung, § 57 StGB Nach dem Vollzug von zwei Dritteln der verhängten Strafe setzt das Gericht die Vollstreckung des verbleibenden Rests mit Einwilligung des Verurteilten zur Bewährung aus, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, § 57 Abs. 1 188 HdbStA/Weyde,
7. Teil 1. Kap. Rn. 425. Frankfurt 08.12.1998 – 3 VAs 38/98, NStZ-RR 1999, 126 (127); OLG Karlsruhe 10.08.2007 – 2 VAs 10/07, NStZ 2008, 222 (223); OLG Stuttgart 04.02.2014 – 4 VAs 1/13, BeckRS 2014, 06742; Meyer-Goßner/Schmitt, § 456a Rn. 9; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (420); a. A. Pfaff, ZAR 2006, 121 (124): „Eine Beschwer, die ihren Grund nicht in der Ausweisung hat, liegt auch darin, dass das Visumverfahren zur Wiedereinreise belastet ist durch den bestehenden Vollstreckungshaftbefehl und den Suchvermerk im Bundeszentralregister. […] Ist absehbar, dass der Verurteilte nach Befristung der Einreise- und Aufenthaltssperre einen Anspruch auf Erteilung eines Visums für einen längerfristigen Aufenthalt geltend machen kann, dann muss ihm die Möglichkeit gegeben sein, eine Absehensanordnung anzufechten, ebenso, wie er anfechten kann, wenn es die Staatsanwaltschaft auf seinen Antrag hin ablehnt von § 456 a StPO Gebrauch zu machen.“ 190 HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 425. 191 A. A. Jung, StV 2012, 212 (215). 192 MüKo-StGB/van Gemmeren, § 64 Rn. 71; Basdorf/Schneider/König, Rissingvan Saan-FS, 2011, S. 59 (67). 189 OLG
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Satz 1 StGB. Bei dieser Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände der Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind, § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB. Eine positive Entscheidung setzt in diesem Kontext keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraus, sondern das Bestehen einer naheliegenden Aussicht genügt.193 An diese Legalitätserwartung sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger das im Falle eines Rückfalls bedrohte Rechtsgut ist.194 Das (fortbestehende) Leugnen der Tat stellt keinen Hinderungsgrund dar, solange nicht die mangelnde Schuldverarbeitung ihrerseits die Gefahr der Wiederholung in sich birgt und das bedrohte Rechtsgut von hohem Rang ist.195 (1) Prognose(er)stellung für ortsfremde Beschuldigte Das in § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB genannte „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit“ ist nach herkömmlicher Sichtweise auf die Gesellschaft der BRD bezogen, in Anbetracht der zunehmenden europäischen Integration aber auf die anderen Mitgliedstaaten der EU zu erstrecken.196 Falls das Gericht seine negative Entscheidung gem. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB (auch) auf die fehlende Erprobung des Gefangenen im Rahmen von Vollzugslockerungen (deren Gewährung bei Ortsfremdheit wegen der häufig im Raum stehenden aufenthaltsrechtlichen Ungewissheiten in der Praxis durchaus „gehemmt“ ist197) stützen will, muss zuvor unabhängig von 193 BVerfG 11.01.2016 – 2 BvR 2961/12, 2 BvR 2484/13, StV 2018, 362; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 57 Rn. 7; Fischer, § 57 Rn. 14. 194 BGH 25.04.2003 – 1 AR 266/03, NStZ-RR 2003, 200 (201); BGH 10.04.2014 – StB 4/14, BeckRS 2014, 10648 Rn. 3; BGH 11.01.2018 – StB 33/17, NStZ-RR 2018, 126; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 57 Rn. 7a; Fischer, § 57 Rn. 12. 195 BVerfG 11.01.2016 – 2 BvR 2961/12, 2 BvR 2484/13, StV 2018, 362 (363); BGH 10.04.2014 – StB 4/14, BeckRS 2014, 10648 Rn. 3 f.; BGH 11.01.2018 – StB 33/17, NStZ-RR 2018, 126 (127); OLG Köln 19.05.2014 – 2 Ws 267/14, NStZ-RR 2015, 29; OLG Hamm 20.04.2017 – 1 Ws 157/17, NStZ-RR 2017, 327; BeckOKStGB/von Heintschel-Heinegg, § 57 Rn. 7; Fischer, § 57 Rn. 12a; LK-StGB/Hubrach, § 57 Rn. 18. 196 MüKo-StGB/Groß, § 57 Rn. 14; ders., jurisPR-StrafR 22/2011 Anm. 4. 197 Für den Fall, dass lediglich eine vollziehbare Ausweisungsverfügung (und nicht etwa Abschiebungs- oder Auslieferungshaft) besteht, können konkrete Anhaltspunkte, wie bspw. starke familiäre Bindungen, gegen eine – grundsätzlich aber ebenfalls nahe liegende – Fluchtgefahr sprechen, sodass eine Einzelfallprüfung (im Benehmen mit der zuständigen Ausländerbehörde) erforderlich ist, vgl. OLG Frankfurt
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etwaigen strafvollzugsrechtlichen Vorverfahren eine eigenständige Prüfung dahingehend erfolgen, ob die die Prognosegrundlage begrenzende, stattgefundene Versagung von Lockerungen hinreichend begründet war.198 Während das Vorliegen einer Therapie auch in diesem Zusammenhang für sich genommen nicht genügt, um eine Vorhersage als günstig erscheinen zu lassen, vielmehr regelmäßig deren erfolgreicher Abschluss erforderlich ist,199 löst die sog. Erstverbüßung eine gewisse – widerlegbare – Vermutung aus, dass der Vollzug seine Wirkung nicht verfehlt haben wird, sondern der Begehung neuer Straftaten entgegenwirkt.200 Letztgenannter Grundsatz wird nun teilweise für ortsfremde Beschuldigte in Zweifel gezogen, insbesondere wenn bereits kurz nach der Einreise mehrere, nicht unerhebliche Straftaten begangen wurden: „Bei nicht vorbestraften Erstverbüßern ist zwar in der Regel eine positive Sozialprognose angebracht, wenn einer solchen nicht konkrete und erhebliche Umstände entgegenstehen. Auf Ausländer, die sich in der Bundesrepublik nur vorübergehend aufhalten, kann diese Regel jedoch nicht ohne weiteres übertragen werden, insbesondere dann nicht, wenn sie, wie der Bf., schon wenige Tage nach ihrer Einreise hintereinander Einbruchdiebstähle oder sonstige schwere Straftaten begehen. Denn anders als bei der ansässigen Wohnbevölkerung läßt das – bei Ausländern zwangsläufige – Fehlen von Inlandsvorstrafen keinerlei Schluß dahin zu, daß die Tat, deretwegen die Strafe verbüßt wird, nur ein erstmaliges Versagen bei sonst rechtstreuer Lebensführung war.“201
Es zeigt sich hier eine gewisse Parallele zur Frage der strafschärfenden Berücksichtigung der Ortsfremdheit des Täters. Dies darf nur bei einem nachvollziehbaren, konkreten Bezug zu den Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB erfolgen, d. h. wenn aus der Tatausführung eine besonders rechtsfeindliche Gesinnung spricht oder ein Mehr an krimineller Energie dahingehend zu erkennen ist, dass der ortsfremde Beschuldigte be11.05.2000 – 3 Ws 393/00, NStZ-RR 2000, 350 (351); OLG Celle 19.05.2000 – 1 Ws 87/2000 StrVollz, NStZ 2000, 615; OLG Koblenz 19.11.2007 – 1 Ws 571/07, NStZRR 2008, 190; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 13 BayStVollzG Rn. 17; BeckOK-Strafvollzug Bund/Setton, § 11 StVollzG Rn. 39; Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (316). 198 BVerfG 11.06.2002 – 2 BvR 461/02, StraFo 2002, 412 (413); OLG Düsseldorf 09.12.1999 – 1 Ws 963/99, NStZ-RR 2000, 187; BeckOK-StGB/von HeintschelHeinegg, § 57 Rn. 8; Fischer, § 57 Rn. 17; LK-StGB/Hubrach, § 57 Rn. 17. 199 KG 05.10.2007 – (4) 1 Ss 307-07 (191/07), BeckRS 2008, 02361; BeckOKStGB/von Heintschel-Heinegg, § 57 Rn. 8a. 200 BGH 25.04.2003 – 1 AR 266/03, NStZ-RR 2003, 200 (201); OLG Bremen 11.03.2010 – Ws 201/09, NStZ 2010, 718; OLG Hamm 10.03.2011 – 5 Ws 59/11, NStZ-RR 2011, 325; BeckOK-StGB/von Heintschel-Heinegg, § 57 Rn. 8a; Fischer, § 57 Rn. 14; LK-StGB/Hubrach, § 57 Rn. 16. 201 OLG Bamberg 16.01.1996 – Ws 13/95, NStZ-RR 1997, 3.
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wusst und zielgerichtet die BRD allein zum Zweck der Begehung von Straftaten aufsucht.202 Diese Erwägungen sind jedoch eher den Strafzwecken Vergeltung und Generalprävention zuzuordnen und nicht der die Strafvollstreckung/den -vollzug und die Entscheidung nach § 57 StGB dominierenden positiven Spezialprävention. Die nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognose hat unabhängig von der Ortsfremdheit zu erfolgen, wenn nicht dieser selbst ein prognoserelevanter Zustand innewohnt.203 (2) Verhältnis von § 57 StGB und § 456a StPO § 57 StGB und § 456a StPO betreffen unterschiedliche Regelungskomplexe und sind voneinander grundsätzlich völlig unabhängig. Über die Strafrestaussetzung nach § 57 StGB ist deshalb auch dann zu entscheiden, wenn bereits zuvor gem. § 456a StPO von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe abgesehen wurde und sich der Verurteilte nicht im Inland aufhält.204 Durchaus diskutabel stellt sich unter diesem Gliederungspunkt folgende Konstellation dar: Der von der zuständigen Strafvollstreckungskammer gehörte psychologische Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass bei einer tatsächlichen Ausreise samt Rückkehr zur Familie nur ein äußerst geringes Rückfallrisiko vorliege, wohingegen in der BRD keine günstige Legal202 BGH 16.03.1993 – 4 StR 602/92, NStZ 1993, 337; Fischer, § 46 Rn. 43; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 629; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 732; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 290; krit. Joerden/Weinreich, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 1 (5 ff.). 203 OLG Frankfurt 10.05.1983 – 3 Ws 232/83, StV 1985, 23; NK-StGB/Dünkel, § 57 Rn. 59; Krehl, NStZ 2000, 333; a. A. OLG Bamberg 16.01.1996 – Ws 13/95, NStZ-RR 1997, 3 (4): „Gegenüber diesen besonders schwerwiegenden Aspekten sind die übrigen Umstände von untergeordneter Bedeutung, insbesondere eine unbeanstandete Führung im bisherigen Vollzug und Beteuerungen der Verurteilten, das Unrecht ihrer Taten einzusehen und künftig keine Straftaten mehr begehen zu wollen. Derartiges Verhalten muß unter den genannten Umstände als bloße, ihrer Situation angepaßte Reaktion gewertet werden. Auch auf die Entlassungssituation kann es in solchen Fällen nicht wesentlich ankommen, da eine derart ausgeprägte Skrupellosigkeit und kriminelle Energie in der Regel auch nicht etwa durch das Vorhandensein von Wohnung und Arbeitsstelle genügend gemindert werden“; OLG Düsseldorf 10.02.1999 – 1 Ws 111–112/99, NStZ 1999, 478: „Auch eine günstige Sozialprognose gebietet nicht zwingend die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe, wenn andere anerkannte Strafzwecke – vor allem die des gerechten Schuldausgleichs und der Verteidigung der Rechtsordnung – den weiteren Vollzug der Strafe erfordern.“ 204 OLG Karlsruhe 17.06.1992 – 2 Ws 68/92, MDR 1992, 885; OLG Düsseldorf 31.01.2000 – 1 Ws 72/00, NStZ 2000, 333; OLG Bamberg 12.10.2010 – 1 Ws 561/10, StV 2011, 421 (422); OLG Saarbrücken 18.12.2014 – 1 Ws 164/14, BeckRS 2015, 02090 Rn. 12; Fischer, § 57 Rn. 31; Jung, StV 2007, 106 (107 f.); Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (420 f.).
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
prognose gestellt werden könne, weil es dem ortsfremden Verurteilten hier am dafür erforderlichen wirtschaftlichen und sozialen Empfangsraum fehle. Gesetzt den Fall, man überzeugt sich davon, dass es sich um glaubhafte Absichtsbekundungen und nicht lediglich vorgegebene Beteuerungen handelt, stellt sich die Frage, ob dies i. R. d. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB leitend zu berücksichtigen ist. Insoweit darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Sozialprognose des hier Skizzierten von einer durch die zuständige Behörde nicht beeinflussbaren und letztlich auch nicht sanktionierbaren Bedingung, nämlich dem Verlassen der BRD, abhängt. Dementsprechend ist einem solchen Vorgehen in Anbetracht der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht zuzustimmen; es sollte vielmehr der Weg über § 456a StPO gewählt werden, da hierdurch sichergestellt werden kann, dass die notwendige Voraussetzung der günstigen Legalitätsvorhersage auch tatsächlich eingehalten wird.205 Wurde gem. § 456a Abs. 1 StPO von der (weiteren) Vollstreckung abgesehen und gem. § 456a Abs. 2 Satz 3 StPO ein bedingter Vollstreckungshaftbefehl für den Fall der Wiedereinreise erlassen, wird der ortsfremde Verurteilte hierdurch nicht benachteiligt, denn sein inländisches Pendant befindet sich bei einem Antrag auf Reststrafenaussetzung schließlich typischerweise ohnehin noch in Haft.206 § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO sieht – abgesehen von den in § 454 Abs. 1 Satz 4 StPO genannten Ausnahmefällen – die obligatorische Anhörung des Verurteilten vor. Daneben ist anerkannt, dass die Anhörungspflicht entfällt, wenn der Betroffene ausdrücklich und eindeutig erklärt, er wolle an der mündlichen Anhörung nicht teilnehmen bzw. sich der Vorführung verweigert, denn das Gericht kann eine Befragung gegen seinen Willen nicht erzwingen.207 Umstritten ist jedoch die Frage, ob ein Absehen auch in Betracht kommt, wenn dem ortsfremden Beschuldigten wegen § 456a Abs. 2 Satz 3 StPO die Verhaftung droht. Teilweise wird insoweit die Anhörung – mit der Folge des Entfallens – als für den Verurteilten unzumutbar angesehen.208 Eine andere 205 A. A. LG Düsseldorf 03.05.2017 – 055 StVK. 1058/16, BeckRS 2017, 140638 Rn. 13: „Sollte sich herausstellen, dass der Verurteilte entgegen seiner Angaben innerhalb der Bewährungszeit wieder nach Deutschland einreist, behält sich die Kammer ausdrücklich die Unterstellung des Verurteilten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers vor.“ 206 OLG Bremen 11.03.2010 – Ws 201/09, NStZ 2010, 718 (719); Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (417 ff.). 207 BGH 28.01.2000 – 2 StE 9/91, NStZ 2000, 279; BGH 12.08.2015 – StB 6/15, StV 2018, 345 (346); BeckOK-StPO/Coen, § 454 Rn. 11; KMR/Stöckel, § 454 Rn. 48, 66; Meyer-Goßner/Schmitt, § 454 Rn. 24. 208 OLG Düsseldorf 31.01.2000 – 1 Ws 72/00, NStZ 2000, 333; OLG Karlsruhe 14.03.2005 – 3 Ws 82/05, NStZ-RR 2005, 223; OLG Bamberg 12.10.2010 – 1 Ws
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Ansicht verlangt von der Staatsanwaltschaft die zeitweilige Aussetzung des Vollstreckungshaftbefehls zur Nachholung der Strafvollstreckung, um die Anwesenheit des Betroffenen zu ermöglichen.209 Wiederum andere überlassen dem ortsfremden Beschuldigten die Wahl, ob er das Verhaftungsrisiko auf sich nimmt oder auf die Möglichkeit der positiven Einflussnahme verzichtet.210 Die mündliche Anhörung des § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO gibt einerseits dem Antragsteller die Möglichkeit zur Äußerung und vermittelt andererseits dem Gericht einen aktuellen unmittelbaren Eindruck, weshalb ein Absehen von der mündlichen Anhörung nur ausnahmsweise gerechtfertigt ist, um einer Aushöhlung der überzeugenden Regelung vorzubeugen.211 Man muss sich insoweit auch noch einmal vor Augen führen, dass sich der Betroffene zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 57 StGB typischerweise in Haft befindet. D. h. nähme man eine Pflicht der Vollstreckungsbehörde an, für die Verfahrensdauer der Prüfung einer Reststrafenaussetzung den bedingten Vollstreckungshaftbefehl außer Vollzug zu setzen, befände sich der ortsfremde Beschuldigte in Freiheit im Bundesgebiet, ohne dass zuvor seine Gefährlichkeit vom dafür zuständigen Gericht beurteilt wurde, was dem Sinngehalt des § 456a Abs. 2 StPO diametral zuwiderliefe.212 Die Angabe von nachvollziehbaren Gründen hindert eine Entscheidung ohne Anhörung indes nur, wenn das zuständige Gericht die Gründe zu verantworten hat und/oder diesen in eigener Zuständigkeit abhelfen kann.213 Eine Anhörung im Rechtshilfeweg, beispielsweise durch ein ersuchtes Gericht, ist nicht geeignet, der zur Entscheidung berufenen Strafvollstreckungskammer den notwendigen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen.214 Gleiches gilt regelmäßig für eine Anhörung per Videoschaltung.215 561/10, StV 2011, 421 (422); OLG Saarbrücken 18.12.2014 – 1 Ws 164/14, BeckRS 2015, 02090 Rn. 15; Fischer, § 57 Rn. 33; Meyer-Goßner/Schmitt, § 454 Rn. 24. 209 OLG Oldenburg 27.08.2014 – 1 Ws 399/14, NStZ-RR 2015, 156 (157); Jung, StV 2007, 106 (108). 210 OLG Hamm 23.02.2010 – 3 Ws 39/10, BeckRS 2010, 22732; BeckOK-StPO/ Coen, § 454 Rn. 11; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (421 ff.). 211 BGH 12.08.2015 – StB 6/15, StV 2018, 345 (346); OLG Jena 25.08.2017 – 1 Ws 358/16, StV 2018, 362; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (423). 212 Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (425). 213 BGH 12.08.2015 – StB 6/15, StV 2018, 345 (346) m. abl. Anm. Bung/Romund, StV 2018, 346 (348); OLG München 11.01.2018 – 1 Ws 21, 22/18, StV 2018, 345. 214 OLG Düsseldorf 31.01.2000 – 1 Ws 72/00, NStZ 2000, 333; OLG Karlsruhe 14.03.2005 – 3 Ws 82/05, NStZ-RR 2005, 223; OLG Bamberg 12.10.2010 – 1 Ws 561/10, StV 2011, 421 (422); Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (423 f.). 215 OLG Bremen 11.03.2010 – Ws 201/09, NStZ 2010, 718; KK-StPO/Appl, § 454 Rn. 17a; a. A. Bung/Romund, StV 2018, 346 (349); Jung, StV 2007, 106 (108);
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Zusammenfassend erscheint der nachfolgende Standpunkt vorzugswürdig: Die mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO bleibt grundsätzlich obligatorisch. Der ortsfremde Beschuldigte muss sich selbst um eine etwaige Aussetzung des bedingten Vollstreckungshaftbefehls nach § 456a Abs. 2 Satz 3 StPO kümmern, hat hierauf jedoch keinen Anspruch. Bleibt der Haftbefehl aufrechterhalten, steht die Bereitschaft zur Anhörung unter der ausdrücklich bekundeten Bedingung freien Geleits einer (eine Anhörung entbehrlich machenden) Verweigerung gleich. Es steht dem Verurteilten frei, sich für die Zeit der Prüfung wiederum in Haft zu begeben respektive sich der Gefahr einer Verhaftung auszusetzen. § 456a StPO geht schließlich nach Wortlaut, Systematik, gesetzgeberischem Willen216 und Normzweck von einem nicht zurückkehrenden Täter aus, was von § 57 StGB nicht überlagert wird. c) Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis, § 69b StGB Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt, entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB. Den diesbezüglichen Umgang mit ausländischen Fahrerlaubnissen regelt § 69b StGB. Ausweislich § 69b Abs. 2 Satz 1 StGB werden dabei von einer Behörde eines EU-Mitgliedstaats ausgestellte Führerscheine bei ordentlichem Wohnsitz im Inland eingezogen und an die ausstellende Behörde zurückgesandt, wohingegen bei Drittstaaten oder ortsfremden Beschuldigten lediglich die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Sperre in den ausländischen Führerschein vermerkt wird, § 69b Abs. 2 Satz 2 StGB i. V. m. § 56 Abs. 2 Satz 2 StVollstrO. Zudem ist eine entsprechende Benachrichtigung an die konsularische Vertretung des Ausstellerstaats zu richten mit der Bitte um Weiterleitung an die zuständige Verwaltungsbehörde im Ausland.217 Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (424); allerdings steht es dem Gericht und dem – auf eine persönliche Anhörung verzichtenden – Verurteilten frei, eine nicht vorgesehene Videoschaltung vorzunehmen, um ergänzende Prognosegrundlagen zu schaffen, OLG Karlsruhe 28.07.2005 – 3 Ws 218/05, NJW 2005, 3013; OLG Frankfurt 31.08.2006 – 3 Ws 811/06, NStZ-RR 2006, 357; OLG Stuttgart 03.05.2012 – 4 Ws 66/12, NStZ-RR 2012, 323; weiterführend Esser, NStZ 2003, 464. 216 BT-Drs. 10/2720, S. 16: „Der in Absatz 2 eingefügte neue Satz 3 soll es der Vollstreckungsbehörde ermöglichen, bereits beim Absehen von der Vollstreckung ihre Nachholung für den Fall zu sichern, daß der Verurteilte zurückkehrt. Dadurch soll einerseits der Verurteilte von der Rückkehr abgehalten, andererseits aber auch der Vollstreckungsbehörde das Absehen von der Vollstreckung erleichtert werden.“ 217 HdbStA/Ettenhofer/Vordermayer, 1. Teil 3. Kap. Rn. 135.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 277
Sollte die ausländische Fahrerlaubnis (beispielsweise wegen Ablauf der Fristen des § 29 FeV) ohnehin nicht mehr zum Fahren berechtigt haben, scheidet nach dem streng verstandenen Wortlaut des § 69b Abs. 1 Satz 1 StGB eine Entziehung eigentlich aus, weil die Norm voraussetzt, dass der Täter aufgrund einer im Ausland erteilten Fahrerlaubnis im Inland Kraftfahrzeuge führen darf. Die Anordnung einer isolierten Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB wäre hingegen möglicherweise nicht zweckgemäß, wenn etwa der Verurteilte künftig diese Berechtigung zum Führen im Inland wiedererlangte, denn § 69a Abs. 1 Satz 1 StGB schließt nur die Wiedererteilung durch eine deutsche Behörde aus, nicht jedoch das Erstarken einer ausländischen Fahrerlaubnis. Demzufolge ist anerkannt, dass gleichwohl Entziehung sowie Sperre auszusprechen und gem. § 69b Abs. 2 Satz 2 StGB zu vermerken sind, um bereits dem Anschein einer Fahrberechtigung im Inland nachhaltig entgegenzuwirken.218 Für die tatsächliche Berechtigung zur Teilnahme am innerdeutschen Kraftfahrzeugverkehr ist die soeben behandelte Fragestellung indes ohne Bedeutung, da ausweislich §§ 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4, 29 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV die Anerkennung von EU-Fahrerlaubnissen i. S. d. §§ 28 Abs. 1, 29 Abs. 1 FeV nicht gilt, wenn aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine nationale Fahrerlaubnis erteilt werden darf.219 Im Übrigen wäre die Entziehung der ausländischen Fahrerlaubnis durch ein deutsches Gericht als Eingriff in fremde Hoheitsrechte unzulässig, sodass ihr lediglich die Wirkung zukommt, dem Täter das Recht abzuerkennen, von seiner ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.220 Die gegenseitige Anerkennungspflicht von Fahrerlaubnissen anderer EUMitgliedstaaten dient der ungehinderten Ausübung des Freizügigkeitsrechts nach Art. 21 AEUV.221 Es ist grundsätzlich die Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, gegeben sind; wurde demnach von den Behörden eines Mitgliedstaats ein europäischer Führerschein ausgestellt, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen, d. h. der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führer218 BGH 03.09.1998 – 4 StR 243/98, BGHSt 44, 194 = NJW 1999, 228 m. krit. Anm. Hentschel, NZV 1999, 134; BeckOK-StGB/Heuchemer, § 69b Rn. 9; LK-StGB/ Hilgendorf/Valerius, § 69b Rn. 18; SSW-StGB/Harrendorf, § 69b Rn. 12; HdbStA/ Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 463; a. A. Lackner/Kühl/Heger, § 69b Rn. 1a. 219 Lackner/Kühl/Heger, § 69b Rn. 2; LK-StGB/Hilgendorf/Valerius, § 69b Rn. 22. 220 LK-StGB/Hilgendorf/Valerius, § 69b Rn. 21; NK-StGB/Böse, § 69b Rn. 3. 221 EuGH 26.10.2017 – C-195/16, NZV 2018, 573 (577) Rn. 69; HdbStA/Spiess, 2. Teil 1. Kap. Rn. 21.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
scheins ist als Beweis dafür anzusehen, dass der Inhaber am Tag der Ausstellung die maßgeblichen Voraussetzungen erfüllte.222 Ausnahmen hiervon gelten lediglich, wenn feststeht, dass die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellungsstaat nicht beachtet, oder falls der Führerschein während einer von einem anderen Mitgliedstaat verhängten Sperrfrist erteilt wurde.223 Dies gilt auch dann, wenn sich die Frage der Gültigkeit erst nach dem Ablauf dieser Sperrfrist stellt.224 Ist die Sperrfrist jedoch zum Zeitpunkt der (Neu)Erteilung der ausländischen Fahrerlaubnis bereits abgelaufen, besteht keine Befugnis zur Versagung ihrer Anerkennung (sodass §§ 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 29 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FeV europarechtswidrig sind).225 Die unionale Begründung ist nachvollziehbar, denn wenn die Wirkung einer fahrerlaubnisbeschränkenden Maßnahme durch Ablauf der Sperrfrist entfallen ist, kann eine Fahrerlaubnis wieder erteilt werden, welche sodann nach den gleichen Regularien wie ursprünglich auch in allen anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist.226 222 EuGH 19.05.2011 – C-184/10, Slg. 2011, I-4069 = NJW 2011, 3635 (3636); EuGH 26.04.2012 – C-419/10, NJW 2012, 1935 (1936); EuGH 26.10.2017 – C-195/16, NZV 2018, 573 (575): Das Legitimationspapier, mit dem das Bestehen einer Fahrerlaubnis seines Inhabers bescheinigt wird, muss aber den Anforderungen des in der Richtlinie vorgesehenen Führerscheinmusters entsprechen; OLG München 22.06.2012 – 4 StRR 69/12, NZV 2012, 553 (554); OLG Hamm 26.09.2012 – III-3 RVs 46/12, NStZ-RR 2013, 113 (114); NK-StGB/Böse, § 69b Rn. 2; Dauer/König, DAR 2018, 459. 223 EuGH 26.06.2008 – C-329/06, C-343/06, NJW 2008, 2403 (2406 f.); EuGH 26.04.2012 – C‑419/10, NJW 2012, 1935 (1936); EuGH 21.05.2015 – C-339/14, NJW 2015, 3217 (3219): „dass der genannten Person während eines bestimmten Zeitraums keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf, als Einschränkung, Aussetzung oder Entzug der Fahrerlaubnis im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist mit der Folge, dass sie der Anerkennung der Gültigkeit jedes von einem anderen Mitgliedstaat vor Ablauf dieses Zeitraums ausgestellten Führerscheins entgegensteht. Der Umstand, dass das Urteil, mit dem diese Maßnahme angeordnet worden ist, nach der Ausstellung des Führerscheins in dem zweiten Staat rechtskräftig geworden ist, ist insoweit ohne Bedeutung, wenn dieser Führerschein nach der Verkündung des Urteils ausgestellt worden ist und die Gründe, die diese Maßnahme rechtfertigen, zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins vorlagen“; BVerwG 05.07.2018 – 3 C 9.17, NJW 2018, 3661; Haus/Krumm/Quarch/Koehl, § 28 FeV Rn. 34. 224 EuGH 03.07.2008 – C-225/07, Slg. 2008, I-103 = NJW 2009, 207 (209); HdbStA/Spiess, 2. Teil 1. Kap. Rn. 24. 225 EuGH 26.06.2008 – C-329/06, C-343/06, NJW 2008, 2403 (2406); EuGH 26.04.2012 – C‑419/10, NJW 2012, 1935 (1936 f.); BVerwG 06.09.2018 – 3 C 31.16, NJW 2019, 100 (101); OLG Celle 05.03.2018 – 2 Ss 5/18, NStZ-RR 2018, 225; Haus/Krumm/Quarch/Koehl, § 28 FeV Rn. 33 ff.; SSW-StGB/Harrendorf, § 69b Rn. 6 f.; HdbStA/Spiess, 2. Teil 1. Kap. Rn. 24. 226 Haus/Krumm/Quarch/Koehl, § 28 FeV Rn. 36; Dauer, NJW 2012, 1940 (1940 f.).
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d) Vollstreckung von Geldstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen gegen ortsfremde Beschuldigte Der bezifferte Geldbetrag wird in die Kostenrechnung aufgenommen und durch Übersendung einer Zahlungsaufforderung mit Zahlungsfrist eingefordert, § 5 Abs. 1 Satz 1 EBAO. Geht keine Zahlung ein, wird (regelmäßig nach vorangegangener Mahnung, § 7 Abs. 1 EBAO) die Geldstrafe beigetrieben, § 459c Abs. 1 StPO. Ist ohnehin damit zu rechnen, dass der Zahlungspflichtige eine Mahnung nicht beachten wird, kann diese unterbleiben, § 7 Abs. 2 EBAO. In einen Schengen-Staat kann die Aufforderung zur Zahlung einer Geldstrafe ebenso formlos mitgeteilt werden wie die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe.227 Rechtshilferechtlich besteht gem. § 87o Abs. 2 Nr. 1 IRG ferner die Möglichkeit, ein Ersuchen nach Maßgabe des RB 2005/214/JI228 zur Vollstreckung einer Geldsanktion ab 70,00 EUR (Art. 7 Abs. 2 lit. h RB 2005/214/JI) an einen anderen EU-Mitgliedstaat zu richten, wenn die betroffene natürliche Person ihren Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat hat oder sich dort in der Regel aufhält.229 Führt der Versuch der Beitreibung der Geldstrafe zu keinem Erfolg, kann gem. § 459e StPO die Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet werden. Daraufhin erfolgt die Ladung zum Strafantritt unter Angabe des Betrags, durch dessen Zahlung der Verurteilte die Vollstreckung abwenden kann, § 51 Abs. 1 StVollstrO. Die Befugnisse des § 457 Abs. 2 StPO gelten auch für den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe.230 Art. 293 EGStGB ermächtigt die Landesregierungen, durch Rechtsverordnung die Möglichkeit einzuräumen, eine drohende Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzuwenden. In Bayern ist dies gnadenrechtlich geregelt, §§ 31 ff. BayGnO. Eine entsprechende Zuweisung gem. § 32 Abs. 4 Satz 1 BayGnO scheidet für ortsfremde Beschuldigte naturgemäß aus, da die örtliche Vollstreckungsbehörde kaum zuverlässig nachprüfen kann, ob eine entsprechende gemeinnützige Arbeit im Ausland auch tatsächlich erfolgte. Zwar könnten ausländische Beschäftigungsgeber theoretisch das entspre227 HdbStA/Weyde,
7. Teil 1. Kap. Rn. 449. 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. Nr. L 76 S. 16, Celex-Nr. 3 2005 F 0214. 229 Brahms/Wurzel/Häussermann, NStZ 2018, 193; Fromm, SVR 2015, 290 (294); Ambos, Internationales Strafrecht, 2018, § 12 Rn. 100. 230 OLG Frankfurt 03.03.2005 – 3 VAs 1/05, NStZ-RR 2005, 282 (283); KKStPO/Appl, § 457 Rn. 1; KMR/Stöckel, § 457 Rn. 2; LR-StPO/Graalmann-Scheerer, § 457 Rn. 1. 228 Rahmenbeschluss
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
chende Formblatt gem. § 32 Abs. 4 Satz 2 BayGnO ebenso ausfüllen und rückleiten, jedoch ergibt sich aus Sinn und Zweck der Regelung, dass die Vollstreckungsbehörde nur „geeignete“, d. h. solche Stellen auswählt, denen sie vertraut und welche sie gegebenenfalls überprüfen kann. Jedenfalls in der aktuellen Situation kann von einer vergleichbaren Verlässlichkeit auch im Hinblick auf das EU-Ausland nicht ausgegangen werden, sodass diese – insbesondere für den Bereich der Bagatellkriminalität – attraktive Möglichkeit für ortsfremde Beschuldigte letztlich von vornherein ausscheidet. Dies stellt jedoch keine Diskriminierung dar, weil entsprechende Bemühungen um internationale Zusammenarbeit für diesen Bereich derzeit schlicht nicht zu leisten sind und folglich eine hinreichende Rechtfertigung dafür vorliegt, dass eine im Ergebnis bestehende Ungleichbehandlung tatsächlich vollzogen wird. 2. Sprach- und ortsfremde Beschuldigte im Strafvollzug Die Strafvollstreckung umfasst bei freiheitsentziehenden Sanktionen die Herbeiführung des Aufenthalts in der Vollzugseinrichtung, sodann die Überwachung der Durchführung und etwaige erforderliche Statusentscheidungen.231 Das Strafvollzugsrecht erfasst dagegen alle Rechtsnormen, welche die praktische Durchführung der Vollziehung freiheitsentziehender Sanktionen betreffen.232 Anders als die Strafvollstreckung gehört der Strafvollzug nicht mehr zum Strafverfahren, sondern bildet eine eigenständige Rechtsmaterie innerhalb des Kriminalrechts.233 Weil trotz dieser technischen Trennung beide Regelungsbereiche in der Vollzugspraxis jedoch stark verwoben sind und sich letztlich auch der Strafvollzug als ein finaler Verwirklichungsakt strafrechtlicher Erkenntnis darstellt, bei dem noch dazu die Sprach- und Ortsfremdheit eine durchaus beträchtliche Rolle spielen, erstreckt sich die vorliegende Untersuchung ebenso auf dieses Gebiet. a) Ladung zum Strafantritt Aus § 457 Abs. 2 Satz 1 StPO ergibt sich, dass ein auf freiem Fuß befindlicher Verurteilter zum Strafantritt zu laden ist. § 27 Abs. 1 StVollstrO enthält hierzu den Grundsatz der unmittelbaren Ladung, d. h. dass die Vollstreckungsbehörde direkt mit dem Betroffenen in Kontakt tritt.234 231 Laubenthal/Nestler,
Strafvollstreckung, 2010, Rn. 8. Sanktionenrecht, 2017, § 7 Rn. 38; Laubenthal, Straf-
232 Kett-Straub/Kudlich,
vollzug, 2015, Rn. 9. 233 Laubenthal, Strafvollzug, 2015, Rn. 12. 234 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 23; KMR/Stöckel, § 457 Rn. 10.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 281
Eine entsprechende Ladung mit Fristsetzung erfolgt stets schriftlich, entweder in Form eines einfachen Briefes (§ 27 Abs. 3 Satz 1 StVollstrO) oder mittels förmlicher Zustellung, wenn zum sofortigen Strafantritt geladen wird, der Ladung im Interesse beschleunigter Vollstreckung besonderer Nachdruck gegeben werden soll, eine formlose Ladung nach den Umständen des Einzelfalles keinen Erfolg verspricht oder bereits vergeblich war, § 27 Abs. 3 Satz 2 StVollstrO. Soweit sie sich für die Anwendung im Vollstreckungsverfahren eignen, sind die §§ 166 ff. ZPO über § 37 Abs. 1 StPO entsprechend heranzuziehen.235 Bei einer Zustellung im Ausland nach § 183 ZPO i. V. m. Art. 14 EuZVO ist zu beachten, dass dafür innerhalb der EU nur ein unmittelbarer Zugang an den Verurteilten i. S. d. § 177 ZPO mittels Einschreiben mit Rückschein in Betracht kommt, sodass insbesondere eine Ersatzzustellung ausscheidet (für andere Staaten kommt eine Zustellung durch einen Postdienst ohnehin nur in Betracht, wenn der Empfängerstaat oder internationale Verträge dies zulassen, Nr. 115 Abs. 3 RiVASt).236 „Unmittelbare Ladung“ schließt jedoch nicht die Mittelung durch andere Personen aus. Wenn der Verteidiger im Zeitpunkt der Zustellung noch entsprechend bevollmächtigt ist, darf gem. § 37 Abs. 1 StPO i. V. m. § 172 ZPO auch an den Verteidiger zugestellt werden.237 In diesem Zusammenhang kann sich gegebenenfalls wiederum des vom ortsfremden Beschuldigten benannten Zustellungsbevollmächtigten bedient werden, wenn – im Wege der Auslegung – von der Vollmacht auch Maßnahmen der Strafvollstreckung umfasst sind.238 Insbesondere im Rahmen einer bestehenden Aufenthaltsermittlung besteht ferner die Möglichkeit, gem. §§ 457 Abs. 1, 161 StPO die Polizei mit der Zustellung der Ladung zu beauftragen.239 Nun kann sich für ortsfremde Verurteilte, insbesondere wenn im Ermittlungsverfahren über einen Zustellungsbevollmächtigten agiert wurde, folgendes Problem ergeben: Mangels bekannten/zutreffenden Wohnsitzes scheidet eine unmittelbare Zustellung aus, und der Zustellungsbevollmächtigte kann die Ladung zum Strafantritt nicht erfolgreich weiterleiten.240 Stellt die Voll235 Laubenthal/Nestler,
Strafvollstreckung, 2010, Rn. 116. § 27 Rn. 46. 237 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 47. 238 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 24; weitergehend HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 432: „Wo ein Zustellungsbevollmächtigter benannt ist, dürfte die Zustellung an diesen vorzuziehen sein.“ 239 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 47. 240 Vgl. auch BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 24: „Hat der Verurteilte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens einem Polizeibeamten oder Angehörigen einer Strafverfolgungsbehörde eine Zustellungsvollmacht erteilt, ist zu prüfen, ob von der 236 BeckOK-StVollstrO/Zeitler,
282
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
streckungsbehörde fest, dass die Ladung nicht wirksam zugegangen ist, soll indes kein unmittelbarer Haftbefehl nach § 457 Abs. 2 Satz 1 StPO i. V. m. § 33 StVollstrO ergehen, sondern vielmehr eine Aufenthaltsermittlung erfolgen.241 Ferner könne bei bestehenden Zweifeln über den Zugang der Ladung der erforderliche Nachweis nicht allein durch eine förmliche Postzustellungsurkunde geführt werden.242 Dies bedarf näherer Untersuchung. aa) Anordnungskompetenzen zum Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls Ein Untersuchungshaftbefehl gem. §§ 112 ff. StPO ist nur bis zur Rechtskraft möglich.243 Dabei kann es zur Sicherung eines justizförmigen Strafverfahrens erforderlich sein, auch im Stadium zwischen (nicht rechtskräftigem) Urteil und Vollstreckungsbeginn die Untersuchungshaft durchzusetzen, wobei jedoch für die Anordnung und insbesondere den Vollzug der Untersuchungshaft insoweit strengere Anforderungen gelten, da die Vollstreckungssicherung nur einen Nebenzweck der Untersuchungshaft darstellt.244 Im Vollstreckungsverfahren richtet sich die Haftanordnungsberechtigung nach § 457 StPO. Ausweislich § 457 Abs. 2 Satz 1 StPO besteht die Befugnis zum Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls, wenn der Verurteilte sich auf die an ihn ergangene Ladung zum Strafantritt ohne ausreichende Entschuldigung nicht gestellt hat (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 StVollstrO) oder der Flucht verdächtig ist (§ 33 Abs. 2 Nr. 1 StVollstrO). Zur Beschleunigung der Strafvollstreckung darf der Rechtspfleger einen solchen zudem bereits vorsorglich bedingt für den Fall erlassen, dass der Verurteilte sich nicht pünktlich stellt, § 33 Abs. 3 Satz 1 StVollstrO.
Vollmacht auch Maßnahmen der Strafvollstreckung umfasst sind und ob eine Kenntnisnahme von der Ladung eines zB im Ausland (…) befindlichen Verurteilten gewährleistet ist. Sollte die Postanschrift oder der Aufenthaltsort des Verurteilten unbekannt sein, kommt demnach eine Ladung grds. nicht in Betracht. Hier bietet sich vielmehr das Vorgehen nach § 34 an.“ 241 OLG Karlsruhe 21.03.2005 – 2 VAs 32/04, NStZ-RR 2005, 249 (250): „Nur wenn die Vollstreckungsbehörde vom Zugang der Ladung Kenntnis erlangt hat, darf sie auf der Grundlage des § 457 Abs. 2 StPO einen Vorführungsbefehl erlassen“; BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 42, 48; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 112. 242 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 42. 243 BeckOK-StPO/Krauß, § 112 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 2; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 91. 244 KG 29.08.2016 – 4 Ws 124/16, StraFo 2016, 510.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 283
bb) Zustellung der Ladung zum Haftantritt über den Zustellungsbevollmächtigten Fraglich sind die Auswirkungen einer Zustellung der Ladung zum Haftantritt über einen Zustellungsbevollmächtigten für das Vorliegen der Haftbefehlsvoraussetzungen. Zunächst hat man zu konstatieren, dass die Ladung zum Strafantritt i. S. d. § 457 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO i. V. m. § 33 Abs. 1 Nr. 1 StVollstrO grundsätzlich ebenfalls an den Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden kann.245 Entscheidend ist indes die Frage der Auslegung des Merkmals „an ihn ergangene Ladung“. Diese muss hierfür nach gängiger Ansicht zugegangen, d. h. so in den Machtbereich des Betroffenen gelangt sein, dass er tatsächlich die Möglichkeit hatte, Kenntnis zu nehmen.246 Bei einem ortsfremden Beschuldigten ohne Weiterleitungsadresse liegt diese tatsächliche Kenntnisnahme jedoch gerade nicht nahe. Fluchtverdacht/Verdacht auf Entziehung i. S. d. § 457 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO i. V. m. § 33 Abs. 2 Nr. 1 StVollstrO liegt vor, wenn konkrete Tatsachen darauf schließen lassen, dass der Verurteilte seinen Freiheitsentzug nicht freiwillig antreten und er sich der Vollstreckung räumlich entziehen werde.247 Es genügt hierfür beispielsweise der Wegzug aus der bisherigen Wohnung ohne Anmeldung an einer neuen Anschrift oder dass bereits in einem anderen Verfahren Fahndungsmaßnahmen ergriffen wurden/ein Haftbefehl besteht.248 Zur Ermittlung einer aktuellen Wohnanschrift eines nach „unbekannt“ Verzogenen sind regelmäßig Anfragen in den verschiedenen Auskunftsdateien (Einwohnermeldeamt, Bundeszentralregister, Zentrales staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister, Ausländerzentralregister, etc.) angezeigt.249 Auch der Gedanke der Zugangsvereitelung findet Anwendung.250 Ferner ist auf § 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StVollstrO 245 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 27 Rn. 24; HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 432. 246 OLG Karlsruhe 21.03.2005 – 2 VAs 32/04, NStZ-RR 2005, 249 (250): „Denn eine Ladung ist jedenfalls erst dann i. S. des § 457 II StPO ergangen, wenn der Verurteilte sie tatsächlich erhalten hat“; BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 33 Rn. 25; LR-StPO/ Graalmann-Scheerer, § 457 Rn. 13. 247 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 33 Rn. 32; HK-StPO/Pollähne, § 457 Rn. 7; KK-StPO/Appl, § 457 Rn. 6; KMR/Stöckel, § 457 Rn. 11; LR-StPO/GraalmannScheerer, § 457 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, § 457 Rn. 5; Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 126. 248 KG 19.01.2009 – 1 VAs 1/09, NStZ-RR 2009, 324 (325); BeckOK-StVollstrO/ Zeitler, § 33 Rn. 32. 249 OLG Dresden 06.02.2008 – 2 VAs 29/07, NStZ-RR 2008, 294; KG 19.01. 2009 – 1 VAs 1/09, NStZ-RR 2009, 324 (325); BeckOK-Strafvollzug Bund/Slawik, § 457 StPO Rn. 3. 250 BeckOK-StVollstrO/Zeitler, § 33 Rn. 25.
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zu rekurrieren, wonach ein aufschiebend bedingt erlassener Vollstreckungshaftbefehl vollziehbar wird, wenn die Ladung nicht ausführbar und der Verdacht begründet ist, dass der Verurteilte sich der Vollstreckung entziehen werde. Für den ortsfremden Beschuldigten ist folgendes, die verschiedenen Voraussetzungen und Rechtsgedanken kombinierendes Vorgehen sachgerecht: Zunächst hat man die Ladung über den Zustellungsbevollmächtigten zu bewirken, § 27 Abs. 2 StVollstrO, weil der Grundüberlegung der freiwilligen Zustellungsvollmacht entsprechend, zumindest die Möglichkeit eingeräumt werden muss, den Kontakt mit dem Zustellungsbevollmächtigten herzustellen und auf ein entsprechendes Schriftstück ordnungsgemäß zu reagieren. Die Frist zum Strafantritt sollte dabei wegen der typischerweise bei einem Vorgehen mittels Zustellungsvollmacht eintretenden Verzögerungen etwas großzügiger bemessen sein. Zeitgleich ist zur Beschleunigung der Strafvollstreckung gem. § 33 Abs. 3 Satz 1 StVollstrO ein aufschiebend bedingter Vollstreckungshaftbefehl zu erlassen. Ist nun der Zugang der Ladung beim Zustellungsbevollmächtigten nachgewiesen und die gesetzte Frist zum Haftantritt abgelaufen (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StVollstrO), gleichzeitig eine tatsächlich an den ortsfremden Beschuldigten individuell zustellbare Ladung wegen der nicht vorhandenen oder von ihm jedenfalls nicht mitgeteilten Meldeadresse nicht ausführbar (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StVollstrO), besteht infolge der Kombination dieser Voraussetzungen der begründete Verdacht, dass der Betroffene nicht willens ist, sich ohne Einleitung von Fahndungsmaßnahmen der Strafvollstreckung zu unterziehen (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StVollstrO). Mildere und – im Lichte der Notwendigkeit einer effektiven Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen als schärfste Reaktion der Gemeinschaft auf strafwürdiges Übel – gleichermaßen geeignete Maßnahmen sind nicht gegeben, sodass auch der in § 457 Abs. 3 Satz 2 StPO festgeschriebene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. cc) Einzuleitende Fahndungsmaßnahmen Kann ein Vollstreckungshaftbefehl nicht unmittelbar vollzogen werden, regelt § 34 StVollstrO mögliche Fahndungsmittel. Ist eine verurteilte Person flüchtig oder hält sich verborgen, kann die Vollstreckungsbehörde zur Festnahme (§ 34 Abs. 1 StVollstrO) oder zur Aufenthaltsermittlung (§ 34 Abs. 2 Satz 3 StVollstrO) ausschreiben, wobei Art und Umfang der Fahndungsmaßnahmen stets in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe der verhängten Strafe stehen sollen, § 34 Abs. 2 Satz 1 StVollstrO. Soll ein Verurteilter in einem Mitgliedstaat der EU verhaftet werden, kann die Vollstreckungsbehörde einen Europäischen Haftbefehl ausstellen, während in einem Drittstaat
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der nationale Haftbefehl lediglich im Wege der Rechtshilfe aufgrund völkerrechtlicher Übereinkunft Vollstreckung finden kann.251 b) Das gesetzliche Leitbild des Strafvollzugs gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte Der Ausländeranteil unter den Häftlingen ist in den letzten 30 Jahren deutlich angestiegen, von 9,6 % im Jahre 1982 auf 23,2 % in 2012.252 Und diese Entwicklung schreitet weiter voran. Zum Stichtag 31.03.2017 befanden sich insgesamt 47.193 Personen infolge einer erkannten Freiheitsstrafe im Gefängnis.253 Unter diesen Gefangenen besaßen 69,6 % die deutsche Staatsangehörigkeit, wohingegen 30,4 % Ausländer oder staatenlos waren.254 96,4 % verfügten über einen Wohnsitz in der BRD, 2,8 % hatten einen festen Wohnsitz im Ausland, 0,8 % waren ohne festen Wohnsitz.255 Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung des Täters als praktizierter Schutz der Allgemeinheit, d. h. im Fokus stehen die Behandlung des Gefangenen sowie der Zweck der negativen Spezialprävention, Art. 2 Bay StVollzG:256 „Während die Schuld des Täters die Verhängung und Bemessung der Freiheits strafe bestimmt, hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Schwere der Tatschuld, den Schuldausgleich, die Sühne oder die Verteidigung der Rechtsordnung zu gesetzlichen Kriterien für den Vollzug der Freiheitsstrafe zu erheben (…). Gemäß § 2 StVollzG dient der Vollzug ausschließlich der Resozialisierung (§ 2 S. 1 StVollzG) sowie dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten (§ 2 S. 2 StVollzG). Mithin besteht nach den gesetzlichen Bestimmungen keine Kongruenz zwischen materiellem Strafrecht und Strafvollzug: Das materielle Strafrecht koppelt zwar die Entscheidung über den Status des Strafgefangenen an seine Schuld, gestaltet den 251 BeckOK-StVollstrO/Zeitler,
§ 33 Rn. 13 f. Strafvollzug, 2015, Rn. 81 sowie tabellarisch Tab. 2.8; vgl. bereits ders., Böhm-FS, 1999, S. 307 (308 f.); HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 209; monographisch zu Sozialdaten und biographischen Merkmalen ausländischer Gefangenengruppen Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 105 ff. 253 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.1, 2017. 254 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.1, 2017. 255 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.1, 2017. 256 Entspricht §§ 2 StVollzG, 1 JVollzGB III (nur Resozialisierung), 2 StVollzG Bln, 2 BbgJVollzG, 2 BremStVollzG, 2 HmbStVollzG, 2 HStVollzG, 2 StVollzG M-V, 5 NJVollzG, 1 StVollzG NRW (nur Resozialisierung), 2 LJVollzG, 2 SLStVollzG, 2 SächsStVollzG, 2 Abs. 1 JVollzGB LSA, 2 Abs. 1 ThürJVollzGB. Weiterführend BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 2 BayStVollzG Rn. 1; Kudlich, JA 2003, 704; Laubenthal, Strafvollzug, 2015, Rn. 181 ff.; zu einem historischen Überblick über die Entwicklung des Resozialisierungsgedankens Miller, Der auf (Re‑)Sozialisierung ausgerichtete Strafvollzug im Lichte der Verfassung, 2016, S. 30 ff. 252 Laubenthal,
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Vollzug der Gefangenschaft aber schuldunabhängig aus. Gesichtspunkte der Vergeltung und des Schuldausgleichs haben auf die Ausgestaltung des Vollzugs keinen Einfluss. Eine andere Praxis verstieße nicht nur gegen § 2 StVollzG, sondern auch gegen die im Strafgesetzbuch normierte Konzeption der Einheitsstrafe. Der Gesetzgeber hat die nach dem Vergeltungsprinzip abgestuften, durch unterschiedliche Schwere der Vollzugsbedingungen charakterisierten Haftarten Einschließung, Haft, Gefängnis und Zuchthaus abgeschafft. Demzufolge finden Unrechtsgehalt der Tat und Schwere der Schuld nur in der Dauer der Freiheitsstrafe Ausdruck. Nachdem der Richter über diese Dauer entschieden hat, ist es der Vollzugsbehörde verwehrt, bei Ausgestaltung des Vollzugs eine nachträgliche vollzugseigene Strafzumessung zu betreiben.“257
Als Gestaltungsrundsätze sind die möglichst weitgehende Angleichung des Lebens im Vollzug an die allgemeinen Lebensverhältnisse (Art. 5 Abs. 1 BayStVollzG258), die Vermeidung von Vollzugsschäden (Art. 5 Abs. 2 BaySt VollzG259) und eine Eingliederungshilfe (Art. 5 Abs. 3 BayStVollzG260) zu 257 BVerfG 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133 = NJW 2004, 739 (746); anders noch BVerfG 28.06.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80, BVerfGE 64, 261 = NJW 1984, 33 (34): „Zwar ist die Entscheidung über die Gewährung von Urlaub aus der Haft an dem in § 2 StVollzG normierten Vollzugsziel auszurichten, das vornehmlich darin besteht, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinnzusammenhang dieser Vorschrift läßt sich jedoch entnehmen, daß andere Gesichtspunkte, wie die Berücksichtigung der Schwere der Schuld, bei der gem. § 13 StVollzG zu treffenden Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt werden dürften“; zutreffend diff. BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 2 BayStVollzG Rn. 3: „Soweit Gefangene von vornherein nicht resozialisierungsbedürftig sind (…), gilt es, schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken (…). Die Sinnhaftigkeit des Strafvollzugs ist damit aber nicht erschöpft. Vielmehr dient der Vollzug in diesen Fällen auch der Schuldvergeltung (soweit es sich dabei um einen eigenen Strafzweck handeln sollte) und der Generalprävention in der Form der Bestätigung der Rechtsordnung (…). Der Strafvollzug muss sich somit auch als angemessenes „Strafübel“ darstellen (…). Dies ist den Gefangenen auch entsprechend zu vermitteln; insofern kann durchaus von einer Aufgabe des Vollzugs gesprochen werden (…). Denn Gefangenen muss auch in diesen Fällen die Sinnhaftigkeit des Vollzugs verdeutlicht werden, damit bei ihnen die Einsicht in begangenes Unrecht einkehrt (…). Dies bedeutet keine Vermengung von Strafsinn und Vollzugssinn“. 258 Entspricht §§ 3 Abs. 1 StVollzG, 2 Abs. 2 JVollzGB III, 3 Abs. 3 StVollzG Bln, 7 Abs. 1 BbgJVollzG, 3 Abs. 4 BremStVollzG, 3 Abs. 1 Satz 1 HmbStVollzG, 3 Abs. 1 HStVollzG, 3 Abs. 4 StVollzG M-V, 2 Abs. 1 NJVollzG, 2 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW, 7 Abs. 1 LJVollzG, 3 Abs. 4 SLStVollzG, 3 Abs. 4 SächsStVollzG, 7 Abs. 1 JVollzGB LSA, 7 Abs. 1 ThürJVollzGB. 259 Entspricht §§ 3 Abs. 2 StVollzG, 2 Abs. 3 JVollzGB III, 3 Abs. 4 StVollzG Bln, 7 Abs. 2 BbgJVollzG, 3 Abs. 5 BremStVollzG, 3 Abs. 1 Satz 2 HmbStVollzG, 3 Abs. 2 HStVollzG, 3 Abs. 5 StVollzG M-V, 2 Abs. 2 NJVollzG, 2 Abs. 1 Satz 4 StVollzG NRW, 7 Abs. 2 LJVollzG, 3 Abs. 5 SLStVollzG, 3 Abs. 5 SächsStVollzG, 7 Abs. 2 Satz 1 JVollzGB LSA, 7 Abs. 2 ThürJVollzGB. 260 Entspricht §§ 3 Abs. 2 StVollzG, 2 Abs. 4 JVollzGB III, 3 Abs. 2 StVollzG Bln, 8 Abs. 2 BbgJVollzG, 3 Abs. 2 BremStVollzG, 3 Abs. 1 Satz 3 HmbStVollzG,
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nennen. Der Zielbegriff der Resozialisierung steht dabei für die Summe aller Bemühungen zum Zwecke der Befähigung des Gefangenen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.261 Die verfassungsrechtliche Grundlage der notwendigen Implementierung eines Sozialisationsprozesses in der Haft liegt im Sozialstaatsprinzip sowie in der Achtung der Menschenwürde des Inhaftierten – seine Lernbedürftigkeit ist zu ermitteln, seine ‑fähigkeit fortzubilden und seine ‑willigkeit zu erhalten.262 Insofern trifft den Staat eine Pflicht zur Bereitstellung der erforderlichen Mittel in personeller wie finanzieller Hinsicht.263 Es geht um umfassende Chancenverbesserung und Hilfe zur Selbsthilfe bei der Lösung wirtschaftlicher, medizi-
3 Abs. 3 HStVollzG, 3 Abs. 2 StVollzG M-V, 2 Abs. 3 Satz 1 NJVollzG, 2 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW, 8 Abs. 2 LJVollzG, 3 Abs. 2 SLStVollzG, 3 Abs. 2 SächsStVollzG, 8 Abs. 2 JVollzGB LSA, 8 Abs. 2 ThürJVollzGB. 261 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 2 BayStVollzG Rn. 4; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (411); Laubenthal, Strafvollzug, 2015, Rn. 140; krit. Jahn/ Schmitt-Leonardy, Streng-FS, 2017, S. 499 (514): „Es spricht alles in allem wenig für die Annahme, in der Unfreiheit des Strafvollzugs heutigen Zuschnitts eine konstruktive Vorbereitung auf eine straffreie Lebensbewährung in Freiheit begründen zu können.“ 262 BVerfG 05.06.1973 – 1 BvR 536/72, BVerfGE 35, 202 = NJW 1973, 1227 (1231); BVerfG 31.05.2006 – 2 BvR 1673/04, 2 BvR 2402/04, BVerfGE 116, 69 = NJW 2006, 2093 (2095): „Der Vollzug der Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (…). Dieses – oft auch als Resozialisierungsziel bezeichnete – Vollzugsziel der sozialen Integration (…), für den Erwachsenenstrafvollzug einfachgesetzlich in § 2 S. 1 StVollzG festgeschrieben, ist im geltenden Jugendstrafrecht als Erziehungsziel verankert (§ 91 I JGG). Der Verfassungsrang dieses Vollzugsziels beruht einerseits darauf, dass nur ein auf soziale Integration ausgerichteter Strafvollzug der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen (…) entspricht. Mit dem aus Art. 1 I GG folgenden Gebot, den Menschen nie als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken, sondern stets auch selbst als Zweck – als Subjekt mit eigenen Rechten und zu berücksichtigenden eigenen Belangen – zu behandeln (…), und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Freiheitsstrafe als besonders tief greifender Grundrechtseingriff nur vereinbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion konsequent auf eine straffreie Zukunft des Betroffenen gerichtet ist. Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz“; BeckOK-Strafvollzug Bund/Gerhold, § 2 StVollzG Rn. 9; Kett-Straub/Streng, Strafvollzugsrecht, 2016, S. 20; Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (313); ders., Strafvollzug, 2015, Rn. 142 ff.; Lübbe-Wolff, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, 2016, S. 46 ff. 263 BVerfG 29.10.1975 – 2 BvR 812/73, BVerfGE 40, 276 = NJW 1976, 37 (38); Lübbe-Wolff, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, 2016, S. 40 f.
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nischer, persönlicher und sozialer Probleme mittels dynamisch an wissenschaftliche Erkenntnisse angepassten Methoden.264 Infolge dieser spezialpräventiven Zielsetzung startet der Strafvollzug nach dem Aufnahmeverfahren mit einer sog. Behandlungsuntersuchung, in welcher die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Gefangenen erforscht werden, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG.265 Hierbei geht es um das Stellen einer psycho-sozialen Diagnose, die nur solche Erkenntnisse umfassen darf, die zur planenden Behandlung und Wiedereingliederung erforderlich sind.266 Aufgrund dieser Behandlungsuntersuchung wird ein Vollzugsplan erstellt, der insbesondere Angaben über vollzugliche, (sozial)pädagogische sowie therapeutische Maßnahmen enthält und mit dem Gefangenen erörtert werden soll, Art. 9 Abs. 1, Abs. 4 BayStVollzG.267 Dieser Vollzugsplan bildet ein zentrales Element des Resozialisierungsvollzugs, dem der Gefangene von Verfassungs wegen nicht als passives Objekt unterworfen sein, sondern an dem er sich aktiv beteiligen können soll, weil er der Konkretisierung des Vollzugsziels mit Blick auf den Einzelnen dient und mit richtungsweisenden 264 OLG Karlsruhe 25.11.2004 – 1 Ws 186/04, NStZ-RR 2005, 122; BeckOKStrafvollzug Bayern/Arloth, Art. 3 BayStVollzG Rn. 1; Jahn/Schmitt-Leonardy, Streng-FS, 2017, S. 499 (516); Lübbe-Wolff, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, 2016, S. 50. 265 Entspricht §§ 6 Abs. 1 StVollzG, 4 Abs. 1 Satz 2 JVollzGB III, 7 Abs. 3 StVollzG Bln, 12 Abs. 3 BbgJVollzG, 6 Abs. 3 BremStVollzG, 7 Abs. 1 HmbStVollzG, 8 Abs. 2 HStVollzG, 6 Abs. 3 StVollzG M-V, 8 Abs. 2 Satz 3 NJVollzG, 9 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW, 12 Abs. 3 LJVollzG, 6 Abs. 3 SLStVollzG, 6 Abs. 4 SächsStVollzG, 8 Abs. 2 JVollzGB LSA, 8 Abs. 2 ThürJVollzGB. 266 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 8 BayStVollzG Rn. 4; Laubenthal, Strafvollzug, 2015, Rn. 317; einschränkend Kett-Straub/Streng, Strafvollzugsrecht, 2016, S. 26: „Unter Berücksichtigung dieser Problempunkte des Strafvollzugs [Stigmatisierung, Zerstörung von sozialen Bindungen, Verlust von Arbeitsplatz oder Lehrstelle, Reglementierung des Lebens, Gefängnissubkultur] wird man sich vom Behandlungsgedanken im modernen Strafvollzug kaum mehr versprechen können als eine Begrenzung des vom Vollzug selbst produzierten Schadens – und vor allem darum geht es bei § 3 bzw. Art. 5 BayStVollzG. Allenfalls in seltenen Fällen kann die Herausnahme aus einem kriminogenen Milieu oder die im Strafvollzug ermöglichte bzw. aufoktroyierte Schul- oder Berufsausbildung oder Therapie zu positiven Wirkungen führen, welche man außerhalb erzwungenen Freiheitsentzugs so hätte nicht erzielen können.“ 267 Entspricht §§ 7 Abs. 1 StVollzG, 5 Abs. 1 JVollzGB III, 9 Abs. 1 Satz 1 StVollzG Bln, 14 Abs. 1 Satz 1 BbgJVollzG, 8 Abs. 1 BremStVollzG, 8 Abs. 1 HmbStVollzG, 10 Abs. 1 HStVollzG, 8 Abs. 1 Satz 1 StVollzG M-V, 9 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG, 10 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW, 14 Abs. 1 LJVollzG, 8 Abs. 1 Satz 1 SLStVollzG, 8 Abs. 1 Satz 1 SächsStVollzG, 14 Abs. 1 Satz 1 JVollzGB LSA, 14 Abs. 1 ThürJVollzGB. Zu pädagogischen Ansätzen ausgerichtet an den verschiedenen Problemlagen im Strafvollzug vgl. monographisch Borchert, Pädagogik im Strafvollzug, 2016.
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Grundentscheidungen zum Behandlungsablauf einen Orientierungsrahmen für beide Seiten schafft.268 Der Gefangene hat einen Anspruch sowohl auf Einsicht in den für ihn erstellten Vollzugsplan269 als auch in seine sonstigen Krankenunterlagen.270 Gepflegte Außenweltkontakte sind für die Erfüllung des Behandlungsauftrags bedeutsam, weil sie der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen, bedürfen aber einer klaren Kontrolle: Sowohl zum Zwecke der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt als auch aus behandlungsbezogenen Gründen muss die Anstalt wissen, wann und mit welchen Personen die Gefangenen Kontakt haben.271 Das gilt zunächst für Telefongespräche, deren Gestattung nur in dringenden Fällen erfolgt, Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG.272 Darüber hinaus ist eine Internetnutzung sicherheitsbedingt gänzlich nicht zuzulassen.273 268 BVerfG 21.01.2003 – 2 BvR 406/02, BVerfGK 1, 3 = NStZ 2003, 620; BVerfG 25.09.2006 – 2 BvR 2132/05, BVerfGK 9, 231 = NStZ-RR 2008, 60; BGH 15.12.2016 – 2 ARs 398/16, 2 AR 248/16, NStZ 2018, 171 (172); Kett-Straub/Streng, Strafvollzugsrecht, 2016, S. 65; Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 195 ff. 269 BVerfG 21.01.2003 – 2 BvR 406/02, BVerfGK 1, 3 = NStZ 2003, 620; LübbeWolff, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, 2016, S. 76. 270 BVerfG 20.12.2016 – 2 BvR 1541/15, NStZ 2018, 162 (163) m. Anm. Arloth. 271 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 35 BayStVollzG Rn. 2. 272 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 35 BayStVollzG Rn. 2. Ebenfalls nur in dringenden Fällen: §§ 33 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG, 37 Abs. 1 Satz 1 JVollzGB LSA. Im Übrigen weiteres Ermessen: §§ 32 Satz 1 StVollzG, 27 Abs. 1 JVollzGB III, 33 Abs. 1 Satz 1 StVollzG Bln, 38 Abs. 1 Satz 1 BbgJVollzG, 30 Abs. 1 Satz 1 BremStVollzG, 32 Abs. 1 HmbStVollzG, 36 Abs. 1 Satz 1 HStVollzG, 30 Abs. 1 Satz 1 StVollzG M-V, 24 Abs. 1 StVollzG NRW, 37 Abs. 1 LJVollzG, 30 Abs. 1 Satz 1 SLStVollzG, 30 Abs. 1 Satz 1 SächsStVollzG, 38 Abs. 1 Satz 1 ThürJVollzGB. 273 BVerfG 15.03.2012 – 2 BvR 2447/11, BeckRS 2012, 212184; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 35 BayStVollzG Rn. 1; a. A. Bode, ZIS 2017, 348; Esser, NStZ 2018, 121 (122): „Der Zugang zum Internet ist für den Strafvollzug von besonderer Bedeutung, da er die Ausübung weiterer (Grund-)Rechte ermöglicht. Es geht insgesamt um weit mehr als nur um eine „neue“ Art der Kommunikation (E-Mail, soziale Medien), es geht um den zeitgemäßen Zugang des Gefangenen zu Informationen, zu Aus-, Weiterbildungs- und Jobangeboten, während und nach dem Ende des Strafvollzugs, aber eben auch um die zeitgemäße Kommunikation mit Angehörigen, Vollzugshelfern und Ämtern, etwa bei der Wohnungs- und Arbeitssuche vor einer anstehenden Entlassung, und schließlich um den Zugang zu Rechtstexten und juristischer Fachliteratur zur Wahrung der Rechte im Vollzug“; vgl. in diesem Zusammenhang auch EGMR 19.01.2016 – 17429/10, LSK 2016, 120687: „Die Weigerung, einem zu lebenslanger Haft verurteiltem Häftling den Zugang zu drei vom Europarat bzw. staatlich betriebenen Internetseiten mit rechtlichen Informationen zu gewähren, verletzt die Meinungsfreiheit iSv Art. 10 EMRK. Die Vertragsstaaten sind zwar nicht verpflichtet, Häftlingen Zugang zum Internet zu gewähren. Tun sie dies jedoch, be-
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Vorhandene Sprachbarrieren, abweichende Normen- und Wertverständnisse sowie unterschiedliche Religionszugehörigkeit beschweren das soeben im Grundsatz dargestellte Vollzugskonzept.274 Die fehlende Homogenität unter den sprach- und ortsfremden Häftlingen begünstigt wiederum die Bildung von Subkulturen.275 Einen weiteren Belastungsfaktor stellt die – möglicherweise ungeklärte – Ausweisungserwartung dar.276 aa) Integration trotz (möglicherweise) mangelnder Bleibeperspektive „Unterricht im Rahmen des Strafvollzugs dient der Resozialisierung. Gefangene sollen für die Zeit nach Verbüßung der Haft auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereitet werden. Dazu soll Gefangenen mit Sprach- oder Integrationsdefiziten über die bestehenden Resozialisierungsmaßnahmen hinaus verstärkt die Möglichkeit gegeben werden, die deutsche Sprache zu erlernen und sich über die in Deutschland geltenden Werte, Regeln und Traditionen zu informieren. Das dient beiden Seiten: Den Gefangenen selbst und zugleich der Gesellschaft, in der sie leben. Die neuen Bestimmungen stellen dabei bewusst nicht darauf ab, ob ein straffällig gewordener Ausländer nach geltendem Ausländerrecht nach Verbüßung seiner Haft in Deutschland bleiben kann oder nicht. Diese bei Antritt der Haft oft noch ungewisse Entscheidung soll ausdrücklich in keiner Weise beeinflusst werden. Umgekehrt soll sie ihrerseits aber auch keinen Einfluss auf die Frage haben, ob dem Gefangenen während seiner Haft Deutsch- und Integrationsunterricht erteilt wird. Das erleichtert nicht nur den Vollzug, sondern wahrt die Chance, dass der Gefangene auch in der Zeit seiner Haft die Möglichkeit zur Integration erhält und so – sollte er danach tatsächlich in Deutschland verbleiben können – diese Zeit unter Integrationsaspekten jedenfalls nicht nutzlos geblieben ist.“277
darf es einer Begründung, wenn Häftlingen der Zugang zu bestimmten Internetseiten verwehrt wird.“ 274 Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (310); Miller, Der auf (Re‑)Sozialisierung ausgerichtete Strafvollzug im Lichte der Verfassung, 2016, S. 234; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 42 ff.; Schwind, Böhm-FS, 1999, S. 323 (334 ff.). 275 Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (310); Miller, Der auf (Re‑)Sozialisierung ausgerichtete Strafvollzug im Lichte der Verfassung, 2016, S. 234; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 99 ff.; vgl. zu islamistisch-radikalisierenden Gefahren im Vollzug monographisch Kienle, Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten am Beispiel Bayern, 2016, sowie zu russischsprachigen Gefangenen Negnal, Die Konstruktion einer Problemgruppe, 2016. 276 Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 228 ff.; Laubenthal, Fallsammlung zu Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 2017, S. 125; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 70. 277 BayLT-Drs. 17/11362, S. 27.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 291
Art. 40 Abs. 2 BayStVollzG278 sieht verpflichtenden Deutschunterricht für sprachfremde Gefangene vor; Art. 40 Abs. 3 BayStVollzG279 enthält das Pflichtgebot zur Aufarbeitung von Integrationsdefiziten. Die geltenden Bestimmungen sind explizit unabhängig von einer ausländerrechtlichen Bleibeperspektive konzipiert.280 Die Ausrichtung erfolgt an Art. 1 Satz 2 BayIntG, wonach die unabdingbare Achtung der Leitkultur als sog. Integrationspflicht gleichrangig neben das Angebot von Hilfe und Unterstützung zur Erleichterung des Lebens in einem zunächst fremden und unbekannten Land (sog. Integrationsförderung) tritt. Auf religiöse Befindlichkeiten ist dabei Rücksicht zu nehmen, soweit diese Ausdruck der Praktizierung einer Glaubensüberzeugung sind und nicht andere ebenso wichtige Belange entgegenstehen.281 Ganz generell ist zu sagen, dass bei der Beurteilung des erforderlichen Mitteleinsatzes die nachvollziehbaren Wünsche der Gefangenen mit den Belangen der Justizvollzugsanstalten in zweckmäßigen Einklang zu bringen sind.282 Dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip entsprechend sind auch Ortsfremde zu behandeln sowie bei der Wiedereingliederung zu fördern, um sie auf diese Weise möglichst gut auf ein künftiges Leben ohne Straftaten vorzubereiten.283 Eine Sprachförderung während des Vollzugs ist jedenfalls bereits deshalb erforderlich, da ohne entsprechende Kompetenz der für das Konzept der Resozialisierung wertvollen Arbeits278 In den übrigen Bundesländern sehen nur § 46 JVollzGB III (Baden-Württemberg) und § 30 Abs. 2 Satz 2 StVollzG NRW (Nordrhein-Westfalen) eine Regelung zur Sprachkompetenz vor, wonach aus Gründen der Integration und Förderung Deutschkurse indes lediglich „angeboten“ werden „sollen“. 279 Die anderen Strafvollzugsgesetze enthalten keine vergleichbare Regelung. 280 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 40 BayStVollzG Rn. 3a; Laubenthal, Fallsammlung zu Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 2017, S. 126. 281 EGMR 07.12.2010 – 18429/06, NVwZ-RR 2011, 961 (962 f.); Miller, Der auf (Re‑)Sozialisierung ausgerichtete Strafvollzug im Lichte der Verfassung, 2016, S. 236; vertiefend zu den rechtlichen Grundlagen und zur praktischen Tätigkeit der Gefängnisseelsorge Funsch, Seelsorge im Strafvollzug, 2015. 282 BVerfG 26.10.2011 – 2 BvR 1539/09, BVerfGK 19, 157 = BeckRS 2011, 56243 Rn. 18; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (414 f.); Lübbe-Wolff, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, 2016, S. 41 f. 283 BVerfG 10.10.2012 – 2 BvR 2025/12, BeckRS 2014, 51318: „weil das Resozialisierungsgebot nicht allein dem (inner)staatlichen Interesse an einer künftigen Straffreiheit des Verurteilten dient, sondern vor allem auch dessen Grundrechte schützt“; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (415); Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (425); Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (313); ders., Strafvollzug, 2015, Rn. 334; Miller, Der auf (Re‑)Sozialisierung ausgerichtete Strafvollzug im Lichte der Verfassung, 2016, S. 234 f.; Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 8.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
pflicht284 nicht befriedigend entsprochen werden kann. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit fördert eine tägliche Struktur, schafft weitergehende Fähigkeiten und ist typischerweise ein wesentlicher Faktor für die Lebenszufriedenheit.285 Vollzugslockerungen sind keine Vergünstigungen oder Belohnungen, sondern vorbereitende Maßnahmen auf dem Weg zur Resozialisierung, weshalb der Ausschluss ortsfremder Beschuldigter von sozialen Außenweltkontakten insbesondere unter dem Aspekt der realitätsnahen Angleichung der Vollzugsbedingungen der Wiedereingliederungsgewöhnung abträglich ist.286 Allerdings muss man festhalten, dass angeordnete Auslieferungs- oder Abschie bungshaft,287 die gleichfalls einem anerkennenswerten öffentlichen Interesse folgen, eben vorrangig zu vollziehen sind. Gem. Art. 13 Abs. 2 BayStVollzG288 dürfen Lockerungen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten steht, dass sich dem weiteren Vollzug entzogen oder ein Missbrauch zu weiteren Straftaten erfolgen wird. Wenn Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebungshaft angeordnet sind, belegen bereits deren Voraussetzungen in hinreichender Weise die bestehende Flucht‑/Missbrauchsgefahr.289 Für den Fall, dass lediglich eine vollziehbare Ausweisungsverfügung besteht, und eine Abschiebung aus der Haft erfolgen soll, können konkrete Anhaltspunkte, wie etwa starke familiäre Bindungen, 284 Vgl. hierzu weiterführend Hillebrand, Organisation und Ausgestaltung der Gefangenenarbeit in Deutschland, 2009, S. 15 ff.; Hüttenrauch, Die Arbeit als Resozialisierungsfaktor, 2015, S. 60 ff. 285 BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 43 BayStVollzG Rn. 1; Kett-Straub, ZStW 125 (2013), 883 (900 ff.). 286 Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (315). 287 Vgl. hierzu Laubenthal, Strafvollzug, 2015, Rn. 981 ff. 288 Entspricht §§ 11 Abs. 1 StVollzG, 9 Abs. 1 JVollzGB III, 42 Abs. 2 StVollzG Bln, 46 Abs. 2 BbgJVollzG, 38 Abs. 1 BremStVollzG, 12 Abs. 1 Satz 2 HmbStVollzG, 13 Abs. 2 HStVollzG, 38 Abs. 2 StVollzG M-V, 13 Abs. 2 NJVollzG, 53 Abs. 1 StVollzG NRW, 45 Abs. 1 LJVollzG, 38 Abs. 2 SLStVollzG, 38 Abs. 2 SächsStVollzG, 45 Abs. 1, Abs. 2 JVollzGB LSA, 46 Abs. 1 ThürJVollzGB. 289 OLG Bremen 24.06.1977 – Ws 100/77, NJW 1978, 960 (961): „besonders einleuchtend, weil hier die sofortige Vollziehung der Haft gegen den beurlaubten Strafgefangenen aus den Gesichtspunkten der Haftanordnung zwingend geboten ist und damit von dem Strafgefangenen niemals genutzt werden könnte“; OLG Frankfurt 04.07.1983 – 3 Ws 350/83, NStZ 1984, 45 (45 f.): „Solange Abschiebehaft besteht, darf zwar kein Urlaub gewährt werden. Dabei ist auch im Regelfall davon auszugehen, daß es sich um ein andauerndes und nicht zu beseitigendes Hindernis für die Urlaubsgewährung handelt. Ist jedoch für den Anstaltsleiter im konkreten Einzelfall ersichtlich, daß Erfolgsaussichten für die Aufhebung der Abschiebehaft bestehen, so muß er dem Strafgefangenen vor einer endgültigen Bescheidung des Urlaubsantrags Gelegenheit geben, eine Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Aufhebung der Abschiebehaft herbeizuführen“; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 13 BayStVollzG Rn. 16; BeckOK-Strafvollzug Bund/Setton, § 11 StVollzG Rn. 39.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 293
gegen eine – grundsätzlich aber ebenfalls naheliegende – Fluchtgefahr sprechen, sodass eine Einzelfallprüfung (im Benehmen mit der zuständigen Ausländerbehörde) erforderlich ist.290 bb) Kriminalwissenschaftlich-strafvollzugskundliche Betrachtung Bevor anhand eines ausgewählten praktischen Beispiels die Gestaltungsoptionen hinsichtlich der Integration sprach- und ortsfremder Gefangener dargestellt werden, erfolgt in diesem Abschnitt eine beschreibende Analyse der tatsächlich bestehenden Phänomene im haftbezogenen Umgang mit der Gruppe der Sprach- und Ortsfremden. Vorab ist in diesem Zusammenhang allerdings bereits festzustellen, dass sprach- und ortsfremde Gefangene keine homogene Gruppe bilden, sondern ethnisch, kulturell, rituell und religiös stark divergierend sind. Einheitliche Rezepte zu entwerfen, ist folglich kaum möglich und schwer umzusetzen, während es an Ressourcen zur umfassenden individuellen Betreuung fehlt. Aufgrund der hohen Anzahl an ausländischen Personen in Haft und der angesprochenen bezugsgruppenbezogenen Vielfalt richten sich empirische Untersuchungen nachvollziehbar zumeist entweder auf in ihrer kulturellen Herkunft konkreter beschriebene Gefangenenpopulationen oder beschränken sich auf bestimmte örtliche Bereiche/Justizvollzugsanstalten. Die nachfolgende, überblicksartig skizzierende Darstellung unternimmt demgegenüber 290 BVerfG 10.10.2012 – 2 BvR 2025/12, BeckRS 2014, 51318: „Diese dürfen einem Strafgefangenen nicht generell mit Blick auf eine (noch) fehlende Entlassungsperspektive verwehrt werden (…). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Strafgefangene aus der Haft heraus abgeschoben werden soll“; BVerfG 23.05.2013 – 2 BvR 2129/11, BVerfGK 20, 307 = BeckRS 2013, 53071; OLG Frankfurt 11.05.2000 – 3 Ws 393/00, NStZ-RR 2000, 350 (351): „Die Begründungserfordernisse richten sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls (…). Hierbei vermögen die Anhängigkeit eines Ausweisungsverfahrens und die anschließend drohende Abschiebung sowie (…) die Höhe des noch zu vollstreckenden Strafrests weder für sich allein noch zusammengenommen die Flucht- oder Missbrauchsgefahr zu begründen (…). Einen allgemeinen Erfahrungssatz, dass in solchen Fällen bei Ausländern generell Fluchtgefahr besteht, gibt es nämlich nicht (…). Vielmehr muss von der Anstalt eine konkrete Fluchtprognose getroffen werden. Diese muss sich ausreichend mit den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere den Lebensumständen des Ast. und seiner Angehörigen, auseinandersetzen“; OLG Celle 19.05.2000 – 1 Ws 87/2000 StrVollz, NStZ 2000, 615; OLG Koblenz 19.11.2007 – 1 Ws 571/07, NStZRR 2008, 190: „Ein anhängiges Ausweisungsverfahren vermag die Versagung von Lockerungen wegen Flucht- oder Missbrauchsgefahr aber nicht pauschal zu rechtfertigen (…). Die Strafhaft darf nicht in rechtswidriger Weise in Abschiebehaft umfunktioniert werden“; BeckOK-Strafvollzug Bayern/Arloth, Art. 13 BayStVollzG Rn. 17; BeckOK-Strafvollzug Bund/Setton, § 11 StVollzG Rn. 39; Pohlreich, ZStW 127 (2015), 410 (416); Laubenthal, Böhm-FS, 1999, S. 307 (316).
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
den Versuch, die einzelnen Ergebnisse der genannten Untersuchungen eine Ebene höher bzw. abstrakter anzusiedeln und demzufolge für einen breiteren Bereich der sprach- und ortsfremden Gefangenen fruchtbar zu machen. Die Beschreibung der einzelnen Problemfelder endet sodann mit einem Gliederungspunkt zu erkannten Verbesserungsansätzen und bereits ergriffenen Gegenmaßnahmen. Dies führt dann über in die bereits angesprochene konkretpraktische Illustration eines Basiswissen-Integrationskurses aus der JVA Nürnberg. (1) Sprachbarriere An erster Stelle anzuführen und für sprachfremde Gefangene gleichsam konstituierend ist die vorhandene Sprachbarriere. Insoweit handelt es sich um eine zweiseitig wirkende Problemlage: einerseits für die Inhaftierten, andererseits für das JVA-Personal. Wer in der Haft die gängige Sprache nicht beherrscht, hat naturgemäß Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme sowohl mit den Anstaltsbediensteten als auch mit Mitgefangenen. Es besteht die nachhaltige Gefahr der Isolation, weil den Sprachfremden der persönliche Kontakt abgeht und sie zudem verbreitet von Therapie-, Schul- und Berufsangeboten ausgeschlossen sind.291 Prekär ist dies vor allem insoweit, als – allerdings unabhängig von der Staatsangehörigkeit – statistisch über die Hälfte der Gefangenenpopulation vor der Inhaftierung keine Berufsausbildung aufweist.292 Die genannten Therapie-, Schul- und Berufsangebote setzen jedoch ausnahmslos sprachliche Interaktion auf verschiedenen Ebenen voraus. Es bedarf der gestalterischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aufgabenstellungen, mit Kritik, der Nachfrage und der Kundgabe sowie Erläuterung der eigenen Position. Der dem deutschen Strafvollzugskonzept zugrunde liegende Behandlungsvollzug293 mit dem Ziel des Erlernens sozialer Kompetenz als Basis der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, gerichtet auf die Vermittlung straffreier Verhaltensalter291 Morgenstern, NK 2007, 139; Achermann, Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung, 2014, S. 69 (98); Adam, Ausländer im Strafvollzug, 2008, S. 188 (189); Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (429); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 57 f., 60; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 42 ff.; Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 111; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 144. 292 Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 106; ähnlich Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (319): „Dabei weisen ausländische Jugendstrafgefangene ebenso wie junge deutsche Inhaftierte erhebliche Defizite im schulischen und beruflichen Bereich auf“. 293 Vgl. hierzu vertiefend Endres/Breuer, Behandlungsmaßnahmen und ‑programme im Strafvollzug, 2018, S. 89 ff.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 295
nativen und Konfliktbewältigungsmechanismen sowie einem an den Mitmenschen orientierten Sozialverhalten, verlangt nach einer gemeinsamen Verständigungsplattform.294 Zwar ist der – möglichst flächendeckende – Einsatz von professionellen Dolmetschern insoweit wünschenswert,295 jedoch besteht zum einen das Problem der Kostenintensität, zum anderen auch der Verfügbarkeit (insbesondere bei weniger geläufigen Sprachen), und zum weiteren ergibt sich gleichwohl ein nicht zu vernachlässigender Nachteil, wenn nicht unmittelbar durch den Gefangenen selbst in der korrekten Sprache kommuniziert werden kann. Außerdem besteht bei sprachfremden Gefangenen in erhöhtem Maße die Gefahr von Missverständnissen. Hierbei sind solche nicht auf verbal artikulierte Ausdrucksformen beschränkt, sondern können sich auch im nonverbalen Umgang miteinander manifestieren.296 Mimik, Gestik sowie allgemeine Reaktionsformen auf bestimmte vom Gegenüber gesetzte Impulse sind kulturell nicht notwendig ähnlich konnotiert und führen daher leicht zu Irrtümern, Fehldeutungen oder gar – potentiell eskalationsgeladenen – Meinungsverschiedenheiten. Gleichermaßen ergeben sich auch für das Anstaltspersonal Schwierigkeiten beim Verständnis und der Kontaktaufnahme mit sprachfremden Gefangenen.297 In dieser Richtung besteht ebenfalls die heraufgesetzte Gefahr von Missverständnissen verbaler sowie nonverbaler Art mit der möglichen Konsequenz von Vorurteilen, persönlicher Distanz und Zurückhaltung 294 Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 216 ff.; Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 59 f. 295 Abraham, Ausländische Gefangene, 2018, S. 443 (448): „In den bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten muss gewährleistet sein, dass alle Gefangenen Zugang zu den notwendigen Informationen in einer ihnen verständlichen Sprache erhalten. Die Möglichkeiten eines angemessenen persönlichen Austauschs mit anderen Gefangen und Mitarbeitenden der Justizvollzugsanstalten, die über die weiteren innervollzuglichen und insbesondere die vollzugslockernden Maßnahmen zu befinden haben, muss gegeben sein. Somit wäre auch die Teilhabe an den die Sozial- und Legalprognose verbessernden vorgehaltenen Maßnahmen einer Justizvollzugsanstalt in einer eingeschränkten Form gewährleistet. Auch dem Bedürfnis an einer individuellen ausländerrechtlichen Beratung im Zusammenhang der Strafvollstreckung und den möglichen weiterführenden Konsequenzen muss entsprochen werden.“ 296 Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (316); Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (94): „Die vielbeklagte Situation der „Sprachlosigkeit“ der jungen Aussiedler macht die alltäglichen Kommunikations- und Verhaltensmuster der einheimischen Gefangenen und der Vollzugsbeamten, deren sozialen Umgang miteinander, weitgehend unverständlich und verhindert schon auf der kognitiven Ebene, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie (für die Einheimischen) „wirklich“ sind.“ 297 Adam, Ausländer im Strafvollzug, 2008, S. 188 (189); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 61 f.; Neu, Nichtdeutsche im bundesdeutschen Strafvollzug, 1988, S. 329 (330 f.); Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 144.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
in Bezug auf das Angebot fortbildender sowie integrierender Maßnahmen.298 Diese bestimmte Verschlossenheit kann dann ihrerseits von Seiten des sprachfremden Gefangenen wiederum als abweisende, mitunter gar diskriminierende, Haltung missverstanden werden, wodurch erneut die Gefahr von Frust, Trotz und Ablehnung folgt. Man kann somit durchaus von einem gewissen, auf einer Kommunikationslimitierung basierenden Teufelskreis sprechen. (2) Religion Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG achtet die religiöse Freiheit und Vielfalt im Inneren wie im Äußeren. In einer JVA befinden sich typischerweise Gefangene mit unterschiedlichen Religionen, was zu Missverständnissen, Konflikten und (tatsächlichen oder lediglich subjektiv empfundenen) Diskriminierungen führen kann.299 Im Grundsatz ist klar, dass jeder Gefangene, soweit es die Sicherheit und Ordnung im Gefängnis nicht gefährdet, seine Religion frei ausüben und damit den ihm vorgegebenen oder für ihn als opportun empfundenen Ritualen und Gewohnheiten nachgehen darf. Dies stellt die Organisation vor vielgestaltige Herausforderungen. Es beginnt etwa bei religiösen Essensvorschriften, welche in der Anstaltskantine grundsätzlich in gleichem Maße Beachtung finden müssen, solange nicht anstaltsorganisatorische Erwägungen überwiegen.300 Die Gewissens- und Religionsfreiheit schützt zwar nicht jedes religiös begründete oder veranlasste Verhalten, indes kann die Befolgung bestimmter Nahrungsvorschriften unter Umständen als Ausdruck des Praktizierens einer Glaubensüberzeugung angesehen werden.301 Allerdings besteht keine Pflicht, bei der Anstaltsverpflegung sämtliche Geund Verbote aller Glaubensgemeinschaften zu beachten und entsprechende Speisen selbst anzubieten, was allein angesichts der Religionsvielfalt nicht praktikabel wäre, sodass dem Gefangenen in letzter Konsequenz lediglich gestattet werden muss, sich eine glaubenskonforme Kost im Sinne der Selbstverpflegung auf eigene Kosten zu beschaffen.302 Unabhängig von der Frage Anstaltsverpflegung oder Ermöglichung der Selbstverpflegung setzt ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Thematik zunächst jedoch die 298 Schmülling/Walter,
StV 1998, 313 (316). Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (430); RiederKaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 61 f.; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 144. 300 EGMR 07.12.2010 – 18429/06, NVwZ-RR 2011, 961 (962 f.). 301 EGMR 07.12.2010 – 18429/06, NVwZ-RR 2011, 961. 302 OLG Hamm 14.12.1983 – 7 Vollz (Ws) 140/83, NStZ 1984, 190; KG 29.08.2011 – 2 Ws 326/11 Vollz, NStZ-RR 2012, 159; BeckOK-Strafvollzug Bund/ Setton, § 21 StVollzG Rn. 5; Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 66. 299 Knödler,
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 297
Kenntnis der entsprechenden Vorschriften voraus, was wiederum ein gewisses Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen und Kommunikation zwischen Inhaftierten und Anstaltsleitung bedingt. Weiter besteht die Notwendigkeit der Einrichtung und Abhaltung von Gottesdiensten und sonstiger religiöser Rituale. Den Gefangenen ist die Möglichkeit zu geben, ihr Bekenntnis in auf religiöse Betätigung ausgerichteten Gemeinschaftsveranstaltungen (Gottesdienste, Sakramentsfeiern, Andachten, Gebetsstunden) zu praktizieren.303 Es muss sich indes um Veranstaltungen handeln, „die der religiösen Erbauung dienen, dem Gläubigen die Betätigung seines Glaubens in den überkommenen kultischen Formen seines Bekenntnisses ermöglichen, eine geistige oder emotionale Verbindung zu Gott eröffnen oder der Glaubensunterweisung im Sinne einer Festigung des Glaubens dienen.“304 Daneben ist Religiosität auch eng mit dem Begriff der Seelsorge verbunden.305 Spirituelle Seelsorge hat in der Gesellschaft einen festen Platz und zielt ganz allgemein auf Personen in schwierigen Lebenslagen. Demzufolge wenig verwunderlich besteht unter ihrer Freiheit beraubten Individuen eine Nachfrage an seelsorgerischer Aktivität, die je nach persönlichem Charakter mehr oder weniger spirituell ausfällt/ausfallen soll. Eine durchaus nicht zu unterschätzende Gefahr in diesem Zusammenhang stellt die mögliche Radikalisierung (insbesondere hinsichtlich islamistischer Gefährder) im Haftvollzug dar.306 Gerade bei sprachlich und kulturell ten303 OLG Koblenz 30.03.1987 – 2 Vollz (Ws) 17/87, NStZ 1987, 525; OLG Koblenz 28.09.1987 – 2 Vollz (Ws) 35/87, NStZ 1988, 47 (48); KG 11.01.2016 – 2 Ws 303/15 Vollz, StV 2018, 636 (638); Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (432); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 65 f.; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 144. 304 OLG Koblenz 30.03.1987 – 2 Vollz (Ws) 17/87, NStZ 1987, 525; OLG Koblenz 28.09.1987 – 2 Vollz (Ws) 35/87, NStZ 1988, 47 (48). 305 OLG Koblenz 28.09.1987 – 2 Vollz (Ws) 35/87, NStZ 1988, 47 (48): Religiöse Betätigung ist Teilbereich der Seelsorge; abweichend Müller-Dietz/Sperling, NStZ 1987, 525 (527): „sich der Auftrag der Kirche nicht allein auf den Gottesdienst, die Sakramentsverwaltung, die Beichte, die Einzelseelsorge und den Sektor des „erbaulichen Lebens“ beschränkt, sondern das kirchliche Handeln im Sinne des neuen Kirchenverständnisses und des der Kirche in den Staatskirchenverträgen ausdrücklich zugestandenen Öffentlichkeitsauftrages den gesamten Menschen in seiner personalen Einzelexistenz erfaßt.“ 306 Ahmari/Kersten, NK 2007, 150 (151): „Insgesamt lässt sich in den Lebenswelten der Zuwanderer aus moslemischen Kulturen eine „Zunahme an religiöser Selbstdefinition und Rigidität“ konstatieren, eine insgesamt für religiöse Orientierungen in Einwanderungsgesellschaften nicht ungewöhnliche Entwicklung. Der Islam dient als Legitimationsfolie für eine „zunehmende Sympathie für radikal-islamische Organisationen“ und für die Attraktivität geschlossener Welt- und Feindbilder“; Abraham, Ausländische Gefangene, 2018, S. 443 (450 f.); Kienle, Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten am Beispiel Bayern, 2016, S. 35 ff.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
denziell isolierten Gefangenen besteht eine gewisse Orientierungslosigkeit, Identitätssuche, psychische Verletzlichkeit oder auch der Wunsch nach einem Neuanfang, was sämtlich Faktoren sind, welche die zu einer Radikalisierung führenden Kriterien verstärken.307 (3) Ausreiseperspektive Für ausländische Gefangene, insbesondere für solche aus einem NichtEU-Land, geht mit der rechtskräftigen Verurteilung zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe häufig eine ungeklärte Aufenthaltserwartung einher (vgl. I. 4.). Bei entsprechend hoher Strafe sowie bei begleitenden negativen Faktoren (z. B. Suchtproblematik) lässt sich durchaus von einer „Ausreiseperspektive“ sprechen. Die insoweit bestehende Ungewissheit hindert die Integrationsmotivation des ortsfremden Beschuldigten ebenso wie die Möglichkeit für breit angelegte, weiterführende Behandlungsangebote und etwaige Vollzugslockerungen.308 Dabei ist die Frage des Fortschreitens einer (psychischen wie körperlichen) Behandlung, der Behebung sprachlicher Barrieren sowie kultureller Missstände durchaus von erheblicher Relevanz für die von der Ausländerbehörde zu treffende Ermessensentscheidung.309 Hinzu tritt das Problem des fraglichen Integrationslandes. Damit ist gemeint, dass bei ungeklärter Aufenthaltserwartung sowohl für den Gefangenen als auch die Justizvollzugsanstalt schwerlich absehbar ist, ob eine Integration 307 Kienle, Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten am Beispiel Bayern, 2016, S. 43. 308 Morgenstern, NK 2007, 139; Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (317 ff.); Achermann, Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung, 2014, S. 69 (104); Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 228 ff.; Dünkel, International vergleichende Strafvollzugsforschung, 2009, S. 145 (178); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 76 ff.; Neu, Nichtdeutsche im bundesdeutschen Strafvollzug, 1988, S. 329 (334 f.); Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 70 ff.; Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 104; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 145. 309 Abraham, Ausländische Gefangene, 2018, S. 443 (449 f.); Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 246 ff.; Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 70; a. A. Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (320): „Man kann mithin insgesamt von einem Mischsystem sich gegenseitig verstärkender Nachteile sprechen. Die jeweiligen Chancen des anderen Systems werden demgegenüber gar nicht oder nur unzureichend genutzt. So spielen etwa positive prognostische Entwicklungen eines Gefangenen während der Vollzugszeit für die spätere Entscheidung der Ausländerämter oft kaum eine Rolle. Die Ungewißheit über die Bewertung des früheren Tatgeschehens seitens der Ausländerbehörden lähmt und behindert aber die Vollzugsgestaltung. Sie belastet des weiteren auch persönlich den Gefangenen, der eventuell über erhebliche Zeitspannen hinweg in existenzieller Ungewißheit belassen wird.“
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 299
in die hiesigen Werte, Normen und Gebräuche sinnvoll ist oder nicht vielmehr die gesellschaftlichen Belange des Heimatlandes in den Vordergrund gerückt werden sollten.310 Die Tendenz des Gesetzgebers geht dahin, den sprach- und ortsfremden Gefangenen unabhängig von der aufenthaltsrechtlichen Situation integrative Bemühungen zuteilwerden zu lassen (vgl. aa)). Das ist aus diskriminierungsrechtlichen Gesichtspunkten zu befürworten. Bei aus bzw. unmittelbar nach der Haft erfolgender Abschiebung kann sich jedoch die Konsequenz ergeben, dass der Ausländer in eine kulturelle Lebensweise und entsprechende Gepflogenheiten zurückgeschickt wird, deren Einhaltung ihm soeben – gegebenenfalls aufgezwungenermaßen – „abbehandelt“ wurde. Insoweit sollte – abgesehen von den Möglichkeiten einer transnationalen Strafvollstreckung – der Blick vielleicht besser darauf gerichtet werden, dem Gefangenen mit Ausreiseperspektive eine berufliche Ausbildung anzubieten, welche in Ansehung des geltenden Ausländerrechts und der bestehenden Ausweisungspraxis darauf ausgerichtet ist, das gesellschaftliche Leben im Heimatland in dessen kulturellen, ökonomischen und sozialen Formen zu erfassen und zu berücksichtigen.311 Die Integration in den deutschen/europäischen Kulturkreis kann bei einer hinreichend gesicherten Ausreiseperspektive sogar kontraproduktiv sein, weil vielmehr die Sozialisation im Herkunftsland hergestellt werden müsste, um dem Straftäter eine legale Perspektive in seiner Heimat zu bieten. Hieran zu kritisieren, dass bei einem solchen Vorgehen nicht unerhebliche personelle und finanzielle Ressourcen dafür aufgewendet würden, Gefangene für eine andere als die nationale Gesellschaft zu resozialisieren, greift gedanklich zu kurz. Schließlich erfolgt eine Ausweisung zum Schutz der nationalen Bevölkerung vor weiteren Straftaten. Ein Täter, der „gut vorbereitet“ in sein Heimatland entlassen wird, hat dort bessere Aussichten und wird zumindest mit einer höheren Wahrscheinlichkeit entweder gar nicht mehr oder möglichst nicht mehr zur Begehung von Straftaten in die BRD zurückreisen. (4) Kulturelle Fremde „Kulturelle Fremde“ soll zwei unterschiedliche Dimensionen zum Ausdruck bringen: zum einen die örtliche Distanz zu Familie, Freunden und Bekannten, zum anderen die Schwierigkeiten der Anpassung an als fremd 310 Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (319): „Vor dem Hintergrund einer oftmals drohenden Ausweisung und Abschiebung sind Vorbereitungen der jungen ausländischen Strafgefangenen auf das Heimatland vonnöten, wie etwa ein spezifisches soziales Training oder muttersprachlicher bzw. heimatkundlicher Unterricht“; Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 118. 311 Schmülling/Walter, StV 1998, 313 (319); Tzschaschel, Ausländische Gefangene im Strafvollzug, 2002, S. 118.
300
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
empfundene Werte und einer damit einhergehenden gewissen anomischen Situation in Haft. Im Gefängnis befinden sich unterschiedliche Charaktere mit ungleicher kultureller Prägung auf engstem Raum im wahrsten Sinne des Wortes „zusammengeschlossen“, was bei fehlender Akzeptanz und mangelndem Verständnis untereinander leicht Konfrontationen auslösen kann. Kulturelle Gegensätze, Verständigungsschwierigkeiten und politische/nationalitätsbezogene Konflikte belasten sowohl den Umgang der Gefangenen untereinander als auch den gesamten Ablauf der Anstaltsorganisation.312 Abweichende kulturelle Hintergründe führen potentiell zu Verhaltensweisen, die im Herkunftsland gegebenenfalls verbreitet waren, hier jedoch auffällig bzw. sogar aus Gründen der Anstaltsordnung zu unterbinden sind; hinzu kommt noch die örtliche Distanz zur und der schmerzliche Verlust von lieb gewonnenen Menschen und sonstigen Bezugsobjekten.313 Es wurde bereits angesprochen, dass abweichende kulturelle Wertvorstellungen zu Irritationen im Normverständnis führen können (vgl. I. 2.), was entweder potentiell kriminogen wirkt oder unter Umständen das Unrechtsbewusstsein zu mildern imstande ist. Die dem zugrunde liegende ortsfremde Devianz muss im Strafvollzug bearbeitet werden, falls eine Rückführung in die deutsche Gesellschaft erfolgen soll. An dieser Stelle ist folglich erneut auf das Problem des fraglichen Integrationslandes hinzuweisen (vgl. (3)). Insbesondere 312 Adam, Ausländer im Strafvollzug, 2008, S. 188; Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 258 ff.; Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (429); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 61; RiederKaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 66; Staudinger, Untersuchungshaft bei jungen Ausländern, 2001, S. 146 ff.; Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (94): „Die Institutionen und Mechanismen der bundesdeutschen Gesellschaft sind den jungen Aussiedlern selten näher bekannt. Vor ihrem familiären und kulturellen Erfahrungshintergrund erscheinen ihnen die Freiheiten einer demokratischen Gesellschaft offenbar riesig. Verhaltensunsicherheit dürfte die Folge sein, zumal die Grenzen dieser Freiheit auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind und ihnen auch – zumindest in kürzester Zeit – nicht ausreichend vermittelt werden können.“ 313 Morgenstern, NK 2007, 139; Walter, NK 2007, 127 (128): „Von Einwanderern wird eine sozio-kulturelle Integrationsleistung besonders schwieriger Art erwartet. Es sind nicht nur die Defizite zu verkraften, die mit der Auswanderung einhergehen, also Verlust der vertrauten Umgebung, der Freunde, wichtiger Bezugspersonen, überhaupt menschlicher Beziehungen, zuweilen auch von Haustieren oder anderen lieb gewonnenen Objekten. […] Andererseits ist zu beobachten, dass junge männliche Migranten, die erst in der Pubertät eingewandert sind, ihre Desorientierung mit Alkohol- und Drogenkonsum oder Gewaltverhalten zu kompensieren versuchen. Aus psychologischer Sicht wird Rauschmittelgebrauch bei Migranten ohnehin als eine Symptombildung verstanden, die die migrationsspezifische Problematik par excellence symbolisiert“.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 301
bei erst kurze Zeit in Deutschland aufhältigen Ausländern gestaltet sich zudem der Respekt gegenüber nationalen Werten schwierig, wenn jene mit bestimmten eigenen Traditionen im Konflikt stehen, möglicherweise sogar mitursächlich für die der Inhaftierung zugrunde liegende Straftat sind, oder eine besondere Form der Einsicht verlangen, welche religiösen Gebräuchen oder dem fest verwurzelten eigenen Weltbild (beispielsweise hinsichtlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau) entgegensteht.314 Bei den für die Resozialisierung besonders bedeutsamen Vollzugslockerungen315 besteht das Problem, dass für ortsfremde Beschuldigte kein sozialer Empfangsraum im Inland besteht.316 Nicht erst im Zeitpunkt der Entlassung, sondern bereits während der gesamten Haftzeit, ist es von zentraler Bedeutung, dem Gefangenen soziale Beziehungen zu ermöglichen, d. h. schon vor der Inhaftierung bestehende Verbundenheit aufrecht zu erhalten und neue Verbindungen zu knüpfen, weil es nur auf diese Weise erreichbar ist, ein soziales Netz aufzubauen, welches den Häftling während der Haft und nach seiner Entlassung begleitet und ihm die Einbindung in die Gesellschaft erleichtert.317 314 Lüth,
Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 63. BVerfG 20.06.2017 – 2 BvR 345/17, BeckRS 2017, 116696 Rn. 36: „Regelmäßig fördern der Bestand und die Stärkung der familiären Beziehungen die Chancen der Eingliederung des Gefangenen (…). Über ihre unmittelbare Bedeutung für den Gefangenen hinaus sind intakte Familienbeziehungen zudem auch mittelbar von großem Belang, weil resozialisierungs- und freiheitserhebliche Entscheidungen von ihnen abhängen können. Das Vorhandensein eines stabilen sozialen Empfangsraums fließt als positiver Faktor in zu treffende Prognoseentscheidungen – sei es im Rahmen von Entscheidungen über die Gewährung von Vollzugslockerungen oder über die Frage einer Entlassung auf Bewährung – ein (…). Umgekehrt kann es als ein Gesichtspunkt, der für eine ungünstige Prognose spricht, ins Gewicht fallen, wenn eine Stützung durch Angehörige nicht oder nicht an dem Ort, an dem sie benötigt würde, verfügbar ist (…). Den Belastungen und Gefährdungen, die der Vollzug einer Freiheitsstrafe für diese Beziehungen naturgemäß bedeutet, muss die Ausgestaltung des Vollzuges daher nicht nur mit Rücksicht auf das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG, sondern auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Gefangenen nach Kräften entgegenzuwirken suchen. Der Resozialisierungsgrundsatz verpflichtet die Justizvollzugsanstalten, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs im Rahmen des Möglichen zu begegnen; das Resozialisierungsinteresse erstreckt sich auch auf die Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind“; Dünkel, International vergleichende Strafvollzugsforschung, 2009, S. 145 (163): „Die Öffnung des Vollzugs (z. B. Vollzugslockerungen) trägt offensichtlich auch zu einer Reduzierung sexuell devianter Verhaltensweisen, des Drogenkonsums bzw. gewalttätiger subkultureller Hierarchien bei.“ 316 Morgenstern, ZIS 2008, 76; Achermann, Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung, 2014, S. 69 (102 f.). 317 BeckOK-Strafvollzug Bund/Beck, § 73 StVollzG Rn. 15; Boese, Ausländer im Strafvollzug, 2003, S. 183 ff. 315 Vgl.
302
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Es ist in Anbetracht dieser vielfältigen Gestaltungsschwierigkeiten beim Behandlungsvollzug von ortsfremden Gefangenen gleichwohl erforderlich, den Blick dafür zu schärfen, welche qualitativen Veränderungen im Hinblick auf kommunikative, kulturelle und rituelle Konzepte – bei entsprechend differenzierter Anwendung – zu einer Verbesserung des gesamten Vollzugsalltags führen können. Eine gewisse Abwechslung vom Anstaltsleben, die Wiederannäherung an das Leben in Freiheit an sich und das Aufzeigen von Perspektiven sind unabhängig von der örtlichen Heimat und einer bestehenden Bleibeperspektive für Gefängnisinsassen von nicht zu vernachlässigender Bedeutung.318 (5) Subkultur Subkulturelle Phänomene stehen einem resozialisierenden Behandlungsvollzug auf verschiedenen Ebenen entgegen. Sie können etwa zu einer bewusst gewählten Isolation der sprach- und ortsfremden Beschuldigten führen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich Gruppenregeln bilden, welche über das Gesetz, die gesellschaftliche Wertordnung sowie die Anstaltsvorschriften gestellt werden, und deren Einhaltung letztlich autoritär durchgesetzt wird.319 Die Haftsituation ist für die Gefangenen – allgemein, für die Sprach- und Ortsfremden aber noch verstärkt – naturgemäß eine soziale Drucksituation verbunden mit einem gewissen Ausgeliefertsein gegenüber dem Vollzugspersonal.320 Sowohl von Seiten der Inhaftierten als auch der Anstaltsbediensteten bestehen gewisse Erwartungen an das Gegenüber und dessen Auftreten. Gerade im Bereich von Gewalttätern spielen zudem Macht und Inszenierung eine bedeutsame Rolle.321 Je größer die Drohkulisse, je umfassender das 318 Achermann, Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung, 2014, S. 69 (103). 319 Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 62; Negnal, Die Konstruktion einer Problemgruppe, 2016, S. 14; Neubacher/Boxberg, Gewalt und Subkultur, 2018, S. 195; Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (95); Weis, Die Subkultur der Strafanstalt, 1988, S. 239 (247 f.); Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 149. 320 Negnal, Die Konstruktion einer Problemgruppe, 2016, S. 13: „Gefangenschaft bedeutet asymmetrische soziale Verhältnisse zwischen den beiden Hauptgruppen von Akteuren, dem Anstaltspersonal und den Inhaftierten“; Weis, Die Subkultur der Strafanstalt, 1988, S. 239: „Die Strafanstalt ist eine besondere Welt in der sie umgebenden Welt, als geschlossene Teilgesellschaft sowohl Fremdkörper als auch Teil der Gesamtgesellschaft. Das Besondere der Strafanstalt ist die unfreiwillige Unterordnung.“ 321 Negnal, Die Konstruktion einer Problemgruppe, 2016, S. 37 ff.; Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (97).
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 303
(vermeintliche) Netzwerk, je undurchsichtiger die subkulturelle Struktur, desto dramatischer der von sämtlichen Beteiligten (eigene Gruppenmitglieder, Mitgefangene, Anstaltspersonal) empfundene Auftritt, welcher durch repressive Disziplinarmaßnahmen nur noch mehr an Aufsehen erregt und an Eindruck gewinnt.322 Häufig äußern sich subkulturelle Strukturen aber nicht nur in einer ablehnenden Haltung, sondern ebenfalls in Gewalt gegenüber Mitgefangenen wie auch dem Anstaltspersonal.323 Resozialisierungsverweigerung als Folge einer falsch verstandenen subkulturellen Ehrstruktur führt zu einem Unterlaufen sämtlicher Behandlungsangebote und Gesprächsansätze. Denn das Vollzugsziel besteht schließlich gerade darin, den Straftäter aus seinen möglicherweise bestehenden Werte- und Normenkontroversen herauszulösen, für Ortsfremde etwaige Kulturkonflikte abzubauen und dadurch die Basis für ein zukünftiges Leben ohne Kriminalität zu setzen. (6) Gegenmaßnahmen und Verbesserungsansätze Die Heterogenität der Gruppe(n) erschwert einen einheitlichen Zugriff und flächendeckend wirksame Unterstützungsprogramme. Behandlungsindividualität ist dagegen ressourcenintensiv. Im Folgenden sollen noch ein paar flankierende gedankliche Ansätze zur Förderung der Resozialisierungsfähigkeit und ‑bereitschaft von sprach- und ortsfremden Inhaftierten überblicksartig vorgestellt werden. Entgegenwirken ließe sich dem in den Punkten (1)-(5) Ausgeführten – zumindest ein Stück weit – zunächst mit dem breit angelegten Angebot von Sprachkursen, um die sprachfremden Gefangenen insoweit zu qualifizieren.324 Damit die jeweiligen Kursteilnehmer dort abgeholt werden, wo sie sich intellektuell, aber auch vom Sprachniveau befinden, empfiehlt sich die Einrichtung unterschiedlicher Lehrveranstaltungen.325 Daneben darf es je322 Negnal, Die Konstruktion einer Problemgruppe, 2016, S. 268 ff.: „Referenzierung“ (= Herstellen von Bezügen von bestimmten Personen, Situationen und Gefährdungen), „Dramatisierung“ (= Betonen von Handlungen, Personen, Eigenschaften und Positionen) und „Mystifizierung“ (= bewusstes Schaffen einer teilweise verborgenen sozialen Distanz; Gruppenkonstellationen erscheinen als undurchsichtig, Gruppierungen als schwer zugänglich). 323 Adam, Ausländer im Strafvollzug, 2008, S. 188 (189); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 62; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 149. 324 Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (434); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 88; Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (101); Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 165 f. 325 Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 88.
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
doch nicht zu einem Verdrängen der heimischen Sprache und Kultur kommen.326 Der Bezug ausländischer Zeitungen sowie vereinzelte landeskundliche Veranstaltungen stellen – insbesondere für von Ausweisung/Abschiebung bedrohte Gefangene – eine sinnvolle Ergänzung des notwendigen Integrationsunterrichts dar.327 Daneben wird jedoch durchaus zu Recht auf das Erfordernis der zielgerichteten Fortbildung des Anstaltspersonals bezüglich fremder Sprachen und Kulturen hingewiesen. Schulungsveranstaltungen für die Vollzugsbediensteten im Hinblick auf die besondere Situation, die kulturellen Hintergründe sowie die damit einhergehende Problemlage für sprach- und ortsfremde Gefangene können Hintergrundwissen vermitteln, Hemmungen abbauen, Missverständnisse vermeiden sowie ganz allgemein Sensibilität schaffen.328 Sog. „interkulturelles Training“ ermöglicht Erfahrungen mit der eigenen Kultur und setzt Reflexionsprozesse in Gang, welche in einem nächsten Schritt mit gezieltem Theorieinput die Fähigkeit vermitteln, erforderliche Handlungskompetenzen im Vollzugsalltag umzusetzen.329 Gegen islamistische Radikalisierungstendenzen in Justizvollzugsanstalten hat etwa der Freistaat Bayern am 18.05.2018 ein Präventionsprogramm namens „ReStart – Freiheit beginnt im Kopf“ vorgestellt. Dieses besteht aus drei Workshops, mit denen frühzeitig Alternativen zu islamistisch-radikalem Gedankengut aufgezeigt, auf Augenhöhe mit den – insbesondere jungen – Häftlingen diskutiert und Denkanstöße gegeben werden sollen.330 Thematisch beinhaltet das Programm folgende Materien: Geschlechterrollen und religiöse Geschlechterverhältnisse, patriarchalische Strukturen in Bezug zum Islamverständnis, Erlernen von Kommunikationsstrategien, Erziehung in den Familien, Fragen der eigenen Identität.331 Als weiterer Baustein einer diskriminierungsfreien, am Resozialisierungsziel ausgerichteten Inhaftierung wird der Einsatz von (haupt- oder nebenamt326 Walter, Junge russischsprachige Aussiedler als Klientel in den Justizvollzugsanstalten, 2003, S. 87 (102 f.); Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 168. 327 Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 168 f. 328 Abraham, Ausländische Gefangene, 2018, S. 443 (450); Adam, Ausländer im Strafvollzug, 2008, S. 188 (190 f.); Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (434); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 83 ff.; Staudinger, Untersuchungshaft bei jungen Ausländern, 2001, S. 184; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 169 f. 329 Ahmari/Kersten, NK 2007, 150 (151); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 83; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 169. 330 FD-StrafR 2018, 405782. 331 FD-StrafR 2018, 405782.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 305
lichen) Ausländerbeauftragten in den Justizvollzugsanstalten genannt.332 Ein zusätzlicher Aspekt vor diesem Hintergrund könnte die vermehrte Einstellung von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund sein, um sprachlich-kulturelle Diversität unter den Vollzugsbediensteten herzustellen, Ansprechpartner zu schaffen, das gegenseitige Vertrauen zu erhöhen und den Abbau von Vorurteilen voranzubringen.333 JVA-Bedienstete mit Migrationshintergrund können zudem hilfsweise Dolmetscherdienste erbringen.334 Ganz generell würde der verbreitete Einsatz von interkulturell gebildeten Personen (sei diese Kompetenz nun durch eigene Sozialisation praktisch erlebt oder auch rein theoretisch erworben) erhebliche Ressourcen beim Einsatz von – gegebenenfalls auch anstaltsexternen – Hilfskräften sparen. cc) Praktische Evaluation des gesetzlichen Leitbilds Wie bereits angesprochen, enthält Art. 40 Abs. 3 BayStVollzG den verpflichtenden Auftrag zur Behebung von Integrationsdefiziten ausgerichtet an den in Art. 1 Satz 2 BayIntG formulierten Zielen: Hilfe und Unterstützung (Integrationsförderung) sowie unabdingbare Achtung der Leitkultur (Integrationspflicht). Diese abstrakten Forderungen müssen in der Praxis durch Lehrer und Sozialarbeiter mit entsprechendem Leben erfüllt werden. An dieser Stelle erfolgt eine beispielhafte Veranschaulichung anhand eines in der JVA Nürnberg praktizierten Konzepts,335 woran sich zeigt, dass der auf dem (Gesetzes-)Papier stehende Appell in der täglichen Vollzugstätigkeit durchaus maßgeblichen Widerhall findet. Der Integrationskurs „30 Stunden Basiswissen Deutschland“ wird in der Regel ein Mal wöchentlich zu je zwei Schulstunden mit maximal acht Gefangenen abgehalten, sodass insgesamt fünfzehn Sitzungen erfolgen. Für die anwesende Zeit werden die Teilnehmer entlohnt. Der Fokus des Kurses ist gerichtet auf den Erwerb landeskundlichen Wissens betreffend die Bereiche Politik, Demokratie, Grundrechte, Geschichte und Verantwortung sowie Mensch und Gesellschaft. Begleitend zum verbalen Unterricht wird auch mithilfe des Grundgesetzes, von Atlanten und mit Filmen über die deutsche 332 Knödler, Straftäter nicht-deutscher Nationalität, 2009, S. 422 (434); Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 86 f.; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 176 f. 333 Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 85; Staudinger, Untersuchungshaft bei jungen Ausländern, 2001, S. 183; Werner, Jugendstrafvollzug in Deutschland, 2012, S. 172 f. 334 Lüth, Resozialisierung von Ausländern im Strafvollzug, 2009, S. 85. 335 Konzept Integrationskurs „30 Stunden Basiswissen Deutschland“ von Barbara Brett und Gabriele Hartmann, 2017/2018.
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Rechtsordnung gearbeitet. Nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die gegenständlichen Themen, welche in elf Kapitel aufgeteilt sind, und über den Zeitraum von fünfzehn Wochen verteilt behandelt werden: Kapitel Thema
Wesentlicher Inhalt
1
Deutschland kennenlernen
Vorstellung, Bekanntgabe der Gruppenregeln
2
Staatssymbole
Flagge, Wappen, Nationalhymne
3
Bundesländer
Freistaat Bayern im Mittelpunkt
4
Interkulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Umgangsformen, Zusammenleben in der BRD
5
Aufgaben des Staates
Befragung der Teilnehmer, Vergleich mit Heimatland
6
Pflichten und Rechte der Bürger
Bürgerrechte und ‑pflichten, Vergleich mit Heimatland
7
Grundrechte
Art. 1–6 GG im Mittelpunkt
8
Die vier Verfassungsprinzipien
Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat, Vertragsschluss, Grundlagen des Strafrechts
9
Geschichte und Verantwortung
Nationalsozialismus, Teilung und Wiedervereinigung
10
Religiöse Vielfalt
Verschiedene Religionen sowie christliche Rituale, Feste und Feiertage
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Auswertung
Feedback und Abschlussrunde
Im ersten Kapitel („Deutschland kennenlernen“) steht die Vorstellung der Kursleiter sowie der einzelnen Teilnehmer im Vordergrund. Die wesentlichen, einzuhaltenden Werte und Regeln zur Kursarbeit in der Gruppe werden bekanntgegeben, basierend auf Verlässlichkeit und gegenseitigem Respekt. Es folgt eine Diskussion über Deutschland und dessen Charakteristika. Ein Quiz über die BRD schließt die erste Einheit ab. Das zweite Kapitel („Staatssymbole“) behandelt die Nationalflagge der BRD, das Bundeswappen und die Nationalhymne. Man beschäftigt sich mit der Hauptstadt Berlin und dem Tag der deutschen Einheit als Nationalfeiertag. Die Einheit endet wiederum mit einem Quiz. Im dritten Kapitel („Bundesländer“) erfolgt – veranschaulicht an Atlanten und Städtekarten – eine bildliche Reise durch die Bundesländer. Ausgerichtet
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 307
am Ort der Inhaftierung (Nürnberg) steht der Freistaat Bayern im Mittelpunkt. Das vierte Kapitel („Interkulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten“) beschäftigt sich mit Begrüßungsformen, Gestik (inklusive ihrer Wirkung auf das Umfeld), Pünktlichkeit, Familie und anderen Formen des Zusammenlebens sowie mit dem Thema Wohnen in der BRD. Im fünften Kapitel („Aufgaben des Staates“) leitet eine Befragung der Teilnehmer dazu, was aus ihrer Sicht für die Bürger wichtig ist sowie welche Ämter sie in Deutschland kennen, zu einem Vergleich mit dem jeweiligen Heimatland und zu Arbeitsblättern zur Hilfe im Alltag/bei Notfällen. Das sechste Kapitel („Pflichten und Rechte der Bürger“) beschäftigt sich mit den bestehenden Bürgerrechten, aber auch mit den einhergehenden Pflichten in der BRD, insbesondere im Vergleich mit dem jeweiligen Heimatland. Im siebten Kapitel („Grundrechte“) werden die Menschen- und Bürgerrechte sowie der freiheitliche Rechtsstaat besprochen. In den Vordergrund gestellt werden insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Freiheit der Person, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie Ehe und Familie. Das achte Kapitel („Die vier Verfassungsprinzipien“) hat zunächst die Grundsätze Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat zum Gegenstand. Darüber hinaus werden Filme zum Vertragsschluss sowie zu Grundfragen des deutschen Strafrechts (Diebstahl, Betrug, Körperverletzung) gezeigt. Das neunte Kapitel („Geschichte und Verantwortung“) startet mit einer Diskussion über die Geschichte Deutschlands. Sodann erfolgt ein zeitlicher Abriss über den Nationalsozialismus und seine Folgen sowie die Teilung in BRD/DDR hin zu einem vereinten Deutschland seit 1990. Im zehnten Kapitel („Religiöse Vielfalt“) werden die verschiedenen Religionen der Teilnehmer erörtert und auf die Bedeutung religiöser Vielfalt eingegangen. Das Kreuz als Zeichen ist ebenso Gegenstand wie christliche Feste und Feiertage. Das abschließende elfte Kapitel („Auswertung“) beinhaltet ein Feedback des Kurses und eine Abschlussrunde. Der Strafvollzug ist theoretisch geprägt vom Gedanken der sozialen Reintegration, was jedoch insbesondere bei sprach- und ortsfremden Beschuldigten, noch verstärkt durch personelle und finanzielle Angebotsknappheit, praktisch schwerfällt.336 Man erkennt am Zuschnitt der soeben aufgeführten einzelnen Kapitel, dass es sich um eine didaktisch angelegte, durchaus in 336 Laubenthal,
Strafvollzug, 2015, Rn. 141.
308
D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
gewisser Breite aufgestellte Konzeption handelt, welche bei einer unterstellten Zielgruppe mit zumindest grundlegenden Deutschkenntnissen und einer hinlänglichen Motivation, zu lernen sowie sich für Deutschland zu interessieren, durchaus Erfolge zu erzielen geeignet ist. Insofern ist die Einführung einer verpflichtenden Teilnahme am Integrationsunterricht gem. Art. 40 Abs. 3 Satz 1 BayStVollzG im Grundsatz durchaus gutzuheißen, um auch für die Gruppe der Sprach- und Ortsfremden eine möglichst weitgehende Resozialisierung zu ermöglichen. Als problematisch erweisen sich jedoch zwei Gesichtspunkte. Als erstes genannt sei die durchaus berechtigte Frage, inwieweit für einen ortsfremden Beschuldigten ohne Bleibeperspektive die – kosten- und ressourcenintensive – Schulung deutscher Grundwerte tatsächlich zielführend ist. Der (bayerische) Gesetzgeber hat diese ganz klar bejaht, was im demokratischen Rechtsstaat zwar kritisch zu hinterfragen, gleichwohl aber zu akzeptieren ist. Zum anderen besteht jedoch angesichts der hohen Zahl an ausländischer Gefangenenpopulation trotz entsprechender Bemühungen weiterhin eine nicht zu vernachlässigende Angebotsknappheit, welche in der Praxis dazu führt, dass die Anstaltsleitung entscheiden muss, wen sie für einen Kurs berücksichtigt und wen nicht. Man hat insoweit zu differenzieren: Der Staat als Ganzes ist gehalten, hinreichende Kapazitäten zur Verfügung zu stellen. Ergibt sich für den konkreten JVA-Leiter hingegen ein Mangel an Plätzen, stellen die Aspekte der Sprach- und Ortsfremdheit in ihrem Bezug zur Erfolgsaussicht und zur Effizienz der offerierten Schulungen im Rahmen seiner auszuübenden Ermessensleistung zulässige Erwägungen dar. 3. Führungsaufsicht mit Auslandsbezug Die Maßregel der Führungsaufsicht stellt eine Form der ambulanten Betreuung und Überwachung nach Verbüßung von freiheitsentziehenden Sanktionen dar, zielt auf gefährliche/gefährdete Täter ab und hat einen gewissen Doppelcharakter: Sie bietet einerseits intensive Hilfe zur Rückfallvermeidung für den Entlassenen (sog. Stützungs-/Betreuungsfunktion) und dient andererseits durch strenge Überwachung und der damit verbundenen rechtzeitigen Feststellung relevanter negativer Sozialentwicklungen dem Schutz der Allgemeinheit vor möglichen neuen Straftaten (sog. Überwachungs-/Sicherungs funktion).337 Im Rahmen des § 68b StGB ist das Gericht befugt, der verurteilten Person für die Dauer der Führungsaufsicht Weisungen zu erteilen, deren Ziel indes 337 BVerfG 15.08.1980 – 2 BvR 495/80, BVerfGE 55, 28 = NStZ 1981, 21; KG 13.09.2013 – 2 Ws 445/13 – 141 AR 477/13, BeckRS 2014, 03389; MüKo-StGB/ Groß, Vor § 68 Rn. 1; NK-StGB/Ostendorf, Vor § 68 Rn. 9; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 17 Rn. 5; Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 49.
II. Der Umgang mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten 309
ausschließlich in der Sicherung der Allgemeinheit sowie der Resozialisierung des Täters zu bestehen hat, ohne dass Vergeltungszwecke eine Rolle spielen dürfen.338 Während im Fall der Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel zur Bewährung der Betreuungszweck im Vordergrund steht, weil insofern dem Verurteilten bereits mit dem Aussetzungsbeschluss die Besserungsfähigkeit attestiert wurde, muss etwa im Zuge der §§ 67d Abs. 4 Satz 2, 68f Abs. 1 Satz 1 StGB dem Überwachungsaspekt Vorrang zukommen, da die vollständige Vollstreckung bereits eine entsprechende gefährlichkeitsbegründende Indizwirkung aufweist.339 In diesem Rahmen kann und sollte die Ausgestaltung der Führungsaufsicht der persönlichen Struktur und den Bedürfnissen des Einzelnen genügend angepasst werden.340 Es ist keine gesetzliche Voraussetzung der Führungsaufsicht, dass der Betroffene einen Wohnsitz im Inland hat.341 Für ortsfremde Beschuldigte haben sich Auswahl und Ausgestaltung der Weisungen indessen danach zu richten, dass sie befolg- und überwachbar sind.342 Deren unionales Freizügigkeitsrecht ist nachhaltig zu beachten.343 Allein die Tatsache eines ausländischen 338 MüKo-StGB/Groß, § 68b Rn. 5; Laubenthal/Nestler, Strafvollstreckung, 2010, Rn. 385. 339 Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 51. 340 MüKo-StGB/Groß, § 68b Rn. 5; Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 51. 341 OLG München 08.03.2013 – 1 Ws 84/13, 1 Ws 88/13, NStZ-RR 2013, 211; KG 13.09.2013 – 2 Ws 445/13 – 141 AR 477/13, BeckRS 2014, 03389; OLG Braunschweig 18.11.2013 – 1 Ws 333/13, BeckRS 2013, 20361. 342 MüKo-StGB/Groß, § 68b Rn. 5. 343 OLG Dresden 05.06.2015 – 2 Ws 248/15, BeckRS 2015, 12633; MüKo-StGB/ Groß, § 68b Rn. 5; diff. OLG Jena 01.12.2011 – 1 Ws 526/11, NStZ-RR 2012, 158: „Hinsichtlich der Weisung, während der Dauer der Führungsaufsicht Wohnsitz im Inland zu nehmen, hat das Rechtsmittel zumindest vorläufig Erfolg. Die Weisung ist grundsätzlich zulässig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 68b II 1 StGB. Sie kann demgegenüber nicht auf § 68b I 1 Nr. 1 StGB gestützt werden. Diese Norm ermöglicht dem Gericht nur die Anordnung, dass der Verurteilte den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis der Aufsichtsstelle verlassen darf. Die Zuweisung eines bestimmten Wohnsitzes ist davon nicht erfasst […] Um dieser kriminalpolitischen Zielsetzung gerecht zu werden, kann es im Einzelfall erforderlich sein, dem Verurteilten eine Wohnsitznahme im Inland vorzuschreiben, weil dies zweifelsohne eine engmaschigere und effektivere Betreuung und Überwachung des Verurteilten ermöglicht. […] kurz darlegen müssen, dass und warum eine so engmaschige Betreuung des Verurteilten im Rahmen der Führungsaufsicht erforderlich ist, dass diese bei einer Verlagerung des Wohnsitzes des Verurteilten ins Ausland, namentlich – wie von ihm beabsichtigt – nach Österreich, nicht möglich sein soll“; vgl. auch OLG Nürnberg 09.11.2009 – 2 Ws 457/09, 2 Ws 458/09, StV 2010, 314: „Zum Sich-Entziehen der Aufsicht des Bewährungshelfers gilt, daß es grundsätzlich dem Freiheitsgrundrecht (…) auch eines Bewährungsprobanden entspricht, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Im konkreten Fall hätte der Bf. zum Verlassen des Landes […] zwar der vorherigen Zustimmung seines Bewährungshel-
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D. Folgen der Tat für sprach- und ortsfremde Beschuldigte
Wohnsitzes und die mutmaßliche Rückkehr dorthin, sind keine Gründe, einem Verurteilten (noch dazu einem Unionsbürger) die Aussetzung einer Maßregel – verbunden etwa mit einer Weisung zur ambulanten psychiatrischen Behandlung – zu verweigern, sofern im Übrigen eine positive Prognose gem. § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB besteht.344 Es ist nämlich durchaus angängig, Führungsaufsichtsweisungen für den Fall zu erteilen, dass die verurteilte Person nach Entlassung ihren Aufenthalt im Ausland, namentlich in einem EU-Mitgliedstaat, nimmt.345 Zwar ist ersichtlich, dass die notwendige Aufsicht vom Inland aus erschwert wird, jedoch kann zum einen die Führungsaufsicht entsprechend auslandsbezogen ausgestaltet, beispielsweise eine Therapieweisung auf diejenige ausländische Einrichtung bezogen werden, welche den ortsfremden Beschuldigten aufzunehmen bereit ist, und zum anderen ist es möglich, ausländische Stellen im Wege der Rechtshilfe um Überwachung zu ersuchen.346
fers bedurft; unbeschadet der Frage, ob ihm diese hätte verweigert werden dürfen und ob deshalb ein gröblicher Verstoß hiergegen vorliegt, indiziert dies ohne weitere Anknüpfungspunkte jedoch nicht die Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten“; OLG Nürnberg 05.09.2012 – 2 Ws 464/12, BeckRS 2012, 21097: „Die im Rahmen der Führungsaufsicht erteilte Weisung, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht – auch nicht kurzfristig – ohne Erlaubnis der Führungsaufsichtsstelle verlassen zu dürfen, ist gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB zulässig, wenn damit die Einhaltung der Weisung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB („elektronische Fußfessel“) bei Auslandsaufenthalten sichergestellt werden soll.“ 344 BGH 03.05.2011 – 5 StR 123/11, StraFo 2011, 289. 345 OLG München 08.03.2013 – 1 Ws 84/13, 1 Ws 88/13, NStZ-RR 2013, 211; OLG Braunschweig 18.11.2013 – 1 Ws 333/13, BeckRS 2013, 20361. 346 OLG München 08.03.2013 – 1 Ws 84/13, 1 Ws 88/13, NStZ-RR 2013, 211; OLG Braunschweig 18.11.2013 – 1 Ws 333/13, BeckRS 2013, 20361.
E. Vertiefende Betrachtung im Lichte des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots „Europäisches Strafrecht“ ist gewissermaßen en vogue. Es umfasst eigene supranationale Strafnormen nach Art. 325 Abs. 4 AEUV, Konzepte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ebenso wie durch Richtlinien beeinflusste „europäisierte“ nationale Normen.1 Intendierte Zielsetzung ist dabei namentlich die Verfolgung der grenzüberschreitenden Kriminalität, die Protektion der europäischen Institutionen und Werte sowie der Schutz der individuellen Freiheitsrechte des betroffenen Bürgers durch harmonisierende Entwicklung und Stärkung des im Grundsatz weiterhin originär nationalen Strafrechts.2 Hinzu kommt, dass das Strafrecht traditionell einen besonderen Stellenwert im nationalstaatlichen Rechtsgefüge einnimmt.3 Im Gegensatz zu einer Installation freien Waren- oder Dienstleistungsverkehrs handelt es sich bei strafrechtlichen Erwägungen um normativ aus dem Kern der (Bezugs‑)Gesellschaft gebildete Resultate.4 Jedoch gibt es keine entsprechende „europäische“ Idee von materiellem Strafrecht oder Strafprozessrecht, maximal gemeinsame Grundcharakteristika (Rechtsstaatsprinzip, Schuldprinzip, Humanitätsprinzip) sowie gewisse untrennbare Bedürfnisse an transnationaler Verbrechensbekämpfung.5 Im Vertrag von Maastricht 1992 wurde erstmals ausdrücklich das Ziel gesetzt, eine enge Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zu entwickeln (sog. Dritte Säule der Europäischen Union). Der Vertrag von Amsterdam 1997 proklamierte das Ziel, die Freizügigkeit der Unionsbürger durch den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 1 Vgl. Dettmers, SchlHA 2012, 361; Heger, ZIS 2009, 406 (409 ff.); Ambos, Internationales Strafrecht, 2018, § 9 Rn. 18; Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 5 f.; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 2 Rn. 7, § 9 Rn. 3 ff.; Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, Einf. Rn. 2 ff.; Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 4. 2 Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, Einf. Rn. 202 ff. 3 Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 11 Rn. 5. 4 Gleß, ZStW 116 (2004), 353 (366); Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267. 5 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (308); Hecker, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 5; Safferling, Streng-FS, 2017, S. 187 (189 ff.); vgl. zum Versuch einer Herleitung gemeinsamer Standards für Strafverfahren in der Europäischen Union Vogel/ Matt, StV 2007, 206.
312
E. Vertiefende Betrachtung
zu fördern, insbesondere durch die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Justizbehörden bei Gerichtsverfahren, Vollstreckungsfragen, der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten, der Gewährleistung der Vereinbarkeit der geltenden nationalen Vorschriften, der Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Mitgliedstaaten sowie der schrittweisen Festlegung gemeinsamer Mindeststandards hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale und Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel.6 Im Vertrag von Lissabon 2007 wurde der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum weiteren zentralen Politik- und Kompetenzbereich der Europäischen Union aufgewertet, die Grundprinzipien der Zusammenarbeit in Strafsachen als gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen sowie die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in Form europaweiter Mindeststandards in bestimmten Bereichen festgeschrieben.7 Eine EU-Kompetenz für strafverfahrensrechtliche Belange besteht dabei nur insoweit, als in den Bereichen Zulässigkeit von Beweismitteln, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren sowie Opferrechte bei gleichzeitiger Beachtung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erleichtert werden.8 Der diesbezüglich verwendete Begriff der Mindestvorschriften impliziert, dass keine Rechtsangleichung im Sinn von Harmonisierung erfolgt, sondern die Mitgliedstaaten frei darin sind, auch weitergehende Bestimmungen zu erlassen.9 Bestreben der aktuellen strafrechtlichen Integration ist – nach wie vor – die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 1 AEUV. „Freiheit“ versteht sich als rechtsstaatliche Garantie gegen Eingriffe des kontrollierenden, strafenden Staates, während „Sicherheit“ konträr gerade staatliche Intervention gegen drohende Gefahren erfordert.10 „Recht“ betont die Verwirklichungsform in den Gren6 Fischer/Keller/Ott/Quarch,
EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 583. Art. 67 AEUV Rn. 6 f.; Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (12 ff.); Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 585 ff.; Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 86 ff.; Langbauer, Das Strafrecht vor den Unionsgerichten, 2015, S. 81 ff.; Petrus, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 17 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 3. 8 Zeder, EuR 2012, 34 (44); Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 106 ff. 9 Zeder, EuR 2012, 34 (46); Petrus, Europäisches Strafrecht, 2015, S. 271; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 83. 10 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (311); Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267; Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 92 ff.; Saffer7 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Röben,
E. Vertiefende Betrachtung313
zen des Rechtsstaats.11 Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass ein Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts unweigerlich ein in sich wohnendes Spannungsverhältnis hervorruft, welches es im Einzelfall stets neu auszuloten gilt.12 Die Europäische Union versucht insoweit einen dreigeteilten Weg bestehend aus teilweiser Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften, Förderung des gegenseitigen Vertrauens auf Grundlage gegenseitiger Anerkennung und operativer Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten.13 Vermehrt in den Blick des EuGH gerät dabei auch im strafrechtlichen Kontext die Unerlässlichkeit der Vermeidung jedweder Diskriminierung.14 In der Sache Lopes Da Silva Jorge ging es um die Frage, ob ein Weigerungsgrund, mit dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, allein den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten werden darf. Der EuGH entschied, dass die Ablehnung der Vollstreckung nicht ohne Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung auf die eigenen Staatsangehörigen beschränkt werden könne, wenn zugleich Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort wohnen, ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Mitgliedstaat automatisch völlig ausgeschlossen würden.15 ling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 6: „Es ist nun die Aufgabe der Akteure, von der Kommission, den nationalen Regierungen bis hin zum EuGH und den nationalen Gerichten, diese Grundlagen in ein gesamteuropäisches Strafrechtssystem auszubauen, das den freiheitlichen Ansprüchen genügt. Die Freiheit steht an erster Stelle. Der Sicherheitsaspekt demgegenüber dient der Gewährleistung der Freiheit und ist kein Selbstzweck.“ 11 Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 7. 12 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (311 f.); Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (276 f.); Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, 2016, S. 92 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 10 Rn. 8: „Ein Raum der Freiheit durch Sicherheit im Recht.“ 13 Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (279); zur Entwicklung der „klassischen“ Rechtshilfe hin zum Ziel der gegenseitigen Anerkennung vgl. weiterführend Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Wasmeier, Europäisches Strafrecht, § 32. 14 Vgl. bspw. EuGH 05.09.2012 – C-42/11 (Lopes Da Silva Jorge), NJW 2013, 141 (144) Rn. 50; EuGH 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci), BeckRS 2015, 81354 Rn. 65 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf; EuGH 04.02.2016 – C-336/14 (Ince), BeckRS 2016, 80225 = ZfWG 2016, 115 m. Anm. Kudlich/Berberich = JuS 2016, 568 m. Bspr. Streinz = NVwZ 2016, 369 m. Anm. Weidemann; EuGH 06.09.2016 – C-182/15 (Petruhhin), NJW 2017, 378 (379) Rn. 31; EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16 (Tranca, Reiter, Opria), BeckRS 2017, 104323 Rn. 40 = JR 2017, 488 m. Anm. Zündorf = StV 2018, 69 m. Anm. Brodowski. 15 EuGH 05.09.2012 – C-42/11, NJW 2013, 141 (144) Rn. 50.
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E. Vertiefende Betrachtung
In der in Teil B. und C. bereits beleuchteten Covaci-Entscheidung führte der EuGH aus, dass bei der Beurteilung der verfahrensfairen Ermöglichung der Vorbereitung der Verteidigung und bei der Berechnung von Fristen die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten nachdrücklich zu berücksichtigen sei.16 In der Rechtssache Ince ging es um den Ausschluss der verwaltungsrechtsakzessorischen Strafnorm des § 284 StGB, wenn die Erteilung einer Erlaubnis für die Veranstaltung von Sportwetten daran geknüpft ist, dass der genannte Wirtschaftsteilnehmer eine Konzession nach einem bestimmten Konzessionserteilungsverfahren erhält und dieses Verfahren indes u. a. dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zuwiderläuft.17 In seiner Petruhhin-Entscheidung führte der EuGH aus, dass nationale Auslieferungsvorschriften, welche eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon schaffen, ob die betroffene Person ein Inländer oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, geeignet sind, die diskriminierungsfreie Freizügigkeit in der Union zu beeinträchtigen.18 Und in der ebenfalls in Teil C. bereits angesprochenen, verbundenen Rechtssache Tranca/Reiter/Opria betonte der EuGH in Wiederholung seiner in der Covaci-Entscheidung ausgeführten Argumente, dass der Erhalt der vollen Einspruchsfrist nach § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO für die Vermeidung einer Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten unerlässlich ist.19
16 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 65 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 17 EuGH 04.02.2016 – C-336/14, BeckRS 2016, 80225 = ZfWG 2016, 115 m. Anm. Kudlich/Berberich = JuS 2016, 568 m. Bspr. Streinz = NVwZ 2016, 369 m. Anm. Weidemann. 18 EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 31 ff. 19 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 40 = JR 2017, 488 m. Anm. Zündorf = StV 2018, 69 m. Anm. Brodowski.
I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot315
I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“, Art. 18 AEUV.
Ausweislich des Wortlauts gilt das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot nur im Anwendungsbereich der Verträge (und nur soweit keine umfassende Harmonisierung erfolgte20), doch genügt hierfür, dass der zu beurteilende Sachverhalt in irgendeiner Weise qualifiziert in den Unionsbürgerstatus (insbesondere im Hinblick auf das in Art. 21 Abs. 1 AEUV geregelte Freizügigkeitsrecht) eingreift.21 Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob sich hieraus zwei Verbote (nämlich ein Ungleichbehandlungsverbot gleicher Sachverhalte und ein Gleichbehandlungsverbot unterschiedlicher Sachverhalte) ergeben,22 oder ob sich vielmehr jede verbotene Gleichbehandlung als auch ungerechtfertigte Ungleichbehandlung beschreiben lässt, sodass letztlich nur ein zentrales Ungleichbehandlungsverbot verbliebe.23 20 EuGH 12.11.2015 – C-198/14, BeckRS 2015, 81742 Rn. 40; EuGH 26.10. 2017 – C-195/16, NZV 2018, 573 (576) Rn. 56: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nämlich jede nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf der Ebene der Europäischen Union umfassend harmonisiert wurde, anhand der Bestimmungen der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand der Bestimmungen des Primärrechts zu beurteilen“. 21 EuGH 11.09.2007 – C-76/05, Slg. 2007, I-6879 = NJW 2008, 351 (356) Rn. 87: „Zu den Situationen, die in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, gehören diejenigen, die sich auf die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten beziehen, und insbesondere auch die, in denen es um das […] verliehene Recht geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“; EuGH 05.05.2011 – C-434/09, Slg. 2011, I-3375 = EuZW 2011, 522 (525) Rn. 56: „von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirkten, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde“; EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 30: „Zu den in diesen Anwendungsbereich fallenden Situationen gehören daher unter anderem diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten“; von der Groeben/Schwarze/ Hatje/Rust, Art. 18 AEUV Rn. 48; Latzel, EuZW 2015, 658 (661); Fischer/Keller/Ott/ Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 191. 22 Vgl. hierzu EuGH 17.04.1997 – C-15/95, Slg. 1997, I-1961 = BeckRS 2004, 74453 Rn. 35: „besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre“; EuGH 02.10.2003 – C-148/02, Slg. 2003, I-11613 = BeckRS 2004, 74436 Rn. 31 ff.; vertiefend Fuchs, Das Gleichbehandlungsverbot im Unionsrecht, 2015, S. 144 ff. 23 Vgl. hierzu Kempny, JZ 2015, 1086; Reimer, JZ 2016, 615.
316
E. Vertiefende Betrachtung
Es handelt sich bei Art. 18 AEUV um ein „Leitmotiv“ bei der Verwirklichung der Ziele der europäischen Einigung, eine „Interpretationsmaxime aller weiteren Bestimmungen“.24 Dem Diskriminierungsverbot kommt unmittelbare Wirksamkeit in dem Sinne zu, dass es keines mitgliedstaatlichen Vollzugsaktes bedarf, sondern es bereits für sich selbst genommen ein hinreichend bestimmtes Verbot/eine Unterlassungspflicht enthält und keinen Ermessensspielraum belässt.25 Als besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes26 gewährt Art. 18 AEUV ein höheres, über ein bloßes Willkürverbot hinausgehendes Schutzniveau.27 Dabei steht das Diskriminierungsverbot in engem Zusammenhang mit der in Art. 20 AEUV geregelten Unionsbürgerschaft. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU besitzt.28 Der Unionsbürgerstatus ist nach der Rechtsprechung des EuGH dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, welcher es erlaubt, unabhängig von der Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen in der gleichen Situation die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.29 Auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht auf dem wechselseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene anerkannten Grundrechte zu bieten.30 Dieses gegenseitige Vertrauen stellt sich insoweit als ein den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durchziehendes, primärrechtliches, unionsimmanentes Prinzip dar, welches nicht bestehendes Vertrauen retrospektiv abbildet, sondern hierzu prospektiv verpflichtet.31 Dabei führt das bloße Vorliegen einer Benachteiligung für sich genommen noch nicht zu ei24 Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 18 AEUV Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 1; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Rust, Art. 18 AEUV Rn. 13; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 2, 12; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 181. 25 Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 18 AEUV Rn. 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 2; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 9. 26 EuGH 27.10.2009 – C-115/08, Slg. 2009, I-10265 = EuZW 2010, 26 (29) Rn. 89; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 180. 27 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 5. 28 Calliess/Ruffert/Kluth, Art. 20 AEUV Rn. 8. 29 EuGH 20.09.2001 – C-184/99, Slg. 2001, I-6193 = EuZW 2002, 52 (55); EuGH 15.03.2005 – C-209/03, Slg. 2005, I-2151 = NJW 2005, 2055; EuGH 12.07.2005 – C-403/03, Slg. 2005, I-6435 = NJW 2005, 2763; Calliess/Ruffert/Kluth, Art. 20 AEUV Rn. 16; Streinz/Magiera, Art. 20 AEUV Rn. 19 ff. 30 EuGH 05.04.2016 – C-404/15, C-659/15, NJW 2016, 1709 (1711); EuGH 01.06.2016 – C-241/16, NJW 2017, 49 (50). 31 Meyer, JZ 2016, 621.
I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot317
nem Verstoß gegen Art. 18 AEUV, sondern diese ist potentiell einer Rechtfertigung zugänglich.32 Das gilt nach herrschender Ansicht sowohl für mittelbare als auch unmittelbare Diskriminierungen.33 Beruht die Ungleichbehandlung auf objektiven Erwägungen, die gemessen am verfolgten, legitimen Zweck verhältnismäßig sind, stellt dies zwar nicht die Ungleichbehandlung als solche in Abrede, verhindert aber eine verbotene Diskriminierung.34 Maßnahmen, durch die eine Grundfreiheit – wie beispielsweise die in Art. 21 AEUV garantierte Freizügigkeit – eingeschränkt wird, können indes nur dann durch objektive Überlegungen gerechtfertigt werden, wenn sie zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich sind, und nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger restriktiven Maßnahmen erreicht werden können.35 Dabei muss aber ebenso klar sein, dass Freizügigkeit und offene Grenzen nicht zu ungerechtfertigten Vorteilen bei oder Schwächen in der Strafverfolgung der nationalen Staaten führen dürfen.36 Neben dem in diesem Teil behandelten supranationalen Diskriminierungsverbot setzt das unionsrechtliche Fairnessprinzip auf Grundlage von Art. 6 EUV, Art. 47 EU-GRCh in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung des EuGH im Wesentlichen keine eigenen Akzente.37 Im Ergebnis sucht es ausreichende Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte zu gewähren sowie den Schutz vor einseitigen Benachteiligungen und die faire Behandlung vor Gericht zu sichern, wobei eine Anbindung insoweit primär an Art. 6 EMRK und die gezogenen Leitlinien des EGMR erfolgt.38
32 Vgl. allg. zur Bedeutung der Rechtfertigungsdogmatik im Rahmen allgemeiner Gleichheitssätze Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 98 ff. 33 EuGH 20.03.1997 – C-323/95, Slg. 1997, I-1711 = NJW 1998, 2127 (2128) Rn. 18 ff.; EuGH 06.06.2002 – C-360/00, Slg. 2002, I-5089 = NJW 2002, 2858 Rn. 32 f.; BeckOK-AuslR/Rossi, Art. 18 AEUV Rn. 33 ff.; Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 18 AEUV Rn. 37; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 20 ff. m. w. N. auch zur Gegenansicht; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 58 ff. m. w. N.; Fischer/ Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 194. 34 EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235); EuGH 24.11.1998 – C-274/96, Slg. 1998, I-7637 = EuZW 1999, 82 (83 f.) Rn. 27; EuGH 11.07.2002 – C-224/98, Slg. 2002, I-6191 = EuZW 2002, 635 (637) Rn. 36; EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 34; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 193. 35 EuGH 12.05.2011 – C-391/09, Slg. 2011, I-3818 = BeckRS 2011, 80519 Rn. 88; EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 38; zu einer gewissen Typisierung vgl. Fuchs, Das Gleichbehandlungsverbot im Unionsrecht, 2015, S. 85 ff. 36 Meyer, JZ 2016, 621 (624). 37 Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (605 ff.). 38 Jahn, ZStW 127 (2015), 549 (608 f.).
318
E. Vertiefende Betrachtung
1. Allgemeine Anforderungen Art. 18 AEUV verlangt die Gleichbehandlung von Personen, die sich in einer in den Anwendungsbereich der Verträge fallenden Situation befinden.39 Er verbietet dabei nicht die Differenzierung, sondern lediglich die Benachteiligung.40 Es bedarf hierfür der nachteilig-unterschiedlichen Behandlung zweier gleicher Tatbestände durch denselben Hoheitsträger.41 a) Unmittelbare Diskriminierung Setzt der fragliche Regelungssachverhalt ausdrücklich an der Staatsangehörigkeit an, wählt er somit bewusst das verbotene Differenzierungskriterium, handelt es sich um eine sog. unmittelbare Diskriminierung.42 b) Mittelbare Diskriminierung Über die unmittelbare Diskriminierung hinausgehend verbietet Art. 18 AEUV jedoch „jede“ Benachteiligung, sodass auch versteckte, verschleierte, materielle oder indirekte Formen erfasst sind. Erfolgt die nachteilige Differenzierung (vordergründig) nach einem anderen Kriterium, führt jedoch typischerweise und regelmäßig zu einer Schlechterstellung aufgrund der Staatsangehörigkeit, liegt eine sog. mittelbare Diskriminierung vor.43 Dabei kann grundsätzlich jedes Unterscheidungskriterium zu einer verbotenen mittelbaren Diskriminierung führen, und zwar unabhängig davon, ob letztere beabsichtigt ist oder nicht.44 Abzustellen ist auf die typischen, tatsächlichen Regelungsfolgen, d. h. ob die große Mehrzahl der von der Norm
39 EuGH
06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 29. Art. 18 AEUV Rn. 7. 41 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 6 ff. 42 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 10; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 53; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 188. 43 EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235); EuGH 11.04.2000 – C-356/98, Slg. 2000, I-2623 = EuZW 2000, 350 (352) Rn. 27; EuGH 19.03.2002 – C-224/00, Slg. 2002, I-2965 = BeckRS 2004, 75213 Rn. 15; EuGH 01.07.2004 – C-65/03, Slg. 2004, I-6427 = EWS 2004, 477 (479); Calliess/Ruffert/ Epiney, Art. 18 AEUV Rn. 12; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 10 ff.; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 54; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 188; Fuchs, Das Gleichbehandlungsverbot im Unionsrecht, 2015, S. 102 f. 44 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 14; Fischer/Keller/ Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 188. 40 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy,
I. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot319
geregelten Fälle in praxi ausländische Staatsangehörige erfasst/zu erfassen geeignet ist.45 Unabhängig davon, dass eine bis ins Detail konsistente Dogmatik in der Rechtsprechung des EuGH möglicherweise (noch) nicht destillierbar ist,46 lässt sich für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand Folgendes festhalten: Soweit der Regelungssachverhalt auf den Wohnsitz oder die (Mutter-) Sprache abstellt, wird regelmäßig eine mittelbare Diskriminierung vorliegen.47 c) Allgemeines Beschränkungsverbot Erschwert die hoheitliche Maßnahme lediglich die Freiheit des Einzelnen, ohne dass eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung vorliegt, ist der Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV nicht eröffnet, sodass sich hieraus über das Diskriminierungs- kein allgemeines Beschränkungsverbot ableiten lässt.48 2. Anwendungsvorrang des supranationalen Rechts Die gleichzeitige Existenz verschiedener Rechtsordnungen führt bei wechselseitiger Kooperations- und Loyalitätspflicht zur Notwendigkeit einer Kollisionsregel. Ausdrücklich kodifiziert ist eine solche in den EU-Verträgen nicht, jedoch wird sie in der 17. Erklärung zur Schlussakte des Vertrags von Lissabon49 genannt und in der Rechtsprechung des EuGH wie der nationalen 45 EuGH 10.02.1994 – C-398/92, NJW 1994, 1271; EuGH 23.05.1996 – C-237/94, Slg. 1996, I-2617 = BeckRS 2004, 75327 Rn. 21: „Es genügt die Feststellung, dass die betreffende Vorschrift geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen“; EuGH 12.09.1996 – C-278/94, Slg. 1996, I-4307 = BeckRS 2004, 75927 Rn. 20; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 15; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 54 f. 46 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 17: „Eine stabile Dogmatik hat sich noch nicht entwickelt.“ 47 EuGH 07.05.1998 – C-350/96, Slg. 1998, I-2521 = NZG 1998, 809 (811) Rn. 29; EuGH 29.04.1999 – C-224/97, Slg. 1999, I-2517 = NJW 1999, 2355 Rn. 14; EuGH 11.04.2000 – C-356/98, Slg. 2000, I-2623 = EuZW 2000, 350 (352) Rn. 27 f.; Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 18 AEUV Rn. 12; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 16; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 188. 48 EuGH 14.07.1981 – 155/80, Slg. 1981, 1993 = NJW 1981, 1885; EuGH 24.11.1993 – C-267/91, C-268/91, Slg. 1993, I-6097 = NJW 1994, 121; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 19; Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 57; Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, Rn. 189. 49 Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, ABl. C 306
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E. Vertiefende Betrachtung
Gerichte anerkannt: Nationalstaatliches Recht, das mit dem Recht der EU kollidiert, ist im Umfang der Überschneidung unanwendbar.50 Die Vorrangregel ist dabei unmittelbar wirksam und bindet jedes Gericht, ohne dass sich der Betroffene darauf berufen müsste.51 Zudem erlangt sie – gleichsam in einer Art Gesamtbetrachtung – Wirkung nicht nur bezogen auf den Inhalt der gesetzlich normierten Rechtsfolgenanordnung, sondern zusätzlich auf die etwaigen Auswirkungen anderer nationaler Regelungskomplexe sowie die Ausgestaltung des nationalen Verfahrensrechts.52
II. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten § 184 Satz 1 GVG schreibt Deutsch als Gerichtssprache fest. Lediglich über §§ 185, 187 GVG wird ein gewisser Ausgleich der daraus folgenden sprachbedingten Nachteile für sprachfremde Beschuldigte hergestellt. Eine restlose Gleichstellung ist dabei jedoch nicht in jedem Fall gegeben. Im Folgenden wird untersucht, ob hierin ein Verstoß gegen Art. 18 AEUV zu sehen ist. Der Unionsbürgerstatus ist ebenfalls nicht ohne Einfluss auf die sprachliche Thematik. Die europäische Einigung zielt auf einen Rückgang nationaler Eigenheiten bei gleichzeitigem Ausbau supranationaler Einheit. Es liege insgesamt betrachtet ein qualitativ veränderter Status vor, welchem im nationalen Recht gleichermaßen Rechnung getragen und Geltung verschafft werden müsse.53 S. 249, Celex-Nr. 12008E/AFI/DCL, 17. Erklärung zum Vorrang: „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“ 50 EuGH 09.03.1978 – 106/77, Slg. 1978, 629 = NJW 1978, 1741: „zur Folge, daß allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird“; BVerfG 28.01.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, BVerfGE 85, 191 = NJW 1992, 964: „Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalen Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen i. V. mit Art. 24 I GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist“; weiterführend Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 47 ff.; Fisahn/Ciftci, JA 2016, 364; Streinz, Söllner-FS, 2000, S. 1139. 51 Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 1 AEUV Rn. 81. 52 Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 1 AEUV Rn. 76. 53 Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 73.
II. Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten321
1. Deutsch als alleinige Gerichtssprache Eine restlose Gleichstellung wird rein praktisch betrachtet ebenso wenig erfolgreich durchgeführt werden können wie ein lückenloser Ausgleich sämtlicher sprachbedingter Nachteile für die Verteidigung des Beschuldigten. Entscheidend ist, dass Letztere durch gesetzliche Regelungen sowie Rechtsanwendung in concreto auf ein „unvermeidbares Mindestmaß reduziert [werden], das mit der unzureichenden Sprachkenntnis zwangsläufig einhergeht.“54 § 184 Satz 1 GVG stellt keinen Verstoß gegen Art. 18 AEUV dar. Die Sprache wird insofern zunächst nicht als bewusster Anknüpfungspunkt für Rechtsnachteile verwendet.55 Ferner besteht – auf den ersten Blick vielleicht überraschend – sogar ein gewisser Auftrag zur vorrangigen Verwendung der Nationalsprache insbesondere unter dem Eindruck des Unionsrechts. Die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt Europas beruht wesentlich auf der sprachlichen Diversität der einzelnen Volksgruppen.56 Die Europäische Union achtet die Vielfalt der Sprachen, Art. 22 EU-GRCh, wozu ebenso zählt, dass die einzelnen Mitgliedstaaten ihre eigene Landessprache achten, schützen und hervorgehoben zur Geltung bringen.57 Letzteres umfasst gerade auch den Bereich der Rechtssprache.58 Deutsch als Umgangs- und Staatssprache bindet nicht nur den Einzelnen in die Kultur- und Rechtsgemeinschaft der BRD ein, sondern verpflichtet ebenso sprachfremde Mitglieder der Bevölkerung zur Anerkennung dieses integrativen Sprachcharakters.59 2. Beiziehung des Dolmetschers, § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG a) Übersetzungsumfang Der Übersetzungsumfang beinhaltet alle wesentlichen Vorgänge und Äußerungen, d. h. Anträge der Verfahrensbeteiligten und entscheidungserhebliche Erklärungen sind in jedem Fall wörtlich zu übersetzen, während im Übrigen zumindest der wesentliche Inhalt verständlich zu machen ist.60 Es 54 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764). 55 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2765). 56 Elicker, ZRP 2002, 415; Stickel, ZRP 2002, 417. 57 Flessner, NJOZ 2011, 1913 (1923). 58 Flessner, NJOZ 2011, 1913 (1923). 59 Mäder, JuS 2000, 1150 (1151 f.). 60 BVerfG 17.05.1983 – 2 BvR 731/80, BVerfGE 64, 135 = NJW 1983, 2762 (2764); Kissel/Mayer, § 185 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, § 185 GVG Rn. 5; ver-
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E. Vertiefende Betrachtung
wurde bereits dargestellt, dass der insoweit eröffnete Raum für eine zusammengefasste Übersetzung sehr eng begriffen werden muss, weil prinzipiell nur der Angeklagte in der Lage ist, darüber zu entscheiden, was für ihn und seine Verteidigungsstrategie „wesentlich“ erscheint, sodass die begriffliche Vorgabe des wesentlichen Verfahrensinhalts wiederum extensiv zu verstehen ist.61 Hinzu kommt unter diskriminierungsrechtlichem Blickwinkel, dass jedwede Auswahl von Verfahrensstoff den Angeklagten schlechter stellt als die hypothetische, sprachkundige Vergleichsperson. Ein Sachgrund könnte lediglich in prozessökonomischen Erwägungen zu sehen sein, weshalb unmittelbar einleuchtet, dass tatsächlich allein die Verteidigung nahezu gar nicht berührende Aspekte außen vor gelassen werden können. Schließlich spielen solche Überlegungen bei der Abwägung mit unionsrechtsgestützten Beschuldigtenrechten kaum eine Rolle. b) Translation in sog. Relaissprache Ein sprachfremder Beschuldigter hat nach deutschem Recht keinen Anspruch darauf, dass in seine Muttersprache übersetzt wird, wenn er ebenfalls einer anderen Sprache mächtig ist.62 Dieses innerstaatliche Ergebnis werde auch von der RL 2010/64/EU nicht angetastet: In der Richtlinie sei nicht vorgegeben, in welcher Sprache der Beschuldigte eine Übersetzung der wesentlichen Unterlagen erhalten muss, sodass es keine Vorgabe gebe, wonach die Übersetzung in die Muttersprache des Betroffenen erfolgen müsse. Vielmehr ergebe sich aus Art. 3 Abs. 4 RL 2010/64/EU, dass die Übersetzung den Beschuldigten lediglich in die Lage versetzen solle, zu wissen, was ihm zur Last gelegt wird, wofür auf eine „Relaissprache“ zurückgegriffen werden dürfe, sofern dies nicht aus willkürlichen Gründen geschieht.63 Diesbezüglich stellt sich aber aus diskriminierungsrechtlicher Perspektive die Frage, ob nicht – wenn schon die Gerichtssprache Deutsch festgeschrieben steht – zumindest eine Translation in die Muttersprache verlangt werden kann, um so nicht eine noch tiefergehende Benachteiligung zu erleiden (gerade wenn diese andere Sprache nur teilweise beherrscht wird). Insoweit muss man richtigerweise eine Parallele zum teilweise Deutschkundigen zietiefend Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 166 ff.; Weith, Gerichtssprachenproblematik, 1992, S. 54. 61 LR-StPO/Wickern, § 185 GVG Rn. 16; Lankisch, Der Dolmetscher in der Hauptverhandlung, 2004, S. 172. 62 BGH 25.01.1965 – 1 StR 491/65, BeckRS 1965, 00117; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 185 GVG Rn. 3; MüKo-StPO/Oğlakcıoğlu, § 185 GVG Rn. 42. 63 Wahl, Schlussanträge zu Rs. C-278/16 vom 11.05.2017, BeckRS 2017, 109865 Nr. 40.
II. Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten323
hen. Genügen die Sprachkenntnisse, um der Verhandlung ausreichend zu folgen und die Verteidigungsrechte wahrzunehmen, braucht es dort keine Hinzuziehung eines Dolmetschers. Bestehen nun in einer (gängigen) Fremdsprache entsprechende Kenntnisse, kann es zumutbar sein, auf diese zurückzugreifen, um nicht noch weitere Dolmetscher/Übersetzer heranziehen zu müssen oder andere Verfahrensschwierigkeiten zu produzieren. Man darf jedoch die Bedeutung der sprachlichen Eloquenz für die juristische Urteilsfindung nicht unterschätzen. Auch kommt es beim Dolmetschen von NichtMuttersprachlern gegebenenfalls zwangsläufig zu Informations- und Qualitätsverlusten, weil im Zuge der ersten Phase des Dolmetschprozesses (= das Verstehen des Ausgangstextes) dem Dolmetscher aufgrund nicht-standardsprachlicher Aussprache oder anderer linguistischer Merkmale von Rednern mit Akzent mehr Aufmerksamkeit abverlangt wird, sodass es infolge einer Verschiebung der kognitionspsychologischen Aufmerksamkeitsverteilung des Dolmetschers insoweit zu einer Überforderung bei der Zieltextproduktion kommen kann.64 Den Schlussvorträgen und gerade dem letzten Wort des Angeklagten wird enorme Bedeutung beigemessen.65 Handelt es sich um einen grundsätzlich Sprachkundigen, welcher jedoch in der deutschen oder der Relaissprache nicht die gleiche Wortgewandtheit besitzt wie in seiner Muttersprache, so ist darin durchaus ein Nachteil zu erblicken, der es unter Diskriminierungsgesichtspunkten bei EU-Ausländern in der Regel erforderlich erscheinen lässt, auf deren Wunsch einen Dolmetscher für ihre Muttersprache zumindest für die Teile der Verhandlung beizuziehen, bei denen sie selbst das Wort ergreifen. 3. Übersetzer, soweit dies zur Ausübung der strafprozessualen Rechte erforderlich ist, § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG a) Keine vollständige Aktenübersetzung § 187 Abs. 1 GVG gewährt einen expliziten Anspruch des Beschuldigten auf staatsseitige Bestellung eines Dolmetschers/Übersetzers und nicht bloß auf Erstattung von für entsprechende Leistungen aufgewandte eigene Kosten.66 Daneben kann der Dolmetscher/Übersetzer auch vom Beschuldigten Brune, Dolmetschen und Akzent, 2012, S. 35 ff. LR-StPO/Stuckenberg, § 258 Rn. 1: „gestaltet zudem seinen Gehörsanspruch über das verfassungsrechtlich Notwendige hinaus als besonders wirksames Verteidigungsmittel aus, da sein letztes Wort als frischester Sinneseindruck von der Hauptverhandlung gleichsam mit den Richtern „in das Beratungszimmer“ geht“; SKStPO/Velten, § 258 Rn. 2: „Fundament des Akkusationsprozesses“. 66 OLG Celle 09.03.2011 – 1 Ws 102/11, NStZ 2011, 718; LG Freiburg 23.09.2011 – 6 Qs 44/11, NStZ-RR 2012, 292; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 23; LR-StPO/ 64 Weiterführend 65 Vgl.
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E. Vertiefende Betrachtung
selbst beauftragt werden, wobei er dann die Gefahr trägt, dass bestimmte Teile der Kosten wegen Sachfremdheit nicht erstattet werden, weil § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG nur Geltung beansprucht, „soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist“.67 Wann die Beiziehung insbesondere eines Übersetzers zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich ist, lässt das Gesetz als unbestimmten Rechtsterminus im Raum stehen. Das Ergebnis ist einer abstrakt-allgemeinen Kategorisierung nicht zugänglich, sondern abhängig von den Umständen des Einzelfalls, wobei namentlich Art und Schwere des Tatvorwurfs sowie die Komplexität der zu prüfenden Beweisfragen zu berücksichtigen sind.68 Der Verteidiger ist im Rahmen seines Akteneinsichtsrechts zur Weitergabe der hierdurch erlangten Kenntnisse sowie zur Überlassung von Ablichtungen des Akteninhalts an den Beschuldigten berechtigt; auch die Übergabe einer vollständigen Aktenkopie ist zulässig.69 Wenn nun jedoch nach § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG keine Pflicht zur Übersetzung der gesamten Akte oder einzelner Aktenbestandteile besteht,70 ergäbe sich bei formaler Betrachtung insoweit durchaus eine Benachteiligung sprachfremder Beschuldigter, da diese anders als ihre sprachkundige Vergleichsgruppe eben gerade nicht die Verfahrensakte in ihrer geläufigen Sprache selbst studieren können.71 Es ließ sich bislang festhalten, dass Unterlagen i. S. d. § 147 Abs. 7 StPO a. F. (bis 31.12.2017) zu übersetzen waren (letztlich glichen sich auch die Formulierungen „zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich“, § 147 Abs. 7 Satz 1 StPO a. F., und „zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich“, § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG), weitergehend jedoch nur ein Recht auf einen Dolmetscher bestand. Dieser Dolmetscheranspruch bleibt schließlich in jedem Fall unbenommen. Man hatte in den Blick zu nehmen, dass es sich bei der Überlassung einer Aktenkopie durch den Verteidiger nicht um einen gesetzlich geregelten Anspruch des Beschuldigten handelte, sondern allein um eine von der Rechtsprechung gewährte Befugnis des Verteidigers. Krauß, § 187 GVG (Nachtrag) Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 1; MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 27 f. 67 OLG Oldenburg 24.06.2011 – 1 Ws 241/11, NStZ 2011, 719; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 22. 68 LG Freiburg 23.09.2011 – 6 Qs 44/11, NStZ-RR 2012, 292; LR-StPO/Wickern, § 187 GVG Rn. 7; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 4. 69 BeckOK-StPO/Wessing, § 147 Rn. 20; KK-StPO/Laufhütte, § 147 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 Rn. 20; vertiefend Donath/Mehle, NJW 2009, 1399. 70 OLG Hamburg 27.10.2004 – IV-1/04, NJW 2005, 1135 (1137 f.); OLG Hamburg 06.12.2013 – 2 Ws 253/13, StV 2014, 534; Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 EMRK Rn. 26; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 14; SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 39; Kotz, StRR 2012, 124 (126); ders., StV 2012, 626 (628). 71 Vgl. auch MAH Strafverteidigung/Jung, § 18 Rn. 29; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 94 f.
II. Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten325
Die Kosten hierfür trägt im Übrigen ebenfalls der Verteidiger.72 Der Gesetzgeber hatte gerade kein eigenes Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten vorgesehen, sondern die diesbezügliche Zuständigkeit des Verteidigers betont. Lediglich in Fällen, in denen der Beschuldigte auf gewisse Auskünfte aus der Akte angewiesen war, um seine angemessene Verteidigung sicherzustellen, gleichwohl aber kein Fall einer Pflichtverteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorlag, bestand über § 147 Abs. 7 StPO a. F. der Anspruch auf Erteilung von Auskünften und Abschriften aus den Akten. Dies ließ sich als justizseitiger Minimalstandard der Beschuldigteninformation beschreiben. Dieser Minimalstandard musste dem Beschuldigten auf Wunsch jedenfalls in seiner eigenen Sprache zur Verfügung gestellt werden. Damit hatte man indes die zutreffende Vergleichsgruppe gebildet, sodass keine unangemessene Diskriminierung des sprachfremden Beschuldigten vorlag. Mit Einführung des § 147 Abs. 4 StPO, welcher dem unverteidigten Beschuldigten ein eigenes Akteneinsichtsrecht zubilligt, ist diese Argumentation nunmehr hinfällig.73 § 184 GVG knüpft an die Sprache als Unterscheidungsmerkmal an und ist daher potentiell mittelbar diskriminierend. Jedoch gelten sämtliche Rechte der Strafprozessordnung vom Gesetzeswortlaut und auch der gesetzgeberischen Intention her unabhängig von der Staatsangehörigkeit und grundsätzlich auch unabhängig von der Sprache. Allein mittelbar über § 184 GVG kann es zu Nachteilen kommen. Es ist folglich eine Abgrenzung zwischen mittelbarer Diskriminierung und der Betroffenheit eines reinen Beschränkungsverbots erforderlich. Bei der Beschränkung/Behinderung erschwert die fragliche Maßnahme lediglich die Freiheit des Einzelnen, ohne dass eine indirekte Diskriminierung vorliegt.74 Die Unterscheidung verlangt im Grenzbereich komplexe Wertungen,75 welche für den Bereich der Beschuldigtenrechte in einer Zusammenschau mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu treffen sind.76 Die absolute Geltung der deutschen Gerichtssprache bedeutet für fremdsprachige Beschuldigte, dass sie ihre Muttersprache vor Gericht nicht unmittelbar verwenden können. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass über den Einsatz von Dolmetschern/Übersetzern 72 Differenzierend OLG Nürnberg 30.05.2017 – 2 Ws 98/17, ZWH 2017, 346 (349). 73 Vgl. auch BT-Drs. 18/9416 S. 60: „Im Unterschied zum geltenden Absatz 7 macht die Neuregelung den Umfang der Einsichtnahme nicht mehr davon abhängig, inwieweit „dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist“. Die Beurteilung der Erforderlichkeit für eine angemessene Verteidigung soll künftig allein derjenigen Person obliegen, die sich verteidigt.“ 74 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 10. 75 Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy, Art. 18 AEUV Rn. 11. 76 Vgl. ähnlich auch BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 34 f.
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E. Vertiefende Betrachtung
kein, auch kein mittelbarer, Ausschluss von Ausländern erfolgt. Der sprachfremde Beschuldigte darf seine Muttersprache verwenden, diese wird lediglich durch einen Dolmetscher vermittelt. § 184 GVG verlangt gerade keinen Muttersprachler, sondern nur die Verwendung der deutschen Sprache gegenüber dem Gericht, mit anderen Worten das „Ankommen“ deutscher Worte. Das Dolmetschen sowie die Übersetzung wichtiger Schriftstücke sind erforderlich, weil sonst zentrale Rechte (rechtliches Gehör, faires Verfahren) tangiert würden, was letztlich auch den Unionsbürgerstatus beträfe. Ausweislich § 32f Abs. 2 Satz 1 StPO wird Akteneinsicht in Papierakten durch Einsichtnahme in Diensträumen gewährt. Es erfolgt gerade keine manifestierte Mitnahme durch den Beschuldigten, sondern lediglich eine Inaugenscheinnahme an Ort und Stelle. Für elektronische Akten gilt gem. § 32f Abs. 1 StPO je nach Gründen im Einzelfall die Möglichkeit zur Bereitstellung des Inhalts zum Abruf als auch zur Einsichtnahme in Diensträumen. Eine in Bezug auf die Rechte des Beschuldigten inhaltlich-qualitative Abstufung ist der Norm nicht zu entnehmen. Die Hinzunahme eines Dolmetschers/Übersetzers zur Translation an Ort und Stelle genügt demnach, um eine unzulässige Diskriminierung auszuschließen. Soweit darüber hinausgehend durch die fehlende Möglichkeit des Heimstudiums einer übersetzten Aktenkopie des Verteidigers (vgl. § 32f Abs. 2 Satz 3 StPO) eine gewisse Beschränkung zurückbleibt, wird diese von Art. 18 AEUV gerade nicht erfasst. b) Regelausnahme des § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG § 187 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 GVG regeln ein abgestuftes System, welches die generelle Pflicht zur vollständigen Übersetzung einschränkt.77 Werden die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten durch eine auszugsweise schriftliche Übersetzung ebenso gewahrt, genügt eine solche, § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG. Nach § 187 Abs. 2 Satz 4 GVG kann unter den gleichen Voraussetzungen eine mündliche Übersetzung an die Stelle der grundsätzlich unverzüglich zur Verfügung zu stellenden schriftlichen Übersetzung treten. Dabei ist nach der gesetzlichen Formulierung – in Einklang mit Art. 3 Abs. 7 RL 2010/64/EU – Mündlichkeit in der Regel ausreichend, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat, § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG.78 Insoweit wird vorgebracht, es verstoße, wenn nicht schon gegen den Zweck der RL 2010/64/EU, so doch jedenfalls gegen das primärrechtliche 77 OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; MeyerGoßner/Schmitt, § 187 GVG Rn. 4. 78 BGH 13.09.2018 – 1 StR 320/17, BeckRS 2018, 24697 Rn. 30; OLG Stuttgart 09.01.2014 – 6-2 StE 2/12, BeckRS 2014, 02165; OLG Hamm 11.03.2014 – 2 Ws 40/14, StV 2014, 534; Kissel/Mayer, § 187 Rn. 16.
II. Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten327
Diskriminierungsverbot, wenn über § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG bei einem verteidigten Beschuldigten eine weitgehende Aushöhlung seiner schriftlichen Übersetzungsrechte stattfinde.79 Im deutschen Strafprozess gilt das Mündlichkeitsprinzip, wonach – letztlich auch in Verwirklichung des rechtlichen Gehörs – nur in der Hauptverhandlung verbalisierte Beweismittel Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein dürfen.80 Der Beschuldigte als Subjekt des Verfahrens bekommt folglich (via Dolmetscher) sämtliche verfahrensrelevanten Fakten zu hören und die Gelegenheit sich zu diesen zu äußern. Soweit § 187 Abs. 2 Satz 4, Satz 5 GVG eine Ausnahme vom Übersetzungserfordernis festlegen, orientiert sich die notwendige Einzelfallabwägung an den strafprozessualen Rechten des Beschuldigten und dem Leitsatz eines fairen Verfahrens. So wird etwa wegen der besonderen Informationsfunktion der Anklageschrift und deren Sensibilität für die Erklärungsrechte des Beschuldigten das grundsätzliche Recht auch des verteidigten Angeschuldigten auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache betont.81 Folglich liegt bei sorgfältiger Einzelfallabwägung keine Diskriminierung i. S. d. Art. 18 AEUV vor. c) Behandlung fremdsprachiger Schriftstücke Nach tradierter Ansicht sind schriftliche Eingaben in fremder Sprache ohne Rücksicht darauf, ob dem Verfasser die Einreichung in deutscher Sprache möglich oder zumutbar ist, und auch unabhängig davon, ob der Richter sie versteht, grundsätzlich unbeachtlich.82 Deutsche Gerichte können nach 79 Eisenberg, JR 2013, 442 (445); Kotz, StRR 2014, 364 (366); Yalcin, ZRP 2013, 104 (106). 80 MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 185. 81 BGH 23.12.2015 – 2 StR 457/14, NStZ 2017, 63 (63 f.); LG Kiel 10.11.2015 – 10 Qs 100/15, StV 2016, 485 (486); Kissel/Mayer, § 187 Rn. 17; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 187 GVG Rn. 4; SSW-StPO/Rosenau, § 187 GVG Rn. 7; Rübenstahl, StraFo 2005, 30 (31); Schneider, StV 2015, 379 (382). 82 RG 02.07.1883 – 1198/83, RGSt 9, 51 (52); BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (532 f.) = JR 1982, 516 m. abl. Anm. Meurer; BGH 13.09.2005 – 3 StR 310/05, BeckRS 2005, 11511; OLG Düsseldorf 20.08.1999 – 1 Ws 371/99, NStZ-RR 1999, 364; HK-StPO/Schmidt/Temming, § 184 GVG Rn. 2; Katholnigg, § 184 GVG Rn. 4; KK-StPO/Diemer, § 184 GVG Rn. 2; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 184 GVG Rn. 2; Radtke/Hohmann/Otte, § 184 GVG Rn. 3; SSW-StPO/ Rosenau, § 184 GVG Rn. 7; Kempf, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 247 (253); a. A. OLG Frankfurt 13.03.1979 – 20 W 102/79, NJW 1980, 1173; BeckOK-StPO/ Walther, § 184 GVG Rn. 4, § 187 GVG Rn. 3; Kissel/Mayer, § 184 Rn. 9; LR-StPO/ Wickern, § 184 GVG Rn. 16 ff.; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 5; Heldmann, StV 1981, 251 (253); Meyer, ZStW 93 (1981), 507 (527 f.); Schneider, MDR 1979, 534
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E. Vertiefende Betrachtung
der ihnen vom GVG zugewiesenen Stellung verlangen, in deutscher Sprache angegangen zu werden.83 Insoweit wird vertreten, dass die Differenzierung nach der Sprache des eingehenden Schriftstücks zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung und einer damit einhergehenden qualitativen Rechtsschutzeinbuße von Unionsbürgern führe.84 Ferner sollen nach einer extensiven Ansicht fristgebundene Eingaben, Rechtsmittelschriften sowie schriftliche Stellungnahmen des unverteidigten Beschuldigten zum Tatvorwurf im Sinne eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens als für das Verfahren wesentliche Dokumente i. S. d. Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 RL 2010/64/EU von Amts wegen zu übersetzen sein.85 Die Unbeachtlichkeit von fremdsprachigen Schriftsätzen beruht auf den Erwägungen der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, der Rechtsklarheit sowie der Rechtssicherheit: Es ist zweifellos sicherzustellen, dass schriftliche Eingaben für das deutsche Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten schon im Zeitpunkt ihres Zugangs aus sich selbst heraus verständlich sind und nicht erst der (zeitaufwändigen) Erforschung ihres Inhalts durch Einschaltung verfahrensfremder Personen bedürfen, was in der Regel nur dadurch gewährleistet wird, dass eine Abfassung in deutscher Sprache erfolgt oder zumindest eine deutsche Übersetzung beigefügt wird.86 Diese Unbeachtlichkeit muss indes auch für die Sprache eines Mitgliedstaats der EU gelten, da bei der Vielzahl an verschiedenen Sprachen sonst kein brauchbarer Gerichtsbetrieb und keine Rechtssicherheit gegeben wären.87 In einer anzustellenden Gesamtbetrachtung lässt sich festhalten, dass das deutsche Ermittlungs- und Strafverfahren in vielerlei Hinsicht Besonderheiten im Kontakt mit sprachfremden Beschuldigten aufweist. Dies beruht nicht auf einem bewussten Herausgreifen dieser Personengruppe, sondern erklärt sich dadurch, dass der Zweck einer wahrheitsbasierten, verfahrensökonomischen, konsequenten und effektiven Strafverfolgung mit der Sprachfremdheit von Beteiligten in nicht unerheblichem natürlichen Konflikt steht. Dass sich aus der Natur der Sache gewisse Härten ergeben, ist dabei dem genannten Konflikt geschuldet, welcher jedoch nur zugunsten von Strafverfolgung und (535); Staudinger, StV 2002, 327 (328); Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 17, 64 f.; Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 2002, S. 106. 83 RG 02.10.1893 – IV 129/93, RGZ 31, 428 (429); KG 06.10.1976 – (2) Ss 315/76 (80/76), BeckRS 1976, 00782. 84 Lässig, Deutsch als Gerichts- und Amtssprache, 1980, S. 79. 85 Meyer-Goßner/Schmitt, § 184 GVG Rn. 2a; SK-StPO/Frister, § 187 GVG Rn. 6; Böhm, NJW 2016, 306; Kotz, StV 2012, 626 (631); Schneider, StV 2015, 379 (382). 86 BGH 14.07.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 = NJW 1982, 532 (532 f.). 87 MüKo-ZPO/Zimmermann, § 184 GVG Rn. 1.
II. Anknüpfungspunkte betreffend die Sprachfremdheit von Beschuldigten329
Rechtssicherheit aufgelöst werden kann. Die danach gebotene Abwägung im Einzelfall erfolgt durchweg in (grundrechts-)schonender Weise. So wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz es zur Aufgabe nimmt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Polen der persönlichen Freiheit des Einzelnen und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafrechtspflege zu schaffen,88 muss sich auch das Diskriminierungsverbot auf einen solch ausgleichenden Maßstab zurückführen lassen. 4. Ablehnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wegen mangelnder Sprachkompetenz Die Sprachfremdheit von Beschuldigten hat Einfluss sowohl auf die Erfolgsaussichten einer Therapie i. S. d. § 64 Satz 1 StGB als auch auf das in § 64 Satz 2 StGB eingeräumte eingeschränkte Ermessen.89 Für EU-Ausländer wird diesbezüglich eine ganz besonders sorgfältige Klärung angemahnt.90 Fraglich ist an der hiesigen Stelle der Untersuchung, inwiefern eine Ablehnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gegenüber einem Unionsbürger (auch) aus Gründen mangelnder Sprachkompetenz eine unzulässige Diskriminierung gem. Art. 18 AEUV darzustellen vermag. Das BVerfG hat klargestellt, dass die freiheitsentziehende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB dem Schutz der Allgemeinheit durch Behandlung des Täters dient und insofern nachhaltig am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen ist: „Als Grundrechtseingriff muß die freiheitsentziehende Maßregel hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen ihrer Anordnung und Durchführung in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutz von Interessen der Allgemeinheit stehen. Für die Anordnung der Maßregel im Einzelfall nimmt § 62 StGB den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf (…). Voraussetzung der Maßregel muß stets sein, daß der Täter durch Begehung von rechtswidrigen Taten seine konkrete Gefährlichkeit offenbart hat, für die Zukunft weitere Verfehlungen dieser Art als wahrscheinlich besorgen läßt und dadurch die öffentliche Sicherheit bedroht. Im Anwendungsbereich des § 64 StGB muß der Gesetzgeber Vorsorge treffen, daß die Maßregel im Blick auf die dargelegte Mittel-Zweck-Beziehung zum Schutz der Allgemeinheit verhältnismäßig ist. Das besondere Gewicht des mit der Anordnung 88 BVerfG 03.05.1966 – 1 BvR 58/66, BVerfGE 20, 45 = NJW 1966, 1259; BVerfG 27.07.1966 – 1 BvR 296/66, BVerfGE 20, 144 = NJW 1966, 1703; Seetzen, NJW 1973, 2001. 89 BGH 28.10.2008 – 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204 (205); BGH 03.03.2009 – 3 StR 52/09, NStZ-RR 2009, 170 (171); BGH 22.06.2017 – 4 StR 218/17, NStZ-RR 2017, 283; Detter, NStZ 2018, 18 (22); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 337; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2017, Rn. 468. 90 BGH 17.08.2011 – 5 StR 255/11, BeckRS 2011, 22403 Rn. 11; vgl. auch BGH 06.07.2017 – 4 StR 124/17, BeckRS 2017, 119774 Rn. 15.
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der Maßregel des § 64 StGB verbundenen Grundrechtseingriffs erschließt sich nicht allein aus der Tatsache des mit ihr verbundenen Freiheitsentzugs, sondern auch daraus, daß der Verurteilte – nicht selten gegen seinen Willen – einer auf die Behebung nicht zuletzt psychischer Fehlhaltungen gerichteten medizinischen Behandlung unterworfen wird, deren Erfolg zudem nicht als gewiß gelten kann. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nur für Fälle vorgesehen werden, in denen sie geeignet ist, den Schutzzweck gerade durch Behandlung zu erreichen. Damit notwendig verbundene therapeutische Eingriffe, die auf eine Besserung hinwirken (Heilversuch), sind im Blick auf Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG nur bei einer – hinreichend zuverlässigen – Indikation zulässig. Eine mit Freiheitsentzug verbundene Therapie ausschließlich zur Erprobung wäre hingegen unzulässig“.91
Es handelt sich demzufolge gerade nicht um eine primär als „Wohltat“ für den Beschuldigten gedachte zügige Bereitstellung einer Therapiemöglichkeit.92 Bereits aus diesem Gesichtspunkt liegt eine Diskriminierung nach Art. 18 AEUV fern,93 da eine „Benachteiligung“ erforderlich wäre. Indem § 64 StGB eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung darstellt, liegt in der Nichtanordnung der Unterbringung indessen wenn überhaupt eine „Bevorzugung“ des sprachfremden Beschuldigten.94
91 BVerfG 16.03.1994 – 2 BvL 3/90, 2 BvL 4/91, 2 BvR 1537/88, 2 BvR 400/90, 2 BvR 349/91, 2 BvR 387/92, BVerfGE 91, 1 = NStZ 1994, 578. 92 Vgl. hierzu etwa BGH 21.03.1979 – 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327 = NJW 1979, 1941 (1942): „Für die Beurteilung, ob die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Beschwer enthält, darf nicht außer Betracht bleiben, daß diese Maßregel nicht nur den Zweck hat, den Täter in seinem persönlichen Interesse einer Heilbehandlung zuzuführen. Denn die spezielle Gesundheitsfürsorge ist auch heute nicht die vorrangige Aufgabe des Strafrechts, insbesondere des Maßregelrechts; die Verhängung der Maßregel des § 64 StGB hat sich vielmehr an den Belangen der öffentlichen Sicherheit auszurichten und dient in erster Linie dem Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Tätern, auch wenn sich dieser Zweck durch Besserung erreichen läßt. Daher ist die Maßregel nach § 64 StGB weder ein Mittel der bloßen Suchtfürsorge, noch darf diese Fürsorge unsachgemäß in den Vordergrund treten“. 93 MüKo-StGB/van Gemmeren, § 64 Rn. 71; Basdorf/Schneider/König, Rissingvan Saan-FS, 2011, S. 59 (67); a. A. Jung, StV 2009, 586 (587); Korn, JR 2015, 411 (417); Basdorf/Schneider/König, Rissing-van Saan-FS, 2011, S. 59 (64). 94 Die ständige Rechtsprechung, wonach zwar zutreffend die Nichtanordnung der Unterbringung den Beschuldigten nicht beschwert, sodass ein Rechtsmittel, mit dem dieser allein die Nichtanordnung beanstandet, unzulässig ist (vgl. BGH 07.01.2009 – 3 StR 458/08, NStZ 2009, 261; BGH 02.12.2010 – 4 StR 459/10, NStZRR 2011, 308), andererseits aber die Nichtanordnung der Maßregel auf die allgemeine Sachrüge der Prüfung unterliegt (vgl. BGH 19.12.2007 – 5 StR 485/07, NStZRR 2008, 107; BGH 18.08.2011 – 3 StR 251/11, BeckRS 2011, 22507 Rn. 6), resultiert insofern auch lediglich aus der Sonderregelung des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO (wobei eine nachdrücklichere Beachtung von § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO durchaus bedenkens- oder sogar wünschenswert wäre, vgl. auch Basdorf/Schneider/König, Rissing-van Saan-FS, 2011, S. 59 (72 f.)).
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten331
III. Diskriminierungsrechtliche Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten Es besteht „die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten“.95 Das Unionsrecht anerkennt gleichermaßen aber die Gefahr, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, infolge gewisser auf ihrer Ortsfremdheit beruhender Verfolgungshemmnisse und ‑hindernisse straflos bleiben, und billigt das Ziel der Vermeidung einer solchen Straflücke als legitimes Anliegen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.96 Die insoweit anzutreffenden Sonderregelungen als auch die Ausprägung der diesbezüglich ergehenden Rechtsprechung in den besprochenen Bereichen haben sich dabei zum einen zu bemühen, eine Benachteiligung dieser Personengruppe im technischen Sinn zu vermeiden, und zum anderen eine grundrechtsschonende Einzelfallabwägung zum Ausgleich zwischen der persönlichen Freiheit des Einzelnen und den anerkennenswerten Erfordernissen einer effektiven Strafverfolgung zu schaffen. 1. Verfahrenssichernde Zustellungsvollmacht (§§ 116a, 127a, 132 StPO) nur für Personen ohne festen Wohnsitz im Inland Ausgehend vom Wortlaut der §§ 116a, 127a, 132 StPO sind Befugnis und Erfordernis zur Erteilung einer verfahrenssichernden Zustellungsvollmacht an den fehlenden festen Wohnsitz in der BRD geknüpft. Nach einer Ansicht liegt hierin eine versteckte Diskriminierung, weil durch das Anknüpfen an den fehlenden inländischen Wohnsitz/Aufenthalt typischerweise Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten betroffen seien und eine objektive Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nicht (mehr) gelinge, weil nunmehr finanzielle Sanktionen über die Instrumente der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen vollstreckt und beigetrieben werden könnten.97
95 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 65; EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 Rn. 40. 96 EuGH 27.05.2014 – C-129/14, NJW 2014, 3007 (3009) Rn. 63 ff.; EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 37. 97 AG Kehl 21.03.2016 – 3 Cs 206 Js 5241/15, BeckRS 2016, 05453; SK-StPO/ Paeffgen, § 132 Rn. 2a; SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 2; Gietl, StV 2017, 263 (265).
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E. Vertiefende Betrachtung
Geht man von einem Beschuldigten mit festem Wohnsitz in einem EUMitgliedstaat aus, ist der Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV eröffnet, da der ortsfremde Beschuldigte sich in Ausübung seiner unionsrechtlichen Freizügigkeit gem. Art. 21 AEUV zunächst in Deutschland aufhält, dort als Verdächtiger einer Straftat in Erscheinung tritt und sodann wiederum von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht, um in das EU-Ausland zurückzukehren.98 Von der genannten Ansicht wird nun vertreten, dass keine objektiven, verhältnismäßigen Gründe vorhanden seien, weil auch ohne die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten die Durchführung des Strafverfahrens hinreichend gesichert werden könne.99 Mit der Einführung der vereinfachten Auslandszustellung durch Einschreiben mit Rückschein sei eine Möglichkeit zur Zustellung strafrechtlicher Entscheidungen geschaffen worden, welche von gleicher Effektivität und damit der Anordnung einer Zustellungsbevollmächtigung aus europäischem Recht heraus vorrangig sei.100 Demzufolge seien die Normen der verfahrenssichernden Zustellungsvollmachten weitgehend europarechtswidrig und unanwendbar; ein Zustellungsbevollmächtigter dürfe nur angeordnet werden, wenn aufgrund des Ermittlungsergebnisses positiv feststehe, dass der Beschuldigte in der gesamten Europäischen Union keinen festen Wohnsitz habe.101 In Art. 4 Nr. 6 des RB 2002/584/JI102 werden Staatsangehörigkeit und Wohnsitz von Seiten des Unionsgesetzgebers im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausdrücklich als Gesichtspunkte anerkannt, die eine gewisse Ausstrahlung auf Resozialisierungschancen des Beschuldigten und somit auch auf das Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats haben.103 Ein Unionsbürger, der nicht die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats besitzt und sich nicht während eines bestimmten Zeitraums ununterbrochen im Hoheitsgebiet dieses Staates aufgehalten hat, habe im Allgemeinen naturgemäß stärkere Verbindungen mit seinem Herkunftsmitgliedstaat als mit der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats.104 An dieser Stelle ist auch zu betonen, dass Ladungen im Ausland angesichts der Möglichkeit einer lediglich modifizierten Warnung gem. § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO im Hinblick auf die Sicherstellung einer wirksamen 98 Gietl,
StV 2017, 263 (265). StV 2017, 263 (265); ähnlich AG Kehl 21.03.2016 – 3 Cs 206 Js 5241/15, BeckRS 2016, 05453. 100 Gietl, StV 2017, 263 (265). 101 Gietl, StV 2017, 263 (265). 102 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 190 S. 1, Celex-Nr. 3 2002 F 0584. 103 EuGH 06.10.2009 – C-123/08, Slg. 2009, I-9621 = NJW 2010, 283 (285 f.). 104 EuGH 06.10.2009 – C-123/08, Slg. 2009, I-9621 = NJW 2010, 283 (286). 99 Gietl,
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten333
Strafverfolgung nicht von gleicher Qualität sind.105 Die bestehende mittelbare Diskriminierung ist jedenfalls gerechtfertigt, sodass kein Verstoß gegen Unionsrecht besteht.106 Die Zustellung im EU-Ausland ist eine gut vertretbare Variante, jedoch darf dies nicht dazu führen, dass durch die unbestätigte Angabe eines im Ergebnis (möglicherweise) unzutreffenden EU-Auslandswohnsitzes sich faktisch der deutschen Strafverfolgung entzogen wird. Die Angabe eines ausländischen Wohnsitzes kann von den deutschen Behörden nicht in gleichem Maße überprüft und im weiteren Verfahrensverlauf überwacht sowie nachvollzogen werden. Hinzuweisen ist außerdem auf die bestehende Friktion bei einer Verweigerung der Entgegennahme durch Nichtabholung: Wird das Schriftstück trotz Benachrichtigung nicht abgeholt, führt dies zur Rücksendung des Briefes als unzustellbar; die Zustellfiktion des § 179 Satz 3 ZPO kommt trotz Annahmeverweigerung im Falle des § 175 ZPO nicht in Betracht, da die Norm bei einer Zustellung durch Einschreiben mit Rückschein nicht anwendbar ist.107 Der EuGH hat eine (vorrangige) Auslandszustellung zudem nicht verlangt, folglich keinen diskriminierungsrechtlichen Verstoß erkannt. Kernaussage des zweiten Teils der Covaci-Entscheidung des EuGH108 ist die Notwendigkeit des Bestehens nationalstaatlicher Mechanismen, die sicherstellen, dass über das Institut der Zustellungsbevollmächtigung dem Beschuldigten nicht jegliches Recht auf einen Einspruch abgeschnitten wird, sondern ein Rechtsbehelf (gleich welcher Art) bestehen bleibt, und zudem die maßgeblichen Fristen nicht durch die Zeitspanne verkürzt werden, die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen.109 Der Gerichtshof hatte ausdrücklich „die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten“ im Blick.110 105 Vgl. zur Problematik hoheitsrechtewahrender Zusätze für die Effektivität der staatlichen Rechtsverfolgung auch LG Erfurt 20.12.1995 – 1 Qs 207/95, NStZ-RR 1996, 180. 106 LG Erfurt 20.12.1995 – 1 Qs 207/95, NStZ-RR 1996, 180; BeckOK-StPO/ Niesler, § 132 Rn. 4; HK-StPO/Ahlbrecht, § 132 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 132 Rn. 1; Pfeiffer, § 132 Rn. 1. 107 LG Nürnberg-Fürth 10.07.2009 – 12 Qs 50/09, StraFo 2009, 381; LG Rostock 17.12.2014 – 13 Qs 227/14, StraFo 2015, 63; SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 37 Rn. 39. 108 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 = NJW 2016, 303 m. Anm. Böhm = JR 2016, 207 m. Anm. Kulhanek = StV 2016, 205 m. Anm. Brodowski = NStZ 2017, 38 m. Anm. Zündorf. 109 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 67; Kulhanek, StV 2016, 814 (814 f.). 110 EuGH 15.10.2015 – C-216/14, BeckRS 2015, 81354 Rn. 65.
334
E. Vertiefende Betrachtung
Inwieweit den Säumigen i. S. v. § 44 StPO ein Verschulden trifft, beurteilt sich nach seinen konkreten Eigenschaften und Verhältnissen, wobei in diesem Kontext zunächst auf dreierlei hinzuweisen ist: Erstens handelt es sich bei der Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten prinzipiell um eine freiwillige Entschließung, nicht um eine oktroyierte Eingriffsmaßnahme.111 Zweitens hat ein Beschuldigter mit inländischem Wohnsitz, welcher sich etwa im Urlaub befindet, zu den formal ohnehin ablaufenden zwei Wochen Einspruchsfrist bei Wegfall des Hindernisses zusätzlich nur eine Woche Wiedereinsetzungsfrist.112 Drittens bestehen im Rahmen einer Zustellungsbevollmächtigung wechselseitige Pflichten.113 Über das in Teil C. beschriebene Zusammenspiel von Zustellung über den Zustellungsbevollmächtigten und unionsrechtsgeleiteter, einzelfallorientierter Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lassen sich zutreffende Ergebnisse erzielen.114 Soweit Gietl vorbringt, der EuGH habe sich zu einer Unionsrechtswidrigkeit von § 132 StPO „nicht geäußert, weil dies von der Vorlagefrage nicht umfasst war. Er lässt jedenfalls anklingen, dass eine Diskriminierung vorliegt“,115 kann dem nicht gefolgt werden. Zwar waren die Vorlagefragen explizit auf die RL 2012/13/EU bezogen, jedoch ist das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV als Bestandteil des EU-Primärrechts jedweder Auslegung auch des Sekundärrechts immanent. Zudem hatte der EuGH nunmehr in zwei Entscheidungen die Gelegenheit, zum Charakter des Instituts der deutschen strafprozessualen Zustellungsbevollmächtigung Stellung zu nehmen. Insbesondere die Vorabentscheidungsersuchen Tranca, Reiter und Opria116 waren dabei augenscheinlich von dem Begehr getragen, eine klare Position des EuGH zu erhalten. Gerade diese zweite Entscheidung hat der EuGH genutzt, um einerseits zu betonen, dass die nationalen Gerichte auf die Vermeidung ungerechtfertigter Diskriminierungen stets sorgfältig zu achten haben, andererseits aber gleichermaßen klarzustellen, dass das europäische Primär- wie Sekundärrecht im Grundsatz dem Institut der Zustellungsvollmacht inklusive der ihm innewohnenden Funktionsweise (Fristenlauf, Rechtskraft, Vollstreckbarkeit) nicht entgegenstehen. Dabei besteht auch keine „Rangfolge“ zwischen einem etwa denkbaren Zustellungsversuch im Ausland und einer Zustellung über den Zustellungsbe111 Kulhanek
NStZ 2015, 495 (496). JR 2016, 208 (209 f.). 113 Bot, Schlussanträge vom 07.05.2015, BeckEuRS 2015, 432670 Nr. 89. 114 Kulhanek, StV 2016, 814 (815). 115 Gietl, StV 2017, 263 (265). 116 EuGH 22.03.2017 – C-124/16, C-188/16, C-213/16, BeckRS 2017, 104323 = JR 2017, 488 m. Anm. Zündorf =StV 2018, 69 m. Anm. Brodowski. 112 Kulhanek,
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten335
vollmächtigten.117 Mit der Unterzeichnung einer Zustellungsvollmacht gehen für den Beschuldigten – unabhängig von der Art der erteilten Zustellungsvollmacht – gleichermaßen Rechte wie Pflichten einher, über die im Zuge der Bevollmächtigung sorgfältig zu belehren ist, welche dann jedoch eben entsprechende Rechtsfolgen auslösen.118 Das deutsche Gericht ist nicht verpflichtet, potentiell ungewisse Zustellversuche im Ausland vorzunehmen, wenn eine Zustellung im Inland möglich ist. Auch der EuGH hat weder in der Rechtssache Covaci noch im Verfahren Tranca/Reiter/Opria einen Vorrang der (vereinfachten) Auslandszustellung proklamiert. Indem bei der nach den §§ 116a Abs. 1, 127a Abs. 1 Nr. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zulässig zu erhebenden Sicherheitsleistung nachdrücklich auf die Vermeidung einer Übersicherung und die sonstige Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu achten ist,119 besteht auch insofern keine ungerechtfertigte Benachteiligung.120 Der Rahmenbeschluss 2005/214/ JI121 mit seiner Verpflichtung, in anderen Mitgliedstaaten verhängte Geldstrafen ab 70,00 EUR (Art. 7 Abs. 2 lit. h RB 2005/214/JI) anzuerkennen und zu vollstrecken, vermag hieran nichts zu ändern, weil gleichwohl bei einer notwendig werdenden Zustellung, Beitreibung und gegebenenfalls zwangsweisen Vollstreckung (letztlich final durch Ersatzfreiheitsstrafe) im Ausland erhebliche Hindernisse fortbestehen, welche insbesondere im Bagatell- und Massenbereich für eine effiziente Strafverfolgung abträglich sind. Zudem sollte versucht werden, das ohnehin sehr aufwändige und zum Teil schleppende Rechtshilferecht nicht mit einer Vielzahl an weiteren Fällen zu belasten. Die praktische Erfahrung mit Rechtshilfeersuchen zeigt, dass gerade im genannten Bagatell- und Massenbereich mit teilweise erheblichen Laufzeiten zu rechnen ist, wenn nicht sogar eine Antwort gänzlich ausbleibt.
117 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 2; a. A. AG Kehl 21.03.2016 – 3 Cs 206 Js 5241/15, BeckRS 2016, 05453; Gietl, StV 2017, 263 (267). 118 OLG München 08.04.2016 – 3 Ws 249/16, NStZ-RR 2016, 249 m. zust. Anm. Kulhanek. 119 BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 14; KK-StPO/Schultheis, § 127a Rn. 5, § 132 Rn. 10; SK-StPO/Paeffgen, § 127a Rn. 5. 120 Vgl. EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235) Rn. 22; EuGH 19.03.2002 – C-224/00, Slg. 2002, I-2965 = BeckRS 2004, 75213 Rn. 24 ff.; BeckOK-StPO/Niesler, § 132 Rn. 2. 121 Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. Nr. L 76 S. 16, Celex-Nr. 3 2005 F 0214.
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E. Vertiefende Betrachtung
2. Haftgrundbegründende Berücksichtigung des fehlenden inländischen Wohnsitzes bzw. der Auslandskontakte Für EU-Ausländer ist ein Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat entsprechend dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot zu berücksichtigen.122 Erwägungsgrund (5) des RB 2009/829/JI123 hält dazu wörtlich Folgendes fest: „Hinsichtlich der Inhaftierung von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, besteht die Gefahr, dass Personen mit Wohnsitz im Verhandlungsstaat anders behandelt werden als Personen mit Wohnsitz in einem anderen Staat; das heißt, Gebietsfremde laufen Gefahr, in Untersuchungshaft genommen zu werden, während Gebietsansässige unter gleichen Umständen auf freiem Fuß blieben. In einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss sicher gestellt werden, dass eine Person, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist und die ihren Wohnsitz nicht im Verhandlungsstaat hat, nicht anders behandelt wird als eine Person, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist und die im Verhandlungsstaat wohnt.“
a) Flucht/Fluchtgefahr Insoweit eindeutig ist, dass „die Ausländereigenschaft“ als solche keine Aussage über die Bereitschaft gibt, sich einem Strafverfahren zu stellen oder nicht.124 Infrage steht daher allein die gebräuchliche Formulierung des fehlenden inländischen Wohnsitzes. Das bloße Abstellen darauf, dass ein fehlender Inlandswohnsitz unabhängig von der Staatsangehörigkeit als Anhaltspunkt für erhöhte Fluchtgefahr herangezogen würde, verkennt die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung.125 Anknüpfungen an Wohnsitz und Meldeverhältnisse entfalten häufig eine mittelbar diskriminierende Wirkung, indem sie sich typischerweise zwangsläufig zum Nachteil von sonstigen Unionsbür122 OLG Düsseldorf 06.10.2005 – III-4-Ws 461/05, III-4-Ws 462/05, StraFo 2006, 24; KG 24.01.2017 – 4 Ws 10/17, BeckRS 2017, 114079; LG Neuruppin 12.08.2009 – 11 Qs 119/09, StV 2009, 652; Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 20a; MüKo-StPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 58; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn. 26b; SSWStPO/Herrmann, § 112 Rn. 52, 58; Bleckmann, StV 1995, 552 (554); Gercke, StV 2004, 675 (676); Kirsch, StV 2010, 256 (257); AnwaltFormulare Strafrecht/Seebode, Kap. 3 Rn. 66; Herrmann, Untersuchungshaft, 2008, Rn. 724. 123 Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft, ABl. Nr. L 294 S. 20, Celex-Nr. 3 2009 F 0829. 124 Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 112 Rn. 45. 125 EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235) Rn. 16; Gercke, StV 2004, 675 (676 f.); a. A. LG Kleve 07.06.2011 – 120 Qs 55/11, NStZ-RR 2011, 342 (343).
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten337
gern auswirken.126 Dabei lässt sich eine Beschränkung der Freizügigkeit nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht.127 Dass auch bestimmte Sachgründe (mittelbar) diskriminierend wirken und gleichwohl aus sachlich überwiegenden Aspekten gerechtfertigt sein können, ist keine Besonderheit des Strafrechts, bedarf indes einer besonders sorgfältigen Herausarbeitung und Begründung sowie des Ausschlusses von Willkür.128 Dahs/Riedel führen hierzu wie folgt aus: „Es ist verständlich, daß die deutsche Strafjustiz ein manifestes Interesse daran haben kann, auch eines im Ausland lebenden und arbeitenden ausländischen Staatsbürger[s] für die Zwecke eines inländischen Strafverfahrens habhaft zu werden. Hierfür stellen jedoch das nationale und internationale Recht das Institut der Auslieferung nach Maßgabe zwischenstaatlicher Verträge zur Verfügung.“129
Gercke äußert sich folgendermaßen: „Das in der Praxis übliche Anknüpfen an die ‚Ausländereigenschaft‘ bzw. den Wohnsitz im Ausland als Indiz für eine Fluchtgefahr i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO führt zu einer tatsächlichen Benachteiligung von EU-Bürgern. Denn der Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte, der regelmäßig schon rein faktisch mit Eingriffen in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit einhergeht, beruht nach der gängigen Anordnungspraxis der Untersuchungshaft auf einer Ungleichbehandlung von Inländern und den Angehörigen anderer Mitgliedsstaaten. […] Erst recht erscheint eine Differenzierung zwischen Inländern und EU-‚Ausländern‘ in einem Gemeinschaftsstaat, die im Ergebnis zu tatsächlichem Freiheitsentzug führt, als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, zumal jene evident dem Ziel einheitlicher Lebensverhältnisse und einheitlicher Ausübung gemeinschaftlicher Freiheiten über den bloßen wirtschaftlichen Kontext hinaus widerspricht. Ein sich vereinheitlichender Rechtsraum erfordert eine einheitliche Betrachtungsweise, die eine Differenzierung von EU-Bürgern innerhalb des Gemeinschaftsraumes nicht zuläßt.“130
Püschel mahnt an: „Art. 12 EGV verlangt, dass Unionsbürger in jedem Mitgliedsstaat grundsätzlich so behandelt werden wie Inlandsbürger. Nur ausnahmsweise kann eine Benachteiligung durch objektive Gründe gerechtfertigt sein. Ein solcher Sonderfall liegt vor, 126 EuGH 17.11.1992 – C-279/89, Slg. 1992, I-5785 = BeckRS 2004, 75932 Rn. 42; EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235) Rn. 17; EuGH 19.03.2002 – C-224/00, Slg. 2002, I-2965 = BeckRS 2004, 75213 Rn. 19; Gercke, StV 2004, 675 (676 f.). 127 EuGH 06.09.2016 – C-182/15, NJW 2017, 378 (379) Rn. 34. 128 EuGH 23.01.1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 = NZV 1997, 234 (235) Rn. 19 ff.; OLG Oldenburg 08.02.2010 – 1 Ws 67/10, StV 2010, 255 (256); Bleckmann, StV 1995, 552 (553). 129 Dahs/Riedel, StV 2003, 416 (417). 130 Gercke, StV 2004, 675 (677).
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E. Vertiefende Betrachtung
wenn ein Auslieferungshindernis besteht und auch sonst eine Strafverfolgung im Heimatland nicht gewährleistet ist. Im Regelfall aber gewährleistet der optimierte Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehr innerhalb der EU die Strafverfolgung und mögliche Vollstreckung. Freiheit und Recht müssen als ein für die Union insgesamt unteilbares Ganzes betrachtet werden.“131
In einem tatsächlich vereinten Europa kann es keinen Unterschied machen, in welchem Mitgliedstaat man sich aufhält. Der bloße Wegzug in das EUAusland kann damit ohne Hinzutreten weiterer „untertauchender“ Gesichtspunkte keine Flucht gem. § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO darstellen. Gleichwohl muss bedacht werden, dass es möglicherweise in einem anderen Mitgliedstaat einfacher ist, sich Zustellungen etc. zu entziehen, was für die Beurteilung der Fluchtgefahr i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO durchaus von Relevanz ist. Keinesfalls darf es eine pauschale Unterstellung geben, sondern es besteht die Notwendigkeit der Argumentation im Einzelfall, d. h. beispielsweise Ausführungen zum ausländischen Meldewesen sowie eine umfangreiche Würdigung des Beschuldigten und seines (strafrechtlichen) Vorlebens. Zöge man das Kriterium des Auslandswohnsitzes unreflektiert als die Wahrscheinlichkeit des Sich-Entziehens erhöhendes Merkmal heran (gegebenenfalls ergänzt um die Erwägung, dass in Deutschland keine wesentlichen sozialen Bindungen vorhanden sind), benachteiligte man den ortsfremden Beschuldigten, dem es quasi verwehrt würde, an seinen Wohnsitz zurückzukehren.132 Entsprechend dem Rechtsgedanken der europäischen (Ver)Einigung darf es grundsätzlich keinen Unterschied (mehr) machen, ob jemand seinen Wohnsitz im Inland oder im EU-Ausland hat: „Die danach festzustellende soziale Integration des Beschuldigten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union steht der sozialen Integration im Inland gleich“.133 Die Berücksichtigung von Auslandskontakten als ein Indiz im Rahmen der Haftgrundprüfung verstößt indes nicht gegen den Gleichheitsgedanken, weil es hier nicht um eine Berücksichtigung der Ausländereigenschaft als solcher geht, sondern vielmehr um eine Sicherung des Strafverfolgungsanspruchs gegenüber den gesteigerten Möglichkeiten des Untertauchens im (auch europäischen) Ausland.134 Allerdings muss in der Begründung darauf geachtet werden, dass auch nur dieser – von der Staatsangehörigkeit gänzlich unabhängige – Aspekt in die Gesamtabwägung eingestellt und nicht etwa schematisch nachteilig gegen ortsfremde Beschuldigte mit EU-Wohnsitz agiert wird. 131 Püschel,
StraFo 2009, 134. NStZ 2007, 10 (11); Schlothauer/Weider/Nobis, Rn. 567. 133 KG 24.03.2010 – 4 Ws 37/10, juris Rn. 22; vgl. auch OLG Düsseldorf 06.10.2005 – III-4-Ws 461/05, III-4-Ws 462/05, StraFo 2006, 24; MüKo-StPO/Böhm/ Werner, § 112 Rn. 58; Böhm, NStZ 2001, 633 (637); Püschel, StraFo 2009, 134. 134 KK-StPO/Graf, § 112 Rn. 21; Langner, Untersuchungshaftanordnung bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr, 2003, S. 134 f. 132 Grau,
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten339
b) Hauptverhandlungshaft Die Hauptverhandlungshaft gem. § 127b StPO betrifft Personen, bei denen Umstände gegeben sind, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass sie der Hauptverhandlung fernbleiben, was typischerweise bei Obdachlosen sowie Beschuldigten mit Wohnsitz im Ausland zutrifft.135 § 127b StPO führt dabei zu keiner ungerechtfertigten Diskriminierung von Personen mit fehlendem inländischen Wohnsitz oder aufgrund sonstiger sozio-kultureller Aspekte.136 Es handelt sich um ein Mittel zur Sicherstellung der Anwesenheit von Beschuldigten, bei denen aufgrund positiv zu belegender bestimmter Tatsachen unter Hinzunahme allgemein-kriminalistischer Erfahrungen der begründete Verdacht besteht, dass sie in einer Hauptverhandlung ausbleiben werden, andere mildere Mittel nicht erfolgversprechend sind und die Anordnung von kurzer Untersuchungshaft bis längstens eine Woche verhältnismäßig erscheint. Im Vordergrund stehen die Sicherung der Anwesenheit in einer anzuberaumenden Hauptverhandlung und die Steigerung der Verfahrenseffektivität.137 Die Ausländereigenschaft hat hierbei außen vor zu bleiben, jedoch wird das (Nicht-)Bestehen eines inländischen Wohnsitzes sicherlich ein trefflicher argumentativer Ansatzpunkt sein.138 Insofern ergibt sich eine Abweichung vom gefundenen Ergebnis bei § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, welches sich jedoch dogmatisch begründen lässt. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO setzt die Gefahr eines aktiven Sich-Entziehens voraus, wohingegen passive Untätigkeit nicht hinreicht. § 127b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO lässt die begründete Erwartung des rein passiven Nichtmitwirkens genügen, wobei auch allgemeine kriminalistische sowie strafverfolgungspraktische Erfahrungen herangezogen werden dürfen. Dieser diskriminierungsunabhängige Unterschied in den Definitionsansätzen spiegelt sich bei der Art der Berücksichtigung des Auslandswohnsitzes wider.
135 Hellmann, NJW 1997, 2145 (2147); Scheffler/Weimer-Hablitzel, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 59 (74). 136 Fülber, Die Hauptverhandlungshaft, 2000, S. 107 f.; Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 365 ff.; a. A. Scheffler/Weimer-Hablitzel, Kriminalität im Grenzgebiet, 2000, S. 59 (75). 137 Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 367. 138 Giring, Haft und Festnahme gemäß § 127b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit, 2005, S. 193.
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E. Vertiefende Betrachtung
3. Rechtsfolgen und Strafverwirklichung gegen Unionsbürger a) Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen für Unionsbürger Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten gem. Art. 21 Abs. 1 AEUV ist von zentraler Bedeutung für den Unionsbürgerstatus und das Selbstverständnis der Europäischen Union als Raum der Freiheit.139 Ausweislich § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG unterfallen Unionsbürger demnach grundsätzlich auch nicht dem Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes, sondern dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU).140 Für die vorliegende Untersuchung relevant sind hierbei insbesondere §§ 6, 7 FreizügG/EU, welche die Ausreisepflicht regeln. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU allein nicht, um eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese auch nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 FreizügG/EU. Aus den verwertbaren Straftaten sowie weiteren hinzutretenden Umständen (beispielsweise Psychosen, Abhängigkeiten, soziale Desintegration) ist von der zuständigen Behörde prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung neuer Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ausfällt.141 Nach der Feststellung eines Verlustgrundes auf erster Stufe muss ferner noch geprüft werden, ob der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt.142 Eine Feststellungsentscheidung in diesem Sinne bedarf der Schriftform, § 6 Abs. 8 Satz 2 FreizügG/EU. Dabei verlangt Art. 30 Abs. 1 RL 2004/38/ 139 BeckOK-AuslR/Rossi, Art. 21 AEUV Rn. 4; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1402 ff. 140 OLG Dresden 25.09.2017 – 2 (S) AR 24/17, NStZ-RR 2018, 90 (90 f.); BeckOK-AuslR/Eichenhofer, § 1 AufenthG Rn. 22; Bergmann/Dienelt, § 1 AufenthG Rn. 16 ff.; Erbs/Kohlhaas/Senge, § 1 AufenthG Rn. 2. 141 BayVGH 26.10.2016 – 19 C 15.2217, BeckRS 2016, 55022; BeckOK-AuslR/ Kurzidem, § 6 FreizügG/EU Rn. 8. 142 BVerwG 03.08.2004 – 1 C 30/02, BVerwGE 121, 297 = NVwZ 2005, 220 (222); Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2017, Rn. 1494.
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten341
EG,143 wonach Entscheidungen zur Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers nach Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden müssen, dass deren Inhalt und Wirkung nachvollzogen werden können, nach der Rechtsprechung des EuGH nicht, dass diese ohne entsprechenden Antrag in einer Sprache ausgehändigt werden, die der Betroffene versteht oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass er sie versteht, weil dies weder nach dem Wortlaut der Norm noch aus teleologischen Erwägungen geboten sei.144 Eine Übersetzung ist demzufolge nicht verpflichtend, wenn auf andere Weise dafür gesorgt wird oder von dritter Seite gesorgt wurde, dass der Betroffene Art und Umfang der Entscheidung auch wirklich erfasst.145 Die ausdifferenzierte Regelung im FreizügG/EU zeigt demzufolge die Ausrichtung an der Bedeutung des Art. 21 Abs. 1 AEUV ebenso wie die Bemühung, eine ungerechtfertigte Benachteiligung von Unionsbürgern nachdrücklich zu vermeiden. b) Integrierender Untersuchungshaft- und Strafvollzug Neben der Anordnung ist desgleichen die Durchführung des Untersuchungshaftvollzugs für potentiell diskriminierende Vorgänge anfällig. Gleiches gilt für den sich an eine rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafe ohne Bewährung anschließenden Strafvollzug. Die Verteidigung eines Ausländers im Strafverfahren erfolgt dabei zeitweilig auch an der Schnittstelle zwischen Straf- und Ausländerrecht.146 Insoweit mögen gewisse Bedenken am Resozialisierungsbedürfnis straffällig gewordener Ausländer und an der Erfolgsaussicht entsprechender Maßnahmen in der Haft aufkommen. Art. 26 Abs. 5 BayUVollzG, Art. 40 Abs. 2, Abs. 3 BayStVollzG treten dem entgegen, indem sie die im Untersuchungshaftvollzug freiwillige/im Strafvollzug verpflichtende Teilnahme von Gefangenen mit Deutsch- oder Integrationsdefiziten an entsprechenden Unterrichtskursen ermöglichen und einfordern. Für EU-Bürger sind diese Resozialisierungsaufgaben unabhängig von der Frage des zukünftigen Aufenthaltsorts in Anbetracht 143 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. Nr. L 158 S. 77, Celex-Nr. 3 2004 L 0038. 144 EuGH 14.09.2017 – C-184/16, BeckRS 2017, 124327 Rn. 68 ff. 145 EuGH 14.09.2017 – C-184/16, BeckRS 2017, 124327 Rn. 63, 70. 146 Trurnit, StraFo 2006, 226.
342
E. Vertiefende Betrachtung
der Ziele eines zusammenwachsenden Europas ohnehin noch stärker in den Blick zu nehmen.147 Von Gesetzes wegen liegt folglich keine „diskriminierungsfreundliche Lage“ vor. Hinsichtlich der tatsächlichen Vollzugsbedingungen ist anzumerken, dass dem Staat die Aufgabe zukommt, hinreichende finanzielle und personelle Kapazitäten zur Verfügung zu stellen. Der in D. II. 2. b) cc) beispielhaft dargestellte Integrationskurs in der JVA Nürnberg zeigt anschaulich, dass diesem – innereuropäisch letztlich auch diskriminierungsrechtlich – gestellten Auftrag nicht nur in der Theorie, sondern ebenso in der Praxis klar nachgegangen wird. c) Vollstreckungsverlauf, insbesondere Übertragung auf den Heimatstaat § 456a StPO findet auf den Unionsbürger nach seinem Wortlaut grundsätzlich keine Anwendung, da dieser nicht „ausgewiesen“ wird (von einer Auslieferung an eine ausländische Regierung sowie einer Überstellung an einen internationalen Strafgerichtshof soll vorliegend abgesehen werden; dies geschieht letztlich ohnehin unabhängig von der Staatsangehörigkeit), was infolge der Bedeutung des unionalen Freizügigkeitsrechts auch in der Sache zutrifft.148 Interessant ist indessen die Frage, ob dem Unionsbürger ein Anspruch auf Überstellung in sein Heimatland zukommt. Zur Beantwortung muss präzise der Vergleichsmaßstab herausgearbeitet werden. Zwar trifft es zu, dass den sprach- und ortsfremden Beschuldigten ein Strafvollzug „in der Ferne“ besonders belastet, allerdings darf nicht übersehen werden, dass das Tatortstrafrecht ein hehrer Grundsatz ist, welcher auch in den Bereich der Strafverwirklichung (in Form von Strafvollstreckung und ‑vollzug) ausstrahlt. Die Möglichkeit der Überstellung eines Verurteilten ist – ganz generell – in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der individuellen Persönlichkeit (Sprachbarriere, Entfremdung von der heimischen Kultur und fehlende soziale Kon147 Trurnit,
StraFo 2006, 226 (231). ZAR 2006, 121 (122); vgl. auch OLG Rostock 13.12.2017 – 20 Ws 309/17, BeckRS 2017, 137045 Rn. 12: „Eingriffe in die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, die im Ergebnis einem Einreiseverbot gleichkommen, sind nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur unter den Voraussetzungen von § 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 FreizügG/EU […] und in dem dort dafür vorgesehenen Verwaltungsverfahren möglich, wobei allein die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für eine solche Entscheidung nicht genügt (…). Für eine Bewährungsweisung nach § 56c StGB, die auf ein ausländerrechtliches Einreiseverbot hinausläuft, ist deshalb kein Raum, denn sie liefe auf eine Umgehung der genannten ausländerrechtlichen Bestimmung, die dies gerade nicht zulässt, hinaus“. 148 Pfaff,
III. Anknüpfungspunkte betreffend die Ortsfremdheit von Beschuldigten343
takte), des Vollstreckungsverhaltens, des Gewichts der abgeurteilten Tat samt notwendiger Erfüllung der inländischen Strafzwecke (Aspekt der wirksamen Strafverfolgung und ‑vollstreckung) sowie der Vollstreckungspraxis des jeweiligen Heimatstaates unter allgemeiner Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen.149 Diese Gesichtspunkte sind bereits so ausgewogen gewählt, dass sie den Unionsbürgerstatus in seiner unbestrittenen Wichtigkeit ausreichend einbeziehen und eine ungerechtfertigte Benachteiligung bei ordnungsgemäßer Prüfung nahezu ausschließen. Für Unionsbürger kann die Staatsanwaltschaft als zuständige Vollstreckungsbehörde nach ihrem ordnungsgemäß ausgeübten Ermessen mit Zustimmung des ortsfremden Beschuldigten sowie Bewilligung des zuständigen OLG die Vollstreckung einem anderen EU-Mitgliedstaat übertragen, §§ 85 Abs. 1, Abs. 2, 85a Abs. 1 IRG i. V. m. RB 2008/909/JI.150 Dabei hat der Unionsbürger ausweislich § 85 Abs. 1 Satz 3, Abs. 5 Satz 1, Satz 3 IRG einen expliziten Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung. Nach Erwägungsgrund (9) RB 2008/909/JI hat die Vollstreckung im Heimatstaat insbesondere resozialisierungsbegünstigende Wirkung. Es soll ferner ausdrücklich Berücksichtigung finden, ob der ortsfremde Beschuldigte den Vollstreckungsstaat als seinen Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen ansieht. Das Resozialisierungsinteresse ist dabei auch für die deutsche Umsetzung und das vorgesehene Ermessen handlungsleitend: „Die Vollstreckungsbehörde hat abzuwägen, ob eine Resozialisierung der verurteilten Person aufgrund ihres Aufenthaltsstatus, ihrer familiären und sozialen Bindungen und ihrer Sprachkenntnisse eher im Inland oder im Heimatstaat zu erwarten ist. Insbesondere Kommunikationsschwierigkeiten wegen der Sprachbarrieren, die Entfremdung von der heimatlichen Kultur und deren Bräuchen sowie fehlende Kontakte zu Familienangehörigen können sich schädlich auf die Wiedereingliederung ausländischer Verurteilter auswirken. Ihre Rückführung in ihr Heimatland kann daher sowohl im Interesse der Verurteilten als auch der betroffenen Staaten liegen. Über Artikel 6 Absatz 3 Rb Freiheitsstrafen hinaus bringt der Rahmenbeschluss daher auch an verschiedener anderer Stelle deutlich zum Ausdruck, dass er primär den Zweck verfolgt, die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person 149 OLG Frankfurt 12.08.2002 – 3 VAs 11/02, NStZ-RR 2002, 310 (312); KG 01.10.2009 – 4 VAs 13/09, StV 2010, 317 m. Anm. Oelbermann; Ambos/König/ Rackow/Jakubetz, § 71 IRG Rn. 174; Grützner/Pötz/Kreß/Grotz, § 71 IRG Rn. 3; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, § 71 IRG Rn. 14d. 150 Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. Nr. L 327 S. 27, Celex-Nr. 3 2008 F 0909, geändert durch Rahmenbeschl. 2009/299/JI des Rates vom 26.2.2009, ABl. Nr. L 81 S. 24.
344
E. Vertiefende Betrachtung
zu erleichtern (vgl. Erwägungsgründe 5, 8, 9 und 10 sowie Artikel 3 Absatz 1, Artikel 4 Absatz 4 und Absatz 6 Rb Freiheitsstrafen). Dem Resozialisierungsinteresse der verurteilten Person ist dementsprechend bei der Entscheidung, die Vollstreckung an einen anderen Mitgliedstaat abzugeben, großes Gewicht beizumessen. Ist anhand der vorgenommenen Prüfung ein solches Interesse der verurteilten Person festzustellen, ist dieses mit den Belangen der Rechtspflege an einer wirksamen inländischen Strafvollstreckung vollstreckungsrechtlich abzuwägen.“151
Andere Strafzwecke zu berücksichtigen, ist daneben zwar nicht gänzlich unzulässig, jedoch muss die getroffene Entscheidung in ihren kommunizierten Gründen klar erkennen lassen, dass der Fokus auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung durch Ermöglichung der Strafvollstreckung in einem Staat, dessen Sprache der Beschuldigte beherrscht und mit dessen Gepflogenheiten er vertraut ist, gerichtet war und nachhaltig erkannt wurde, dass sich insbesondere Kommunikationsschwierigkeiten wegen vorhandener Sprachbarrieren, die Entfremdung von der heimatlichen Kultur und deren Bräuchen sowie fehlende Kontakte zu Familienangehörigen schädlich auf diese Reintegration auswirken können.152
151 BT-Drs.
18/4347, S. 138. Köln 18.01.2017 – 6 AuslE 7/17 – 4, StraFo 2017, 129 (130); Oelbermann, StV 2010, 318; a. A. HdbStA/Weyde, 7. Teil 1. Kap. Rn. 415: „Zu berücksichtigen sind vielmehr auch die Interessen der Rechtspflege. Die Entscheidung erfordert in jedem Einzelfall eine Interessenabwägung auf der Grundlage aller Strafzwecke unter Berücksichtigung des Resozialisierungsgedankens. General- und spezialpräventive Gesichtspunkte können der Überstellung entgegenstehen.“ 152 OLG
F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten stellt eine hochaktuelle, in ihren Verzweigungen komplexe und stark unionsrechtlich beeinflusste Materie dar. Das Strafrecht nimmt traditionell einen besonderen Stellenwert im nationalstaatlichen Rechtsgefüge ein. Vermehrt in den Blick des EuGH gerät indes die Unerlässlichkeit der Vermeidung jedweder Diskriminierung. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV stellt ein Leitmotiv bei der Verwirklichung der Ziele der europäischen Einigung dar (vgl. näher E. I.). 1. Die Sprache gibt dem Menschen die Gelegenheit zu verbaler Reflexion und hat über Sprachverständnis und -verwendung identitäts- sowie individualitätsstiftenden Charakter (vgl. näher B. I. 3.). „Die Gerichtssprache ist deutsch“, § 184 Satz 1 GVG. Die Vorschriften der §§ 184 ff. GVG dienen der Wahrheitsfindung, indem sie die einheitliche Erörterung des Verfahrensstoffs ohne Behinderung durch Sprachbarrieren ermöglichen. § 184 GVG stellt dabei nicht zuletzt eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Garantie eines transparenten, fairen Strafverfahrens unter Wahrung des rechtlichen Gehörs dar, weil er für sprachkundige Verfahrensbeteiligte als typische Normadressaten die Sicherheit liefert, (zumindest akustisch bzw. dem Schriftbild nach) formal verstanden zu werden, was im Rahmen der geltenden Strafprozessordnung unmittelbar der Durchsetzung ihres rechtlichen Gehörs und dem Gebot eines fairen Verfahrens dient. §§ 185, 187 GVG bewachen hingegen den Sprachfremden und dienen in Abgrenzung zu § 184 GVG dem Nachteilsausgleich. Ein Sprachunkundiger hat die gleichen prozessualen Rechte sowie den gleichen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz wie jeder Deutschsprachige. Dieser Aspekt einer diskriminierungsfreien Ausgestaltung des Verfahrensgangs prägt die Subjektstellung des Beschuldigten und findet sich sowohl im nationalen, supranationalen wie auch internationalen Recht verankert. a) Das Unionsrecht anerkennt vertrauensschützend ein Grundrecht der Sprachenfreiheit, Art. 22, 41 Abs. 4 EU-GRCh (vgl. näher B. II. 2.). Die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 regelt als Teil des sog. Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren Rechte des Beschuldigten im Hinblick auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen. Sie dient der Implementierung europaweiter Mindeststandards im Bereich der
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F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Dolmetschung und Übersetzung im Strafverfahren von dem Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte gleich auf welche Weise von seiner Verdächtigung Kenntnis erlangt, bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens einschließlich eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens. Dabei bekennt sich die RL 2010/64/EU als harmonisierendes Element zu den Garantien der EMRK in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR und betont insoweit einen gewissen Gleichlauf der eingeräumten Rechtspositionen. Obwohl die europäische Einigung auf einen Rückgang nationaler Eigenheiten bei gleichzeitigem Ausbau supranationaler Einheit zielt, stellt § 184 Satz 1 GVG keinen Verstoß gegen Art. 18 AEUV dar, weil eine restlose Gleichstellung ebenso wenig praxistauglich umgesetzt werden könnte wie ein lückenloser Ausgleich sämtlicher sprachbedingter Nachteile für die Verteidigung des Beschuldigten. Indem jedoch durch die §§ 185 ff. GVG ein „ausgewogenes Bemühen“ klar erkennbar ist, welches im Einzelfall hinreicht, das rechtliche Gehör sowie den Fairnessgrundsatz zu wahren, verbleibt die grundsätzliche Verpflichtung zur Anerkennung der integrativen deutschen Gerichtssprache zulässig (vgl. näher E. II. 1.). b) Kommunikation ist ein wesentliches Erfordernis eines auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit angelegten Strafprozesses. Eine „gelungene Kommunikation“ in diesem Kontext setzt bei einem sprachfremden Beteiligten den Einsatz eines umsichtigen Dolmetschers voraus, welcher die Spezifika des Strafprozesses kennt und seine beruflichen Pflichten an dem (potentiellen) Zielkonflikt zwischen wortgetreuer Übertragung, Verteidigungsinteresse des Beschuldigten und Gebot größtmöglicher Wahrheitsermittlung auszurichten versteht (vgl. näher B. III. 1.). Einem sprachfremden Beschuldigten, der ohne Hilfe nicht in der Lage ist, seine Verteidigung wirksam vorzutragen, muss ohne Rücksicht auf seine finanzielle Lage unentgeltlich ein Dolmetscher/Übersetzer sowohl für die mündliche Verhandlung als auch für deren Vorbereitung zur Verfügung gestellt werden, §§ 185 Abs. 1, 187 Abs. 1 GVG, § 163a Abs. 5 StPO, Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK. Die Kommunikation mit und über den Dolmetscher ist schließlich ein unerlässlicher Baustein im Verteidigungsgefüge des Beschuldigten. Weil im Prozess des Dolmetschens aus unterschiedlichen Gründen diverse Fehlleistungen auftreten (können), verlangt Art. 5 Abs. 1 RL 2010/64/EU von den Mitgliedstaaten die Implementierung konkreter Maßnahmen zur Sicherstellung einer hinreichenden Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens (vgl. näher B. III. 2. a)). Handelt es sich um einen grundsätzlich Sprachkundigen, welcher jedoch in der deutschen oder einer Relaissprache nicht die gleiche Wortgewandtheit besitzt wie in seiner Muttersprache, so ist darin durchaus ein Nachteil zu erblicken, der es unter Diskriminierungsgesichtspunkten bei EU-Ausländern in der Regel erforderlich erscheinen lässt, auf deren Wunsch einen Dolmet-
F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung347
scher für ihre Muttersprache zumindest für die Teile der Verhandlung beizuziehen, bei denen sie selbst das Wort ergreifen (vgl. näher E. II. 2. b)). Mangelndes Sprachverständnis kann zudem ein Wertungskriterium i. R. d. § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO sein, jedoch werden im Bereich der leichten und mittleren Kriminalität bei einfacher Beweislage regelmäßig keine aus der Sprachfremdheit resultierenden Nachteile drohen, welche eine Pflichtverteidigerbestellung obligatorisch erscheinen ließen. Sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten können und müssen zunächst durch den Einsatz von Übersetzungshilfen, namentlich durch die – unentgeltliche – Hinzuziehung eines Dolmetschers, angemessen ausgeglichen werden (vgl. näher B. III. 1. c)). c) Justizielle Schriftstücke (insbesondere Anklagen, Strafbefehle, Urteile) müssen in deutscher Sprache abgefasst werden. Gleiches gilt grundsätzlich für schriftliche Eingaben in fremder Sprache und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dem Verfasser die Einreichung in deutscher Sprache möglich oder zumutbar ist, und unabhängig davon, ob der Richter sie versteht. Daran hat sich auch in der Konsequenz der Covaci-Entscheidung des EuGH nichts geändert (vgl. näher B. III. 1. e) bb)). Die europäische Regelung in ihrer am Wortlaut orientierten Auslegung erzwingt eine Übersetzung nicht. Es ist präzise danach zu unterscheiden, ob dem Beschuldigten die Hinzuziehung eines Dolmetschers/Übersetzers zusteht, um auf diese Weise dem Gericht ein in der Verfahrenssprache verfasstes Schriftstück zuleiten zu können, oder ob eine originäre Pflicht des Gerichts dahingehend besteht, ein in einer fremden Sprache eingereichtes Schreiben eigenständig übersetzen zu lassen. Das Gericht kann, muss aber keine Übersetzung veranlassen. Im ersteren Fall wäre diese (somit bei den Akten befindliche) Übersetzung dann selbstredend aber auch zu beachten. Wie die Tatgerichte die Wesentlichkeit eines Schriftstücks feststellen und/oder beurteilen, bleibt im Grunde diesen überlassen; eine Pflicht zur ausnahmslosen Übersetzung ist dem Unionsrecht nicht zu entnehmen. Es spricht – ebenso unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten – nichts dagegen, auf den Eingang eines fremdsprachigen Schreibens von einem über §§ 184 Satz 1, 187 Abs. 1 Satz 2 GVG belehrten Beschuldigten schlicht damit zu reagieren, das eingegangene Schreiben unter Hinweis auf die eben genannten §§ 184 Satz 1, 187 Abs. 1 Satz 2 GVG zurückzuweisen. Ein solches Vorgehen ist auch diskriminierungsrechtlich unbedenklich (vgl. näher E. II. 3. c)). 2. Zustellungen sind von entscheidender Bedeutung für die gerichtliche Praxis, indem sie im Interesse der Rechtssicherheit den Empfang von Schriftstücken nachweisen, Fristen auslösen und weitere Rechtsfolgen herbeiführen. Für Personen ohne inländischen Wohnsitz ist dieser Akt nur erschwert oder gar nicht möglich. a) Die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten bringt dabei wechselseitige Pflichten mit sich: Für die Justiz in Form der Verpflichtung, die
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F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Zustellungen über den Zustellungsbevollmächtigten durchzuführen, für den Zustellungsbevollmächtigten, welcher die erhaltenen Schriftstücke an die beschuldigte Person weiterzuleiten hat, und für den Beschuldigten, der sich gegebenenfalls beim Zustellungsbevollmächtigten informieren muss, um den Stand des Verfahrens zu erfahren (vgl. näher C. I. 1. b) bb)). Bei einer Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten kommt es nicht darauf an, wann der Beschuldigte vom Inhalt amtlicher Schriftstücke Kenntnis genommen hat, sondern ab wann er hiervon Kenntnis nehmen konnte. Eine solche Handhabung stellt ihn nicht rechtlos, da er anlässlich der Benennung des Zustellungsbevollmächtigten darauf hinzuweisen ist, dass gesetzliche Fristen mit dem Tag der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen und dieser nicht berechtigt ist, für ihn Rechtsmittel einzulegen (vgl. näher C. I. 1. b) aa)). Der Zustellungsbevollmächtigte hat das Schriftstück in Empfang zu nehmen und (soweit eine entsprechende Adresse bekannt ist) unverzüglich an den Beschuldigten weiterzuleiten. Hierbei sind von ihm die Zeitpunkte der Zustellung an ihn selbst sowie der Weiterleitung festzuhalten und dem Beschuldigten mitzuteilen. Die genannte Weiterleitung muss nicht postalisch erfolgen. Gegebenenfalls kann auch über eine bekannte E-MailAdresse agiert werden. Der Beschuldigte, welcher die Zustellungsvollmacht erteilt hat, ist verpflichtet, von sich aus eine Änderung in seiner Adresssituation mitzuteilen sowie – jedenfalls bei fehlender oder inkorrekter Weiterleitungsadresse – beim Zustellungsempfänger regelmäßig Erkundigungen anzustellen, ob und gegebenenfalls was an ihn zugestellt wurde. Ob und auf welche Art und Weise sich der Beschuldigte mit dem Zustellungsbevollmächtigten in Verbindung setzt und die Voraussetzungen für eine weitere Unterrichtung über den Verfahrensfortgang sicherstellt, ist dem Beschuldigten anheimgestellt (vgl. näher C. I. 1. b) bb)). Die Arten der Zustellungsvollmacht lassen sich einordnen in die Kategorien gesetzlich (§ 145a Abs. 1 StPO), verfahrenssichernd (§§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) und rechtsgeschäftlich (vgl. näher C. I. 2. a)). Indem der ortsfremde Beschuldigte durch die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten den Fortgang des Verfahrens sichert/ermöglicht, wirkt er gestaltend auf die Entwicklung des Strafverfolgungsprozesses ein. Mithin handelt es sich bei der wegen fehlenden Inlandswohnsitzes notwendigen Benennung des Zustellungsbevollmächtigten um eine tragende Prozesshandlung (vgl. näher C. I. 2. a) cc) (2)). Für die Staatsanwaltschaft besteht dabei die Option, losgelöst von den §§ 127a, 132 StPO einen Zustellungsbevollmächtigten benennen zu lassen, § 161 Abs. 1 StPO (vgl. näher C. I. 2. b) cc) (2)). Während bei Durchführung der Hauptverhandlung, zu welcher der Angeklagte über den Zustellungsbevollmächtigten geladen wird, dem Erfordernis rechtlichen Gehörs erschöpfend Genüge getan wird, lässt sich die Zustellung des Strafbefehls als summarische Form des Strafverfahrens, in welcher vor
F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung349
Erlass des Strafbefehls die richterliche Anhörung des Angeschuldigten nicht vorgeschrieben ist, im Ergebnis ebenfalls mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbaren, indem (gegebenenfalls verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag) über den Rechtsbehelf des Einspruchs mit anschließender Hauptverhandlung der Anspruch auf rechtliches Gehör in verfassungsrechtlich zulässiger Weise verbürgt ist (vgl. näher C. I. 1. c)). Auch daran hat sich durch die CovaciEntscheidung des EuGH nichts geändert (vgl. näher C. I. 3. b)). Die deutsche Regelung wurde als im Grundsatz unionsrechtskonform anerkannt. Die geäußerte Voraussetzung der Sicherstellung einer tatsächlichen Zweiwochenfrist lässt sich dogmatisch über das bestehende Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. §§ 44 ff. StPO gewährleisten (vgl. näher C. I. 3. b) cc) (3) (b)). Diese Rechtsprechung hat der EuGH in seiner Tranca/Reiter/ Opria-Entscheidung klargestellt und bekräftigt (vgl. näher C. I. 3. c)). b) Neben der Interaktion über einen Zustellungsbevollmächtigten kommen zum Umgang mit ortsfremden Beschuldigten als weitere Optionen die Zustellung im Ausland, die öffentliche Zustellung gem. § 40 StPO sowie eine vermehrte Anordnung von Untersuchungshaft in Betracht. Letztlich können Strafbefehl oder Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss und Ladung zur Hauptverhandlung im Rechtshilfeweg wirksam zugestellt werden (vgl. näher C. II. 1.). Gem. §§ 37 Abs. 1 StPO, 183 Abs. 1 Nr. 1 ZPO besteht zudem die Möglichkeit der vereinfachten Auslandszustellung durch Einschreiben mit Rückschein, soweit aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen Schriftstücke unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen (vgl. näher C. II. 2.). Das deutsche Gericht ist indes nicht verpflichtet, potentiell ungewisse Zustellversuche im Ausland vorzunehmen, wenn eine Zustellung im Inland möglich ist. Auch der EuGH hat weder in der Rechtssache Covaci noch im Verfahren Tranca/Reiter/Opria einen Vorrang der (vereinfachten) Auslandszustellung proklamiert. Indem bei der nach den §§ 116a Abs. 1, 127a Abs. 1 Nr. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zulässig zu erhebenden Sicherheitsleistung nachdrücklich auf die Vermeidung einer Übersicherung und die sonstige Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu achten ist, besteht insofern keine ungerechtfertigte Benachteiligung (vgl. näher E. III. 1.). Die Zustellung der Anklageschrift kann nach überwiegender Ansicht öffentlich vorgenommen werden, wohingegen es nach h. M. mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG schlechterdings unvereinbar ist, eine Strafe im Strafbefehlswege festzusetzen, während eine tatsächliche Kenntniserlangung nahezu ausgeschlossen erscheint (vgl. näher C. III. 1.). Die Untersuchungshaft, d. h. die Inhaftierung eines noch nicht (rechtskräftig) Verurteilten, stellt einen gravierenden Eingriff in das Freiheitsrecht des
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F. Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Beschuldigten dar, weshalb eine restriktiv verstandene Einzelfallabwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Einzelnen und dem Allgemeininteresse an einer wirksamen Strafverfolgung unerlässlich ist. Der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, liegt vor, wenn es bei konkreter Würdigung der Umstände des Einzelfalls wahrscheinlicher ist, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. „Sich-Entziehen“ in diesem Zusammenhang meint ein aktives Verhalten, das den Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft des Beschuldigten, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, zu verhindern (vgl. näher C. IV. 3. b) bb)). Die Tatsache eines Wohnsitzes im Ausland kann – unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Beschuldigten – bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung Berücksichtigung finden, begründet für sich allein jedoch keine Fluchtgefahr. Der Beschuldigte hat durchaus die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen. Allein die Negierung dieser Verpflichtung stellt kein Entziehen dar, sondern bloßen Ungehorsam. Letztlich ist der Beurteilung der Fluchtgefahr eine schematische Herangehensweise ohnehin fremd; es bedarf einer einzelfallorientierten Abwägung. Für den Auslandswohnsitz gilt dabei wie für die Höhe der Straferwartung, dass dieser Aspekt allein keine Fluchtgefahr begründet, gleichwohl jedoch wertend in die Gesamtabwägung, ob überwiegend wahrscheinlich eine aktive Behinderung der Strafverfolgung zu erwarten steht, einzustellen ist. Ebenso wie ein Untertauchen (respektive die entsprechende Gefahr) im Inland möglich ist, kann ein Beschuldigter versucht sein – gerade auch in Anbetracht der diversen Auslieferungsoptionen – seinen tatsächlichen Aufenthalt im Ausland zu verbergen oder sich noch weiter abzusetzen. Unklarheiten über die Meldesituation und den Aufenthalt im Ausland gehen dabei zulasten des Beschuldigten, wenn die deutschen Strafverfolgungsbehörden alles ihnen Mögliche zur entsprechenden Sachverhaltsaufklärung geleistet haben. Die – insbesondere freiwillige – Erteilung einer Zustellungs- und Ladungsvollmacht bringt dagegen prima facie den Willen zum Ausdruck, sich dem Verfahren zu stellen und an diesem teilzunehmen (vgl. näher C. IV. 3. b) bb) (3)). Für EU-Ausländer ist ein Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zudem entsprechend dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot zu beachten. Die Berücksichtigung von Auslandskontakten als ein Indiz im Rahmen der Haftgrundprüfung verstößt indes nicht gegen den Gleichheitsgedanken, weil es hier nicht um eine Bewertung der Ausländereigenschaft als solcher geht, sondern vielmehr um eine Sicherung des Strafverfolgungsanspruchs gegenüber den gesteigerten Möglichkeiten des Untertauchens im (auch europäischen) Ausland (vgl. näher E. III. 2. a)). 3. Ausgangspunkt jedweder Strafzumessungsentscheidung ist die individuelle Tatschuld des Verurteilten, § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB. In Deutschland gilt
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deutsches Strafrecht, sodass auch für die Auslegung des Gesetzes zunächst und primär die Wertvorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft maßgeblich sind (vgl. näher D. I. 2. a) bb) (1)). a) Wer in fortgesetztem Kontakt mit den einheimischen Moralvorstellungen steht (und insoweit ein wechselseitiger Diskurs und Eingliederungsprozess stattfindet), hat ausreichende Anhaltspunkte zum Erfolg bei der von § 17 StGB aufgegebenen Gewissensanspannung. Hält man sich dagegen längere Zeit in der BRD auf und verweigert jedwede Auseinandersetzung mit den hier gelebten Werten, führt das zu einem Zustand der bewusst gewählten Isolation, was den Vorwurf der selbstverantworteten Irrtumsanfälligkeit nach sich zieht. Die persönliche Schuld des Täters bestimmt das Maß der Vorwerfbarkeit und bildet den Ausgangspunkt einer gerechten Strafzumessung. Wer aufgrund sprachlicher Barrieren oder infolge kultureller Differenzen nicht in gleicher Weise in der Lage ist, das Unrecht einer Tat zu erkennen und deren Strafwürdigkeit zu verinnerlichen, dem gegenüber muss ein geringeres Unwerturteil ausgesprochen werden. In der heutigen Zeit, welche geprägt wird von einer global vernetzten Welt, einer dynamischen Population und einem energischen kulturellen Dialog, findet eine ständig steigende Berührung/ Auseinandersetzung mit fremden Vorstellungen von Wert, Sitte und Moral statt, welche gerade auch von kulturell besonders stark beeinflussten Menschen (kritisch) wahrgenommen wird, sodass in der Gerichtspraxis sorgfältig die Grenze zwischen milderndem Verhaftetsein in ortsfremden Denkweisen und nicht anzuerkennender Ignoranz gegenüber konsentierten Werten anderer zu ziehen ist (vgl. näher D. I. 2. a) cc)). Die (fremde) Staatsangehörigkeit an sich ist, soweit sie nicht ausnahmsweise einen speziellen tatbestandlichen Unrechtsbezug aufweist oder zu einer konkret begründeten besonderen Strafempfindlichkeit führt, vollkommen bedeutungslos (vgl. näher D. I. 2. b)). Kulturell bedingte Umstände dürfen lediglich dann strafschärfend herangezogen werden, wenn sie das Tatbild dergestalt prägen, dass aus der Tatausführung eine besonders rechtsfeindliche Gesinnung spricht oder ein Mehr an krimineller Energie zu erkennen ist, d. h. letztlich muss ein nachvollziehbarer, konkreter Bezug zu den Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB herstellbar sein (vgl. näher D. I. 2. b) aa)). Umgekehrt sind die sprachlichen und kulturellen Eigenschaften des Täters von mildernder rechtsfolgenbestimmender Relevanz, wenn es ihm aufgrund eingewurzelter Vorstellungen schwer(er) fiel, die maßgebliche Norm zu befolgen (vgl. näher D. I. 2. b) bb)). b) Tritt neben eine gewisse unbefriedigende Kommunikationsgrundlage noch die in naher Zukunft sichere Ausreisepflicht eines Ausländers, begründet dies regelmäßig die Nichtunterbringungsentscheidung i. S. v. § 64 StGB, wobei eindringlich in den Blick zu nehmen ist, ob es sich um eine mehr oder weniger geläufige Fremdsprache handelt und dass für die im Rahmen einer
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solchen Behandlung erforderliche Verständigung zwischen Therapeut und Patient regelmäßig sprachliche Grundkenntnisse genügen (vgl. näher D. I. 3.). Indem § 64 StGB eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung darstellt, liegt in der Nichtanordnung der Unterbringung indessen jedenfalls keine unzulässige Diskriminierung des sprachfremden Beschuldigten (vgl. näher E. II. 4.). c) Gegenstand des deutschen Ausländerrechts ist die Regelung der Rechtsstellung von Nichtdeutschen, insbesondere die Festlegung der Voraussetzungen für deren Aufenthalt. Anders als das Strafrecht dient die Ausweisung nicht der (rückwärtsgewandten) Ahndung vergangenen Verhaltens, sondern der (zukunftsorientierten) Vorbeugung einer drohenden Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zum Schutz der Interessen der Bundesrepublik Deutschland und seiner Bürger. Der Gesetzgeber hat bewusst entschieden, dass bei bestimmten erkannten Strafen die nachdrückliche Prüfung mit entsprechender „Vorgewichtung“ erforderlich ist. Diese Prüfung darf man nicht leichtfertig durch eine zu starke Fokussierung auf Täterschutzinteressen abschneiden. Folglich ist dem zusammenfassenden Leitsatz des BGH beizupflichten, wonach etwaige aufenthaltsrechtliche Konsequenzen regelmäßig jedenfalls keine bestimmenden Strafzumessungskriterien i. S. d. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO sind (vgl. näher D. I. 4. b) cc)). d) Die Strafvollstreckung ist eine Aufgabe der Gerichtsverwaltung, gehört zur Rechtspflege und stellt einen Teil des Strafverfahrens dar. Für den sprachfremden Verurteilten sind auch in diesem Abschnitt all diejenigen Schreiben zu übersetzen, deren schriftliche Kenntnis zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist (vgl. näher D. II. 1. a)). Der Wille zu einem möglichst resozialisierenden Strafvollzug gegen sprach- und ortsfremde Beschuldigte gepaart mit den fortbestehenden praktischen Beschwernissen sowie personellen und finanziellen Zwängen führt zwangsläufig zu dem Gedanken einer vermehrten Vollstreckung im Heimatland. Allerdings ist zu beachten, dass der – selbst innereuropäische – Rechtshilfeverkehr mit erheblichem formalem wie zeitlichem Aufwand verbunden ist, im Ergebnis häufig trotz entsprechender Bemühungen nur unzulänglich funktioniert und an beträchtlichen organisatorischen Umsetzungsdefiziten leidet (vgl. näher D. II. 1. b) aa)). Die Befugnis des § 456a StPO steht selbständig neben der rechtshilferechtlichen Übertragung der Strafvollstreckung auf einen ausländischen Staat gem. § 71 IRG, sodass die Vollstreckungsbehörde innerhalb ihres Ermessens grundsätzlich frei darin ist, welchen Weg sie beschreiten möchte (vgl. näher D. II. 1. b) bb)). § 57 StGB und § 456a StPO betreffen ebenfalls unterschiedliche Regelungskomplexe und sind voneinander prinzipiell völlig unabhängig. Die mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO bleibt grundsätzlich obligatorisch. Der ortsfremde Beschuldigte muss sich selbst um eine etwaige Aussetzung des bedingten Vollstreckungshaftbefehls nach
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§ 456a Abs. 2 Satz 3 StPO kümmern, hat hierauf jedoch keinen Anspruch. Bleibt der Haftbefehl aufrechterhalten, steht die Bereitschaft zur Anhörung unter der ausdrücklich bekundeten Bedingung freien Geleits einer (eine Anhörung entbehrlich machenden) Verweigerung gleich. Es bleibt dem Verurteilten unbenommen, sich für die Zeit der Prüfung wiederum in Haft zu begeben respektive sich der Gefahr einer Verhaftung auszusetzen. § 456a StPO geht schließlich nach Wortlaut, Systematik, gesetzgeberischem Willen und Normzweck von einem nicht zurückkehrenden Täter aus, was von § 57 StGB nicht überlagert wird (vgl. näher D. II. 1. b) dd) (2)). e) Die gegenseitige Anerkennungspflicht von Fahrerlaubnissen anderer EU-Mitgliedstaaten dient der ungehinderten Ausübung des Freizügigkeitsrechts nach Art. 21 AEUV. Es ist grundsätzlich die Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, gegeben sind. Wurde demnach von den Behörden eines Mitgliedstaats ein europäischer Führerschein ausgestellt, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen, d. h. der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist als Beweis dafür anzusehen, dass der Inhaber am Tag der Ausstellung die maßgeblichen Anforderungen erfüllte. Ausnahmen hiervon gehen lediglich an, wenn feststeht, dass die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellungsstaat nicht beachtet, oder falls der Führerschein während einer von einem anderen Mitgliedstaat verhängten Sperrfrist erteilt wurde. Dies gilt auch dann, wenn sich die Frage der Gültigkeit erst nach dem Ablauf dieser Sperrfrist stellt. Ist die Sperrfrist jedoch zum Zeitpunkt der (Neu)Erteilung der ausländischen Fahrerlaubnis bereits abgelaufen, besteht keine Befugnis zur Versagung ihrer Anerkennung, sodass §§ 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 29 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FeV europarechtswidrig sind (vgl. näher D. II. 1. c)). f) Die Ladung zum Strafantritt i. S. d. § 457 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO i. V. m. § 33 Abs. 1 Nr. 1 StVollstrO kann grundsätzlich ebenfalls an den Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden (vgl. näher D. II. 2. a) bb)). Zunächst hat man die Ladung über den Zustellungsbevollmächtigten zu bewirken, § 27 Abs. 2 StVollstrO, weil der Grundüberlegung der freiwilligen Zustellungsvollmacht entsprechend zumindest die Möglichkeit eingeräumt werden muss, den Kontakt mit dem Zustellungsbevollmächtigten herzustellen und auf ein entsprechendes Schriftstück ordnungsgemäß zu reagieren. Die Frist zum Strafantritt sollte dabei wegen der typischerweise bei einem Vorgehen mittels Zustellungsvollmacht eintretenden Verzögerungen etwas großzügiger bemessen sein. Zeitgleich ist zur Beschleunigung der Strafvollstreckung gem. § 33 Abs. 3 Satz 1 StVollstrO ein aufschiebend bedingter Vollstreckungshaftbefehl zu erlassen. Ist nun der Zugang der Ladung beim Zustel-
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lungsbevollmächtigten nachgewiesen und die gesetzte Frist zum Haftantritt abgelaufen (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StVollstrO), gleichzeitig eine tatsächlich an den ortsfremden Beschuldigten individuell zustellbare Ladung wegen der nicht vorhandenen oder von ihm jedenfalls nicht mitgeteilten Meldeadresse nicht ausführbar (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StVollstrO), besteht infolge der Kombination dieser Voraussetzungen der begründete Verdacht, dass der Betroffene nicht willens ist, sich ohne Einleitung von Fahndungsmaßnahmen der Strafvollstreckung zu unterziehen (§ 33 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StVollstrO). Mildere und – im Lichte der Notwendigkeit einer effektiven Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen als schärfste Reaktion der Gemeinschaft auf strafwürdiges Übel – gleichermaßen geeignete Maßnahmen sind nicht gegeben, sodass auch der in § 457 Abs. 3 Satz 2 StPO festgeschriebene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. g) Neben der Anordnung ist desgleichen die Durchführung des Untersuchungshaft‑/Strafvollzugs für potentiell diskriminierende Vorgänge anfällig. Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung des Täters als praktizierter Schutz der Allgemeinheit (vgl. näher D. II. 2. b)). Vorhandene Sprachbarrieren, abweichende Normen- und Wertverständnisse sowie unterschiedliche Religionszugehörigkeit beschweren ein entsprechendes Vollzugskonzept. Dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip entsprechend sind auch Ortsfremde zu behandeln sowie bei der Wiedereingliederung zu fördern, um sie auf diese Weise möglichst gut auf ein künftiges Leben ohne Straftaten vorzubereiten (vgl. näher D. II. 2. b) aa)). Der in D. II. 2. b) cc) beispielhaft dargestellte Integrationskurs in der JVA Nürnberg zeigt anschaulich, dass diesem – innereuropäisch letztlich auch diskriminierungsrechtlich – gestellten Auftrag nicht nur in der Theorie, sondern ebenso in der Praxis klar nachgegangen wird. 4. Die Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die Aspekte der Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten im strafprozessualen Erkenntnis- wie auch im anschließenden Vollstreckungsverfahren herauszuarbeiten und umfassend zu erörtern. Dabei wurde der Fokus über das nationalstaatliche Recht hinausgehend ebenfalls auf die supranationale Ebene gelegt. Der Einfluss verschiedener europäischer Richtlinien auf die deutsche Rechtsetzung und ‑sprechung wurde ebenso gezeigt wie die Ausstrahlungswirkung des primärrechtlichen Diskriminierungsverbots. Als abschließendes Resümee lässt sich Folgendes festhalten: Das Deutsche als Umgangs- und Staatssprache ist notwendiger Teil der hiesigen Kulturund Rechtsgemeinschaft. Das deutsche Ermittlungs- und Strafverfahren weist in vielerlei Hinsicht Besonderheiten im Kontakt mit sprach- und ortsfremden Beschuldigten auf, was indes nicht auf einem bewussten Herausgreifen dieser Personengruppe beruht, sondern sich dadurch erklärt, dass der Zweck
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einer wahrheitsbasierten, verfahrensökonomischen, konsequenten und effektiven Strafverfolgung mit der Sprach- und Ortsfremdheit von Beteiligten in nicht unerheblichem natürlichen Konflikt steht. Bei gleichzeitiger Sicherstellung eines ausdifferenzierten Systems, mit dem sprachlich oder kulturell bedingte Nachteile auf ein unvermeidbares Mindestmaß reduziert werden, liegt allerdings keine unzulässige Benachteiligung vor. Aus der Natur der Sache ergeben sich stets gewisse Härten. Die gebotene Abwägung im Einzelfall hat durchweg in (grundrechts‑)schonender Weise zur Schaffung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Individualinteressen des Beschuldigten auf der einen und den anerkennenswerten Bedürfnissen einer effektiven Strafverfolgung auf der anderen Seite zu erfolgen. Das Unionsrecht anerkennt schließlich gleichermaßen die Gefahr, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, infolge gewisser auf ihrer Ortsfremdheit beruhender Verfolgungshemmnisse und ‑hindernisse straflos bleiben, und billigt das Ziel der Vermeidung einer solchen Straflücke als legitimes Anliegen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
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Sachwortverzeichnis Anwendungsvorrang 161 f., 319 Aufenthalt 24, 99 f., 113 ff., 136 ff., 141 ff., 179 ff., 190 ff., 203, 207, 216, 239, 247 ff., 250 ff., 266, 270 f., 280 ff., 284, 298 f., 310, 331, 341 Auslieferung 24, 192 f., 198, 217 f., 266, 268, 292, 312, 342 Ausweisung 246, 251 ff., 268, 290, 292, 299, 304 Ausweisungsinteresse 251 ff. Belehrung 30, 40, 43 f., 72, 79, 93, 96, 123, 140 f. 149 ff., 215, 220 f. Beschleunigungsgebot 107, 206 f. Bleibeinteresse 251 ff. Diskriminierung 23, 35, 155, 170, 270, 280, 296, 299, 304, 313 f., 322 f., 325 ff., 331 ff., 336, 339 –– Beschränkungsverbot 319, 325 –– Diskriminierungsverbot 23, 30, 38, 46, 194, 216, 315 ff., 327, 329, 334, 336 –– Mittelbare 318 f., 333 –– Unmittelbare 317 f. Dolmetscher –– Ablehnung 89 ff. –– Eid 86 –– Privatdolmetscher 85 –– Vertrauensdolmetscher 61, 88 –– Vorschriftswidrige Abwesenheit 59 Fahndung 107, 136, 139, 141 f., 157, 164 f., 182, 198, 212, 217, 219, 283 f. Fahrerlaubnis 276 ff. Faires Verfahren 23, 35, 41 ff., 52 f., 76, 83, 91, 97, 108, 141, 146, 149, 156, 168, 170, 215, 220, 314, 317, 325 ff.
Führungsaufsicht 182, 257, 308 ff. Gerichtssprache 25, 31 ff., 41 ff., 45 ff., 74, 80, 164, 320 ff. Gestellungspflicht 192 f. Gleichbehandlung 46, 118, 187, 280, 314 ff., 328, 331 Haftbefehl –– Sicherungshaftbefehl 103, 106, 178, 209 –– Sitzungshaftbefehl 103 f., 178, 193, 195, 210 –– Untersuchungshaftbefehl 121, 143, 211, 282 –– Vollstreckungshaftbefehl 157, 159, 166, 184, 269, 274 ff., 282, 284 Hauptverhandlungshaft 119, 199 ff., 339 Integration 194, 213, 230 f., 271, 290 f., 293, 298 ff., 304 f., 307 f., 312, 332, 338, 341 Kulturkreis 229, 231, 236, 299 Obdachlosigkeit 119, 244, 250, 339 Ortsfremdheit –– Begriff 23 f., 26 ff. Pflichtverteidiger 62, 110, 116, 128, 208, 264 f. Privatdolmetscher 85 Rechtshilfe 121, 175 ff., 195, 203 f., 268 f., 275, 279, 285, 310, 335 Rechtsstaat 33, 35 ff., 45, 52, 57, 76, 81, 94, 104, 108, 121, 146, 185, 187, 203, 205, 210, 215, 261, 307 f., 311 ff., 328
Sachwortverzeichnis385 Relaissprache 322 f. Religion 39, 290, 296, 307 Richtervorbehalt 132 f., 144 ff.
–– Supranationaler Einfluss 215 ff. –– Verdunkelungsgefahr 137, 199 –– Vollzug 212
Selbstleseverfahren 37, 60 Sprachfremdheit –– Begriff 23 f. Sprachunkundigkeit 45, 249 Strafempfindlichkeit 236, 239 ff., 261 Strafrestaussetzung 270, 273 Strafvollzug 263, 266, 268, 272, 280, 285, 288, 294, 300, 341 f. Subkultur 248, 290, 302 f.
Verbotsirrtum 227 f., 230, 232 ff., 238 Verhältnismäßigkeit 104, 107, 113, 130 f., 135, 142, 169, 187, 200 ff., 204 f., 207 f., 210, 216, 244, 255, 262, 267, 284, 329, 335, 343 Vertrauensdolmetscher 61, 88 Vollstreckungsverlauf 266, 342 Vorwegvollzug 201, 247, 270
Translation 47, 50 ff., 81, 87, 90 f. 322, 326 –– Sinngetreu 48 –– Wortgetreu 48 Übersetzungsleistungen 42 ff., 56, 83 –– Qualitätssicherung 82 ff. –– Regelbeispiele 65 –– Verzicht 44, 54, 60, 68, 70, 72 f., 101, 174 Unionsbürger 150, 310 f., 315 f., 320, 326, 328 f., 332, 340 ff. Unrechtsbewusstsein 228 ff., 232 f., 300 Unschuldsvermutung 130, 168, 185 f., 213, 216 Unterbringung in Entziehungsanstalt 246 ff., 329 f. Untersuchungshaft –– Dringender Tatverdacht 188 –– Flucht 189, 210, 212, 280, 336 –– Fluchtgefahr 113, 130 f., 169, 190 ff., 206, 209, 219, 245, 336 –– Hauptverhandlungshaft 119, 199 ff., 339
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 46, 72, 98, 102, 136, 146 f., 158, 160, 162 f., 165, 171, 180, 334 Zustellung –– Ausland 113, 175 ff., 332 f., 335 –– Öffentliche 92, 179 ff. –– Strafantritt 279 ff. Zustellungsbevollmächtigter 27, 94, 103, 113, 119 –– Begriff 93 –– Person 123 ff., 158 –– Pflichten 97 –– Rechtliches Gehör 108 Zustellungsvollmacht 92, 95 ff. –– Formular 172 –– Funktionsweise 95 –– Gesetzliche 110 –– Isolierte Anordnung 135 ff. –– Rechtsgeschäftliche 115 ff. –– Schriftstücke 98 ff. –– Verbindung mit Fahndungsnotierung 141 –– Verfahrenssichernde 112 ff., 130 ff., 331 ff.